Lebenskunst: Erkundungen zu Biographie, Lebenswelt und Erinnerung [1 ed.] 9783412510268, 9783412507558

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Lebenskunst: Erkundungen zu Biographie, Lebenswelt und Erinnerung [1 ed.]
 9783412510268, 9783412507558

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Portrait von Jacques Picard. Foto: Nina Mann, 2017.

Konrad J. Kuhn, Katrin Sontag, Walter Leimgruber (Hg.)

LEBENSKUNST ERKUNDUNGEN ZU BIOGRAPHIE, LEBENSWELT UND ERINNERUNG Festschrift für Jacques Picard

2017 B Ö H L AU V E R L AG KÖ L N W E I M A R W I E N



Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Jüdische Zeitgeschichte und der Stiftung Irène Bollag-Herzheimer

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Higg’s Place. Carl Gustafson (Löderup, Schweden). Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Carl Gustafsson,© beim Künstler. Zwischenbild 1: He wouldn’t last long. Brigitte Lustenberger. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und der Christophe Guye Galerie, © Brigitte Lustenberger. Zwischenbild 2: It hurt. Brigitte Lustenberger. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und der Christophe Guye Galerie, © Brigitte Lustenberger. Zwischenbild 3: Take it deeper. Brigitte Lustenberger. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und der Christophe Guye Galerie, © Brigitte Lustenberger. © 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Lindenstraße 14, D-50674 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Helga Loser-Cammann, Köln Umschlaggestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50755-8

INHALT Katrin Sontag, Konrad J. Kuhn, Barbara Haering, Walter Leimgruber Verbindungen: Denken und Leben im Dialog – eine Einleitung 11 1

WISSEN UND ATMOSPHÄREN Brigitte Lustenberger He wouldn’t last long Maria Yelenevskaya Life in Academia. No Laughing Matter?

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Ina Dietzsch Comic journalism und Ethnographie. Ein Versuch zum Dialog zweier Wissenspraxen

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Annelies Häcki Buhofer Emotionen in wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Texten. Eine Annäherung

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Aram Mattioli „Living in two worlds“. Simon Pokagon und Charles A. Eastman – zwei indianische Intellektuelle in der Ära des Progressivismus

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Karl Stadler Von der Unbeholfenheit, mit kulturellen Paradigmenwechseln umzugehen. Versuch einer Selbstreflexion

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Theres Inauen, Konrad J. Kuhn Mit Rheinsicht. Von den Möglichkeiten, einen Fluss kulturwissenschaftlich zu erforschen

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Johanna Rolshoven Die Stadt und das Städtische sind eine Welt, die mehr ist als die Summe ihrer Teile. Zu einigen Vergesslichkeiten der Stadtforschung





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INHALT

Hélène Mona Oberlé Von Masterarbeitskrisen und Finanzkrisen. Über den Krisenbegriff 108 Thomas J. Heid Die guten Gefühle sind entscheidend! Ästhetiken und Praktiken der Emotions- und Vertrauensarbeit im Private Banking 114 David Biale Scholem in Switzerland Ina Habermann The Pressburger Touch. Ein ungarischer Jude im britischen Filmgeschäft Angela Bhend Gögi Hofmann. Von der Lebenskunst eines komischen Sachbearbeiters Klaus Neumann-Braun Die drei Dinge, die es braucht

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Madeleine Dreyfus Jüdischsein 161 Franziska Nyffenegger Struktur und Ereignis; oder zwei Bilder, eine Geschichte 170 2 PASSAGEN UND TRANSFORMATIONEN Brigitte Lustenberger It hurt

176

Walter Leimgruber „But I, I’m not a low profile.“ Die Erfolgsgeschichte einer Schweizer Auswanderin

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INHALT

7

Linda Martina Mülli Early Career Professionals Adjusting to the Work and Lifeworld of the United Nations

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Daniel Gerson Tante Niouta aus Kalkutta. Briefe eines Holocaustüberlebenden in der Schweiz an eine jüdische Philanthropin in Indien, 1947–1967

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Claudia Willms Möglichkeiten-Eröffnen als intellektuelle Gabe

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Niels Jul Nielsen Migratory Steps. Ukrainians in a Rural Danish Region 220 Khadeeja Haddy Sarr Remittances and Migration. Short Narratives and Biographies of Senegambian Migrants Klaus Schriewer, Juan Ignacio Rico Becerra Das aktuelle Flüchtlingsgeschehen in Deutschland

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Ron Epstein-Mil Miss Kumbuk

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Irene Götz Vilnius – a City in the Centre of Europe. Transformations, Place-Making and Practices of Staging Mario A. Cavallaro Forget Heritage – Forgetting to Remember, Remembering to Forget. Über die Bedeutung des Prozesses der Kulturerbe-Selektion Sabine Eggmann Vom Stausee verdrängt – vom Stausee geschenkt. Technikgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive

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INHALT

Maoz Azaryahu Herzl in Tel Aviv. A Commemorative Journey

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Jacques Revel Kracauer et l’antinomie du temps historique

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Urs Altermatt Gedächtnispolitik im „Making“. Bruder Klaus als polyvalente Figur der schweizerischen Erinnerungskultur

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Silvy Chakkalakal Vom Schmuggeln

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3 BRÜCHE UND STÖRUNGEN Brigitte Lustenberger Take it deeper

328

Jack Jacobs Liebmann Hersch in the Era of the Second World War. A Research Note

331

Stefanie Mahrer Über das biographische Schreiben. Der Fall Maurice Picard

337

Beate Weinhold „Wir süffeln halt jetzt das Tintenfaß aus, wenn wir uns sprechen wollen.“ Die Briefe der Else Ehrenbacher – eine gescheiterte Emigration

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Stefan Keller Herr H. und die Schreibmaschine 365 Nada Boškovska „Ich habe weder vor euch Angst noch vor den Türken!“ Frauen in der Makedonischen Revolutionären Organisation um 1900

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INHALT

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Noëmi Sibold „... man wolle keine ‚Lokaluniversität‘ mehr sein ...“. Von Widersprüchen und Widerständen im Umgang mit Ausländerinnen und Ausländern an Schweizer Hochschulen

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Dan Diner Mit Auschwitz denken

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Johannes Moser Vergessen – Verdrängen – Erinnern. Ein steirisches Beispiel zu Zwangsarbeit und Judenvernichtung

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René Bloch Ein Sprung ins Leere. Das Philo-Lexikon und der jüdisch-deutsche Hellenismus

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Klaus Plaar Judas Iskarioth im Spiegel von Amos Oz. Bemerkungen aus historisch-kritischer Sicht

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Michael P. Steinberg Richard Wagner, the Jews, and Israel. A New Hypothesis Ulrike Gehring Das gläserne Zentrum. Bilder vom jüdischen Leben in Edward Steichens Family of Man-Ausstellung (1955)

433

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Richard I. Cohen Restituting Art. Some Reflections

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Dan Rabinowitz Victimhood, Intersectionality, and the Debate on Academic Boycott in an Age of Impending Illiberalism

464

Barbara Haering Back to Diplomacy. Vom Brückenschlagen über Gräben, die sich weiten

474

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INHALT

Daniel Thürer Zum vielgestaltigen Konzept des Rule of Law – gleichzeitig eine Einladung an Wissenschafter und Bürger, sich vermehrt mit den Grundlagen des rechtlichen Denkens zu befassen

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Idith Zertal Friendship in the Time of Cholera

497

Yves Kugelmann Draussen vor der Tür. Von Migration, Emigration, Flucht und der Ohnmacht der globalisierten Gesellschaft. Eine Anthropologie des Versagens 509 Heinzpeter Znoj Freiheit in West-Papua. Ein Reisebericht

514

Daniel Kunzelmann Hinter den Bildern: Algorithmen – die unsichtbare Macht in unseren Köpfen

528

Gregor Spuhler Der Fall Wilkomirski als Herausforderung für die Oral History

540

Jakob Tanner Fakt ist … Post-truth-politics und die Geschichtswissenschaft

550

Shabih Zaidi Shifting Imaginary

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Véronique Hilfiker Von Feuer und Wasser – und dem Versprechen, Schmuggler zu werden. Ein Portrait

572

Schriftenverzeichnis Jacques Picard

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AutorInnenverzeichnis 594



VERBINDUNGEN: DENKEN UND LEBEN IM DIALOG – EINE EINLEITUNG Katrin Sontag, Konrad J. Kuhn, Barbara Haering, Walter Leimgruber

Von einem ungewöhnlichen Buchprojekt Die Fähigkeit, Menschen und Ideen zu verbinden und auf diese Weise neue kreative Felder zu eröffnen, zeichnet Jacques Picard in besonderer Weise aus. Als Abschiedsgeschenk und grosses Dankeschön zu seiner Emeritierung 2017 ist dieses Buch entstanden. Darin werden zahlreiche dieser weitverzweigten Verbindungen sichtbar. Es sind dies in erster Linie Verbindungen zu Menschen, zu einem grossen Kreis von Freunden, Kolleginnen und Weggefährten aus verschiedenen Ländern, unterschiedlichen Disziplinen und breiten Berufsfeldern. Mit ihnen, den Freunden und Freundinnen, haben wir uns über die letzten zwei Jahre hinweg selbst verbunden, um das vorliegende Lesebuch entstehen zu lassen. Die Vielfalt der Texte, die alle eigens für dieses Buch geschrieben wurden, spiegeln Jacques Picards breites Spektrum an Interessen und seine stupende Fähigkeit, verschiedene Themenbereiche zu verbinden. Jacques Picard setzt keine Grenzen zwischen wissenschaftlichen Disziplinen, Themenwelten oder Denktraditionen. Im Gegenteil: Er liebt es, sich mit diesen als Konstrukten zu befassen, und er beherrscht die Kunst, Ideen von einem „Land“ ins andere zu transportieren. Dies kommt in der von ihm geliebten Schmugglermetapher zum Ausdruck, die natürlich auch in diesem Band auftauchen wird. Dieses Buch verbindet zudem verschiedene Ausdrucksformen. Für Jacques Picard spielen Theater, Literatur, Malerei und Journalismus eine ebenso wichtige Rolle wie die Wissenschaft. So sind neben wissenschaftlichen Beiträgen auch nachdenkliche Essays, engagierte Reflexionen, literarische Kurztexte, Gedichte und Bilder entstanden. Das Buch ist damit ein umfassendes Lesebuch geworden für alle, die sich – so wie dies auch Jacques Picard tut – fächerübergreifend und mit kritischem, differenziertem Blick aktuellen, künftigen wie historischen Themen zuwenden.

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KATRIN SONTAG, KONRAD J. KUHN, BARBARA HAERING, WALTER LEIMGRUBER

Wir haben die Texte in drei Abschnitte gegliedert, die eng mit Jacques Picards Wirken und seinen eigenen Forschungsschwerpunkten und Interessen verbunden sind. Die titelgebende „Lebenskunst“ verstehen wir dabei als jenes gemeinsame feine Gewebe, jenes humanistische Ideal, das sich in den sehr unterschiedlichen Erzählungen und Zugängen finden lässt und dabei als ein Modus der Alltagsbewältigung auftritt, der vom privaten Leben bis zu gesellschaftlichen Aushandlungen reicht. Lebenskunst bedeutet also auch, einen jeweils spezifischen Umgang mit divergierendem Wissen und prägenden Atmosphären, mit biographischen Passagen und gesellschaftlichen Transformationen, aber auch mit plötzlichen Störungen oder ultimativen Brüchen, also mit den unterschiedlichen Begegnungen des menschlichen Lebens auszuhandeln. Sie bedeutet suchende, kreative, nachdenkliche, leidvolle oder gewitzte Antworten, und sie bedeutet damit immer wieder das Brechen von Denkmustern und vorgefertigten Pfaden und Sichtweisen. Ganz so, wie dies wunderschön im Titelbild „At Higg’s place“ zum Ausdruck kommt, das der schwedische Maler und Freund, Carl Gustafsson, gemalt hat. Kritisch, selbstkritisch, differenziert und ausgehend von ganz „kleinen“ Details bis hin zu „grossen“ politischen und philosophischen Fragen gehen die verschiedenen Beiträge dieses Buches darauf ein.

Wissen und Atmosphären Dieser Abschnitt wird wie auch die anderen beiden von einer Fotografie von Brigitte Lustenberger eröffnet. Es folgen Texte, die die Herstellung von Wissen, Wissenspraxen und Atmosphären auf der Ebene der Wissenschaften ebenso wie auf der Ebene von Institutionen und Biographien reflektieren. In den Texten von Maria Yelenevskaya, Ina Dietzsch und Annelies Häcki Buhofer werden ungewöhnliche Perspektiven auf Wissenspraxen aufgezeigt und zugleich für die Reflexion von und den Dialog mit Humor, Emotionen und Comic journalism geworben. Am Beispiel von zwei indianischen Intellektuellen demonstriert Aram Mattioli die schwierige Position zwischen dem Bewahren der „eigenen“ Kultur und der Dominanz eines „weissen Amerika“. Karl Stadler diskutiert die Aufgabe, mit Identitätswandel und kulturellen Paradigmenwechseln umzugehen. Und Theres Inauen und Konrad J. Kuhn erkunden am Beispiel des städtischen Rheins, an dem ganz direkt auch Jacques Picards Büro liegt, die Frage, wie ein Fluss kulturwissenschaftlich erforscht werden kann. Im Text von Johanna Rolshoven stehen die Lücken und Vergesslichkeiten der bisherigen Stadtforschung im Fokus. Und Hélène Mona Oberlé wirft einen differenzierten Blick darauf, wie der Begriff „Krise“, der öffentliche

Verbindungen: Denken und Leben im Dialog – eine Einleitung

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­ iskurse in den letzten Jahren so stark geprägt hat, von verschiedenen Menschen auf D ganz unterschiedliche Weise mit Inhalt und Bildern gefüllt und konstruiert wird. ­Thomas Josef Heid wiederum zeigt die Bedeutung des Atmosphärischen für die an der Oberfläche primär mit Zahlen und Daten hantierende moderne Banken- und Finanzwelt auf. Auf der Ebene der individuellen Biographien und Geschichten erzählt David Biale über die frühen Jahre des grossen Gelehrten Gerschom Scholem in der Schweiz, während Ina Habermann über das ungewöhnliche Leben des britischen Filmschaffenden Imre Pressburger schreibt. Wir begegnen in einem von Angela Bhend verfassten Text dem Künstler Gögi Hofmann und erfahren in einer Reflexion von Klaus Neumann-Braun viel über die Zusammenarbeit mit Jacques Picard und dessen Zugang zu Lehre, Forschung und universitärer Verwaltung. Madeleine Dreyfus befragt anhand aktueller Interviews die Konstruktion von jüdischer Identität, während Franziska ­Nyffenegger auf phantasievolle Art zwei Bildern und den von diesen ausgehenden möglichen Pfaden folgt. Alle Beiträge dieses Abschnitts regen dazu an, bekannte Wege des Denkens zu verlassen und althergebrachtes Wissen in neues Licht zu rücken.

Passagen und Transformationen Transformationen, Passagen und Übergänge bilden den zweiten Schwerpunkt des Buches. Im Kontrast zur frühen Volkskunde und auch zur Ethnologie, die sich nur allzu oft auf die Suche nach einem „urtümlichen“, „authentischen“ Zustand begaben, helfen uns heute die Kulturanthropologie und andere kulturwissenschaftliche Disziplinen dabei, die uns umgebenden Transformationsprozesse in ihren Details, ihrer Verflochtenheit, ihren komplexen Wirkweisen und mit ihren vielfältigen Akteuren zu verstehen. Jacques Picard hat sich stets dafür eingesetzt, den Blick auf den Wandel und auf das aktuelle Geschehen in ihrer ganzen Vielstimmigkeit zu lenken, sei dies am Seminar in Basel oder im Doktorierendenkolleg „Transformations in European Societies“. Auf welche Weise aber lässt sich Transformation erforschen? Die Beiträge dieses Buchteils präsentieren vielfältige Antworten. Auf der Ebene der Lebenswelt wird im Beitrag von Walter Leimgruber zur Schweizer Auswanderin Linda, die als Unternehmerin in den USA lebt, Biographie und gesellschaftlicher Wandel verknüpft. Linda Martina Mülli richtet ihren Blick auf die UNO und die Transformationsprozesse, die neue und potentielle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durchlaufen. Daniel Gerson verbindet in seinem Beitrag über die langjährige freundschaftliche Beziehung zwischen einem Holocaustüberlebenden und

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einer jüdischen Philanthropin aus Indien Katastrophe und Freundschaft. Claudia Willms berichtet in einer persönlichen Reflexion über jene Passagen ihres Lebens, in denen Jacques Picard sie als Mentor begleitet hat. Niels Jul Nielsen analysiert individuelle Lebensstrategien in Migrationssituationen von ukrainischen Paaren in Dänemark und Khadeeja Haddy Sarr fragt nach den individuellen Bedeutungen von remittances. Klaus Schriewer und Juan Ignacio Becerra setzen sich mit der aktuellen Diskussion um Flüchtlinge in Deutschlands auseinander. Transformationsprozesse von Orten, Infrastruktur und Städten und die daran beteiligten Akteure stehen im Zentrum der folgenden Beiträge: Ausgehend vom Elefantenhaus im Basler Zoo verfolgt Ron Epstein-Mil den Weg der Elefantendame „Miss Kumbuk“. Irene Götz untersucht die Selbst-Positionierung der litauischen Hauptstadt Vilnius als europäische Stadt. Auch Mario A. Cavallaro befragt jene Wechselwirkungen in der städtischen Identität, die sich mit den Dynamiken des Kulturerbes verknüpfen. Und Sabine Eggmann demonstriert am Beispiel von Staudämmen zur Energie­gewinnung die sich aus diesen neuen technischen Infrastrukturen ergebenden Ver­änderungen. Mit „Erinnerung“ befassen sich die unterschiedlichen Texte von Moaz Azaryahu, Jacques Revel und Urs Altermatt. Während Maoz Azaryahu die Präsenz des Gedenkens an Theodor Herzl in der Stadtgeschichte Tel Avivs verfolgt, analysiert Jacques Revel luzid das Geschichtsverständnis von Siegfried Kracauer. Urs Altermatt zeigt am „schweizerischen Nationalheiligen“ Niklaus von Flüe die Transformationen des Erinnerns in der plurikonfessionellen und konfliktreichen Geschichte der Schweiz. Den Abschluss dieses Buchteils bildet Silvy Chakkalakals Gedicht, in dem sie Jacques Picards geliebte Metapher vom Schmuggeln reflektiert.

Brüche und Störungen Im dritten Abschnitt des Buches sind Texte zu lesen, die sich mit Störungen und Brüchen auseinandersetzen. Es geht um den Umgang mit Situationen des Leids, der Willkür und der Begrenzung und Ausgrenzung. Die Texte dieses Kapitels verdeutlichen die vielfältigen Verknüpfungen zwischen Individuen, Institutionen, nationalen und globalen Kontexten in Vergangenheit und Gegenwart. In den Texten von Jack Jacobs, Stefanie Mahrer, Beate Weinhold und Stefan Keller stehen individuelle Schicksale im Zentrum. Es geht um Verfolgung, um nationale und mentale Grenzen, aber auch um persönliche Entscheidungen, auf das Geschehen des Holocaust zu reagieren. Auch dies ist eine Perspektive, mit der sich Jacques Picard in zahlreichen Publikationen beschäftigt hat. Nada Boškovska skizziert die Rolle der Frauen in einem Befreiungs-

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krieg, der heute kaum mehr bekannt ist, dem der Makedonier gegen die osmanische Herrschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und Noëmi Sibold beschreibt ausgehend von Ausgrenzungen zu Zeiten des Nationalsozialismus die Debatte um Ausländerinnen und Ausländer an Schweizer Hochschulen. Dan Diner, Johannes Moser und René Bloch denken in ihren Beiträgen über den Umgang mit dem Holocaust nach. Klaus Plaar folgt der Interpretation der Judasfigur, Michael P. Steinberg diskutiert, inwiefern die Rezeption und das Tabu um Wagners Parsifal in Israel auch mit dekonstruktiven Momenten im Stück selbst in Zusammenhang stehen könnten. Ulrike Gehring bietet uns mit Blick auf die Shoah eine neue Interpretation der berühmten „The Family of Man“-Ausstellung. Und Richard I. Cohen setzt sich mit den Auswirkungen von Unterdrückung und Ausbeutung im Umgang mit Raubkunst auseinander. In einem engagierten Essay zeigt Dan Rabinowitz, welche Logik sich hinter dem theoretischen Konzept der Intersektionalität wie auch der praktischen Politik, israelische akademische und kulturelle Einrichtungen zu boykottieren, verbirgt. Die Texte dieses Abschnitts erinnern an die notwendige Wachsamkeit, die es gegenüber intoleranten, gewaltvollen oder totalitären Bestrebungen immer wieder und auch in scheinbar neuen Feldern zu schärfen gilt. Barbara Haering beschreibt, auf welche Weise heute auf politischen Bühnen Prozesse ins Stocken geraten können und wie nötig deshalb Diplomatie und Dialog für Friedensprozesse sind. Daniel Thürer erinnert in seinem Text an die eminente Wichtigkeit des „Rule of Law“ für freiheitlich verfasste Demokratien, während Idith Zertal sich auf Hannah Arendt und die Frage nach der Bedeutung von Freundschaft im Angesicht totalitärer Bedrohungen bezieht. Yves Kugelmann plädiert angesichts des europa-, ja weltweiten Scheiterns der Migrationsregime für eine neue, von Menschlichkeit geleitete Politik der Humanität. Heinzpeter Znoj zeigt in seinem Reisebericht aus West-Papua die Aktualität von Unterdrückung, Brüchen und Störungen durch vergangene wie aktuelle Interventionen und Gewalteinwirkungen auf. Und Daniel Kunzelmann nähert sich in seiner Analyse der Algorithmen, die den Inhalt des Internets bestimmen, einem Feld, in dem sich Unwissenheit und Manipulation scheinbar unbemerkt ausbreiten. Über historische Wahrheit und die mit ihr verknüpften methodischen Herausforderungen für eine die mündliche Überlieferung erforschende Geschichtswissenschaft denkt Gregor Spuhler nach. Sein Fachkollege Jakob Tanner behandelt die überaus aktuelle Frage des Umgangs mit Fakten (und sogenannten „alternativen Fakten“) mit historischer Tiefenschärfe. Shabih Zaidis Gemälde mit dem Titel „Shifting Imaginary“ schliesslich lädt ein zu vielfältigen Assoziationen. Abgerundet wird das Buch durch einen biographischen

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Text aus der Sicht des Jubilars; Eine Erzählung, die Véronique Hilfiker auf der Basis von Gesprächen mit Jacques Picard verfasst hat. Und ganz zum Schluss demonstriert ein Schriftenverzeichnis die Breite der Forschungs- und Themenbereiche von Jacques Picard.

Inspiration, Mut und Wertschätzung Am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel wird Jacques Picard vermisst werden. Er hat die intellektuell äusserst anregende und menschlich liebe- und humorvolle Atmosphäre des Seminars wesentlich mitgeprägt und mit seinen Themen, seinem Esprit und seiner Art starke Akzente gesetzt und neue Perspektiven eröffnet. Auf drei zentrale Aspekte seiner eigenen Lebenskunst, die uns auch für die künftige Arbeit Mut machen und Visionen geben, möchten wir kurz eingehen.

Mut Jacques Picard blickt auf einen vielfältigen beruflichen Weg zurück, der als Schauspieler, Pantomime, Lehrer und Regisseur begann. Seine Pantomimen-Gruppe aus Bern reiste mit dem VW-Bus bis in den Norden Schottlands. Er studierte Geschichte, Literatur und Volkswirtschaft an der Universität Freiburg/Fribourg. In diese Zeit fällt auch die Organisation des ersten schweizerischen Festivals für interreligiösen Dialog, zu dem er unter anderem den Dalai Lama einlud. Und man kann im vorliegenden Band auch von seinem Engagement als erfolgreicher Brautdieb lesen. Er verbrachte Zeit in New Mexico, Israel und New York. Parallel zu seiner Lehrtätigkeit am Lehrerseminar in Bern vertiefte er sich im Rahmen seiner Dissertation in die Geschichte der Schweiz und der Juden vor und während des Zweiten Weltkriegs – seiner Doktormutter Beatrix Mesmer, die ihn mit ihrer Klarheit bei dieser Arbeit, die auch die Geschichte seiner eigenen Herkunft und Identität betraf, begleitete, blieb er bis zu ihrem Tod 2015 eng verbunden. Jacques Picard wurde Dozent für Kultur und Politik an der damaligen Holzfachschule Biel und anschliessend Vorsteher der Designabteilung der mittlerweile in die Berner Fachhochschule integrierten Abteilung für Architektur, Holz und Bau – kein Wunder, dass er bis heute vom Material Holz fasziniert ist. Seine Dissertation war die erste wissenschaftliche Arbeit, die sich im umfassenden Sinn mit der Schweiz und den Juden in der Zeit zwischen 1933 und 1945 auseinandersetzte. Sie bleibt ein

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Standardwerk und begründete auch seine durch den Bundesrat erfolgte Berufung als Mitglied und Forschungsleiter der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK). Damit rückte er mit einem Schlag in die politische Öffentlichkeit – eine Welt, in der er sich bis heute überlegt bewegt, der gegenüber er aber auch Distanz wahrt. 2001 wurde Jacques Picard Professor und Leiter des Instituts für Jüdische Studien an der Universität Basel; von 2006 bis 2011 war er Forschungsdekan der Philosophisch-Historischen Fakultät und ab 2009 Leitungsmitglied des Seminars für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie am Departement Gesellschaftswissenschaften. Durch diese vielfältigen Erfahrungen entstand ein weites Netz an Kontakten, Freundschaften und Denkansätzen. Wenn er morgens einmal müde erschien, war es immer wieder spannend zu fragen, mit wem er in der letzten Nacht diskutiert oder in welches Buch er sich bis in die frühen Morgenstunden vertieft hatte. Für junge Forschende ist es bemerkenswert und bereichernd, dass Jacques Picards Biographie weit über „vernünftige“ oder strategische Karrierevorstellungen hinausreicht. Sie besitzt kein Drehbuch und keine taktisch optimierte Abfolge, ist vielmehr getragen von Offenheit, Neugier und gedanklicher Freiheit. Sie zeigt, wie unterschiedliche Disziplinen, vielfältige Institutionen, Wissenschaft, Kunst und gesellschaftliche Öffentlichkeit sowie präzise und reflektierte Forschung verbunden werden können. Und wie bereichernd die Erfahrung verschiedener Berufe und Perspektiven sein kann. Etwas, wofür in den aktuell propagierten universitären Laufbahnen kaum noch Raum vorhanden ist. Sein beruflicher Weg macht Mut, den eigenen Interessen, Talenten und Überzeugungen zu folgen, Begeisterungsfähigkeit zu behalten, sich einzulassen auf neue Situationen und Menschen, zu träumen, zu widersprechen und sich gestaltend einzubringen. Damit regt sein Weg nicht zuletzt dazu an, die Universität als Ort des freien Denkens, der kritischen Betrachtung und des Dialogs weiterzuentwickeln.

Wertschätzung Besucherinnen und Besucher, Studierende und Mitarbeitende erleben immer wieder erfreut, dass die Atmosphäre am Basler Seminar auf besondere Weise von Wertschätzung und Unterstützung geprägt ist. Ideen, Fragen und Gedanken treffen auf offene Ohren und werden konstruktiv gemeinsam weiterentwickelt. Gespräche mit Jacques Picard werden oft durch einen Kaffee und eine kurze Ruhepause eingeläutet. Er steigt auch in fahrende Gedankenzüge ein, zeigt eine Fülle von neuen möglichen Abzweigungen auf und macht Mut, einen eigenen Weg zu finden. Er strahlt innere Ruhe aus. Empörung über den steten Kampf mit dem Management des universitären Alltags

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verbindet er oft mit einem Quäntchen verschmitztem Humor und der Taktik des TaiChi. Mit dieser inneren Ruhe gehen Wertschätzung und Offenheit für Kollegen und Kolleginnen, Mitarbeitende und Studierende einher. Buchtipps aus allen Sparten und Richtungen ebenso wie gefaltete und beschriftete Artikel aus der täglichen Zeitungslektüre, Kontakte, Ideen, Möglichkeiten des Engagements oder der Sichtbarmachung der eigenen Arbeit gehören ebenso zu seiner Unterstützung und Förderung wie intensive und offene persönliche Gespräche. Auf diese Weise entsteht eine produktive, konstruktive und sehr kollegiale, freundschaftliche Zusammenarbeit. Die betreuten Arbeiten sind von einem weiten Verständnis der Kulturanthropologie getragen und scheuen sich nicht, über den fachlichen und universitären Tellerrand zu schauen.

Verbindung Auch am Seminar und an der Universität Basel insgesamt schuf Jacques Picard Felder, in denen ein grenzenübergreifender Austausch stattfinden konnte. So begründete er das Zentrum „Kulturelle Topographien“ mit, in dem er auch Leitungsmitglied war. Das Zentrum vernetzt Forschende aus verschiedenen Disziplinen und organisiert thematische Sitzungen und Veranstaltungen. In der Arbeit am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie konzipiert und führt er viele Exkursionen durch, auf denen er Studierende darin unterstützt, ihre eigenen Entdeckungen zu machen und sie wissenschaftlich zu reflektieren, so zum Beispiel nach Amsterdam, Israel, Karlsruhe und Berlin. Ebenso leitete er im wahrsten Sinne des Wortes interdisziplinäre Vorlesungsreihen, etwa 2015 zum Thema „Licht“ im internationalen Jahr des Lichts der UNESCO. Er brachte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von der Physik bis zur Kunstgeschichte und Religionswissenschaft zusammen und gestaltete ein Programm, das in dieser Breite und Offenheit der Kulturanthropologie einmal mehr ihre Möglichkeiten und Felder vor Augen führte. Jacques Picards Haltung auf den Punkt bringt die von ihm und Silke Andris moderierte Vorlesungsreihe „An den Grenzen. Trennlinien, Überschreitungen, Transmissionen“ im Jahr 2013, in der Doktorierende und Postdocs verschiedene Perspektiven auf die Thematik der Grenzen vortrugen. Diese wurden anschliessend im Band „Grenzen aus kulturwissenschaftlicher Perspektive“ von ihm, Silvy Chakkalakal und Silke Andris veröffentlicht. Und natürlich war und ist Jacques Picard massgeblich beteiligt an der Entstehung und Durchführung der sehr lebendigen internationalen Graduate School „Transfor-

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mations in European Societies“, in der Doktorierende aus acht Universitäten aus acht verschiedenen Ländern zweimal im Jahr zusammenkommen, und aus der unzählige neue Kontakte, Freundschaften und Projekte entstanden sind. Gerade hier zeigt sich, wie sich der Impuls des Verbindens und des über die Grenze Schmuggelns weiterentwickelt und verselbständigt. * Dieses Buch wäre nicht möglich gewesen ohne das tatkräftige Engagement und die spontane Unterstützung zahlreicher Personen. Wir danken den Autorinnen und Autoren für ihre klugen, herausfordernden und präzisen Texte, den Künstlerinnen und Künstlern für ihre stimmigen und analytischen Bilder und der Stiftung Jüdische Zeitgeschichte sowie der Stiftung Irène Bollag-Herzheimer für die grosszügige finanzielle Unterstützung. Mit grossem Einsatz und leidenschaftlichem Verve haben uns zudem unterstützt: Gaby Rosenstein bei der Organisation dieses Bandes, Saskia Kobelt, Tanja Bühler, Nina Wasser, Julia Planzer, Tim Harder und Noëmy Künzler bei der Organisation, Kommunikation, Recherche und dem Lektorat. Unser Projekt von Beginn an in den professionellen Händen von Dorothee Rheker-Wunsch und Julia Beenken vom mit Jacques Picard verbundenen Böhlau Verlag zu wissen, hat uns beruhigt und zugleich angespornt. Vielen Dank für diese Unterstützung. Wir sind dankbar für die gemeinsamen Wege mit Jacques Picard als Kollegen, Freund, Doktorvater, Förderer und Mentor und wünschen ihm von Herzen alles Gute für die sicher vielfältigen Projekte, die noch kommen mögen. Und wir wünschen allen viele inspirierende Entdeckungen in diesem Buch!

He wouldn’t last long Brigitte Lustenberger



1 WISSEN UND ATMOSPHÄREN



LIFE IN ACADEMIA No Laughing Matter? Maria Yelenevskaya

Introduction The publication of a Festschrift is a sign of a successful academic career. It is also a sign of the honored researcher’s appreciation, love and respect by his colleagues and students. This volume is no exception, paying tribute to Jacques Picard’s diverse contributions to history, anthropology and Jewish studies. Besides an inquisitive mind, and observant eye, analytical talents and profound knowledge, research in these fields requires such human skills as sensitivity to the values and griefs of others, tolerance and tact. It is to celebrate these qualities, as well as a cheerful disposition and a subtle sense of humor, which Jacques Picard possesses, that I am writing this essay about some perplexities of life in academia.1 Studies of humor and wit is an interdisciplinary field involving anthropologists and linguists, psychologists and sociologists, literature scholars and folklorists. In the recent decades there has also been a marked increase in the interest in the comic and humorous on the part of educators, management consultants and market researchers. Humor in the workplace is a hot topic2 while humor of specific professional and occupational cultures is still on the fringes of humor research. Rather, when it comes under scholarly purview it is viewed in terms of superiority and power relations (superiors vs inferiors, the experienced vs novices, the savvy vs simpletons), as a means of promoting solidarity and in-group cohesiveness, or as a method to release stress and anxiety. 1

2

Funding: This research was not funded (serves it right!). Conflict of Interests: The author declares that there is no conflict of interests. This essay was written specifically for this volume. All the texts downloaded from the internet are supplied with links, but if some of them appear on some other sites that are not quoted in this text (Sure they do!), this testifies to their popularity but not to malicious intents of the author. See. e.g. Holmes, Janet: Sharing a laugh. Pragmatic aspects of humor and gender in the workplace, in: Journal of Pragmatics 38 (2006), pp. 26–50; Lyttle, Jim: The judicious use and management of humor in the workplace, in: Business Horizons 50/3 (2007), pp. 239–245; Romero, Eric J./Cruthirds, Kevin W.: The use of humor in the workplace, in: Academy of Management Perspectives 20/2 (2006), pp. 58–69.

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Maria Yelenevskaya

One reason why humor in occupational settings is not always easy to investigate is that it may be inaccessible to outsiders due to a lack of knowledge of relevant terminology, skills, conventions and pitfalls. Yet, case studies comparing outsider and insider humor related to various professions could provide a new perspective on the values attributed to specific occupations in society. Since humor lives from the deliberate clash of incongruities and simultaneous perceptions of a situation in two habitually incompatible frames of reference, or bisociation,3 occupational jokelore can also reveal the often unexpected sides of organizational cultures, behavioral patterns and overt and covert attitudes shared by professional groups. In the days when humor in industrialized societies was mostly disseminated orally or in the press, the favorite butts of jokes and cartoons were doctors and dentists, judges and policemen, secretaries and waiters, teachers and students – members of occupational groups that often had contacts with the general public. As economy and the structure of the labor market were changing, so were the protagonists of humor. Thus, today besides miners’ jokes, you can find humor related to data mining4, telephoneoperator jokes have been complemented by humor of the call center5, and humor about ardent botanists and zoologists has been enriched by jokes on genetics and cloning6. You can even get a bit frustrated to learn that besides humor about robots and roboticists, there are jokes generated by Artificial Intelligence systems (Armstrong 2013), which crosses one of the final frontiers where we, humans, considered ourselves unique. In fact, many of the “expert” jokes are posted on websites of professional associations and in group blogs, some of which appeal to the visitors to contribute, which serves as testimony of a high value of humor in contemporary society. The role of academia and academics in the so-called “Knowledge Society” is rapidly changing, bringing about new challenges and uncertainties. Among these are emergence of new models of blended learning and distance education that reduce studentprofessor interaction, electronic publishing which on the one hand emancipates researchers from the dictate of established journals, but on the other hand opens the door to the studies that did not go through rigorous peer reviewing. Other problems that worry the research community are turning science into mass production, infatuation with quantity which outweighs quality and over-reliance on various indices when 3

Cf. Koestler, Arthur: The act of creation, in: Lindsley, Donald B./Lumsdane, Arthur A. (Eds.): Brain Function (IV/6), Berkely/Los Angeles 1967, pp. 327–346. 4 Cf. http://www.kdnuggets.com/websites/cartoons.html (20.09.2016). 5 Cf. https://www.callcentrehelper.com/call-centre-jokes-146.html (20.09.2016). 6 Cf. http://www.juliantrubin.com/cloningjokes.html (10.05.2016).

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a researcher’s impact is evaluated. The modest goal set in this essay is to show how these doubts and concerns are reflected in the context of humor use, dominant themes and humor genres. Since the principal media of humor dissemination today are electronic I drew material for analysis from humor hubs7, blogs, discussion forums, and social network sites: Facebook, ResearchGate and Academia.edu. I also studied career advice websites, documents circulated by universities functioning as FAQ documents for graduate students and junior faculty. I have been collecting material for a period of four months, although my ethnographic diaries contain notes made over 20 years of participant observation. My primary focus in this project was on texts but I also looked at multimedia ensembles, incorporating cartoons, manipulated images and videos, altogether 250 pieces.

Humor in academic teaching: Does it apply? Academia is often perceived as a place where seriousness rules, and joking, teasing, punning and practical jokes are inappropriate. Consider this statement by psychologists who have done various studies on humor perception and generation, “People who employ humor more often may use it not only in socially approved instances, but also in less humorously-sanctioned situations, such as interpersonal distress, relational conflict, or even college classroom”8. Two things seem strange here: first, that life situations can be “humorously sanctioned”. It is hard to imagine that “sanctioned” humor will be effective, because its essential power is in questioning societal norms, subverting regulations and undermining authority. Secondly, anthropological and psychological research has accumulated ample evidence that humor is widely applicable in situations of distress, and may be a successful strategy in conflict resolution.9 Finally, the word “even” emphasizes that the least appropriate of the three “unsanctioned” situations for the use of humor is a college classroom.

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8 9

A humor portal or hub is an online repository of humor pieces that are regularly updated and the contributions sent by the users are automatically arranged chronologically and divided into genres and thematic categories. Booth-Butterfield, Steven/Booth-Butterfield, Melanie: Individual differences in communicating humorous messages, in: The Southern Communication Journal 56/2 (1991), pp. 205–218, here p. 215. See e.g. Lefcourt, Herbert M./Martin, Rod A.: Humor and life stress. Antidote to adversity, New York et al. 1986; Norrick, Neal/Spitz, Alice: Humor as a resource for mitigating conflict in interaction, in: Journal of Pragmatics 40/10 (2008), pp. 1661–1686.

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Although humor in educational settings has been investigated for more than four decades now, even researchers publishing papers about it express a lot of reservations. They aptly note that educators without a predisposition to be funny and witty, i.e., people without humor orientation, will hardly succeed in it. These studies remind us that humor is a double-edged sword since some of its types, in particular, sarcasm and self-disparagement are sometimes discouraging but sometimes are appealing.10 Among the positive humor effects various authors mention stress relief and reduction of test anxiety and also facilitation of retention of novel information and improvement of problem solving skills.11 Many projects investigating the use of humor in education rely on the development of humor scales and statistical methods to find out which humor works and which does not. Unfortunately, reflective projects analyzing how changing contexts of academic education and changes in humor consumption by current student populations can affect the use of humor in tertiary education are still lacking. In my own teaching experience, educational blogs in which power distance between teachers and students is reduced, and course management systems like Moodle, enabling constant updating and quick response to what occurs in the learning process, give new opportunities to the use of humor in teaching and allow us to take advantage of the immediacy of electronic media. In fact, students themselves start sharing their favorite humor pieces as part of the learning process. Some of the cartoon and comic strips that I use in teaching were contributed by students as tokens of gratitude for sharing laughs with them. Today, when university courses are advertised online and departments and individual professors have their own web pages, professors have new opportunities to extend their teaching activities. One can post lecture notes, feedback to home exercises and quizzes and also humor. Let me give you two examples from different fields. David Morin, a Harvard physics professor posted a collection of his limericks12 on his website. In the introduction he expresses hope that they will give the reader not only visual but also educational pleasure. Modest about their literary value, he assures the site visitor that his limericks are physically accurate. Each one is supplied with an introduction and some are followed by explanatory notes: 10 Cf. Frymier, Ann et al.: Assessing students’ perception of inappropriate and appropriate teacher humor, in: Communication Education 57/2 (2008), pp. 266–288. 11 See relevant literature in Torok, Sarah E./Mcmorris, Robert F./Lin, wen-Chi: Is humor an appreciated teaching tool? Perceptions of professors’ teaching styles and use of humor, in: College Teaching 52/1 (2004), pp. 14–20. 12 The limerick is the most popular form of English comic verse, often nonsensical and bawdy. It had existed long before the 19th century when it acquired its name. Consisting of five lines, it has a rather rigid structure and poetic meter. The first known limericks date back to the 13th century, but its sweeping success in England is due to the English artist Edward Lear who wrote a “Book of Nonsense” in 1848. The popularity of limericks has crossed national and linguistic borders. Today, there are many bilingual limericks.

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People tend to rely a bit too much on computers and calculators nowadays, without pausing to think about what is actually going on in a problem. The skill to do math on a page Has declined to the point of outrage. Equations quadratica Are solved on Math’matica, And on birthdays we don’t know our age.13

I have deliberately chosen a limerick that does not require special knowledge; others are quite sophisticated. It is also a good example that humor in education can be disparaging but not offensive. The quoted limerick targets students but only implicitly. By using the inclusive pronoun “we” the author makes the loss of a skill to do simple math without a calculator a common feature of our contemporaries. My second example comes from Leiter Reports: A Philosophy Blog. Its owner is Brian Leiter, the University of Chicago Law School professor and founder of Law School’s Center for Law, Philosophy & Human Values. The profile of the blog is news and views about philosophy, the academic profession, academic freedom, intellectual culture, and other topics. Leiter often gives the floor to “visiting bloggers”. One of these is a graduate student at UNC-Chapel Hill, Larisa Svirsky. She is the author of humorous poems dealing with various classic philosophers but also her own teachers, and the topics they discuss in courses. Many of her poems start with light-hearted “higgledypiggledy”, a reduplication phrase denoting a mess or confusion. It implies the breaking of the seriousness of philosophical discourse but the poems touch upon such complex philosophical issues as moral responsibility, modal semantics, relations between language and thought, and others. The genre in which she excels is “philimericks”, one of which is quoted here: Philosophers spooked by modality Had a difficult time with causality Before Lewis’ antics With counterfactual semantics Exploded the concept “reality”.14

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https://www.physics.harvard.edu/academics/undergrad/limericks (05.10.2016). http://philimericks.tumblr.com/page/3 (05.10.2016).

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Larisa has followers among her colleagues, but also a precursor, the American academic philosopher Richard E. Aquila, who wrote the book “Rhyme or reason: A limerick history of philosophy”15, presenting the history of philosophical theories from antiquity to modernity. Some limericks are independent texts, but others are linked into narratives about specific schools of philosophy. Such deviations from the scholarly discourse may be viewed as eccentricity, but eccentricity, when it is enacted not as a distraction but is subject-oriented, can turn into an excellent teaching tool facilitating learning.16 Everyone can remember such eccentrics from study time and even years after graduation our teachers’ puns, funny riddles or mock experiments are alive in our memories. Moreover, for some of us they become part of our standard storytelling repertoire and the wisdom which was once considered incidental remains fresh. According to my observations, internet humor resources that can be used for tertiary teaching are unevenly distributed across disciplines. Educators have already shown that humor works well in courses that are dreaded by students or when the subject matter is considered tedious.17 No wonder then that in humor repositories jokes for mathematicians, physicists and statisticians are abundant.18 Paradoxically, social scientists and researchers in humanities, who we would expect to embrace the humane practice of finding funny sides of life, seldom create such collections. All the more valuable are contributions among proponents of humor in sociology.19 All these sites advocate the use of their materials in courses. For anthropologists, even if they are not curious about mathematics or engineering, there is a lot to find in academic humor collections. One can see, for example, how ethnic joke scripts in which different nationals brag about advances of civilization in their countries or smartness of their co-ethnics turn into mock contests of approaches to different problems proposed by specialists in different disciplines: 15 16

Aquila, Richard E.: Rhyme or Reason. A limerick history of philosophy, Lanham 1981. Cf. Keller, Walter D.: Eccentricity as an effective teaching ploy, in: Journal of Geological Education 25 (1977), pp. 44–45, here p. 45. 17 Cf. Garner, R.L.: Humor in pedagogy: How ha-ha can lead to aha!, in: College Teaching 54/1 (2006), pp. 177– 180. 18 See e.g. mathematical jokes collected by Andrej and Elena Cherkaev, https://www.math.utah.edu/~cherk/ mathjokes.html (03.10.2016); Gary Ramseyer’s First Internet Gallery of Statistics Jokes, http://my.ilstu. edu/~gcramsey/Gallery.html (03.10.2016), featuring 200 subject-related texts; humorous articles, reports, cartoons and comic poetry on the official site of the American Physical Association, https://www.aps.org/programs/outreach/humor.cfm (03.10.2016). In September 2000, “Math Jokes” was featured among the top ten educational sites on the World-Wide Web, by the project “Learning in Motion”, http://www.learn.motion.com (20.01.2004). 19 See Funny Science: Sociological M/Sadness, http://www.sociosite.net/funny.php (21.02.2017) a humor section of Sociosite, a Social Science Information System constructed and managed by the University of Amsterdam.

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A mathematician, a biologist, and a physicist are sitting in a street-side cafe watching people going in and coming out of a house on the other side of the street. First they see two people going into the house. Time passes. After a while they notice three persons coming out of the house. The physicist says, “The initial measurement wasn’t accurate.” The biologist says, “They have reproduced.” The mathematician says, “If exactly 1 person enters the house, then it will be empty again.”20

Some of the postings give evidence that professional humor can intertwine with politics, responding to societal problems and fears, such as security issues and terrorism: When a statistician passes the airport security check, they discover a bomb in his bag. He explains. “Statistics shows that the probability of a bomb being on an airplane is 1/1000. However, the chance that there are two bombs at one plane is 1/1000000. So, I am much safer ...”21

Clearly, this text destroys the myth of academia being an ivory tower where professors can hide from reality. There are also examples of humorous events organized by scientists becoming the source of new texts, turning them into meta-jokes: I heard on the radio that Enron, World Com, Global Crossing, Tycho and Arthur Anderson have been selected to receive the “Ig Noble Prize”22 in Economics this year. The Prize was awarded to these companies for their use of imaginary numbers in business.23

Despite a constantly growing repertoire of academic humor, attitudes of university professors to the application of humor in class, homework and tests remains ambivalent: on the researchers’ social network Academia.edu, the group “Humor and Laughter in Education” numbers more than 2,000 members although many of the participants have no publications about humor, but are just interested in the subject. On the 20 21 22

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http://www.gly.uga.edu/railsback/acadhum1.html (20.10.2016). https://www.math.utah.edu/~cherk/mathjokes.html (15.10.2016). The Ig Nobel Prizes are annual awards for research projects that first make people laugh, then think. Launched in 1991 in Harvard by Marc Abrahams, they have evolved into a tradition. A board of scientists, journalists and street passers-by select the most unexpected research projects brought to their attention, irrespective of whether these are good, bad or even absurd science. The organizers hope that in this unusual manner they can encourage scientific imagination and spur interest in science, research and technology among members of the lay public (see the website of the prize, http://www.improbable.com/about/ (20.10.2016)). http://www.sonoma.edu/Math/faculty/falbo/jokes.html (03.10.2016).

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other hand, my attempt to launch a discussion about the use of humor in academic settings on ResearchGate gave very modest results, with three times as many lurkers as active participants. The latter were in favor of using humor for educational purposes, and one expressed regret that the theme of humor is seldom discussed by academics. In a highly provocative article defending humor and irony in academic work, researchers specializing in professional education, C. Watson and I. C. Battle, bitterly state that “Humor hasn’t just been neglected by social scientists, it has been actively rejected. To be a humorous academic appears to be an unacceptable oxymoron and those who use humor in their work run the risk of being seen as non-serious, and therefore trivial”24. These complaints about fear of humor are echoed by historians Hoffer25 and Kennedy. The latter calls on his colleagues not to be prisoners of professional pretensions and open up to what is amusing, absurd or hilarious in history. In addition, he offers some observations that might help his daring colleagues tempted by his call for comedy. His first recommendation is to start small and move further, probing carefully; the second is not to discount the mundane and be on the alert for what might first seem commonplace and insignificant; the final recommendation might be the most revealing: “… don’t try this until you have tenure!”26

Academic humor as critical engagement: Between power struggle and political resistance Researchers writing about humor in education caution against offensive humor. Indeed, most of the texts and cartoons devoted to academic life are benign, but there are some topics which trigger aggressive humor. In my sample three themes are salient: education and science becoming a money-making business, universities turning into sweat-shops, and quagmires of publishing. When these themes come to the fore, the genre of jokes retreats, giving way to comic lists and parodies. As a sub-genre of office folklore, comic lists emerged in the 1970s. It is represented by lists of definitions and instructions, rules and recommendations, specific features of various groups, etc. They mirror folk attitudes to societal hierarchies and often 24 25 26

Watson, Cate/Battle, Ioannes Costas: An education in irony. Why academics need to be funny, http://theconversation.com/an-education-in-irony-why-academics-need-to-be-funny-55261 (07.04.2016). Hoffer, Peter Charles: The historians’ paradox. The study of history in our time, New York 2008, pp. 62–64. Kennedy, Dane: Where is the humor in history?, in: Perspectives on history, https://www.historians.org/publications-and-directories/perspectives-on-history/february-2011/wheres-the-humor-in-history (15.10.2016).

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reflect social conflicts and intergroup struggle for power.27 Comic lists about academic life are stylized as behavioral features of graduate students, variations on how to decipher acronyms and abbreviations used in academic discourse, such as Ph.D., reasons why eminent scholars and god himself would not get tenure, etc. Some of these lists appeared on the internet already in the 1990s but they are reposted in forums and blogs still today. Another popular format is manuals for new Ph.D. students and young faculty members. They parody texts issued by universities and academic associations. The most frequent words in the title of serious and tongue-in-cheek manuals is “survive” and “survival”. Here are just a few examples: “Survival guide for new academics”, “Academia: Survival of the bitterest”, “Survival manual for new faculty”, “Practical tips to surviving academic life”, “Twelve guidelines for surviving science”, “Conferences and how to survive them” and many similar ones. The sheer number of such titles would suggest to a novice in academia that he/she is entering a battlefield, where professors are “besieged by students” and “the pressure levels are so high they will bust you right into the sixth dimension”. Newcomers learn that the best way to navigate in such an environment is to build up a “dispassionate, bulletproof shield of resilience”. Many of these texts are followed by readers’ comments and reflect the problem bothering academics: how to maintain life-work balance. This theme comes up in the University Workplace Survey, an anonymous study conducted by Times Higher Education among British academics annually. The 2016 survey reveals that 89 per cent of the academic respondents work beyond normal hours, and 68 per cent believe they work too much.28 Concern about time management often arises in academic forums, in social media and also in academic humor. Here is what we find on the comic list of definitions of academic terms for assistant professors: Academic Freedom: being free to work any sixty hours of the week one likes. Weekend: those days on which one need neither dress well nor wash one’s hair before coming to work.29

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Dundes, Alan/Pragter, Carl R.: When you are up to your ass in alligators. More urban folklore from a paperwork empire, Detroit 1987, p. 17, pp. 29–31. Grove, Jack: The university workplace survey 2016: Results and analysis, https://www.timeshighereducation. com/features/workload-survival-guide-for-academics (20.02.2016). http://www.gly.uga.edu/railsback/acadhum2.html (02.10.2016).

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In 2014 a discussion thread “What are the life styles of researchers and how do they manage their time?” appeared on ResearchGate. It lasted for five months.30 At the same time, four more similar topics were discussed in other threads and all of them attracted researchers of both genders, coming from different countries, representing different fields of science, and occupying different positions in the academic hierarchy. Many admitted being overwhelmed by mounting workload, others, primarily women, gave advice on multitasking, still others did not separate work and life: “Science is life – no other choices” (L.B.), “Time management is always a difficult thing when you are passionate about things, and I do think it is important to be passionate about science if you do research” (C.H.). There were also creative and witty solutions: “Switch off computer, switch on life (…) in any case the lab will follow you even when you are outside” (A.V.), “Marry with another one scientist and together you could live your personal life in the lab. It’s the only way” (C.T.). It is this positive attitude that explains why the words “workaholic” and “obsession” sometimes receive positive connotations when scientist talk about themselves. The growing commercialization of science is another theme raising controversies. A Google search with key words “How to sell your research” yields 297,000,000 webpages. Even though keyword search lacks precision, already the first 100 sites suggest that the problem is widely discussed by academics, career consultants and research trainers in such respectable publications as the Guardian “Leaving Academia? How to sell yourself to new employers”31, or American Psychological Association “Sell your research in writing”32. The most audacious in my sample is the article published in the blog newspaper Thesis Whisperer for Ph.D. students “How to sell your thesis in 3 minutes (or less)”33. In this and many other articles scientific projects, ideas and researchers themselves are discussed as products and commodities. Among earnest recommendations on how to market oneself successfully, we also find texts full of caustic remarks which create ambivalence as to the authors’ true attitude to the subject. A case in point is an article by the virusologist J. Tregoning “Build your academic brand, because being brilliant doesn’t cut it any more” (2016).34 In a short text words related 30 Cf. https://www.researchgate.net/search.Search.html?type=question&query=What+are+the+lifestyles+of+researchers+and+how+do+they+manage+their+time%3F (30.01.2015). 31 https://www.theguardian.com/higher-education-network/blog/2014/jan/10/researchers-developing-transferable-skills (19.10.2016). 32 http://www.apa.org/gradpsych/2007/01/cover-writing.aspx (19.10.2016). 33 https://thesiswhisperer.com/2010/07/01/how-to-sell-your-thesis-in-3-minutes-or-less/ (19.10.2016). 34 Tregoning, John: Build your academic brand, because being brilliant doesn’t cut it any more, http://world.edu/ build-your-academic-brand-because-being-brilliant-doesnt-cut-it-any-more/ (17.02.2017).

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to sales are constantly reiterated: “brand” appears 13 times, “sell” – five, “sale/s” and “product” – three each and “salesmanship” – twice. Moreover, these words occupy strong positions in the text, as they are used in the title and subheadings: “Be the brand – you are the product”, “Develop the brand – publish or perish”, and “Sell the brand – break the bread”, and also in the introductory and final paragraphs. Thus the main theme expressed in the title dominates the whole article. But when the author suggests that scientists should choose “snappy” titles for articles, “glossy” journals for publications, and hone their research brand to “Kardashian level”,35 is he instructing the reader for a scientific or a show-business career? When he urges his colleagues to forget about modesty, to corner colleagues at conferences and to be shameless without being rude, should the reader take his advice at its face value or be alarmed about growing commercialization of science? The proverbial “publish or perish” often triggers emotional response of academics who complain that a race for quantity is done at the expense of quality. In protest, a group of academics united to launch the “slow science” movement. Notably, in pushing for less haste in the way science is done today the authors of the manifesto say that time is needed to foster the lost dialogue between sciences and humanities.36 Laughter has rich history of being used as a form of protest, so it is not surprising that in repositories of academic humor we find parodies of articles lacking substance and peer reviews making little sense. Some publishing academics probably have their own repertoire of anecdotes about reviewers misreading their texts or reading them carelessly. Reviewers on their part have their own criticisms when they have to judge articles reprocessing material which they previously reviewed for other journals, or when they easily recognize the author/s from the list of references, which destroys the anonymity of the process. I am even familiar with a case when after submitting an article for publication, the author himself received it for blind peer review. Such incidents, although they may sound amusing, are consequences of scientific publishing turned into mass production. Besides parodies of reviews, there are texts parodying letter exchanges between authors and editors. Below is one that gives vent to anger a rejected author may feel: Dear Journal Editor, I regret to inform you that I cannot accept your rejection of my manuscript at this time. As someone struggling to publish in a very competitive field, I have high standards for accepting 35 36

Kim Kardashian is an American reality-show personality, model and businesswoman. http://slow-science.org/ (20.10.2016).

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refusals from editors. Although your letter certainly has merit, and although it may in fact apply to some other submission to your journal, it does not meet my standards as a junior faculty member. Even if you were to make revisions of your present letter, I am afraid it would not suit my needs. In addition, I at present have a surplus of letters like yours and could not justify accepting it. Given the large number of letters of rejection that I receive, I must be very selective as to which letters I do indeed accept, as I am sure you can understand. Friends of mine who read your letter gave reviews that were at best mixed. One friend said, “I cannot believe he wrote this letter to you.” Another wrote, “This makes sense. He just wants to publish work by his buddies.” Given the mixed reactions of my friends and my own negative assessment, I would be remiss to accept a letter like yours in its present state. However, should you be willing to send a letter that is more accepting, more open, and more encouraging to publication, I would seriously reconsider my present rejection of your letter. Best of luck in rejecting future manuscripts. Sincerely, …37

The comic effect of the text is achieved by preserving the script and the formulas typical of the genre but reversing the roles. In the topsy-turvy world of the parody the power passes from the judge to one who is judged. An aggressive element of this text comes up in the final sentence implying that ill-guided policies rather than constructive criticism sometimes rule in academic gate-keeping.

Instead of a conclusion A sense of humor is an elusive category and defies easy definition. Humor researchers do not only try to give comprehensive definitions but also analyze, rate and find ways to develop it. As always, one can find easy solutions on the internet. There is no lack of sites promising that one would develop a great sense of humor in three steps or using as few as four or five suggested tips. Scientists are more cautious. In 1998, a team of Israeli researchers conducted an experiment in which they tested a program aimed at developing high-school teachers’ sense of humor. The participants reported that their skills of understanding other people’s humor and producing their own had improved, 37

http://www.gly.uga.edu/railsback/acadhum1.html (15.10.2016).

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and designers of the program evaluated it as modestly successful.38 The reason to develop a sense of humor in educators and scientists is clear: it requires an observant eye, sensitivity to weaknesses and creativity, which are also essential qualities for teaching and research. In a paper devoted to the use of humor as a teaching tool, describing the experiment run by Nevo and her colleagues, the authors wrote, “If high school teachers are educable, perhaps professors are as well”39. I hope academic humor quoted in this essay gives sufficient proof that professors are quite capable of using humor and wit in various ways and some excel in it. On the site of the American Volunteer Match Organization I found this ad: “Fearless leader needed, preferably one with a sense of humor to work in high school setting”40. I wonder whether one day job descriptions of university professors will include the same desirable qualities.

Endnote This essay would be incomplete without a comic verse dedicated to Jacques Picard: There is a professor in Basel Who solved many a history puzzle. His profound research of modernity Has secured him a place in eternity. Says he: Basta, I’m done; I want life full of fun, So down with hustle and bustle!

38 Cf. Nevo, Ofra/Aharanonson, Haim/Klingman, Avigdor: The development and evaluation of a systematic program for improving sense of humor, in: Ruch, Willibald (Ed.): The Sense of Humor. Explorations of a Personality Characteristic, Berlin/New York 1998, pp. 385–404. 39 Torok/Mcmorris/Lin, Humor, p. 19. 40 https://www.volunteermatch.org/search/opp2028868.jsp (17.10.2016).

COMIC JOURNALISM UND ETHNOGRAPHIE Ein Versuch zum Dialog zweier Wissenspraxen Ina Dietzsch

Joe Sacco ist Comic-Zeichner und – so meine im Folgenden ausgeführte These – Paraethnograph. Wir verdanken ihm tiefe Einblicke in das alltägliche Leben der besetzten palästinensischen Gebiete, die weltweit große Anerkennung gefunden haben1 und die Etablierung eines innovativen Genres, das heute gemeinhin als comic journalism oder comic reportage bekannt ist und im Kontext eines „neuen“ Journalismus steht, der in den 1960ern/1970ern entstand.2 Im Vorwort zu Saccos Palestine schätzte Edward Said dessen Arbeit politisch und ästhetisch als bemerkenswert ein, weil sie sich in ihrer Originalität von den unfruchtbaren und verfahrenen Debatten abhebe, wie sie zwischen Israelis und Palästinensern bzw. den sie Unterstützenden immer wieder geführt werden. Besonders betonte Said dabei: There’s no obvious spin, no easily discernible line of doctrine in Joe Sacco’s often ironic encounters with Palestinians under occupation, no attempt to smooth out what is for the most part a meager, anxious existence of uncertainty, collective unhappiness, and deprivation, and, especially in the Gaza comics, a life of aimless wandering within the place’s inhospitable confines, wandering and mostly waiting, waiting, waiting.3

Innovativ und originell ist dabei nicht nur, wie sich Text, Bild und Zahl miteinander verbinden, sondern auch, dass die Verknüpfungen von Erzählungen, Dialogen und visualisierten Soundeffekten einer zunehmenden alltäglichen Relevanz unterschiedlicher Darstellungs- und Erzählformen gerecht werden, ohne deswegen beliebig zu sein. Virtuos spielen die Comics auf der Klaviatur narrativer Genres zwischen Situation, Epi1

2 3

Für die episodisch angelegte Comic-Reportage Palästina (2001), die auf Beobachtungen und Interviews mit Israelis und PalästinenserInnen während eines zweieinhalbmonatigen Aufenthaltes (1991/92) beruht und die zwischen 1993–1995 bereits als Einzelcomics publiziert wurde, erhielt er den American Book Award 1996 und für Gaza 2009 – „a dense, rigorously researched graphic narrative about contemporary life in Gaza and ist ties to the 1956 Rafah Massacre.“(Worden, Daniel (Ed.): The Comics of Joe Sacco. Journalism in a Visual World, Mississippi 2015, p. 6.) den Einser Award und den Ridenhouer Book Prize 2010. http://cartoonmuseum.ch/ausstellungen/joe-sacco (16.02.2017). Said, Edward: Preface, in: Sacco, Joe. Palestine. Fantagraphics Books, Seattle 2003, p. 2.

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sode, linearer und verflochtener Mehrebenen-Geschichte, auktorial erzählt oder in Träume und Selbstreflexionen verstrickt. Nora Berning betont vor allem die epistemologische Flüssigkeit4, die sich in Saccos Büchern findet. Diese lässt sich ebenfalls im Kontext aktueller medialer Entwicklungen lesen, hin zu einer „visual world“, in der Menschen vor allem auf Bilder reagieren5 und in der Subjekte „[are] unable to find any stable vantage point, any objective or totalizing sense of [their] relation to the world“6. In diesem Essay möchte ich einige Überlegungen dazu anstellen, was die Arbeiten von Joe Sacco ethnographisch vorgehenden WissenschaftlerInnen zu sagen haben. Wo können sie deren Forschungen inspirieren oder auch produktiv ergänzen? Das Ethos, mit dem Sacco sein Wissen erzeugt, entspricht in vielen Punkten dem Vorgehen von wissenschaftlich arbeitenden EthnographInnen. Mein Versuch soll es hier deshalb sein, ihn als einen collaborator bei der Produktion ethnographischen Wissens zu betrachten. Im Sinne George Marcus’ konstruiere ich damit einen „para-site of ethnographic knowledge“, einen Raum, „[that] blur[s] the boundaries between the field site and the academic conference, [...] where ethnographers work [...] with others, who are patrons, partners, and subjects of research at the same time.“7 Dafür werde ich zunächst etwas genauer vor allem über Gemeinsamkeiten von Saccos Reportagen und wissenschaftlicher Ethnographie reflektieren, um in den folgenden Abschnitten dann am Beispiel von graphic listening genauer auf methodische Fragen einzugehen und später, in einem dritten Schritt, am Umgang mit Materialität in Saccos Büchern aufzuzeigen, dass die Beschäftigung mit dieser Art von comic reportage auch theoretisch inspirierend sein kann.

Ein paraethnographischer Raum und die Befreiung vom Text Joe Sacco versteht seine Bücher als Reportagen. Die Nähe der Reportage zur Ethnographie ist keine Neuigkeit. Rolf Lindners Arbeiten über die Chicago School haben illustriert, dass zumindest die Chicagoer Variante der Ethnographie über Personen wie 4

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Berning, Nora: Graphic Narrative Theory Meets Genre Theory. A Model of Interpretation of Joe Sacco’s Safe Area Gorazde, in: Basseler, Michael/Nünning, Ansgar/Schwanecke, Christine (Eds.): The Cultural Dynamics of Genre Change in Contemporary Fiction. Theoretical Frameworks, Genre and Model Interpretations, ELCH 56, Trier 2013, pp. 315–328, here p. 315. Sacco, Joe: But I like it. Fantagraphics, Seattle 2006, p. 107. Jameson, Fredric: Postmodernism and Consumer Society, in: Jameson, Fredric: The Cultural Turn. Selected Writings on the Postmodern, New York 1998, zitiert in: Worden (Ed.), Comics, p. 11. Marcus, George: Para-Sites. A Casebook Against Cynical Reason (Late Editions 8, Cultural Studies for the End of the Century), Chicago 2000, p. 5.

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Robert E. Park der urbanen Reportage verschiedene Anleihen entnommen hat: Schon im klassischen muckracking als einer Form investigativen Journalismus’ ging es um die Vermittlung von Innenansichten fremder Lebenswelten innerhalb einer Stadt.8 Dabei bemühten sich JournalistInnen vor allem darum, „geheime“ Aspekte von Institutionen öffentlichen Interesses aufzudecken, Missstände offenzulegen und Heucheleien in der Politik zu entlarven. Eine Reihe von Slum- und Unterweltstudien suchten zudem Unwissen über „andere“ urbane Lebenswelten zu überwinden und zu Toleranz zu ermutigen. Dabei fand sowohl die Kombination verschiedenster Dokumente Anwendung (statistische Daten, räumliche Kartierungen, Zeitungsartikel, Polizeiberichte, Gerichtsakten) als auch ein breites Spektrum an Methoden (detaillierte Beobachtung, z.T. undercover; die Auswertung von Aufzeichnungen sozialer Dienste, Lebensgeschichten, informelle Interviews)9. Und das Erste, was Studierende bei Robert E. Park und Ernest Burgess in Chicago lernen mussten, war „das Beobachten und das Aufzeichnen ihrer Beobachtungen; das Lesen und dann die Auswahl und das Aufzeichnen der Daten, die als Erträge aus ihrer Lesetätigkeit hervorgehen; kurzum: die Organisation und den Gebrauch ihrer eigenen Erfahrungen.“10 (Park/Burgess 1924: 95) Sacco nimmt beide dieser Traditionen auf, indem er sich jenen Lebenswelten des oft Unaussprechlichen widmet, die von massiver Gewalt geprägt sind, in massenmedialen Darstellungen generalisierend abgewertet werden oder ganz einfach keine Darstellung finden. Er nähert sich ihnen mit Empathie und Unvoreingenommenheit, beherrscht den Gebrauch der eigenen Erfahrung und lässt dies auch mit überraschender Konsequenz in seinen Reportagen sichtbar werden. Er reflektiert beständig den Prozess seines Erzählens, und setzt sich z.B. mit der Kommerzialität journalistischen Wissens und den Folgen, die diese auf die erzeugten Geschichten hat, auseinander. Auch irritiert er systematisch den Anspruch journalistischer Objektivität, indem er „never makes an ultimate claim to truth“11, sondern vielmehr durch seine Anwesenheit in den Zeichnungen permanent auf die Subjektivität und zugleich auch auf die Medialität seines ganzen Projektes verweist. Musste sich die Chicago School noch mit dem Reporter als Sozialtypus auseinandersetzen, der zunächst Anleihen eines Schnüfflers hatte, weil das Interview mit seinem Frage-Antwort-Modus der interrogativen Methode von Vernehmungen entlehnt 8 9 10 11

Vgl. Lindner, Rolf: Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage, Frankfurt a. M. 1990, S. 40–44. Lindner, Entdeckung; Lindner, Rolf: Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung, Frankfurt a. M./New York 2004; Keller, Reiner: Das interpretative Paradigma, Wiesbaden 2012. Park, Robert E./Burgess, Ernest W.: Introduction to the science of sociology, Chicago 21924 [1921]. Berning, Graphic, p. 320.

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Joe Sacco: Palästina, Edition Moderne 2009, © Verlag bbb Edition Moderne AG Zürich, S. 183.

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war12, sind Saccos GesprächspartnerInnen den Umgang mit JournalistInnen gewohnt, z.T. aber auch davon frustriert und enttäuscht. Methodisch interessant ist hier wiederum die Ähnlichkeit mit der Praxis gegenwärtiger EthnographInnen, die in beständig wechselnden Rollenanforderungen besteht. So debattiert er einmal mit seinen GesprächspartnerInnen über Feminismus und postkoloniale Theorie und muss sich ein anderes Mal auch der Frage stellen, wem das eigentlich hilft, wenn er über all das hier schreibt. Das Beobachtete bleibt dabei nicht nur deskriptiv. Vielmehr kann man quasi zuschauen, wie sich sein Material verdichtet und „sättigt“ – wie in diesem Beispiel: In Dschabalia sagt Sacco zu seiner Schlüsselperson Sameh: „Ich würde gern mit einem Alten reden, der sich noch an 1948 erinnert.“ Das nächste Bild zeigt die beiden im Gespräch mit einem älteren Mann,13 von Sacco kommentiert mit: „.... und so ging es, er organisierte ein Interview nach dem anderen ...“ und „hakte meine Liste sehr methodisch ab.“ Über 30 Seiten später kann man dann lesen: … „und wieder ein Interview mit einem alten Mann, er flüchtete 1948 nach Gaza ...“14 Sacco erreicht somit die Glaubwürdigkeit seiner Erzählungen nicht durch Objektivität, sondern durch Transparenz, Verdichtung und – durch Historisierung: With comics you can put interesting and solid information in a format that’s pretty palatable. For me, one advantage of comic journalism is that I can depict the past, which is hard to do if you’re a photographer or filmmaker. History can make you realize that the present is just one layer of a story. What seems to be the immediate and vital story now will one day be another layer in this geology of bummers.15

Diese Nähe zum ethnographischen Arbeiten in der Wissenschaft erlaubt es, Sacco als Paraethnographen zu verstehen. Mit seinen Comic-Zeichnungen ist er als solcher für ethnographisch arbeitende AnthropologInnen vor allem deshalb interessant, weil er damit eine Erweiterung sowohl des methodischen Erhebungs- wie Darstellungsrepertoires als auch gängiger Quellen anbietet.

12 13 14 15

Vgl. Lindner, Entdeckung, S. 24–25. Sacco, Joe: Palästina, Zürich 2009, S. 185. Sacco, Palästina, S. 226. Sacco im Interview mit dem Mother Jones magazine: http://www.motherjones.com/media/2005/07/joe-sacco-interview-art-war (16.11.2016).

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Graphic Listening „Sacco often gathers information by ‚listening’ not only with his ears but with his eyes and other senses“ und „the ‚report’ of his listening will take the form of comics, with their unique language of text and image“ argumentieren Andrea Lunsford und Adam Rosenblatt aus der Perspektive einer Rhetorik-Forschung, die mit Schweigen und Zuhören als „rhetorical arts“ auf jene Dimensionen aufmerksam gemacht hat, die in qualitativer Forschung oft nur als nebensächlich behandelt werden.16 Die AutorInnen verweisen dabei vor allem auf Saccos bereits erwähnte Fähigkeit, die eigene Erfahrung zu gebrauchen, indem sie festellen: „he uses his acute self-awareness as well as the unique properties of the comic medium, to fashion a model of listening that suits his ethos as a reporter, storyteller and humanist.“17 Die beiden LiteraturwissenschaftlerInnen unterscheiden dabei instrumentelles, voyeuristisches und empathisches Zuhören. Interviews, die im journalistischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Kontext gemacht werden, sind im Grunde immer als instrumentell zu verstehen, denn sie sind nicht darauf angelegt, die interviewte Person zu verstehen, um sie besser kennen zu lernen und mit ihr eine soziale Beziehung aufzubauen. Vielmehr dienen sie wissenschaftlichen oder kommerziellen Zwecken, wobei das Ziel darin besteht, eine objektivierbare – oder zumindest generalisierbare – Geschichte zu produzieren oder einfach einen Fall zu schaffen, an dem etwas Allgemeineres gesehen und verdeutlicht werden kann. Für journalistisch produzierte Geschichten gilt zudem, dass sie kommerziell verwertet werden. Sacco erkennt für sich im Laufe seiner Arbeit, dass die Logik journalistischer Wissensproduktion darin besteht, dass „[f]or the reporter, instrumental listening turns the person and the experience into a commodity to be sold“ und „for politicians, this form of listening renders whole territories and their people into property that can be used to barter, trade, or coerce.“18 Weil Interviewen in solche professionellen Anerkennungs- bzw. Verwertungslogiken der InterviewerInnen eingebunden ist, ist häufig zudem auch ein gewisser Voyerismus involviert – die Suche nach dem besonders Spektakulären.19 Sacco versucht dem 16 Glenn, Cheryl/Ratcliffe, Krista (Eds.): Silence and Listening as Rhetorical Acts, Carbondale/Edwardsville 2011. 17 Lunsford, Andre A./Rosenblatt, Adam: „Down a Road and into an Awful Silence“. Graphic Listening in Joe Sacco’s Comics Journalism, in: Glenn/Ratcliffe (Eds.), Silence, p. 131. 18 Lunsford/ Rosenblatt, Road, p. 34. 19 Ein Beispiel in „Palästina“ ist der Dialog zwischen ihm und seinem japanischen Freund und Begleiter Saburo. Es geht um das Foto zweier getöteter Jungen und Saburo fragt Sacco, ob er es behalten will. Sacco scheint zu zögern. Saburo sagt: „Zu heftig, zu heftig.“ Darauf Sacco denkend: „Natürlich ist es nach einem Tag wie heute zu heftig, selbst für einen Aasgeier wie mich ...“ Er antwortet: „Ich nehme es.“ Und denkt weiter: „... wer weiß denn, ob sie morgen noch zu heftig sind?“ Sacco, Palästina, S. 73.

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nicht nur mit reflexiver Selbstkritik zu begegnen, sondern auch mit empathischem Zuhören. Dies hat zum einen wiederum eine besondere Nähe zum ethnographischen Interview. Zum anderen ermöglicht die Visualität des Mediums Graphic Novel sowohl in der Aufzeichnung als auch in der Darstellung, sich künstlerischer Comic-Werkzeuge zu bedienen, mit denen durch geschicktes Blickmanagement bemerkenswerte Absorptions- bzw. Immersionseffekte erzielt werden können. Mithilfe eines solches Blickmanagements gelingt es ihm, die LeserInnen in die Perspektive verschiedener AkteurInnen zu ziehen. Zum einen in die Perspektive des Comicautors selbst, wie Rebecca Scherr dies an einem Beispiel aus Saccos Comicbuch „Trauma“ überzeugend herausgearbeitet hat: Sacco shifts the perspective so that instead of Sacco as an object of vision, readers are placed in a position so as to align their gazes with Sacco’s. This is signalled through hand imagery, for in these panels we don’t see Sacco’s face but we are aware of his presence through his hands, hands that furthermore are handling the tools of the journalist’s trade: notebook, pen, tape recorder. In the next panel we witness handshake, again positioned as if we are looking through Sacco’s eyes at two Iraqi men. The sudden absence of a face, but with hands that are framed as our ‚guide’s’ hands, strengthens the imaginative connection between the reader and Sacco’s avatar: he is no longer a figure simply to be observed, but by deliberately placing the face outside of and the hand inside of the frame, Sacco becomes an almost ‚absent’ figure we are literally drawn into.20

Daniel Worden hebt außerdem hervor, dass Sacco es vermag, von einem autobiographischen Selbst zur Beschreibung einer komplexen Welt von Gewalt und dabei zu sorgfältigen Repräsentationen von Gegenwartskonflikten sowohl auf der Ebene des Wissens als auch des Fühlens zu kommen.21 Dies gelingt ihm u.a. damit, dass er die Lesenden/Schauenden mithilfe des Comic-Blicks auch in die Haut derer zwingt, deren Geschichten er erzählt. Auch hier zeigt Scherr die Technik, mit Blickperspektiven zu arbeiten, und interpretiert sie als eine besonders empathische Form für die Darstellung von Schmerz: We are forced by soldiers to join a queue of other men; it is impossible to see clearly what is ahead, until we are confronted with a winging bat and the blackness. Confusion, fear, pain, annihilation: this is the trajectory of our imagined movements. This functions as a pictor20 21

Scherr, Rebecca: Joe Sacco’s Comics of Performance, in: Worden (Ed.), Comics, p. 190. Vgl. Worden (Ed.), Comics.

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ial form of empathic, corporeal address, as we imaginatively become a victim of this violence.22

Während solche Effekte im Grunde mit jedem Bildmedium erzielt werden können, bleibt die dokumentierte Situation in der bildlichen Reduziertheit der Comic-Zeichnung immer als mediatisierte Präsentation erkennbar, die die Schauenden in ihrer Vorstellung ergänzen müssen. Dieses Hineinziehen „in die Haut“ von anderen, in die Perspektive von anderen, verstehen Lunsdorf und Rosenblatt23 als „einladende Rhetorik“24, die nicht von einem fertigen Statement oder Wissen zu überzeugen sucht, sondern zu Interpretationen einlädt. Das Bildmedium ermöglicht dabei das Unaussprechliche zu kommunizieren, das keine Ethnographie in Worte fassen kann und zugleich durch den Perspektivwechsel die Sicht des Beobachters zu dekonstruieren. In einer solchen Darstellungsweise bleibt auch die Person des Erzählers keine abgrenzbare, einzelne Figur. Am Ende gibt es nicht mehr den Journalisten, die Lesenden und „die anderen“, sondern ein Geflecht aller, die miteinander durch beständige Perspektivwechsel verbunden sind. In diesem Geflecht und durch beständige Thematisierungen von Verunsicherungen in Bezug auf Nähe und Distanz in sozialen Kontakten und Beziehungen wird der Autor bzw. Journalist als von den verschiedensten und kompliziertesten Sozialbeziehungen abhängig sichtbar. Immer wieder ist er von einzelnen Kontaktpersonen abhängig, die ihm GesprächspartnerInnen liefern, ihm Unterkunft gewähren, Transport organisieren, ihn mit Essen und Trinken und vor allem mit Informationen und Geschichten beliefern. Immer wieder muss er dabei Vertrauen gewinnen, Partei nehmen, Position beziehen, Empathie bezeugen und Glauben schenken. Hier ist nichts objektiv. Es wird nicht einmal der Versuch unternommen, zu objektivierenden Aussagen zu kommen. Ziel ist vielmehr Multiperspektivität. Ein Interviewer einer Schweizer Tageszeitung bringt es auf den Punkt: „Sie recherchieren zwar ausführlich, …[aber] sie schreiben von vornherein sich selbst und ihren persönlichen Blick in die Recherche mit ein – und auch den Effekt des ‚Observer’s Paradox‘: die Reaktionen der Leute auf sie, die Berichterstatter.“25 Im selben Interview ergänzt Sacco: „In ‚Palästina‘ zeige ich mich selbst auf Recherche und erzähle auch, wo ich 22 23 24 25

Scherr, Joe Sacco’s, p. 19. Lunsford/Rosenblatt, Road, p. 143. Vgl. Foss, Sonja K./Griffin, Cindy L.: Beyond Persuasion. A Proposl for an Invitational Rhetoric, in: Communication Monographs 62 (1995), pp. 2–18. www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/Der-Comic-kann-mehr--auch (16.11.2016).

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meine Zweifel habe oder wo sich die Augenzeugen widersprechen. Der Leser bekommt eine ungeglättete Auslegeordnung.“ Aber nicht nur die Figur des Journalisten geht in einem Geflecht verschiedener Sozialbeziehungen auf, sondern auch die Autorenschaft dessen, was am Ende als Ergebnis der Reportage steht. The comic we ultimately read is a record not only of listening but also of a series of translations: from one human being to another, from other languages into English, from oral testimony and reference photographs into the language of comics.26

Die Arbeit mit Übersetzern, die zugleich oft auch Schlüsselpersonen sind, bringt neben der zeichnerischen Vermittlung der vom „Autor“ beobachteten Lebenswelten in den „Rest der Welt“ weitere Personen und Ebenen der Übersetzung ein. Auch diese sind in Saccos Büchern beständig präsent und lassen die Lesenden bzw. Schauenden immer im Klaren darüber, dass hier übersetzt wird. Ethnographisch arbeitende KulturwissenschaftlerInnen können aus dieser Erkenntnis viel für ihre eigene Interviewpraxis gewinnen, allem voran den Ehrgeiz, immer wieder neu nach angemessenen Darstellungsformen zu suchen, die auch wissenschaftliche Formen des Interviews am Ende als das Ergebnis einer komplexen Praxis des Schweigens, Zuhörens und Übersetzens sichtbar machen.

Graphic Novel und akademisches Textwissen im Dialog: Zement und die Sicht auf die kleinen Dinge eines Alltags im Provisorium Standen bisher vor allem die Beziehungen und Techniken des Reporters im Vordergrund, soll es nun um den Erkenntnisgewinn gehen, den das Gedankenexperiment eines ethnographischen Para-Sites hervorbringen kann, in dem Journalist und wissenschaftliche Ethnographie wissenstechnisch kollaborieren, obwohl sich das angestrebte Ziel beider doch deutlich unterscheidet. Denn während das Ziel der wissenschaftlichen Analyse im Verständnis von Mechanismen und Mustern liegt, die durch Abstraktion von alltäglicher Erfahrung erkenn- und beschreibbar werden, geht es beim journalistischen Wissen eher um die Faktizität solcher Erfahrungen. Mein Gedanken­ experiment besteht nun darin, Darstellungen von Materialitäten in Palestine von Sacco mit denen in einen Dialog zu bringen, die Nasser Abourahme in seinem Aufsatz ’Eth26

Lunsford/Rosenblatt, Road, p. 145.

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nography of Cement’ in a Palestinian Refugee Camp27 formuliert hat, in einem Text also, der Ergebnis einer wissenschaftlichen ethnographischen Untersuchung in einem palästinensischen Flüchtlingslager ist. Abourahme fokussiert in seinem Text auf das Verhältnis von Symbolik und Materialität des Flüchtlingslagers, auf das Miteinanderverwobensein seiner symbolisch-politischen und materiell-gelebten Aspekte. Besonders hebt er dabei die paradoxe Logik hervor, von der das Lagerleben kontinuierlich geprägt ist und die die BewohnerInnen im steten Griff hält. Diese Logik besteht in einer Gleichzeitigkeit des politischen Imperativs einserseits, den Rückkehrgedanken aufrechtzuerhalten und damit temporär zu bleiben und den essentiellen materiellen Notwendigkeiten des alltäglichen Lebens andererseits, die zu festerem Bauen förmlich zwingen. So zitiert der Autor aus dem Roman Grate of the Sun von Elias Khoury über die Anfangszeit des Lagers: Now you see houses, but early on the camp consisted of a group of tents. Then after we had built huts, they allowed us to put roofs over them. It was said that if we put actual roofs on our houses we’ d forget Palestine, so we just put up zinc sheets. Do you know what Zinc sheets do to you under the Beirut sun?27

In seinem gesamten Text folgt Abourahme dem Zement und dessen Geschichte durch das Lager und darüber hinaus. Er zeigt dabei die sich mit ihm ergebenden Möglichkeiten, Paradoxe, Verbindungen und Konflikte auf. Damit hat er einen Zugang gewählt, der das Lager als Assemblage versteht, die so disparate Elemente wie Zement/Beton, Körper, Diskurse, Graffitis, Abwasserleitungen und nationale Parolen miteinander verbindet.28 Dem Zement kommt mit seinen spezifisch verbindenden und trennenden Eigenschaften29 dabei eine herausgehobene Bedeutung zu. Mit seiner Hilfe haben sich im Laufe der Jahre u.a. die Möglichkeiten des Selberbauens in den Lagern auf enorme Weise erweitert und es entstand in der vermeintlichen Übergangssituation durch absichtsvolles placemaking etwas Neues: eine Ästhetik des Temporären und eine self-made-Architektur des Flüchtlingslagers. Abourahmes Perspektive auf den Zement, anhand dessen die Strukturen eines Permanent-Machens der Ausnahme beschreibbar werden, lässt sich nun treffend ergän27 Abourahme, Assembling, p. 211. 28 Vgl. Abourahme, Assembling, p. 204. 29 „High proportions of silica, iron and aluminium oxide it functions as the chemical and reactive agent that allows the binding of sand and gravel into solid blocks of mass as concrete; it transforms liquid into solid with starling speed.“ Abourahme, Assembling, p. 201.

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Abb. 2: Sacco, Joe, Palästina, Edition Moderne 2009 © Verlag bbb Edition Moderne AG, Zürich. S. 185.

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zen, indem sie in den Dialog mit Saccos Zeichnungen gebracht wird, die vor allem die zerstörerische Kraft des Wetters und die Durchlässigkeiten von drinnen und draußen thematisieren. Während Abourahme seine Perspektive darauf konzentriert, was der Zement zusammenbringt bzw. –hält, im physischen Sinne ebenso wie im sozialen, sprechen Saccos Bilder von der beständigen Verwundbarkeit nicht nur der Menschen, sondern auch der Infrastrukturen und von den Routinen, die diese entwickeln, um mit dem beständigen „Einfallen“ des Existenziellen umzugehen: Unbefestigte Straßen verlaufen zwischen Pfützen und Schlamm; auf Wellblech trommelnder Regen dringt in Gespräche und macht sie zum Teil unmöglich; alles nicht Feste läuft Gefahr, durch Stürme hinweggerissen oder durch Wasser hinweggespült zu werden und jeglichen mühsam durch Plastikplanen und beschwerende Steine errichteten provisorischen Schutz wieder zu zerstören. Mit den speziellen Eigenschaften des Comics, bereits bestehende Ästhetiken durch eigene zu kommentieren, kann das para-ethnographische Wissen in Saccos Zeichnungen hier zum Korrektiv für Abourahmes Ethnographie werden und helfen, das theoretische Argument einer Ethnographie des Zements zu verfeinern.30 Seit Kulturwissenschaften zunehmend in Assemblagen denken, liegt der theoretische Fokus oft auf Verbindungen und Zusammenhalt, auch wenn Verwundbarkeit und Instabilität dabei grundsätzlich als Voraussetzung mitgedacht werden. Indem Sacco in seinen Bildern genau diese Eigenschaften von Materialität stark macht, inspiriert er dazu, Abourahme weiterzudenken und eben noch genauer nach der Brüchigkeit und Verwundbarkeit zu fragen, die mit den neuen „Dingen“ aus Zement einhergeht. Doch wie geht beides zusammen? Hier ist ein Blick auf die Arbeit der beiden Geographen Nigel Thrift und Stephen Graham hilfreich, haben sie doch darauf aufmerksam gemacht, wie lohnenswert es sein kann, die Grundannahme der Argumentation einmal auf den Kopf zu stellen und davon auszugehen, dass alle Materialität eine entscheidende Eigenschaft besitzt. Sie ist mit ihrer schieren Existenz immer auch Verfall und Abnutzung ausgesetzt. Thrift und Graham argumentieren: The problem with contemporary social theory is, that it has predominantly theorized connection and assembly. But there are good reasons to think that in the overall scheme of things, disconnection and disassembly are just as important in that they resist entities’ means of enacting themselves: failure is key.31 30 31

Ahrens, Jörn/Meteling, Arno: Comics and the City. Urban Space in Print, Picture and Sequence, New York 2010, p. 6. Graham, Stephen/Thrift, Nigel: Out of Order, in: Theory Culture Society 24 (2007), pp. 1–25, here p. 7.

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Daraus folgt: Jedes aus Zement gebaute Haus erfordert mit seiner Existenz zugleich aktiv Erhaltung und Reparatur. Während nun Abourahme davon spricht, dass sich in den Lagern mithilfe des Zements eine eigene Ästhetik des Unkompletten und Dazwischens bzw. eine self-made-Architektur herausgebildet habe, so entwickeln Saccos Bilder ein visuelles Gegenargument dazu. Die Selektivität seines Zeichenstrichs lässt die Ästhetik des Unkompletten und der self-made-Architektur, die sich als Normalität bereits selbstverständlich in die alltägliche Wahrnehmung des Lagers eingeschrieben zu haben schien und damit unsichtbar geworden war, vor allem in ihrer Eigenschaft der Brüchigkeit und Malfunktion wieder sichtbar werden. Verbunden mit den unzähligen Geschichten, in denen israelische Soldaten die Häuser von palästinensischen Familien zerstört haben und/oder verhindern, dass entsprechendes Reparaturmaterial zur Verfügung steht, zeigt er zugleich – hier wieder sehr im Sinne Abourahmes Verbindung von Materialität und Semantik –, dass auch der semantische Raum, der mit dieser Brüchigkeit entsteht, hoch politisiert ist.

Eine Bemerkung zum Schluss Der Komplexität, die sich hier zwischen Ordnung und Unordnung auftut und die sich nicht einfach nur mit dem Lager als Verstetigung des Provisorischen fassen lässt, deren Mechanismen sich vielmehr nur in sehr abstraktem theoretischen Denken zu erschließen scheinen, wird Sacco nicht nur mit einer Multiperspektivität gerecht, sondern auch damit, dass er einmal nahe und einmal distanziert auf seinen Gegenstand blickt und dabei seine Lesenden bzw. Schauenden mal mehr und mal weniger an die Hand nimmt. Ebenso wie er an der einen Stelle durch das Gehörte führt, kann er an einer anderen das Gesehene als ein komplexes Bild einfach stehen lassen und wie in der Abbildung in einer Art Wimmelbild seinen Lesenden und Schauenden selbst überlassen, Bezüge herzustellen und Fokussierungen vorzunehmen. Auch damit wird er einer Zeit gerecht, in der es eine Grundvoraussetzung ist, dass Subjekte – „[are] unable to find any stable vantage point, any objective or totalizing sense of [their] relation to the world“32.

32

Jameson, Postmodernism, zitiert in Worden (Ed.), Comics, p. 11.

Emotionen in wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Texten

Joe Sacco: Palästina, Edition Moderne 2009, © Verlag bbb Edition Moderne AG Zürich, S. 148f.

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EMOTIONEN IN WISSENSCHAFTLICHEN UND POPULÄRWISSENSCHAFTLICHEN TEXTEN Eine Annäherung Annelies Häcki Buhofer

Wissenschaftliche Texte sind in der allgemeinen fachlichen – wie ausserfachlichen – Auffassung Texte, die die Forschung dokumentieren, analysieren, diskutieren und den Stand der gegenwartsbezogenen Erkenntnisse voranbringen. Sie müssen daher Regeln genügen wie klarem und transparentem Aufbau, Herausarbeiten von Positionen mit logischem und nachvollziehbarem Argumentieren, Verknüpfen, Vergleichen und Gegenüberstellen von Daten, Konzepten und Theorieelementen  sowie formalen Kriterien der Zitierweise, der Kapitelstruktur, des Literaturverzeichnisses etc. Ihre Sprache hat neutral und fachspezifisch zu sein. Wissenschaftliche Methoden, Beweisführungen, Genauigkeit im Umgang mit den Daten, im Umgang mit der bestehenden Forschungsliteratur und Seriosität spielen die zentralen Rollen. Emotionen sind in wissenschaftlichen Texten nicht vorgesehen. Der vorliegende Aufsatz geht der Frage nach, ob Emotionen nicht dennoch auch in wissenschaftlichen Texten präsenter sind, als man denkt – und ob die Emotionen der Wissenschaftler_innen nicht eine wichtige Funktion haben und ebenso wie die übrigen Features von wissenschaftlichen Texten reflektiert und analysiert werden sollten und in der Produktion der Texte einen angemessenen Ausdruck finden sollten. Von Fiehler stammt das linguistische Standardwerk zu Emotionen in der Kommunikation. Die Auffassung, mit der er sich kritisch auseinandersetzt, geht von folgender These aus, die er hinterfragt: „... auf wissenschaftlicher Ebene dominieren (...) Konzeptualisierungen, die den Menschen als ein primär zweckrational handelndes Wesen auffassen. Dies schlägt sich auch nieder in den Konzeptualisierungen von Interaktion, Kommunikation und Sprache.“1 In besonders starkem Ausmass erfolgt dieser Niederschlag in der Konzeptualisierung der wissenschaftlichen Kommunikation, die als Prototyp der sachbezogenen argumentativen und daher nicht emotionalen Kommunikation gilt. Die sprachtheoretisch auch historisch zu beobachtende Fokussierung auf Aussagen und Behauptungen 1

Fiehler, Reinhard: Kommunikation und Emotion: Theoretische und empirische Untersuchungen zur Rolle von Emotionen in der Kommunikation, Berlin u.a. 1990, S. 21.

Emotionen in wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Texten

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verstellt jedoch den Blick auf andere Sprechhandlungstypen, denen Emotionalität inhärent ist.2 Solche Sprechhandlungstypen sind z.B. Vorwurf- und Rechtfertigungssequenzen. Sie werden auch in der wissenschaftlichen Argumentation verwendet.3 Fiehler nennt Angst, Freude, Wut, Trauer, Zorn, Glück, Ekel, Hass, Furcht, Kummer, Scham, Verlegenheit als Grundemotionen. Wenn man an wissenschaftliche Texte denkt, wären auch Ärger und Begeisterung in Betracht zu ziehen. Freude, Begeisterung und emotionale Zustimmung – Ärger und Ablehnung (um auf diese Weise konkretere Emotionen auf einem höheren Abstraktionsniveau zusammenzufassen) werden in wissenschaftlichen Arbeiten – unterschiedlich explizit – sichtbar. Sie sind nicht von vornherein als Fehlleistungen zu beurteilen, die eigentlich – wenn nicht von Anfang beiseitegelassen, dann wenigstens im Redaktions- und Korrekturprozess – zu eliminieren sind, sondern sie bringen das Engagement und die kontextuelle Einbettung derjenigen zum Ausdruck, die sich am wissenschaftlichen Forschungsprozess und Diskurs beteiligen. Das bedeutet nicht, dass Emotionen den wissenschaftlichen Diskurs überdecken oder dominieren dürfen, sie müssen aber auch nicht so unbeachtet bleiben, wie das oft der Fall ist. Unbeachtet bleiben Emotionen individuell, idiosynkratische Phänomene – nur wenn sie analysiert und als Element auch wissenschaftlicher Texte akzeptiert werden, können sie als öffentliche Phänomene interpersoneller Art mit einer Ausdrucks-, Darstellungs- und Appellfunktion (um die semiotische Gliederung des Organonmodells von Karl Bühler von 1934 zu verwenden4) und mit Funktionen in der Interaktion reflektiert wirksam werden. Gleichzeitig ist es gar nicht so einfach, einzelne Emotionen voneinander abzugrenzen und zu identifizieren. Man kann noch relativ einfach positive Emotionen von negativen Emotionen unterscheiden. Es ist jedoch schon unklar, was als Einheit für «eine Emotion» gelten kann. Wenn man aber – grob vereinfachend – von denjenigen Emotionen ausgeht, für die es in einer Sprache bzw. im Deutschen Substantive gibt, so ist es doch nicht so einfach, einer Äusserung, die man als emotional klar erkennt, eine Emotion konkret und eindeutig zuzuordnen. Wenn ein Wissenschaftler die Menschen als „dumm“ bezeichnet – kommt darin unzweifelhaft eine Emotion zum Ausdruck. Aber ist es Ärger, Enttäuschung, Verachtung, Ablehnung oder eine andere Emotion, die in der Qualifizierung enthalten ist?

2 3 4

Vgl. Fiehler, Kommunikation, S. 25. Vgl. Fiehler, Kommunikation, S. 20. Vgl. Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, 3. Aufl. Stuttgart u. a. 1999 [1934].

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Beispiel: Emotionen in der historischen Sprachwissenschaft Es gibt verschiedene Erscheinungsformen der Emotionen in wissenschaftlichen Aufsätzen: Historische Auseinandersetzungen mit wissenschaftlichen Gegenständen und ihrer Darstellung können recht persönlich zur Sache kommen: dazu ein Beispiel aus der Geschichte der Grammatik der neuhochdeutschen Sprache. Der erste Grammatiker des Neuhochdeutschen, der bei der Behandlung der Fälle im Deutschen strikt von den Formen der Substantivendungen ausgegangen ist, ist Carl Friedrich Aichinger, der 1753 als Reaktion auf Gottscheds „Grundlegung einer deutschen Sprachkunst“ seinen „Versuch einer deutschen Sprachlehre“ herausgegeben hat. Aichinger (Nachdruck (1972), 127 f.) schreibt: §86. Der Casuum oder Fälle haben die Teutschen vier: Nominativum, den Fall des genannten. Genitivum, den Fall des besitzenden. Dativum, den Fall des empfahenden oder lassenden. Accusativum, den Fall des leidenden.

Und weiter zur Verteidigung seiner Position und zur Abwehr der bisherigen Kasustheorie mit einem ausgeprägten Ärgerton: Ich weiss nicht, warum Herr Prof. Gottsched den Teutschen gerad 6. Casus aus dem lateinischen Donate aufdrängen will. Die Griechen hatten fünf: die Lateiner thaten einen hinzu. In einer jeden Sprache zehlt man also so vielerley Endungen, als wirklich da sind, und nicht mehrere. Nuns ists aber offenbar, dass im Teutschen der vocativus nie vom nominativo, und der ablativus nie vom dativo unterschieden sey. Daher Herr Gottsched auf der 407. S. in dem Verse: Geht, ihre meine müden Glieder, zweifelt, ob das der nominativs oder vocativus sei? Welches aber fürwahr so schwer nicht zu errathen ist.5

In so persönlicher Art und Weise werden Ärger und Ablehnung heute eher selten ausgedrückt, kommen aber in populärwissenschaftlichen Darstellungen, wahrscheinlich sogar zunehmend, vor. Auch Freude oder Begeisterung über die wissenschaftlichen Ergebnisse, z.B. über die Schönheit und Eleganz der wissenschaftlichen Resultate ist eine Emotion, die zum Ausdruck gebracht wird (Beispiele siehe unten). 5

Darstellung und Zitat: Häcki Buhofer, Annelies: Die Kasus des Deutschen – Wissenschaftsgeschichtliche und methodologische Überlegungen, in: Deutsche Sprache 2 (1987), S. 137–150, S. 140.

Emotionen in wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Texten

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Faktoren für Emotionen in der Wissenschaft: Verschiedene Lehr-Lernverfahren und das „Ich-Verbot“ Ob und mit welcher Häufigkeit Emotionen in wissenschaftlichen Texten Platz finden, hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen, zunächst einmal mit unterschiedlichen Konzeptionen von Wissenschaft und den damit verbundenen Lehr-Lernverfahren. Verfahren, die auf die Weitergabe schon vorhandenen Wissens abzielen, unterscheiden sich von Verfahren, die mehr der Erzeugung von neuem Wissen dienen.6 Die Fokussierung auf die Erzeugung von neuem Wissen ist charakteristisch für die deutschsprachige Wissenschaftskommunikation gemäss der Humboldtschen Idee des „lehrenden Forschens und forschenden Lehrens“. Die international, vor allem auch aussereuropäisch weiter verbreiteten autoritativ strukturierten Lehrverfahren, in denen Wissen zu Zwecken des Rezipierens und Memorisierens präsentiert wird, kommen mit weniger Rückbindung an die Perspektive der forschenden Personen und daher auch mit weniger Emotionen positiver oder negativer Art aus. Moll verweist für deutsche und andere europäische Wissenschaftstexte auf eine typische Struktur7, „die sich ausgehend von mündlich geprägten, diskursiven Strukturen – als Prozess der ‚streitenden Auseinandersetzung‘ in den Texten niederschlägt.“8 Im universitären Alltag lassen sich kulturspezifische Unterschiede gut beobachten: „Das Vorwissen der Studierenden zu Verfahren der Wissenschaftskommunikation, zu wissenschaftlichen Texten, Diskursen und Arbeitstechniken differiert stark, und zwar je nachdem, in welcher wissenschaftlichen bzw. schulischen Tradition sie sozialisiert wurden.“9 Generell ist das Reflexions- und Praxiswissen vor dem Hintergrund des Humboldtschen lehrenden Forschens und forschenden Lehrens höher und viel­fältiger. Bei der Differenzierung wissenschaftlicher Textsorten wird noch deutlicher, dass Emotionen in wissenschaftlichen Texten nicht unbeachtet bleiben können. Konkret bei der Textsorte Protokolle muss einbezogen werden, dass auch wissenschaftliche Texte sich zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit bewegen. Mündlichkeit ist u.a. auch näher an der grundsätzlich immer mehr oder weniger präsenten Emotionalität der Sprecher_innen, die auch für die Motivation und Durchführung der Forschungsarbeit mitprägend ist. 6

7 8 9

Unterscheidung z. B. in Moll, Melanie: „Für mich ist es sehr schwer!“ oder: wie ein Protokoll entsteht, in: Ehlich, Konrad/Steets, Angelika (Hg.): Wissenschaftlich schreiben – lehren und lernen, Berlin u.a. 2003, S. 29–50. Vgl. Moll, Protokoll, S. 30. Moll, Protokoll, S. 31. Moll, Protokoll, S. 32.

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Die Frage nach den Emotionen und ihrem Ausdruck hängt zum Zweiten auch mit derjenigen des konkreten textlichen „Ich-Verbots“ zusammen. In schriftlichen Texten, in denen keine Kopräsenz von Sprecher und Hörer gegeben ist, ist der Gebrauch von „ich“/„du“ nicht auf den ersten Blick als adäquat ersichtlich. Grundsätzlich kann man sagen, dass in Texten, „die nicht von vornherein für einen Leser (Brief) oder für namentlich bestimmbare und bekannte Lesergruppen geschrieben werden“10, der Autor allenfalls fiktive Adressaten mit deiktischen Mitteln ansprechen kann. Für wissenschaftliche Texte hat Weinrich ein (deskriptiv begründetes) Ich-Verbot diagnostiziert: „Erstes Verbot: Ein Wissenschaftler sagt nicht ‚ich‘. Auszählungen des tschechischen Linguisten Eduard Benes in wissenschaftlichen Fachtexten haben ergeben, dass die Ichform eine ausserordentlich niedrige Frequenz hat, die bei etwa 0,2 Prozent liegt. Das kann man wohl nicht anders als mit einem Ich-Verbot erklären, das allerdings so gut wie nirgendwo explizit ausgesprochen ist, sondern stillschweigend aus dem Gebot der wissenschaftlichen Objektivität abgeleitet wird.“11 Man kann demgegenüber das reduzierte Auftreten der Personendeixis, also des Verweises auf die eigene Person und/oder auf das angesprochene Publikum – nicht als aus der Situation naheliegend ansehen, sondern als Defizit wissenschaftlicher Texte verstehen. Graefen12 meint, dass in solchen Formulierungen wie „Ich-Verbot“ oder „Defizit“ unterstellt werde, „dass es bei den Verfassern eigentlich ein Bedürfnis gäbe, über sich zu reden, das aus formalen oder aus unerklärlichen Gründen unterdrückt würde. Auch Weinrich13 bleibt im diffusen Bereich psychologischer Ausdrücke, wenn er den Umgang mit der Personaldeixis den „Empfindlichkeiten der Wissenschaftssprache“ zurechnet.14 Graefen selber ist der Meinung, dass es keine plausible Begründung für ein Bedürfnis oder gar eine Notwendigkeit gebe, den Sprecher und den Hörer verbal, ins Spiel zu bringen. Textartenbezogen sei zu sagen, „dass der Charakter der wissenschaftlichen Mitteilung einer Selbstthematisierung des Autors als Agens der Wissensgewinnung“ prinzipiell entgegenstehe. Und so sehr auch „der Prozess der Erarbeitung von Forschungsresultaten an individuelle Leistungen, vielleicht auch an Ideen eines Forschers gebunden sein“ möge, „in der Veröffentlichung ist – zumindest 10 11

12 13 14

Graefen, Gabriele: Der wissenschaftliche Artikel – Textart und Textorganisation, Frankfurt a. M. u.a. 1997, S. 200. Weinrich, Harald: Formen der Wissenschaftssprache, in: Albach, Horst u.a. (Hg.): Jahrbuch 1988 der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1989, S. 119–158, hier S. 132–133, zitiert nach Graefen, Artikel, S. 200–201. Graefen, Artikel, S. 201. Weinrich, Formen, S. 139. Graefen, Artikel, S. 201.

Emotionen in wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Texten

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idealiter – unterstellt, dass ein allgemein gültiges und wichtiges Ergebnis erzielt wurde, das von der Individualität des Forschers unabhängig ist. Von dem Prozess seiner Entwicklung ist also ebenso abstrahiert wie von der Person des Forschers, da beide sozusagen nur ein ‚Durchgangsstadium’ waren“.15 Die Anliegen der Abstraktion sind einerseits berechtigt, anderseits ist aber der Forschungsprozess berechtigterweise in Fragestellungen und soziale ebenso wie individuelle Kontexte eingebunden, die eine Bewertung erfahren und erfahren sollen. Eine Forschungsfrage wird im besten Fall als wichtig erachtet. Sie wird nicht zuletzt darum als wichtig erachtet, weil man die Grundlagen und Motivationen für Fragestellungen als positiv bewertet. Dies können Fragestellungen sein, wie z.B. nach besserem Unterricht, leichterer Lernbarkeit eines schulischen Gegenstandes, detaillierterer theoretischer Begründung von sprachlichen Entwicklungen, der Beurteilung von Kompetenzen etc. Man verbindet also Emotionen mit der Fragestellung und freut sich entsprechend auch, wenn bei der Forschung etwas Interessantes, Relevantes, Weiterführendes herauskommt. Es lässt sich festhalten: Dass die Konzepte wissenschaftlicher Praxis und des Erkenntnisgewinns sich wiederum in der jeweiligen Wissenschaftssprache sowie in den Texten und Diskursen niederschlagen, ist naheliegend.16 Mit Sicherheit spielen positive und negative Emotionen, wenn es um Wissenstradierung geht, eine weniger grosse Rolle als bei inventiven Verfahren, wo es neue, auch emotional begründete Forschungs-Motivationen braucht, die zu neuen Ergebnissen führen, über deren Eintreffen oder Ausbleiben man sich freuen oder ärgern kann. Ebenso sind wissenschaftliche Schultraditionen, die von einem „Ich-Verbot“ ausgehen, tendenziell emotionsärmer. Auch die deutsche Schreibtradition mit ihrem inventiven Fokus ist also heutzutage in Verbindung mit einem Ich-Verbot eher abgeneigt, die individuelle Perspektive mit ihren Emotionen auszudrücken.

Begeisterung als Emotion in den Naturwissenschaften Trotzdem kommen Emotionen aber doch sowohl in den Naturwissenschaften wie auch in den Geisteswissenschaften vor, in populärwissenschaftlichen Kontexten häufiger als in Artikeln, die zur peer review vorgelegt werden. Ich möchte von einem Beispiel aus der Naturwissenschaft ausgehen: In der Kartographie, bei der man in erster 15 16

Graefen, Artikel, S. 202. Vgl. auch Moll, Protokoll, S. 31.

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Linie an die Kriterien der Adäquatheit, des Reichtums an Informationen und der Verständlichkeit denken würde, spielt auch die Schönheit der Kartendarstellung eine Rolle.17 Der Nobelpreis für Physik 2016 – für ein publikumsfernes Fach also und noch dazu für Grundlagenforschung verliehen – ist in den Medien mit einem starken Anteil von Freude an der Schönheit der prämierten Lösung kommentiert worden. Die Sendung im Wissenschaftsmagazin vom 8.10. 2016 von Radio SRF Schweiz hiess „Der Schönheitspreis.“ Die beiden ETH Professoren, die dazu interviewt wurden, äusserten sich u.a. durch: „Das ist einfach ein, ein wunderschönes Stück theoretischer Physik, ein wunderbar einfaches Argument und gibt die Temperatur sehr genau an.“

Mit Bezug auf die Laudatio und die englische Originalformulierung: „It has combined beautiful mathematical and profound physics insights that is what the price is for – it is really beautiful and it’s deep.“ Auf die nochmalige Rückfrage des Interviewers, der zuhanden des Radiopublikums noch einmal danach fragt, was die Schönheit ausmacht, antworten sie: „Die Eleganz, zwei einfache Zeilen der Rechnung, darin liegt die Eleganz und Schönheit.“ Weiter ist von einer „hübschen Formel“ die Rede, dann wieder von der Schönheit „und eben, das Argument ist soo schöön.“ (expressive Intonation, Ahb)

Ärger und Angst: Emotionen in populärwissenschaftlichen Kontexten Es geht im wissenschaftlichen Normalfall bzw. Alltag selten um einen Nobelpreis – daher rührt ein Teil der überschwänglichen Begeisterung. Analog wird der Umgang mit emotionalen Bewertungen auch in populärwissenschaftlichen Kontexten gestaltet. Wenn man die erste Nummer der „Avenue“ 2016, einem neuen „Magazin für Wissenskultur“ mit dem Thema „Wir Cyborgs. Zwischen Mensch & Maschine“ daraufhin analysiert, zeigen sich auch hier Interaktionsformen mit inhärenten Emotionen. „Avenue“ versteht sich als erste populärwissenschaftliche Zeitschrift für Geistes- und Sozialwissenschaften im deutschsprachigen Raum. Sie möchte den Beitrag der interpretierenden Wissenschaften für unsere Wissenskultur sichtbar machen. „Zu unserer 17 Vgl. Geisthövel, Roman: Terrain sketching inspired by cartographic rock drawing and hachuring, (Manuskript).

Emotionen in wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Texten

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Wissenskultur gehört der Streit wie das Gespräch“ steht im Editorial von Corinna Virchow und Mario Kaiser zum Anfang des Magazins, also zwei mündlichkeitsgeprägte Textsorten. Die Fokussierung auf Interpretation und Streit und Gespräch lässt eine emotionsbasierte Darstellung erwarten und vermuten. Sie kann in reflektierter Art und Weise Teil des Humanismus sein, der – nach der Auffassung der Initiant_innen in der Wissenskultur angestrebt wird, wenn man die Folgen des „Human Enhancement“ analysiert. „Unter dem sperrigen Begriff wird der Versuch verstanden, die Grenzen des menschlichen Geistes und Körpers mithilfe von Technik vorübergehend oder dauerhaft zu überwinden. Die geistes- und sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit ‚Human Enhancement‘ hat erneut zu Debatten über den Status des Menschen als Cyborg geführt. Nicht nur das: Auf dem Prüfstand steht inzwischen der Humanismus. Ist diese Idee noch zu retten?“18 Die emotionale Grundlegung der geistigen Tätigkeit und sich daraus ergebende Bewertungen sind wesentliche Bestandteile der humanistischen Idee, auch wenn es um Wissensvermehrung und Diskussion geht. Theweleit19 wird von Virchow und Kaiser unter dem Titel „Wir brauchen dringend humanitäre Upgrades“ interviewt. Er vertritt eine eher „pessimistische“ Auffassung des Ich, das im Falle der Wissenschaft ja auch das wissenschaftliche Gespräch bestreitet: „Kehren wir zunächst zum Ich zurück. Das Ich, das biographisch erzählbar ist als Ganzheitsfigur, entsteht in der Folge von Rousseau und den englischen Romanschreibern, bei Goethe, Jean Paul bis hin zu Thomas Mann und den vielen anderen Romanautoren als genau jenes Ich, das Freud dann ins Zentrum seiner psychoanalytischen Konstruktionen stellt. Es beginnt sich wieder aufzulösen bei den ‚Modernen‘, bei Musil, Joyce oder Kafka; heute erscheint es als historische Erfindung des europäischen Romans.“20 Das bedeutet aber nach seiner Auffassung nicht, dass das neue Ich ohne Gefühle und ohne Empathie gedacht werden muss. „Der alte Roboter ist ohne Gefühle, ohne Empathie und damit zumeist eine Horrorfigur in Filmen und Utopien. Dagegen muss der elektronisch ausgerüstete Mensch nicht bedrohlich gedacht werden, sondern als ein Wesen, das das, was bisher Humanität genannt wurde, steigern kann.“21

18 19 20 21

Virchow, Corinna/Kaiser, Mario: Ein Anfang. Editorial, in: Avenue. Das Magazin für Wissenskultur 1 (2016). Theweleit, Klaus: Männerphantasien, 1. Band, Frankfurt a. M. 1977; Theweleit, Klaus: Männerphantasien, 2. Band, Frankfurt a. M. 1978. Theweleit, Klaus: Wir brauchen dringend humanitäre Upgrades, in: Avenue. Das Magazin für Wissenskultur 1 (2016), S. 12–25, hier S. 17. Theweleit, Upgrades, S. 22.

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Vor diesem Hintergrund äussert sich Theweleit als Wissenschaftler in einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift auch selbst sehr emotional: „Die Menschen sind zu doof, ihren eigenen Untergang zu verhindern.“ Er stellt sich konkret „gegen den Wahn der kriegerisch bleibenden Nur-Mensch-Institutionen, die zu doof sind, das zu kapieren“.22 Da es ja auch um sehr grundsätzliche Fragen geht, die sich nach Auffassung des Autors in eine fundamental falsche Richtung entwickeln, ist der Ausdruck von Ärger, Enttäuschung und Ablehnung auch in einem (populär)wissenschaftlichen Kontext zusätzlich in argumentationsverstärkender Funktion zu sehen. Im selben Heft schreibt Benjamin von Wyl unter dem Titel „Der Bachelor ist ein abgebrochenes Studium“23 über Bologna, ein emotionalisierendes Thema, wie man weiss, und äussert sich u.a. auch zu den unter dem Bologna-Regime vertretenen Auffassungen zu den Gründen, die für das Schreiben einer Dissertation sprechen. „Die Vertreter der altehrwürdigen Institution (der Universität, AHB) operieren mit Leistung und Karriere als Antrieb zur Dissertation; die Vertreter des Online-Neoliberalismus sind in ihrem Narrativ bereits radikaler und fordern das entfesselte Individuum, dem es in der universitären Struktur zu eng ist. Mir machen beide Positionen Angst, denn die eine orientiert sich an keinem anderen Wert als am sozialen Aufstieg in einer angeblichen Wissensgesellschaft, die andere beschwört eine perverse Koppelung des Genie-Gedankens aus dem 18. Jahrhundert – eine Gesellschaft, in der sich wenige Einzelindividuen über alle diejenigen stellen, die ihren Weg in strukturierten Bahnen gehen – mit dem Klischee vom Tellerwäscher, der es zum Millionär bringt. Idealistische Gründe für das Studium bleiben also aussen vor.“ Obwohl der Autor für die Ablehnung beider Positionen Gründe angeben kann, fasst er diese Gründe zusammen in der Äusserung, dass sie ihm „Angst machen“. Emotionen in (populär)wissenschaftlichen Texten kommen also entgegen der theoretischen Definition durchaus vor. Sie sind als Kontext, Einbettung der Schreibenden und Hintergrund bzw. als Ausdruck der Bewertung, die zur wissenschaftlichen Darstellung ebenfalls gehört, legitim. Sie stossen an Grenzen, wenn es um Beschimpfungen bzw. Ehrverletzungen geht. Negative Bewertungen können persönlichkeits- oder (beruflich oder privat) ehrverletztend sein, wenn sich der Wahrheitsgehalt der Äusserungen nicht nachweisen lässt. Und gewisse Wörter wie „Zombie“ gelten als Beschimpfung per se und als unnötig beleidigend. 22 23

Theweleit, Upgrades, S. 22. Von Wyl, Benjamin: Der Bachelor ist ein abgebrochenes Studium, in: Avenue. Das Magazin für Wissenskultur 1 (2016), S. 46–52.

Emotionen in wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Texten

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Fazit Man kann am Ziel der Verallgemeinerung von Aussagen bzw. der überindividuellen Geltung von auf der Basis von empirischen Untersuchungen gemachten Aussagen als konstituierende Elemente der Wissenschaftlichkeit festhalten, auch wenn man mit erkenntnistheoretischer und wissenssoziologischer Begründung am wissenschaftlichen Ziel der Objektivität zweifelt. Der Zweifel führt zu einer stärkeren Rückbindung an eine wissenschaftliche Schule, an eine bestimmte Zeit, einen wissenssoziologischen Kontext und auch zurück zum Individuum, das die Forschung entwickelt, evtl. auch durchführt und sich mit „ich“ auf sich selbst beziehen kann. Wenn das Individuum als Ich auftritt, hat auch seine soziale und emotionale Einbettung eine grössere Chance, zum Ausdruck gebracht zu werden. Es gehört wohl zu den ersten Massnahmen der Popularisierung von Forschungsergebnissen, dass man den wissenschaftlichen Text von allen relativierenden Aussagen „befreit“ und bisherige und neue, eigene und fremde Erkenntnisse bewertet – und dies auch emotional. Insgesamt möchte ich festhalten, dass Emotionalität – positiv und negativ – zu Unrecht keine Rolle spielt im metatheoretischen Diskurs über wissenschaftliche Fachtexte. Gerade in der deutschsprachigen Tradition mit ihrer Argumentations- und Streitkultur spielen Emotionen eine Rolle. Dass sie bisher nicht systematisch in die Theorie einbezogen wurden, macht ihre Berücksichtigung zum Desiderat. Die Analyse von Emotionen sollte nach einer deskriptiven Darstellung auch „Praxisanweisungen“ beinhalten. Solche Praxisanweisungen sollten einen angemessenen Umgang mit den eigenen Emotionen reflektieren und aufzeigen. Es ist für das Verständnis einer Studie oder einer forschungsbasierten Ausrichtung wichtig, wovon man ausgeht – und zwar sachbezogen ebenso wie in emotionaler Hinsicht. Der adäquate Ausdruck auch der emotionalen Aspekte würde zur weitergehenden Transparenz des wissenschaftlichen Diskurses und seiner Rückbindung an die Forschenden und damit zur Authentizität beitragen – was beides nur positiv sein kann. Eine mögliche Relativierung der wissenschaftlichen Aussage durch ihre Individualisierung – nicht im Gehalt – sondern in der Motivation und im Engagement bzw. eine allfällige Verminderung der illokutiven Kraft der Assertion wird durch die dadurch unterstützte Glaubwürdigkeit der Person des Wissenschaftlers bzw. der Wissenschaftlerin ausgeglichen.

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„LIVING IN TWO WORLDS“ Simon Pokagon und Charles A. Eastman – zwei indianische Intellektuelle in der Ära des Progressivismus

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Der „First Universal Races Congress“ Zwischen dem 26. und 29. Juli 1911 fand an der Universität London der erste (und einzige) „Universal Races Congress“ statt. Mehr als 2500 Besucher aus über 50 Ländern debattierten vier Tage lang über das globale Problem, wie sich die „allgemeinen Beziehungen zwischen den so genannten weissen und farbigen Völkern“ „mit tieferem Verständnis, freundlicheren Gefühlen und herzlicherer Kooperation“ gestalten lassen.1 Auf dem Kongress traten bekannte Wissenschaftler und Schriftsteller wie Franz Boas, Felix Adler oder Israel Zangwill auf, aber auch Intellektuelle, die den First Peoples der Welt und den Bevölkerungen aufstrebender Länder wie Japan und Indien international erstmals überhaupt eine Stimme liehen. Von dem in Budapest geborenen jüdischen Sozialreformer Gustav Spiller entscheidend auf den Weg gebracht, verdient die internationale Zusammenkunft in der Kapitale des British Empire als eine Manifestation Beachtung, bei der die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Völker beschworen wurde, und sich zugleich ein modernes Menschenrechtsbewusstsein durchzusetzen begann.2 Jedenfalls erteilte der Kongress rassistischen Rechtfertigungen imperialistischer Weltpolitik eine Absage und forderte, dass sich alle Völker der Erde auf Augenhöhe begegnen.3 1911 lag diese Botschaft quer zum Zeittrend, stand die Herrschaft 1

2 3

Spiller, Gustav (Ed.): Papers on Inter-Racial Problems, Communicated to the First Universal Races Congress, Held at the University of London, July 26–29, 1911, London 1911, p. V. Die nachfolgenden Zitate aus englischsprachigen Publikation sind eigene Übersetzungen des Autors. Schirbel, Gabriele: Strukturen des Internationalismus. First Universal Races Congress, London 1911. Der Weg zur Gemeinschaft der Völker (Bd. 2), Münster 1991, S. 911–913, S. 1121–1124. Herren, Madeleine: Hintertüren zur Macht. Internationalismus und modernisierungsorientierte Aussenpolitik in Belgien, der Schweiz und den USA 1865–1914, München 2000, S. 27; Aydin, Cemil: Regionen und Reiche in der politischen Geschichte des langen 19. Jahrhunderts (1750–1924), in: Conrad, Sebastian/Osterhammel, Jürgen (Hg.): Wege zur modernen Welt 1750–1870 (Geschichte der Welt, Bd. 4, hg. von Iriye, Akira/ Osterhammel, Jürgen), München 2016, S. 119–120.

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des Westens über weite Teile der Welt doch in ihrem Zenit und grassierten rassistische Theorien nicht nur in den Populärkulturen, sondern auch in wissenschaftlichen Disziplinen wie der Anthropologie. Prominent zur Sprache kam in London das „Rassenproblem“ in den USA. Denn nirgendwo sonst auf der Welt spielte der Rassismus seit dem späten 18. Jahrhundert durchgehend eine so zentrale Rolle wie in der Gesellschaft der westlichen Modelldemokratie.4 Gleich mehrere Vortragsredner nahmen sich des Themas an.5 So referierte der Soziologe W. E. B. Du Bois faktenreich über Geschichte und Gegenwart der Afroamerikaner in den USA. Du Bois hatte 1895 als erster Schwarzer in den Vereinigten Staaten überhaupt in Harvard promoviert – mit einer historischen Studie, der er den Titel „The Suppression of the African Slave Trade to the United States 1638-1870“ (New York 1896) gab – und danach eine Karriere als Universitätsdozent und Bürgerrechtler eingeschlagen. In seinem Vortrag beschrieb er die rassistische Diskriminierung der Afroamerikaner ungeschminkt, um am Schluss herauszustreichen, dass der Kampf um die „Anerkennung als Mensch“ und das Engagement für die Bürgerrechte eben erst begonnen habe.6 In der gleichen Sektion wie Du Bois trat ein Arzt namens Dr. Charles A. Eastman auf. Ihm eilte der Ruf voraus, der gebildetste Indianer der USA zu sein. 1858 als Angehöriger der Santee Sioux in der Nähe von Redwood Falls in Minnesota geboren, wurde Ohiyesa in der „Wildnis“ Manitobas traditionell auf ein Leben als Jäger und Krieger vorbereitet. Erst mit 15 Jahren eingeschult, gelang ihm eine Karriere, die in der damaligen Zeit einzigartig war. Nach der Volksschule besuchte er mehrere Colleges, darunter das renommierte in Dartmouth, und danach die Boston University, an der er 1890 die medizinische Approbation erhielt. Seine erste Anstellung als Arzt führte ihn in das „Pine Ridge“-Reservat, wo er nur wenige Wochen nach seiner Ankunft die wenigen überlebenden Lakota des Massakers von Wounded Knee zu behandeln hatte.7 Zwischen 1902 und 1918 verfasste Eastman insgesamt 11 Bücher zu indianischen Themen, die nach dem Erscheinen bald in andere Sprachen übersetzt wurden. Mit diesen Publikationen schuf Eastman sich einen Namen als erster grosser indianischer Autor Nordamerikas und trug so letztlich dazu bei, dass die First Peoples vom weissen Ame-

4 5 6

7

Zinn, Howard: Eine Geschichte des amerikanischen Volkes (1980), Berlin 2007, S. 29. Mays, Kyle T.: Transnational Progressivism. African Americans, Native Americans, and the Universal Races Congress of 1911, in: The American Indian Quarterly 37 (2013), pp. 241–261. Du Bois, W. E. B.: The Negro Race in the United States of America, in: Papers on Inter-Racial Problems, pp. 348–364, here p. 361, p. 364. Zu dessen frühem Werdegang: Levering Lewis, David/Du Bois, W. E. B.: Biography of a Race 1868–1919, New York 1994. Vgl. Greene, Jerome A.: American Carnage. Wounded Knee 1890, Norman 2014, p. 299, p. 302, p. 304.

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rika besser verstanden wurden.8 In seinem Londoner Vortrag von 1911 gab Eastman einen kenntnisreichen Überblick über Geschichte und Kulturen der nordamerikanischen Indianer. Beinahe vom ersten Kontakt an habe sich die Landnahme der europäischen „Invasoren“ „destruktiv“ und „demoralisierend“ auf die First Peoples ausgewirkt. Die Eroberung und Kolonisierung der nordamerikanischen Landmasse durch die Weissen habe ihnen „unsägliches Leid“ gebracht, bevor sie zur „vollständigen Unterjochung“ der überlebenden Indianer führte.9 In seinem Vortrag kam er auch auf das politisch brisante Thema der „Reservatsperiode“ zu sprechen. Auf einem Bruchteil ihres einstigen Landes eingepfercht und zum Teil in weit entfernte Gegenden umgesiedelt, habe sie für die Indianer eine „elende Gefängnisexistenz“ eingeläutet. Ihres „pauperisierenden Effekts“ wegen hätten die Reservate allerorten eine „erbärmliche Apathie“ unter den Native Americans hervorgerufen, die der von eingesperrten Wildtieren in Zoologischen Gärten gleiche. Nach den gemachten Erfahrungen müsse festgehalten werden: „We may say now without much fear of contradiction that the reservation policy was a mistake, the fruits of a radical misapprehension of the red man’s native capacity. A generation ago it was common to affirm his absolute inability to assimilate the white man’s civilization. There was, of course, no such inability, but merely a lack of motive and opportunity; in other words, it was a simple question of adaptation to environment.“10 Eastmans Ausführungen, die in der Forderung gipfelten, alle indianerfeindlichen Restriktionen aufzuheben und die Reservate abzuschaffen, um den Indianern die „volle Unabhängigkeit“ eines Staatsbürgers zu geben11, fügten sich nahtlos in die Grundtendenz des „First Universal Races Congress“ ein.

Charles A. Eastmans Kritik an der amerikanischen Indianerpolitik Zusammen mit Carlos Montezuma (Yavapai Apache), Arthur C. Parker (Seneca), Gertrude Bonnin (Yankton Sioux), Laura Cornelius (Oneida), Francis La Flesche (Omaha) und einigen anderen gehörte Charles A. Eastman zu einer neuen Generation indianischer Intellektueller, die sich in den USA in einer „Zeit der heftigsten kulturellen 8

9 10 11

Vgl. zur Biographie: Wilson, Raymond: Ohiyesa. Charles Eastman, Santee Sioux, Urbana, Chicago 1999. Zu seinem literarischen Werk: Peyer, Bernd C.: „The Thinking Indian“. Native American Writers, 1850s–1920s, Frankfurt a. M./Berlin 2007, pp. 252–360. Eastman, Charles A.: The North American Indian, in: Papers on Inter-Racial Problems, pp. 367–376, here pp. 373–374. Eastman, Indian, p. 374. Eastman, Indian, p. 376.

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Unterdrückung“12 zu Wort meldeten. Diese zumeist akademisch gebildeten Aktivisten hatten nicht mehr allein die Anliegen ihrer Ethnie vor Augen, sondern brachten in einer panindianischen Perspektive die Anliegen aller unterdrückten Native Americans in den nationalen Diskurs ein.13 Eines ihrer zentralen Anliegen bestand darin, den Alltag der Menschen in den Reservaten zu erleichtern und auch für jene Indianer die US-Staatsbürgerschaft zu erstreiten, welche kein privates Land bebauten. Damit begegneten Eastman und seine Mitstreiter der offiziellen Indianerpolitik, die sich seit den 1880er-Jahren zum „umfassendsten und nachhaltigsten Anschlag auf indigene Daseinsformen in der US-Geschichte“14 entwickelt hatte, kritisch. Tatsächlich versuchten zwischen 1883 und 1934 alle US-Administrationen, ein radikales Entindianisierungs-Programm umzusetzen. Als „Mündel“ der Regierung behandelt, sollten die Reservats-Indianer in die Mehrheitsgesellschaft eingepasst werden, bis sie nicht mehr als eigener „rassischer Typ“ und distinkte ethnische Minderheit erkennbar sein würden. Den Reformern ging es darum, die Indianer tüchtig für die kapitalistische Welt zu machen und sie als auf eigene Rechnung arbeitende Familienfarmer vom Wert des Privateigentums zu überzeugen. Ganz auf dieser Linie politisierend, regte Präsident Theodore Roosevelt in seiner ersten „State of Union Address“ 1901 an, die staatlichen Lebensmittelieferungen so stark einzuschränken, so dass die Indianer in den Reservaten durch „schiere Notwendigkeit“ gezwungen würden, für ihren Lebensunterhalt auf eigenem Grund und Boden zu arbeiten. Wie viele andere Angehörige der tonangebenden White Anglo-Saxon Protestant-Elite betrachtete er sie als „rückständige Leute“, die der starken Hand ihrer „weissen Herren“ bedürfen, die ihnen den rechten Weg weise.15 Um die „Indianerfrage“ endgültig zu lösen, schreckten die zuständigen staatlichen Stellen nicht davor zurück, massiven Zwang anzuwenden. Die von Washington angestrebte Zwangsassimilation ruhte auf drei Säulen: auf dem Verbot und der Unterdrückung von unerwünschten kulturellen Traditionen (wie dem „Sun dance“, den Brautpreisen oder der Polygynie); der Umerziehung indianischer Kinder in staatlichen Bildungseinrichtungen, die der Losung „Kill the Indian in him, and save the man“16 12 13

Deloria, Jr., Vine: God Is Red. A Native View of Religion, New York 1973, p. 261. Vgl. Hoxie, Frederick E. (Ed.): Talking Back to Civilization. Indian Voices from the Progressive Era, Boston/ New York 2001, pp. 14–20; Maddox, Lucy: Citizen Indians. Native American Intellectuals, Race & Reform, Ithaca/London 2005, pp. 126–134. 14 Ostler, Jeffrey: The Plains Sioux and U.S. Colonialism from Lewis and Clark to Wounded Knee, Cambridge/ New York 2004, p. 150. 15 Dyer, Thomas G.: Theodore Roosevelt and the Idea of Race, Baton Rouge/London 1992, pp. 83–88. 16 Pratt, Richard H.: The Advantages of Mingling Indians with Whites (1892), in: Prucha, Francis Paul (Ed.): Americanizing the American Indians. Writings by the „Friends of the Indian“, 1880–1900, Cambridge 1973, p. 261.

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verpflichtet waren; und der Parzellierung und Privatisierung des verbliebenen Gemeinschaftslandes in den Reservaten.17 Renitente oder nicht genügend kooperationswillige Indianer bestraften die mit der Ausführung beauftragten Indianeragenten mit gekürzten Essensrationen. Die Botschaft war eindeutig: Gebt eure alte Kultur, ­Spiritualität und Identität auf oder aber verhungert. In der Konsequenz lief diese Politik auf eine versuchte kulturelle Auslöschung, ja einen Ethnozid hinaus.18 Vor diesem existenzbedrohenden Hintergrund gründete im April 1911 eine Handvoll indigener Intellektueller die „Society of American Indians“ (SAI), die erste rein indianische Lobbyorganisation in den USA. Ihre führenden Mitglieder Arthur C. Parker, Carlos Montezuma, Charles A. Eastman und Gertrud Bonnin versuchten, das allgemeine Reformklima während der „Progressive Era“ zu nutzen, um die drückenden Lebensbedingungen der rund 250.000 nordamerikanischen Indianer zu verbessern und diesen eine Zukunft als sichtbare Minderheit in der amerikanischen Gesellschaft zu sichern. So traten sie für eine möglichst rasche Auflösung der Reservate und des korrupten „Bureau of Indian Affairs“ ein.19 Washingtons ethnozidalen Generalangriff setzten einige von ihnen, darunter auch Charles A. Eastman, das Konzept der ethnischen Vielfalt und kulturellen Toleranz entgegen. Die Native Americans sollten ihnen zufolge rasch gleichberechtigte Bürger der Vereinigten Staaten werden und gleichzeitig Indianer mit eigenen Traditionen und besonderer Identität bleiben dürfen. Im Gegensatz zu den meisten weissen Sozialreformern dachten sie „Indianness“ und „Americanness“ nicht als unvereinbare Gegensätze, sondern als miteinander versöhnbare Konzepte.20 In seinem autobiographischen Bericht „From Deep Woods to Civilization“ (1916) umschrieb Eastman diese Position auf sich selbst bezogen so: „I am an Indian; and while I have learned much from civilization, for which I am grateful, I have never lost my Indian sense of right and justice. I am for development and progress along social and spiritual lines, rather than those of commerce, nationalism, or material efficiency. Nevertheless, so long as I live, I am an American.“21 17

White, Richard: It’s Your Misfortune and None of My Own. A New History of the American West, Norman 1993, pp. 109–116; Jacobs, Margaret D.: White Mother to a Dark Race. Settler Colonialism, Maternalism, and the Removal of Indigenous Children in the American West and Australia, 1880–1940, Lincoln/London 2009, p. 26. 18 Grinde, Jr., Donald A.: Taking the Indian out of the Indian. U.S. Policies of Ethnocide through Education, in: Wicazo Sa Review 19 (2004), pp. 25–32. 19 Rosier, Paul C.: Serving Their Country. American Indian Politics and Patriotism in the Twentieth Century, Cambridge/London 2009, p. 43. 20 Rosier, Country, p. 44; Vigil, Kiara M.: Indigenous Intellectuals. Sovereignty, Citizenship, and the American Imagination, 1880–1930, Cambridge/New York 2015, p. 17. 21 Eastman, Charles A.: From Deep Woods to Civilization (1916), Mineola/New York 2003, p. 93. Zu seinem

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In postkolonialer Terminologie ausgedrückt, setzten sich Eastman, Montezuma und Bonnin für eine hybride Identität und für die Akzeptanz von Patchwork-Biographien ein. Sie erklärten es für wünschbar, dass die Indianer sich zwei Welten zugehörig fühlen durften und sich in beiden kulturellen Systemen bewegen konnten. Ihr Leitbild war nicht der gleichmacherische „Melting Pot“. Sie stellten sich die US-Gesellschaft vielmehr als buntes Kaleidoskop und als multikulturelles Mosaik vor, in dem es auch Platz für akkulturierte Angehörige der First Peoples gab. Mit anderen Worten: Im Zeitalter des Progressivismus wurde der indianische Widerstand gegen das amerikanische Kolonialregime zunehmend mit geistigen Waffen ausgetragen. Mit ihren wegweisenden Stellungnahmen ebneten die Intellektuellen rund um die „Society of American Indians“ Positionen den Weg, welche die offizielle Politik erst seit den 1970er-Jahren umzusetzen begann.

Simon Pokagon und die „World’s Columbian Exposition“ in Chicago Freilich machten sich die in der „Society of American Indians“ organisierten Intellektuellen auch für einen anderen Blick auf die Westexpansion der USA und ihre Folgen stark. Als einer der ersten Indianer überhaupt engagierte sich Simon Pokagon (1830– 1899) für eine kritische Betrachtung des „Winning of the West“ (Theodore Roosevelt). Schon 1893 benannte er das an den Native Americans verübte Unrecht öffentlich beim Namen.22 Wie der Chiricahua Apache Geronimo und der Hunkpapa Lakota Sitting Bull gehörte er jener um 1830 geborenen Generation von Indianern an, die während ihrer Lebenszeit die grosse Transformation des amerikanischen Westens erlebten und zu bewältigen hatten. Pokagon wurde als Sohn eines Chiefs in die Potawatomi-Nation hineingeboren, deren Mitglieder sich selbst „Neshnabek“, „das wahre Volk“, nannten. Kulturell nahe mit den Ojibwe und Ottawa verwandt, mit denen sie die „Council of Three Fires“-Konföderation bildeten, siedelten die Potawatomi seit Jahrhunderten im Herzland der oberen Grossen Seen. Noch im ausgehenden 18. Jahrhundert nutzten sie ein weiträumiges Gebiet rund um die Südspitze des Lake Michigan.23 Die Potawatomi lebten in halbpermanenten und autonomen Dörfern, die sich aus Rundhütten

22 23

Zwei-Welten-Konzept: Fitzgerald, Michael Oren (Ed.): Living in Two Worlds. The American Indian Experience. Illustrated by Charles Alexander Eastman (Ohiyesa). Including Contributions by Other Notable Indian Leaders, Bloomington 2010, p. XIII, p. 180, pp. 184–185. Womack, Craig S.: Red on Red. Native American Literary Separatism, Minneapolis 1999, pp. 2–3. Hornbeck Tanner, Helen: Atlas of Great Lakes Indian History, Norman 1987, pp. 133–136.

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(„dome-shaped wigwams“) zusammensetzten. Lebensgrundlage war der Anbau von Mais, Bohnen und Kürbissen sowie der Fischfang, aber auch die Jagd auf Elche, Hirsche, Biber und Bisons. Zusätzlich wurden Nüsse, Wurzeln und Beeren gesammelt, Wildreis geerntet und Ahornsirup hergestellt. Im Alltagsleben existierte eine strenge Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Die Männer jagten, fischten, handelten und gingen auf Kriegszüge. Die Frauen hingegen kümmerten sich um die Pflanzungen, kochten die Speisen, stellten Kleidung und Körbe her und versorgten die Kinder.24 Bevor französische Pelzhändler in ihr Land kamen, waren die Potawatomi ein sich selbst versorgendes Volk, das von den natürlichen Ressourcen der Seen, Flüsse und Wälder lebte. Danach wurden sie seit den 1660er-Jahren immer mehr ins System des transatlantischen Handelsaustauschs eingebunden. Aus Europa stammende Waren wie Kleider, Decken, Werkzeuge, Töpfe, Gewehre und Pulver, die sie gegen Biber- und Otter-Felle eintauschten, machten ihr Leben zwar einfacher, bewirkten aber auch, dass sich ihre herkömmliche Lebenswelt immer stärker zu wandeln begann.25 Eine neue Qualität erreichte der Veränderungsdruck nach dem zweiten Pariser Frieden von 1783, als mit den Vereinigten Staaten von Amerika eine auf Expansion angelegte Siedlerrepublik die Oberherrschaft über ihr ausgedehntes Siedlungsgebiet antrat. Seither gerieten die damals schätzungsweise 10.000 Potawatomi immer stärker in die Defensive. Mehrfach schlossen sie sich panindianischen Kriegsallianzen an, um die landhungrigen Fremden wieder aus dem Gebiet des Ohio und der Grossen Seen zu vertreiben. So kämpften sie im „Nordwest Indian War“ (1785-1795) und während des Britisch-Amerikanischen Kriegs (1812–1814) unter dem Shawnee-Chief Tecumseh. Doch in beiden Konflikten erlitten sie Niederlagen. In der Folge mussten die Potawatomi in mehr als 30 Verträgen immer grössere Stücke ihres einstigen Lebensraumes abtreten. Am 26. September 1833 traten ihre Chiefs – darunter auch Leopold Pokagon, der Vater von Simon Pokagon – ihr letztes verbliebenes Landstück an die USA ab. Es war dies das Gebiet an der Südspitze des Lake Michigan, auf dem innert kurzer Zeit die Metropole Chicago, das schon in der Zeit so genannte „Tor zum Westen“, aus dem Boden gestampft wurde.26 Mit dem enteigneten Land büssten die Potawatomi ihre Unabhängigkeit und wirtschaftliche Lebensgrundlage ein. Nun begann für sie ein unerbittlicher Überlebenskampf.27 Im Zeichen des 24 25 26 27

Edmunds, R. David: The Potawatomis. Keepers of the Fire, Norman 1987, p. 4, pp. 15–23. Edmunds, Potawatomis, p. 23. Vgl. Cronon, William: Nature’s Metropolis. Chicago and the Great West, New York/London 1991. Low, John N.: Imprints. The Pokagon Band of Potawatomi Indians and the City of Chicago, East Lansing 2016, pp. 23–30.

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1830 unter Präsident Andrew Jackson beschlossenen „Indian Removal Act“ wurde ein Grossteil der Potawatomi schliesslich in das im späteren Bundestaat Oklahoma gelegene „Indian Territory“ umgesiedelt. Die Gemeinschaft von Leopold Pokagon konnte sich jedoch im südwestlichen Michigan halten.28 Als Simon im Frühjahr 1830 das Licht der Welt erblickte, war die traditionelle Lebensweise der Potawatomi längst nicht mehr unberührt von äusseren Einflüssen, aber noch so intakt, dass er sie nicht vom Hörensagen allein kannte. Jedenfalls lernte er erst im Alter von 12 Jahren Englisch, an der St. Mary’s Academy, einer Missionsschule, die von katholischen Ordensschwestern geführt wurde. Danach besuchte er das Twinsburg Institute in Ohio, wo er seine Schulzeit mit 20 Jahren beendete. Obschon er nie ein College oder eine Universität besucht hatte, eignete er sich eine beachtliche Bildung an, die ihn für Führungsaufgaben in seiner Gemeinschaft qualifizierte.29 Pokagons grosse Stunde schlug 1893, als in Chicago die bis dahin grösste Weltausstellung stattfand. Sie stand ganz im Zeichen des Gedenkens an Christoph Kolumbus, der 400 Jahre zuvor mit seiner Mannschaft auf der Bahamas-Insel Guanahani an Land gegangen war. Damit löste er die europäische Überseeexpansion auf dem amerikanischen Doppelkontinent aus, die zum fast vollständigen Ruin der Indianerkulturen führte.30 Die „World’s Columbian Exposition“ in Chicago war ein Ereignis der Superlative, das in sechs Monaten mehr als 27,5 Millionen Menschen anzog, und damit zu einem massenwirksamen Medium der gesellschaftlichen Selbstrepräsentation wurde.31 Wie alle ihre Vorgängerinnen setzte auch diese Weltausstellung die Überlegenheit westlicher „Zivilisation“ und besonders die inzwischen erreichte technisch-industrielle Macht der USA in Szene. Wie die letzte Weltausstellung von 1889 in Paris, in der der stählerne Eiffelturm eine der Hauptattraktionen gewesen war, stand auch diese im Zeichen der allerneuesten technischen Errungenschaften,32 darunter vor allem der

28 Fletscher, Matthew L. M.: Potawatomi Removal, in: Littlefield, Jr., Daniel F./Parins, James W. (Ed.): Encyclopedia of American Indian Removal (Bd. 1), Santa Barbara/Denver 2011, pp. 175–180. 29 Peyer, Indian, p. 149; Low, Imprints, p. 42. 30 Vgl. etwa Calloway, Colin G.: One Vast Winter Count. The Native American West before Lewis and Clark, Lincoln/London 2003; Rinke, Stefan: Kolumbus und der Tag von Guanahani. 1492: Ein Wendepunkt der Geschichte, Stuttgart 2013; Mattioli, Aram: Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas 1700–1910, Stuttgart 2017. 31 Geppert, Alexander C. T.: Weltausstellungen, in: Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) (Hg.): European History Online (EGO), Mainz 2013, S. 1, http://www.ieg-ego.eu/gepperta-2013-de (13.02.2017). 32 Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 41–42; Kretschmer, Winfried: Geschichte der Weltausstellungen, Frankfurt a. M./New York 1999.

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Elektrizität und der durch sie ermöglichten Innovationen.33 Andererseits geriet der Grossanlass zu einem „aussergewöhnlichen nationalen Spektakel, das den Höhepunkt der Kolumbusbegeisterung in den USA markierte“.34 Tatsächlich war in der eigens für die Ausstellung erbauten „White City“ mit ihren 200 Gebäuden, Palästen und Pavillons der „Admiral der Weltmeere“ omnipräsent. Statuen, Brunnen und Kinderspielzeug, aber auch nationale Stammtafeln, Postkarten, Souvenirs und vieles andere mehr nahmen auf Kolumbus Bezug und machten aus dem genuesischen Seefahrer in spanischen Diensten einen amerikanischen Superhelden. Dass die durch seine Atlantikfahrten ausgelösten Schockwellen bald Millionen von Indianern den Tod gebracht hatten, war auf der Weltausstellung nirgendwo explizit ein Thema. Ganz in der Tradition des „Manifest Destiny“-Glaubens inszenierten die Ausstellungsmacher die „Entdeckung der Neuen Welt“ als das Initialereignis einer einzigartigen nationalen Erfolgsgeschichte, an deren vorläufigem Ende die vor Kraft strotzenden Vereinigten Staaten von Amerika standen, die 1893 gerade zum Sprung ansetzten, eine Weltmacht zu werden.35 Neben den Selbstdarstellungen der führenden Industrienationen wurden auf dem riesigen Ausstellungsgelände eine Auswahl der in den Kolonien unterdrückten Völker Asiens, Afrikas und Nordamerikas zur Unterhaltung der vorab weissen Zuschauermassen zur Schau gestellt. In der Nähe des Vergnügungsviertels „Midway Plaisance“ und mitten in ihm selbst spazierten Besucher und Besucherinnen an einer Reihe von „Eingeborenendörfern“ vorbei, in denen Menschen aus Afrika, Asien und Nordamerika in ihren traditionellen Trachten dasassen, einfache Alltagsdinge verrichteten oder Tänze vorführten.36 Nordamerikas indigene Völker wurden auf dem Messegelände auf drei Arten präsentiert: in einem anthropologischen, einem assimilatorischen und einem mythologisierenden Diskurskontext.37 Diese Präsentationsformen degradierten die American Indians zu reinen Objekten weisser Schaulust und verfestigten gleichzeitig zeittypische Stereotype wie das, dass sie in „Steinzeit“-Kulturen lebten, die auf der untersten Stufe der menschlichen Evolution stehen geblieben seien. 33 Vgl. Bolotin, Norman/Laing, Christine: The World’s Columbian Exposition. The Chicago World’s Fair of 1893, Urbana/Chicago 2002; Di Cola, Joseph/Stone, David: Chicagos’s 1893 World’s Fair, Charleston 2012. 34 Loock, Kathleen: Kolumbus in den USA. Vom Nationalhelden zur ethnischen Identifikationsfigur, Bielefeld 2014, S. 84. 35 Loock, Kolumbus, S. 118–139. 36 Rydell, Robert W.: All the World’s Fair. Visions of Empire at American International Expositions, 1876–1916, Chicago/London 1987, p. 40, p. 48, p. 55. 37 Department of Anthropology, University of Illinois: American Indians at Chicago’s Columbian Exposition, 2002, p. 2, https://cdn.citl.illinois.edu/courses/aiiopcmpss/essays/exposition/expo1.htm (13.02.2017).

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„The Red Man’s Rebuke“ – ein Akt des intellektuellen Widerstands Wie die Native Americans ihrerseits die geschichtsblinde Weltausstellung in der Metropole am Lake Michigan wahrnahmen, darüber schweigen sich die Quellen weitgehend aus. Mit Simon Pokagons Büchlein „The Red Man’s Rebuke“ hat sich jedoch eine aussergewöhnliche Stellungnahme erhalten. In Birkenrinde gebunden, gehört der Text zu den erstaunlichsten Selbstzeugnissen von American Indians, die vor 1900 geschrieben und gedruckt wurden. Just dort, wo die indigenen Völker ausgestellt waren – rund um die Vergnügungsmeile der Weltausstellung – bot Pokagon die nur 16 Seiten zählende Schrift selbst zum Verkauf an. Bezeichnenderweise übte er in seinem Text nicht allein als Potawatomi Kritik an der nationalistischen Selbstgefälligkeit der Kolumbus-Ausstellung. Er richtete sich vielmehr im Namen aller Native Americans und in bewusst aufrüttelnder Weise an das weisse Amerika. Den dominierenden Fortschrittsglauben radikal in Frage stellend, hielt Pokagon der sich triumphal feiernden Union einen kritischen Spiegel vor, indem er ungeschönt an das gewalttätige Fundament erinnerte, auf dem die USA entstanden waren. Schon die Anfangssätze kamen einem Paukenschlag gleich: „In behalf of my people, the American Indians, I hereby declare to you, the pale-faced race that has usurped our lands and homes, that we have no spirit to celebrate with you the great Columbian Fair now being held in this Chicago city, the wonder of the world. No; sooner would we hold high joy-day over the graves of our departed fathers, than to celebrate our own funeral, the discovery of America. And while you who are strangers, and you who live here, bring the offerings of the handiwork of your own lands, and your hearts in admiration rejoice over the beauty and grandeur of this republic, and you say ‘Behold the wonders wrought by our children in this foreign land’, do not forget that this success has been at the sacrifice of our homes and a once happy race.“38 Mit seiner an Metaphern reichen Sprache erinnerte Pokagon an das Leid, welches die Verdrängung, Dezimierung und Enteignung der nordamerikanischen Indianer über diese gebracht hatte. Durch schiere Gewalt, eingeschleppte Krankheiten, Hunger, Alkoholismus und koloniale Unterdrückung sei ein Grossteil der nordamerikanischen Indianer seit 1492 elend zugrunde gegangen. Bloss kümmerliche Restgruppen des einstigen indianischen Nordamerika hätten überlebt, die vielleicht ganz zum Untergang verurteilt wären. In seinem bemerkenswerten Text hob er die Radikalität hervor, mit der die amerikanische Gesellschaft den Westen bis zur Unkenntlichkeit verändert 38

Pokagon, Simon: The Red Man’s Rebuke (1893), New Delhi 2013, pp. 1–2.

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hatte. So verglich er die Veränderungsdynamik, der das indianische Nordamerika ausgesetzt war, mit den Folgen eines verheerenden Wirbelsturms, der keinen Stein auf dem anderen gelassen hatte: „The cyclone of civilization rolled westward; the forests of untold centuries were swept away; streams dried up; lakes fell back from their ancient bounds; and all our fathers once loved to gaze upon was destroyed, defaced, or marred, except the sun, moon, and starry skies above, which the Great Spirit in his wisdom hung beyond their reach.“39 Und in einer Passage wandte er sich direkt an seine weissen Leser, indem er die Frage aufwarf: „And tell us, have crime, despotism, violence, and slavery ever been dealt out in a more wicked manner to crush out life and liberty; or was ever a people more mortally offended than our forefathers were?“40 „The Red’s Man Rebuke“ war ein einsamer indianischer Protestruf, ein Akt des intellektuellen Widerstands. Pokagon forderte das weisse Amerika darin zu nichts weniger auf, als seine selbstexkulpierenden Mythen über den Verlauf der US-Geschichte gründlich zu revidieren.41 In der medialen Öffentlichkeit der USA wurde seine Schrift breit rezipiert, galt sie doch als kleine Sensation in einer Zeit, in der man den Indianern generell nicht viel zutraute und schon gar keine intellektuell ernstzunehmenden Gegennarrative. Das kleine Buch liess Pokagon zum „Gewissen im Ohr des Hegemonen“42 werden. Angespornt durch seinen Erfolg verfasste er in den nächsten Jahren mit „Queen of the Woods“ nicht nur einen autobiographischen Roman, sondern auch zwölf längere Zeitschriftenartikel und eine Handvoll weiterer in Birkenrinde gebundene Bücher mit Sammlungen der mündlich überlieferten Legenden der Algonkin-sprachigen Indianer, die um die Grossen Seen gelebt hatten.43 Simon Pokagon wurde des Öfteren gefragt, was seiner Meinung nach das Beste für die gerade einmal 240.000, seit 1886 fast ausnahmslos in Reservaten überlebenden Native Americans in den USA sei. Kein grundsätzlicher Kritiker der offiziellen Assimilationspolitik, sah er für „sein Volk“ keinen anderen Weg, als die Lebensweise der Vorväter aufzugeben. Denn mit der Beinahe-Ausrottung der Bisons und dem Rückgang des sonstigen jagbaren Wildes sei die wirtschaftliche Grundlage des alten „way of life“ weggebrochen, so dass den Indianern keine andere Wahl bliebe, als Farmer zu werden: „We must teach our children to give up the bow and arrow that is born in their hearts; and, in place of the gun, we must take the plow, and live as white men do.“44 39 40 41 42 43 44

Pokagon, Rebuke, p. 4. Pokagon, Rebuke, p. 9. Vigil, Intellectuals, p. 4, p. 7. Low, Imprints, p. 37. Peyer, Indian, p. 154, p. 156. Ansprache von Simon Pokagon am „Chicago Day“ der „World’s Columbian Exposition“, 9. Oktober 1893, in: Pokagon, Simon: Queen of the Woods. Ogimawkwe Mitigwaki. A Novel (1899), East Lansing 2011, p. 195.

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Wie viele gebildete Indianer der „Progressive Era“ fand sich Simon Pokagon zwischen zwei Welten wieder, die er miteinander zu versöhnen versuchte.45 In seinen Reden und Schriften plädierte er zwar dafür, dass sich die Native Americans ein grosses Stück weit an die weisse Dominanzgesellschaft anpassen. Doch legte er einigen Wert darauf, dass sie möglichst viel von ihrem kulturellen Erbe (etwa die Sprachen, die mündlich überlieferten Geschichten und das Kunsthandwerk, aber auch die Tänze und die traditionellen Outfits) in die neue Zeit retteten. Gerade in einer Zeit, in der Washington gegenüber den First Peoples eine ethnozidale Politik betrieb, bestand Pokagons Hauptanliegen darin, das weisse Amerika für die Geschichte und Kultur der Native Americans zu sensibilisieren. Wie auch sein jüngerer Geistesverwandter Charles A. Eastman hielt Simon Pokagon die Indianer dazu an, ihr Indianisch-Sein auf neue Weise selbstbewusst zu leben.46 Beide befürworteten lediglich eine partielle Anpassung, welche mit der gleichzeitigen Bewahrung wichtiger indianischer Traditionen vereinbar war.47 Zusammen mit den Intellektuellen der „Society of American Indians“ wurden Pokagon und Eastman damit zu frühen Wegbereitern der kulturellen Wiedergeburt der nordamerikanischen Indianer, die schliesslich auch den an ihnen versuchten Ethnozid überlebten, auch wenn dieser „Seelenwunden“48 schlug, die bis heute nicht verheilt sind.

45 Cushing Davis, Lisa: Hegemony and Resistance at the World’s Columbian Exposition. Simon Pokagon and The Red Man’s Rebuke, in: Journal of the Illinois State Historical Society 108 (2015), p. 46, p. 49. 46 Low, Imprints, p. 60. 47 Low, Imprints, p. 50. 48 Smith, Andrea: Soul Wound. The Legacy of Native American Schools, in: Amnesty International Magazine, 26. März 2007, http://www.amnestyusa.org/node/87342 (13.02.2017).



VON DER UNBEHOLFENHEIT, MIT KULTURELLEN PARADIGMENWECHSELN UMZUGEHEN Versuch einer Selbstreflexion Karl Stadler

1. Migration, religiöse Symbolik im öffentlichen Raum, kulturspezifische Bekleidungsregeln und Verhaltensgepflogenheiten besitzen derzeit in den Medien, aber auch in der gesellschaftlichen und politischen Debatte, regelmässige Präsenz. Als Beispiele mögen dienen Kopftücher, Gesichtsverschleierungen, ungewohnte Badeanzüge oder auch nur einfache Begrüssungs- und Verabschiedungsrituale in Schulen. Die Installation eines Halbmondes als Alternative zu einem Kreuz auf einem Berggipfel verfehlte das Ziel des Künstlers nicht, eine aufgewühlte Diskussion anzustossen. Auch dem Schreibenden widerfährt es manchmal, dass er – eigentlich unbegründet – Mühe bekundet, wenn im Zuge der Migration bis anhin nicht vertraute Lebensformen bei uns Wurzeln schlagen und in einer Zeichen- und Symbolsprache im öffentlichen Raum ihre Anwesenheit kundtun. Obwohl solche Zeichen und Symbole auch den ansässigen Menschen im Grunde längst bekannt sind, wecken derartige Entwicklungen ein Unbehagen darüber, dass sich in vertrauten Räumen neue Kulturformen auszubreiten beginnen. Was kann der Grund sein für solch eine schleichende Sorge um den eigenen kulturellen Identitätsverlust? Vielleicht lässt sich ein innerer Zusammenhang mit dem Weg finden, der während der Phase der eigenen persönlichen Sozialisierung beschritten wurde. Bloss einige Jahrzehnte sind verflossen, seit man als Kind und Jugendlicher in Wertgefüge eingeführt wurde. Im Elternhaus während der Kindheit und Jugendzeit, nicht weniger in der Volksschule, wurden die vorherrschenden Traditionen vermittelt. In der Schule wurde kulturelle Legitimation vorwiegend, wenn auch nicht ausschliesslich, der heimischen Tradition zuerkannt, und es drang unter der Oberfläche dieses pädagogischen Geistes durch, dass die tradierten Haltungen und die vermittelte religiöse Weltanschauung sich bleibend in den jungen Menschen einprägen sollten. Die religiösen Wahrheitsansprüche, wie sie sich im institutionalisierten kirchlichen

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Schrifttum verankert finden, begleiteten subtil, jedoch vereinnahmend, dieses Sozialisierungsgeschehen, um wirkungsvoll die künftige Lebenspraxis mitzugestalten.1 Dieser Geist wirkte formend und trug zur Ausbildung einer vermeintlichen kulturellen Identität bei.

2. Dieser Befund ist umso erstaunlicher, als während des letzten Jahrhunderts in den westlichen Gesellschaften die Wirkungsmacht geistiger Traditionen und damit teils verbunden religiös-metaphysischer Dogmen nachgelassen hat. Eine kritische Haltung zur Metaphysik des Mittelalters bildete sich bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und in der Philosophie der Aufklärung heraus. Kant, durch den schottischen Empiristen Hume aus dem dogmatischen Schlummer gerissen,2 hat sich in seiner theoretischen Philosophie nicht nur gegen die hergebrachte Metaphysik gewandt, sondern ebenso den kartesischen Versuch zurückgewiesen, das Bemühen um Erkenntnis ausschliesslich auf dessen Rationalismus zu gründen.3 Gewiss darf man als ein die Aufklärung kennzeichnendes Charakteristikum sehen, dass sie den Dogmen der Metaphysik mit einer kritischen, sowohl auf Rationalismus wie Empirismus fussenden Haltung begegnete. Zwar zielt dies bei näherem Hinsehen auf die Metaphysik nur soweit, als diese den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt. Es verträgt sich wohl damit, dass dennoch viele Menschen, deren Denken und Lebensformen von der Aufklärung und der Moderne mitberührt werden, zumindest eine verborgene Sehnsucht nach einem transzendentalen Ideal zum Ausdruck bringen.4 Wenn Heidegger Fragen nach dem Sein in Abweichung von der herkömmlichen Ontologie thematisiert, so äussert sich darin das Bedürfnis, die sich aufdrängende Fraglichkeit des Lebens (Daseins)

1

2 3

4

Vgl. Declaratio de educatione christiana, in: Acta Apostolicae Sedis (AAS) 58 (1966), S. 728–739; beispielhaft auch: Katechismus der kath. Kirche, München 2003, Ziff. 2467, S. 620, unter Verweis auf Dignitatis humanae 2, 7. Dezember 1965. Kant, Immanuel: Prolegomena (Kant Werke, Bd. 5), Darmstadt 1983, S. 118 (A13). „[…] weil die Hauptfrage immer bleibt, was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung kennen, und nicht, wie ist das Vermögen zu denken selbst möglich?“ Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (Kant Werke, Bd. 3), Darmstadt 1983, Vorrede A XVII, S. 16. Vgl. Horkheimer, Max: Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Interview mit H. Gumnior, Hamburg 1975, S. 61. „Auf keinen Fall steht Theologie hier für die Wissenschaft vom Göttlichen oder gar die Wissenschaft von Gott. Theologie bedeutet hier das Bewusstsein davon, dass die Welt Erscheinung ist, dass sie nicht die absolute Wahrheit, das Letzte ist […].“

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verstehen, statt bloss erklären zu wollen.5 Obwohl bereits die griechische Naturphilosophie in Ionien sich von den herrschenden Mythologien zu lösen begann und viele Phänomene statt mythisch zu deuten, rational zu erklären suchte,6 hat in der abendländischen Kultur die Sorge um die Ungewissheit menschlichen Daseins bei den Menschen auch im 20. Jahrhundert nicht nachgelassen.

3. Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen erfahren selbst alltägliche Gegenstände eine unerwartete Bedeutungsverschiebung, wenn nicht gar -anreicherung. Auf dem Schreibtisch liegt eine kleine Tafel, gebildet aus sedimentären Ablagerungen, darin eingelassen der Abdruck eines Fossils, eines versteinerten Fisches, dessen Alter mit einigen hunderttausend Jahren angegeben wurde. Auf dem Tisch findet sich weiter eine wunderschöne Quarzkristallgruppe, stammend aus einer Kluft, die ein verstorbener Freund gefunden und geöffnet hatte. Deren Entstehungsalter dürfte geologisch zwischen 15 und 18 Millionen Jahre betragen. Beide Gegenstände gelten gewiss als recht junge Zeugnisse aus der Erdgeschichte, geschweige denn aus jener des Universums. Während der Entstehung der Quarzkristalle fanden sich noch lange keine Spuren menschlicher Kultur auf unserem Planeten. Vieles in der Erdgeschichte hätte auch einen ganz anderen Verlauf nehmen können. Für den Schreibenden stehen diese beiden Gegenstände als Hinweis auf die Kontingenz der Entwicklung des Universums und damit auch der Erde, der Wohnstätte des Menschen. Naturwissenschaftliche Hypothesen beschreiben das Universum als Prozess, ausgehend von einem Anfangszustand hin zu einer unbekannten Zukunft. Die Wissenschaft zeichnet das Bild einer Entwicklung von einfachen hin zu komplexeren Zuständen mit grösserer Ausdehnung. Und es taucht die für eine sinnstiftende Gestaltung der Lebenspraxis immer wieder sich aufdrängende Frage auf: Lässt sich in diesen Prozess Sinn hineindeuten mit Blick auf ein Telos? Was bedeutet das evolutive Fortschreiten an Orten des Universums wie dem des Planeten Erde, wo ganz zufällig Bedingungen herrschen, die organisches Leben ermöglichen? Was bedeutet der Fortgang von einfachen Stoffwechselprozessen zu höherstufigen Lebensvorgängen, bis schliesslich Phänomene von 5

6

Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 1984, § 3, § 4. Vor dem Hintergrund der Erklären-Verstehen-Debatte hat auch G. H. von Wright die methodologischen Begriffe „Erklären“ und „Verstehen“ in seiner Schrift „Erklären u. Verstehen“, Königstein 1984, herausgearbeitet. Vgl. auch Cassirer, Ernst: Vom Mythos des Staates, Hamburg 2002, S. 70–74.

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Bewusstsein daraus hervorgehen? Darf die Evolution bloss kausal erklärt, oder auch teleologisch gedeutet werden, als Prozess aus einem Weniger hin zu einem Mehr? Den Brückenschlag – von einem ausschliesslich physikalisch-materiell zu beschreibenden Anfangszustand hin zur eigentlichen Entstehung von Geist und Bewusstsein – vermochte bis anhin, trotz bewundernswerter Entdeckungen, die der Neurowissenschaft gelungen sind, allerdings kaum ein Erklärungsmodell schlüssig aufzuzeigen.7 Diese Kontingenz, die somit auch menschliches Dasein kennzeichnet, bildet einen inneren Zusammenhang zur Geworfenheit des Menschen. Heidegger hat diesen Terminus interpretiert als ein Moment des Zugangs des Menschen zur Welt; als ein Existenzial des „In-der-Welt-Seins“, das jeder Mensch auf seine je eigene Weise auf sich zu nehmen hat. „Der Ausdruck Geworfenheit soll die Faktizität der Überantwortung andeuten ... Faktizität, nicht verstanden als „[…] die Tatsächlichkeit des factum brutum eines Vorhandenen, sondern ein in die Existenz aufgenommener, wenngleich zunächst abgedrängter Seinscharakter des Daseins“.8 Heidegger deutet Geworfenheit als einen je eigenen Seinsmodus des Daseins eines jeden Menschen. Auch Sartre umschreibt den Begriff der Geworfenheit, die sich als Faktizität des Für-sich, wie er die menschliche Existenz benennt, darstellt: „[…] er ist, insofern er in eine Welt geworfen ist, einer ‚Situation‘ ausgeliefert ist, er ist, insofern er reine Kontingenz ist, insofern für ihn wie für die Dinge der Welt, wie für diese Mauer, diesen Baum, diese Tasse sich die ursprüngliche Frage stellen lässt: ‚Warum ist dieses Sein so und nicht anders?‘ Er ist, insofern es an ihm etwas gibt, dessen Grund er nicht ist: seine Anwesenheit bei der Welt.“9 Diese Aspekte menschlicher Daseinsweisen, welche die beiden Denker phänomenologisch in den Blick nahmen und die wahrscheinlich in allen Kulturen als Grunderfahrungen in vielfältigen Formen ihren Ausdruck finden, lassen verstehen, dass der Mensch, zu welchen Zeiten und unter welchen Verhältnissen auch immer, diese Faktizität zu bewältigen hat und dass er trotz der Lasten, die ihm durch Kontingenz auferlegt sind, nach Wohlbefinden strebt. Wohlbefinden, verstanden als ein idealer Zustand, frei von physischem oder seelischem Schmerz. Dieses Bestreben, das dem Menschen von Natur aus eigen ist, lässt verstehen, warum er immer und überall mit Bedürftigkeit behaftet ist. Es handelt sich um eine anthropologische Universalie, die jedem gesunden Menschen immer schon kognitiv zugänglich ist und die er sich, nicht nur bezogen 7 8 9

Huber, Gerhard: Eidos und Existenz, Basel 1995, S. 186. Heidegger, Sein, § 29, S. 135. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Deutsch von Hans Schöneberg und Traugott König, Hamburg 1991, S. 173.

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auf die eigene, vielmehr auch auf die Situation anderer Menschen, reflektierend ­vergegenwärtigen kann. An diesen Sachverhalt dachte wohl Wilhelm Kamlah, als er das ethische Postulat, mit allen daraus abzuleitenden normativen Implikationen, zur Grundnorm erhob: „Beachte in jeder Situation, d.h. zu jeder Zeit und an jedem Ort, dass der andere Mensch bedürftig ist, ebenso wie du selbst, und handle dem­gemäss!“10

4. Damit tritt ein zentrales ethisches Moment ins Blickfeld: die Würde des Menschen. Dieser Begriff hat seit der Renaissance und der Aufklärung an Bedeutung gewonnen. Als spezifische Würde des Menschen wurde dasjenige verstanden, was ihn vor andern Lebewesen auszeichnet und damit den Wert des Menschen ausmacht. Bereits in der Antike erklärte Cicero im Geiste stoischer Tradition die Würde des Menschen als dadurch verletzbar, dass bestimmte Lebensformen mit der menschlichen Natur, die sich in ihrer Teilhabe an der Vernunft hervorhebe, nicht verträglich seien.11 In der Renaissance vertrat unter dem Einfluss des Humanismus Pico della Mirandola die Überzeugung, dass der Mensch aus einem Wesen bestehe, das nicht vollends determiniert sei und in dem viele Möglichkeiten angelegt seien. Zwischen diesen Möglichkeiten frei zu wählen, sein Leben – ohne zwingenden Rekurs auf irgendwelche Autoritäten – zu gestalten, darin erblickte Pico della Mirandola das Besondere an der menschlichen Bestimmung und wertete diese Auszeichnung als dessen eigentliche Würde.12 Kant, der mit dem kategorischen Imperativ, als formale ethische Orientierung, das Fundament für die Geltung von Moral und Recht legen wollte, sah in der Würde des Menschen jenes moralische Postulat, welches unbedingte Geltung beansprucht. In der Ordnung der Zwecke stufte er den Menschen als einen absoluten „Zweck an sich selbst“ ein, was ihn zum praktischen Gesetz führte, dass der Mensch in Verfolgung jeglicher, durch eine Handlungslogik vorgegebene Mittel-Zweck-Relationen den Nebenmenschen niemals auf ein blosses Mittel reduzieren dürfe, diesem vielmehr immer gleichzeitig ebenso den unbedingten Status eines eigenen Zweckes zuerkennen müsse.13 In der Moderne fand der Begriff „Menschenwürde“ in sehr viele 10 11 12 13

Kamlah, Wilhelm: Philosophische Anthropologie, Mannheim 1973, S. 93. Vgl. Cicero, Marcus Tullius: Vom rechten Handeln. Übersetzt von Karl Büchner, München/Zürich 1987. Buck, August (Hg.): Pico della Mirandola. De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen, Hamburg 1990. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft (Kant Werke, Bd. 6), Darmstadt 1983, S. 263 (A 237).

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rechtliche Erlasse Eingang, so in völkerrechtliche Konventionen, aber auch in staatliche Verfassungen und Gesetze. Er steht zumeist als Kerngehalt für weitere Grundrechte. Beispielhaft mögen angeführt werden die Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), deren Normen zwar den Ausdruck „Menschenwürde“ kaum verwenden, die aber im Grunde nichts anderes beinhalten als eine Auslegung der Kriterien, welche den intensionalen Gehalt dieses Begriffes ausfüllen.

5. Semantische Klarheit ist für den Ausdruck „Menschenwürde“ nur zu gewinnen, wenn man sich Rechenschaft darüber gibt, was der Begriff „Person“ bedeuten könnte. Ein Verstoss gegen die Menschenwürde stellt implizit immer auch eine Verletzung der Persönlichkeit eines Menschen dar. In striktem Gegensatz zur dualistischen Position, wie sie in der kartesischen Philosophie vertreten wird, gibt David Hume den Substanzbegriff bezogen auf die Person auf. „Unsere Perzeptionen sind alle voneinander und von allem, was wir sonst uns ausdenken können, tatsächlich verschieden, trennbar und unterscheidbar, und es ist daher unverständlich, wie sie die Tätigkeit oder der abstrakte Modus irgendeiner Substanz sein sollten […].“14 Im kategorischen Imperativ, wie ihn Kant in seiner dritten Formulierung auslegte, kommt zum Ausdruck, was später unter Person, und damit unter Menschenwürde, verstanden wird: die Achtung des Menschen um seines Menschseins willen. Gleichzeitig vertrat Kant eine personale Identität des Menschen. Ethisches Handeln beruht für ihn vor allem auf der Vorstellung einer durch Autonomie und Freiheit ausgezeichneten Person, die sich selbst, aus begründeter, autonomer Entscheidung, an unbedingte Normen, d.h. Normen mit absoluter Geltung, bindet. Für Kant stellt Gottesglaube (und Religion) keine notwendige Voraussetzung für ethisches Handeln dar.15 Ist der Mensch bestrebt, ethisch – was im kantischen Kontext gleichbedeutend ist mit autonom – zu handeln, so sucht er eine Beantwortung der Frage nach dem letzten Zweck seines Handelns. Er ist bestrebt, in seinem Handeln einen absoluten Sinn, ein höchstes Gut, wenn auch vielleicht nur in der Form eines transzendentalen Ideals, zu finden.

14 15

Hume, David: Ein Traktat über die menschliche Natur (Buch I), Hamburg 1989, S. 318–319. Vgl. Kant, Praktische Vernunft, § 8, Lehrsatz IV, S. 144.

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6. Doch welches Prädikat bildet das Auszeichnende, sodass die Würde des Menschen und die daraus resultierenden Grundrechte, die in rechtsstaatlichen Ordnungen zum anerkannten Rechtsstandard gehören, ihm gerade um seines Menschseins willen zukommen?16 Was zeichnet den Menschen vor anderen höheren Lebewesen aus? Ist es die Sonderstellung, welche die Griechen, insbesondere die Stoa, in der Teilhabe des Menschen an dem den Kosmos durchwaltenden Logos sahen?17 Ist es das Menschenbild, das, in einer religiösen Sprache ausgedrückt, den Menschen als Gottes Geschöpf und Ebenbild zeigt und ihm aus diesem Grund die Möglichkeit zuspricht, aus Freiheit sittliche Entscheidungen zu treffen?18 Ist es die in Astronomie und Biologie gewonnene Einsicht, dass der Mensch, nach einer langen Entwicklung des Universums und der Geschichte der Evolution, mit einem äusserst komplexen „Organ“, dem Gehirn, ausgestattet ist, das ihn zu Selbstbewusstsein, Sprache und transzendierendem Denken befähigt? Fliesst Würde aus der nur dem Menschen eigenen Möglichkeit, sich zu sich selbst in Bezug zu setzen, Bewusstsein von Identität, von eigener geschichtlicher Vergangenheit und eigener Zukunft zu entfalten?

7. Es gilt gemeinhin als unbestritten, dass Traditionen und Kulturen einer stetigen Wandlung unterliegen. Bereits Heraklit war die Erfahrung vertraut, dass kaum ein Mensch dieselbe Welt sterbend verlässt, in die er hineingeboren wurde. Die Aufgabe, die allen Menschen aufgetragen ist, trotz Kontingenz zu bestehen,19 zeitigt seit jeher eine Vielzahl individueller Lebensformen und -entwürfe, und in gemeinschaftlichem Leben führt diese Obliegenheit zu einer reichen Vielfalt verschiedener kultureller Ausgestaltungen. Je weiter Wissenschaft und Technologie voranschreiten, desto eher schrumpft die Erde zu einem engeren, vielleicht letztlich gar gemeinsamen Ort, „zu einem Raumschiff “, wie Hermann L. Goldschmidt es einmal sinngemäss ausdrückte. Verschiedenste Völker, Kulturen und Religionen begegnen einander unausweichlich intensiver, 16 Vgl. BVerGE 97, 209 (228); Zit. Mahlmann, Matthias: Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, Baden-Baden 2008, S. 221–222. 17 Vgl. Pohlenz, Max: Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 1984. 18 Vgl. Rahner, Karl: Der Hörer der Botschaft, in: Rahner, Karl: Grundkurs des Glaubens, Freiburg i. Br. 1984, S. 35–53. 19 Lübbe, Hermann: Religion nach der Aufklärung, Graz/Wien/Köln 1986, S. 160–178.

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berühren und verstricken sich gegenseitig schicksalsträchtig, ohne dadurch zwingend sich der eigenen Tradition zu entfremden. Globalisierung, digitale Medien und Kommunikation brechen halbwegs abgeschlossene kulturelle Räume auf, ohne diese gänzlich zu entgrenzen. In einer Zeit, da das Verhältnis von Glaube und Vernunft20 auch im Wirkungsbereich abendländischer Denktraditionen keinen abschliessenden Status gefunden hat, vollziehen sich die tiefsten Veränderungen unserer kulturellen Befindlichkeit kaum unter dem Einfluss der derzeit den gesellschaftlichen Diskurs polarisierenden neuen Symbole und Lebensformen. Eine allfällige Erosion der kulturellen Identität zeigt sich eher als Begleitphänomen einer globalen Entwicklung der wissenschaftlich-technisch-ökonomischen Zivilisation, die Gesellschaften in rasantem Tempo umzuformen scheint.

8. Hannah Arendt sagte einmal, „dass Klischees, gängige Redewendungen, das Festhalten an konventionellen, standardisierten Kodices des Ausdrucks und des Betragens die gesellschaftlich anerkannte Funktion besitzen, uns vor der Wirklichkeit in Schutz zu nehmen, das heisst vor dem Anspruch, den alle Ereignisse und Tatsachen aufgrund ihrer Existenz an unsere denkende Aufmerksamkeit stellen“.21 Diese Aussage trifft wohl zu. Meiden oder verweigern wir angesichts drängender Fragen offene, ergebnisunabhängige Denkarbeit, stellen wir selbstreflexiv bald fest, dass wir uns dieser Obliegenheit im Bestreben entledigen, beängstigende Ungewissheiten auszublenden. Dieser Gedanke ist, im übertragenen Sinne, bereits in der Philosophie der Antike gegenwärtig.22 Ebenso war David Hume der Meinung, „dass die Vernunft die Sklavin der Affekte sei“, ja, dass sie diese Funktion „gegenüber den Affekten unterwürfig ausüben solle“,23 wie ausgerechnet er, sich damit dem Verdacht eines naturalistischen Fehlschlusses aussetzend,24 weiter postuliert. Da existentielle Grunderfahrungen seit jeher mit der Frage der Kontingenz konfrontiert sind, erscheint es als nur natürlich, dass, solange frei von Bedrängnis, einmal lieb gewonnene Denkgewohnheiten nur widerwillig abgelegt werden. Scheler schreibt, an ein stetig wiederkehrendes philosophisches Thema 20 21 22 23 24

Ratzinger, Joseph: Glaube Wahrheit Toleranz, Freiburg i. Br. 2003, S. 112–117. Zitat nach Arendt, Hannah: Über den Zusammenhang von Denken und Moral („Thinking and Moral Considerations: A Lecture“), in: Social Research 38/3 (1971), S. 417–446. Vgl. Platon: Protagoras, St. 352, in: Platons sämtliche Dialoge (Bd. I), Hamburg 1988. Hume, David: Ein Traktat über die menschliche Natur (Buch II), Hamburg 2013, S. 153. Ferber, Rafael: Sokrates. Tugend ist Wissen, in: Elenchos, Anno XII, Fascicolo 1, Neapel 1991, S. 44.

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denkend, „der Mensch muss den eigenartigen Zufall, die Kontingenz der Tatsache, ‚dass überhaupt Welt ist und nicht vielmehr nicht ist‘ und ‚dass er selbst ist und nicht vielmehr nicht ist‘, mit anschaulicher Notwendigkeit in demselben Augenblick entdecken, wo er sich überhaupt der Welt und seiner selbst bewusst geworden ist“, und er hält auch fest, dass der Mensch „aus dem unbezwinglichen Drang nach Bergung – nicht nur seines Einzelseins, sondern zuvörderst seiner ganzen Gruppe – auf Grund und mit Hilfe des ungeheuren Phantasieüberschusses, der von vorneherein im Gegensatz zum Tiere in ihm angelegt ist, diese Seinssphäre mit beliebigen Gestalten bevölkert, um sich in deren Macht durch Kult und Ritus hineinzubergen, um etwas Schutz und Hilfe hinter sich zu bekommen, da er im Grundakt der Naturentfremdung und -vergegenständlichung – und dem gleichzeitigen Werden des Selbstseins und Selbstbewusstseins – ins pure Nichts zu fallen schien“.25 Damit weist Scheler auf eine Erfahrung hin, die nicht bloss mit Blick auf die von Mythen beherrschten Zeitalter, sondern auch bezogen auf die Gegenwart einen wahren Kern für sich reklamieren darf. Alle institutionellen Tatsachen, die sich als intensionale Momente unter den Begriff Kultur subsumieren lassen, von der Religion bis hin zu Wissenschaft und Technologie, können als Behelfe gesehen werden, die je eigene, aber auch die gemeinsame Kontingenz zu bewältigen, welche nicht selten das menschliche Dasein ängstigt. Dieses allgegenwärtige Schutzbedürfnis erweist sich demnach zu allen Zeiten als dem Menschen eigen. Die Aufklärung hat gewiss manche einengenden Einzäunungen niedergerissen und dem Menschen ein erweitertes Feld an Lebensformen eröffnet. Sie hat ihn jedoch anderseits sich selbst überlassen und manch geistigen Fixstern verdunkelt. Wenn es daher gilt, die Errungenschaften der Aufklärung zu bewahren, wird mit stetigem Nachdruck auf die Würde des Menschen als Gattungswesen verwiesen, nicht eingeschränkt auf einen bestimmten kulturellen Hintergrund oder sozialen Status, und unbesehen von seinen funktionalen Fähigkeiten. Allein gestützt auf sein blosses Menschsein eben, wie dies in der EMRK-Rechtspflege und im Kontext staatlicher Verfassungsrechtsprechung zum Ausdruck kommt, steht ihm diese fundamentale Wertschätzung zu. In dieser Würde ist daher implizit seine Existenz als Kulturwesen mitenthalten. Das Faktum der Kontingenz vermag der Mensch nur in einer je eigenen kulturellen Verwurzelung zu ertragen. So vielfältig sich kulturelle Traditionen und Lebensformen darbieten: alle, ob religiöser oder säkularer Provenienz, sind vom „Menschsein“ der konkreten Individuen nicht zu trennen. Selbst aus einer traditionsbewussten Sichtwei25

Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bonn 2003, S. 89–90.

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se kommt ihnen daher ein aus der Menschenwürde abgeleiteter, gleichrangiger ethischer Stellenwert zu, zumindest solange, als sie nicht andere Lebensweisen herabsetzen, d.h. auch: weder mit missionarischer Intoleranz auftreten noch für ihre messianischen Visionen universalen Wahrheitsanspruch einfordern.26 Von welchem Geist beseelt, ohne die eigene kulturelle Verwurzelung zu verleugnen, sich Kulturen und Religionen begegnen könnten, hat David Bollag zum Anlass der sich zum 50. Mal jährenden Publikation des Konzilsdokuments „Nostra aetate“ in einem sehr bereichernden Beitrag gezeigt und eine eindrückliche neue Erzählart der berühmten Ringparabel von Lessing vorgeschlagen.27 Hierzu wäre allerdings der Zugang zu einem Denken notwendig, das sein tanszendierendes Fortschreiten aus wohldurchdachten Gründen abzuleiten sucht und sich nicht ausschliesslich mit neuronalen Prozessen erklären oder auf biologisch-funktionale Orientierung reduzieren lässt. Ein Denken, das nicht nur der Faktizität der Welt zu widersprechen wagt, sondern zuallererst sich selbst immer wieder kritischer Prüfung unterzieht. Und so bleibt dem Schreibenden lediglich noch die Einsicht, dass er seine Unbeholfenheit, mit kulturellen Paradigmenwechseln umzugehen, nur durch stetiges Bemühen um ein solches Denken überwinden kann.

26 27

Vgl. Aron, Raymond: Opium für Intellektuelle, Köln/Berlin 1957. Bollag, David: Ein neuer Nathan, in: Jüdische Allgemeine (JA) online, 22.10.2015, http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/23614/highlight/Bollag&Nathan (24.02.2017).



MIT RHEINSICHT Von den Möglichkeiten, einen Fluss kulturwissenschaftlich zu erforschen Theres Inauen, Konrad J. Kuhn

Zur Präsenz des Rheins im Basler Universitätsalltag Seit dem Umzug des Seminars für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel in die Alte Universität am Rheinsprung im Sommer 2015 ist das Blicken auf den Rhein für viele Studierende und Mitarbeitende des Seminars zu einer neuen Lieblingsbeschäftigung geworden: Der Rhein inspiriert, er beruhigt, und er lenkt auch mal ab. Der Fluss und das, was auf, neben und in ihm geschieht, ist immer wieder Gesprächsthema: Schwärmereien über seine sich mit den Lichtverhältnissen, Wetterlagen und Jahreszeiten verändernden Farben, Mutmassungen über die Ladungen der Schiffe, die sich brummend an den Vorlesungs- und Büroräumlichkeiten vorbei flussaufwärts bewegen, oder spontane Umfragen für das gemeinsame Fluss-Schwimmen nach Feierabend. Und aus unseren Büros beobachten wir, dass das fliessende Gewässer nicht nur unsere Blicke bannt: Tourist_innen halten beim Überqueren des Rheins auf der Mittleren Brücke inne, um ihn und die städtische Kulisse fotografisch festzuhalten; sobald die Sonne etwas wärmt, füllen sich die Treppenstufen entlang des Kleinbasler Rheinufers mit Menschen, die hier picknicken, reden, lesen, die Möwen füttern, die Füsse baden; und etwas erhöht, auf der Terrasse am anderen Ende der Mittleren Brücke, sitzt Helvetia auf der Reise, eine lebensgrosse Bronzeskulptur der schweizerischen Nationalallegorie. „[...] Nach einem anstrengenden Gang / durch die Stadt legt sie Mantel / Schild Speer und Koffer ab / ruht sich auf einem Brückenpfeiler / der Mittleren Rheinbrücke aus / und blickt nachdenklich / rheinabwärts ...“1

1

Texttafel zur Skulptur „Helvetia auf der Reise“ (Bettina Eichin, 1980): „Eines Tages verlässt Helvetia ein Zweifrankenstück / mischt sich unters Volk / und unternimmt eine längere Reise / unterwegs kommt sie auch / nach Basel / nach einem anstrengenden Gang / durch die Stadt legt sie Mantel / Schild Speer und Koffer ab / ruht sich auf einem Brückenpfeiler / der Mittleren Rheinbrücke aus / und blickt nachdenklich / rheinabwärts ...“.

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Helvetia blickt auf den Rhein. Photo: Basil Koller, 2017.

Je länger wir auf den Fluss blicken und ihn in unserem Universitätsalltag multi-sensorisch wahrnehmen, desto mehr enthüllt dieser für uns Kulturanthropolog_innen seine Funktion als eine eigentliche Spiegelfläche, in der die Stadt – Basel – sichtbar wird. Der Rhein ist eben nicht ‚einfach‘ vorbeifließende Wassermasse, die sich ihren Weg durch diese Stadt bahnt; er ist hier – direkt vor den Fenstern des Seminars – städtisches Gewässer: Er ist urbaner Ort, und gleichzeitig zentraler Akteur der Geschichte und Gegenwart dieser Stadt. Im Rahmen eines Studienprojekts haben wir uns also gleichsam neben Helvetia gesetzt, sind entlang des Rheinufers gejoggt, haben den Rhein mit der Fähre überquert, die Hafenquartiere Klybeck/Kleinhüningen erkundet und uns in die zahlreichen Basler Rhein-Geschichten vertieft.2 „Z’Basel an mym Rhy, / Jo, dert mecht i sy! / 2

Das Studienprojekt umfasste zwei Lehrveranstaltungen am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel im Frühjahrsemester 2016, Dozierende: Theres Inauen, Konrad J. Kuhn, „Z’Basel an mym Rhy“ – Kulturanthropologische Perspektiven auf die Beziehungen zwischen Stadt und Fluss (BA-/MA-Seminar) und Basel maritim – Orte, Praxen, Erzählungen (Exkursion).

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Weiht nit d’Luft so mild und lau / Und der Himmel isch so blau / An mym liebe, an mym liebe Rhy.“3 – Inspiriert durch diese (inoffizielle) Basler Stadthymne haben wir auf unseren Erkundungen nach den vielfältigen Beziehungen zwischen dieser Stadt und ‚ihrem‘ Fluss gefragt. Wir wollten erfahren, was den ‚Basler Rhein‘ ausmacht – und möglicherweise von anderen Rheinabschnitten unterscheidet –, und wie der Fluss als zentrales Element urbaner Entwicklungen, Praktiken, Debatten und Vorstellungen kulturwissenschaftlich beschrieben werden kann. Aus dieser intensiven Auseinandersetzung ist im Herbst 2016 eine kollaborative Publikation entstanden, die unsere Erkundungen am, über den und auf dem Basler Rhein für ein breites interessiertes Publikum zusammenfasst. 4 Wir möchten hier an diese Publikation anschliessen, einige Anregungen aufgreifen und weiterführende Überlegungen zur Diskussion stellen. Wir erhoffen uns, dass zukünftige kulturwissenschaftliche Blicke auf den Rhein daran anknüpfen – sei dies am Basler Rheinsprung oder an anderen Stellen auf den fast 1233 Kilometern, welche der Fluss von seiner Quelle im Gotthardgebiet bis zu seiner Mündung in die Nordsee durchfliesst.

Vom Europäischen Strom zum Basler Rhein Ist ein Fluss zentraler Gegenstand der Forschung, ist eine Übertragung der linearen Fluss-Logik – entlang des Stromes – auf das analytische Denken naheliegend: Der Fluss und seine Fliessrichtung lenken also das Fragen, Beschreiben und Verstehen. So existieren einige Arbeiten, die den Rhein in einer linearen Logik erzählen. Solche Studien interessieren sich für den ‚Europäischen Strom‘ aus der Perspektive ‚von der Quelle bis zum Meer‘, oder richten entsprechend spezifische Fragestellungen an ausgewählte Rheinabschnitte: den Hinter-, Vorder-, Alpen-, See-, Hoch-, Ober-, Mittel-, Nieder-, oder den Deltarhein.5 Ebenso linear, wenn auch logisch anders gerichtet, argu3 4

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Basler Lied „Z’Basel an mym Rhy“, Text: Johann Peter Hebel, um 1806; Musik: Franz Wilhelm Abt. Vgl. alemannische Wikipedia: https://als.wikipedia.org/wiki/Text:Z’Basel_an_mym_Rhy (21.01.2017). Bregvadze, Tatia/Bühlmann, Simone/Bütler, Rebekka/Cornelis, Veit-Lorenz/Giuliani, Gianna/Huber, Birgit/ Imboden, Fiona/Inauen, Theres/Jaccard, Mathilde/Keller, Anja/Kern, Eva/Koller, Basil/Kuhn, Konrad/Lanzrein, Liisa/Maier, Kirsten/Müller, Elena/Oechslin, Anna/Oettli, Agnes/Reusser, Sylvana/Salemi, Eleonora: „Z’Basel an mym Rhy“. Beziehungen einer Stadt zu ihrem Fluss, Basel 2016, https://kulturwissenschaft.unibas.ch/fileadmin/kwee/user_upload/redaktion/Cover_Webshop/Broschuere_final.pdf. (24.02.2017). Vgl. etwa: Museumsverein Laufenburg: Fischer, Flösser, Laufenknechte. Ihre Arbeit am Hochrhein im Wandel der Zeiten. Publikation zur gleichnamigen Ausstellung im Museum Schiff in Laufenburg 1989/1990, Laufenburg 1989; Linder-Beroud, Waltraud: „Immer hör’ vom Rhein ich singen ...“ Der Rhein – ein Strom deut-

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mentieren jene Erzählungen, die den Fluss in einer gleichsam fliessenden Zeit durch die Geschichte betrachten und den Rhein sozusagen ‚biographisch‘ perspektivieren, indem sie ihm durch die Zeit folgen.6 „Z’Basel an mym Rhy“ – Das vielzitierte Basler Lied verwies uns auf eine enge Beziehung zwischen Stadt und Fluss, eine Art Knoten, der es uns erlauben sollte, den Fluss von den urbanen Ufern her zu befragen, und gleichzeitig vom Fluss zurück an die Ufer und auf die Stadt zu blicken. Wir drehten also die Blickrichtung weg von der Fliessrichtung hin zu einer querliegenden Perspektive, in der lokale Aneignungen des (europäischen) Stromes im Zentrum stehen. Basel ist in dieser Perspektive also eine spezifische Stelle am Rhein, wie es auch andere gäbe: die Rheinquelle im Bündner Oberland, den Rheinfall bei Schaffhausen, den Loreleyfelsen in Rheinland-Pfalz, die an beiden Ufern des Rheins liegende Stadt Bonn oder den Rotterdamer Hafen. Die Eingrenzung auf den „Bach“, wie der Rhein im lokalen Dialekt in Basel auch genannt wird, erlaubt einen mikroperspektivischen Blick auf den Fluss als urbanen Raum, und ermöglicht die Frage danach, wie sich der Fluss hier mit Menschen, Dingen, Erzählungen und lokalen Transformationen verbindet. Der Fokus auf den ‚Basler Rhein‘ ermöglicht es zudem, die antithetische Konzeption von Natur (hier: der Fluss Rhein) und Kultur (hier: die Stadt Basel), die alltägliche Denkmuster und gesellschaftliche Diskurse so stark prägt, kritisch zu befragen.7 Indem der Fluss explizit nicht als ein isoliertes beziehungsweise isolierbares geographisches Element untersucht wird, gerät er nicht als ‚anti-urbaner Natur-Raum‘, sondern vielmehr als integraler und konstitutiver Teil des urbanen Lebens in den kulturwissenschaftlichen Blick. Der Wasser-Raum ist genauso wie der Land-Raum Gegenstand verschiedener städtischer – und damit: menschlicher – Zugriffe: Er wird vermessen und kartiert, begradigt und renaturiert, verschmutzt und gereinigt, unter-

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schen Lebensgefühls, in: Brednich, Rolf Wilhelm/Schmitt, Heinz (Hg.): Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur, Münster 1997, S. 267–284; Mattioli, Aram: „Volksgrenzen“ oder Staatsgrenzen? Wissenschaft und Ideologie in der Debatte um die Hochrheingrenze (1925–1947), in: Marchal, Guy P. (Hg.): Grenzen und Raumvorstellungen (11.–20. Jahrhundert), Zürich 1996, S. 285–311; Uhlenbruck, Kurt: Die Schleppschifffahrt auf der Gebirgsstrecke des Mittelrheins. Eine volkskundliche Untersuchung (Studien zur Volkskultur, Band 29), Mainz 2004. Vgl. etwa: Plessen, Marie-Louise von, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik (Hg.): Der Rhein. Eine europäische Flussbiografie, München 2016; LVR-LandesMuseum Bonn/Schaden, Christoph (Hg.): bilderstrom. Der Rhein und die Fotografie 2016–1853, Berlin 2016; Disco, Cornelis: Taming the Rhine. Economic Connection and Urban Competition, in: Hard, Mikael/Misa, Thomas J. (Ed.): Urban Machinery. Inside Modern European Cities, Cambridge/London 2008, pp. 23–47. Vgl. zur langen Tradition dieser Dichotomie: Hauser-Schäublin, Brigitta: Von der Natur in der Kultur und der Kultur in der Natur. Eine kritische Reflexion dieses Begriffspaars, in: Brednich, Rolf W. u.a. (Hg.): Natur – Kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt, Münster 2001, S. 11–20.

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sucht und erforscht, befahren und beschwommen, besungen und fotografiert, debattiert und erinnert. Der Rhein ist Bestandteil städtischer Bildwelten und Images, er und seine Ufer sind Gegenstand (stets umstrittener) stadtplanerischer Überlegungen. Er ist vielseitiger Arbeitsort und gleichzeitig urbaner Erholungs- und Freizeitraum. Er ist Freibad, Sportarena und Konzertbühne und er ist Lebensraum für die städtische Fauna und Flora. Er ist lokaler Grenzraum – zwischen den Stadtteilen Klein- und Grossbasel –, nationaler Grenzraum – das Dreiländereck Schweiz–Deutschland–Frankreich liegt mitten im Rhein – und internationales Gewässer – die freie Schifffahrt auf dem Rhein ist in der sogenannten Mannheimer Akte geregelt. Die Studierenden haben im Rahmen des Studienprojekts in konkreten empirischen Erkundungen erprobt, mit welchen Zugängen, Fragestellungen und Methoden sich der Rhein als lokaler Rhein, und als Teil des Basler Stadtraums kulturwissenschaftlich befragen und beschreiben liesse. Die folgenden Überlegungen zu möglichen Forschungsperspektiven auf den urbanen Fluss knüpfen an diesen ersten kulturwissenschaftlichen ‚Wasserproben‘ an.

Wasserprobe 1 – „Verzell du das em Fäärimaa!“ Basel, deine Brücken! Eine Studierendengruppe hat die Verbindungen zwischen Basel und dem Rhein von drei Basler Rheinbrücken her befragt.8 In den Brücken, so die These der Studierenden, materialisiere sich Stadtgeschichte sowie die sich verändernde Bedeutung des Flusses für die Stadt: Die Beziehungen zwischen den bis Ende des 14. Jahrhunderts politisch getrennten, wirtschaftlich jedoch immer schon eng verflochtenen Städten auf beiden Seiten des Rheins, den späteren Stadtteilen Gross- und Kleinbasel, seien stets auch über deren Verbindungen über den Rhein zu verstehen. An den bewegten Baugeschichten dieser urbanen Transitstellen liesse sich ausserdem die Entwicklung des städtischen Verkehrs ablesen: Die Ende des 19. Jahrhunderts neugebauten Brücken – Wettsteinbrücke (1879) und Johanniterbrücke (1882) – ermöglichten den ab 1895 in Basel eingeführten Tram- sowie den anfangs des 20. Jahrhunderts zunehmenden Individualverkehr über den Rhein, und mussten dafür in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrmals um- und ausgebaut werden; die erstmals 1934 eröffnete Dreirosenbrücke wurde zwischen 1999 und 2004 neu gebaut, wobei die Brücke gleichzeitig als Autobahntunnel, Tramübergang und einladende Fussgängerzone 8

Cornelis, Veit-Lorenz/Jaccard, Mathilde/Oettli, Agnes: Basel, deine Brücken!, in: „Z’Basel an mym Rhy“, S. 20–26.

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über den Rhein geplant wurde; und die Mittlere Brücke schließlich – 1225 erstmals erwähnt und bis 1879 einzige Basler Rheinbrücke – gehört seit 2015 zur sogenannten Zone Verkehrsbefreite Innenstadt, abgesehen vom Tram- und Busverkehr darf die Brücke nur noch von Radfahrer_innen und Fussgänger_innen benutzt werden. Wer den Rhein in Basel von der einen auf die andere Stadtseite nicht über eine der fünf städtischen Rheinbrücken überqueren möchte, der oder die besteigt eine der vier Rheinfähren. Die Fussgängerfähren sind nach den heraldischen Figuren der Kleinbasler Ehrengesellschaften benannt – Wilde Maa, Leu und Vogel Gryff –, sowie der ebenso in Basler Brauchtumskontexten auftauchenden Narrenfigur Ueli.9 „Erzähl du das dem Fährmann!“ – Die Legende besagt, dass die Fährmänner (und heute zunehmend auch -frauen) während der kurzen Überfahrt über den Rhein von den Passagieren oft kurze Anekdoten und urbane Gerüchte erzählt bekommen. Wer in Basel einer Geschichte nicht ganz glauben will oder gar eine Lüge vermutet, der oder die entgegnet darum: „Verzell du das em Fäärimaa!“ Die Geschichte der „Fliegenden Brücken“ – so wird dieser Typus der an einem Drahtseil befestigten Flussfähren auch genannt – ist eng mit derjenigen der gebauten Brücken verflochten. Die Fähren wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Absicht errichtet, die beiden Basler Stadtufer an jenen Stellen zu verbinden, an denen damals noch keine Brücken standen. Mit dem Ausbau der Brücken, der kontinuierlichen Erweiterung des Tramnetzes und dem Aufkommen privater Verkehrsmittel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der rentable Betrieb der Rheinfähren jedoch immer schwieriger. Seit den 1970er-Jahren kaufte die heutige Stiftung Basler Fähren alle städtischen Fähren und verpachtet sie seither direkt an die Fährmänner und -frauen. Der private Fähri-Verein Basel kümmert sich zusätzlich um die Finanzierung des Defizits aus dem Fährenbetrieb. Von einer alltagsrelevanten Rheinüberquerungsmöglichkeit haben sich die Fähren ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts also zu einem erhaltenswerten „Kulturgut für Basel“10 entwickelt: Die Fähren markieren den Fluss in städtischen Marketingund Postkarten-Images als Basler Rhein – ähnlich wie das Basler Münster oder die Mittlere Brücke; sie sind im Zusammenspiel mit dem Fluss wichtige Orte urbanen Kulturlebens; sie bilden – kondensiert im Basler Spruch „Verzell du das em Fäärimaa“ – elementare Teile eines mündlich tradierten Stadtgedächtnisses und städtischer ErzähDie vier namensgebenden Figuren tauchen gemeinsam im jährlich stattfindenden Anlass des Vogel Gryff auf, der auf dem Rhein, auf der Mittleren Brücke und am Kleinbasler Rheinufer stattfindet. Vgl. http://www. lebendigetraditionen.ch/traditionen/00081/index.html (16.01.2017). 10 Vgl. http://www.faehri.ch/index.php/faehri-verein-basel (16.01.2017). 9

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lungen; und sie sind aufgrund ihrer spezifischen Materialität und ihres eigenen Rhythmus diejenige Rheinüberquerung, die heute den Fluss als ehemaliges Hindernis im städtischen Alltag am ehesten noch vorstellbar macht. In den verschiedenen Rheinüberquerungen materialisiert sich das Aufeinandertreffen, Ineinandergreifen und Zusammenspiel von Stadt und Fluss. Die gebauten wie die fliegenden Brücken Basels scheinen uns ergiebige (materielle) Ausgangspunkte, um die veränderten und vielfältigen Bedeutungen des Rheins im städtischen Alltag – von der ‚natürlichen‘ Grenze über die Attraktion für Besucher_innen der Stadt zur alltäglichen, oft kaum mehr wahrgenommenen Selbstverständlichkeit für deren Bewohner_ innen – zu erforschen.

Wasserprobe 2 – „Zämme dr Bach ab“ Seit 1980 organisiert die Basler Sektion der Schweizerischen Lebensrettungs-Gesellschaft einmal im Sommer ein gemeinsames Rheinschwimmen. Im Rahmen dieses Anlasses schwimmen jeweils über tausend Personen „zämme dr Bach ab“, also: gemeinsam den (Basler) Rhein hinunter. Das Basler Rheinschwimmen ist für viele Basler_innen ein Höhepunkt der Schwimmsaison, in der sich je nach Wetter, Wasserstand und Wassertemperatur täglich unterschiedlich viele Schwimmende den Fluss abwärts treiben lassen. Das Schwimmen im Rhein ist für Basel schon im 15. Jahrhundert belegt, war jedoch lange Zeit verboten und wurde dann erst im 19. Jahrhundert im Zuge der Eröffnung eigens dafür gebauter Badehäuser erlaubt. Erst 1930 wurde der Rhein fürs freie Schwimmen freigegeben. Mehrere Jahre hat allerdings die durch die Industrie – die „Chemische“, wie sie in Basel genannt wird – beeinträchtigte Wasserqualität ein Schwimmen quasi verunmöglicht. Dass auf die aktuell erreichte, jedoch stets fragile Balance verschiedener Nutzungsinteressen am Basler Rhein auch in Zukunft Wert gelegt wird und dass die urbane Praxis des Schwimmens im Rhein für das gegenwärtige Selbstverständnis der Stadt essentiell ist, zeigt sich an deren Aufnahme in die Liste der Lebendigen Traditionen in der Schweiz – in dieser Liste sind die kantonalen Vorschläge für die schweizerischen Kandidaturen für die UNESCO-Nominationen als immaterielles Kulturerbe versammelt.11 Die Möglichkeit, im Rhein schwimmen und am Rhein verweilen zu können, kann als ein starkes Zeichen dafür gelesen werden, 11

Vgl. das Dossier zum Schwimmen im Rhein: http://www.lebendige-traditionen.ch/traditionen/00080/index. html?lang=de (16.01.2017).

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dass die Stadt heute sowohl innovativer Pharma- und Industriestandort als zugleich auch Ort mit hoher Wasser- und Lebensqualität sein will und dass der Rhein seine Funktionen als wichtige europäische Wasserstrasse, lokaler Energieversorger und öffentliche Badeanstalt gleichzeitig erfüllen soll. Das sommerliche Schwimmen im Rhein gehört, wie das morgendliche Joggen und das sonntägliche Spazieren entlang des Rheins, oder das abendliche Grillen und Musizieren am Rhein zu jenen vielfältigen Praktiken, die den Rhein und die unmittelbaren Uferzonen heute zu einem wichtigen urbanen Erholungs- und Freizeitraum machen. „Joo, ... gömmr an Rhy?“ – Zwei Studierende haben im Frühjahr 2016 intensive Beobachtungsspaziergänge am Kleinbasler Rheinufer unternommen und sich über die subjektive Wahrnehmung ihrer spazierenden Körper den möglichen Bedeutungsdimensionen des Verweilens am Rhein angenähert.12 Dabei haben sich ihre Beobachtungen und Eindrücke vom ersten Spaziergang an einem regnerischen Vormittag im April – entgegen einer ersten Enttäuschung über das menschenleere Flussufer – als wertvolle Ergänzung zu den Notizen vom zweiten Spaziergang an einem freundlichen MaiAbend entpuppt. Während sich die ethnographische Aufmerksamkeit der Studierenden am warmen Abend auf die Aktivitäten der Menschen am gut besetzten Rheinbord richtete, offenbarten sich am Regenmorgen nämlich jene Infrastruktur und die damit verknüpften Arbeitswelten, die das Basler Rheinufer als von der Stadt beworbenen öffentlichen Aufenthalts- und Freizeitraum erst möglich machen: Die leeren Gartenterrassen der zum Rhein hin ausgerichteten Restaurants und die auf mögliche Kundschaft wartenden Angestellten; die breiten und erst vor wenigen Jahren sanierten Treppen und Sitzstufen am Rheinufer, die wie auch die Gehwege täglich von Putzequipen des städtischen Bauamtes gereinigt werden; oder aber die blauen Bojen im Rhein sowie die Tafeln am Rheinufer, die Schwimmende darauf hinweisen, wo sie (nicht) schwimmen sollen. Das mündlich tradierte spezifische Wissen über das städtische Flussschwimmen, Gefühle von Angst, Glück oder Freiheit während des Schwimmens im Rhein, mit dem Schwimmen verbundene Praxen – ein Feierabendbier, informelle Businessmeetings, Sonnenbaden usw. – sowie die Bedeutungen der ‚schwimmenden Aneignung‘ der Stadt, können jedoch nicht nur vom Ufer her untersucht werden. In Weiterführung der spazierenden Erkundung des Rheinbords bei unterschiedlichem Wetter müssten die individuellen Bedeutungsdimensionen dieser urbanen Praxis gleichsam schwimmend erfahren und erforscht werden. Für das Verstehen des Verhältnisses zwischen 12

Bregvadze, Tatia/Salemi, Eleonora: „Was wämmr mache?“ „Joo, ... gömmr an Rhy?“ – Kulturelle Praxen am Rheinufer, in: „Z’Basel an mym Rhy“, S. 17–19.

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Fluss und Stadt scheinen uns die Aufmerksamkeit für die körperlichen Dimensionen dieser Beziehung zentral und ist der vielseitige (auch mutige) Körpereinsatz der forschenden Kulturwissenschaftler_innen gefordert.

Wasserprobe 3 – „Der Rote Rhein“ Die Beschreibung „Der Rote Rhein“ löst – oft auch im Zusammenhang mit anderen Schlagwörtern wie „Chemieunfall von Schweizerhalle“ oder „Massenhaftes Fischsterben im Rhein“ – wohl bei vielen Menschen (und dies nicht nur bei Basler_innen) eine Folge von inneren Bildern, Erinnerungen und Emotionen aus. In der Nacht auf den 1. November 1986 brach in einer Lagerhalle des Chemiekonzerns Sandoz in Schweizerhalle, nur wenige Kilometer flussaufwärts von Basel, ein Grossfeuer aus. Durch den Brand bildete sich über der gesamten Region eine giftige Gaswolke, mit dem Löschwasser der während Stunden gegen die Flammen kämpfenden Feuerwehr flossen zwischen 30 und 40 Tonnen Chemikalien in den Rhein. Dieses hochgiftige Löschwasser färbte den Rhein rot, auf rund 400 Flusskilometern verendeten in den folgenden Tagen verschiedene Fisch- wie auch Vogelarten. Auch die Trinkwasserversorgung rheinnaher Gebiete brach zusammen, obwohl die Behörden betonten, für die Bevölkerung bestehe keine Gefahr.13 Die Aufnahmen von den in Flammen stehenden Hallen, vom blutrot gefärbten Rheinwasser, von lastwagenweise abtransportierten toten Aalen gingen dazu ins kollektive Bildgedächtnis ein.14 Aktuelle Bilder des Basler Stadtmarketings zeigen lachende Menschen, die sich mit bunten Schwimmsäcken vor der malerischen Altstadtkulisse rheinabwärts treiben lassen. Der Rhein – Viel mehr als nur eine ‚Badi‘ – Unter diesem Titel hat sich eine Gruppe von Studierenden mit verschiedenen Bildern auseinandergesetzt, die den Rhein und Basel visuell miteinander verknüpfen.15 Dabei sind sie unter Bezug auf Texte von Rolf Lindner und Christine Bischoff der Frage nachgegangen, wie bewusst produzierte Bilder der Stadt – sogenannte Images – und individuelle sowie kollektiv geteilte städtische Bild- und Vorstellungswelten – sogenannte Imaginaires – nebeneinander

13 14 15

Vgl. Freytag, Nils: Der Rote Rhein. Die Sandoz-Katastrophe vom 1. November 1986 und ihre Folgen, in: Themenportal Europäische Geschichte 2010, www.europa.clio-online.de/essay/id/artikel-3580 (24.02.2017). Dieses Bildgedächtnis wurde 2016 im Rahmen des Gedenkens 30 Jahre später wieder aktiviert, vgl. dazu etwa: http://www.tageswoche.ch/themen/Schweizerhalle-Brand (23.01.2017). Koller, Basil/Müller, Elena/Reusser, Sylvana: Der Rhein – Viel mehr als nur eine ‚Badi’, in: „Z’Basel an mym Rhy“, S. 9–16.

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bestehen und/oder ineinandergreifen.16 Die Gruppe hat Postkartenansichten und Fotografien aus Tourismusbroschüren, die den Rhein als Basler Bildmotiv verwenden, gesammelt und diese mit selbsthergestellten Mental Maps von Mitstudierenden – persönlichen Karten, die subjektive Ansichten vom Basler Rhein sichtbar machen – verglichen. Anschliessend haben die Studierenden eigene, den offiziellen Imagebildern bewusst entgegengesetzte oder diese ergänzende Fotografien zum Basler Rheinabschnitt produziert: Anstatt der in der Dämmerung über den Rhein gleitenden Fähre rücken hier das Feuerlöschboot Christophorus der Basler Feuerwehr oder eine schwimmende Bauplattform vor dem Kleinhüninger Industrie- und Hafenareal ins Bild. Anstelle der sonnigen Badebilder, die laut dem interviewten Mitarbeiter des Stadtmarketings den visuellen Eindruck eines ‚mediterranen Lebensgefühls in Basel‘ befördern sollen, zeigen sie eine Nahaufnahme der (für Schwimmer_innen nicht ungefährlichen) Strömungen, die sich rund um die Brückenpfeiler der Rheinbrücken bilden. Diese Auslegeordnung unterschiedlicher Bilder zeigt, wie der Fluss und die Stadt immer wieder aufs Neue visuell und narrativ verknüpft werden; gleichzeitig werden dominante Blickrichtungen und visuelle Tabuisierungen beschreibbar. Am Beispiel des ‚Roten Rheins‘ – als konkretes Bild und als urbanes Narrativ – wird dabei die ständige Veränderung des Blicks auf den Fluss beziehungsweise des städtischen Verhältnisses zum Fluss besonders eindrücklich deutlich: Im kollektiven Bildgedächtnis älterer Generationen ist ‚Der Rote Rhein‘ bestimmt abrufbar, für jüngere Menschen hingegen bildet die Umweltkatastrophe eine visuelle Leerstelle. Der Rote beziehungsweise vergiftete Basler Rhein als starkes Symbol für die bis Mitte der 1980er-Jahre nichtexistente Umweltschutzpolitik wird heute überlagert vom positiven Image des Rheins als ‚selbstverständlicher‘ und unproblematischer urbaner Freizeitraum. Aufgabe einer vertiefenden kulturwissenschaftlichen Recherche zu den visuellen Verknüpfungen zwischen Fluss und Stadt könnte es sein, solche Dynamiken der Blickverschiebungen und (Un-)Sichtbarmachung einzelner Beziehungsfacetten zu benennen; und mit einer eigenen auf historischen und empirischen Recherchen basierenden Bildproduktion vergessene, tabuisierte oder unsichtbare Rhein-Geschichten (neu) zu erzählen. Dies geht nicht ohne einen mikroperspektivischen Blick, der vermeintlich unverbundene Themen miteinander in Beziehung setzt und so kulturanalytisch zu 16

Bischoff, Christine: Imagineering Hamburg – Sichtbarkeiten und Sichtbarmachung einer Stadt, in: Hamburger Journal für Kulturanthropologie 22/2 (2014), S. 3–10; Lindner, Rolf: Textur, imaginaire, Habitus – Schlüsselbegriffe der kulturanalytischen Stadtforschung, in: Berking, Helmuth/Löw, Martina (Hg.): Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung, Frankfurt a. M. 2008 (Interdisziplinäre Stadtforschung, Band 1), S. 83–94.

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den feinen Verknüpfungen zwischen Stadt und Fluss vordringt. So wäre etwa zu fragen, wie das aktuelle, positive Rhein-Image auch mit Verschiebungen in der städtischen Politik zusammenhängt. Die nebeneinander existierenden und einander ablösenden Rhein-Images und Rhein-Imaginaires sind immer als Spiegel sich wandelnder städtischer Machtverhältnisse, Diskurse und Interessen zu befragen.

Basel – Rhein – Schanghai Obwohl erst ein lokalisierter Blick jene Verbindungen sichtbar macht, die zwischen einer Stadt und ‚ihrem‘ Fluss bestehen, stellt der Fluss an sich stets sicher, dass ein Bewusstsein für die vielfältigen Verflechtungen nie aus dem kulturwissenschaftlichen Denken verschwindet. Der Rhein verbindet Basel mit einer Vielzahl von nichtlokalen und fernen Orten, Menschen, Objekten und Ideen. Hör- und erlebbar wird diese verbindende Qualität des Rheins beispielsweise an der Chorprobe der Störtebekers, einem seit 1962 existierenden Basler Shanty-Chor, den eine Gruppe von Studierenden besucht, begleitet und interviewt hat:17 Die Sänger – meist ehemalige Matrosen oder Seemänner – singen in ihrer Freizeit Seemannslieder und bringen so Liedgut, Melodien und Vorstellungen vom Leben auf hoher See nach Basel. Es ist der Rhein, der hier eine materielle und imaginäre Verbindung schafft zu anderen Hafenstädten, zur Seemannswelt und damit verknüpften Vorstellungen von ‚rauen Seemännern‘.18 Sichtund ablesbar werden solche Verbindungen aber auch in den Broschüren, welche die Städtepartnerschaft zwischen Basel und der chinesischen Wirtschaftsmetropole Schanghai bewerben. Auch wenn es hier inhaltlich vor allem um die Kooperation zwischen den „Life-Science-Standorten“ und „Kulturstädten“ geht, spielen für die (imaginierten) Gemeinsamkeiten die Selbstbilder als Hafen- und Logistikstädte doch eine wichtige Rolle.19 Diese Beispiele verweisen auf das Potenzial vergleichender Perspektiven auf die Beziehungen von Städten und Flüssen, oder allgemeiner: von Städten und Gewässern. Im Studienprojekt zum Basler Rhein haben sich eine Reihe von vorläufigen Thesen 17 Bühlmann, Simone/Giuliani, Gianna/Lanzrein, Liisa: Ein Seemannschor in Basel – Die Störtebekers, in: „Z’Basel an mym Rhy“, S. 27–30; Oechslin, Anna: Gesungene Seemannskultur, in: „Z’Basel an mym Rhy“, S. 31–33. 18 Vgl. Heimerdinger, Timo: Der Seemann. Ein Berufsstand und seine kulturelle Inszenierung (1844–2003), Köln 2005. 19 Vgl. http://www.bs.ch/Portrait/Aussenbeziehung/Staedtepartnerschaften/Partnerstadt-Shanghai.html (04.01.2017).

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ergeben, deren Vertiefung und Schärfung sich im Vergleich mit anderen Beziehungskonstellationen zwischen Städten und ‚ihrem‘ Rhein, bzw. zwischen Städten und ‚ihren’ Gewässern lohnen würde. Die Funktion des Flusses als urbaner Erholungsraum scheint heute dominant; und dies sowohl in den offiziellen Diskursen des Stadtmarketings wie auch in den Narrativen der städtischen Bewohner_innen. In Basel ist es vor allem das Rheinufer, die sogenannte „Basler Riviera“, die mit Freizeitaktivitäten und einer hohen Lebensqualität verbunden wird. Eng verknüpft damit lassen sich Prozesse der Eventisierung feststellen; zahlreich sind die Anlässe auf dem und am Wasser, von den bereits seit Jahrzehnten stattfindenden traditionellen Festen wie dem Vogel Gryff über das als immaterielles Kulturerbe positionierten Rheinschwimmen bis hin zu Sportwettbewerben und Konzertveranstaltungen. Gewässer und deren veränderte Nutzung spielen eine zentrale und dynamisierende Rolle bei der Transformation städtischer Arbeitswelten; beispielsweise im Transportund Logistikgeschäft der sich heute Port of Switzerland nennenden Basler Rheinhäfen, das durch Technisierung und Automatisation zunehmend weniger personalintensiv wird.20 Gleichwohl erweisen sich die mit den verschwindenden Arbeitswelten verbundenen Erzählungen des Hafens als hartnäckig und persistent. Eine solche „Hafenromantik“ wird beispielsweise in aktuellen Formen städtischer Gastronomie genutzt – in Basel im Rostigen Anker, der Marina Bar oder im traditionsreichen Restaurant Schiff. Mit dem Bedeutungswandel von Hafengebieten erfahren städtische Räume am Wasser neue Nutzungen. Solche machtdurchzogenen Prozesse der Stadtentwicklung an den sogenannten „urban waterfronts“ werden in vielen Hafenstädten unter den Stichworten „Verdrängung“ und „Gentrifizierung“ diskutiert.21 Auch in Basel war und ist die Nutzung des Rheins ein zentraler Transformator der Stadtentwicklung und des damit verbundenen urbanen Wohn- und Sozialgefüges. Entsprechend heftig wird in Debatten um die Neunutzung von Basler Hafen- und Ufergebieten über Zugänglichkeiten, um öffentlichen Raum und letztlich über gesellschaftliche Teilhabe gestritten.22 Der Fluss wird dabei – gleichsam schweigend – zum zentralen Gegenstand unterschiedlicher Visionen von Stadt. 20 Vgl. zum Hamburger Hafen: Schemmer, Janine: Schicht(en)wechsel. Eine empirische Untersuchung zum Umbruch der Arbeitswelt im Hamburger Hafen, in: vokus 1 (2010), S. 15–30. 21 Vgl. Kokot, Waltraud u.a. (Hg.): Port Cities as Areas of Transition. Ethnographic Perspectives, Bielefeld 2008. 22 Vgl. dazu bereits: Hugger, Paul: Von der „Dorfidylle“ zum Alltag eines Industriequartiers. Die Entwicklung der Basler Bannmeile Kleinhüningen, in: Kohlmann, Theodor/Bausinger, Hermann (Hg.): Grossstadt. Aspekte empirischer Kulturforschung, Berlin 1985, S. 63–75. Und aktuell: Bürgin, Reto, u. a. (Hg.): Urbane Widerständigkeit am Beispiel des Basler Rheinhafen Areals, Basel 2015.

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Bei den hier angesprochenen Verbindungen, in die eine an einem Fluss gelegene Stadt eingebettet ist, stellt sich unweigerlich die Frage nach deren Gerichtetheit. Wohin führen die Verbindungslinien, die – den Rhein entlang – von Basel ausgehen? Konkret: Verbindet der Rhein Basel mit der Schweiz, oder mit der Welt? Zahlreich sind die entsprechenden Spuren; ein anregendes Beispiel sind die Schiffe und ihre kaum zufälligen Schiffsnamen, die als materialisierte Spuren sowohl auf regionale, nationale wie globale Verbindungen verweisen: St. Alban, Schwägalp und Vierwaldstättersee, genauso wie Heidelberg, Rotterdam und Piz Everest.23 Welches lokale Selbstverständnis verbindet sich mit der spezifischen Gerichtetheit eines Flusses? Lässt sich etwa die vielzitierte ‚Weltgewandtheit‘ der Basler_innen daraus erklären? Es würde sich lohnen, diesen (und weiteren) Thesen systematisch und vergleichend nachzugehen.

Der Rhein als Treffpunkt ... für Schwimmende, für Möwen, und für einen interdisziplinären Dialog Insbesondere während der Wintermonate, dann wenn der Basler Rhein seine Funktion als zentraler urbaner Treffpunkt und Freizeitraum aufgrund tiefer Temperaturen kurzzeitig verliert, wenn anstatt der jauchzenden Schwimmer_innen die hier überwinternden Möwen kreischen, wenn im dunkelgrünen Wasser bunte Blätter treiben und der Fluss aufgrund der niedrigen Lufttemperatur zu dampfen beginnt, dann wird der Wasser-Raum viel stärker als sonst als Lebensraum für die städtische Fauna und Flora greifbar. Der sicht- und hörbare Wechsel verschiedener Rhein-Nutzer_innen zwischen Sommer- und Wintermonaten beziehungsweise zwischen Sonnen- und Regentagen macht auf eine ständige Aushandlung unterschiedlicher (oft auch gegenläufiger) ­Nutzungsinteressen verschiedener Stadtbewohner_innen – sowohl Menschen wie auch hier lebender Enten, Vögel und Fische – aufmerksam. Eine kulturwissenschaftliche Perspektive ermöglicht es, den Fluss als urbanen Ort sehr weit zu begreifen und verschiedene (wissenschaftliche) Blicke auf das städtische Gewässer nebeneinander zu beschreiben. So lockt – im Blick auf den winterlichen Rhein – auch ein Blick über die ‚gewohnten‘ stadtanthropologischen Themenfelder hinaus: auf die hydrologischen, biologischen, chemischen oder juristischen Expertisen, die sich am selben Ort – am und im städtischen Gewässer –, jedoch mit einem 23 Vgl. www.swiss-ships.ch/rheinschiffe/ch-rheinlisten/aktuelle-ch-rheinschiffsliste.pdf (24.01.2017).

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Schlafende Ente am Rhein. Photo: Basil Koller, 2016.

anders gerichteten Erkenntnisinteresse herausbilden. Der Rhein – in Basel und darüber hinaus – ist in diesem Sinne nicht nur als höchst vielfältiges und herausforderndes ‚Schwimmbecken‘ für kulturwissenschaftliche Forschungsvorhaben zu verstehen, sondern als ein Treffpunkt, an dem Kulturanthropolog_innen in einen Dialog mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen treten könnten. So verstandene Kooperationen bei der Erforschung eines Flusses würden neue und ergiebige ‚Rheinsichten‘ eröffnen.



DIE STADT UND DAS STÄDTISCHE SIND EINE WELT, DIE MEHR IST ALS DIE SUMME IHRER TEILE Zu einigen Vergesslichkeiten der Stadtforschung Johanna Rolshoven

Kulturanalytiker_innen gehen von einer Wechselwirkung von sozialer Formung und formenden Einflüssen aus: Der Mensch macht die Kultur und die Kultur, als Wissensform und Gestaltungskraft1, macht den Menschen. In diesem Prozess entsteht, nach den Worten von Raymond Williams, Gesellschaft: „The making of a society is the finding of common meanings and directions, and its growth is an active debate and amendment under the pressures of experience, contact, and discovery, writing themselves into the land.”2 Eva Kimminich nennt dieses kulturschaffende Handlungsvermögen „Agentivität“3. Menschen verfügen darüber im Rahmen je höchst unterschiedlicher Handlungsbedingungen. Gerade dem Städtischen liegt dieses Handlungsvermögen in einer fundamentalen Weise zugrunde.

Das Städtische ist die Urbanität der Vielen Die citadinité, das Städtische, ist als wissenschaftlicher Begriff ein Neologismus, den die Stadtanthropologie arabischer Städte in Abgrenzung zu Urbanität, der geläufigen Charakterisierung zentraler Merkmale europäischer und amerikanischer Städte, geprägt hat.4 Der inflationäre Gebrauch des Urbanitäts-Begriffes in den sozial- und ingenieurwissenschaftlichen Planungsfeldern der Urban Studies weist zunehmend Konnotationen von Zivilisierung und Aufwertung auf, von Verschönerung und gleichzeitiger Verteuerung durch ein breites und hochwertiges Kulturangebot und wird durch gehobene Infrastrukturen identifiziert. Im Gegensatz zu der klassischen prag1 2 3 4

Kaschuba, Wolfgang: Lili Marleen in Shenzhen – oder: Kultur als globales Repräsentationskonzept, in: Schneider, Ingo/Sexl, Martin (Hg.): Unbehagen an der Kultur, Berlin 2015, S. 111–142, hier S. 123. Williams, Raymond: Culture is Ordinary (1958), in: Gable, Robin (Ed.): Williams, Raymond: Resources of Hope. Culture, Democracy, Socialism, London/New York 1989, pp. 3–18, here p. 4. Vgl. Kimminich, Eva: Vorwort: Express yourself!, in: Kimminich, Eva. u.a. (Hg.): expressyourself! Europas kulturelle Kreativität zwischen Markt und Underground, Bielefeld 2007, S. 1–19, hier S. 13. Vgl. Mermier, Franck: Récits de villes: d’Aden à Beyrouth, Arles 2015, p. 226.

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matischen Begriffsdefinition des amerikanischen Stadtsoziologen Louis Wirth, der Vielfalt, Dichte und Heterogenität als zentrale Merkmale von Urbanität herausgestrichen hatte5, haften diesem Begriff heute die ästhetischen Konnotationen des bürgerlichen Kulturbegriffes, des „Wahren, Guten und Schönen“ an. Urbanität ist also zu einem ‚neoliberalen Paravent‘ geworden, hinter dem Ökonomisierungsprozesse zum Zweck der touristischen Attraktivierung stehen, die nicht nur fremde Stadtgäste anziehen wollen, sondern auch Lebensstilmotor und Zukunftsversprechen für die kreativen Milieus und die wohlhabende ‚Mitte‘ der Stadtgesellschaft sind. Hinter dem Diskurs der Urbanität stehen heute Gentrifizierungsprozesse, die die wirtschaftlich schlechter bestellte Mehrheit der innerstädtischen Quartiersbevölkerung zu einer Kulisse, zum Dekor eines als authentisch empfundenen Popularen gerinnen lassen.6 Im Gegensatz zu einer positiv aufgeladenen Urbanität, die als Zivilisationsmetapher dient, vereinigt das Bild der modernen Stadt selbst jedoch eine Fülle von negativen Zuschreibungen. Diese Ambivalenz trifft den Kern des Städtischen. Als Ort des dichten Zusammenlebens verschiedener Menschen ist „Stadt“ zwangsläufig ein Ort des Aushandelns von Konflikten. Solche Prozesse machen die dem Städtischen innewohnende Kraft der Veränderung aus, ihren kulturdynamischen Impuls: „Cities are the first arena where change happens.“7 Da auch die Stadtanthropologie selbst der Auratisierung von Urbanität kaum entkommt, bevorzuge ich mit Blick auf die alltags- und akteursspezifische Perspektive dieses Faches den nüchternen Begriff des Städtischen. Dieses lässt sich als sozialer Raum beschreiben, den Stadtbewohner/innen unter dem Einfluss des strukturellen Bedingungsrahmens städtischer Lebenswelten hervorbringen, indem sie sich mit ihrem Alltagstun, durch Kommunikation und Handlung, in den gebauten Raum und in die gegebenen historisch gewachsenen gesellschaftlichen Verhältnisse einschreiben. Diese Definition kommt dem Anliegen entgegen, die Stadt als einen sozialen Ort zu beschreiben, als ein „Menschenwerk“,8 das alle Bewohner und Bewohnerinnen einer Stadt ausmachen und das mehr ist als die Summe seiner Teile. Stadt ist immer „Ergebnis von Kulturkontakten“ und „des Zusammenlebens und sozialen Austauschs von Menschen unterschiedlicher Herkunft“.9 Diese handlungs5 6 7

8 9

Vgl. Wirth, Louis: Urbanism as a Way of Life, in: The American Journal of Sociology 44/1 (1938), pp. 1–24. Zu diesen stadträumlichen Prozessen und zu diesem Begriffsverständnis vgl. Mermier, Récits, p. 226; Hertzfeld, Michael: Evicted from Eternity. The Restructuring of Modern Rome, Chicago 2009, pp. 196–197. Vgl. Monge, Fernando: Urban Anthropological Research. Old Spaces and New Ways of Living, in: Pardo, Italo/Prato, Guiliana B. (Eds.): Anthropology in the City. Methodology and Theory, Burlington 2012, pp. 215– 224, here p. 221. Vgl. Scharfe, Martin: Menschenwerk. Erkundungen über Kultur, Köln u.a. 2002. Binder, Beate: „Heimat“ Berlin? Einige Überlegungen zur Produktion von Ortsbezogenheit als Ziel stadtentwicklungspolitischer Maßnahmen, in: Kulturation. Online Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik 18 (2015), S. 1–4, hier S. 1.

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theoretische Auffassung von Stadt hat zwingend eine historische Dimension. Die „Stadt ist eine Welt“, schreibt Marc Augé, „eine Anhäufung all dessen, was die Menschen im Laufe der Jahrhunderte geschaffen haben“10. Sie ist der Ort, an dem Gesellschaft greifbar und gesellschaftliche Prozesse sichtbar werden.

Stadt und Judentum: Momente der modernen Stadtwerdung Die Stadt als soziales und gebautes Gefüge ist nicht nur Werk aller gegenwärtigen Bewohner_innen, sondern auch aller je gehabten, bisherigen Bewohner_innen. Stadtwissenschaftlich und stadtpolitisch werden die für eine Stadt zentralen lebensweltlichen Dimensionen dieses historisch gewachsenen Werkes nicht selten unterschlagen. An dieser Erkenntnis setzen die folgenden Überlegungen mit der Frage nach den jüdischen Impulsen zur Stadtwerdung an. Ich kann dabei nicht das große Universum der gesamten Geschichte betreten, sondern im Wesentlichen nur die räumliche Mitte Europas und den Zeitraum jener erinnerbaren vier Generationen, die Aleida und Jan Assmann in Anlehnung an Maurice Halbwachs als für das menschliche Handeln ­formativ und normativ bestimmend definiert haben.11 Das Erinnerbare als kommunikatives Gedächtnis und als Alltagsgedächtnis12 umschließt vor allem die Memorie der Historie, die Utz Jeggle anschaulich als stets lückenhafte Erinnerung des/der Einzelnen im Rahmen der Etappen einer ideologisierten Ereignisgeschichte dargestellt ­hatte.13 Ich behaupte, dass die europäischen Städte seit ihrer Gründung eine selbstverständliche jüdische Prägung erhalten haben. Dies betrifft die Orte der Produktion von Stadtkultur und in besonderem Maße die Mitwirkung an Modernisierung und Zivilisierung der letzten rund zweihundert Jahre. All das liegt nicht offen zutage, ist vielmehr oft nur in Spuren sichtbar und diskursiv auch von manchem Stolperstein begleitet. Diese Spuren zu lesen und zu deuten war bisher im Wesentlichen der Diszplin der „Jüdischen Studien“ überlassen und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in der westlichen sozial- und kulturwissenschaftlichen Stadtforschung wenig präsent. Mag sein, 10 11 12 13

Augé, Marc: Pour une anthropologie des mondes contemporains, Paris1994, pp. 158–159, hier p. 161. [Übersetzung jr] Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Assmann, Jan/Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988, S. 9–19, hier S. 11–12. Assmann, Gedächtnis, S. 9. Vgl. Jeggle, Utz: Memorie und Historie – Zur Arbeit des Erinnerns, in: Giordano, Christian u.a. (Hg.): Kultur anthropologisch, Frankfurt a. M. 1989, S. 343–360.

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dass dies aus Gründen eines wenig reflexiven, disziplinär einschlägigen Wissenschaftsbetriebs geschah, der sich ungern aus gewohnten Pfaden hinausbegibt, oder aber aus Gründen der Stigmatisierung durch einen stets subkutanen gesellschaftlichen Antisemitismus, oder aus Gründen der Scham und Schuld angesichts der Shoah/des Holocaust, der systematischen Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Europa unter dem Hitlerfaschismus, oder auch – Marc Augé folgend – im Zugeständnis an eine gewisse Vergessensnotwendigkeit als gesellschaftliche Zukunftsvoraussetzung14, die in diesem Fall neue Formen des Zusammenlebens zwischen den Menschen bahnen und dadurch die Traumata der Vergangenheit überwinden könnten. Die Bevölkerung in den europäischen Großstädten hatte sich mit der Moderne in einem Zeitraum von 100 Jahren verzehnfacht. Die wirtschaftliche Bedeutung von Städten beruhte, und beruht noch, auf der Zuwanderung von Menschen, ihren Kompetenzen, Kenntnissen und Kapitalien. Die Erfahrung der Moderne wurde dadurch zu einer Erfahrung „von Migration, Vertreibung, Neuansiedlung und Heimatverlust“15, aber sie ist dadurch zugleich auch eine Emanzipationsbewegung. Der jüdische Gelehrte Vilém Flusser beschreibt die Zwangswanderungserfahrung von Juden als „die in Leiden erworbene Freiheit der Heimatlosigkeit“, einer „Freiheit der Verantwortung für den ‚Nächsten‘“16, die für Zuwander_innen generell gelten mag. Die Hoffnung auf Emanzipation und Freiheit, auf Teilhabe und rechtliche Gleichstellung betraf im 19. und 20. Jahrhundert das ländliche Proletariat, die unfreien Unterschichten und Frauen, Zuwander_innen aus der Fremde und, quer zu diesen Zuordnungen und in besonderer Weise, auch die jüdische Bevölkerung. Diese war im 19. Jahrhundert auf der Flucht vor Armut und Progromen von Osteuropa nach Westeuropa oder nach Übersee emigriert: zwischen 1870 und 1920 wanderten drei Millionen Juden aus Osteuropa weg, zwei Millionen Menschen allein nach Übersee17 und etwa eine Viertelmillion nach Westeuropa. Parallel zur allgemeinen und gleichzeitigen Landflucht des 19. Jahrhunderts waren ihre Ziele die Städte18. Sie erhofften sich von 14 15

Vgl. Augé, Marc: Les formes de l’oubli, Paris 1998. Schlör, Joachim: Das Ich der Stadt. Debatten über Judentum und Urbanität 1822–1938, Göttingen 2005, S. 41. Vgl. hierzu auch u.a. Pollack, Martin: Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien, Wien 2010; Roth, Joseph: Juden auf Wanderschaft (1927), München 2013. 16 Flusser, Vilém: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Berlin/Wien 2007, S. 26. 17 So geschätzt von Brinkmann, Tobias: Jüdische Migration, in: EGO ‒ Europäische Geschichte online, S. 26, http://ieg-ego.eu/de/threads/europa-unterwegs/juedische-migration (23.9.2016). 18 Vgl. Richarz, Monika: Die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung, in: Lowenstein, Steven M. u.a. (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit III, Umstrittene Integration 1871–1918, München 1997, S. 13–38, hier S. 33.

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der Stadt ein besseres Leben, Sicherheit und Schutz, „Besitz, Bildung und Freiheit“19. Jüdische Bürger waren im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert Städter oder wurden zu Städtern, die ihre Wohn- und Lebensorte prägten. Sie waren Großstädter in Wien, Budapest und München oder aber in Berlin, jener Stadt, die – wie Joachim Schlör das Ergebnis seiner reichen Quellenauswertungen zusammenfasst – „jüdischem Leben, jüdischer Initiative mehr Raum bot als irgendeine andere“20. Juden und Jüdinnen waren aber auch Bürger_innen in Mittelstädten wie Vilnius, Avignon, Frankfurt, Breslau, Bamberg, Innsbruck oder Sarajevo, so wie sie Hafenstädter_innen, sogenannte Port Jews21, in Livorno, Saloniki, Odessa, Amsterdam, Triest, Bordeaux oder Hamburg waren. Jüdinnen und Juden haben diese Städte geprägt und die Städte haben wiederum sie selbst geprägt. All jene, die vor dem Holocaust fliehen konnten, haben als „Pioniere der Modernität“22, als ehemalige Wiener oder Berlinerinnen wiederum London und New York, Schanghai und Tel Aviv geprägt; sie „nahmen Elemente einer Stadterfahrung mit in die fremden Städte, Erfahrungen, in denen ein Stück Berlin“ oder Wien weiterwirkte.23 Es waren also Städte, nicht Staaten, die sie physisch und sozial ‚aufgenommen‘ haben, und keine nationalen Räume, sondern Orte mit einer historischen Disposition für Heterogenität und Vielfalt, für Kosmopolitismus, für Eingrenzung, aber auch für Ausgrenzung. Für die jüdischen Zuwanderer des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bedeutete das Einleben und Heimisch-Werden in der Großstadt, Konzessionen sowohl an die Moderne als auch an die eigenen Traditionen zu machen. Die Teilhabe an der modernen Stadtgesellschaft erforderte die Aufgabe traditioneller Elemente und Strukturen einer religionsbestimmten ländlichen Lebensführung zugunsten neuer Alltagsgewohnheiten. Die russische Jüdin Ella Schapira sagt in ihren Lebenserinnerungen: „In Tarnopol war noch alles sehr, sehr fromm, aber in Wien hab ich dann alles aufgegeben, weil ich so enttäuscht war von dem Rabbiner. Bin ich gekommen hin zu dem Rabbiner, hab ich noch an alles geglaubt. Dort hab ich dann aufgehört zu glauben. […] Ich hab nur geglaubt an gute Menschen. […] Was man gehabt hat (in der eigenen Familie, Anm. d. A.), hat man geteilt. Wenn einer nicht gehabt hat, hat man 19 20 21 22 23

Vgl. Schlör, Ich, S. 127. Schlör, Ich, S. 133; Guillon, Laurence /Knörzer, Heidi (Hg.): Berlin und die Juden. Geschichte einer Wahlverwandtschaft?, Berlin 2015. Vgl. Cass, Frank: Port Jews. Jewish communities in cosmopolitan maritime trading centres, 1550–1950, London 2002. Vgl. Lowenstein, Steven M.: Die Berliner Juden 1770–1830. Pioniere jüdischer Modernität, in: Rürup, Reinhard (Hg.): Jüdische Geschichte in Berlin, Berlin 1995, S. 25–36, hier S. 25. Vgl. Schlör, Ich, S. 135.

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geholfen. Aber dadurch, daß ich dort so viele schlechte Leute gesehen hab, soviel schlechte Taten, bin ich ungläubig geworden. […] Was ich fühl, is’ gut; nicht, was man mir sagt. Da war’s aus mit der Frömmigkeit.“24 Die Formierung des Städtischen lässt sich daher beispielhaft an individuellen Prozessen der „inneren Urbanisierung“ verfolgen,25 an Prozessen des Einlebens und des Sich-Einschreibens in die städtischen Lebensräume, welche mentale und habituelle Prägungen durch das komplexe und spezifische Milieu der Stadt mit sich bringen. Der Schauspieler Alexander Granach (1891–1945) schildert in seinen Lebenserinnerungen seinen Weg zu Fuß aus der dörflichen galizischen Familienarmut nach Horodenka, als Bäckerlehrling über Stanislau und Lemberg nach Berlin, an die Schauspielschule von Max Reinhardt, dann 1933 die Flucht nach Amerika, den Weg zum Filmstar. Die Ankunft 1907 in Berlin beschreibt er: „So kam ich, sechszehnjährig […] nach Berlin. Horodenka, Zaleszczyki, Stanislau, Lemberg hatte ich beschauen, beobachten, entdecken können, ich hatte Eindrücke registriert, Vergleiche angestellt. Hier kam ich nicht in eine Stadt. Hier kam eine Stadt über mich. Hier fühlte ich mich überfallen, attackiert, nach allen Seiten gerissen von einem neuen Rhythmus, neuen Menschen, einer neuen Sprache, neuen Sitten und Gebräuchen. Ich musste an mich halten, Augen aufreißen, Muskeln anspannen, um nicht überrannt, nicht zermalmt, nicht zerquetscht zu werden.“26 Granach findet Arbeit in einer jüdischen Bäckerei im Berliner Scheunenviertel, wo für ihn der ‚neue Rhythmus der Großstadt Berlin‘ auf die vertrauten traditionellen Strukturen des jüdischen Viertels trifft: „[…] und plötzlich war ich mitten in Berlin in einer Gegend wie Lemberg. […] Kleine, enge, finstere Gässchen mit Obst- und Gemüseständen an den Ecken. Frauen mit bemalten Gesichtern, mit großen Schlüsseln in den Händen strichen herum, wie an der Zosina-Wolja-Gasse in Stanislau oder in der Spitalna in Lemberg. Viele Läden, Restaurants, Eier-, Butter-, Milchgeschäfte, Bäckereien mit der Aufschrift ‚Koscher‘. Juden gingen umher, gekleidet wie in Galizien, Rumänien und Russland.“27 In den Zeiten des rasanten Städtewachstums, das die Industrialisierungs- und Technisierungsprozesse angeschoben hatten, waren die Zuwanderer, war die jüdische Kultur, das heißt jüdisches Leben und Arbeiten, materieller, sozialer und kultureller 24 25

26 27

Krag, Helen Liesl: „Man hat nicht gebraucht keine Reisegesellschaft…“. Eine Lebensgeschichte, Reinbek 1996, S. 84. Zum Begriff der „inneren Urbanisierung“ vgl. Korff, Gottfried: Mentalität und Kommunikation in der Großstadt. Berliner Notizen zur „inneren“ Urbanisierung, in: Kohlmann, Theodor/Bausinger, Hermann (Hg.): Großstadt. Aspekte empirischer Kulturforschung, Berlin 1985, S. 343–361, hier S. 348. Granach, Alexander: Da geht ein Mensch, Augsburg 2003 [1943], S. 195. Granach, Mensch, S. 197.

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Impulsgeber der Stadtentwicklung: „Die Assimilation in und an Wien erschuf […] Großstadtjuden […]. Aber auch die Integration der Juden erschuf erst Wien als Großstadt, im Bild ebenso wie in der Realität. Großstadt als Zentrum von Handel, Finanzwesen und Industrie, Großstadt als kulturelles und intellektuelles Zentrum wurde die Haupt- und Residenzstadt Wien erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“28. Ermöglicht wurde die moderne Stadtwerdung auch und gerade durch jüdische Kapitalien und Kompetenzen: „Die Gebrüder Rothschild versorgten zwischen 1820 und 1850 mit ihren Geschäftsstellen in den wichtigsten europäischen Residenzstädten Wien, Paris und London fast den gesamten europäischen Staatskreditbedarf.“29 Jüdische Bankiers und jüdisches Großbürgertum ermöglichten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Sanierung und Stadtumbau in Paris, Marseille, Wien, Triest, Warschau und vielen anderen Städten. Das jüdische Berliner Bürgertum galt als „wichtiges Ferment des gesellschaftlichen Aufbaus und Fortschritts in Preußen“30. „Neun Zehntel von dem, was die Welt als Wiener Kultur […] feierte“, so Stefan Zweig, „war eine vom Wiener Judentum geförderte, genährte oder selbstgeschaffene Kultur […]. Sie waren das eigentliche Publikum, sie füllten die Theater und Konzerte, sie kauften die Bücher, die Bilder, sie besuchten die Ausstellungen.“31 Die Würdigung des jüdischen Bürgertums und seiner vielfältigen kulturellen und materiellen Beiträge zur modernen Stadtwerdung, als „Markstein(e) der deutschen Kultur“32, setzte in den letzten beiden Jahrzehnten ein und fügt sich in den semantischen Kern des Urbanitätsbegriffes als wohlstandsumwobener Flair einer Stadt: von Wissenschaftler_nnen ist hier die Rede, Ärzten, Rechtsanwälten, Fabrikanten, Architekten, Journalistinnen, Tuchhändlern, Musiker_nnen und Komponisten, Schriftstellerinnen, Malern, Tänzerinnen und vielen begabten Vertreter_nnen mehr aus Handel, freien Berufen, Universitäten, Kunstbetrieb u.a.m33. Mit beeindruckenden Lebenswegen und Lebenswerken haben wir es zu tun, von denen ich hier nur zwei Beispiele erwähnen möchte, zwei Wienerinnen, denen historische Anerkennung und Ruhm spät zuteil bis versagt wird. 28 Schlör, Ich, S. 125. 29 Battenberg, Friedrich: Das Europäische Zeitalter der Juden, Darmstadt 1990, zitiert nach Kluy, Alexander: Jüdisches Marseille und die Provence, o.O. 2013, S. 20. 30 Thomas Koebner, zitiert nach Schlör, Ich, S. 134. 31 Stefan Zweig, zitiert nach Just, Renate: Es lebe der Boulevard. Wien feiert 150 Jahre Ringstraße. Ihre Prachtbauten erzählen von der viel zu kurzen Blütezeit des jüdischen Bürgertums, in: Die Zeit Nr. 18., 29. April 2015, S. 69–70, hier S. 70. 32 Vgl. Leao, Maria Lília: Vilém Flusser und die Freiheit des Denkens, in: Flusser, Freiheit, S. 7–10, hier S. 7. 33 Vgl. exemplarisch Picard, Jacques et al. (Eds.): Makers of Jewish Modernity. Thinkers, Artists, Leaders, and the World they made, Princeton 2016.

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Die mit ihrer Familie 1905 von Odessa nach Wien migrierte Volkskundlerin Dr. Eugenie (Jenny) Goldstern (1884–1942, ermordet im Konzentrationslager Sobibor) förderte – wie weitere jüdische Mäzene; darunter das Bankhaus Rothschild, Konrad Mauthner oder Edgar von Spiegl – mit ihren Darlehen, Spenden und Sammlungen das junge Fach Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Da Goldstern im Wiener wissenschaftlichen Milieu wenig Unterstützung erfährt, promoviert sie 1921, betreut von Arnold van Gennep, in der Schweiz über die ländlich-alpine Kultur in Savoyen.34 Ihre Zeitgenossin, die 1872 in Tarnopol geborene Reformpädagogin Dr. Eugenie (Genia) Schwarzwald, hatte in Wien seit der Jahrhundertwende mit enormem „Gründerdrang“35 über mehr als drei Jahrzehnte durch zahllose sozialreformerische und politische Initiativen das Stadtleben geprägt. Die Schwarzwald’schen Reformschulen für Frauenbildung und Koedukation, in denen Oskar Kokoschka als Zeichen- oder Arnold Schönberg als Musiklehrer unterrichteten, waren ebenso wie die von ihr geschaffenen Sozialwerke, politischen Initiativen und Bewegungen Signete der Wiener Moderne. In ihren Häusern in Wien, am Semmering und im Salzkammergut verkehrten Politiker, Intellektuelle, Künstler_innen und Sozialreformer_innen, ihre Salons waren offene Häuser und Reformschmieden. Ihre Suppenküchen und Ferienlager unterstützten in der Zwischenkriegszeit arme Familien in Berlin und Wien. Egon Friedell schrieb über sie: „Ist es nicht ergreifend, was für einen Aktionsradius diese bewundernswerte Frau hat? Nur in Österreich ist es möglich, daß ein Mensch von solcher Begabung und Tatkraft nicht schon längst Bundespräsidentin, Rektorin der Universität, Erzbischöfin und Herausgeberin der Fackel ist.“36 Eugenie Schwarzwald starb 1942 im Schweizer Exil an Krebs.

Alltag und Alltäglichkeit sind der Stoff der Stadt Der diesen jüdischen Pionierinnen stadthistorisch angemessene Platz im prominenten Diskurs der aktuellen Stadtforschung bleibt ebenso offen wie der Beitrag vieler ande34

35 36

Vgl. hierzu die Pionierarbeit von Ottenbacher, Albert: Eugenie Goldstern. Eine Biographie, Wien 1999; Hofmann, Silvia: Eine fremde Forscherin im Münstertal: Eugenie Goldstern (1884–1942). Pionierin der europäischen Ethnografie, in: Redolfi, Silke/Hofmann, Silvia/Jecklin, Ursula (Hg.): Fremde Frau: Beiträge zur Frauen- und Geschlechtergeschichte Graubündens im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 2008, S. 107–115. Holmes, Deborah: Langeweile ist Gift. Das Leben der Eugenie Schwarzwald, St. Pölten u.a. 2012, S. 179. Holmes, Langeweile, S. 10. Die zwischen 1899 und 1936 in Wien von Karl Kraus herausgegebene „Fackel“, war eine (politisch links stehende) gesellschaftskritische, satirische Kulturzeitschrift, die nicht nur das Wiener Kulturleben stark geprägt hatte, sondern in ganz Europa rezipiert wurde und damit einen wichtigen Beitrag zum Denken einer neuen, postautoritären Gesellschaftsordnung beigesteuert hat. Seit wenigen Jahren ist die Gesamtausgabe online einsehbar: http://sciencev1.orf.at/links/146748.html (10.12.2016).

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rer der Zuwandernden. Die Teilhabe aller an dem Menschenwerk Stadt, die Impulse der Vielen, gleichwelcher selbst beanspruchten oder zugeschriebenen Zugehörigkeiten, für eine „Kultur im Erdgeschoss“, wie Arnold Niederers paradigmatische Formulierung für die Volkskunde gelautet hatte,37 scheint allzu selten als Bestandteil und Bedingung des Städtischen auf. Doch ist und war die „Volkskultur“ stets der Stoff der Stadt, die Bedingung nicht nur der Erfolge, sondern auch der Normalitäten einer jeden Stadt und ihrer Entwicklung, von Fortschritt und Veränderung. Jeder Inter-Akteur, jede Akteurin einer statistischen Durchschnittsbevölkerung leistet zahllose substanzielle Beiträge zum Stadtbetrieb und seiner ‚Tragfähigkeit‘. Die alltäglich gewechselten Worte, die zurückgelegten Wege, die unspektakulären Handlungen und unscheinbaren Gesten der Sorge und Fürsorge, die Arbeit der Versorgung und Entsorgung ermöglichen Existenz und Gesellschaft und damit Stadt. Gemeinsam formen sie, in ebenso konfliktuellen wie partnerschaftlichen Alltagsauseinandersetzungen, das Soziale einer Stadt. Sie sind die Produktivkräfte, die mit ihrer Arbeit das Ökonomische erwirtschaften, mit ihrem Ethos, ihren Werten und ihrer Spiritualität einen Lebenssinn erwirken, der sich aus den Reibungsprozessen zwischen Traditionen, Normen, neuen Ideen und eigener Erfahrung speist. Das Städtische einer Stadt schafft und gewährleistet die anonyme Bevölkerung in der ganzen sozialen Breite ihrer heterogenen Provenienzen: Angestellte in Institutionen und Betrieben, Bäckerinnen und Fleischer, Caféhausbetreiber und Modistinnen, Händler und Bettlerinnen, Musikanten, Kürschner, Lastenträger, Tramschaffnerinnen, Lavendelverkäuferinnen, Lampenanzünder und Nachtwächter, Hebammen und Trödlerinnen38, Trafikanten39, Blumenhändlerinnen, Altenpflegerinnen, Fährimänner und -frauen, Marktverkäuferinnen, Optiker, Trickbetrüger, Telefonverkäufer, Nagelstudiobesitzerinnen, Platzwarte, Tätowierer, Schülerlotsen, Druckerinnen, Automechaniker, Kaffeerösterinnen, Schuhmacherlehrlinge40, Losverkäufer, Prostituierte, Stadtgärtner, Gendarme und andere Ordnungswächterinnen, Bootsverleiher, Eisverkäufer, Schuhputzer, Fischhändlerinnen, Straßenkehrer, Stricher, Raumpflegerinnen, Taschendiebe, Museumswärterinnen, Töpferinnen, Velokuriere, Kohlenträger, Kammerjäger, Tischlerinnen, Drucker, Apothe37

Vgl. Niederer, Arnold: Kultur im Erdgeschoss. Der Alltag aus der neuen Sicht des Volkskundlers, in: Schweizer Monatshefte 8 (1975/76), S. 461–476. 38 Vgl. die Rekonstruierungen jüdischer Lebenswelten z.B. bei Frei, Bruno: Jüdisches Elend in Wien, Wien 1920; Johler, Birgit/Fritsche, Maria (Hg.): 1938 Adresse: Servitengasse. Eine Nachbarschaft auf Spurensuche, Wien 2007; Payer, Peter: Jüdisches Leben in der Brigittenau. Ein Rundgang zu den stummen Zeugen der Vergangenheit, in: Brigittenau: gestern-heute-morgen, Wien 1999, S. 111–121. 39 Seethaler, Peter: Der Trafikant, Zürich 2012. 40 Karpinowicz, Abraham: Die phantastische Theorie vom Schuhmacher Prenzik. Erzählungen aus dem jüdischen Wilna, Gerlingen 1995.

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kenhelferinnen, Friseurinnen, Karusselbesitzer, Glasschleiferinnen, Drogenverkäufer, Klempnerinnen, Hundefänger, Detektive, Parfümöre, Wahrsagerinnen, Maroniverkäuferinnen, Yogalehrer, Tiersalonnièren, Köche, Tapezierer, Krankenwagenfahrer, Fitnesstrainer, Dachdecker, Bademeisterinnen, Ausverkäufer, Raumpfleger, Wirtinnen, Gebrauchtwarenhändler, Zeltverleiher und Schneiderinnen wie die oben erwähnte Ella Schapira (1897–1990). 1905 flieht sie aus Russland nach Galizien, im Ersten Weltkrieg nach Wien und von dort 1938 weiter nach London, wo sie bis zu ihrem Lebensende bleibt. „Wenn man stirbt“, sagt sie ihrer Enkelin, die ihr Leben aufgezeichnet und dokumentiert hat, „dann weiß kein Mensch, daß man gelebt hat.“41 Diese Vielen stellen die Mehrheiten in einer jeden Stadt; sie bilden den Reichtum und die Sprache der Stadt, stricken gemeinsam an Alltagsbewältigung und Zukunftshoffnung. In ihrem sozialen Gedächtnis findet sich der Stoff der Erfahrungen und Ereignisse in Erzählungen transformiert, wie Colette Pétonnet am Beispiel der alten Spaziergänger_innen auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise in wundersamer Weise aufzuzeigen vermochte.42 Die Volkskunde gibt Zeugnis davon, dass die historischen Belege der „Volkskultur“ weniger üppig und ‚präsentabel‘, weniger diskursfähig sind als die der Eliten. Nur zu einem kleinen Teil finden die Vielen und ihre Geschichten Niederschlag in Archiven, Museen, wissenschaftlichen Werken; zu einem größeren Teil sind sie – als das diskursiv Abwesende der Kultur – im Gedächtnis, in Objekten, in mündlichen Erzählungen und biographischen Schriften aufgehoben. Die Zeugnisse der jüdischen Volkskulturen sind meistenteils vernichtet. Ihre Spuren in Gedächtnis und Literatur, in Dingen und Erzählungen, müssen wir der Kunst der lebensweltlichen Rekonstruktionen der Historikerinnen, Literaten und Kulturanthropologinnen überantworten.43 Uns allen bleibt die konstante Aufgabe, „die dialogischen Fäden“ der gesellschaftlichen Verantwortung44 gegenüber der Geschichte nicht abreißen zu lassen.

Offenes Schlusswort zur Integrativität des städtischen Alltags Sowohl die konfessionelle als auch die nationale Zuordnung konstruieren aus Teilen der Stadtbevölkerung kulturelle und „ethnische“ Minderheiten, die sie nicht wären, 41 Krag, Reisegesellschaft, S. 169. 42 Vgl. Pétonnet, Colette: Freischwebende Beobachtung auf einem Pariser Friedhof, in: Rolshoven, Johanna (Hg.): Hexen, Wiedergänger, Sans-Papiers… Kulturtheoretische Reflexionen zu den Rändern des sozialen Raumes, Marburg 2003, S. 91–103. 43 Vgl. Marianne 5 (2015): Les Résistances Juives durant la Seconde Guerre Mondiale. 44 Flusser, Freiheit, S. 19.

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würden die Stadtbewohner_innen nach sozialen Zugehörigkeiten und individuellem Zugehörigkeitsempfinden differenziert, nach dem Lebensalter oder nach professionalen Beiträgen zum sozialen und wirtschaftlichen (Über)Leben. Im Kontext der alltäglichen Lebenswirklichkeiten sind diese Kategorien gleich der Kategorie „Geschlecht“ transversal, sie überschneiden und sie wandeln sich. Aus dieser Überlegung ergibt sich jene Frage, die sich auch für die Situation der globalisierten Bevölkerungsbewegungen der Gegenwart stellt, ob Städte heute überhaupt einer Nationalität, einer nationalen Zugehörigkeit bedürfen, um als Lebens- und Wirtschaftsorte zu funktionieren und die sich ihnen stellenden Aufgaben zu bewältigen? An der Spitze der internationalen Stadtsoziologie verneint Saskia Sassen diese Frage für die Global Cities und ihre internationalen Netzwerke.45 Doch auch in den europäischen Großstädten wirkt die Staatsbürgerschaft als ideologisierte Garantin der Integration der StadtbürgerInnen für die überaus zahlreichen BewohnerInnen einer Stadt, denen sie nicht gewährt wird, in Wirklichkeit exkludierend, während die Kraft des Städtischen, die eingangs definierte citadinité, in der Beförderung von gesellschaftlicher Teilhabe über Alltagsaktivitäten, in Selbsthilfe und Netzwerken, über transnationale Ressourcen und non-gouvernementale Initiativen inkludiert. Hier, im Lebensraum Stadt, spielen Anonymität und Bewegung eine wichtige Rolle. Wie ein „Film“ schützen sie in der beweglichen Menge den Einzelnen/die Einzelne46 und ermöglichen Formen der Distanzierung auf der lebensweltlichen Alltagsebene. Anonymität und Bewegung werden daher paradoxerweise zu Bedingungen von Inklusion47, während Städte auf der politischen Ebene als nationale und nationalistische Hoheitsgebiete mit gouvernementalen Strategien unaufhörlich Ausgrenzung exerzieren und produzieren. Städte sind stets Konkurrentinnen von nationalen Herrschaftsinteressen gewesen, da ihre wirtschaftlichen Interessen, die diesen zugrundeliegende Produktivkraft und das soziale Gewicht nationalstaatlichen Anliegen häufig zuwiderlaufen. Besonders deutlich in der Geschichte haben sich diese Kollisionen in Hafenstädten gezeigt, deren 45 46

Vgl. Sassen, Saskia: The Global City: New York, London, Tokio, Princeton 2001. Pétonnet, Colette: La ville et les citadins, in: Michel, Albin: André Leroi-Gourhan ou les voies de l’homme, Paris 1988, p. 118; Pétonnet, Colette: L’anonymat ou la pellicule protectrice, in: Le temps de la réflexion VIII (La ville inquiète) (1987), pp. 247–261. 47 Diese Momente des Städtischen scheinen bereits in den frühen Schriften zum Großstadtleben auf: Georg Simmel beschreibt, dass die städtische Lebensweise zur Herausbildung einer spezifischen Mentalität führe, für die „das Ineinander von körperlicher Nähe und geistiger Distanz“ bestimmend sei, bzw., wie es nach Simmel der Psychologe Willy Hellpach formuliert „von äußerer Nähe und innerer Fremdheit“. Vgl. Lindner, Rolf: Das andere Ufer. Zwei-Kulturen-Metapher und Großstadtforschung, in: Bausinger, Hermann/Kohlmann, Theodor (Hg.): Großstadtvolkskunde, Berlin 1985, S. 297–304, hier S. 298. Zitiert nach Hengartner, Thomas: Forschungsfeld Stadt, Berlin 1999, S. 158.

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Prosperität sich zuweilen aus der Verbindung von gewährtem Freihandel und ungehindertem Aufenthaltsrecht ergab.48 Politische Konzepte einer offenen Stadt49 unterstützen die Integrativität des Städtischen dort, wo die Nationalität – in der späten Moderne unter den Bedingungen der Globalisierung – nicht mehr schützend genug über der Diversität der Zugehörigkeiten steht. Der amerikanische Raumplaner John Friedman plädiert mit seinem, nach 9/11 verfassten, Aufruf zu einer „Offenen Stadt“ für die strukturelle Gleichheit aller StadtbewohnerInnen und Zuwanderer/innen.50 Er fordert eine „Stadtbürgerschaft“ jenseits nationalstaatlicher Anerkennungspolitiken. Die Grundlage dieser „Stadtbürgerschaft“ ist die politische Partizipation, der Zugang zum öffentlichen Raum, das Recht auf öffentliche Unterstützung sowie der Gleichheitsgrundsatz aller Stadtbewohner_innen.51 Damit knüpft er an die historische, vor-nationalstaatliche Rolle der Städte in der Gewährung und Entwicklung von Bürgerrechten an. Diese Diskussion wird aktuell in der kritischen Migrationsforschung aufgegriffen, in der die Stadtbürgerschaft als „neues Rechtsregime“ diskutiert wird, das in der Lage ist, adäquater auf Migrationssituationen zu reagieren und den neuen Formen postnationaler Zugehörigkeiten gerecht zu werden.52 Diese Diskussion müssen wir weiterführen. Denn hätte sich die Stadtverordnung des mittelalterlichen Marseille, die nicht zwischen jüdischen, christlichen oder muslimischen EinwohnerInnen unterschieden hat, sondern nur cives Massiliae, „Bürger von Marseille“ kannte,53 als Modell für die europäische Moderne durchgesetzt, dann könnten wir heute in Städten ohne Stolpersteine leben.

48 Vgl. z.B. Dubin, Louise: The Port Jews of Habsbourg Trieste. Absolutist Politics and Enlightment Culture, Stanford 1999. 49 Vgl. Rolshoven Johanna/Klengel, Robin (Hg.): Offene Stadt. Nischen, Perspektiven, Möglichkeitsräume, Graz 2014. 50 Friedman, John: City of Fear or Open City?, in: Journal of the American Planning Association 68/3 (2002), pp. 237–243. 51 Friedman, City, p. 285. 52 Hess, Sabine/Lebhuhn, Henrik: Politiken der Bürgerschaft. Zur Forschungsdebatte um Migration, Stadt und citizenship, in: sub\urban. Zeitschrift für kritische Stadtforschung 2 (2014), S. 11–34, hier S. 16, S. 27. 53 Vgl. Kluy: Marseille, S. 34. An die politische Auffassung der cives Massiliae knüpft heute das Projekt „Marseille espérance“ an, das 1990 durch den damaligen Marseiller Bürgermeister Robert-Paul Vigouroux initiiert wurde. Im Falle interreligiöser städtischer Konflikte wird ein Ältestenrat eingeschaltet, der aus den höchsten Würdenträgern der sechs mehrheitlich in Marseille vertretenen Religionen sowie einem laizistischen Vertreter der Bevölkerung besteht. Vgl. Bernind, Elise: Marseille Espérance fête ses 25 ans. L’anniversaire d’une association qui reflète le cosmopolitisme de la cité phocéenne, http://reforme.net/une/societe/marseille-esperance-celebre-25-ans (11.12.2016).



VON MASTERARBEITSKRISEN UND FINANZKRISEN Über den Krisenbegriff Hélène Mona Oberlé

Sommer 2012: Eine Schweizer Familie macht eine Mittelmeerkreuzfahrt. Als die 9-jährige Tochter am ersten Schultag ihrer Klasse von den Sommerferien erzählt und sagt, dass sie an Griechenland vorbeigefahren seien, wird sie von einer Freundin gefragt: „Und, hast du die Krise gesehen?“

Diese kurze Geschichte wurde mir 2012 von Jacques Picard erzählt. Ich hatte damals meine Masterarbeit mit dem Titel „Reden über die Krise: Zwischen Hoffnung und Fatalismus“ eingereicht. Um die ungreifbare – und im Fall der einleitenden Geschichte wohl unsichtbare – Krise und die Ergebnisse meiner damaligen Forschung wird es im folgendem Text gehen. Es handelt sich dabei um einen Rückblick sowie eine Reflexion zum Thema und Begriff Krise. Ursprünglich hatte ich als Abschlussarbeit eine Banken-Ethnographie geplant, doch meine Krisenforschung geriet selbst in eine Krise, als leider keine der vielen von mir angefragten Banken bereit war, mir für eine Forschung über die Finanzkrise ab 2007 die Türen zu öffnen – in einem Fall wurde ich sogar der versuchten Spionage verdächtigt. Vielleicht wäre der Zugang heute, fast zehn Jahre nach Beginn der Ereignisse, einfacher. Die durch die Umstände erzwungene Themenänderung erforderte eine Verschiebung des Fokus und so sammelte ich in Form von Interviews unterschiedliche Perspektiven und Deutungen von (Finanz-)Krisen. Die qualitativen Interviews fanden Anfang 2012 statt und wurden in der deutschsprachigen Schweiz geführt. Interviewt wurden Personen aus unterschiedlichen Berufsfeldern, um möglichst diverse Sichtweisen und Interpretationen zu sammeln. Unter anderem wurden Künstler_innen, Journalist_innen, Ökonom_innen, Historiker_innen, Politiker_innen und Unternehmer_innen interviewt. Alle interviewten Personen besaßen relativ hohes kulturelles und soziales Kapital, wodurch sich eine sogenannte „Research-up“-Situation ergab.1 Hauptpunkte des Interviewleitfadens waren die eigenen Sichtweisen von Krisen, die 1

Warneken, Bernd Jürgen/Wittel, Andreas: Die neue Angst vor dem Feld. Ethnographisches research up am Beispiel der Unternehmensforschung, in: Deutsche Gesellschaft für Volkskunde 93 (1997), S. 1–16.

Von Masterarbeitskrisen und Finanzkrisen

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Begegnung mit Krisen im Berufsalltag bzw. die Betroffenheit durch und Bewertung von Finanzkrisen (z.B. Krise als Chance vs. Krise als Bedrohung). Als Interviewanreize dienten Zitate von Ökonom_innen zur Finanzkrise ab 2007. Obwohl ich den verwendeten Interviewleitfaden somit stark auf Finanzkrisen ausgerichtet hatte, wurde im Verlauf aller Gespräche auch über Krisen ganz allgemein – u.a. über politische, ökologische oder psychologische Krisen – gesprochen. In einem Interview mit einem Journalisten kam dazu folgender, eher pessimistischer Satz auf: „Es ist eine, wie soll man sagen, seelische Krise der ganzen Gesellschaft“2. Doch was ist eigentlich eine Krise? Im Rahmen meines Projekts setzte ich mich zur Beantwortung dieser Frage mit der Definition von Krise und mit dem abstrakten, häufig auch diffusen Charakter auseinander, der mit dem Begriff einhergeht.

Was ist eine Krise? Das Wort Krise, aus dem Griechischen κρίσις bedeutet ursprünglich Entscheidung, Meinung, Beurteilung. Erst später wird das Wort auch für gefährliche Situationen bzw. Entscheidungssituationen verwendet.3 Bevor das deutsche Wort Krise auch in den Sprachgebrauch von Wirtschaft und Politik trat, war es lange Zeit nur in medizinischen Kontexten (Krise als Wendepunkt im Verlauf einer Krankheit) und theologischen Zusammenhängen (Krise als „Glaubenskrise“) verwendet worden. Erst seit dem 18. Jahrhundert wird der Begriff in seiner heutigen Form im Sinne von Gefahr oder Unsicherheit bzw. als Beschreibung einer entscheidenden Situation verwendet.4 Das moderne Wort Krise in Bezug auf die Wirtschaft oder auf gesellschaftliche Ereignisse ist somit an sich schon eine Metapher, da es ursprünglich nur um Geschehnisse in Bezug auf Krankheit oder Religion ging. Aus anthropologischer Sicht ist Krise ein weiter Begriff. Krise dient auch als travelling concept, welches sich im Rahmen von Globalisierungsprozessen in verschiedene Wissens- und Wissenschaftskulturen eingliedert, in denen es sich verwandeln und erneuern kann.5 2 3 4

5

Oberlé, Hélène M.: Reden über die Krise. Zwischen Hoffnung und Fatalismus (Masterarbeit), Basel 2012, S. 70. Duden-Fremdwörterbuch: Krise (Bd. 5), Mannheim 61997; Duden-Herkunftswörterbuch: Krise (Bd. 7), Mannheim 32001. Vgl. Imbriano, Gennaro: „Krise“ und „Pathogenese“ in Reinhart Kosellecks Diagnose über die moderne Welt, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 2/1 (2013), S. 38–48, http://www.zfl-berlin.org/tl_files/zfl/ downloads/publikationen/forum_begriffsgeschichte/ZfL_FIB_2_2013_1_Imbriano.pdf (28.10.2016). Vgl. Beck, Stefan/Knecht, Michi: Jenseits des Dualismus von Wandel und Persistenz? Krisenbegriffe der Sozial- und Kulturanthropologie, in: Mergel, Thomas (Hg.): Krisen verstehen: historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Frankfurt a. M. 2012, S. 59–76, hier S. 67; Oberlé, Reden, S. 24.

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In der Kulturanthropologie und verwandten Disziplinen nimmt der Begriff Krise jedoch keine bedeutende Position ein und wird außerdem kaum theoretisiert. Eine Krise dient meistens nur als Ausgangspunkt für die Untersuchung eines (Krisen-)Phänomens, während die Deutungen und der Umgang mit Krisenprozessen seltener diskutiert werden.6 Redet man – im Falle meiner Forschung z.B. im Rahmen von Interviews – ausführlicher über (Finanz-)Krisen, fallen vor allem zwei Dinge auf: erstens die Ausdrucksweisen und Imaginationen und zweitens die Verbindung von Krisendiskursen und Globalisierungsprozessen. Auf diese beiden Punkte werde ich in den nächsten Abschnitten näher eingehen.

Reden über die Krise Der Begriff Krise ist häufig vage, breit und vielfältig zugleich. Beschreibt man sie, wird die Krise zu einem unausweichlichen, unkontrollierbaren, häufig unsichtbaren, fast metaphysischen Ereignis. Gleichzeitig werden starke, immer wieder auftauchende Bilder hergestellt, um gegen die Diffusität anzugehen. Das bedeutet, dass die auch heute noch religiös anmutenden Beschreibungen einer Krise genauso zu finden sind, wie auch die in Folge oft notwendige, starke bildliche Sprache, die verwendet wird, wenn Krisen konkret erklärt werden sollen. Diese Form des Redens über die Krise wurde an vielen Stellen meiner Interviews sichtbar. Krise bleibt zu Beginn der Beschreibung häufig ein diffuses Konzept. Besteht ein tiefgreifendes Gefühl der persönlichen Betroffenheit durch Krisen, wird die Sprache, die verwendet wird, um diese zu beschreiben, exakter. Fühlt man sich dagegen kaum oder gar nicht betroffen, behält die Krisenbeschreibung ihren abstrakten Charakter. Um die Krise konkret zu machen, werden meist diverse Metaphern und Analogien verwendet. Die folgenden Interviewzitate von drei unterschiedlichen Personen verdeutlichen dies: „Da kommen sie (die UBS mit ihrem Eigenkapital) nicht einmal durch den Tsunami durch, da kommen sie schon beim ersten Regen nicht durch.“ (Herr W., Politiker und Unternehmer) „Und diese Krise (ab 2007) hatte die Struktur eines Schwelbrandes.“

6

Vgl. Beck/Knecht, Dualismus; Oberlé, Reden.

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(Herr Z., Journalist und Autor) „Man kann das Ganze (Crashs, hier in Bezug auf 2008) betrachten wie Waldbrände: Sie sind zwar gefährlich, doch ab und zu ist auch ein Waldbrand für den Boden sehr gut.“ (Herr S., ehemaliger Finanzanalyst und Vermögensverwalter)7

In diesen Zitaten werden Finanzkrisen mit Naturgewalten, man könnte auch sagen natürlichen Krisen gleichgesetzt.8 Auf der einen Seite erscheinen Krisen auf diese Art unkontrollierbar und gewaltig und die Folgen können illustriert werden. Auf der anderen Seite werden mit solchen Umschreibungen jedoch keine konkreten Praktiken und Verantwortlichen genannt. Es könnte auch sein, dass diese stark bildliche Sprache für die interviewten Personen ein Weg ist, eine Finanzkrise ganz ohne ökonomische Fachbegriffe in ihrer Brisanz zu erklären. Die Banken- und Finanzwelt selbst gibt sich sehr gerne den Anschein hoher Komplexität und präsentiert sich als etwas, das nur von Experten verstanden werden kann. Auf diese Art bleibt die, möglicherweise erwünschte, Intransparenz dieser Welt erhalten.9

Globalisierungskrisen Beim zweiten Punkt, der Verbindung von Krise und Globalisierung, geht es vor allem um Ursachenerklärungen. Das ungreifbare Ereignis wird meistens als etwas beschrieben, das im Rahmen von Globalisierungsprozessen entsteht bzw. eine Folge davon ist. Das bedeutet, dass das abstrakte Konstrukt Krise mit dem nicht weniger vagen Begriff Globalisierung erklärt wird. Anders gesagt: „So wie die Krise selbst, werden auch die Ursachen zu weiten, oft unklaren Konzepten“10. Wenn in den Interviews Globalisierung als Ursache für Krisen angeführt wird, werden hierbei vor allem Prozesse verstanden, die eine neoliberale Form des Kapitalismus, allgemeine Beschleunigung und Vernetzung sowie fehlende Nachhaltigkeit mit sich ziehen. Laut der Anthropologin Karen Ho11 wird diese Verbindung von Globalisierung und Krisen auch von den häufig krisenverursachenden Investmentbanken selbst hergestellt. Ihre Ethnographie der Finanzwelt ergab, dass es einen direkten 7 8 9 10 11

Oberlé, Reden, S.64. Vgl. Bidney, David: The Concept of Cultural Crisis, in: American Anthropologist 48 /4 (1946), pp. 534–552, http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/aman.1946.48.issue-4/issuetoc (28.10.2016). Vgl. Graeber, David: Debt: the first 5000 years, New York 2011, p. 15. Oberlé, Reden, S. 69. Vgl. Ho, Karen Z.: Liquidated: an ethnography of Wall Street, Durham 2009.

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Zusammenhang zwischen a) der Selbstdarstellung und Aktivität als globales Unternehmen und b) dem Entstehen von Finanzkrisen gibt. Laut Karen Ho führt insbesondere die Kombination aus der sehr stressigen, kompetitiven Unternehmenskultur und den sich in ständiger Bewegung befindenden Finanzmärkten zu Krisen.12 Bemerkenswert ist laut Karen Ho am existierenden Globalisierungsdiskurs, dass man bei genauem Hinsehen Parallelen zwischen dem Diskurs der Investmentbanken und der Kulturanthropologie findet, wenn es um das Thema Globalisierung geht. Denn der vor allem auch von Anthropolog_innen verwendete Ansatz, bei dem Globalisierung als gegebener Makro-Kontext betrachtet wird und die von großen Investmentbanken verwendeten Begriffe, wenn es um ihre Selbstdarstellung als global players geht, ähneln sich sehr: If the very idea of the “global economy” and “inevitable globalization” is precisely the worldview that capitalist interests desire to construct, then it certainly would not appear to make sense for academics interested in counterhegemonic projects to paint the world using similar colors and tools.13

Das bedeutet, dass sowohl bei Krisen- als auch bei Globalisierungsthemen ethnographische bzw. empirische Annäherungen notwendig sind, um die einzelnen, komplexen Komponenten und Deutungen dieser Prozesse innerhalb der Gesellschaft zu verfolgen und zu begreifen und dass sie nicht einfach nur als gegebener Makro-Kontext akzeptiert werden sollten.

Krisen als Zeichen der Moderne? In der Gegenwartsethnologie wird Krise gemeinhin als ein konstitutiv mit der europäischen (und dann globalisierenden) Moderne verbundenes und mit dem weltumspannenden Kapitalismus liiertes Deutungsmuster verstanden, als lokalisierter und an kulturelle Erfahrungen gebundener Modus sozialer Selbstbeschreibung.14 In meiner Masterarbeitszeit im Jahr 2012 war das Schlagwort Krise meistens in einer von folgenden Variationen in den Medien und öffentlichen Diskursen zu finden: 12 13 14

Vgl. Ho, Ethnography, p. 296. Ho, Karen Z.: Situating Global Capitalisms: A View from Wall Street Investment Banks, in: Xavier, Jonathan/ Rosaldo, Renato (Eds.): The anthropology of Globalization: A Reader, Malden 2008, pp. 137–164, here p. 139. Beck/Knecht, Dualismus, S. 67.

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Wirtschaftskrise, Finanzkrise, Bankenkrise, Eurokrise oder Schuldenkrise. Dies ist heute seltener der Fall, doch die Krise bleibt mit dem Begriff Flüchtlingskrise durchaus Teil der Aktualität. Auch hier handelt es sich um einen diffusen Begriff, der außerdem der Realität der stattfindenden humanitären Katastrophe kaum gerecht werden kann. Daher denke ich nach wie vor, dass wir uns als Anthropolog_innen weiterhin mit Krise als Begriff und – wohl noch wichtiger – mit den konkreten Krisendeutungen und Strategien im Umgang mit Krisen auseinandersetzen sollten. Eine umfassende Betrachtung solcher diffusen, aber in der Aktualität dennoch wirkmächtigen Diskurse wie Krise und auch Globalisierung ist notwendig, um ein präzises Begriffsverständnis zu gewährleisten und zu einer differenzierten Diskussion aktueller Geschehnisse beizutragen.



DIE GUTEN GEFÜHLE SIND ENTSCHEIDEND! Ästhetiken und Praktiken der Emotions- und Vertrauensarbeit im Private Banking

Thomas J. Heid

„Ein Lotto-Gewinner hat sein Geld einer Privatbank anvertraut. Diese verzockte es.“1 – Vor etwa zwei Jahren geriet die altehrwürdige Privatbank Merck Finck & Co. im Zusammenhang mit Vorwürfen des Vertrauensmissbrauchs gegenüber einem Privatanleger ins Rampenlicht der Öffentlichkeit.2 Der Name und das Image der Bank standen bis dato für hochprofessionelle, sichere und ertragreiche Finanzanlageberatung. Das vornehme Bankhaus residiert für die persönliche Beratung und langjährige Betreuung einer ausgewählten Klientel deutschlandweit an prominenten Standorten in imposanten Gebäuden in allerbesten Lagen. In München befindet sich der Stammsitz zwischen dem Lenbach- und dem Maximiliansplatz in einem monumentalen historischen Eckgebäude, das mit feinsten Materialien und Kunstwerken eine höchst exklusive Atmosphäre erzeugt. Die spektakuläre Diskrepanz zwischen zur Schau gestellter Solvenz und Erfolg, wie sie hier in Gebäuden und ihren Interieurs materialisiert werden, und der Insolvenz, die dieses Bankhaus für den einstigen Lotto-Millionär „erwirtschaftet“ hat, verweist auf eine Besonderheit des Private-Banking3-Geschäfts: es bedarf einer spezifischen 1 2

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http://www.blick.ch/news/wirtschaft/weil-die-bank-das-geld-verzockte-schadenersatz-fuer-ex-lotto-millionaer-id2816114.html (20.09.2016). Vgl. z.B. „Merck Fink beurlaubt Berater. Sechs Richtige mit Folgen“, http://www.handelsblatt.com/unternehmen/banken-versicherungen/merck-fink-beurlaubt-berater-sechs-richtige-mit-folgen/9962570.html (20.09.2016); „Falsche Beratung. Bank muss Lottogewinner Schadensersatz zahlen“, http://www.spiegel.de/ wirtschaft/service/lottogewinner-falsch-beraten-merck-finck-muss-schadensersatz-zahlen-a-966059.html (20.09.2016). Das Private Banking folgt einem ganzheitlichen und individuell zugeschnittenen Vermögensberatungsansatz mit besonderem Fokus auf einer langfristig ausgerichteten vertrauensvollen Kundenbeziehung. Im Vordergrund steht weniger der provisionsgetriebene Verkauf eines einzelnen Finanzprodukts, wie es bis zum Ausbruch der Finanzkrise 2007/08 besonders ausgeprägt im standardisierten Privatkundengeschäft (Retail Banking) vorzufinden war. Vielmehr umfasst Private Banking eine weitreichende Planung des gesamten Anlagevermögens, die ein spezifisches Verstehen des Kunden und seiner Bedürfnisse z.B. hinsichtlich Anlagepräferenzen und -aversionen durch den diskreten und umsichtigen Berater voraussetzt, der sich durch eine spezifische Passförmigkeit auch in die Lage des Kunden hineinzuversetzen versucht.

Die guten Gefühle sind entscheidend!

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Arbeit mit Ästhetik und edlem Interieur und des feinfühligen, auf die Kundschaft individuell zugeschnittenen Auftritts, um Emotionen zu wecken und Vertrauen zu erzeugen. Damit sollen die anspruchsvollen und erfolgsverwöhnten Kunden4 dazu bewegt werden, liquides Vermögen in risikobehaftete Finanzprodukte zu investieren. Schliesslich handelt es sich bei jeglicher Art von Finanzanlage – ob beispielsweise Aktie, Fonds, Obligation, Option oder Derivat – um weitgehend unsichtbare, im wahrsten Wortsinne schwer greifbare Produkte. Das „Erfolgsversprechen“ in Form von Rendite oder Wertzuwachs des Finanzprodukts hängt immer vom Eintreten bestimmter „Annahmen“ oder vom zukünftigen Einlösen geleisteter „Versprechen“ ab. Folglich sind Finanzanlagen in ihrem Kern stets unsicher. Für Laien erscheinen Beratungsleistungen und Finanzprodukte als eine undurchsichtige Welt der Experten und der Wissensarbeit, welche zwangsläufig einen Vertrauensvorschuss gegenüber der Bank und dem persönlichen Kundenberater abverlangt. Im ungünstigsten Falle, etwa beim geschädigten Lotto-Millionär, sind Kunden dem Risiko einer unseriösen Beratung und verlockender Spekulationsvorschläge, kurzum einer hochriskanten Zockerei mit Totalausfallrisiko ausgeliefert. Dass die Berufsgruppe der Bankberater – das schliesst sowohl die Berater des Private als auch des Retail Banking ein – aufgrund der vielzähligen negativen Folgen der Finanzkrise 2007/085 seit Jahren mit einem massiven Imageverlust im Arbeitsalltag konfrontiert ist, steht ausser Frage.6 Dieser Verlust begünstigt das wachsende Misstrauen der Privatanleger und führt zu einer fortschreitenden Erosion des Kundenvertrauens. Das Negativimage der Branche wird zusätzlich durch immer neue Skandale eher noch verstärkt. Die Bandbreite der Vorfälle ist bekanntlich vielfältig. Exemplarisch sei auf den prominenten Fall der Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz hingewiesen, wo dem Vermögensverwalter7 und der kooperierenden Privatbank gravierende 4 5

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Zur besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung von weiblichen und männlichen Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei Geschlecht. Die vom boomenden US-amerikanischen Immobilienmarkt verursachte weltweit Finanzkrise ist als Folge der Niedrigzinspolitik der US-Zentralbank (Fed) und der massiven Verschlechterung der Kreditvergabestandards durch die US-amerikanische Regierung anzusehen. Infolgedessen wurde eine Vielzahl von „faulen“, d.h. höchst ausfallgefährdeten Hypothekenkrediten („Subprimes“) in derivative Finanzanlageprodukte (sogenannte „Giftpapiere finanzschwacher Schuldner“) umgewandelt und an institutionelle wie auch private internationale Kapitalanleger verkauft, wodurch die Finanzinstitute sich der grossen Kreditausfallrisiken entledigen konnten (Heeg, Susanne: Spekulationsblase, in: Marquardt, Nadine/Schreiber, Verena (Hg.): Ortsregister. Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart, Bielefeld 2012, S. 256–261). Vgl. Heid, Thomas J.: Der Anlagekapitalismus lebt. Wie selbständige Finanzberater die Wirtschaftskrise überstehen, in: Götz, Irene/Huber, Birgit/Kleiner, Piritta (Hg.): Arbeit in neuen Zeiten. Ethnografien zu Ein- und Aufbrüchen, München 2010, S. 103–122. Die Berufsgruppe der Vermögensverwalter unterscheidet sich von der Gruppe der Bankberater dahingehend,

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Falschberatung, erheblicher Vertrauensmissbrauch sowie Selbstbereicherungsabsichten vorgeworfen wurden.8 Zweifelhaften und meist illegalen Geschäftspraktiken sind sowohl deutsche als auch schweizerische Banken gefolgt. Vermehrt sind altehrwürdige und bisher als besonders vertrauenswürdig gerühmte Bankinstitute in ganz Europa in derartige Vorfälle involviert, wie etwa der Skandal um Cum-Ex-Geschäfte, in den die Basler Privatbank J. Safra Sarasin als federführende Akteurin verwickelt war, zeigt.9 Für Schweizer Bankinstitute kommt erschwerend hinzu, dass mit dem faktischen Ende des Schweizer Bankgeheimnisses für nicht-schweizerische Anleger infolge des automatischen Informationsaustauschs von Kontodaten10 und des Wegfalls der damit verbundenen Vorzüge, etwa Anonymität der Vermögensallokation und des wirtschaftlich Begünstigten, zusätzlich auch das Vertrauen in das bis dato als unerschütterlich und höchst diskret geltende Swiss Banking erodiert. Steigende administrative und technologische Kosten etwa wegen der Umsetzung unzähliger Regulatorien im Zuge der Reformen des Kapitalmarktrechts in der EU und in den USA11, der sich vollziehende Generationswechsel bei der Anlagekundschaft, sich verändernde Kundenbedürfnisse, die fortschreitende Digitalisierung und Automatisierung der Anlageberatung (Stichwort „Robo-Advisor“12) und immer preissensiblere Kunden stellen die Banken vor zusätzliche Herausforderungen. All dies verschlechtert die ohnehin schon

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dass das Unternehmen, für welches diese Verwalter tätig sind, nicht über eine Banklizenz nach den Richtlinien des Schweizerischen Bankengesetzes der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (FINMA) oder des deutschen Kreditwesengesetzes (KWG) verfügt. Vgl. z.B. „Richter machen Schickedanz wenig Hoffnung auf Milliarden“, http://www.spiegel.de/wirtschaft/ unternehmen/schickedanz-prozess-gegen-sal-oppenheim-a-873626.html (08.01.2017). Vgl. z.B. „Umstrittene Cum-Ex-Geschäfte. Steuertricks und kein Ende“, http://www.nzz.ch/wirtschaft/wirtschaftspolitik/steuertricks-und-kein-ende-1.18675536 (12.01.2017). Ab dem 01. Januar 2017 erfolgt der automatische Informationsaustausch (AIA) von steuerrelevanten Bankdaten zwischen der Schweiz, den USA und der EU nach dem im März 2014 beschlossenen Meldestandard der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Vgl. https://www.oecd.org/ ctp/exchange-of-tax-information/standard-fur-den-automatischen-informationsaustausch-von-finanzkonten.pdf (09.01.2017). Vgl. „Market in Financial Instruments Directive“ (MiFID), http://ec.europa.eu/finance/securities/isd/mifid/ index_de.htm (07.01.2017); „Foreign Account Tax Compliance Act“ (FATCA), https://www.irs.gov/businesses/corporations/foreign-account-tax-compliance-act-fatca (07.01.2017). Hinter dem Begriff „Robo-Advisor“ verbirgt sich die computergestützte, auf Algorithmen basierende, teil- bis vollautomatisierte Vermögensberatung und -verwaltung. Diese kann vom Self-Service-Robo, bei dem Anlagevorschläge automatisch unterbreitet werden, aber der Anleger weiterhin eigenständig Entscheidungen trifft, über den Half-Service-Robo, bei dem der Anleger den Vorschlägen des Robo-Advisor zustimmen muss, bis hin zum Full-Service-Robo, bei der die Anlageverwaltung vollkommen digitalisiert und der Anleger nicht mehr einbezogen ist, reichen. Vgl. „Robo-Advisor“: Was die automatisierte Vermögensverwaltung taugt“, https://www.test.de/Robo-Advisor-Was-die-automatisierte-Vermoegensverwaltung-taugt-5107535-0/ (12.01.2017).

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leidende internationale Wettbewerbsfähigkeit des Swiss Banking. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen steht im Arbeitsalltag heutiger Private Banker das permanente Herstellen und Bewahren von Vertrauen sowie Glaubhaftmachen der Renditeversprechen ihrer oft detailliert informierten, teils sehr fachkundigen und kritischen Kunden13, die zugleich einen erhöhten Transparenzanspruch gegenüber den nicht risikofreien Finanzprodukten formulieren, immer stärker im Fokus. Neben der sinnlich-ästhetischen Arbeit im Zusammenwirken mit bestimmten Architekturen und Atmosphären geschieht dies durch eine gezielte „doppelte Emotionsarbeit“14, die sowohl die Arbeit an den eigenen Gefühlen des Beraters, der selbst von seinen Produkten überzeugt sein und seine Kunden und deren Bedürfnisse möglichst genau kennen und schätzen soll, als auch an denen des Gegenübers meint. Beides ist in hohem Maße für das Ausformen einer stabilen, im Idealfall lebenslangen, persönlichen Bindung der Kunden an die Berater und für ein erfolgreiches Agieren am Markt unumgänglich, so lautet die Logik im Private Banking. Wie sehr Vertrauen in die meist von Bank und Kundenberater als „sicher“ und „chancenreich“ umworbenen Anlagepraktiken insbesondere von einer „atmosphärischen“, emotionalen Passung (Matching) zwischen Berater und Kunde abhängt, von der geschliffenen Rhetorik in den Beratungsgesprächen und von hergestellter Sympathie, zeigt das folgende Beispiel, eine Vignette, die aus meiner bisherigen Forschungsarbeit entstanden ist: Eine Klein-Unternehmerin, die ein alteingesessenes Handwerksgeschäft im Rhein-Main-Gebiet in der Nähe von Frankfurt führt, wählt für die Anlage ihres über viele Jahrzehnte mühsam erarbeiteten und eisern ersparten Vermögens eine prestigeträchtige schweizerische Privatbank mit Hauptsitz an der prachtvollen Bahnhofstrasse in Zürich aus. Obwohl sie kaum Kenntnis über Finanzprodukte besitzt, Finanzanlage für sie eine Blackbox darstellt und die 65-jährige Dame zudem höchst skeptisch gegenüber Renditeversprechen ist, entscheidet sich die Laiin, wie sie im Gespräch stolz betont, für das Erfolg und Prosperität ausstrahlende feine Bankhaus. Ausschlaggebend für ihre Bankwahl sind etwa die exponierte Lage des Geldhauses und das mit hochkarätigster Kunst bestückte und mit feinsten Materialien ausgestattete exklusive Innere, welches eine gehobene und vor der Aussenwelt angenehm schüt13 Anlagekunden rezipieren zunehmend die populärwissenschaftlichen Publikationen, welche ungeschönte Einblicke in abgeschottete Bereiche der Banken- und Finanzwelt, meist das Investmentbanking, eröffnen und hierbei skandalträchtige Machenschaften der Branchenakteure aufdecken (vgl. z.B.: Dill, Alexander (Hg.): Der große Raubzug, München 2009; Harrington, Brooke (Hg.): Capital without Borders. Wealth Managers and the One Percent, Cambridge 2016). 14 Hochschild, Arlie Russell (Hg.): Das gekaufte Herz. Zur Kommerzialisierung der Gefühle, Frankfurt a. M. u.a. 1990, hier S. 29–31.

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zende Atmosphäre bietet. Lage und Ausstattung der Bank dienen der Kundin als verlässliche Indizien für lukrative Geschäfte, von denen sie sich erhofft, profitieren zu können. Auch der sehr respektvolle, herzlich wertschätzende und ihren Aufstieg von einer einfachen Büroangestellten zur erfolgreichen Unternehmerin würdigende Umgang ihres „Private Bankers“15 imponiert ihr. Der langjährige, ihr bestens vertraute persönliche Kundenberater offeriert der Unternehmerin als Zeichen seiner Anerkennung wiederkehrend Einladungen zu besonderen Events, etwa in St. Moritz oder auf der Art Basel, zu denen sie ihm immer wieder gerne folgt. Diese Einladungen erfüllen die Kundin in doppelter Hinsicht mit Freude und Stolz. Einerseits vermitteln ihr die Offerten des Beraters das Gefühl, wertgeschätzte Kundin des Bankhauses zu sein, andererseits erhält sie auf diese Weise Zugang zu einem ausgewählten internationalen Personenkreis, der den meisten verwehrt bleibt. An prominenten Orten mit besonderer Atmosphäre, bei feinem Essen und edlen Getränken, Vorträgen von illustren Rednern und anschliessenden Gesprächen unter Gleichgesinnten wird für sie der vollzogene gesellschaftliche Aufstieg am eigenen Leib spür- und vor allem intensiv geniessbar. Das Beispiel verdeutlicht, dass es, um die Logiken der Finanzberatung im Private Banking und ihr „Funktionieren“ in der Praxis zu verstehen, einer umfassenden mikroskopischen Perspektivierung auf die Praktiken des emotionalen Berührens und empathischen Herstellens von Vertrauen in Gesprächen innerhalb des Bankambientes und im Rahmen von besonderen Anlässen bedarf. Der ethnographische Ansatz der Kulturanthropologie ist bestens geeignet, die spezifische Emotions- und Vertrauensarbeit als Arbeit mit und durch ästhetische (Selbst-)Inszenierungen verstehend zu beschreiben und stösst damit zugleich in eine Lücke des derzeit viel beachteten Feldes der ästhetischen Ökonomie im Rahmen der neueren Debatten um die Ästhetisierung des Gesellschaftlichen, in der Brandings und kommodifizierte Gefühle zu bedeutenden Geschäftsfaktoren werden. Anhand eines schweizerischen und deutschen Samples untersuche ich die vielfältigen materiellen und immateriellen Arbeitspraktiken von Kundenberatern, die im Private Banking beschäftigt sind bzw. waren. Die Untersuchungsgruppe umfasst ebenso Anlagekunden in der Schweiz und in Deutschland sowie Branchenexperten, zu denen beispielsweise bankeigene Kuratoren oder beauftragte Innenarchitekten gehören. Meine Forschungsarbeit ist dabei von der zentralen These geleitet, dass die in einer ästhe15 Die hier fokussierten Bankberater des Private Banking werden üblicherweise als Kundenberater oder Kundenbetreuer, seltener als Customer-Relationship-Manager und meist nur umgangssprachlich als Private Banker bezeichnet.

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tischen Ökonomie16 relevant gewordenen Formen von Emotions- und Vertrauensarbeit nicht nur die Beratungsarbeit im engeren Sinn, sondern wesentlich auch die Gestaltung der verräumlichten Atmosphären der Banken und das weitere Berufsbild und Handeln der Kundenberater auch ausserhalb ihres engeren Arbeitsplatzes bestimmen. Die Herstellung von Vertrauen ist hier in mannigfaltiger Form als ästhetische Arbeit materialisiert, die darauf abzielt, Dingen und Menschen eine spezifische Ausstrahlung zu verleihen und sie mit einer vertrauensstiftenden Atmosphäre zu versehen bzw. zu umgeben.17 Diese Kommodifizierung von Vertrauen in Arbeitspraktiken und Arbeitsplatzgestaltungen kann als ein zunehmend zu beobachtendes Phänomen angesehen werden. Aus kulturanthroplogischer Sicht wurde die Arbeit am Vertrauen von Privatanlegern als Form emotionaler und ästhetischer Arbeit bisher noch nicht beforscht. Doch erscheint dies einerseits vor dem Hintergrund der anhaltenden Finanzkrise, die in ihrem Kern als eine tiefgreifende Vertrauenskrise gegenüber der gesamten Banken- und Finanzbranche anzusehen ist, erforderlich zu sein.18 Andererseits ist es in Zeiten eines aufstrebenden „Ästhetischen Kapitalismus“19, in dessen Zentrum die Produktion einzigartiger Erlebnisse und das steigende Bedürfnis nach Befriedigung stehen, und vor dem Hintergrund der damit einhergehenden allumfassenden, ökonomisch grundierten Ästhetisierung des Gesellschaftlichen notwendig, Finanzanlageberatung als vielschichtige kulturelle Praxis neu zu konzeptualisieren. Finanzberatung und Anlageverhalten werden, ähnlich wie Konsum(verhalten), entscheidend von Bildern, Metaphern, Affekten, Emotionen und Imaginationen durchdrungen und mitgestaltet.20 Um die kulturellen Praktiken der Finanzanlageberatung verstehen zu können, ist es erforderlich, diese 16

Vgl. auch Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Sichtbarkeitsordnung. Vom disziplinären Blick zu den kompetitiven Singularitäten, in: Soziopolis. Gesellschaft beobachten, 28.09.2015, http://www.soziopolis.de/ beobachten/kultur/artikel/die-transformation-der-sichtbarkeitsordnungen/ (12.01.2017). 17 Vgl. hierzu auch Böhme, Gernot: Zur Kritik der ästhetischen Ökonomie, in: Maase, Kaspar (Hg.): Die Schönheiten des Populären, Frankfurt a. M. 2008, S. 28–41, hier S. 29. 18 Farmer, Karl: Wem darf man Vertrauen? Den Finanzmärkten oder den Staatschefs?, in: Farmer, Karl/Jung, Harald/Lachmann, Werner (Hg.): Wirtschaftskrisen und der Vertrauensverlust in Wirtschaft und Politik. Ist das Vertrauen im christlichen Ethos wiederzugewinnen?, Münster 2014, S. 109–136, hier S. 109; Tanner, Jakob: Die Währung der Finanzmärkte ist Vertrauen. Nachhaltigkeit und Hinterhältigkeit eines mentalen Phänomens in historischer Perspektive, in: Baberowski, Jörg (Hg.): Was ist Vertrauen? Ein interdisziplinäres Gespräch, Frankfurt a. M. u.a. 2014, S. 73–100. 19 Vgl. Böhme, Gernot (Hg.): Ästhetischer Kapitalismus, Berlin 2016, S. 29; Reckwitz, Andreas (Hg.): Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012, S.11. 20 Illouz, Eva: Emotionen, Imaginationen und Konsum. Eine neue Forschungsaufgabe, in: Drügh, Heinz/Metz, Christian/Weyand, Björn (Hg.): Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Berlin 2011, S. 47–91, hier S. 49–50.

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aus der Alltagsperspektive der jeweils beteiligten Akteure heraus nachzuzeichnen sowie anhand von einzelnen Situationen und individuellen Kunden- und Beraterperspektiven ethnographisch zu untersuchen. Wie sich Emotions- und Vertrauensarbeit konkret in den Interaktionen des Beraters ausgestalten und wie sie sich auch in Architekturen und Interieurs materialisieren, atmosphärisch für Kunden erlebbar werden und vertrauensstiftend wirken, ist die zentrale Fragestellung meiner Forschungsarbeit. Zur theoretischen Fundierung des Phänomens „Vertrauen“ können hierbei vor allem Konzepte herangezogen werden, die die Milieu- und Situationsspezifik der Vertrauensgenese und ihre Abhängigkeit von individuellen Sozialisationserfahrungen der Vertrauensgeber berücksichtigen.21 Vertrauen zeichnet sich durch eine affektiv intuitive Dimension aus – es ist ein Gefühl einer Person.22 Zugleich kann Vertrauen aber auch als ein soziales Zuschreibungsphänomen etwa in Form einer Verlässlichkeitserwartung gegenüber dem zukünftigen positiven Verhalten von Personen oder Institutionen definiert werden.23 Folglich kann sich Vertrauen einerseits in Form von systemischem bzw. institutionellem Vertrauen, im hiesigen Forschungskontext also in eine Bank aufgrund ihres Images, ausbilden. Andererseits kann es ebenso als (inter-)personales Vertrauen, z.B. in den persönlichen Kundenberater aufgrund gemeinsam geteilter Wertvorstellungen und dem gegenseitigen Empfinden von Sympathie, entstehen.24 Bei der Gewinnung und Bewahrung von Vertrauen nehmen die spezifischen Praktiken zum Hervorrufen von Vertrautheitsempfinden eine wesentliche Funktion ein. So gelingt es Banken und ihren Mitarbeitern etwa gezielt mittels immer gleichen und somit vertrauten Handlungsabläufen im Rahmen von Treffen oder durch den Einsatz bekannter Kunst- und Einrichtungsgegenstände bei ihrer Kundschaft Vertrautheit und Wohlbefinden zu evozieren.25 Um dem spezifischen Zusammenwirken und der Verzahnung von Affekt, Raum, Atmosphäre und Interaktionspraxis bei der Vertrauensproduktion auf die Spur kom21 22 23

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Z.B. Endreß, Martin (Hg.): Vertrauen, Bielefeld 2002; Luhmann, Niklas (Hg.): Vertrauen. Ein Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 2000. Vgl. Frevert, Ute: Vertrauen. Historische Annäherungen an eine Gefühlshaltung, in: Bethien, Claudia/Fleig, Anne/ Kasten Ingrid (Hg.): Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln u.a. 2000, S. 178–197. Endreß, Martin: Vertrauen und Vertrautheit – Phänomenologisch-anthropologische Grundlegung, in: Hartmann, Martin/Offe, Claus (Hg.): Vertrauen. Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt a.M. u.a. 2001, S. 161–203, hier S. 165–166; Gambetta, Diego: Kann man dem Vertrauen vertrauen?, in: Hartmann/ Offe (Hg.), Vertrauen, S. 204–237, hier S. 210. Vgl. z.B. Roth, Klaus: Trust, Networks, and Social Capital in the Transformation Countries. Ethnological Perspectives, in: Roth, Klaus (Hg.): Soziale Netzwerke und Soziales Vertrauen in den Transformationsländern. Ethnologische und soziologische Untersuchungen, Berlin u.a. 2007, S. 7–20. Endreß, Vertrautheit, S. 166–167; Luhmann, Niklas: Vertrautheit, Zuversicht, Vertrauen. Probleme und Alternativen, in: Hartmann/Offe (Hg.), Vertrauen, S. 143–160, hier S. 143–146.

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men zu können, ist der Rückgriff auf neuere Theoretisierungen von Architektur als „Medium des Sozialen“ und auf die Überlegungen zur Externalisierung, Objektivation und Internalisierung sozialer Strukturen durch Architektur dienlich.26 Den Ausgangspunkt für das Verständnis von architektonischen Räumen bildet eine relativistische Raumkonzeption, die Menschen, Handeln und Materialität im Prozess der Raumkonstitution miteinander verknüpft.27 Eine phänomenologische Sichtweise auf (räumliche) Architekturen ermöglicht dabei, deren subjektive Wahrnehmbarkeit und atmosphärisch vermittelte affektive Erlebbarkeit durch das spezifische Zusammenwirken verschiedener Sinnesmodi zu untersuchen.28 Untermauert wird dieses Verständnis mit Böhmes Atmosphären-Konzept29. Atmosphären sind demnach an architektonische Gestaltungen geknüpft und breiten sich durch affizierende Stimmungen aus, die mittels leiblichen Spürens während des Sich-Befindens in diesen subjektiv erfahrbar werden.30 Die bisher durchgeführten teilnehmenden Beobachtungen liefern Anhaltspunkte dafür, dass auch Formen, Farben und Oberflächentexturen oder Gerüche und Geräusche von Banken gezielt zur atmosphärischen Gestaltung genutzt werden und dabei mitwirken, Kunden leiblich zu affizieren und ihr Vertrauen zu gewinnen.31 Die nachfolgende Vignette über die spezifische Interieurgestaltung des Eingangsbereichs einer Zürcher, ausschliesslich im Private Banking und Wealth Management32 tätigen Bank soll abschließend einen beispielhaften Eindruck von der ethnographischen Form der dichten Beschreibung im Sinne von Clifford Geertz ver26 27 28

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Vgl.: Delitz, Heike (Hg.): Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen, Frankfurt a.M. 2010; Steets, Silke (Hg.): Der sinnhafte Aufbau der gebauten Welt, Berlin 2015. Vgl. Löw, Martina (Hg.): Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001. Vgl. Janson, Alban: Räumliche Erstrecktheit, in: Wolkenkuckucksheim. Internationale Zeitschrift für Theorie der Architektur 18/31 (2013), S. 237–249, http://cloud-cuckoo.net/fileadmin/hefte_de/heft_31/artikel_janson.pdf (12.01.2017). Böhme, Gernot (Hg.): Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995. Vgl. z.B.: Anderson, Ben: Affective Atmospheres, in: Emotion, Space and Society 2 (2009), pp. 77–81; Egger, Simone: Stadt, Ästhetik und Atmosphäre. Dimensionen der Wahrnehmung im urbanen Raum, in: Götz, Irene u.a. (Hg.): Europäische Ethnologie in München. Ein kulturwissenschaftlicher Reader, Münster u.a. 2015, S. 137–165. Anregungen dazu finden sich etwa bei Beck, Stefanie/Müller, Sandra Alica: Das Geräusch des Aufzuges und der Duft nach Pfeife. Sinnliche Wahrnehmungen von Vergangenheit und Gegenwart, in: Bauer, Katrin/Franken, Lina (Hg.): Räume | Dinge | Menschen. Eine Bonner Kulturwissenschaft im Spiegel ihrer Narrative, Münster 2015, S. 121–137, hier S. 129; Largey, Gale Peter/Watson, David Rodney: The Sociology of Odors, in: American Journal of Sociology 77 (1972), pp. 1021–1033, here p.1031; Porteous, J. Douglas: Smellscape, in: Progress in Physical Geography 9/3 (1985), pp. 356–378. Im Wealth Management wird Anlagekunden ein im Gegensatz zum Private Banking umfassenderes Dienstleistungs- und Produktspektrum angeboten. Dies beinhaltet etwa auch die Vorsorge- und Nachlassplanung oder das Management der Verbindlichkeiten sowie Beratungs- und Koordinationsarbeit an der Schnittstelle zwischen Banking, Recht und Steuern durch den persönlichen Kundenbetreuer.

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mitteln, mit der sich Atmosphäre im Zusammenspiel mit den Interaktionen der Akteure verdeutlichen lässt: Sobald sich die satinierten Glastüren des Eingangs sanft und geräuschlos geschlossen haben, befindet sich der Bankkunde in einem ganz eigenen Kosmos: Es herrscht beinahe absolute Stille, das Servicepersonal bewegt sich elegant aufeinander abgestimmt durch die Lobby, als hätten alle Beteiligten eine perfekte Choreographie einstudiert. Der edle, indirekt beleuchtete Empfangsbereich präsentiert sich in warmen champagnerfarbenen und terrakotta-roten feinen Pastelltönen. Der Boden ist mit seltenem wunderschön gemasertem grau-bräunlichen Marmor belegt. Die filigran geschwungene Rezeption aus rötlich schimmerndem Holz, dunklem Naturstein und einer mit dunkelbraunem Leder bezogenen Ablagefläche lädt den Besucher ein, angefasst und bewundert zu werden. Jeder Kunde wird mit gleichem Prozedere aufmerksam und zurückhaltend zugleich von einer der drei Empfangspersonen willkommen geheissen und umgehend telefonisch beim persönlichen Bankberater angemeldet. Eine sich währenddessen unauffällig nähernde Person, die entsprechend dem Corporate Design des Bankhauses in dezentem dunklen Anzug mit blauer Krawatte gekleidet ist, nimmt den Besucher gekonnt selbstverständlich und freundlich in Obhut und geleitet ihn mit vorzüglicher Höflichkeit einen Schritt vorausgehend und ihm zugleich halb zugewandt zum reservierten Besprechungszimmer. Die schwere schalldichte Tür klackt leise und dumpf ins Schloss und der Besucher wartet auf die Servicedame zur Getränkeorder. Im Besprechungszimmer herrscht eine wohltuende wohnliche Atmosphäre: Ein hochfloriger, weicher, hellgrauer und ein wenig crèmefarben schimmernder Teppich auf mattem Schiffsparkett, blickdichte eierschalenfarbene Gardinen, die meistens die Sicht nach draussen versperren, gedämpfte indirekte Beleuchtung sowie eine geräuschlose und unsichtbare Klimatisierung respektive Heizung gehören zur Standardausstattung jedes der etwa 20 sich ähnelnden Besprechungsräume. In der Mitte des Zimmers ist ein gerundeter Besprechungstisch mit dicker, hochglanzpolierter dunkler Echtholzplatte platziert, der einem Esstisch gleicht und von schweren, mit dickem ockerfarbenen feingenarbten Leder bezogenen freischwingenden Sesseln mit verchromten Kufen umgeben ist. Komplettiert wird die Raumausstattung mit einem unauffälligen schmalen Sideboard in matt hellgrauem Lack, auf dem verschiedene Wassersorten, langstielige Gläser und papierne Untersetzer, allesamt auf einem Silbertablett stehend, platziert sind. In der Mitte des Möbelstücks liegt eine Unternehmensbroschüre und rechts daneben stehen ein Telefon und eine italienische Tischlampe. Über dem Sideboard hängt üblicherweise ein ausgewähltes Bild eines namhaften internationalen Künstlers.

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Nachdem die fein zubereiteten Getränke in edlem Geschirr von der Servicedame formvollendet serviert wurden, klopft es abermals kurz und gedämpft an die Tür. Es dauert eine Sekunde, dann betritt der Berater den Raum. Er ist eine elegante, dynamisch wirkende Erscheinung, Mitte 40, gross und schlank. Er trägt eine dunkle Hornbrille, einen mittelgrauen, etwas gröber gewebten, tailliert geschnittenen und schicken Wollanzug, die Hosenbeine nicht allzu lang geschnitten, damit die schwarzen rahmengenähten Oxfords zur Geltung kommen, ein weisses Hemd mit kleinem Kragen und Umschlagmanschette sowie eine dunkle schmälere, modische Krawatte. Mit zielstrebigem und zugleich leichtem Schritt, seine dunkle lederne Arbeitsmappe gekonnt lässig unter den Arm geklemmt, geht er auf den Kunden zu und begrüsst diesen herzlich zum halbjährlichen „Beratungsgespräch“, das in gewohnt entspannter Routine und heimischer Atmosphäre beginnt. Das Interesse der Kulturwissenschaften am Ökonomischen als Forschungsperspektive hat in den letzten Jahren merklich zugenommen.33 Die europäisch ethnologischen Kulturwissenschaften haben in den vergangenen Jahren hierzu mehrfach beigetragen. Meine Forschungsarbeit schliesst hier an. Infolge einer neoliberal gewendeten Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik des „aktivierenden Sozialstaats“34 gewinnt die private, eigenverantwortliche Finanzplanung mit Altersvorsorge-Absicherung an Bedeutung.35 Von daher erscheint es für immer mehr Menschen, unabhängig von der Höhe ihrer verfügbaren finanziellen Mittel, attraktiv zu sein, aktiv und vorsorglich Geld professionell mithilfe von Bankberatern anzulegen, um zu sparen, Rücklagen für das Alter zu bilden oder um solche Lebensrisiken zu versichern, die in Zeiten des fordistischen Sozialstaates durch staatliche Sicherungssysteme abgesichert waren. Jedenfalls argumentieren einschlägige Beratungsinstitute des privatwirtschaftlichen Finanzsektors mit entsprechenden Logiken, die es zu reflektieren, in ihrer Machart und Ausprägung zu dekonstruieren und damit auch aufklärerisch wirksam zu wenden gilt. Ausserdem sind durch die dichten Beschreibungen des Zusammenspiels von Raum-Atmosphären und den Praktiken der Vertrauensarbeit zentrale Erkenntnisse im Schnittfeld einer Kulturanth-

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Meyer, Silke: Mehr braucht‘s nicht. Kapitalsorten und ihre Konvertierung, in: Klein, Inga/Windmüller, Sonja (Hg.): Kultur der Ökonomie. Zur Materialität und Performanz des Wirtschaftlichen, Bielefeld 2014, S. 131– 148, hier S. 132. 34 Götz, Irene/Huber, Birgit: Transformationsgewinner oder Transformationsverlierer? Wie Wirtschaftskrise und Flexibilitätsregimes auf Gestaltungschancen Einfluss nehmen – Zur Einführung, in: Götz/Huber/Kleiner (Hg.), Arbeit, S. 11–21, hier S. 12. 35 Vgl. Lessenich, Stephan (Hg.): Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld 2008.

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ropologie von Emotionen36 und ihrer Kommodifizierung einerseits und der Arbeitsethnographie in einem bislang noch wenig beforschten Berufsfeld andererseits zu erwarten. In theoretischer Hinsicht werden sich hier Studien zu Raum, materieller Kultur und habituellen Orientierungen sowie einer branchenspezifischen Praxeologie verzahnen und zugleich den Blick auf Räume als „Aktanten“ und damit aktive Gestalter von emotionalisierter Vertrauensarbeit schärfen. Vielleicht können die Erkenntnisse des Forschungsprojekts überdies zur Etablierung einer „Ethnologie der modernen Finanz- und Wirtschaftswelt“ beitragen und hierzu Bausteine liefern.37

36 Vgl. Scheer, Monique: Are Emotions a Kind of Practice (and is that what makes them have a History)? A Bourdieuian Approach to Unterstanding Emotion, in: History and Theory 51 (2012), pp. 193–220. 37 Vgl. Goldinger, Heiner: Zur Ethnologie moderner Finanz- und Wirtschaftswelt. Aufruf zur Etablierung eines neuen Forschungsschwerpunkts, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 105 (2009), S. 171–191.



SCHOLEM IN SWITZERLAND David Biale

Between May 1918 and September 1919, Gershom Scholem, who would later become one of the greatest Jewish scholars of the twentieth century, lived in Bern, Switzerland. Although this was a relatively short period of time, it represented, when Scholem was age twenty and twenty-one, a crucial turning point in both his intellectual and emotional development.1 It was there that his friendship with Walter Benjamin underwent a decisive transformation and also where he finally found romantic stability in his relationship with Escha Burchhardt. And it was also there that he arrived at the fateful decision to undertake a doctorate on Kabbalah. Switzerland represented for him a unique haven: German-speaking but not German. The distinction is important because Scholem never abandoned his love for his mother tongue, even as he rejected vehemently the largest country in which it was spoken. His feelings for Switzerland continued throughout his life. He returned there from 1949 on almost a yearly basis to participate in the Eranos Conferences in Ascona and he also loved to vacation, like so many other cosmopolitan intellectuals, in Sils Maria in the Upper Engadin. In this essay, I will focus on Scholem’s youthful sojourn in Switzerland and its role in the future direction of his life. Scholem chose to leave Germany for Switzerland first and foremost because Walter Benjamin and his wife Dora had moved there the previous year after Walter was released from the German draft. But he had good reasons of his own for leaving Germany. As early as 1914, he had taken an uncompromising position against the war and had bitterly criticized the mainstream German Zionists for their pro-war politics.2 Zionism for him required the total rejection of Germany. In the summer of 1917, Scholem spent nearly two months in a military hospital in Allenstein undergoing psychiatric observation. In his later memoir, From Berlin to Jerusalem, he claims, as he did to his friend Aharon Heller at the time, that he had faked psychosis in order to win 1

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In addition to the letters and diaries noted below, the other key texts for this period in Scholem’s life are his Von Berlin nach Jerusalem, Frankfurt 1977, p. 137–148; Walter Benjamin: Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt 1975, p. 69–110. See also Kneubühler, Monika: Die Universität Bern als Wirkungsort und Durchgangsstätte jüdischer Philosophen, in: Bloch, René, Picard, Jacques (Hg.): Wie über Wolken: Jüdische Lebensund Denkwelten in Stadt und Region Bern, 1200–2000, Zürich 2014, S. 282–288; Eiland, Howard/Jennings, Michael W.: Walter Benjamin: A Critical Biography, Cambridge, MA 2104, pp. 101–114. See Biale, David: Gershom Scholem: Kabbalah and Counter-History, Cambridge, MA 1979, chapter 3.

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a discharge from the German army. While there is some reason to doubt that this was the case, he still persuaded the chief psychiatrist, Karl Abraham (one of Freud’s closest disciples) to diagnose him as suffering from dementia praecox (an early term for schizophrenia).3 While he awaited the final determination of his status, he enrolled at the University of Jena for the academic year 1917–1918, shortly before his twentieth birthday. As his memoir attests, this was a period of intensive study of philosophy and mathematics, but also intense relationships, mainly with women. Since Scholem was one of the few men at the university – the rest being in uniform – he developed passionate friendships with a wide variety of female students. Some of these may have been romantic, at least from his side and perhaps from theirs. But the most important – although unmentioned in his later memoir – was with Grete Brauer, the sister of his childhood friend, Erich Brauer, and, like her brother, a member of the Jung Juda Zionist youth group. While this is not the place to describe in detail this romance,4 it is crucial to give a brief summary since it would play a decisive role in Scholem’s Swiss period. In late 1917 and into 1918, Scholem developed an intense romantic attachment to Brauer, which found expression in a number of overwrought letters. Brauer did not reciprocate his feelings. In March 1918, he went to Berlin in secret to meet with her. The meeting ended in what he described as an “abysmal explosion”. Deeply wounded at her rejection of him, he desperately needed to get away, an opportunity now provided by his final discharge from the German army. The move to Switzerland was therefore not only political but also the consequence of this failed romance. In his memoir, Scholem describes his “euphoria” in crossing the border over Lake Konstanz on his way to Switzerland. He was going to live in close proximity to Walter and Dora. Scholem’s relationship with Walter Benjamin is well known, but perhaps less well known are the extraordinary emotions he invested in it. On his twentieth birthday, December 5, 1917, he wrote in his diary: “Today midday, as I was just sitting and always thinking about Walter and yearning for him and wondering why he doesn’t write, then a short express letter arrived from him.” This letter, he says, made him happier than anything in his life. Benjamin wrote him in appreciation of his response to an essay Benjamin had written on Dostoyevsky’s The Idiot. Despite what may seem as the purely intellectual nature of this missive, Benjamin makes clear that he had severed his ties with most people, but not Gerhard (Scholem’s given German name), with whom 3 4

See Triendl-Zadoff, Mirjam: Der rote Hiob: Das Leben des Werner Scholem, München 2014. A more detailed version will appear in the third chapter of my biography of Gershom Scholem, forthcoming with Yale University Press.

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he is now in the deepest affinity. Scholem writes in his diary: “Walter, dear Walter, I thank you out of my deepest soul, so deep that I will never be able to express this thanks.”5 A half year later, by now in Switzerland, he returns to Benjamin’s letter and calls its ten lines “the only perfect letter I have received in my life”.6 And sixty years later, he includes the full text of Benjamin’s letter in his memoir, From Berlin to Jerusalem, although he removes reference to the gushing emotions that nevertheless clearly continued to reverberate for the rest of his life. Even before his journey to Switzerland, Scholem had clearly transferred his feelings about Walter to Dora, keeping a picture of the two of them on his desk in Jena (he was the only non-relative to attend their wedding in April 1917). When their son Stefan was born, he was overwhelmed with joy, as if it were his own son or, perhaps, brother. Oddly enough, though, it was not until 1921, long past the Swiss period, that he began to address Walter and Dora with the familiar du, even though he was on that basis much earlier with other friends, such as Werner Kraft, not to speak of his comrades from Jung Juda. In later years, Scholem came to reflect on the emotional nature of his relationship with Walter and Dora during the Swiss period: Was it (as it sometimes seems to me in retrospect) that three young passionate, gifted people who were almost completely dependent on one another and were seeking the road to maturity had to use one another as release mechanisms in the private sphere? Were there in this ‘triangle,’ of which we were unaware, unconscious emotional inclinations and defenses that had to be discharged but which we were not able to recognize in our ‘naiveté’, that is, owing to our lack of psychological experience? I could not answer these questions even today.7

Later, he writes of Dora’s diagnosis of her husband that “Walter’s intellectuality impeded his libido”8 and that other women who knew Benjamin, all testified that he was not attractive to them as a man. One said that for her and her female friends, he did not even exist as a man. His attraction lay solely in his unique intellect and way of conversation. This, in fact, seems to have been true for Scholem as well, but it is noteworthy that he felt moved to interview Benjamin’s female friends on the question of his sexuality. 5 6 7 8

Scholem, Gershom: Tagebücher, 1917–1923, Frankfurt 2000, 5 December 1917. pp. 90–91. Scholem, Gershom: Tagebücher, 23 July 1918, p. 274. Scholem, Gershom: Walter Benjamin, p. 112. Scholem, Gershom: Benjamin, p. 122.

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Upon his arrival in Switzerland, Scholem initially moved into a room in the village of Muri, outside of Bern, where Walter and Dora were living. There, he and Walter devised a satirical “University of Muri” that spoofed German universities. The two now picked up the intensive conversations they had abandoned when Walter and Dora left Germany for Switzerland the previous July. However, the Swiss ménage à trois was hardly a success. Walter and Dora had screaming arguments, which he was forced to witness. He also came to realize that both Walter and Dora were fundamentally amoral, which disturbed him greatly. Dora accused Gerhard of causing disruption in their family, at times resorting to letters written in the name of her infant son Stefan. Her accusations hint that Scholem himself might have done his share of shouting. These scenes went on for over a year after he came to Switzerland. His friendship with Benjamin certainly continued – albeit with many crisis – but his utopian ideas of what it would mean to live together with Walter were shattered. Letters from only a month after his arrival suggest a bout of desperate depression. To Aharon Heller, he wrote: Never before have I been in such desperate shape […] I see no one other than Walter Benjamin and his wife. I sit completely withdrawn in my attic room above the fields – like Agnon’s Torah Scribe, minus his peace of mind. For weeks I have feared the worst and I feel crushed by a tormenting uncertainty about whether my recovery, obtained through Herculean efforts and at the most exacting price, will prove permanent. Here, of course, I can do what I want: I can work, think, take walks, or cry … I also know quite well that I would be defenseless if my genius (I cannot use a lesser word for it) were to let me down. I now live as I did last summer, which is all the more terrifying since I must now fend off real, not feigned madness.9

This is an extraordinary letter that alludes to the illness that he feigned in the military hospital but has now asserted itself as a real illness. And there is also the allusion to a sense of himself as a genius whose intellectual gifts are the antidote to his depression. The cause of this depression must have been a combination of the disastrous affair with Grete, the crisis of his relations with the Benjamins and also the lack of the companionship that was so essential to his life in Germany, as much as he wished to leave it. Throughout the period in Switzerland his diaries are full of crises and even repeated thoughts of suicide. 9

Scholem, Gershom: Briefe I, 1914–1947, München 1994, 23 June 1918, p. 161.

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Despite these mood swings, he was not ready to declare defeat in the search for love. A few weeks after his arrival in Switzerland, he writes to Meta Jahr, a member of Jung Juda with whom, it seems, he was carrying on a bit of a flirtation. Now that his relationship with Grete was definitively over, he could indulge in other possibilities. Addressing her as “liebes Kind,” he says that he writes to almost no one in Germany, except for a couple of girls. But he adjures her not to think too much about him: “In earnest, you should love entirely ‘anti-Scholemisch.’ But you do so also already.”10 In the subsequent months, he exchanged a number of quite touching letters with Meta, who, like many of the Jung Juda members, emigrated to Palestine in the early 1920s and was one of the founding members of Kibbutz Bet Zera. Many years later, Meta wrote to Scholem’s mother Betty that it was she who had toyed with a relationship with him. Whatever Scholem’s feelings may have been for Meta Jahr, a new woman appeared on the horizon. While in Heidelberg the previous January, he had met Escha Burchhardt, the daughter of an Orthodox family who was studying medicine, but found philosophy much more attractive. As was Scholem’s style, he immediately engaged her in philosophical and Zionist conversation. Escha wrote to him in the middle of March, but consumed by his tumultuous feelings over Grete, he understandably failed to answer. After the breakup with Grete, though, he responded to Escha, calling his visit to Berlin, as we have seen, an “abysmal explosion”. In July 1918, he wrote, upbraiding her for not dating her letters, perhaps already cognizant of their later importance for his historical persona. In the middle of a serious discussion of intellectual matters, he suddenly notes that her last letter “in the deepest sense” didn’t have a stamp, which “cost me significant expense”. Given Scholem’s notorious stinginess and impish sense of humor, it is hard to know whether he meant this seriously or as a joke. But he then goes on to say that he writes to elicit her “wordless silence” which is “to be encompassed in your love”.11 The theme of silence recurs in Scholem’s adolescent writing as a highly prized virtue, linked in a dialectical way to divine speech. Here, he deploys it in the service of romance. This is a surprising letter because there is no real indication of such feelings in earlier correspondence or even in his diaries. And it is also noteworthy that the letter is still written in the formal. Only in October does she write him in the familiar du, which leaves him as ecstatic, as he says, as after a first kiss. In November, he reports rereading her letters: “One is more mysterious than the other and yet there is no mystery. If she loves me, she could not

10 11

Scholem, Gershom: Briefe I, 28 May 1918, p. 157. Scholem, Gershom: Briefe I, 23 July 1918, p. 166.

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write in any other way.”12 The next month, though, everything is turned topsy-turvy. Grete comes to visit her brother Erich in Bern, throwing Gerhard into a state of extreme agitation. He refers cryptically to “the problem of Heller”, which suggests that the course that would lead to Grete’s future marriage to Aharon Heller had already been set (he also says of Aharon, “naturally I do not say his name”). In a feverish set of diary entries, he compares Grete to Escha and both of them to Dora! He now thinks that it is the role of women to renew Zionism and even speculates about their place in the messianic realm.13 He was clearly in a highly emotional state in which he could scarcely decide on whom to affix his romantic energies. A week later, though, the turmoil begins to resolve: he now realizes that his three-year infatuation with Walter and Dora is over and, while his feelings for Grete remain strong (throughout the spring of 1919, he continued to contrast her “purity” to the ethical failings of the Benjamins), he recognizes that his return to Germany, which he now sees as necessary, depends on Escha. In a highly revealing diary entry from this period, he notes that he must be feeling well since, for the last six weeks, he has not written any poetry: “When I feel well, I write no poetry. When I’m in [a state] of pure enthusiasm, I write prose […] when I’m indignant, I write a letter and when I’m in [a state] of my tikkun [perfection, wholeness], I am silent.”14 His fluctuating moods found reflection in the genre of writing he embraced and while he would never stop writing poetry, more and more of his energies would find expression in prose. In February 1919, Escha came to Bern and this visit cemented the relationship. In June, he wrote a diary entry in memory of the time they spent together during the winter: When she came to me, she didn’t love me yet, but this took only a few days. Now she wants everything she can get: to be my lover, my wife, but all she really wants is to have children. Escha is the type of mother God intended. Is it necessary for this eternal picture of motherhood to languish without children? […] But I told her I couldn’t have a lover. It’s certain that one should love her deeply; she has such a feminine movement to her.15

Even in this outburst of enthusiasm, he registers a note of ambivalence and, as would become apparent years later, the question of children would loom large. Scholem would have no children with either Escha or his second wife, Fania. Escha’s unhappi12 13 14 15

Scholem, Gershom: Tagebücher, 21 November 1918, p. 408. Scholem, Gershom: Tagebücher, 14 December 1918, p. 414. Scholem, Gershom: Tagebücher, 25 Dec. 1918, p. 424. Scholem, Gershom: Tagebücher, 21 June 1919, p. 459.

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ness in their marriage, expressed in her long affair and later marriage to Hugo Bergmann, owed no small measure to Scholem’s refusal or inability to have children; after they divorced in 1936 and Escha married Bergmann, she had two children with him. The emotional rollercoaster that Scholem experienced during his first year in Switzerland was the background to his momentous decision to devote his academic life to the study of Kabbalah. It was not a foregone conclusion that he would do a doctorate in Judaism. Well into his Swiss period, he was still considering a career in mathematics, even though he had earlier concluded that he lacked true genius in that discipline. His curriculum of study at Bern focused largely on mathematics, theoretical physics and philosophy. Much of his reading was philosophical during this period. However, he continued to immerse himself in Jewish texts as well. He found an Eastern European Jewish student, David Schklar, with whom to study Talmud and he explored the Jewish collections of the Swiss Landesbibliotek. There he found the dissertation of Micha Yosef Berdichevsky, the Jewish Nietzschean, whose own search for vestiges of vitality in historical Judaism led him, like Scholem himself later, to underground traditions of myth and mysticism. In early 1919, he was still debating his future. Göttingen University seemed the best place to pursue mathematics, but he learned from a friend that the town was deadly dull. On the other hand, Escha was in Munich, the only place with a library of Jewish manuscripts and an excellent university faculty in Semitics (although not in Jewish Studies as such). As is often the case with such decisions that appear predetermined in retrospect, extraneous factors may have played as much a role as essential ones. On May 15, 1919, he seems to have arrived at a final decision: “My passion is now for philosophy and Judaism. And I have an urgent necessity for philology.”16 Oddly, in the lines before this declaration, he confesses to incredible tiredness and inability to work. The decision for Jewish Studies seems therefore not to have been without inner turmoil, perhaps mirroring the emotional turmoil over his relationships with women. From a career point of view, Jewish Studies in general and Kabbalah in specific held no promise: there were no positions in the field in Germany and certainly not in Palestine, which had no universities. His father, Arthur, made this point to him in an acerbically-worded letter around the time he finished his dissertation.17 Mathematics was a better bet and, in fact, once he set sail for Palestine, even with a doctorate in Semitics, he expected to teach mathematics in a high school. 16 17

Scholem, Gershom: Tagebücher, 15 May 1919, p. 444. Scholem, Betty/Scholem, Gershom: Mutter und Sohn im Briefwechsel, 1917–1946, München 1989, 3 December 1921, pp. 80–81.

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Exactly when he decided to make Kabbalah his primary subject is not entirely clear. His keen interest in that esoteric discipline had been awakened years before as he filled notebooks with thoughts on the subject. In July 1919, he indicated in his diary that he wanted to write on Jewish theories of language and that this work would require studying the Zohar. The philosophical question seemingly preceded the disciplinary one. Here, we can detect the possible influence of Walter Benjamin, whose 1916 essay on divine and human language struck a chord with Scholem. In fact, Benjamin’s ideas sound very Kabbalistic, although he got them from his study of the Christian Kabbalist, Johann Georg Hamann, rather than from Jewish sources. As intrigued as Scholem was with this subject, however, he ended up deferring his essay on the Kabbalah’s philosophy of language for fifty years. Although Scholem’s letters and diaries do not provide a conclusive contemporary answer for why he decided to study the Kabbalah, there is retrospective evidence for how he understood his decision. In 1937, he sent a birthday letter to the department store magnate and patron of Jewish publishing, Salman Schocken. Schocken had already heard of Scholem in 1918 when he was a student at Jena and, after meeting him, supported Scholem’s translation work and later both his research and publications. This was one of the most enduring and consequential of Scholem’s relationships. Scholem entitled his birthday letter “A Candid Word about the True Motives of My Kabbalistic Studies”.18 He claims that his decision was not arbitrary, only that he thought his task would be much easier: Three years, 1916-1918, which were decisive for my entire life, lay behind me: many exciting thoughts had led me as much to the most rationalistic skepticism about my fields of study as to intuitive affirmation of mystical theses that walked the fine line between religion and nihilism.

It would no doubt be a mistake to assume that the conditions of Scholem’s Swiss “exile” were essential factors in turning him toward the study of Kabbalah. But it is entirely possible that the sixteen months he spent far from family and the constraints of childhood, but also in an emotional caldron in terms of his closest relationships, played an important role in his turn away from mathematics and philosophy and toward the virgin territory of Kabbalah.

18

Biale, David: Gershom, pp. 74–76.



THE PRESSBURGER TOUCH Ein ungarischer Jude im britischen Filmgeschäft Ina Habermann

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem ungarischen Juden Imre Pressburger, seinem Migrantenschicksal, seinem wichtigen Beitrag zum ‚goldenen Zeitalter‘ des britischen Films im Zweiten Weltkrieg und seiner neuen Existenz als britischer Staatsbürger. Es geht um einen Mann, der seine Fremdheit nie verlieren konnte, sie kreativ fruchtbar machte und doch zeitlebens an ihr litt.

Imre, Emmerich, Emeric Imre Pressburger wurde 1902 im ungarischen Miskoloc geboren. Seine Mutter kam aus einer Familie von Klein- und Einzelhändlern, sein Vater war Gutsverwalter. Der Bürgerssohn verbrachte seine Kindheit auf Landgütern, erst bei Miskoloc und später in der Nähe von Temesvar, sodass seine frühen Jahre von den Rhythmen des Landlebens geprägt waren. In Temesvar besuchte er schliesslich das Gymnasium und plante ein Ingenieurstudium aufzunehmen. Seine Lebensplanung erfuhr allerdings ihre erste abrupte Wendung, als Temesvar 1920 durch den Vertrag von Trianon Rumänien zugeschlagen wurde, als Tribut der im Ersten Weltkrieg unterlegenen Ungarn. Als die Rumänen begannen, die Kultur und Sprache in Pressburgers Heimat zunehmend zu verdrängen, gründete die ungarisch-jüdische Minderheit jenes Gymnasium, das Pressburger dann später besuchen konnte. Früh fiel sein Talent für Sprachen und Literatur auf; er lernte Hebräisch, Rumänisch, Ungarisch, Deutsch, Französisch, Latein und Griechisch. Ausserdem spielte er sehr gut Geige und entwickelte während seines Studiums in Prag – ein Studium in Deutschland wurde ihm zunächst verwehrt – eine intensive Liebe zum Kino. In der wichtigen Biographie Pressburgers, verfasst von seinem Enkel – dem preisgekrönten Regisseur Kevin Macdonald – attestiert dieser seinem Grossvater „Central European bravado and ingenuity“1. Eigenschaften also, die ihm über viele Wechselfälle seines Lebens hinweggeholfen haben mögen. Prag wurde 1

Macdonald, Kevin: Emeric Pressburger. The Life and Death of a Screenwriter, London 1994, p. 23.

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aufgrund von Wechselkursverschiebungen bald unerschwinglich für Studierende aus dem Armenhaus Rumänien. Pressburger wechselte nach Stuttgart und schloss seine Studien nach dem plötzlichen Tod des Vaters ab. Mithilfe eines Onkels versuchte sich Pressburger in Budapest eine Existenz aufzubauen, doch ging er bald nach Berlin, um den rumänischen Militärdienst zu umgehen. Dies war ein drastischer Schritt, war ihm doch nun der Rückweg nach Rumänien abgeschnitten, und es folgten harte, prekäre Jahre im Berlin der 1920er-Jahre, oft völlig mittellos und ohne Obdach. Schliesslich gelang es Pressburger, durch die Publikation von Kurzgeschichten ein gewisses Einkommen zu erzielen, und nach einiger Zeit erhielt er sogar eine Stelle als Lektor und Dramaturg bei der Universum Film AG (UFA). Gerade als er beruflich angekommen schien, wurde ihm 1932 jedoch eröffnet, dass sein Vertrag nicht verlängert würde – 1933 entging er nur dank einer überstürzten Abreise nach Paris einer Verhaftung durch die Gestapo. 1935 zog Pressburger nach London, wo er für den ungarischen Filmproduzenten Alexander Korda arbeitete. Diese Arbeit führte ihn mit Michael Powell zusammen, einem brillanten Regisseur, der in Pressburger sein perfektes Alter Ego erkannte. In den folgenden, langen Jahren der Zusammenarbeit sollten die beiden einen ganz besonderen Beitrag zum ‚goldenen Zeitalter‘ des britischen Films leisten, weil sie sich ideal ergänzten: „Michael needed a screenwriter like that, one who brought a European flair and imagination to British movies“2. Damit war Pressburger Ende der 1930er-Jahre wirklich angekommen und widmete sich mit Feuereifer der Entwicklung komplexer und künstlerisch hochstehender Propagandafilme. „[I]t is no exaggeration to say that during the war, Emeric – the Hungarian Jew educated in Germany and an enemy alien – became the single most important figure in Britain’s film propaganda war.“3 49th Parallel (1941), ein von Powell nach Pressburgers Skript unter grössten Schwierigkeiten realisierter Film, der die britische Sicht auf den Nationalsozialismus in den USA wirkungsvoll zur Geltung brachte, veränderte die Gangart der britischen Filmindustrie in Sachen Propaganda. Trotz dieser wichtigen Arbeit, die auch vom Ministry of Information (MoI) anerkannt und gefördert wurde, stand Pressburger als ‚enemy alien‘ immer unter Verdacht und war Behinderungen seiner Arbeit ausgesetzt: Nach Kriegsbeginn wurden seine Kamera und sein Radio konfisziert; er wurde mit einer nächtlichen Ausgangssperre belegt, konnte nicht zu Dreharbeiten ins Ausland reisen und entging nur durch die Intervention Michael Powells und des MoI der Deportation und Internierung. Sein soziales Leben spielte sich trotz des zunehmenden beruflichen Erfolgs und Wohlstands in 2 3

Macdonald, Emeric Pressburger, p. 155. Macdonald, Emeric Pressburger, pp. 165–166.

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einem eingeschränkten Migrantenkreis ab. Die engste, praktisch symbiotische Beziehung hatte er bis in die 1950er-Jahre hinein zu Michael Powell. Die beiden nannten sich in Anlehnung an die legendären englischen Bogenschützen selbstbewusst ‚the Archers‘ und schlossen sich den Independent Producers Ltd. der Rank Organisation an, die ihnen, anders als beispielsweise in Hollywoods ‚Studio System‘ üblich, viele Freiheiten bei ihrer Arbeit liessen. Gemeinsam mit einem handverlesenen Team von Technikern schufen sie eine Reihe filmischer Meisterwerke – „written, produced and directed by Michael Powell and Emeric Pressburger“.4 Trotz dieses Erfolgs erhielt Pressburger nie wirklich die Anerkennung, die ihm gebührt hätte – nicht nur, weil Drehbuchautoren meist ohnehin im Schatten des Regisseurs stehen, sondern auch weil der Beitrag Pressburgers nicht klar erkannt wurde. Wie so häufig bei Migranten konnte er seine spezifische Handschrift kaum offensiv vertreten, war vielmehr gezwungen, sich in einer Art kultureller Mimikry zu assimilieren. Diese Zurückhaltung verstellt wiederum den Blick darauf, wie stark kontinentaleuropäische Einflüsse das britische Kino geprägt haben, sodass im britischen Kontext der kontinentaleuropäische Beitrag geradezu als Teil eines kulturellen Unbewussten figuriert. Trotz, oder gerade wegen der Hinzufügung kontinentaleuropäischer Elemente sind die Werke der Archers geprägt von einer subtilen Beschäftigung mit ‚Englishness‘: Pressburger analysiert diese kulturelle Identität, setzt sie in Szene, ironisiert und feiert sie, versteht sie sehr tief, gerade weil er sie, anders als Michael Powell, selbst nicht verkörpert. Privat gab sich Pressburger sehr zurückhaltend und verschlossen: „In life he shared his real opinions and emotions with his friends only reluctantly. He was not secretive in a scheming, deliberate way, but cautious and reserved. No doubt he was naturally reticent, but years of living in countries not his own also taught him to keep his opinions to himself.“5 Will man sich Pressburger trotzdem nähern, sucht man ihn am besten in seinem Werk.

4

5

Zu den Archers siehe Cook, Pam: I Know Where I’m Going!, London 2002; Christie, Ian (Ed.): Powell, Pressburger and Others, London 1978; Christie, Ian: Arrows of Desire. The Films of Michael Powell and Emeric Pressburger, London 1994; Christie, Ian: A Matter of Life and Death, London 2000; Christie, Ian/Moor, Andrew (Eds.): The Cinema of Michael Powell. International Perspectives on an English Filmmaker, London 2005; Moor, Andrew: Powell and Pressburger: A Cinema of Magic Spaces, London 2005; Murphy, Robert: Strong Men – Thomas Colpeper, Torquil Macneil, Dr Reeves, Mr Dean and Boris Lermontov. Masculinity in the films of Michael Powell and Emeric Pressburger, in: Murphy, Robert (Ed.): British Cinema (Bd. II), London/New York 2014, pp. 86–96. Sowie die zweibändige Autobiographie von Powell, Michael: A Life in Movies. An Autobiography, London 1986; Powell, Michael: Million Dollar Movie, London 1992. Macdonald, Emeric Pressburger, p. 205.

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Der Pressburger-Touch In Anlehnung an den im Hollywood-Kino berühmten Lubitsch-Touch plädiert dieser Text darum für die Anerkennung eines ‚Pressburger-Touch‘. So befindet Charles Silver: „Ernst Lubitsch (1892–1947) was more responsible than any other filmmaker for bringing a continental flavour to the largely Anglo-Saxon world of American cinema.“6 Lubitsch, ein Berliner Jude, erhielt seine Bühnenausbildung bei Max Reinhardt und begann seine Karriere mit Komödien, die ihren Humor u.a. aus Stereotypen des Jüdischen zogen. Berühmt wurden dann seine im amerikanischen Exil geschaffenen hintersinnigen Gesellschaftskomödien wie Ärger im Paradies (1932), deren Zutaten kontinentaleuropäische Schauplätze sind: Ironie und Satire, Slapstick, Sprachwitz, komische Missverständnisse und sexuelle Anspielungen sowie ein visueller Witz, der oft durch Schnitte erzeugt wird und es dem Zuschauer überlässt, die entstehenden Ellipsen mit Bedeutung zu füllen. Pressburgers Technik weist klare Parallelen dazu auf; ein erzählerisches Repertoire der Paradoxien, der narrativen Umschwünge, der Überraschungsmomente, der witzig-geistreichen Details und ironisch-romantischen Gesten, über das er als ungarischer Jude verfügte und das er selbst in seine ‚englisch­ sten‘ Geschichten einbrachte. So setzt er bereits in The Spy in Black (1939), seiner ersten Auftragsarbeit in Grossbritannien, den emigrierten Star des deutschen expressionistischen Kinos, Conrad Veidt, höchst effektvoll und komisch in Szene. Veidt spielt Kapitän Hardt, einen U-Boot-Kommandanten im Ersten Weltkrieg, der sich in Schottland in ein Netz von Spionage und Gegenspionage verstrickt und romantische Gefühle für eine Doppelagentin entwickelt. Als Hardt im furiosen Finale auf einer Fähre zu entkommen versucht, taucht nach Art einer Nemesis sein eigenes U-Boot auf und versenkt die Fähre, um dann sofort von britischen Schiffen angegriffen zu werden. Indem Kapitän Hardt in einer von unfreiwilliger Komik umspielten würdigen Pose mit der Fähre untergeht, gelingt es Pressburger, ohne ein Wort zu verlieren, alles Positive und Negative des Deutschen in seiner ganzen Widersprüchlichkeit gleichzeitig in eine einzige Bildsequenz zu fassen und damit der Komplexität einer Lebenswelt gerecht zu werden, die sich nicht in kulturellen Stereotypen erschöpft. Zurück bleibt auch der in Grossaufnahme inszenierte bedauernde Blick der Doppelagentin, die ihr Ziel erreicht hat, doch offensichtlich nach der intensiven Begegnung mit Hardt ihren Triumph nicht mehr so recht auskosten kann. Mit Hardts Untergang ist etwas verloren gegangen. 6

Silver, Charles: The Lubitsch Touch, in: Silver, Charles/Lowry, Glen D.: An Auteurist History of Film, New York 2016, pp. 36–37, hier p. 36.

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Pressburger war im Laufe seines Migrantendaseins nicht weniger als viermal gezwungen, die Sprache zu verlassen, die ihm seine Existenz sicherte. Schon eine solche Erfahrung hätte – und hat – viele Schriftsteller in die Knie gezwungen, doch Pressburger war optimistisch, anpassungsfähig und ausdauernd und besass offensichtlich eine hervorragende Konstitution. Er lernte unermüdlich. Zu seinem Glück war er ein Sprachgenie und versuchte in jedem neuen Idiom so schnell wie möglich heimisch zu werden, wobei er die Musik als universale Sprache sah und besonders liebte. Er war fasziniert von idiomatischen Wendungen und Metaphern, die er teilweise im Wortsinn auslegte, um damit komische Effekte zu erzielen. Damit verstand er es, gewissermassen aus der Not eine Tugend zu machen, da dieser Zugang zur Sprache, der tote Metaphern wieder lebendig werden lässt, Muttersprachlern oft aufgrund der grossen Vertrautheit versperrt bleibt. Das berühmteste Beispiel für diese Technik findet sich in The Life and Death of Colonel Blimp (1943), einem erfolgreichen Propagandafilm der Archers, der allerdings in seiner Subtilität die üblichen Vorstellungen von Propaganda transzendiert und dessen Stärken heute weitaus deutlicher hervortreten als zu seiner Entstehungszeit. Colonel Blimp (Roger Livesey) steht, in Anlehnung an eine Cartoon-Figur des Karikaturisten David Low, für die alten Militärs, die den Herausforderungen der neuen Zeit nicht länger gewachsen sind. Um sie blosszustellen, beginnen junge Soldaten eine angesetzte Übung früher als erwartet und nehmen den verblüfften Blimp im türkischen Dampfbad gefangen, wo er sitzt und schwitzt, im wahrsten Sinne des Wortes ‚caught with his trousers down‘. Die propagandistische ‚Message‘ des Films ist, dass der Kampf gegen den totalen Krieg der Nationalsozialisten neue Mittel erfordert. Diese Botschaft wird allerdings, zum Ärger vieler Zeitgenossen einschliesslich Winston Churchills, auf eindringlichste Weise von einem deutschen Migranten verkündet. Dieser Migrant, Theo KretschmarSchuldorff, ist überdies ein alter Freund Blimps; die beiden Männer hatten sich, wie in einer faszinierenden Rückblenden-Struktur gezeigt wird, einem verknöcherten Ehrenkodex folgend zu Anfang des 20. Jahrhunderts duellieren müssen, freundeten sich während der Rekonvaleszenz an, pflegten die Freundschaft trotz der sehr unterschiedlichen Geschicke ihrer Länder und verliebten sich sogar in dieselbe Frau (Deborah Kerr in drei verschiedenen Rollen). Schliesslich verlässt Theo nach vielen Jahren Deutschland, um sich in England niederzulassen, den Briten die volle Tragweite der Bedrohung durch die Nationalsozialisten vor Augen zu führen und allfälligen Ideen eines gegenüber Hitler möglichen ‚fair play‘ eine Absage zu erteilen. Im Film formuliert dieses Plädoyer äusserst effektvoll Anton Walbrook alias Adolf Wohlbrück, ein aus Österreich immigrierter Schauspieler, der für das britische Publikum den Charme

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und die Kultiviertheit Kontinentaleuropas verkörperte. Pressburger lag der Film sehr am Herzen, und seine Identifikation mit Kretschmar-Schuldorff ist offensichtlich. Zum Pressburger-Touch gehört auch dieses autobiographische Element, das es nahelegt, diesen vielschichtigen Film als Beispiel einer bereichernden kulturellen Begegnung zu lesen, ebenso wie als fiktionales Portrait der Beziehung zwischen Pressburger und Powell. Für das britische, bzw. überwiegend englische Publikum ebenso wie für die Kritiker waren die Filme der Archers immer eine Herausforderung. Die Filme wurden klar als britisch angesehen, doch erschienen sie gleichzeitig seltsam, verwirrend, merkwürdig, teils abseitig. So erfand Pressburger für A Canterbury Tale (1944) die Figur eines wertkonservativen Country Squire, der junge Frauen im Schutze der Dunkelheit angreift und ihnen Kleber in die Haare schmiert, um sie vom Ausgehen mit Soldaten abzuhalten. Nach Pressburgers Vorstellung sollte Squire Colpeper (Eric Portman) ursprünglich sogar die Kleider der Frauen mit einem Messer aufschlitzen, was aber nicht umgesetzt wurde. Interessant ist hier der Kommentar der Pressesprecherin der Archers zur Rezeption der sadistischen Attacken: „It was considered the kind of outré thing the continentals did but that we didn’t.“7 Der Filmhistoriker Robert Murphy fasst zusammen: It has always been a problem fitting Powell and Pressburger into British cinema. Their flamboyance, their willingness to transgress realist boundaries to flirt with melodrama and excess, their interest in composed film, their openness to European influences, their adventurousness with narrative form and visual style, set them against contemporary critical norms and aroused suspicion of their artistic judgment.8

Selbst Kevin Macdonald äussert Unbehagen über die ‚un-britischen‘ Untiefen im Charakter seines Grossvaters – hier seinen Hang zur Romantik: „Much of Emeric’s work is marred by the same proclivity, a streak of Yiddish sentiment. It was often left to Michael to provide Emeric’s characters with the sharp edge of cynicism.“9 In A Matter of Life and Death (1946) liefert die Feier der romantischen Liebe sogar das zentrale 7 8

9

Macdonald, Emeric Pressburger, p. 239. Murphy, Men, p. 86. Dieser Artikel erschien erstmals in Screen 46/1 (2005), S. 63–71 und wurde überarbeitet und aktualisiert. Mit der Aufnahme in das bei Routledge erschienene zweibändige Standardwerk zum britischen Kino erscheint er damit als ‚state of the art‘, und in der Tat hat sich in den letzten zehn Jahren wenig getan, seit den Archers aus Anlass von Michael Powells 100stem Geburtstag im Jahr 2005 einige Aufmerksamkeit zuteilwurde. Macdonald, Emeric Pressburger, p. 220.

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Handlungselement. Der britische Pilot Peter Carter (David Niven) wird über der englischen Küste abgeschossen und sollte von einem rätselhaften ‚Conductor 71‘ (Marius Goring) in die ‚andere Welt‘ geholt werden. Dieser verpasst jedoch im englischen Nebel (!) den Piloten, während sich Carter unsterblich in die US-amerikanische Funkerin June (Kim Hunter) verliebt, die ihm zufällig am Strand über den Weg radelt. Da es sich bei dem ausserirdischen Botschafter um einen (guillotinierten) französischen Aristokraten von 1789 handelt, der die Liebe extrem ernst nimmt, muss in der ‚anderen Welt‘ – in einem bizarren, phänomenal gefilmten himmlischen Tribunal – die Frage geklärt werden, ob Carter nun nach der geänderten Lage der Dinge Anspruch auf weitere Lebensjahre hat. Die Antwort lautet natürlich ja, wobei auch die Möglichkeit offengelassen wird, dass sich die ganze Geschichte in der Phantasie des sterbenden Carter abgespielt haben könnte. In all dieser Phantastik droht die angesichts antiamerikanischer Gefühle in Grossbritannien erwünschte Propaganda-Botschaft fast verloren zu gehen, dass Amerika und Grossbritannien doch so viel gemeinsam hätten und sich zusammentun sollten. Sowohl in der Handlung als auch der filmischen Umsetzung ist A Matter of Life and Death ein Meisterwerk des magischen Realismus, das seiner Zeit weit voraus war, oder anders formuliert und damit an das Grundargument dieses Beitrags anknüpfend: Pressburger hat den Film in seiner künstlerischen Tradition erdacht, um ihn dann in einen englischen, nicht ganz passenden Rahmen zu setzen. Bei der mise-en-scène zeigt sich der Pressburger-Touch unter anderem darin, dass die bekannte Welt in leuchtendem Technicolor gefilmt wurde, die Anderswelt dagegen in Schwarz-Weiss, in Umkehrung eines ähnlichen Effekts in dem von den Archers bewunderten Film The Wizard of Oz (1939). Zu betonen ist schliesslich, dass Pressburger nicht allein für das kontinentaleuropäische Flair von A Matter of Life and Death verantwortlich war. Das Set stammte von dem deutschen UFA-Designer Alfred Junge, die Kostüme entwarf der vom Surrealismus beeinflusste Maler und Bühnenbildner Hein Heckroth, und die Musik komponierte Allan Gray, alias Jósef Żmigrod, ein polnisch-stämmiger Komponist und Schüler Arnold Schönbergs, der auch für Max Reinhardt am Theater gearbeitet hatte. Allerdings war es eine sehr bewusste Entscheidung der Archers, mit diesen Leuten zu arbeiten, deren Stil sich sehr z.B. vom prominenten Dokumentarfilm britischer Prägung unterschied.10 10

Zu kontinentaleuropäischen Migranten im britischen Kino siehe Cargnelli, Christian: The Creator of the Story. Chronik einer Emigration. Die Lehr- und Wanderjahre des Emeric Pressburger, in: Christian Cargnelli/ Omasta, Michael (Ed.): Aufbruch ins Ungewisse. Österreichische Filmschaffende in der Emigration vor 1945, Wien 1993, pp. 41–61; Bergfelder, Tim/Cargnelli, Christian (Eds.): Destination London. German-speaking

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How to be an Alien Die Filme der Archers wurden als exzentrisch wahrgenommen, was im englischen Kontext eigentlich ein Kompliment darstellt, oder darstellen sollte, da Exzentrik einen hohen kulturellen Stellenwert hat. Doch hatte die Exzentrik der Archers keinen klaren Wiedererkennungswert, nicht zuletzt deshalb – wie ich meine – weil sie nicht klassenspezifisch einzuordnen war. Grundsätzlich ist die Geschichte der kontinentaleuropäischen Aspekte des Britischen oft eine Geschichte der Nicht-Begegnung, oder besser gesagt: der mangelnden Anerkennung. Diese Elemente sind Teil der britischen Kultur und bereichern diese letztlich, doch dürfen sie sich nicht als ‚fremd‘ zu erkennen geben. In den späten 1950er- und den 1960er-Jahren geriet die Arbeit der Archers komplett in Vergessenheit. Die Filme waren entweder nicht verfügbar oder lagen nur in massiv abgeänderten Fassungen vor, bis der junge Filmhistoriker Kevin Gough-Yates 1971 eine Retrospektive am National Film Theatre organisierte, die einen Wendepunkt markiert. Das Werk der Archers wurde nun wieder beachtet und seine Qualität erkannt, und in den 1980er-Jahren wurden die Filme restauriert und u.a. durch das Engagement des British Film Institute auf Video bzw. dann auf DVD verfügbar gemacht. Dabei wird jedoch stets von neuem, bis zum heutigen Tag, Pressburgers Beitrag unterschätzt, indem das Werk der Archers meist als Herzstück des Oeuvres des britischen Regisseurs Michael Powell wahrgenommen und primär diesem zugesprochen wird. Symptomatisch dafür ist ein Brief, den das National Film Theatre im Vorfeld der Retrospektive von 1971 an den von Gough-Yates eingeladenen Pressburger schrieb: „We understand that you would like to appear on the stage with Michael Powell …“11 Dies kränkte Pressburger so tief, dass er dem Anlass letztlich fernblieb. Nach dem Krieg konnte Pressburger nicht mehr an seine früheren Erfolge anknüpfen, die schliesslich zu einem Teil auf dem Schulterschluss aller Nazigegner beruhten und seine Arbeit fast automatisch ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten. Er wendete sich u.a. Stoffen zu, die ihn schon in seiner UFA-Zeit interessiert hatten, wie etwa der auf Erich Kästners Roman Das doppelte Lottchen basierende Film Twice Upon a Time (1953). Mit Operation Crossbow (1965) kehrte er zurück zur Thematik des Zweiten Weltkriegs. Zentral in seinem Werk bleibt allerdings das Thema der Entfremdung, Emigrés and British Cinema 1925–1950, Oxford/New York 2008; Brinson, Charmian/Dove, Richard (Eds.): German-speaking Exiles in the Performing Arts in Britain after 1933 (The Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies 14), Amsterdam 2013. 11 Gough-Yates, Kevin: Pressburger, England and Exile, in: Sight and Sound 12 (1995), pp. 30–35, hier p. 30, [Auslassung im Original].

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der Migration, der Flucht, der Vertreibung, des Kampfes und des Lebens im Exil mit den Dämonen der Vergangenheit. In späteren Jahren verfasste Pressburger zwei faszinierende Romane: Killing a Mouse on Sunday (1961), verfilmt 1964 als Behold a Pale Horse, handelt vom Guerilla-Kampf gegen das Franco-Regime in Spanien und dem Leben des Protagonisten Manuel Artiguez im französischen Exil.12 The Glass Pearls (1966), ein realistisch erzählter Roman mit autobiographischen Zügen, widmet sich dem Leben eines mit falscher Identität in London lebenden deutschen KZ-Arztes, der sich den sprechenden Namen Karl Braun gegeben hat. In einer für Pressburger typischen Umkehrung fokussiert er nicht auf das Leiden der vor den Nazis fliehenden Juden, sondern auf die ständige Angst vor Entdeckung und die Schuldgefühle eines sehr menschlich dargestellten Naziverbrechers. Dieser Roman ist ein wichtiger Beitrag zu der von Hannah Ahrendt geprägten Debatte über die Banalität des Bösen, doch es stellt schon fast ein Leitmotiv in Pressburgers Leben dar, dass der Roman lange kaum beachtet und von der Kritik vollkommen missverstanden wurde. Erst kürzlich wurde er wieder aufgelegt und in seinem inhaltlich und erzählerisch hohen Wert erkannt. Pressburger litt nach Aussagen seines Enkels an depressiven Verstimmungen und Ängsten, wie auch an Schuldgefühlen, weil er seine Mutter nicht vor dem Vernichtungslager gerettet hatte. Wie viele andere Familienangehörige war sie 1944 deportiert worden. Gegen Ende seines Lebens kämpfte ein delirierender Pressburger heftig gegen die Sanitäter, die ihn ins Krankenhaus bringen wollten, da er dachte, es handle sich um Nazis, die gekommen waren, um ihn in die Gaskammer zu schaffen.13 Betrachtet man diesen biographischen Kontext, erscheint die Technik der Umkehrung als Teil einer Überlebensstrategie, ein Insistieren auf dem Umdenken, dem Andersdenken, der Phantasie, der Kultur und Menschlichkeit, und der Empathie gerade im Angesicht extremsten Horrors. Als britischer Staatsbürger lebte Pressburger bis zu seinem Tod 1988 zurückgezogen in einem Cottage in Suffolk. England hatte ihn, der in seiner Jugend quer durch Europa getrieben worden war, aufgenommen und ihm Sicherheit und Wohlstand beschert. Im Gegenzug kämpfte er mit allem, was er hatte, für Grossbritannien und die freie Welt. Er wählte nicht die erklärte Einwandererkultur der USA bzw. Hollywoods, wo er mit dem ‚Pressburger Touch‘ vermutlich in die internationale Filmgeschichte eingegangen wäre, sondern seine Liebe gehörte England. Eine allerdings grösstenteils unerwiderte Liebe, denn wirklich dazugehört hat er nie. Pressburgers 12

Der Roman war durchaus erfolgreich und wurde von Fred Zinnemann mit Staraufgebot verfilmt (Omar Sharif, Anthony Quinn sowie Gregory Peck in der Rolle des Manuel Artiguez). 13 Macdonald, Kevin: Preface to the 2015 edition, in: Pressburger, Emeric: The Glass Pearls (Kindle Edition), o.O. 2015, Pos. 49.

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Freund George Mikes hat das Problem in seinem berühmten Buch How to Be an Alien (1946) auf den Punkt gebracht – ein äusserst humorvolles Buch, in dem jedoch gelegentlich die Bitterkeit durchscheint: „It is a shame and bad taste to be an alien, and it is no use pretending otherwise. […] Once a foreigner, always a foreigner.“14

14 Mikes, George: How to Be an Alien, in: Mikes, George: How to be a Brit. A George Mikes Minibus, Harmondsworth 1986 [Orig. pub. André Deutsch, 1946], p. 18.



GÖGI HOFMANN Von der Lebenskunst eines komischen Sachbearbeiters Angela Bhend

„Der Mensch wird am Du zum Ich.“ „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ (Martin Buber)

An einem alltäglichen Abend in Bern, in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts, gab es einst einen Brautraub. Wenngleich es sich bei solch einem „Diebstahl“ gemeinhin um eine mittelalterliche Methode handelt, zögerten Theaterschaffender Gögi Hofmann und sein Freund und damaliger Pantomimenlehrer Jacques Picard keine Sekunde, diese auch in die Tat umzusetzen. Ersterer wollte seine langjährige Freundin und Frau des Lebens zurückerobern, Letzterer war grundsätzlich Ratgeber und Dramaturg zu einem solch verwegenen Vorhaben. Zu denken, dass es sich bei dem vor rund vierzig Jahren stattgefundenen Ereignis um eine romantisch, dramatisch angehauchte Theaterinszenierung handelt, wäre zwar naheliegend, ist aber falsch. Denn in Tat und Wahrheit entspringt diese Episode der realen Lebensgeschichte Gögi Hofmanns – ein bedeutsamer Zwischenfall, der ihn nicht nur auf der Beziehungsebene, sondern auch hinsichtlich seiner späteren Berufskarriere auf den entscheidenden Weg bringen soll.1 Gögi Hofmann ist ein Schweizer Theaterschaffender, Komiker und Verwandlungskünstler. Er ist aber auch Textilkaufmann, Ehemann und Vater. Seine künstlerische Karriere beginnt mit fünfundzwanzig Jahren. Damals debütiert er erstmals als Pantomime in einem Projekt, das sich Mimä Brattig nennt. Darauf folgen produktive und erfolgreiche Jahre als Schauspieler im MAD Theater Bern sowie in Karl’s kühne Gassenschau. Seit über zwanzig Jahren ist Gögi Hofmann ein freischaffender Solokünstler, der gleichsam seine eigene Kunstform realisiert hat: Er ist „das Gögi“.2 Immer wieder schlüpft er in eine andere Rolle, spielt einen völlig anderen Menschen. Die Schweizer Theaterszene kennt ihn und er kennt sie alle, wie etwa Duo Fischbach, 1 2

Gespräch mit Gögi Hofmann und Ursula Hofmann-Vogt vom 16. Sept. 2016. Alles Nachfolgende bezieht sich, wo nicht anders angegeben, auf dieses Gespräch. www.goegi.ch (10.11.2016).

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Viktor Giacobbo oder Mike Müller. Nationale Bekanntheit erlangt er spätestens 2006 durch seine etwas kontroversen Auftritte im Schweizer Fernsehen, anlässlich deren Berichterstattung zur Fussballweltmeisterschaft er den Platzwart Ueli Gröbli spielt. Doch Ruhm und Renommee spielen im Leben des Künstlers mit Herzblut eine untergeordnete Rolle. Mit einer Kunst, die den Weg des geringsten Widerstands wählt und ausschliesslich mit makelloser Schönheit brilliert, hat er Mühe. Viel wichtiger und nahezu von fundamentaler Tragweite sind ihm die Begegnungen im Leben, das Sich-Einlassen auf ein Gegenüber. „Der Mensch wird am Du zum Ich. (...) Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“3 Das Zitat des Philosophen Martin Buber, einst von Gögi und Jacques Picard auf einem Programmflyer verwendet, zieht sich heute, nach rund sechzig Jahren, wie ein roter Faden durch Gögi Hofmanns Leben. Ein Leben, voll von bedeutsamen Begegnungen, die insbesondere auch in jener Stadt zustande kamen, in der er geboren wurde, aufwuchs und heute noch lebt.

Aufwachsen in Zofingen Etwas abseits der Aare und zwischen den Hügeln des Wiggertals liegt die idyllische Kleinstadt Zofingen. Noch bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts prägten mittelalterliche Mauern und vier grosse Eingangstore die von Graben umgebene geschlossene Stadt. Obschon sich Zofingen im Laufe der Zeit dieser Befestigungsanlage entledigte, trifft man noch heute auf einen gut erhaltenen Stadtkern, der sich durch ein schönes Gesamtensemble von historischen Bauten und Freiräumen kennzeichnet. Doch als Hauptort des gleichnamigen aargauischen Bezirks konnte Zofingen nie eine überregionale Bedeutung erlangen. Aufgrund seiner geographischen Lage eignete es sich nicht als Verkehrsknotenpunkt und regionale Strukturen, wie die sich ausbreitenden Nachbargemeinden und die nahe Kantonsgrenze, verhinderten zudem ein grösseres Wachstum.4 Hier also, wird Gögi, der mit bürgerlichem Namen eigentlich Hansrudolf Hofmann heißt, am 7. März 1956 als mittleres von drei Kindern geboren. Seine Eltern, die damals 3

4

Buber, Martin: Ich und Du, Stuttgart 1995, S. 12, S. 28. Die beiden Sätze wurden in dieser zusammengesetzten Form von Gögi Hofmann und Jacques Picard als Zitat im Flyer der Mimä Brattig verwendet (Privatarchiv Gögi Hofmann). Lüthi, Christian: Zofingens Gesicht. Von der ummauerten Kleinstadt zwischen Wiesen und Weiden zum Agglomerationszentrum, in: Lüthi, Christian u.a. (Hg.): Zofingen im 19. und 20. Jahrhundert: eine Kleinstadt sucht ihre Rolle, Baden 1999, S. 9–34, hier S. 15–17; Steigmeier, Andreas: Auf der Suche nach Funktion und Bedeutung. Ein Leitmotiv über zwei Jahrhunderte, in: Lüthi, Zofingen, S. 331–341.

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Gögi Hofmann und Ursi Hofmann-Vogt. Zofingen 2016. Im Hintergrund ein Bild des Malers und Plastikers Willy Müller-Brittnau (1938–2003). Photo: Privatbesitz.

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beide schon einmal geschieden sind und je ein Kind in die neue Ehe bringen, prägen das Familienleben durch die Zugehörigkeit zu einer freikirchlichen Gemeinschaft. Geschieden zu sein war in der damaligen Nachkriegszeit noch etwas ungewöhnlich und führte gerade innerhalb dieser evangelikalen Bewegung zu Konflikten. Genau genommen ist seine Mutter eine Katholikin, eine quirlige Frau, die als Barmaid arbeitete und die Gögis Vater auf einer seiner Handelsreisen kennenlernte. Otto Hofmann war ein Kleinunternehmer, handelte mit Bettwäsche und Küchentüchern und besass ein eigenes Textilwarengeschäft in Zofingen. Die Firma AG vorm. Hofer & Cie. ist von Gögi Hofmanns Grossvater bereits in den 1930er-Jahren übernommen worden und befindet sich bis heute in Familienbesitz. Zusammen mit seinen beiden Schwestern wächst Gögi Hofmann in einem Einfamilienhaus mit grossem Garten ausserhalb Zofingens Altstadt auf. Weil das Siedlungsgebiet der Junkermattstrasse trotz anhaltendem Bauboom der 1960er-Jahre von gleichaltrigen Kindern verwaist ist, führen ihn seine Erkundungstouren in die angrenzenden Quartiere und Orte, wie etwa auf den Galgenberg im Riedtal – einem Ort, wo 1796 tatsächlich noch die letzte Hinrichtung vollzogen wurde5 – oder in das Römerbad, wo er auch den Kindergarten besucht hat. Aufgefallen ist er im Kindergarten nicht nur mit seinem langen Rufnamen Hansrudolf – den auszusprechen einem Fünfjährigen viel zu lange dauert –, sondern auch mit seinen Haaren. Wegen deren rotblonder Färbung nennt man ihn alsbald „Güggu“6; ein Spitzname, der ihn durch die ganze Schulzeit begleitet und aus dem später der Künstlername „Gögu“, danach „Gögi“, hervorgeht. Aufgefallen ist Gögi Hofmann aber auch mit einer ausgeprägten Begabung. Schon früh zeigt er Enthusiasmus für Bewegung, Spiel und Sport; er entwickelt sich zu einem regelrechten Bewegungstalent. Später beginnt er mit Handballspielen, einer Sportart, die in Zofingen als ausgesprochen elitäre Angelegenheit nur den Bezirksschülern vorbehalten bleibt, währenddem Real- und Sekundarschüler sich mit Fussballspielen begnügen müssen. Insgeheim beschliesst er, Sportlehrer zu werden. Doch sein verborgener Berufstraum zersplittert an einem einzigen Tag im Sommer 1973, dann nämlich, als ihm sein Vater eröffnet, dass er nach Abschluss der Bezirksschule nicht die Kantonsschule, sondern eine Lehre zum Textilkaufmann in der Kleiderfabrik Ritex7 5

6 7

Blum, Kurt: Im Bezirk Zofingen erinnern heute noch zwei Galgen an die Todesstrafe, in: Zofinger Tagblatt, 1. Mai 2015, siehe Onlineausgabe: http://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/im-bezirk-zofingen-erinnern-heute-noch-zwei-galgen-an-die-todesstrafe-129095472 (14.11.2016). „Güggu“ ist die schweizerdeutsche Bezeichnung für Hahn. Die ehemalige Bekleidungsfabrik Ritex AG (1919–2002) wurde 1919 von Hans Roth-Lerch unter dem Namen Roth & Cie. gegründet und entwickelte sich neben der Färberei AG (1901–1992) und der Bleiche AG (1932–

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absolvieren werde. Es ist eine schmerzliche Zäsur in seinem Leben und eine Welt, die zerbricht. Die Jahre seiner Jugend fügen sich ein in die vom Zeitgeist geprägten gesellschaftlichen Auf- und Umbrüche. Als Teil der Nach-68er-Generation rebellierte man gegen bürgerliche Wertvorstellungen, gegen das Establishment, gegen die eigenen Eltern. „Es gab überhaupt keine Gemeinsamkeiten; weder den Lebensstil, die Einrichtung, die Kleidung, noch das Aussehen“, erinnert sich Gögi Hofmann. So werden auch seine Haare, als Teil vehementer Abgrenzung, immer länger. Seine schulfreien Mittwochnachmittage und später seine Freizeit verbringt er jeweils im Güetli, einer an der Güetlimatte gelegenen Occasionsbaracke, die 1965 aufgrund des fortschrittlich gesinnten reformierten Pfarrers Daniel von Tscharner als erste Freizeitanlage Zofingens initiiert werden konnte.8 Auch an brütend heissen Sommertagen, in denen das Quecksilber des Thermometers auf über dreissig Grad steigt, sitzen Gögi Hofmann und seine Kollegen in der dunklen Baracke, während aus den Boxen der Stereoanlage Musik von den Beatles, Janis Joplin, den Rolling Stones plärrt. Ihnen eröffnet sich eine ganz neue Welt, ohne Regeln. Es ist die pure Freiheit.

kleine bühne Zofingen – ein Pantomimenworkshop und seine Folgen Die Jahre nach Abschluss der Lehre sind für Gögi Hofmann geprägt von einem Suchen und Finden und Verlieren. Hat er während der Lehre einfach nur funktioniert und sich in das von seinem Vater vorbestimmte Schicksal gefügt, hadert er nun mehr denn je mit dieser beruflich unbefriedigenden Situation. Sein Lebensweg erfährt gerade empfindsame Knicke in noch ungewisse Richtungen. Sowohl der Traum vom Sportlehrer als auch seine langjährige Beziehung zu Ursula Vogt aus Zofingen zerbricht. Beides zusammen lässt ihn in eine elementare Sinn- und Lebenskrise stürzen und als wäre das nicht genug, verliert er zunehmend auch noch die Freude am Handballspielen. Seine Vorstellungen vom Spass am Spiel divergieren stark mit jenen eines sturen Trainingsbetriebs. Das Ganze endet dahingehend, dass er auch dem Turnverein Zofingen den Rücken kehrt. Auf der Suche nach Bewegung nimmt Gögi Hofmann an einem

8

1995) zu einer der drei grössten Zofinger Textilfirmen der Nachkriegszeit, vgl. Steigmeier, Andreas: Die Stadt zieht Kreise. Hochkonjunktur und zunehmende regionale Verflechtung, in: Lüthi, Zofingen, S. 253–284, hier, S. 260–264. Finanzielle Sorgen trüben das Jubiläum, in: Zofinger Tagblatt, 15. Mai 2014, siehe Onlineausgabe: http:// zofingertagblatt.ch/?rub=-557&id=-188355 (14.11.2016).

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Pantomimenkurs der kleinen bühne Zofingen teil – ein willkürlich gefällter Entschluss, der gleichwohl vieles verändern soll. Die kleine bühne Zofingen wurde 1971 infolge der vom Aufschwung betroffenen Schweizer Kleintheaterszene als Verein ins Leben gerufen. Mitunter erfolgte diese Gründung auch aus einer provozierenden Alternative zum anerkannten Kulturleben Zofingens heraus und verfolgte ein klares Ziel: „Auseinandersetzung – Begegnung – Wirkung, das heisst: das Gespräch!“9 Rückblickend ist dieser erste Panto­ mi­ menworkshop für Gögi Hofmann wegweisend und wird seinem Leben eine ungeahnte, aber entscheidende Wendung geben. Im Kellergeschoss des Gemeindeschulhauses trifft er auf den Workshopleiter Jacques Picard. Der ursprünglich ebenfalls aus Zofingen stammende junge Student wohnte damals in Bern, war Mitglied in Ernst Georg Böttgers Pantomimengruppe Mime Berne und brachte durch verschiedene Tourneen nach Edinburgh, Grossbritannien, Deutschland und in die Niederlande bereits internationale Erfahrungen mit. Gögi Hofmann ist fasziniert. Mittels Pantomime kann er seinen Körper und seinen Intellekt einsetzen, ein für ihn überaus fruchtbares Zusammenspiel, das viel zu seiner eigenen Persönlichkeitsentfaltung beiträgt. In den darauffolgenden Monaten erlernt er die wesentlichen Elemente der Mimik, wie etwa die pantomimischen Grundübungen, die Anatomie des Menschen und dessen Temperamente, die Sprache des Körpers sowie den Canticum, ein von Musik begleiteter pantomimischer Tanz. Mit einer abschliessenden Werkstattaufführung, die auf eine positive Resonanz stösst, endet zwar der dreivierteljährige Kurs, aber für Gögi Hofmann markiert dies den Auftakt zu einer Schauspielkarriere, die noch folgen wird.

Brautraub, Flucht, Familie Zweifellos von grosser und tiefgreifender Bedeutung für Gögi Hofmanns Lebensweg ist die frühe Begegnung mit Ursula Vogt. Sie, die später seine Ehefrau, seine Stütze und seine Managerin werden soll, lernt er bereits im Kindergarten kennen. Die aus einer Zofinger Akademikerfamilie stammende Ursi ist von Beginn an fasziniert von ihm. Er schien ihr das pure Gegenteil von ihrer so wohlbehüteten Kindheit, kannte keine Angst und wusste sich zu behaupten. Doch diese Faszination vermochten viele Jahre später, als sie ein Paar werden, nicht alle teilen. Beinahe scheiterte die Beziehung 9

Ros, Manuela: Bürgerbildung und Avantgarde. Zofingen als Bühne der kulturellen Modernisierung, in: Lüthi: Zofingen, S. 313–329, hier, S. 323–324.

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damals am massiven Druck von Ursula Vogts Familie, sich von dem scheinbar nicht in ihr Leben passenden Freund zu trennen. Mitte der 1970er-Jahre lebt das junge Paar in Bern. Während Ursi bei ihrem Bruder an der Länggasse ein Zimmer bezieht und eine Lehre zur Pharma-Assistentin absolviert findet Gögi in einer in der Breitsch10 gelegenen Wohngemeinschaft, in der auch Pantomimenkollege und Student Jacques Picard haust, eine Bleibe. Ein Leben in einer Wohngemeinschaft war zu jener Zeit nicht nur praktisch und geldsparend, sondern oft auch ein politisches Statement zumeist junger Studenten. Immer mehr Wohlstand anhäufen, ein Auto, ein Haus und eine noch neuere Küche – alles Auswirkungen des starken Wirtschaftswachstums der 1950er- und 1960er-Jahre, des Nachkriegsbooms – war für sie nicht erstrebenswert.10 Obschon auch Gögi Hofmann lange Haare trägt und sich bereits an seinem ersten Lehrtag von solch einem gut bürgerlichen Lebensmodell verabschiedet hat, fällt er in dieser Berner Wohngemeinschaft etwas aus dem Rahmen. Materielle Besitzansprüche sind verpönt; dessen ungeachtet flimmert in seinem Zimmer die Tagesschau oder das Konsumentenmagazin Kassensturz aus der Röhre. Ungemein schnell bröckelt denn auch die konsequente Antihaltung der anderen Mitbewohner und man trifft sich allabendlich in seinem Zimmer, um gemeinsam in die Kiste zu glotzen. Doch die Jahre in Bern sind unstet und schwierig, ein ständiges Auf und Ab, die Beziehung aufgrund Gögis Nichtakzeptanz bei Ursis Eltern in einer merklichen Krise. 1977 kommt es zu einer schmerzhaften Trennung, die Gögi eines ganz schnell vor Augen führt: Keine andere Frau kann seine langjährige Freundin ersetzen. Sie ist die Frau seines Lebens, sie gilt es zurückzugewinnen. Ein Unterfangen, das sich aufgrund der problematischen familiären Umstände als äusserst heikel und delikat erweisen soll, denn mittlerweile war Ursula Vogt mit einem netten Mathematiker liiert, befand sich beinahe schon in der Verlobungsphase und würde mit einer Rückkehr zu Gögi Hofmann zugleich die Abkehr ihrer Familie provozieren. Was also tun? Auf Anraten eines Urner Advokaten, mit dem Kollege Jacques Picard freundschaftlich verbunden ist, beschliessen sie, die Braut zu rauben. „Sie kamen an einem Abend und haben geklingelt“, erinnert sich Ursi, „mit einem riesigen Koffer.“ – „Entweder du kommst jetzt mit, oder es ist vorbei.“ – „Dann haben wir das Zeug eingepackt und sind gegangen.“ Während auf der einen Seite die Freundschaft zu Gögi Hofmann wiederhergestellt ist, verharrt auf der anderen Seite die Familie Vogt im Schockzustand und bricht in den darauffolgenden Jahren den Kontakt zu ihrer Tochter ab. 10

Zech, Monika: Die WG hat sich etabliert, in: Tageswoche (Nr. 33), 16. August 2013.

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Nach der abenteuerlichen Episode des „Brautraubes“ folgt die „Flucht“ nach Griechenland, zuerst auf die Insel Thassos, danach auf die Insel Santorini, und dann, als es Winter wird, mieten sie ein Haus auf Kreta. Als Ursi schwanger wird, geht die intensive und unbeschwerte Zeit abrupt zu Ende; das junge Paar kehrt in die Schweiz nach Zofingen zurück. Und um seine junge Familie finanziell über die Runden zu bringen, geht Gögi Hofmann zurück zur Kleiderfabrik Ritex, wo er seine Lehre absolvierte, und nimmt eine Halbtagsstelle als Zutateneinkäufer an.

Mimä Brattig Die Geburt des ersten Sohnes 1979 bewirkt für die junge Familie eine Umstellung, aber auch eine signifikante Entwicklung für ihre Zukunft. Zurück aus Griechenland wird der Kontakt zu Pantomimenkollege und Freund Jacques Picard wieder aufgegriffen, der inzwischen selbst Vater von einer Tochter geworden ist und zusammen mit Frau und Kind im Berner Seeland in einem Bauernhaus lebt. Die magische Welt ihrer beiden Kinder trägt massgeblich dazu bei, dass sie bei einem gemeinsamen Treffen auf die Idee der Mimä Brattig11 kommen, einem neuartigen Pantomimenprogramm, das sich von der üblichen und traditionell stummen, melancholischen Komik verabschiedet hat. Der aus dem berndeutschen Dialekt stammende Begriff Brattig – ein Spruchblatt, das in einem hölzernen Wechselrahmen an der Stubenwand hängt – dient den beiden als symbolischer Aufhänger für das nummernartige Programm. Mittels Worten und Pantomime, Bildern und Texten zaubern die beiden Kulturtäter – ein Lieblingswort Jacques Picards – eine Art Minispektakel auf die Bühne, das von den kleinen und alltäglichen Geschichten der Menschen erzählt, von ihren Wonnen und Klagen, ihren Anfängen, Schicksalen und Toten. Die mit viel Humor und Spass am Spiel inszenierte Aufführung thematisiert auch Nachdenkliches, z.B. die „Verlorene Mitte“ eines Heroinsüchtigen oder die verpassten Begegnungen zweier Menschen in „Lebenslauf “. Originell verpackt hingegen kommt die stumme Kritik an der damals grassierenden amerikanischen (Fr)Esskultur daher, indem sie jeweils während den Vorstellungen einen „Mc-Mimä-Burger“ mit giftfreiem Sellerie verteilen. Insgesamt war die Inszenierung der Mimä Brattig ein Plädoyer für mehr Kreativität, mehr Sinnlichkeit und mehr menschliche Beziehungen.11 11

Graber, Hans: Pantomime, die nicht stumm bleibt, in: LNN Magazin (Luzerner Neuste Nachrichten), 11.–17. Jan. 1982 (Nr. 2), S. 4–5; diverse Zeitungsartikel im Privatarchiv von Gögi Hofmann. Die Mimä Brattig existierte bis zirka 1985 und tourte vor allem durch diverse Kleintheater der Schweiz.

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Gögi Hofmann und Jacques Picard im gemeinsamen Pantomimenprogramm Mimä Brattig, um 1981. Photo: Privatbesitz.

Eine Zeit des Machens, nicht des Konsumierens 1984 nimmt Gögi Hofmann an einem Slapstick-Workshop der Gruppe Kollektiv freischaffender Theatermacher Bern (später MAD Theater) in Langenthal teil. Für Gögi, dem als fünfzehnjähriger Teenager die Verwirklichung seines Wunschberufes verwehrt blieb, gehen nun andere Türen und Tore auf. Sein Lebensweg erfährt durch die Teilnahme an diesem Workshop eine markante Justierung in Richtung professionell Theaterschaffender. Hat er sich bis anhin hauptsächlich mit Pantomime beschäftigt, erlernt er nun etwas absolut Neues, etwas Essenzielles, das seine Arbeit bis zur Gegenwart massgeblich prägen soll: „Die Technik des Slapsticks beinhaltet eine Realität, die deshalb so schwierig zu erlernen ist, weil sie vom Naheliegendsten, vom Natürlichsten, vom Körperlichsten ausgeht. Immer spielt es eine Rolle, sich selber treu zu bleiben, d. h. nicht zu spielen, sondern zu sein.“12 – schreibt er in seinem Theaterbuch nieder. 12

Theatertagebuch von Gögi Hofmann (Privatbesitz).

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Initiator und Regisseur dieser 1981 gegründeten Theatergruppe ist Peter Kopf. Als Abgänger des Max Reinhardt Seminars (Wiener Schauspielschule) bringt er dessen reformerisch orientierte Ideen mit in die Schweiz, wo sie in der Freien Theaterszene auf fruchtbaren Boden fallen. Oft bestanden die Produktionen des MAD Theaters aus Slapstick und Komik, immer aber waren sie geprägt von politischen Inhalten.13 Mit der 1986 uraufgeführten und weniger komischen als vielmehr ernsten Inszenierung Schicksalszug, die das Thema der restriktiven Einwanderungspolitik der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs aufgreift, erreichen die Theaterschaffenden einen ersten Höhepunkt. Die kritische Auseinandersetzung mit der damals noch weitgehend unbekannten Rolle der Schweiz und deren Einführung des Judenstempels während der Naziherrschaft erregte Aufmerksamkeit. „Bewegend, erregend, auch bestürzend“ schreibt Hermann Levin Goldschmidt in einem Brief. „Alle Schweizerinnen, alle Schweizer unseres Jahres 1986 sollten in Euern Zug einmal einsteigen, mit Euch mit-fahrend es buchstäblich zu er-fahren, was sich auf ihren eigenen Geleisen – in ihren eigenen Zügen – einmal ereignet hat, sich womöglich noch immer ereignet und sich so von neuem ereignen könnte, immer noch.“14 Tatsächlich forderte das Stück Schicksalszug das Publikum auf ungewohnte Weise heraus: Der Zuschauer befand sich mittendrin, in einem rollenden Zug, man wurde selbst Teil des Geschehens. Die konventionelle Bühne fiel zugunsten eines neuen Theaterraumes weg. Der Zuschauer musste den Raum als etwas Künstliches und, im Widerspruch dazu, das darin Aufgeführte als etwas Authentisches zu begreifen versuchen. Nationale und internationale Zeitungen werden auf die Gruppe aufmerksam, man berichtet über „erschreckendes, groteskes, mutiges, verrücktes und bestürzendes Theater“. Amerikanische Zeitungen betiteln die Aufführung mit „Train Theater Shows Dark Side of Swiss History“ 15. Mit Schicksalszug erhielt das MAD ­Theater 1986 den Anerkennungspreis des Kantons Bern. Beinahe „schicksalhaft“ in vielerlei Hinsicht ist auch jene erneute Begegnung von Gögi Hofmann mit Jacques Picard, der zu jener Zeit Dozent für Kultur, Politik und Geschichte an der Fachhochschule Bern ist: Nach Beendigung des Projekts Mimä Brattig hat man sich ein wenig aus den Augen verloren; dieses Mal holt Gögi ihn als Ersatzschauspieler zurück auf die 13

14 15

Leis, Sandra: Mad Theater, Bern BE, in: Kotte, Andreas (Hg.): Theaterlexikon der Schweiz, Zürich 2005 (Bd. 2), S. 1155. MAD ist eine Abkürzung für „Mutually Assured Destruction“, ein Begriff, der während des Kalten Krieges in der strategischen Abschreckungsdoktrin der NATO zu finden ist. Im übertragenen Sinn bedeutet er so viel wie: „Wer zuerst schiesst, stirbt als Zweiter“. Brief von Hermann Levin Goldschmidt an Gögi Hofmann vom 13. April 1986, abgedruckt in: MAD Theater (Hg.): Schicksalszug. Kreuzweg. Text und Dokumentation, Bern o.J. MAD Theater (Hg.): Fortbewegung, Bern o.J.

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Gögi Hofmann in einer Szene aus dem „Sch... Theater“, einer gemeinsamen Produktion mit Marc Brunner vom Teatro Palino in Baden, um 1989. Photo: Privatbesitz.

Bühne, wo er im zweiten Teil von Schicksalszug, der sich Kreuzweg nennt, mehrere Male die Rolle von Dres Balmer16 übernimmt. Zudem ist er, mit dem Thema der Juden in der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs, beratend und unterstützend in das Projekt eingebunden. Für Gögi Hofmann folgen nach Schicksalszug intensive und produktive Jahre mit dem MAD Theater Bern. In dem 1989 aufgeführten Stück Hommage à Karl Valentin 16

Dres (Andreas) Balmer ist ein Schweizer Schriftsteller und ehemaliger Delegierter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK).

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wird Kabarettist Marc Brunner vom Teatro Palino in Baden auf ihn aufmerksam. Zusammen inszenieren sie das „Sch... Theater“, ein absurdes, sich auf dem Klo abspielendes Stück, das nicht nur unter der künstlerischen Leitung des österreichischen Cartoonisten Manfred Deix steht, sondern auch dessen „grässlich-hässliche“ Figuren zum Thema hat und die Truppe auf ihrer erfolgreichen Tournee bis nach Leipzig führt. Doch Spass und Erfolg sind nur die eine Seite der Medaille. Auf ihrer Kehrseite zehren jahrelange harte Arbeit und vielzählige Produktionen – die ihm alles abverlangten – an den Kräften, an der Substanz des Künstlers. „Es war eine Zeit des Machens, nicht des Konsumierens“, meint Gögi „und irgendwann möchte man das nicht mehr.“ 1990 beschliesst er, vor allem selbständig zu arbeiten. Und um sein Einkommen ein wenig aufzubessern, übernimmt er in einer Übergangsphase von drei bis vier Jahren eine Teilzeitstelle als Buchhalter in der Firma seines Vaters. Seit über zwanzig Jahren ist Gögi Hofmann nunmehr als selbständiger Solokünstler, als komischer Sachbearbeiter – wie er sich selbst nennt – unterwegs. Als Verwandlungskünstler lässt er sich für die unterschiedlichsten Rollen in der Eventkultur engagieren. Seine Bühne ist da, wo sich bei uns derweilen die Realität des alltäglichen Lebens abspielt. Tatsächlich aber wäre solch ein Leben ohne seine Frau Ursi kaum möglich gewesen. Sie war es, die finanzielle Lücken stopfte, wenn Gögi mit seiner Kunst die Familie nicht zu ernähren vermochte. Sei es als Nachtschichtarbeiterin in der Zofinger Gmüeschratte oder später als Sozialarbeiterin und Leiterin von vierzig Mitarbeitenden der Notschlafstelle Olten. Gögi Hofmanns Biographie ist eine Hommage an jene Schönheit im Leben, die man sich weder erkämpfen noch erkaufen kann. Bedeutsame Begegnungen sind und bleiben Schicksale.17 Ein „Du“ kann nicht aus eigener Kraft gefunden werden, wie Martin Buber sagt, auch wenn man sich noch so bemüht. Aber erst wenn man „Du“ sagt, wird man zum „Ich“. So auch im Leben des Künstlers Gögi Hofmann.

17

Martin Buber bezeichnet es als Akt der Gnade: „Das Du begegnet mir von Gnaden – durch Suchen wird es nicht gefunden“, vgl. Buber, Ich, S. 11.



DIE DREI DINGE, DIE ES BRAUCHT Klaus Neumann-Braun

Erinnerung Biographisches Erzählen läuft immer Gefahr, Vergangenheit zu verklären. Gerne meint man, die zurückliegenden Erlebnisse seien interessanter und aufregender gewesen, als sie tatsächlich waren. Mit fortschreitendem Alter verändert sich die Erinnerung weiter: Die autobiographische Gedächtnisforschung18 zeigt, dass sich Erwachsene über 40 – Jacques Picard und ich gehören ohne Zweifel zu dieser Altersgruppe – deutlich mehr an die Jugend und junge Erwachsenenzeit erinnern als an andere Lebensabschnitte; eine Zeit, in der all das für das Erwachsenwerden so Wichtige zum ersten Mal passiert: die Peers, der erste Ausgang, die erste Freundin und nicht zuletzt auch die erste Wahlverwandtschaft mit den Medien-Freu(n)den. Diese Ereignisse prägen sich ein und ohne Zweifel schmälert dieser selektive ‚Blick zurück‘ den Wahrheitsgehalt unserer Erinnerungen. Es gibt Dinge, die einen das ganze Leben begleiten. Auch Medienereignisse und Werbesprüche gehören dazu. In den 1960er-Jahren ging ich als Jugendlicher jeden Tag an einer hohen Hauswand vorbei, von der herab mich die drei Musketiere in Uniform ihre Degen kreuzend anschauten; zu ihren Füßen war zu lesen: „Männer wie wir! Wicküler Bier!“19 Bis heute prosten mir die drei immer wieder zu, wenn ich ein Bier trinke. Auch meine Liebe zum HB-Männchen ist ungebrochen: „Halt, mein Freund, wer wird denn gleich in die Luft gehen? Greife lieber zur HB.“20 Die Welt war damals noch einfach gestrickt: Der Showmaster Hans-Joachim Kulenkampff konnte garantieren, dass es in seiner Quizshow „EWG – Einer wird gewinnen“21 einen Sieger geben würde, und er hatte auch einen ‚guten Rat fürs Leben‘ parat: 18

Koppel, Jonathan/Rubin, David C.: Recent Advances in Understanding the Reminiscence Bump. The Importance of Cues in Guiding Recall from Autobiographical Memory, in: Current Directions in Psychological Science 25 (2016), pp. 135-140, first published: April 6, 2016, http://journals.sagepub.com/doi/ abs/10.1177/0963721416631955 (07.01.2017). 19 Wicküler Bier-Werbung: https://www.youtube.com/watch?v=y7bockA2PrQ (07.01.2017). 20 HB-Männchen-Werbung: https://www.youtube.com/watch?v=VKo4s_7-Afc (07.01.2017). 21 EWG-Show mit H.-J. Kulenkampff: https://www.youtube.com/watch?v=8FXchEUBz0o (07.01.2017).

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„Drei Dinge braucht der Mann: Feuer, Pfeife, Stanwell.“22 Und er sagte diesen Spruch an einem Kamin in einem Lehnsessel sitzend, umgeben von zwei jungen blonden Frauen, die ihm beide für seine Pfeife Feuer reichten. Die Zeiten haben sich geändert: HB und Stanwell sind aus der Mode gekommen, wie sich das Rauchen generell in gesundheitsbewussten Kreisen im Abwind befindet. Längst vergangen sind Lehrveranstaltungen, in denen über die Massen geraucht, Rotwein getrunken und diskutiert wurde – meist auf Kosten der intellektuellen Aufklärung, die im blauen Dunst verloren ging. Geblieben ist die Frage, welche neuen ‚drei Dinge‘ es in einer inzwischen komplexer gewordenen Welt braucht, um gewinnen zu können.

Humor Wer Talente erkennen möchte, benötigt soziale Distanz, und wer Gesellschaft zu durchschauen trachtet, auch. Mit der entsprechenden ‚Third Position‘-Haltung tut sich die Wissenschaft nicht immer leicht: Man hat im Untersuchungsfeld Angst vor einer ‚überengagierten‘ Verbrüderung in der teilnehmenden Feldforschung und führt das Prinzip der bewusst inszenierten ‚Dummheit‘ ein: ‚Dummheit als methodisches ­Prinzip‘ heisst es dann. Eine elegantere Form, soziale Distanz zu sich und anderen zu ­pflegen, sind Humor und Witz. Letzterer steht geradezu exemplarisch für eine ­vielschichtige Verstehenstheorie von Sprecher und Hörer, die beide eine aktive Sinn-(Re)-(De)-Konstruktion vornehmen. In Witzen wird Gesellschaft wie unter einem Brennglas sichtbar: Soziale Praktiken werden in Form von Stereotypien aufgegriffen und spielerisch konterkariert. Für Witz braucht es kulturelles Kontextwissen, das um die sprachliche Mehrdeutigkeit des Verbalhumors weiss. Entsprechend wird in der Witzforschung auch von ‚hermeneutischen Geschicklichkeitsspielen‘ gesprochen. Kein Wunder, dass Jacques gerne den folgenden Witz erzählt und mir mit folgenden Zeilen in Erinnerung rief: Den Witz, den ich Dir erzählte, war der jüdische Robinson – den gab es, aber ohne den Freitag, also sehr einsam. Als er nach 20 Jahren gerettet wurde, hatte er ein kleines Haus, Garten und Ziegenzucht angelegt und – man höre, wie löblich – zwei Synagogen gebaut! Gefragt, warum denn ZWEI Synagogen, antwortet er: In DIE gehe ich, in DIE aber nicht!

22 Stanwell-Werbung: https://www.youtube.com/watch?v=i5fqyoCugnk (07.01.2017).

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Der zweite Witz, der mir sehr in Erinnerung blieb, war ein Witz mit zwei Hemden. Jacques Picard schrieb auf meine Nachfrage zurück: Den Witz kenne ich, habe ihn Dir aber nicht erzählt. Ja, er geht ungefähr so: Die Mamme schenkt zwei (identische) Hemden, der Sohn hält eines in den Händen und ist sehr erfreut … fragt die Mamme: Und das andere gefällt Dir nicht?

Der jüdische Witz ist ein tiefgründiger Witz, der Gesellschaft und Tradition vielschichtig reflektiert. Ich habe mich gefragt, warum einer von uns beiden nicht mehr weiss, ob der Witz damals zwischen uns erzählt wurde oder nicht. Ich möchte nicht ein weiteres Mal auf den ‚Reminiscence Bump‘, Jugenderinnerungen überwiegen,23 zu sprechen kommen, sondern finde eine andere Erklärung in dem folgenden Witz, der den autonomen Umgang mit jüdischem Witz durch jeweilige Erzähler gut verdeutlicht (und sei es auch, dass man darauf besteht, ihn gar nicht erzählt zu haben): Ein Bauer lacht dreimal, wenn man ihm einen Witz erzählt: Das erste Mal, wenn man ihm den Witz erzählt, das zweite Mal, wenn man ihn ihm erklärt, und das dritte Mal, wenn er den Witz versteht. – Ein Herr lacht zweimal: Das erste Mal, wenn man ihm den Witz erzählt, das zweite Mal, wenn man ihn ihm erklärt; denn verstehen wird er ihn ohnedies nie. – Ein Offizier lacht nur einmal: Wenn man ihm den Witz erzählt; denn erklären lässt er sich ihn nicht und verstehen wird er ihn auf keinen Fall. – Erzählst du aber einem Juden einen Witz, so unterbricht er dich: „Ach was, ein alter Witz!“ und er kann ihn dir besser erzählen.24

Neugier Witze verstehen heisst Welt verstehen. Und zum Welt-Verstehen braucht es Neugier, in der man sich riskiert. So wie in der frühen Neuzeit, als ein von Neugierde getragenes Wissensnetzwerk von Geographen, Mathematikern, Instrumentenbauern, Künstlern und Wissenschaftlern im Geschichtsbuch unserer Weltbilder ein neues Kapitel aufschlug: Im Zusammenwirken von Technologie und Kunst vollzog sich der Übergang vom geo- zum heliozentrischen Weltbild. Im 17. Jahrhundert wurden die Wegekarten zu Landkarten, der Raum erschien nicht länger linear, sondern flächig – so wie wir das heute bei Google Maps und Google Earth mit vielen technischen Raffinessen 23 24

Koppel/Rubin, Advances. www.witze.koscher.net (12.01.2017).

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sehen können. Jacques Picard half mit, diese Zeitenwende, diesen Wandel des Blickregimes zu veranschaulichen im Rahmen seiner Mitwirkung an der Museumsausstellung Mapping Spaces im Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) Karlsruhe 2014.25 Ein gemeinsamer Ausstellungsrundgang liess diese spannende Zeit im Spiegel von Gemälden, Karten, Globen, Instrumenten und Büchern wieder auferstehen. In seinem jüngsten Buchprojekt Makers of Jewish Modernity26 beschäftigt sich Jacques Picard mit dem Thema Thinking Jewish Modernity. In der Einleitung ist zu lesen: „Thinking about modernity involves a complex relation to time, in which the past appears as both distant and relevant, the future at once promising and vague.” Der Leser wird zu einer inspirierenden Zeitreise eingeladen: Portraitiert werden wichtige jüdische Denker, Künstler, Wissenschaftler und andere Personen öffentlichen Interesses der letzten hundert Jahre und daraufhin befragt, welche Deutungen unserer (post-)modernen Zeit sie vornehmen und begründen. Ein komplexes, facettenreiches Bild unserer Zeit entsteht, das weit davon entfernt scheint, fertige Antworten liefern zu können. „Modernity is the transitory, the fleeting, the contingent; it is one half of art, the other being the eternal and the imovable“, heisst es (mit Charles Baudelaire, 1859) zum Auftakt der Einführung und lässt die neugierige Hoffnung entstehen, ob es nicht doch zu einem abgerundeten konsistenten Weltbild der Moderne kommen könnte.

Wertschätzung Eine vergleichbare Strategie verfolgt auch diese Festschrift: Vereint werden Stimmen und Meinungen vieler (ehemaliger) Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, Fachkolleginnen und -kollegen und Freunde von Jacques, die ihn in seinem beruflichen und privaten Leben getroffen und begleitet haben. Ihre Beiträge lassen ein buntes und lebendiges Spiegelbild der facettenreichen intellektuellen Kultur erkennen, die das Wirken des Geehrten hat entstehen lassen. Jacques ist kein Freund von ‚akademischer Schulenbildung‘ und ‚Closed Shop‘-Denken. Ihm geht es stets um die Menschen. Nachwuchswissenschaftlern begegnet er mit der professionellen Haltung, kluge und tüchtige junge Menschen entsprechend ihren Talenten und Interessen zu fördern und Kraft zu schöpfen aus dem Begleiten von 25 Gehring, Ulrike/Weibel, Peter (Hg.): Mapping Spaces. Networks of Knowledge in 17th Century Landscape Painting, München 2014. 26 Picard, Jacques et al. (Eds.): Makers of Jewish Modernity: Thinkers, Artists, Leaders, and the World They Made, Princeton/Oxford 2016.

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deren Werden. Eines schönen Tages erhielt ich von Jacques Picard einen Anruf: Ich würde ja sicher Frau S. kennen, eine exzellente Medienexpertin, er habe sie unlängst zufällig kennen gelernt; ich musste seine Frage verneinen, worauf er entgegnete, dass das alles andere als gut sei, sie habe nämlich grosses Talent und ich müsse sie unbedingt zu einem Orientierungsgespräch einladen. Um es kurz zu machen, Frau S. ist heute Mitarbeiterin in einem Projekt unserer Forschungsgruppe. Seine Empfehlung galt der individuellen Talentförderung und nicht der letztlich doch auf das eigene Ego bezogenen ‚Schulenbildung‘. „It’s the player not the game“, hiess es in einem Song der 1980er-Jahre, den ich noch gut im Ohr habe. Kennen gelernt haben Jacques und ich uns in schwieriger Zeit. Damals Ende der 2010er-Jahre ging es um einen anhaltenden Kollegenstreit und die Bemühung um Mediation. Zusammengebracht hat uns folgende Konstellation, die man am besten kurz und knapp mit dem bekannten Beispiel aus Paul Watzlawicks „Anleitung zum Unglücklichsein“27 illustrieren kann: Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Vielleicht hat er die Eile nur vorgeschützt, und er hat was gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts getan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht’s mir wirklich. – Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch bevor er „Guten Tag“ sagen kann, schreit ihn unser Mann an: „Behalten Sie Ihren Hammer […]!“

Jacques hatte die schwierige Aufgabe übernommen, eine Schlichtung zu initiieren und eine Neuordnung der Verhältnisse zu erreichen. Es waren nervenaufreibende Gespräche, die er mit der ihm eigenen Ruhe und Gelassenheit sowie seiner stets allen Seiten gegenüber wertschätzenden Haltung führte. Erreicht werden konnte zwar kein fortan munteres Miteinander, aber ein geregeltes Nebeneinander, das im Fall der Fälle immerhin ein unaufgeregtes kollegiales Bilderaufhängen unter Verwendung aller notwendigen materialen Hilfsmittel möglich gemacht hätte. 27

Watzlawick, Paul: Anleitung zum Unglücklichsein, München 1983.

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Eine Verbeugung Sich gegen ein Verklären zu wehren ist zwecklos: Man erzählt ein Ereignis aus vergangener Zeit, sieht ein altes Foto, hört eine fast vergessene Musik – und schon erscheint die Welt in einem anderen, geschönten Licht. Ich versichere, dass ich mit diesen biographisch gefärbten Zeilen keinem Irrtum aufsitze: Bis heute denke ich beim Zuprosten an meine drei Begleiter, die Musketiere. Auch der Reminiscence Bump kann sich in diesem Fall keine Geltung verschaffen: Jacques Picard hat mich seinerzeit bei meiner Talentsuche unterstützt und mir in der ‚Hammer-Beispiel‘-Situation ohne Hammer geholfen, eine friedlichere Nachbarschaft zu ermöglichen, hat mir wirklich beide Witze erzählt und hat mir mit ungestillter Neugier die alte Welt (‚Mapping Spaces‘) und die neue Welt (‚Thinking Jewish Modernity‘) nahegebracht. Wertschätzung, Humor und Neugier – es sind diese drei Dinge, die es braucht, um mit Gewinn für intellektuelle Aufklärung zu sorgen, und die Jacques und mich in Freundschaft verbinden.

JÜDISCHSEIN Madeleine Dreyfus

1. Was ist damit gemeint, wenn ein nicht religiöser Mensch von sich sagt, sie oder er sei jüdisch? Wie wird diese Zugehörigkeit außerhalb des religiösen Feldes repräsentiert? Was halten jüdische Personen für typisch jüdisch, mit anderen Worten, wie „konstruieren“ sie den jüdischen Aspekt ihrer Identität? Seit dem Beginn des Emanzipationsprozesses gegen Ende des 18. Jahrhunderts stehen jüdisch sein und säkular leben in einem Spannungsverhältnis. Unter „jüdisch“ wird hier weniger eine Religionszugehörigkeit im Sinne eines Glaubensbekenntnisses verstanden als eine in unterschiedlichem Maße den Alltag strukturierende Lebenspraxis. Dazu gehört – vor allem im angelsächsischen Raum – eine vage ethnisch-national aufgefasste Volkszugehörigkeit. Diese „ethnische“ Kategorie ist eher historisch-kulturell gedacht als real nationalistisch auf das heutige Land Israel gemünzt. Für säkular lebende jüdische Menschen ist das Ringen um die für sie passende Ausdrucksweise ihrer jüdischen Identität konstitutiver Teil dieser Zugehörigkeit selbst. Im Folgenden möchte ich einige Antworten zu diesen Fragen vorstellen, die ich meinen Interviewpartnerinnen und -partnern im Zusammenhang mit meiner Forschungsarbeit1 über die Transmission jüdischer Identitäten in und aus gemischt jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen gestellt habe. Hier geht es aber nicht um gemischte Beziehungen, sondern darum, die emotionale Verortung der Befragten im Hinblick auf ihr Jüdischsein zu fassen und damit Bedeutungsdimensionen des Konstrukts „jüdisch“ zu erhellen. In den Interviews fragte ich unter anderem, welche positiven oder negativen Qualitäten den Interviewpartnerinnen und -partnern in den Sinn 1

Es wurden Ausschnitte aus 15 in den Jahren 2007 und 2008 geführten Leitfaden-Interviews vorgestellt mit Einzelpersonen oder Paaren, die aus gemischt jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen stammen oder in solchen leben und die sich in irgendeiner Weise jüdisch identifizieren. Die Zusammensetzung sollte nach Alter, Herkunft und religiöser Ausrichtung möglichst heterogen sein und erfolgte nach dem Schneeballprinzip. Vgl. Dreyfus, Madeleine: Ein ziemlich jüdisches Leben. Säkulare Identitäten im Spannungsfeld interreligiöser Beziehungen, Köln 2016.

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kommen, wenn sie ihr gefühlsmäßiges Verhältnis zum Jüdischsein beschreiben sollen – konkret etwa, was sie „gut“ und was „schlecht“ am Judentum finden, aber auch, was sie für „typisch jüdisch“ halten. So gestellt, zielten die Fragen weniger auf essentialistische Definitionen als vielmehr auf die affektive Grundierung des Zugehörigkeitsgefühls und erlaubten damit auch, ambivalente Gefühle auszudrücken. Ein Befragter, Alfred Wasserstein,2 lachte auf meine Frage, was typisch jüdisch sei, und meinte, das sei schwierig für meine Untersuchung, weil es so viele „Zauberformeln wie Individuen“ gebe. Mit dem Begriff „Zauberformel“ ist meist die parteipolitische Zusammensetzung des siebenköpfigen Schweizer Bundesrats angesprochen, die idealerweise die Stärke der verschiedenen Parteien abbildet und auf diese Weise eine Regierung der nationalen Konkordanz ermöglichen soll. Hier sind jedoch die einzelnen „Parteien“ die verschiedenen Strömungen oder Wünsche innerhalb eines Individuums selbst, die konkordant verhandelt werden müssen. So kann sich zum Beispiel der Wunsch nach Zugehörigkeit ausdrücken im Gedanken: „Ich möchte am Todestag eines Elternteils in der Synagoge das Kaddisch sagen“, was im Widerspruch stehen kann zur Bequemlichkeit: „Ich habe keine Lust, bei diesem schlechten Wetter aus dem Haus zu gehen“ oder zu anderen Bedenken wie: „Ich fürchte mich vor dem vielleicht nur eingebildeten, unausgesprochenen Vorwurf, nicht öfter in die Synagoge zu gehen“. Welche Argumente, welche Gefühle müssen da verhandelt werden und was wird den Ausschlag für eine Entscheidung geben? Dass Jüdischsein oft nicht ohne umschreibende Bezeichnungen auskommt, zeigt unter anderem die große, unabhängige Untersuchung des PEW-Research Centers von 2013 über die US-amerikanischen Juden. Sie unterscheidet unter anderem zwischen Personen, die sich als jüdisch „by religion“ bezeichnen (womit keineswegs nur religiöse Jüdinnen und Juden gemeint sind), und den „Jews of no religion“. Jede fünfte amerikanisch-jüdische Person zählt sich zur zweiten Gruppe; bei der jüngeren Generation (ab 1980 geborene Personen) beträgt der Anteil sogar 32 Prozent. Die Mehrheit von ihnen ist jüdischer Herkunft und empfindet sich kulturell als jüdisch, nicht aber von der Religion her. Das hindert aber fast die Hälfte dieser „Jews of no religion“ nicht daran, an einem Sederabend teilzunehmen.3 Solche auf den ersten Blick widersprüchlichen Haltungen scheinen für die jüdische „Religion“ typisch zu sein, auch in der 2 3

Die angegebenen Namen sind Pseudonyme. Zur Auswahl der Gesprächsteilnehmenden und zur Anonymisierung vgl. Dreyfus, Leben, S. 146 ff. Pew Research Center: A Portrait of Jewish Americans. Findings from a Pew Research Center Survey on American Jews, Washington 2013, S. 77. Siebzig Prozent aller jüdischen Amerikaner feierten im Jahr vor der Erhebung den Sederabend.

Jüdischsein

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Schweiz: Jüdischsein entspricht eher einer Zugehörigkeit, die über die Teilnahme an familiären, religiös fundierten Anlässen und Traditionen ausgedrückt wird, und weniger einem Glauben. In diesem Sinne gehören die oft mittelständischen, gut gebildeten Jüdinnen und Juden zur generell wachsenden Anzahl religiös „Distanzierter“.4 Auch in Großbritannien ergab die neueste Studie über die britische jüdische Bevölkerung, dass ethische und ethno-kulturelle Aspekte von den Befragten mit Blick auf ihr Jüdischsein höher bewertet wurden als die religiöse Praxis oder der Glaube an Gott.5 Zur Kategorie der „ethno-kulturellen“ Werte gehört nicht nur ein Gefühl der (inhaltlich eher verschwommenen) Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, sondern auch das Gedenken an den Holocaust oder der Kampf gegen den Antisemitismus. Die wichtigste Gemeinsamkeit aber, die von 92 Prozent aller Befragten der britischen Studie erwähnt wurde, war die, dass zur Identität jüdischer Menschen ein starkes moralisches und ethisches Verhalten gehöre. Der Hinweis auf einen (universalisierungsfähigen) moralisch-ethischen Verhaltenskodex gehörte denn auch zum Antwortenrepertoire meiner Befragten.6

2. Im Alltag müssen fortwährend persönliche Wahlen und Entscheidungen getroffen werden, welche der über den schweizerischen, deutschen, amerikanischen Normalltag hinausgehenden Praktiken ausgeführt werden sollen, in denen sich ein jüdisches Spezifikum zeigen kann und durch die dieses Spezifikum gleichzeitig gespeist und gestärkt wird. Die Grenze im Alltag zwischen jüdisch und nichtjüdisch ist alles andere als klar, da weitestgehend die gleichen Werte, Normen und Alltagspraktiken in ihrer ganzen Vielfalt geteilt werden. Am deutlichsten zeigt sich die Scheidelinie zwischen jüdisch und nichtjüdisch bei der Transmission: Partnerwahl ist zwar Privatsache, aber zugleich wird innerhalb der jüdischen Gemeinschaften Druck ausgeübt, dass jüdische Partnerinnen und Partner bevorzugt werden sollen. Auf die extensive Beschäftigung jüdischer 4 5

6

Stolz, Jörg u.a.: Religiosität in der modernen Welt. Bedingungen, Konstruktionen und sozialer Wandel. Schlussbericht für NFP 58, Lausanne 2011. „Respondents prioritise ethical and ethno-cultural aspects of Jewishness (e.g. ¸Feeling part of the Jewish People‘) above religious belief and practice (e.g. ¸Believing in God‘).“ In: The Institute of Jewish Policy Research: JPR-Report January 2014. Jews in the United Kingdom in 2013: NJCS preliminary findings, S. 12. „Die Entrechtlichung der Tradition wurde als ein Wiedergewinnen ursprünglicher ethischer Qualitäten des Judentums begriffen“, sagt Andreas Gotzmann über die religiöse Erziehung im 19. Jahrhundert. In: Gotzmann, Andreas: Eigenheit und Einheit. Modernisierungsdiskurse des deutschen Judentums der Emanzipationszeit, Leiden 2002, S. 110.

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sozialwissenschaftlicher Untersuchungen mit Heiratsquoten habe ich andernorts hingewiesen.7 Was dieses Judentum aber inhaltlich ausmacht, das so unbedingt bewahrt und weitergegeben werden soll, bleibt weitestgehend offen und diffus. Der Rekurs auf die Zuschreibung von außen verhilft dann zu einer zumindest defensiv definierten Identität. Ein Mann, der den jüdisch tönenden Namen seines Vaters trägt, nach halachischen Gesichtspunkten aber nicht jüdisch wäre, da seine Mutter nicht jüdisch ist, antwortete auf meine etwas gewunden formulierte Frage: Interviewerin: Wenn man Sie fragt, was sind Sie, was sagen Sie dann? René Rosenthal: Ob ich ein Jude sei? Nein, das interessiert mich nicht wahnsinnig. Wenn mich aber jemand fragt, du hast einen solchen Namen, dann sage ich ja, ich bin ein Jude. Und in meinem Umfeld, bei der Arbeit, da sind die meisten der Meinung, ich sei ein Jude (lacht), ich weiß nicht, warum das so ist! Interviewerin: Aber es ist klar, dass Sie ein spezielles Verhältnis zum Judentum haben – René Rosenthal: Auf jeden Fall, aber kein einfaches!

Wie soll Herr Rosenthal ein einfaches Verhältnis zum Judentum haben, das ihn nicht als Juden anerkennt, obwohl seine Großmutter väterlicherseits in Auschwitz umgebracht wurde? Er ist sich sehr bewusst, wie mächtig die Zuschreibung von außen sein kann, und nimmt diesen Teil der Geschichte in sich auf. Er wählt die Affirmation und bezeichnet sich als „Jude“, wenn er danach gefragt wird. Gleichzeitig erklärt er, es interessiere ihn „nicht wahnsinnig“, sich selbst als jüdisch zu definieren. Es ist nicht das Judentum als solches, das ihn nicht interessiert, das wurde im Verlauf des Gesprächs deutlich – es gibt durchaus Bereiche, die ihn ansprechen. Vielmehr scheint ihm so etwas wie Stolz oder die idealisierende Identifikation nicht möglich, um sich als jüdisch bezeichnen zu können. Stolz, jüdisch zu sein – oder sonst auf irgendetwas, wofür man nichts kann – ist, wie die meisten wohl wissen, ein sehr irrationales Gefühl. Es ist besonders absurd, wenn es sich um eine nicht wählbare, vorgefundene Zugehörigkeit handelt, auch wenn traditionell als fix aufgefasste Identitätsanteile wie zum Beispiel die Geschlechtsidentität in der „flüssigen Moderne“ (Zygmunt Bauman) nicht mehr starr erscheinen mögen. Im Gegensatz zu passager gewählten Mitgliedschaften (z.B. von Jugendlichen, die sich den Hip-Hoppern oder den Gothics zugehörig fühlen) scheinen solche Zugehörigkeiten nicht oder nur mit größtem psychischem und 7

Dreyfus, Leben, S. 103–122; Jüngstes Beispiel ist Graham, David: Jews in Couples. Marriage, Intermarriage, Cohabitation and Divorce in Britain, London 2016.

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manchmal physischem Aufwand kündbar. Stolz auf ein Attribut zu sein, dem man nicht entgehen kann, wäre dann eine Gegenbesetzung: Wenn ich schon nicht wählen kann, verstehe ich das Attribut als Auszeichnung und gebe ihm dadurch einen mindestens inneren Wert. Herr Rosenthal erlebt einen Antagonismus der Zuschreibungen: Sein Name ist jüdisch und klingt auch so, das akzeptiert er und lässt es so stehen. Aber er kann nicht mit stolzer Aneignung auf etwas reagieren, was ihm von jüdischer Seite verweigert wird. Wahrscheinlich weiß er schon, warum die meisten in seinem Arbeitsumfeld ihn für jüdisch halten, eben wegen seines Namens, aber er stellt infrage, was daran wichtig oder warum das besonders sei. Indem er die Vermutung, er sei jüdisch, nicht dementiert, untergräbt er die halachische Definition, dass nur das Kind einer jüdischen Mutter tatsächlich jüdisch sei. Er ist auf diese Weise auf eine prekäre und uneindeutige Art jüdisch und nicht-jüdisch zugleich. Meine indirekte Frageweise („Wenn man Sie fragt, was sagen Sie?“, statt ihn direkt zu fragen), die mir erst bei der Transkription des Textes auffiel, ist ein Hinweis auf meine eigene Schwierigkeit, als mit dem Judentum identifizierte Interviewerin mit der von Herrn Rosenthal erlebten Ungerechtigkeit umzugehen.

3. Als positive inhaltliche Bestimmungen des Jüdischen wurden in meinen Interviews besonders häufig drei Eigenschaften aufgeführt: neben dem bereits erwähnten hohen ethischen Verantwortungsgefühl eine spezielle Art von Humor und ein besonders ausgeprägter Familiensinn. Alfred Wasserstein zum Beispiel nannte auf die Frage zuerst die Zugehörigkeit zu einer Minderheitskultur, und dann weiter die Selbstironie, die er für einen der größten Werte hält: … die oft gar nicht verstanden wird, so glaube ich: Die anderen sagen, die jüdischen seien gute Witze, aber was die für ein Elend ausdrücken, was für eine Art … Selbsterniedrigung, aber halt von mir selbst hergestellt, nicht von anderen hergestellt, das finde ich eigentlich ein Modell, das täte allen Menschen gut. Zu öffnen, die Klaviatur, zwischen der eigenen absoluten Nichtigkeit, dem eigenen Engen, ja, dem eigenen Misserfolg, dem Nicht-Mitkommen, der Hilflosigkeit, einerseits, und dann halt das andere, der Ausweg auf Witziges, auf andere Ebenen.

Die Klaviatur – gemeint ist wohl die Vielfalt der spielbaren Möglichkeiten – soll „geöffnet“, erweitert werden. Den negativen Inhalten, von denen die Rede ist (absolute Nich-

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tigkeit, Enge, selbst verschuldeter Misserfolg, Hilflosigkeit), wird mit dem Ton, in dem davon gesprochen wird (Witz, Ironie usw.), etwas entgegengesetzt, und es wird so eine andere Ebene erschlossen, die überraschend ist und einen Übergangsraum8 öffnet, der modellhaft sein könnte für alle Menschen. Lachen ist ein Weg aus dem Einzelschicksal ins Überpersönliche. Humor kann dabei behilflich sein, eine bittere Realität anzuerkennen und zu ertragen, und schafft gleichzeitig verbindende Gemeinsamkeit. Sigmund Freud untersuchte in „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten“ die verschiedenen metapsychologischen Aspekte von Witz und Komik und meinte, dass ihre eigentliche Funktion im Lustgewinn durch die Umgehung innerer (psychischer) und/ oder äußerer (soziokultureller) Hemmungen besteht. Er fragt sich zwar, ob es „sonst noch häufig vorkommt, dass sich ein Volk in solchem Ausmaß über sein eigenes Wesen lustig macht“,9 formuliert aber keine Hypothese darüber, warum es bei den Juden so ist. In seiner späteren Schrift „Der Humor“ betont er den narzisstischen Triumph, der in der Großartigkeit der Zurückweisung der Realität liegt: „Der Humor ist nicht resigniert, er ist trotzig, er bedeutet nicht nur den Triumph des Ichs, sondern auch den des Lustprinzips, das sich hier gegen die Ungunst der realen Verhältnisse zu behaupten vermag“.10 Salcia Landmann hat nach dem Zweiten Weltkrieg eine große Sammlung jüdischer Witze vorgelegt, die sie mit einer soziologischen Betrachtung einleitete. Demnach beginnt die Witzperiode erst mit der Aufklärung und der aufkeimenden Kritik an den religiösen Institutionen. Landmann schreibt: Der Witz der Juden war durch Jahrhunderte hindurch die einzige und unentbehrliche Waffe des jüdischen Volkes. Es gab, zumal in der Neuzeit, Situationen, die der Jude ohne Hilfe des Witzes kaum hätte bewältigen können. Man kann sogar die Behauptung wagen: Der Witz der Juden ist identisch mit ihrem Mute, trotz allem weiterzuleben.11

Als Quintessenz formulierte Landmann, der jüdische Witz sei „heiter hingenommene Trauer über die Antinomien und Aporien des Daseins“.12 Die von ihr gesammelten 8

9 10 11 12

Der englische Psychoanalytiker Donald W. Winnicott meinte mit dem entwicklungspsychologischen Konzept des „intermediären Raums“, zu dem Übergangsobjekte wie Daumenlutschen oder Teddybären gehören, eine vermittelnde Struktur zwischen Ich und Nicht-Ich, zwischen Wahrnehmung und Vorstellung und zwischen innerer und äußerer Realität. Er betont dabei den kreativen Aspekt, der nicht nur dem kindlichen Spiel, sondern auch kulturellen Leistungen innewohnt. Vgl. Winnicott, Donald W.: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, Frankfurt a. M. 1985. Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, GW VI [1905c], London 1940, S. 123. Freud, Sigmund: Der Humor. GW XIV [1927d], London 1948, S. 383–389, hier S. 385. Landmann, Salcia: Der jüdische Witz, München 1963, S. 12. Landmann, Witz, S. 9.

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Witze zeugen vornehmlich vom untergegangenen Ostjudentum, dessen Humor jedoch speziell in den USA seine zeitgenössischen Transformationen erlebt – was beweist, dass der jüdische Witz nicht zwingend mit realer gesellschaftlicher Diskriminierung verbunden sein muss. Geteilter Humor schafft Zusammengehörigkeit und verbindet in der Gemeinschaft der Lachenden in- und exkludierende Kennzeichnungen. Eine Interviewpartnerin, Pnina Castro, erzählte, dass ihr nichtjüdischer Ehemann wütend werde, wenn sie auf diese typische Art Witze mache. Er sage: „Ihr macht alles kaputt mit eurer Art.“ Er mag sich der Gemeinschaft der Lacher nicht anschließen, denn er empfindet die Aggression als sehr destruktiv, die wie im Beispiel der von Alfred Wasserstein erwähnten Selbsterniedrigung auf die eigene Gruppe zielt. Er fühlt sich durch den jüdischen Humor zu Gefühlen genötigt, die er nicht spüren will. Dieser Mann kann dem Lachen auf eigene Kosten nichts abgewinnen, er fühlt sich im Gegenteil ausgeschlossen. Seine Frau findet es „ein ganz schwieriges Terrain“ und meint, dass „viele gemeinschaftliche Codes“ fehlten. Sie benutzt dieses Beispiel, um eine Verständigungsschwierigkeit in einer jüdisch-nichtjüdischen gemischten Beziehung zu illustrieren. Auf die Frage, was typisch sei, meint sie: Ganz grundsätzlich ist mir aufgefallen, die Art, und das ist wahrscheinlich schon jüdisch, alles infrage zu stellen, oder: Nichts ist abgeschlossen.

Die Nicht-Abschließbarkeit ist ein Merkmal des halachischen Diskurses, der seit Hunderten von Generationen immer wieder neue Antworten auf Fragen jüdischer Lebensführung generiert. Eine solche Antwort verweist daher auf intime Kenntnis der jüdischen Quellentexte. Pnina Castro meinte auch, sie finde die Frage, was typisch sei, schwierig, weil sie sich im Judentum selbst „ganz drin“ fühle. Damit macht sie auf das Problem einer optimalen Distanz zum Gegenstand bei der Selbstreflexion aufmerksam, die doch andererseits gleichzeitig selbst als „typisch jüdisch“ gilt.13

4. Ein anderer Gesprächsteilnehmer, Albert Weizmann, antwortete auf meine Frage ein bisschen im Spaß, es sei typisch jüdisch, „überall Antisemiten zu wittern“. Die Verfolgung hat eine starke identitätsstiftende und homogenisierende Wirkung, und es 13 Meyer, Michael A.: Two Persistent Tensions within Wissenschaft des Judentums, in: Modern Judaism 24 (2004), S. 105–119.

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scheint einfacher, sich gegen außen zu verteidigen, als ein differenzierendes Spezifikum für das Typische zu benennen. Deutlich drückt das René Rosenthal aus: Wobei es sind dann ja irgendwann die Antisemiten, die das [dass sich R. R. als Jude definiert; M. D.] machen, weil – und an dem reibe ich mich – weil das ist das, was es mir überhaupt ins Bewusstsein bringt. Oder es müssen ja nicht gerade Antisemiten sein, einfach Leute, die eine andere Position dazu haben. Und das beschäftigt mich hin und wieder. […] Wenn das an mich herangetragen wird, dann fühle ich mich als Jude, und dann definiere ich mich auch als Jude. Und beziehe Position. Wobei das ist dann meistens starr, man könnte das ja auch lockerer hinnehmen!

Wenn Juden, das Judentum, vielleicht auch Israel angegriffen werden, nimmt er es persönlich und ist identifiziert damit. Er reagiert auf die Fremdbezeichnung und akzeptiert sie, ja sie bringt ihm seine „Identität als Jude“ erst ins Bewusstsein. Aber dadurch wird die Identität „starr“, was ihm als nicht ich-synton vorkommt. Er würde sich einen lockereren, flexibleren Umgang mit seinem patrilinearen Jüdischsein wünschen. Er „bezieht Position“ heißt, dass er die Zuschreibung akzeptiert; aber es stört ihn, dass er dabei defensiv bleibt. Ohne „das“ (die Zuschreibung von außen) wäre er indessen gezwungen, seinem Jüdischsein eine eigene, affirmative Bedeutung zu geben, die ihm nicht ohne Weiteres möglich erscheint. Als Hypothese ließe sich formulieren, dass ihm dazu die eigene, gelebte Erfahrung fehlt (zum Beispiel in Form „jüdisch“ konnotierter familiärer Bezüge in der Kindheit). Mehrere Befragte erwähnten als weitgehend positives Merkmal den Bezug innerhalb der Familie.14 Wissenschaftlich wird die Familie meist als Ort der Vermittlung, Weitergabe und Transformation kultureller Praktiken dargestellt, an der Schnittstelle von Gesellschaft und Individuum. Hier interessiert, dass viele meiner Befragten zuerst die positiven Seiten der engen Familienbindungen erwähnen, dann aber auch auf einige negative Aspekte wie die enge soziale Kontrolle oder überhöhte Erwartungen hinweisen. Tendenziell überwiegt allerdings das Gefühl des Gehaltenseins im größeren Zusammenhang. Diese positive Bewertung der Familie überrascht umso mehr, wenn man bedenkt, dass die Sprechenden selbst in Konflikt mit den Erwartungen der jüdi14

Der Begriff „familism“ bezeichnet die Vorstellung, dass sich die (amerikanischen) Juden als Teil einer erweiterten, historisch gewachsenen Familie verstehen und die familiäre Bindung gegenüber dem Glaubensaspekt priorisieren. Vgl. Liebman, Charles S./Cohen, Steven M.: Two Worlds of Judaism. The Israeli and American Experiences, London 1990.

Jüdischsein

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schen Gemeinschaft geraten sind, als sie sich entschlossen, mit nichtjüdischen Partnerinnen oder Partnern zusammenzuleben. Negative Aspekte wie „mangelnden Distanz“ oder „manchmal ist es zu viel“ beziehen sich sowohl auf den mangelnden Respekt der Gemeinschaft vor der individuellen Partnerwahl als auch allgemein auf die Identifizierung mit der defizitären Position eines nicht mehr selbstverständlich orthoprax gelebten Judentums seit der Emanzipation.

5. Die Geschichte von Bedrohung und Verfolgung bleibt in die kollektive Erinnerung eingeschrieben. Nur der Rückzug in die kleinste soziale Einheit der Familie scheint Sicherheit und Geborgenheit vor Diskriminierung oder antijüdischem Ressentiment zu versprechen. Diese Einheit ist von der Größe her leicht überschaubar, was von den Einzelnen wegen der sozialen Kontrolle durchaus nicht nur als angenehm empfunden wird. Aber die Verbindlichkeit in den Beziehungen wird höher bewertet. Sie ermöglicht ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Zugehörigkeit, das im Alltag aktualisiert wird, etwa wenn am Freitagabend oder an Feiertagen gemeinsam gegessen und gefeiert wird. In der Vergangenheit waren die den Abend einleitenden Segenssprüche des Hausherrn oder das Kerzenanzünden der Hausfrau die selbstverständliche Erfüllung der Gesetzesnormen. Seit der Emanzipationszeit wurde das nun überwiegend gesellig fundierte Zusammensein zum freiwilligen und selbstbestimmten Akt, in den Schnipsel von Traditionen und Bräuchen integriert sind und der damit die Qualität von „sozialem Kapital“ (Bourdieu) erhält, das an die nächste Generation weitergegeben werden kann. Zugespitzt, kann man formulieren, dass Bindung Bedeutung ersetzt. Da der Zugang zum Korpus der jüdischen Überlieferungen versperrt ist – sei es durch mangelndes Wissen, oder sei es durch die mit religiösen Texten verknüpften theologischen oder politischen Konnotationen –, bleibt nur der Rückbezug auf sich selbst.15 Durch reale und/oder imaginäre Angriffe und Zuschreibungen von außen wird die eigene Bedeutung zusätzlich gefestigt oder sogar erhöht. Die selbstreflexive Beschäftigung mit jüdischer Identität – sei es in den Wissenschaften oder im Alltag – ersetzt in diesem Sinne eine eigentliche „religiöse“ Praxis.16

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Ein inspirierendes Beispiel für das Gegenteil wären Oz, Amos/Oz-Salzberger, Fania: Juden und Worte, Berlin 2013. Vgl. Gotzmann, Eigenheit, S. 210.



STRUKTUR UND EREIGNIS; ODER ZWEI BILDER, EINE GESCHICHTE Franziska Nyffenegger

„Jedes historisch eruierte und dargebotene Ereignis lebt von der Fiktion des Faktischen, die Wirklichkeit selbst ist vergangen.“ (Reinhart Koselleck)

Der Grosse Krieg ist zu Ende und die Schöne Zeit vorbei, unwiederbringlich. Europa ist im 20. Jahrhundert angekommen, definitiv. In den Tälern des Berner Oberlands ahnen die Menschen noch nichts von der Krise, die an einem Schwarzen Donnerstag später in jenem Jahr und auf der anderen Seite der Welt ihren Anfang nehmen wird. Noch ist Sommer. Noch freuen sie sich nach einem harten Winter über die warmen Tage und über die Fremdengäste, die wieder zahlreicher kommen und Geld und Arbeit in die Täler bringen. Ganz so schlimm wie früher ist es nicht mehr mit der Armut und dem Hunger, doch immer noch reicht die kleine Landwirtschaft fürs Überleben eher schlecht als recht. Glücklich, wer am Wegrand nicht betteln muss, sondern den Fremden etwas verkaufen kann: das Echo eines Alphorns, ein Andenken, einen Juchzer. Das Bild zeigt, dass der ältere Herr den Kindern etwas zeigt, nicht aber, was er ihnen zeigt, das so interessant ist, dass nur zwei aus einem guten Dutzend sich von ihm abwenden und direkt in die Kamera schauen und Blickkontakt aufnehmen mit dem dahinterstehenden Mann, dem Urgrossvater und passionierten Amateurfotografen, der diesen Schnappschuss im hellen Südlicht auslöst und der das Bild viele Wochen später neben anderen Bildern auf einen schwarzen Kartonbogen kleben und mit akkuraten Buchstaben anschreiben wird, mit einer Legende allerdings, die nichts darüber sagt, was der ältere Herr den Kindern so Spannendes zeigte, so spannend, dass bis auf zwei alle gebannt zuhörten, die aber immerhin einen Namen preisgibt, einen Namen, der sich fast neunzig Jahre später googeln lässt, ein Name mit Biographie. Auf der Reuti, einem Weiler am Hasliberg, räumt die Bergbauernfamilie Wohn- und Schlafzimmer. Sie macht Platz für die Gäste aus der Stadt, so wie es jetzt viele machen im ganzen Alpenbogen zwischen Innsbruck und Chamonix. Mit weniger Aufwand bringt

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das Vermieten von Fremdenzimmern gleich viel und mehr als das Verkäsen von Milch. Den Städtern gefällt es hier. Sie schauen in die Landschaft und finden die Berge schön, die steilen Hänge, an denen im Winter die Lawinen niedergehen und im Sommer das Heuen kaum die Mühe lohnt, die Bäche, die im Frühling anschwellen und alles mit sich reissen, die Weiden und Wälder. Ihnen gefällt das einfache Holzhaus, der Heuboden, das Haslital, und ganz besonders gefällt es dem Professor, der Steine studiert, Felswände und Schluchten, der alles abzeichnet und kartiert und darüber ganze Bücher schreibt. Für ihn, seine Frau, seine vier Kinder und das Dienstmädchen richtet die Bergbäuerin ihr Haus und freut sich über ein wenig Zugeld und Abwechslung in diesen heissen Sommertagen. Es ist der 24. Juni 1929 und Nacht. Das Schiff gewinnt an Fahrt und verlässt den Hafen, in dem es tagsüber vor Anker gelegen hat. Die Passagiere sitzen nach dem letzten Landausflug vor der grossen Überfahrt müde in ihren Kabinen. Einer nutzt die Ruhe, um zu schreiben, um alles aufzuschreiben, was er heute gesehen und erlebt hat, um festzuhalten und nicht zu vergessen. Achtzehn Tage werden die acht Bogen Papier unterwegs sein. Über die Farbigkeit der Fremde staunend werden die Daheimgebliebenen lesen: Es ist Feiertag (San Juan). Viele schöne Frauen- und Kindergesichter sieht man, Gestalten mit spanischen Shawls u. Schleiern, Kopftüchern etc. Viel verlumptes Volk in düsteren, dreckigen Gassen, denen der typische Geruch südlicher Städte entströmt. (…) Etwa 700 m über Meer wird ein eigentümliches, an einem Bergkamm und -hang angeklebtes kleines Nest besucht, dessen Häuser rückwärts alle in den Fels, hier ein ziemlich lockerer Tuff, eingehaut [sic!] sind, also eine Art ‚Höhlen’dorf darstellt. Nachdem es zuvor bei Wind recht kühl war, kommt nun die Sonne durch die Wolken u. es gibt Gelegenheit, das bettelnde Kindergesindel, die Hütten und die stattlichen Matronen zu photographieren. Die Gofen sind von einer unerhörten Indringlichkeit, dreckig u. zerlumpt, u. in ihren rabenschwarzen Haaren mag sich mancher Insasse befinden. Alle wollen Pennys haben u. so treiben sie ihre Fremdenindustrie. Es ist ein beliebtes Ausflugsziel der Reisenden, die man offenbar sehr gut kennt. Dann geht die Fahrt weiter talwärts.

Sie haben keinen Namen, kein Alter, keine Biografie. Sie schauen direkt in die Kamera, ernst, stumm, lange. Dem Vater – oder ist es ein Grossvater? – gelingt das besser als dem Mädchen. Seine Hände wollen zurück an die Arbeit, seine Augen spiegeln Ungeduld. Der Fotograf hat ein Stativ aufgestellt und mit Bedacht einen Bildausschnitt gewählt: Vorder-

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Franziska Nyffenegger

Archiv Franziska Nyffenegger, Zürich.

grund, Mittelgrund, Hintergrund. Jetzt gibt er letzte Anweisungen, komplettiert seine Komposition. Später wird er dem Bild eine Nummer zuweisen und den beiden Figuren eine Identität, eine gewerbliche, keine lebensgeschichtliche. Dann wird er das Bild verkaufen, immer wieder, bis sich dessen Geschichte verliert, bis das Bild selbst zur Geschichte gerinnt, bis nur das Bild eines Bildes übrig bleibt, ein Bild ohne Geschichten. Vielleicht heisst eines der Mädchen auf dem Schnappschuss des Urgrossvaters Maria Guerra. Vielleicht ist es Maria Guerra, die gekleidet in ein einfaches weisses Röckchen keck in die Kamera des Urgrossvaters blickt und sich von den Ausführungen des Dr. Kukuk nicht beeindrucken lässt. Maria Guerra, im Dorf besser bekannt als „la Quemá“, die Brennerin, die schon als Kind gelernt hat, wie aus Lehm Geschirr wird und aus Geschirr Geld. Maria Guerra Alonso, „la alfarera“, die Töpferin, verstorben am 23. Januar 2015 als älteste Vertreterin einer Kunst, die auf der Insel seit Generationen ausgeübt wird. Maria Guerra, in hohem Alter vielfach von der Volkskunde befragt als Zeugin einer Zeit, in der die Kinder die Fremden um Pennys baten und immer einen kleinen Hunger hatten. Diesmal reist die Urgrossmutter mit den vier Kindern alleine auf den Hasliberg. Der Professor ist unterwegs, weit weg, auf der anderen Hälfte der Erdkugel, dort, wo es im Hochsommer kalt ist und im Winter warm, die Menschen schwarz und die Tiere wild. Sie wird eine Karte aufhängen und in der gemieteten Stube gemeinsam mit den Kindern verfol-

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9100 Alphornbläser und Spitzenklöplerin im Lauterbrunnenthal. Archiv PhotoFritz Lauener, Wengen.

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gen, wo er gerade ist, der Papa, auf seiner grossen Reise. Viele Wochen ist er nun schon unterwegs und er fehlt ihr, nicht nur, aber auch, wenn die Launen des ältesten Sohnes ein väterliches Machtwort erforderten. Wie beinahe jeden Abend seit ihrem achtzehnten Geburtstag führt sie Buch über ihre Tage. In Stichworten und knappen, meist unvollständigen Sätzen hält sie fest: die Krankheiten der Kinder, die Besuche bei Verwandten, die Pflichten der Hausherrin, die Geburtstage der Geschwister, die Streitereien des Alltags, die Geigenstunden und Hauskonzerte, die kleinen Fluchten … 11.6.[1929] Morgen 7 Uhr P. fort nach Afrika. Mit allen an Bahn. Schwer. – P. bis n. Frankfurt. Winden geputzt. (…) 6.7. Aufbruch 6.35 n. dem Hasliberg. Regen im Hinaufweg. Schnell ausgepackt. Wonniger ruhiger Nachmittag. (…) 29.7. Widerwärtige Stimmung am Morgen unter den Kindern. Mittag durch Aareschlucht. Sehr nett. 30.7. Wetter immer unbeständig. Abend zwei sehr lange Briefe von P., nur 18 Tage von Kapstadt.

Von einem Ausflug nach Lauterbrunnen erzählen die Tagebucheinträge dieses Sommers nichts, nichts von der Begegnung mit einem Alphornbläser und nichts davon, dass einem Kind im Alter der ältesten Tochter Spitzen abgekauft worden wären. Ein Zusammenhang, so plausibel er sich erzählen liesse, wäre erstunken und erlogen. Ein Zusammenhang, so wenig belegbar er scheint, lässt sich nicht leugnen. Im Kopf der Urenkelin schauen sie sich für einen Moment an, die Mädchen auf den alten Fotos, begegnen sich und lachen.

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Quellen Tagebuchbriefe von Paul Arbenz (*1880; †1943), verfasst zwischen dem 11.6. und dem 22.10.1929 während einer Reise nach Südafrika aus Anlass des 15. Internationalen Geologenkongresses in Pretoria sowie Alben mit Fotografien zu dieser Reise Tagebücher von Marta Arbenz-Keyser (*1882; †1966) Notizen zu Gesprächen mit Suzanne Arbenz (*1915; †2009) und Martha Arbenz (*1921; †2014), geführt im Frühling 1991 Google-Recherche zum Suchbegriff „Atlaya“, durchgeführt im Oktober 2016

Literaturhinweise/Inspirationen Burke, Peter: Augenzeugenschaft, Bilder als historische Quellen, Berlin 2003 (2001). Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft, Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M., 1984 (1979). Nyffenegger, Franziska: Erstunken und erlogen, Notizen zum ethnographischen Schreiben, in: Mettler, Michel et al. (Hg.): Holy Shit, Katalog einer verschollenen Ausstellung, Zürich, 2016, S. 206–207. Picard, Jacques: Biografie und biografische Methoden, in: Bischoff, Christine et al. (Hg.): Methoden der Kulturanthropologie, Bern, 2014, S. 177–194. Rutschky, Michael: Foto mit Unterschrift, Über ein unsichtbares Genre, in: Volk, Andreas (Hg.), Vom Bild zum Text, Die Photographiebetrachtung als Quelle sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, Zürich, 1996, S. 117–133.

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It hurt Brigitte Lustenberger



2 PASSAGEN UND TRANSFORMATIONEN





„BUT I, I’M NOT A LOW PROFILE.“ Die Erfolgsgeschichte einer Schweizer Auswanderin Walter Leimgruber

Mein Navi spinnt, scheint mir. Angeblich fahre ich schon längst nicht mehr auf einer Strasse, sondern durch den lockeren Baumbestand. Aber die Straße ist fest, und links und rechts liegen, wenn auch meist hinter riesigen Hecken und bulligen Eingangstoren verborgen, grosse Anwesen. Ich kurve herum, frage einen Gärtner nach dem Weg. Später erzählt mir jemand, dass es hier in Beverly Hills Strassen gebe, die nicht offiziell eingetragen seien, damit die prominenten Anwohner etwas mehr Privatsphäre hätten. Keine Ahnung, ob diese Geschichte stimmt oder nur zu den vielen Mythen Hollywoods gehört. Auf jeden Fall stehe ich endlich vor dem Anwesen mit eindrücklichem Tor, das sich langsam öffnet. Ich fahre zum Eingang, parkiere und fühle mich tatsächlich wie in einem alten Hollywoodfilm: wunderschönes Haus, riesiges Gelände, ich werde von einer Angestellten in einen Salon geführt, der den Blick frei gibt auf Garten, Swimmingpool, Tennisplatz, Rasen. Genau so stellt man sich das Leben hier vor. Die blonde, schlanke und sportliche Mittsiebzigerin, die in den Salon tritt, sieht aus wie eine Hollywooddiva. Sie behauptet, ihr Schweizerdeutsch sei eingerostet, möchte das Interview auf Englisch führen. Daraus wird eine aparte Mischung, Linda springt immer wieder hin und her zwischen Mundart und Englisch, erzählt anschaulich und voller Lebendigkeit, wir parlieren den ganzen Nachmittag. Ist das jetzt diese berühmte „Vom Tellerwäscher zum Millionär“-Story auf weiblich? frage ich mich. Vielleicht ist sie das, vor allem aber ist es die Geschichte einer begabten Frau, die in der Schweiz der späten 1950er-Jahre keinen Platz fand, weil man für Frauen nur den einen vorgesehen hatte, und die sich damit nicht abfinden konnte und auswanderte. Brain drain nennt man dieses Phänomen in der Auswanderungsliteratur, dort aber meist bezogen auf die begabten und gut ausgebildeten Abwanderer aus armen Ländern, die in den reichen nach besseren Verdienstmöglichkeiten und höherer Lebensqualität suchen. Die Geschichte von Linda zeigt, dass brain drain auch das Problem reicher Länder sein kann, wenn diese ihre Talente nicht fördern. In der zweiten Hälfte der 50er-Jahre schliesst Linda in Zürich das Gymnasium mit der Latein-Matur als eine der Besten ab. Und sie weiss genau, was sie will: Medizin stu-

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dieren. Doch bei der Berufsberatung sagt man ihr, wie das abläuft: „Wenn’s fünfzig Männer sind und ich ... Ich bin brighter als alle die Männer (klatscht in die Hände), I don’t have a chance at the university. No way. Und I’m Jewish, so … (lacht) Und sie sagen: „And if there are fifty Christians and you’re Jew you don’t have a chance.“ Das sagen sie ihr „ins Gsicht ine“. „Sie brauchen es nicht einmal probieren.“ Frau und jüdisch. „You haven’t got a chance.“ My mother accepted it, my father accepted it. I didn’t. I didn’t. But I, I ... you know, how can you fight all the institutions by yourself?“ „Wo sind Sie sonst noch begabt“, fragt der Berater, zu dem sie ihr Vater schickt. „Und meine Mutter antwortet: ,Well, sie spricht schon drei Sprachen. Schon Französisch, Deutsch und Italienisch, und sie bringt sich selbst Englisch bei.‘ Und dann (lacht kurz) haben die gesagt: ‘Why doesn’t she become a translator at the UN?’ A translator at the UN: Hell no! Not for me. I have my own ideas. Aber die Frauen sind damals alle Sekretärinnen gewesen oder, ... oder haben im Restaurant gearbeitet oder als Verkäuferinnen. Es hat gar keine real jobs gegeben für Frauen damals.“ Linda erkennt, was es bedeutet, in diesem Land Mitte der 1950er-Jahre Frau zu sein: hintenanzustehen, nicht an den eigenen Leistungen gemessen zu werden. Nicht dass ihr das als Jüdin ganz neu gewesen wäre. „You know, I had a double curse (sie lacht etwas sarkastisch). I was a woman and I was a Jew. In the lower classes, I sat for seven years alone in the bench. Nobody would sit with me. … Warum haben sie’s gewusst? Weil ich nicht in den Religionsunterricht gegangen bin. Gell!“ Auch nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es den Mathematiklehrer, der es nicht lassen kann, dümmliche antisemitische Sprüche zu machen. Aber ihre Familie gehört zum gut integrierten Bürgertum, ihr Vater ist ein angesehener Unternehmer, der verschiedene Firmen leitet, kein Aussenseiter. Doch wie viele andere Juden sind die Eltern sehr darauf bedacht, nicht aufzufallen. „I remember my parents saying: ‘Keep a low profile, keep a low profile, keep a low profile.’ But I, I’m not a low profile. I say what I want. That’s my nature.“ Und ihre Mutter? Sie ist eine kluge Frau und sehr begabt, auch wenn sie nie eine höhere Ausbildung erhalten hat. Die Eltern sind konservativ und wollen vor allem eines: ihrem Kind eine gute Erziehung mitgeben. Aber „ich bin immer e chli ein Rebell gewesen“. Ihr grosses Vorbild ist ihr Grossvater, der aus Russland zuerst nach Frankreich und dann in die Schweiz ausgewandert war und der verschiedene Unternehmen aufgebaut hatte. Seine Art und Weise, die Welt zu sehen, sein Auge für Möglichkeiten inspirieren Linda. „And he always said you can do anything. ... So, what he did: he started one company after another. And each was successful. (lacht) And some very Swiss. You know, I

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can tell you one story, which is really funny. He had a car. So, he rides around Switzerland and he sees the girls spinning in the little villages. Right? He says: ‘Why do you ruin your nice little hands?’ They said: ‘Well, we have to because we are making our trousseau.’ He said: ‘What’s that?’ They said: ‘Well, we have a box and we have to make two linens and four pillows and blablabla ... and when it’s finished we can get married.’ He said: ‘Really?’“ Der Grossvater fährt heim und schickt einen Einkäufer nach Irland, um dort Leinen einzukaufen, einen nach Ägypten für Baumwolle, einen für Damast. Dann kauft er ein Unternehmen, das diese Truhen herstellt, kauft Hunderte von Nähmaschinen und baut für sie eine Fabrik. Er heuert Verkäufer an, die er losschickt. Wo immer ihr eine junge Frau spinnen seht, erklärt der Großvater ihnen, zeigt ihnen die Bilder, zeigt ihnen die Stoffe. Und sagt ihnen, dass sie nur einen Franken pro Monat bezahlen müssen, und schon können sie morgen heiraten. „I love this, you know... This is so wonderful.“ Und alle jungen Frauen bezahlten pünktlich. Nur einmal bezahlte eine plötzlich nicht mehr. Drei Jahre später brachte sie das Geld und erklärte, sie sei sehr krank gewesen und habe das Geld für die Medizin gebraucht. Aber nun habe sie es zusammen. „He said: ‘I never lost money.’“ Die Schweiz wird dem geschäftstüchtigen Mann aber immer wieder zu eng. „And then he said: ‘Switzerland is a little dull.’ He disappeared. He comes back, he takes me by the hand, we go to the railroad station. A train arrives, a whole train, with Persian rugs. He introduced Persian rugs in Switzerland.“ Danach baute er Kinos, realisierte alle seine Ideen. Schließlich stieg er ins Immobiliengeschäft ein. „I mean he was unbelievable. He was fantastic. And I saw all that. Everybody said ‘you can’t’ and he said ‘you can’.“ Als gute Mittelschülerin beginnt Linda mit achtzehn Jahren, für verschiedene Zeitungen zu schreiben. Die Redaktionen wissen nicht, wie jung sie ist. Sie erhält ein kleines Pensum bei einer seriösen Wochenzeitung. Auch für ein Frauenmagazin schreibt sie. Nach der Nichtzulassung zum Medizinstudium reift in ihr ein Entschluss: „Das lass ich mir nicht bieten.“ Linda: (lacht kurz) „I, I didn’t say anything. You know, but I was seething. And, and I understood everything that was going on. And I said: ‘You know what? I’m gonna leave. I’m just gonna leave. But I’m not telling anybody. I’m gonna plan this.’“ (schmunzelt) Jeden Montag hört sie im Radio eine Sendung aus Amerika. Aus New York berichtet ein Reporter über Politik, Arbeit und Wissenschaft. Und von der Sendung hätten sie „keine zehn Pferde“ wegbekommen können. Sie hört das „wie die Bibel, gell“. Dorthin will sie, nach Amerika. Sie geht auf das amerikanische Konsulat und beantragt ein Einwanderungsvisum, eine green card. Und lernt mehr Englisch. Nach 19 Monaten

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schickt ihr das Konsulat einen Brief mit dem Visum. Sie informiert ihre Eltern und es kommt zu einer heftigen Auseinandersetzung. Die Eltern wollen ihr als Ablenkung eine Reise in die USA schenken. „Die haben halt gedacht, dass ich jemanden in ihrem Freundeskreis heirate. And I said: ‘Ich kann das nicht machen.’ Das geht einfach nicht. Warum? Because, ich kann nicht hier arbeiten, ich kann hier nicht machen, was ich machen will. Und, well, dann habe ich gesagt: ‘Aber ich verstehe: He, who has the money makes the rules.’ Ich hab gesagt: ‘Ok, wenn ihr nicht damit einverstanden seid, muss ich es trotzdem machen.’“ Und so bricht sie auf nach New York, mit 640 Dollar in der Tasche. „Und ich hab natürlich gedacht, das sei ein fortune.“ Damals entsprach ein Dollar noch vier Schweizer Franken. Sie verhandelt mit der Zeitung und erreicht, dass sie während sechs Monaten einen wöchentlichen Bericht aus der UNO schreiben kann. In New York lernt sie schnell, sich durchzusetzen, zuerst einmal beim bulligen Wachmann am Eingang des UNO-Gebäudes, der sie nicht einlassen will, weil er sie für eine Besucherin, nicht für eine Journalistin hält. „And the guy there was a big Irish guy in the office, you know, Mr. Kelly. And he says: ‘Little girl, you got the wrong room.’ I said: ‘I may be little but I don’t have a little brain.’ (lacht) I said: ‘And I am a journalist. And here are my credentials.’ You know, and he laughed. He laughed. He says: ‘Good for you.’“ In Amerika wird sie mit offenen Armen empfangen. „In dem Moment, in dem die Amerikaner merken, dass jemand gescheit ist und Talent hat, fördern sie dich.“ Das Land strotzt in den frühen 1960er-Jahren vor Innovationslust und Unternehmergeist. „Wie d’ Schwümmli nach äm Räge“ [wie Pilze nach dem Regen] spriessen die Unternehmen aus dem Boden. Linda ist überrascht, welche Türen aufgehen. Ihre Stationen sind ähnlich wie die vieler Einwanderinnen. In der ersten Woche landet sie im ‘Swiss Town House’, wo andere junge Frauen leben. Eines Tages ruft jemand an und sucht eine Babysitterin. „Well, I never knew what a babysitter was and did. I said: ‘Sure.’“ (lacht) Sie geht zu den Leuten nach Hause, ein wunderbares Anwesen mit Büchern überall. Das Kind schläft. Lass es in Ruhe, wenn es ruhig ist, sonst sieh nach ihm, weisen die Eltern sie an. Sie geben ihr eine Telefonnummer und sind weg. Das Baby bleibt die ganze Nacht ruhig, Linda hat Zeit, in den vielen Büchern zu schmökern. Und es stellt sich heraus, dass der Hausherr ein Verleger ist. „Du kannst Deutsch, Französisch, Italienisch? Du könntest für uns fortan Manuskripte lesen und zusammenfassen, damit wir sie beurteilen können.“ Das tut sie. „Das ist die Haltung, die ich überall angetroffen habe.“ Linda geht dennoch langsam das Geld aus, für ihre Artikel erhält sie nur ein kleines Honorar. Sie zieht mit einer anderen Schweizerin in ein Apartment. Sie haben keine

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Ausstattung, ein Nachbar schenkt ihnen 23 Cola-Gläser und eine Pfanne. Frottiertücher fehlen, sodass sie die Haare am offenen Fenster trocknen. Und wenn eine von ihnen mit einem Mann ausgeht, bringt sie der anderen die Hälfte des Essens mit nach Hause. „You know, the guys loved foreign women. … Because they thought they were more Hoochie Coochie.“ Sie geht an die Uni, aber die schweizerische Maturität wird nicht anerkannt, sie müsste zurück auf die High School. Das will sie aber auf keinen Fall. Nach einem Test darf sie zwar studieren, kann aber keinen Abschluss machen. Sie schreibt sich an der Columbia University in Philosophie und amerikanischer Literatur ein. Und sie erhält einen Job bei einem weiteren Verlag. So hat sie nun drei Jobs. Und dann entdeckt sie im Fernsehen die Werbesendungen und beginnt, über Werbung und Konsum nachzudenken. „I said: ‘I can do that. Grandpa did that. You know, I can do that.’“ New York in den frühen 1960er-Jahren ist eine Welt des rasch wachsenden Konsums und der Werbung, welcher sich mit dem Fernsehen neue Möglichkeiten eröffnen (Mad Men lässt grüssen), bald auch der Beat-Generation. Linda bekommt eine Stelle in einer Firma, die mehrere Magazine herausgibt. Eines davon läuft überhaupt nicht. Linda hatte der Firmenleiterin geschrieben und ihr gesagt: „I know how to turn around this magazine.“ Sie ist 22 Jahre alt und erhält den Job. Das ganze Magazin ist der Mode gewidmet. Und Mode generiert damals sehr wenig Werbeeinnahmen. Also baut sie das Heft um in ein Service-Magazin mit den zusätzlichen Themen Ernährung, Möbel, Kosmetik, Features. „In one year, I had it in the black, it was unbelievable.“ Sie geht zu den Firmen, die Anzeigen schalten sollen, erklärt ihnen den neuen Markt der Teenager, dem sie komplett überfordert oder desinteressiert gegenüberstehen. Sie kämen mit wenig Geld in diesen Markt hinein, erzählt sie den Managern und erhält viele Werbeaufträge. Das Magazin macht Gewinn und sie lernt viel über die Wirtschaft wie auch über die junge Generation. Und sie startet ihr zweites Turn-around-Projekt, eine Ladenkette mit grossen Verlusten. „Terrible. They had soaps on the shelves and men’s waters and… Just horrible.“ Sie beobachtet schon seit einiger Zeit von New York aus, wie sich Swinging London, damals die angesagte Stadt der Jugend, entwickelt, erlebt den Aufstieg der Beatles, den Erfolg der Einkaufsstrasse Carnaby Street. „This is perfect for this company.“ Die neue Mode prägt das Aussehen der Jungen, und viele der kleinen Geschäfte tun sich schwer mit einem adäquaten Angebot. Linda erkennt wie einst ihr Grossvater, was zu tun ist. Sie macht der Firma ein Angebot, sie neu zu positionieren, verhandelt mit dem Chef, der ihr den doppelten Lohn des Magazins bezahlt. Mit 23 wird sie Vizepräsidentin und Kreativdirektorin des Unternehmens. Ihre Ideen funktionieren, sie holt junge Desig-

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ner aus England, lanciert den „London Look“ (Linda klatscht zweimal kurz in die Hände und macht das Piuuu-Geräusch einer abhebenden Rakete). Die Kunden kommen, das Geschäft floriert. Und wird schliesslich für 140 Millionen Dollar verkauft. Das ist eine riesige Summe in den frühen 60er-Jahren. „And I made, what I thought was a fortune, I made like sixty thousand dollars or what.“ Sie bleibt eine Weile, doch dann wird ihr klar: Das kann sie auch selbständig machen, sie muss nicht als Angestellte arbeiten. Und von nun an entwickelt sie ihr Geschäftsmodell. Für Betriebe, die nicht mehr laufen, entwickelt sie eine neue Strategie, versieht sie mit einem neuen Gesicht. Davon kann sie leben, verdient mit am Erfolg. Doch auch das ist ihr nicht genug: „I said: ‘Linda, this is a dumb model that you picked. You made a mistake.’ Warum: Du nimmst eine Marke und drehst sie. Die Leute sagen danke und bezahlen dir den Lohn. Sie brauchen dich nicht mehr. Du gehst zum nächsten Auftrag und sie machen Millionen. I said: ‘I wanna make millions and let them have a fee.’“ (lacht) Sie verkauft ihr Beratungsgeschäft 1973. Damals gibt es noch nicht sehr viele Geschäftsfrauen. Linda ist entsprechend bekannt, „I was at Johnny Carson [einer der bekanntesten TV-Shows], I had ten seconds of fame, you know, I was in the Wall Street Journal. You know, that stuff.“ Sie will nun selbst eine Firma kaufen und neu positionieren, findet auch eine, die aber mit falschen Zahlen operiert. Und dann erhält sie einen Anruf von Mister Black, der in der Führungsetage einer der grössten Banken der Welt sitzt. Dort brauchen sie jemanden, der etwas von der Konsumentenseite versteht. Sie spricht fünf Stunden mit ihm, erzählt ihm, dass sie von Banken keine Ahnung habe. Doch das interessiert ihn nicht, sie wird Verantwortliche für die Kundenstrategie. Und sie geht wieder an die Universität, studiert an der Columbia Ökonomie, weil sie mehr über die wirtschaftlichen Prozesse wissen will. Sie hilft mit, die ATM (Bankomaten) so zu gestalten, dass die Menschen mit den Maschinen umgehen wollen und können. Die Bank kauft andere Banken, um dort ihre Technologie zu installieren. Sie braucht deren Standorte, nicht die Filialen, von denen viele durch ATMs ersetzt werden. Während sie in Europa einen weiteren Kauf verhandelt, ruft ihr Chef an und fordert sie mit sehr drastischen Worten auf, sofort zurückzukommen: „Linda, get your ass over here.“ (lacht) Der oberste Boss will sie treffen. Sie erzählt auch diesem, dass sie weniger vom Bankengeschäft versteht als die meisten Angestellten. Er schaut sie an, als sei sie verrückt. „Aber Black sagt mir, dass Sie alles wissen, was wir nicht wissen.“ Und sie erklärt ihm, wie sie das Geschäft positionieren, wie sie Dienstleistungen anbieten würde. Denn darum geht es, um Dienstleistungen, die viel Infrastrukturkosten verursachen und die möglichst effizient und kun-

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denfreundlich ausgestaltet werden müssen. Es geht darum, die verschiedenen Ebenen und Produkte zu bündeln, für die Kunden zu optimieren und gleichzeitig die Kosten zu senken. Auf diese Art haben es die Banker bisher nicht betrachtet, ihnen fehlt eine langfristige Strategie, was sie dem obersten Boss auch sagt. Der haut auf den Tisch. Und sie wird Verantwortliche für die globale Strategie, denn die Bank müht sich schon lange mit allen möglichen Leuten ab und gibt viel Geld aus für Strategiepläne, ohne dass etwas funktionert. „Really junk.“ Und nur deshalb wird sie überhaupt angehört, davon ist sie überzeugt – sie, die so ganz andere Ideen hat. Sie ist in ihren späten Dreissigern und sie sagt unliebsame Dinge noch immer sehr direkt, auch wenn sie gelernt hat, sie etwas netter auszudrücken. Zwölf Jahre arbeitet sie nun für die Bank. Daneben studiert sie immer noch Wirtschaft. Da sitzt sie nun an der Uni, kann aber keinen Abschluss machen, weil die Maturität nicht anerkannt wird, und entwirft gleichzeitig die globale Strategie für eine der grössten Banken weltweit. „But for all intents and purposes I’m degreeless. (lacht) Ehm, because I fell between table and chairs.“ Aber die Auseinandersetzung mit den Universitätsprofessoren inspiriert sie. Begierig saugt sie deren Theorien zu Konsum und Dienstleistungen auf. Doch die Leute in der Praxis verstehen die Wissenschaftler nicht, die zwar gute Theoretiker sind, aber keine Ahnung haben, wie sie ihr Wissen verkaufen und anwenden können. Sie übernimmt diese Ideen und setzt sie um. Und es funktioniert. Sie baut für die Bank in Harvard, an der University of Southern California (USC), am Massachusetts Institute of Technology (MIT) Forschungsgruppen auf. Zweihundert Leute arbeiten an allen möglichen Aspekten der globalen Strategie. „It was brilliant (schnippt leise mit den Fingern) for me to learn. My own learning curve went like this, you know, my capital, my intellectual capital … it just (macht Piuuu-Geräusch). The whole concept was fantastic. It, it really showed you where post-industrial economies were going. And now we’ve passed that. We’re in a linkage economy, we’ve passed that.“ Sie wüsste auch heute genau, was zu tun wäre. Im Jahr 1981 wird der Plan umgesetzt, ihre Gruppe aufgelöst. Der Erfolg ist da. Und was bietet man ihr an: Die Leitung der Bank in Indien oder Bangladesch. „Hell no! What am I gonna do over there? Then they asked me if I wanna run the first women’s bank in Saudi Arabia. They had a lot of Saudi money. And I said: ‘Are you kidding? I’m Jewish, they’ll stone me in the square…’. They said: ‘Aren’t you Irish?’ I said: ‘No.’ They said: ‘Well you look Irish.’ … I said: ‘No, sorry, can’t help you.’“ (schmunzelt) Sie hat gut verdient, doch während ein Mann wohl eine leitende Funktion erhalten hätte, bietet man ihr irgendeinen Aussenposten an. Sie lehnt ab, auch weil diese operative Tätigkeit definitiv nicht ihr Ding ist. „And you know, I wouldn’t have gotten it if they hadn’t

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been in a jam. I mean, I’m not kidding myself, I still was a woman. You know, and there are glass ceilings. And they didn’t make me a vice chair after that or anything like that.“ Immerhin schafft sie es auf die Titel grosser Blätter. Und die Fotos auf ihrem Sideboard zeigen sie mit Reagan, den Clintons und anderen Persönlichkeiten amerikanischer Politik, weil sie nun auch zu Wirtschafts- und Handelsgesprächen der Regierung eingeladen wird. Sie ist definitiv angekommen. Und wieder spürt sie, wo die Musik spielt, nämlich zunehmend an der Westküste, nicht mehr im alten Osten. Sie steigt hier ein. „And I came out there and my eyes were opened when I came to California. You know, I saw different forms of cooperations, horizontal rather than pyramidal. And I began to see the implications, you know, the global implications. I could see how Asian philosophy thinking, business methodology and so forth was brought into this area of the country. I saw the influence of South America. And I said: ‘You know what, this is the new epicenter out here. This is it.’ You know, there was the green revolution, and the health revolution, and the tax revolution. The world didn’t even notice. And I said: ‘Holy Christ. What’s going on here? ... I have to come here. (lacht) It’s the new epicenter.’“ Und sie erhält das Angebot einer Seifenfirma, die Hilfe braucht. Die Firma ist mit einem Wert von rund 23 Millionen so klein, dass sie eigentlich kein Interesse daran hat. Schliesslich willigt sie aber dennoch ein, eine Strategie zu entwerfen, bis hinunter auf die Stufe der einzelnen Produkte. „It won’t be a soap company anymore.“ Sie zieht nach Kalifornien. Zu Beginn der 1990er-Jahre kauft ein global tätiges Unternehmen die Firma für achthundert Millionen. Was für eine Wertsteigerung! Diesmal erhält sie „a nice junk“. Nicht dem entsprechend, was sie für die Firma getan hat, das Geld eines solchen Verkaufs wird halt nach einem bestimmten Schlüssel aufgeteilt. Immerhin bekommt sie den grössten Anteil. „I made money, I made good money. But I had made a few hot deals before. So I was financially pretty independent by then.“ Doch nun hat sie genug von Konsumgüterfirmen, sie fängt an sich zu langweilen. „Irgendwann habe ich genug Firmen neu positioniert, die Zahnpasta produzieren“, schmunzelt sie. Sie will wieder in den Bereich, der sie immer interessiert hat und der ihr damals verschlossen geblieben ist: in die Medizin, die Wissenschaft. Mit Freunden aus dem Bereich der Molekularbiologie gründet sie eine Firma. Die Wissenschaftler haben gute Ideen, aber keine Ahnung, wie man diese verkauft, weil sie eine Sprache sprechen, die niemand versteht. Ihre Freunde erklären Linda wochenlang, was genau sie tun, bis sie es so gut versteht, dass sie es auch anderen erklären kann. Sie wird also doch noch eine Art Übersetzerin, wie es ihr damals in Zürich der Berater empfohlen hat. Sie muss ein vollständig neues Vokabular lernen und übersetzt nun Wissen-

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schaftssprache in Businesspläne. Sie sammelt bei Investoren 4,5 Mio. Dollar, um die Firma aufzubauen. Auch dieses Unternehmen wird mit einigem Gewinn verkauft. Sie weiss jetzt, wie man ein wissenschaftliches Konzept in ein Produkt verwandelt, wie man mit den Behörden verhandelt, wie die Zulassungstests in den verschiedenen Versuchsphasen zu organisieren sind. Aber nie weiss man, was am Ende herauskommt. Immer wieder findet sie Forscher – die meisten ebenfalls Migranten –, die an neuen Ideen arbeiten, z.B. einen brillanten Wissenschaftler aus Serbien, der die Frage, wie man Alzheimer behandeln könnte, neu denkt, weil die bisherigen Ansätze gescheitert sind. Sie sammelt auch für ihn einige Millionen, er organisiert die Forschung. Zur Zeit des Interviews steht eine Firma, für die sie seit acht Jahren aktiv ist, in Phase zwei der Zulassungstests. Es geht um eine Immuntherapie gegen eine sehr schnell tödlich verlaufende Krebsart. Die Tests sind ermutigend. Für die Krebsfirma ist sie ohne Bezahlung tätig, hält aber ein Aktienpaket. „Ich kann mir das jetzt leisten.“ Sie erzählt von ihrer Haltung, wie sie gelernt hat, wie man an einer Idee auch dann festhalten muss, wenn alle anderen lachen. „There’s a lot of people who are laughing … or joking. (klatscht in die Hände) But when you arrive with an idea and you know, you have this inner sense of the rightness of the idea. You can almost feel it. Stay with it. Stick with it.“ Sie hat es geschafft. Und doch hat sie – nicht untypisch für viele erfolgreiche Frauen ihrer Generation – einen hohen Preis für ihren Erfolg bezahlt. Sie bekam keine Kinder. Ihr erster Ehemann, ein Arzt, hatte ihr in den frühen sechziger Jahren die ersten Pillen verschafft. Weil er, den sie während seiner Ausbildung finanziell und auch beim Schreiben seiner Arbeiten unterstützt hatte, keine Kinder wollte, trennten sie sich. Denn sie wollte Kinder. Und realisierte erst später, dass diese Pillen von damals sie unfruchtbar gemacht hatten, dass sie nie Kinder haben würde. Umso wichtiger wird ihr die Familie in der Schweiz. Ihre Eltern kommen bis ins hohe Alter regelmässig in die USA. Und der Kontakt zu ihrem Bruder und dessen Familie ist intensiv. Sie schwärmt von ihren Nichten und deren Familien. Am späten Nachmittag, das Gespräch dauert schon einige Stunden, spricht Linda auch von ihren Selbstzweifeln. Die beginnen in der Schule, wo niemand neben ihr auf der Schulbank sitzen will, wo sie isoliert ist. Sie erzählt, wie sie damals denkt: „Maybe there’s something wrong with me.“ Sie weiss: „I had to be smarter, I had to be better, I had to be faster, I had to, you know, get better grades … Till … And it was a curse. I tell you, I suffered. I … I, emotionally, it was very difficult. Because I didn’t believe in myself, in those early years.“ Sie schafft es, hat Erfolg, doch die Zweifel bleiben. Sie besucht Therapien und findet mit Hilfe dieser intensiven Auseinandersetzung viele Antworten. „Frauen haben damals überhaupt nichts gezählt“, beendet sie ihre

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Geschichte. „Rückblickend habe ich wohl das Richtige getan. Ich habe das nie bereut, auch wenn es mich meiner Familie beraubt hat. It was a big price to pay but … you know, I see them often enough.“

EARLY CAREER PROFESSIONALS ADJUSTING TO THE WORK AND LIFEWORLD OF THE UNITED NATIONS 1 Linda Martina Mülli

“Large corporations are often formidable and mysterious to people outside them, like giants that populate the earth but can only be seen through their shadows.”2 This is what Rosabeth Moss Kanter remarked in her book Men and Women of the Corporation and she continued as follows: “Corporations are often equally mysterious to the people inside, whose views can be limited and parochial because they rarely get a sense of the whole.”3 This sentence, I assume, still holds true – not only for corporations but also particularly for international organizations like the United Nations (UN) and its agencies. In my research, I seek to shed light on this large international organization focusing especially on its employees. With a look behind the scenes, I aim to better understand the dynamics and work culture(s) in this rather closed-off terra incognita of the United Nations and the practices of men and women working there.4

Newcomers to the United Nations – introduction This paper deals with the United Nations system5 as a work and lifeworld. It sets out to explore how early career professionals enter the international organization, how they cope with its hierarchical organizational culture and how they eventually adjust to the United Nations system as a work environment. 1

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This paper is based on my SNSF funded research project (working title: “Rituals in an International Work Environment. An Anthropological Research on Cross-cultural Relations and Interactions in United Nations Affiliated Organizations in Geneva and Vienna”). Kanter, Rosabeth M.: Men and Women of the Corporation, New York 1977, p. 4. Kanter, Men, p. 4. Based on Clifford Geertz, I understand “culture” as a human-crated “web of significance”. In consequence, being part of an organization means to (re-)create a specific work culture and organizational culture. Geertz, Clifford: The Interpretation of Cultures. Selected Essays by Clifford Geertz, New York 1973, p. 5. Referring to the UN as a ‘system’ is based on its self-imposed term: “The UN system, also known unofficially as the ‘UN family’, is made up of the UN itself and many affiliated programmes, funds, and specialized agencies, all with their own membership, leadership, and budget. [...]”, cf. URL: http://www.un.org/en/sections/ about-un/funds-programmes-specialized-agencies-and-others/, accessed: 07.06.2017.

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With this contribution, I aim to present initial insights into my multi-sited research study (in the sense of George E. Marcus)6 about biographies and careers of early career professionals in the context of the two official UN headquarters located in Geneva, Switzerland, and Vienna, Austria.7 Taking the headquarters in two European cities as a starting point, I investigate the professional development of in UN parlance so-called entry-level professionals. I focus particularly on how these men and women, who are still at the beginning of their career as international civil servants, make use of their specific dispositions and capitals in the Bourdieusian sense.8 With this approach, I seek to understand how early career UN professionals establish themselves as international civil servants in the field of an extremely competitive work environment. There has been research on the “cosmopolitan identity”9 of international civil servants, on UN employees seen as “elite cosmopolitans”10 and on the identity building of UNHCR11 professionals who are presented as “une élite transnationale”12. In contrast to these studies, my investigation does not focus on international civil servants as a uniform group. More precisely, it sheds light on early career professionals seen as ‘newcomers’ to the United Nations system tracing their experiences, practices and socialization in the environment of two UN headquarters. Past experience has shown that newcomers and career changers tend to reflect upon implicit intra-corporate con-

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Marcus, George E.: Ethnography in/of the World System: The Emergence of Multi-Sited Ethnography, in: Annual Review Anthropology 24 (1995), pp. 95–117. In a historical aside, I would like to remark that the Palais des Nations in Geneva became headquarters of the United Nations in 1966 – after hosting the League of Nations in the first half of the 19th century and long before Switzerland’s admission to the United Nations in 2002. In this connection, it should be noted that Prof. Dr. Jacques Picard was a co-founder and member of the initiative committee “pour l’adhésion de la Suisse à l’Organisation des Nations Unies (ONU)”. The initiative was accepted in March 2002 with 54,6 % of votes. The Vienna International Center (VIC) was inaugurated in 1979 as a UN headquarters in the city of Vienna. Before, Vienna was hosting a few international organizations since the late 1950s. Bourdieu, Pierre: The forms of capital, in: Richardson, John G. (Ed.): Handbook of Theory and Research for the Sociology of Education, New York 1986 [1983], pp. 246–258; Bourdieu, Pierre: Distinction. A Social Critique of the Judgment of Taste, Cambridge 1984 [1979]. Nowicka, Magdalena/Kaweh, Ramin: Looking at the Practice of UN Professionals: Strategies for Managing Differences and the Emergence of a Cosmopolitan Identity, in: Nowicka, Magdalena/Rovisco, Maria (Eds.): Cosmopolitanism in Practice, London/New York 2009, pp. 51–71; Nowicka, Magdalena: Transnational Professionals and their Cosmopolitan Universes, Frankfurt a. M. 2006. Jansson, André: How to become an ‘elite cosmopolitan’: The mediatized trajectories of United Nations expatriates, in: European Journal of Cultural Studies 19/5 (2016), pp. 465–480. United Nations High Commissioner for Refugees. Fresia, Marion : Une élite transnationale: la fabrique d’une identité professionnelle chez les fonctionnaires du Haut Commissariat des Nations Unies aux Réfugiés, in: Revenue Européenne des Migrations Internationales 25/3 (2009), pp. 167–190.

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ditions.13 This is also what I noted during my stay in the field of research. Compared to their senior colleagues early career professionals are generally more open in sharing their views and experiences made in the field of international organizations. It seems that they do not yet feel entirely part of the new work environment. They recently joined the organization and it may take months, if not years, to familiarize with the new work environment. When not yet feeling part of the new organization and its culture, the comparison of the current situation with experiences, views and ideals a newcomer had prior to joining the United Nations comes more easily to his/her mind. This also applies to former professionals who already left the organizational context and who are no longer affected by inner-organizational regulations and obligations. In what follows, I will first provide a brief insight into my research project and the data collection. I will reflect on what it means to conduct ethnographic research in the context of international organizations. This includes an introduction to the discussion on studying up research situations in general. In particular, I will present a short reflection on the chosen research approach for this study. In the second part, I will proceed with the explanation of the different staff categories that are relevant for my research. I will also outline two career entries for early career professionals, namely two socalled Entry-Level Hiring Programmes, which might lead to a position as international civil servant. Regularly, these ideal career entries and career paths are described and promoted at ‘career fairs’ targeting university graduates and young professionals. Hence, in the third section of this paper, I will present impressions collected during a field trip to a career fair. By doing this, I aim to illustrate how normative career concepts are promoted outside the context of international organizations. To put it more precisely, career fairs are places where graduate students and early career professionals, who aspire to work in the market of international cooperation, discover and eventually start internalizing the normative modes of behavior of this particular field. Against this background, I will exemplify the alternative ‘third career path’ – the individual, self-initiated and self-made career path into the United Nations system. It is characterized by precarious and short-termed employment contracts (internships and consultancies) and is explainable with promoted patterns of conduct and thought. In this context, capitals (in the sense of Pierre Bourdieu) become essential in order to successfully compete against peers. In supposing that the employees’ convergence towards the UN system continues, once he/she is part of the UN staff, and further 13

Götz, Irene: Empirische Erhebungen in Industriebetrieben und bürokratischen Organisationen, in: Göttsch, Silke/Lehmann Albrecht (Eds.): Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie, Berlin 22007, pp. 249–269, here p. 258.

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assuming that the process of adjustment supports the employees’ way to cope with the UN system including its requirements and policies, I will forth introduce Pierre Bourdieu’s notion of illusio14 in this specific field of labor. The concept of illusio means the interest in field-specific values and sense-making thereof as well as the adjustment to a field-specific habitus. The illusio shows and guarantees the employees’ commitment to the UN system – and reflects the patterns of conduct and thought as already seen in the context of career fairs. With the example of e-learning courses accessible via the UN System Staff College’s virtual campus, I will show how the United Nations’ ‘corporate identity’ is enhanced and (re)produced.15 At the current state of my research, I argue that the process of adjustment to the United Nations system – the predisposition and ability to see this bureaucratic ‘giant’ at least partially in full light – is ambiguous and demanding. It challenges the newcomers to the system – even if many of my self-aware informants present their experiences as success stories. In this paper, I will exemplify the ambivalence of the United Nations system as a work and lifeworld by contrasting my informants’ narrations with the ‘corporate identity’ as promoted in career fairs and in e-learning courses. In this connection, the interconnection of illusio and ‘corporate identity’ will be discussed and the possible use thereof for the international organization. Additionally, another question arises, namely whether there exists a field-specific habitus that could be framed as, what I call it, habitus of international life and work.

Studying up in international organizations According to Marc Abélès the anthropologists’ interest in “nouveaux lieux de pouvoir”16 such as international organizations, is a logical outcome of the discipline’s recent history. This includes the strong research interest in organizational anthropology17, labor anthropology18 and anthropology of policy19 – fields of research that have been com14 15

Bourdieu, Pierre: Homo Academicus, Cambridge 1988 [1984], p. 56. Notably, human resources departments of each UN body offer particular workshops to build the corporate culture. 16 Abélès, Marc (Ed.): Des anthropologues à l’OMC. Scènes de la gouvernance mondiale, Paris 2011, pp. 15–31, here p.19. 17 Garsten Christina/Nyqvist, Anette (Eds.): Organisational Anthropology. Doing Ethnography in and among Complex Organisations, London 2013. 18 Götz, Irene: Sensing Post-Fordist Work Life. Recent Perspectives in the Ethnography of Work, in: Ethnologia Europea 41/1 (2013), pp. 68–87. 19 Shore, Cris/Wright, Susan (Eds.): Anthropology of policy. Critical Perspectives on Governance and Power, London/New York 1997.

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monly investigated by other disciplines. Abélès further stresses the importance of qualitative research methods, such as participant observation during a considerable period of time, when it comes to research in the context of international organizations. Being a young academic aiming to research work conditions in a venerable and powerful institution like the United Nations automatically means to be confronted with studying up research situations – a term coined by Laura Nader.20 In view of the democratic relevance of anthropological research, Nader pointed out several decades ago that we as cultural and social anthropologists “have specialized in understanding whole cultures in a cross-cultural context. We should, for example, be at home in studying the law firm as a secret society, in finding and analyzing the networks of power […]”.21 Nader stressed the importance to open up new fields of research that might appear like “secret societies”, such as in this case study the United Nations. Recent studies adopt this approach emphasizing the need that anthropologists shall meet with both their research field and their informants on equal footing.22 Unlike Abélès and his fellow researchers, I did not opt for a top down research approach supported by a leading figure on the top of the organizational hierarchy. In contrast, I followed Cris Shore’s research strategy and chose a bottom up research approach when I was working as an intern in two UN agencies headquartered in Vienna.23 The bottom up approach enabled me to get into a field of research, which is extremely difficult to access.24 Like Marion Fresia, I was, on the one hand, part of the staff and involved in daily project work activities.25 On the other hand, I was a researcher doing ethnographic fieldwork, writing down my observations and reflections in my field diary. Thus, for approximately thirteen months I was able to experience and observe the work and lifeworld of the UN headquarters in Vienna, called Vienna Inter20

Nader, Laura: Up the Anthropologist. Perspectives Gained from Studying Up, in: Hymes, Dell (Ed.): Reinventing Anthropology, New York 1972, pp. 284–311. 21 Nader, Anthropologist, p. 293 [italics in original]. 22 Von Dobeneck, Florian/Zinn-Thomas, Sabine: Statusunterschiede im Forschungsprozess, in: Leimgruber, Walter et al. (Eds.): Methoden der Kulturanthropologie, Bern 2014, pp. 86–100; Wright, Susan/Reinhold, Sue: ‘Studying through’. A Strategy for Studying Political Transformation. Or Sex, Lies and British Politics, in: Shore, Cris et al. (Eds.): Policy Worlds. Anthropology and the Analysis of Contemporary Power, New York 2011, pp. 86–105. 23 Shore, Chris: European Integration in Anthropological Perspective. Studying the ‘Culture’ of the EU Civil Service, in: Rhodes, R. A. W et al. (Eds.): Observing Government Elites. Up Close and Personal, Basingstoke 2007, pp. 180–205, here p. 180. 24 I am fully aware of the ethical questions that arise in consequence of my quasi-investigative research approach. Detailed discussions on this issue, however, transcend the purpose of this paper. 25 Fresia, Marion: Building Consensus within UNHCR’s Executive Committee. Global Refuge Norms in the Making, in: Journal of Refugee Studies 27/4 (2014), pp. 514–533, here pp. 516–517.

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national Center (VIC), from an ‘inside’ and an ‘outside’ perspective. In this connection, David Mosse suggests the notion of insider ethnography.26 In this sense, for me as a researcher coming from, what in UN terms is called ‘the outside context’ into the ethnographic field of the VIC, it meant to always have this double role as an intern and ‘inside ethnographer’. In the light of this, it should be noted that not only ethnographic researchers use this spatial and contextual distinction. My informants use the same terms; they say “inside” when referring to the United Nations context and “outside” when talking about everything not belonging to the area of international organization. This again shows the imagined but also the actually real separation of the United Nations system from the outside world and the importance to take a look inside large international organizations. Being on-site and cooperating with my colleagues and direct supervisors – whom I have informed about my academic interest – enabled me to collect preliminary ethnographic data through participant observation. I attended meetings and official events, I was engaged in more informal situations like lunch and coffee breaks, and I participated in diverse leisure activities such as joint excursions and staff parties – before finally starting with audio-recorded semi-structured interviews. In the currently eleven interviews conducted, I posed my informants open questions regarding their biographical and professional background, I asked them to tell me about their current private and professional situation, about their ‘role’ as international civil servants, and more. For this research study, I primarily interviewed early career professionals whom I met during my stay in the field, via the so-called ‘snow-ball effect’ through persons I had already interviewed or via social media, the latter applies only to a small number of my interviewees due to the lacking relationship of trust. At the time of the interview they were between 27 and 39 years old and only have spent a few years within the United Nations system, particularly in the headquarters in Geneva and Vienna. The interviews lasted between 45 minutes and three hours. With two exceptions, the interviews did not take place in the working context, but during my informants’ spare time. Conducting the interviews outside the working context allowed long and open conversations of trust between the interviewee and the interviewer.

26 Mosse, David: Anti-social anthropology? Objectivity, objection, and the ethnography of public policy and professional communities, in: Journal of the Royal Anthropological Institute (N.S.) 12 (2007), pp. 935–956, here p. 936.

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The United Nations workforce and career entries into international organizations According to the international organization’s official website, which provides information on occupational careers within the United Nations system, “[t]he United Nations workforce is made up of different categories of staff. Within each category there are different levels, which reflect increasing levels of responsibilities and requirements.”27 In total, there are five different major job categories for UN staff members. Being assigned in one of these categories means to enjoy several privileges, such as having access to the UN social security system, receiving financial support for spouses and children, benefitting from tax exemption and more. The categories vary in the process of recruitment (international vs. local), in required relevant work experience as well as the required level of education and skills (tertiary education vs. high school certificate) – and consequently in hierarchy. In theory, the categories also include specific tasks and responsibilities (project management vs. administrative tasks). However, and this was also stressed by Marion Fresia, the division of labor among project managers (professional staff) and administrative assistants (general staff) can be and actually is constantly re-negotiated in daily work activities.28 The boundaries between specific tasks and responsibilities become blurry, also due to the job rotation policy, which for professional staff holds a compulsory job rotation.29 As a consequence, administrative assistants, who are not affected by the job rotation policy and usually keep their positions for several years or even for decades, are more familiar with bureaucratic operations of a specific United Nations organization. This means that the administrative assistants often undertake also their supervisors’ tasks and are actively involved in project management.30 The latter – professional staff – usually take a while to familiarize with the characteristics and processes in their new employer organization, the United Nations. Furthermore, it should be noted that, due to the job rotation policy and the limited term employment contracts, professional staff is continuously concerned with the continuation of their career after the 27 28

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Careers.un.org, Staff categories: https://careers.un.org/lbw/home.aspx?viewtype=SC (08.07.2016). Fresia, Marion: Une élite transnationale: la fabrique d’une identité professionnelle chez les fonctionnaires du Haut Commissariat des Nations Unies aux Réfugiés, in: Revenue Européenne des Migrations Internationales 25/3 (2009), pp. 167–190, here p. 169. The last reformation of the UN staff mobility policy (staff selection and managed mobility framework) was implemented in 2016 based on the General Assembly’s adoption of the redefined mobility framework (A/ RES/68/265) in April 2014. Interview with informant G, 23 May 2016.

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expiration of appointment – in UN terms called “separation from service”. According to a mid-career professional, with whom I talked about this issue, he as a project manager needed the first two years of his seven-year contract for familiarization, “now I am really productive for three years – before looking for the next job”.31 In my research, I focus on professional and higher categories – commonly known as professional staff or “P-staff ” – and particularly on entry-level professionals (P1-P3) working in one of the two United Nations headquarters in Geneva and Vienna. These entry-level positions require an advanced university degree or a minimum of two or a maximum of five years of relevant working experience.32 Moreover, the profile of candidates for entry-level positions should respond to the fact that “[…]work in the professional category generally demands a high degree of analytical and communication skills, substantive expertise and/or managerial leadership ability”.33 Daily work tasks comprise of problem analysis and evaluation as well as “decision-making involving discretionary choices between alternative courses of action”. In other words, the highly skilled men and women employed in professional and higher categories are knowledge-workers belonging to a knowledge society.34 By job description, they must aim to constantly improve their skills and level of knowledge “through other training, self-study, or practical experience”.35 This implies not only a subtle demand and pressure for constant self-optimization. It also implicates that employees in the United Nations system regularly complete basic and advanced training. Moreover, some of my informants are taking postgraduate program alongside work or are even working on a doctoral thesis. Hence, especially among early career professionals there is an ongoing competition that becomes even more essential when faced with fixed-term contracts of employment, due to the strict adherence to personnel rotation. In addition, a general willingness to prove one’s strong commitment to hard work, to self-optimization and, by this, becoming a legitimate member of the United Nations system, are further reflected in the description of the recruitment examinations. These UN Entry-Level Hiring Programmes, seen as “a platform for launching a career”36 at the 31 Field note, 29 April 2014. 32 UN career aspirants with no or little work experience apply via a competitive recruitment examination, as outlined below. 33 Careers.un.org, Staff categories: https://careers.un.org/lbw/home.aspx?viewtype=SC (08.07.2016), applies also to the next quote in this paragraph. 34 Beck, Ulrich: The Brave New World of Work, Oxford 2000 [1999]; Koch, Gertraud/Warneken, Bernd J. (Eds.): Wissensarbeit und Arbeitswissen. Zur Ethnographie des kognitiven Kapitalismus, Frankfurt a. M. 2012. 35 Careers.un.org, Staff categories: https://careers.un.org/lbw/home.aspx?viewtype=SC (08.07.2016). 36 Unis.unvienna.org, YPP – the Road to your UN Career: http://www.unis.unvienna.org/unis/en/events/2012/ ypp-seminar-2012.html (08.07. 2016).

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United Nations Secretariat, offer positions for the short period of one to two years. They are open to early career professionals with little or no work experience – commonly unpaid UN internships are not recognized as such – who originate from a socalled un- and under-represented country.37 A second requirement for participation is to be fluent in either of the official UN languages (English or French). Third, in the year of the examination, the candidates must be younger than 32 years of age. On one hand, there is the Young Professionals Programme (YPP). This UN recruitment examination addresses “talented, highly qualified professionals”38 across the world. Once yearly, the international organization launches a call for applications. There are recruitment exams for specific “job families” – “depending on projected needs of the United Nations”, as quoted from the official website.39 For instance, the call in 2015 included exams for the following job categories: Administration, Finance, Legal Affairs, Public Information and Social Affairs and Statistics. According to the UN Secretariat, this recruitment examination is highly popular. In average, 40.000 applicants take the exam every year.40 To return to the example of the already completed YPP examination cycle of 2015, only 104 candidates successfully passed the twostage examination procedure – including a 4,5-hour hand written exam followed by a personal interview.41 However, passing the YPP examination does not guarantee a UN position. A rule stipulates that “[...] successful candidates are put on the reserve list to fill available job positions every three months”.42 The names of the successful candidates will remain on “reserve list” for two years.43 Afterwards, the candidates’ names on the roster will be deleted and they have to take the exam again. In view of the high competition and considering the fact that YPP exams remain extremely difficult, candidates who are not fully familiar with the United Nations system face difficulties to pass the exam.44 To illustrate this, a candidate who successfully passed the YPP exam in 2011 explains how she, thanks to diligence and persuasion, managed to pass the 37

The continuously adapted list of un- and under-represented countries reflects the geographical representation among the UN workforce. Countries form the ‘global North’ are usually overrepresented. 38 Careers.un.org, Young Professionals Programme: https://careers.un.org/lbw/home.aspx?viewtype=NCE&lang=en-US (08.08.2016). 39 Careers.un.org (08.08.2016), applies also for the source in the subsequent phrase. 40 Humanrightscareers.com, UN Entry-Level Hiring Programmes: http://www.humanrightscareers.com/ un-entry-level-hiring-programmes/ (09.01.2017). 41 Careers.un.org (08.08.2016). 42 Humanrightscareers.com, UN Entry-Level Hiring Programmes: https://careers.un.org/lbw/home.aspx?viewtype=NCE&lang=en-US (08.07.2016). 43 Careers.un.org (08.08.2016). 44 Field note, Informal talk with a candidate of the YPP examination, Vienna, December 2015.

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preparation period – “a relentless marathon (supported by surreal amounts of coffee… ).”45 Notably, this person has been full time employed as a general staff during the preparation period and exam. During my stay at the headquarters in Vienna, I experienced that this double workload seems quite normal. This attitude reflects the normative career concepts that will be outlined in the subsequent section of this paper. On the other hand, the United Nations Associate Experts Programme offers vacancies for so-called Junior Professional Officers (JPO). These positions are sponsored by the governments of specific partner countries and are therefore restricted to candidates with the respective nationality or to candidates from low- and middle-income countries. Currently, there are approximately two dozen donor countries financing JPO positions. Usually, JPOs receive an initial employment contract for the period of one year. In many cases, they then are responsible for the third-party funding that would guarantee the prolongation of their appointment in the second year of employment. Both career opportunities are described in detail on the United Nations organizations’ websites and advertised in official videos or interviews. In a short video, for instance, which was published in 2015 and is accessible via social media, the interviewed persons talk about their “journey around the world”.46 The interviewees presented as “motivated young people” admit that they “wanted to become part of the UN” ever since they were children or young adults. Furthermore, we learn from the interviewed JPOs that “[they] are adventurous, passionate, […] committed, openminded”. The interviewees state that they finally would be engaged in “real work” and that they would “feel really privileged to work in an organization like the UN”. Similar statements I also heard during my internships in the UN headquarters in Vienna.47

With capitals on the “many roads to Timbuktu” The normative requirement to be committed, dedicated, highly motivated and talented I kept hearing at the career fair in Berne, Switzerland, titled “A journey in international cooperation”.48 At that day in late October 2016, more than 1000 participants 45 Unis.unvienna.org, The YPP Road: http://www.unis.unvienna.org/pdf/2012/YPP/The_YPP_Road_Szilvia-Petkov.pdf (20.12.2016). 46 Undp.org, The JPO programme – A JPO journey around the world: http://www.undp.org/content/jposc/en/ home/how-to-join/the-jpo-programme.html (20.12.2016), applies also to the quotes in the next two sentences. 47 Field note, Informal talk with young female consultant, VIC, 27 April 2015. 48 The Forum cinfo 2016 “A journey in international cooperation” was organized by the cinfo foundation, funded in 1990 by the Swiss Agency for Development and Cooperation (SDC).

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wanted to learn more about how to best start this “journey” in order to become an international civil servant. HR recruiter from several UN organizations and other international bodies dedicated to international cooperation explained the “many roads to Timbuktu”49, as it was promoted in the opening session. The message was clear: Career aspirants must belong to the most convincing candidates who would ensure “securing the highest standards of efficiency, competence and integrity”50 as stipulated in the UN Charter. The emphasis on commitment, hard work and the ‘mantra’ saying that the lengthy and precarious lean period of unpaid internships and short-termed consultancy contracts one day will pay off, were repeated regularly.51 In that response, it should also be noted that several participants raised their voices to rebut the image of a comfortable and carefree life as an early career professional. That is to say, they experienced what the majority of my informants experienced before becoming an entry-level professional. That is what I describe as the ‘third career path’ towards the United Nations system. This third individual, self-initiated and self-made entry option means to climb up the ‘career ladder’ by first completing unpaid internships – which can lead to quite precarious life circumstances, particularly in the expensive cities of Geneva and Vienna.52 In any case, unpaid internships are only accessible to those who get third-party funds or loans, who receive financial support from their families or who were able to save money themselves. Eventually, the former interns are contracted as consultants. Again, they find themselves in a flexible situation, with shortterm contracts comprising of daily to monthly employment and no social security at all. This third option best illustrates the flexible work regimes of the New Economy.53 In The Corrosion of Character Richard Sennett stressed the following: “In the flexible regime, the difficulties crystallize in a particular act, the act of risk-taking.”54 Precisely, this implies that only career aspirants who can afford an (unpaid) internship and are able to take a risk when signing a short-term consultancy contract have the resources to pursue this ‘third career path’. 49 50 51

52 53 54

Field note, Career fair Berne, 30 October 2016. Charter of the United Nations, Chapter XV: The Secretariat (Article 101.3). I assume that process of socialization already starts in educational institutions offering study programs that respond to the job market of international cooperation and international policy making. One example focusing on the European Union is Kerstin Poehls’ study about cultural practices in the Collège d’Europe. Poehls, Kerstin: Europa backstage. Expertenwissen, Habitus und kulturelle Codes im Machtfeld der EU (Reihe Kultur und soziale Praxis), Bielefeld 2009. Naturally, this includes also other duty stations. Cf. Sennett, Richard: The Culture of the New Capitalism, New Haven/London 2006. Sennett, Richard: The Corrosion of Character. The Personal Consequences of Work in the New Capitalism, New York 1998, p. 75.

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Being aware of these precarious working conditions, many early career professionals – including the majority of my informants – still opt for this ‘third career path’. The self-initiated option seems to be more reasonable or even possible in view of the aforementioned recruitment examinations where candidates compete with applicants from across the globe. Furthermore, and as the collected data in the context of the headquarters in Geneva and Vienna show, for many early career professionals to work in an international organization is the only option – especially when lacking local language skills. The “journey around the world” turns into a migration biography and the early career professionals can be described and understood as highly skilled migrants who aim to stay where their partners, families and friends live.55 When aiming to ‘climb the career ladder’, capitals in the Bourdieusian sense are highly relevant.56 Before entering the United Nations system, objectified and institutionalized cultural capital57, in form of a prestigious university degree or voluntary work in the area of international cooperation, enhances chances to be invited for a job interview. Also, social capital58 in form of a key person who would help to arrange an internship or communities and other networks can be crucial when applying for an internship. Both, objectified cultural capital59 and social capital, enhance the applicant’s ‘visibility’ in the vast number of applicants.60 Notably, the latter also increases a former intern’s chances to be appointed as a consultant and, later on, eventually even as an entry-level professional. In addition, several of my informants mentioned the high importance of a mentor, in other words, a person in a senior position, who would not only provide support and guidance but particularly a network with other professionals. The latter, in turn, might be potential supervisors to the early career professional. Incidentally, the human resources management of the United Nations system also officially supports mentoring: “Mentoring provides career support and facilitates the transfer of knowledge and organizational culture.”61 According to the official wording, mentoring is promoted as an ideal manner to enhance the career of junior professionals (mentees). In turn, the mentees would provide feedback to senior staff who, by being a mentor, would have the opportunity to train their leadership skills. For the organization, mentoring is 55 The detailed discussion of this research aspect would go beyond the scope of this article. 56 Bourdieu, Forms, pp. 46–58; Bourdieu, Distinction. 57 Bourdieu: Forms, p. 50. 58 Bourdieu: Forms, pp. 51–53. 59 Bourdieu: Forms, p. 50. 60 Field note, Informal talk with an HR recruiter, 21 October 2014. 61 HR.un.org, https: //hr.un.org/page/mentoring (20.12.2016).

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not only beneficial for the knowledge transfer; it even seems to subserve the preservation of a specific organizational culture. Hand in hand with the social capital, the incorporated cultural capital helps to understand ‘how to behave’ and ‘how to interact’ in an international bureaucratic and quasi-diplomatic work environment. Once within the United Nations system, language skills enhance the ability to communicate and underline the individual’s match with the international field. One episode, a dialogue between one of my informants and a superior staff member, underpins the value of symbolic capital62: “He, a P-5, asked me: ‘Can I tell you something about your shirts? They look cheap.’ – ‘They are cheap.’ – ‘Okay, but you have to [buy fine quality shirts]. Your image is important.’ […] I understood that he was trying to give me, what he perceived to be a good advice. […] There is also an expectation of you -. And again, this is not written anywhere, but it’s funny because the mission and the objective of the UN is not that. But the culture around the organization is like in any other organization and then you have to adapt to it […].”63 My informant took the advice of the superior staff person to heart – admitting that he has to adapt to the organizational culture even if, to his mind, the people working in international cooperations should be concerned with more important issues than an elegant appearance. This scene illustrates the economic capital64, which not only bridges the financial bottleneck during unpaid internships and interruption between consultancy contracts but also allows to purchase symbolically important objects like expensive clothes – that would consolidate the image of being a serious professional. In this connection, it ought to be mentioned that the (entry) salaries, which are, compared to the economic realities in the vast majority of United Nations member states, fairly high, enable to accumulate economic capital. Particularly in view of longterm careers in the United Nations system, the accumulated capital enables to bridge financial insecurities. Many of my informants tell me that they would safe a considerable amount of their income. One informant, who holds a P3 contract and who’s chances to pursue a UN career in the middle and long term future, stated that the high salaries are justified, especially in view of the insecurity and due to the fact that the majority of employees in professionals and higher categories are geographically far away from their countries of origin and their local social security structures, family and community networks. 62 63 64

Bourdieu, Forms, p. 56. Interview with informant E, 22 May 2016. Bourdieu, Forms, p. 47.

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Finally, it is important to stress that other external assets such as citizenships and visas influence the individual ability to pursue the ‘third career path’. More precisely, a European citizenship or a relevant visa facilitates or enables interns and consultants to stay in the respective city – after the termination of their employment contract and in search of a new one. I assume that this is one of the reasons for the overrepresentation of certain nationalities among international civil servants.

More than a job: “It’s a calling.” After a long debate, the UN System Staff College was funded in 2001. Its main seat is located in Turin, Italy, and there is a second campus in Bonn, Germany. Furthermore, international civil servants can access the staff college’s virtual campus that offers a large range of e-learning courses. The former UN Secretary General, Ban Ki-moon, stated: “Joining the United Nations isn’t just a job, it’s a calling.” 65 This quote is repeated in the UN System Staff College e-learning course “Welcome to the UN: New Staff Orientation”. In this virtual course designed to enhance the United Nations’ ‘corporate identity’, participants are asked to choose between various “missions”. These course sessions are titled “our organizational culture”, “standards of conduct”, “career development” and “conditions of service” – just to name a few examples. Assuming, a participant starts with the first option, the following question pops up: “What motivated you to seek employment to the United Nations?” After answering the question, the participant is asked to compare his/her own motivation with other answers. The “motivation of others” appear in a virtual note book, on the opposite page of the participant’s answers. Then, a female voice comments: “You’ll quickly find out that there are many rewarding reasons to be part of the United Nations!” Indeed, the others’ answers include not only the motivation “to improve the lives of others”, but also “to learn about different cultures and points of view” as well as “to work in different parts of the world”. In the interviews that follow, staff members talk about “the privilege and honor” to work for the United Nations. Mentioning the wish for social security, status, prestige and privileges would be inappropriate.

65

un.unssc.org, Welcome to the UN Family!, http://w2un.unssc.org/index.php (20.12.2016), applies also to the following quotes in this section.

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It seems that the UN System Staff College, “a distinct, system-wide, knowledge management and learning institution”66, makes use of the illusio – the participants’ interest, commitment and willingness to embrace particular sense-making ideas and modes of behavior as well as to play along with the other actors in the field, in brief, the strong belief that participating in the game one day will pay off.67 The illusio builds upon the international organization’s branding that includes prestige, honor and status. The aforementioned normative modes of behavior and mental states, which are presented on official websites and career fairs and where graduate students and early career professionals first learn about the social mechanisms and norms, again appear in the e-learning courses of the staff college. Employees take and accept the normative concepts, they respond to them and (re-)construct them further. The interrelation between illusio and the construction of a specific UN ‘corporate culture’ reminds of Arlie Hochschild’s notion of emotional labor.68 In The Managed Heart she analyzed how in a capitalistic context emotions are commercially exploited. As Hochschild puts it, the individual emotions replaced by institutional mechanisms: “The locus of acting, of emotion management, moves up to the level of the institution”.69 In similar vein, the illusio, actually (re)produced by the international civil servants, is instrumentalized on a macro-institutional level. As shown in the following quote, the illusio bridges moments of (financial) insecurity, pressure and stress – especially when employees’ positions are not permanent but financed through third-party funds. One of my informants told me: “Because of the financial squeeze your empathy for the organization and your team increases. You put so much energy in because you want it [the project, the team, the organization] to survive.”70 Because employees believe in their “mission” and they truly identify with the above-mentioned aim to “improve the lives of others”, they are willing to work hard – even when the project’s continuation and, connected to it, their own future within the United Nations system are not guaranteed at all. It is therefore entirely plausible that a strong illusio serves the United Nations not only in view of the organization’s social and cultural cohesion but also with regard to economic dimensions. This is particularly relevant for early career professionals on shortterm contracts, yet also for UN professionals affected by the staff rotation policy. 66 67 68 69 70

Unssc.org, History, http://www.unssc.org/about-unssc/history/ (20.12.2016). Bourdieu, Homo, p. 56.; Cf.: Fröhlich, Gerhard/Rehbein, Boike: Bourdieu Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2014, pp. 129–130. Hochschild, Arlie R.: The Managed Heart. Commercialization of the Human Feeling. Berkeley/Los Angeles/ London 1983, p. 7. Hochschild, Heart, p. 49. Interview with informant L, 22 December 2016.

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The illusio – the ‘UN ideology’ – is in such a strong manner embracing and powerful that many interns and consultants, who – even after a long period of trying to become an entry-level professional – do not succeed to establish themselves as international civil servants, are terribly ashamed and depressed.71 They perceive their dropout as a personal failure.

From illusio to ‘corporate identity’ – conclusion and outlook In this paper, I first provided a short insight into the discussion on studying up research situations and I problematized this issue with a focus on the research approach chosen for this empirical study, namely when conducting field work in the two United Nations headquarters in Geneva and in Vienna. Second, I outlined various entry points and career paths open to early career professionals who aspire to become a what in UN terms is called professional staff member, more precisely entry-level professional. I described the logics of so-called Entry-Level Hiring Programmes, namely the Young Professionals Programme and the assignment as a Junior Professional Officer (JPO) in the United Nations Associate Experts Programme. I showed that capitals in the Bourdieusian sense are, on one hand, crucial when entering the ‘giant’ of the United Nations via the above-mentioned official hiring examination programmes. On the other hand and as shown in the third section of this paper, capitals become essential when pursuing an alternative, individual, self-made, yet often precarious career path via (unpaid) internships and short-contracted consultancies. Generally, capitals are crucial when pursuing a career as an international civil servant in the long run. Being lucky and finding a mentor – in the proper sense the unofficial relationship based on the mutual sympathy between mentor and mentee – means enhancing one’s professional and social network, shortly, the social capital. Interestingly, the Human Resources management officially introduced mentoring as a concept according though which both, junior professionals and senior staff members, would benefit. Moreover, it would not only guarantee the knowledge transfer but also subserve the preservation of the organizational culture. Evidentially, cultural capital is key during the whole career as a knowledge worker leading projects in international cooperation and policy-making. Notably, economic capital is essential to stay on site, particularly in moments of a financial bottleneck when being ‘separated’ from the United Nations system when looking for a 71 One informant needed several months to overcome this, as she perceived it, personal failure. Cf. Interview with informant G, 23 May 2016.

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possible future employment contract.72 Fourth, I described how the normative modes of behavior and mental states are promoted in career fairs addressing career aspirants who aim to work the international cooperation. It is where social mechanisms and norms circulate, a phenomenon that can be associated with Bourdieu’s notion of illusio.73 I showed how the UN System Staff College, an institution dedicated to enhance the ‘corporate identity’ of the United Nations system, makes use of the illusio promoting the correct modes of motivation. Workshops and e-learning courses serve to guarantee the continuing reproduction of the illusio. The illusio ‘recycled’ by the organization itself to create a ‘corporate culture’ serves the international organization also in economic dimensions. It motivates UN employees to perform committed work and deliver maximum performance – even in unsecure financial situations or future continuation of a particular unit, department or even organization. Given the financial difficulties of the United Nations, more and more positions seem to be financed with third-party funds. As an outlook, it therefore would be interesting to investigate the future development of the interrelation between illusio and ‘corporate identity’ and compare it to its historical dimension. As shown in this paper, to pursue a UN career is difficult and competitive. As a final remark, I wish to raise the question whether early career professionals who have successfully entered the United Nations system, on a long-term perspective, develop an inner stance that goes beyond a strong identification with the United Nations as a work and lifeworld and that I might be framed in what I call habitus of international life and work. This habitus-alike identity of entry-level professionals enables to successfully pursue a career as an international civil servant. This, in contrast, would mean that those career aspirants who drop out probably did not embrace the illusio of the United Nations. Additionally, they perhaps also did not develop a habitus that would enable the final socialization and long-term professional integration into the United Nations system. This, of course, is only part of the explanation why some junior professionals succeed in becoming international civil servants and others not. But it might explain why some of these men and women are more “stubborn”74 or “ambitious”75 or as some of my informants describe themselves.

72 73 74 75

In the jargon of the United Nations system, the termination of an employment contract is called “separation from service”. Bourdieu, Homo, p. 56. Interview with informant E, 22 May 2016. Interview with informant A, 27 April 2016.

TANTE NIOUTA AUS KALKUTTA Briefe eines Holocaustüberlebenden in der Schweiz an eine jüdische Philanthropin in Indien, 1947–1967 Daniel Gerson

Philanthropie, basierend auf dem religiösen Konzept der Zedaka1, ist ein ausgeprägtes Charakteristikum des modernen Judentums. Menschen jüdischer Herkunft schufen seit dem 19. Jahrhundert unzählige Hilfswerke und Stiftungen, die sowohl der eigenen Gemeinschaft, als auch dem Allgemeinwohl dienten. Bis heute ist dieses soziale Engagement nur sehr begrenzt erforscht worden.2 Das Thema der Philanthropie verbindet in vielschichtiger Weise die Lebensgeschichte einzelner mit der Globalgeschichte. Der französische Schriftsteller Georges Perec prägte 1975 in Zusammenhang mit der Globalgeschichte des Holocaust den Ausdruck „l’histoire avec sa grande hache“. Eine Formulierung, in der der französische Doppelsinn (die Formulierung kann sowohl als „die Geschichte mit ihrer großen Axt“, wie auch als „die Historie mit einem grossen H“ übersetzt werden) seine ganze Wirkung entfaltet. In seinem Buch „W ou le souvenir d’enfance“ kreuzen sich unterschiedliche Narrative, wie dies auch beim Thema der Philanthropie immer der Fall ist.3 Anfang 2016 erhielt ich von meiner Mutter ein Konvolut von Unterlagen meines 2011 verstorbenen Vaters Fabian Gerson.4 Darunter fanden sich auch 30 Briefe meines Vaters an seine Tante Niouta5 aus Kalkutta. Wie in Willy Millowitschs Komödie 1

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Der hebräische Begriff „Zedaka“ wird meist mit „Wohltätigkeit“ übersetzt. Er bedeutet jedoch „Gerechtigkeit“; siehe: Gray, Alyssa M.: Zedaka, in: Diner, Dan (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (Bd. 6), Stuttgart 2015, S. 503–507. Zu den wenigen Publikationen zählt: Heuberger, Georges/Spiegel, Paul (Hg.): Zedaka. Jüdische Sozialarbeit im Wandel der Zeit. 75 Jahre Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland 1917–1992, Berlin 1992. Eine umfassende Studie zur jüdischen Philanthropie ist an der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg in Vorbereitung, vgl. http://www.csi.uni-hd.de/report/pdf/CSI_report_09__2011-02_deutsch.pdf (20.10.2016). Perec, Georges: W ou le souvenir d’enfance, Paris 1975. Zur Lebensgeschichte von Fabian Gerson, geboren 1926 in Lodz und verstorben 2011 in Basel, siehe: Gerson, Fabian: „... ohne Abschied von ihnen nehmen zu können!“, in: Lefkovits, Ivan (Hg.): „Mit meiner Vergangenheit lebe ich“. Memoiren von Holocaust-Überlebenden (Bd. 13), Berlin 2016, S. 13–59. Diesen Memoiren sind auch die weiteren Informationen zum Leben von Fabian Gerson entnommen. Die Schreibweise des Namens variiert: Niouta, Niuta oder Njuta Ghosh, bzw. Gosh. Der Geburtsname konnte nicht eruiert werden. Gemäss einem Artikel des indischen Historikers Kaustav Chakrabarti wurde sie in Bia-

Tante Niouta aus Kalkutta

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„Tante Jutta aus Kalkutta“6 nahm auch in unserer Familiengeschichte eine reiche Dame in der bengalischen Metropole einen wichtigen Platz ein. Niouta Ghosh war zwar keine gebürtige Inderin, sondern eine Jüdin deutsch-russischer Herkunft aus Königsberg und zudem die Kusine von Hannah Arendt7. Sie hatte sich aber mit der berühmten Philosophin im Kontext der Kontroverse um „Eichmann in Jerusalem“8 zerstritten. Niouta Ghosh lehnte nämlich Hannah Arendts These, dass die meisten jüdischen Gemeindeführer angesichts der Bedrohung durch das nationalsozialistische Deutschland versagt hätten, entschieden ab. Ihre berühmte Verwandte sei eben schon in ihrer Jugend ein „freches Mädchen“ gewesen. Nioutas Ehemann, Hemendranath (Toupy) Ghosh, war Besitzer einer grossen chemischen Fabrik in Kalkutta. Das Ehepaar hatte sich Mitte der 1930er-Jahre am „Institut Pasteur“ in Paris kennengelernt, wo sich Toupy als Mediziner weiterbildete und wo Niouta als Laborantin arbeitete. Sie hatte Königsberg nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 verlassen müssen.9 Tante Niouta war keine „echte“ Tante. Ihre Rolle im Leben meines Vaters war ursprünglich die einer Mäzenin, die den Holocaustüberlebenden nach seiner Einreise in die Schweiz 1945 finanziell unterstützte und für den verwaisten jungen Mann in den 1950er-Jahren zu einer mütterlichen Vertrauten wurde. So wurde sie in meiner Familie, die nach dem Holocaust über keine nahen Verwandten mehr verfügte, zur „Tante“, auch wenn sie auf Grund ihres Alters eher eine Art Grossmutter verkörperte. Das Konvolut der 30 Briefe aus den Jahren 1947 bis 1967 bestand allein aus der Korrespondenz meines Vaters an Niouta Ghosh, die sie ihm bei ihrem letzten Besuch in Europa im Jahre 1980 zurückgegeben hatte. Diese Briefe erzählen die Beziehung eines jungen Holocaustüberlebenden zu seiner Mäzenin, die als Jüdin im kriegsverschonten

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lystok geboren und war eine Cousine ersten Grades des Erfinders von Esperanto Ludwik Zamenhof und der bekannten zionistischen Pionierin Mania Wilbushevitch-Shochat. Leider fand sich kein weiterer Beleg für diese verwandtschaftlichen Beziehungen; siehe: Chakrabarti, Kaustav: Voices from Antiquity: Glimpses into the Lives of the Jewish Women of Calcutta, in: The Journal of Indo-Judaic Studies, 14 (2014), pp. 27–45, here p. 35. „Tante Jutta aus Kalkutta“ wurde 1962 uraufgeführt und 1990 verfilmt. Niouta Ghoshs genauer Verwandtschaftsgrad mit Hannah Arendt bleibt unklar. Doch belegt der Briefwechsel im Nachlass von Hannah Arendt in der Library of Congress, die enge familiäre Bindung der beiden Frauen, die ungefähr das gleiche Alter hatten; Vgl. The Hannah Arendt Papers at the Library of Congress, General 1938–1976, Ghosh, Niouta, 1949–1969; Knott, Marie Louise (Hg.): Der Briefwechsel Hannah Arendt – Gershom Scholem, Berlin 2010, S. 388. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil, New York 1963. Hemendranath Ghosh (1890–1965), der Toupy genannt wurde, war Mediziner und Begründer der Standard Pharmaceuticals Works LTD in Kalkutta. Siehe: Obituary Dr. Hemendranath Ghosh, 1890–1965, in: The Indian Journal of Pediatrics 33/4 (April 1966), p. 137.

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Indien ihrer durch die Zedaka geprägten Solidarität mit den verfolgten Juden Ausdruck verleiht. Die Beziehung zu Niouta Ghosh wurde im Sommer 1947 durch die Ärztin Edith Freund hergestellt. Zu diesem Zeitpunkt lebte der Shoah-Überlebende Fabian Gerson bereits seit zwei Jahren in der Schweiz. Wenige Wochen nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald am 11. April 1945 durfte er mit einem Rotkreuztransport Ende Juni 1945 in die Schweiz einreisen. Nach der jahrelangen Verfolgung gesundheitlich stark angeschlagen, kurierte er in Davos eine schwere Tuberkulose aus. An eine von den Schweizer Behörden geforderte Weiterreise in ein Drittland war deshalb vorerst nicht zu denken.10 Fabian Gerson hatte den festen Willen, die Zeit der Rekonvaleszenz in der Schweiz für seine Ausbildung zu nutzen. Mit Hilfe des Verbandes Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen/Flüchtlingshilfen (VSJF) erhielt er die Erlaubnis, die Schweizerische Alpine Mittelschule in Davos zu besuchen. Dies war ein seltenes Privileg.11 Als Niouta Ghosh im Frühjahr 1947 in Kalkutta vom Schicksal des in den Papieren 19 Jahre (in Wirklichkeit 21 Jahre)12 alten Gymnasiasten erfährt, hat sich Fabian bereits einen Ruf als aussergewöhnlich begabter Schüler erworben Die deutsch-jüdische Ärztin und Holocaustüberlebende Edith Freund arbeitete bis zur Genehmigung ihres australischen Visums für den VSJF als Ärztin in Davos. Sie war mit einem Transport aus dem Konzentrationslager Theresienstadt im Februar 1945 in die Schweiz eingereist. Gebürtig aus Königsberg, war sie in ihrer Jugend mit Niouta und deren Kusine Hannah Arendt befreundet gewesen, weil alle drei dasselbe Gymnasium besucht hatten.13 Edith Freund nahm nach ihrer Ankunft in der Schweiz Kontakt zu ihrer nun in Kalkutta lebenden Schulfreundin auf, die sich bereit erklärte, 10

Zur Gruppe der KZ-Überlebenden aus Buchenwald in der Schweiz vgl. Lerf, Madeleine: „Buchenwaldkinder“ – eine Schweizer Hilfsaktion. Humanitäres Engagement, politisches Kalkül und individuelle Erfahrung, Zürich 2010. 11 Gerson, Daniel/Hoerschelmann, Claudia: Der Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen und Flüchtlingshilfen (VSJF), in: Gabrielle Rosenstein (Hg.): Jüdische Lebenswelt Schweiz. 100 Jahre Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund, Zürich 2004, S. 56–71. 12 Um 1945 die Aufnahmekriterien der Schweiz zu erfüllen, musste er sich „verjüngen“. 13 Edith Freund wurde als Edith Liebeck 1899 geboren. Eine Erkrankung ihres ersten Ehemanns, der 1938 verstarb, verhinderte die Emigration, so dass sie 1943 nach Theresienstadt deportiert wurde. 1948 heiratete sie Fred Kramer in Australien. 1979 kehrte sie nach Europa zurück und war seitdem der Familie Gerson eng verbunden. Edith Kramer starb 1995 in Wien. Zum Leben von Edith Kramer siehe: Kramer, Edith: Meine Erfahrungen in Posen, Antoniek und Theresienstadt bis zur Rettung in der Schweiz, in: Emuna/Israel-Forum 11 (Hefte 3–6), Rothenburg o. T. 1976; vgl. auch Schüler-Springorum, Stefanie: A Soft Hero. Male Jewish Identity in Imperial Germany through the Autobiography of Aron Liebeck, in: Baader, Benjamin Maria/Gillerman, Sharon/Lerner, Paul (Eds.): Jewish Masculinities. German Jews, Gender and History, Bloomington 2012, pp. 90–113.

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begabte Holocaustüberlebende zu unterstützen. Edith Freund wurde so zur Vermittlerin zwischen der Philanthropin in Indien und dem jüdischen Kinderhilfswerk „Oeuvre de secours aux enfants“ (OSE). 14 Die erste überlieferte Kontaktnahme Fabians mit seiner Gönnerin datiert vom 10. April 1947. Es handelt sich um ein einseitiges Schreiben in einem noch holprigen Englisch.15 Der Brief beginnt mit einer nüchternen Feststellung: „I received the money, which you have sent me and I thank you very much for it. I have got your address from the O.S.E., so I am able to write you few words about me. I don’t know if it will interest you, but I think you will be glad to hear something about my past, present and future.“16 Fabian Gerson bedankt sich also für die Zuwendung. Er tut dies jedoch ohne übertriebene Ehrerbietung. Wichtiger ist ihm offenbar die Möglichkeit, sich der fernen Patin vorzustellen. Es geht ihm dabei aber nicht nur um die Vergangenheit, sondern auch um die Gegenwart und vor allem um seine Zukunft. In nüchternen Worten hält er die Ermordung seiner nächsten Angehörigen im Vernichtungslager Treblinka fest: „I was separated suddenly from my parents and sister, who were perhaps killed and burned, for I neither saw nor heard any news of them again.“17 Wichtiger aber als seine eigene Verfolgungs- und Überlebensgeschichte ist für ihn allerdings seine aktuelle Situation: „I must learn one year or two till I shall be able to get maturity and to know three foreign languages and many subjects. Then I shall perhaps come at the university. But all these plans are only projects, which can never realize.“18 Sein ehrgeiziges Ziel, die Maturitätsprüfungen abzulegen und anschliessend ein Studium zu beginnen, ist also klar formuliert. Er gibt Niouta Ghosh zudem deutlich zu verstehen, dass er für die Realisierung dieser Pläne auf Unterstützung angewiesen ist. Ohne Geld und Beziehungen sieht er für sich keine Chance für eine akademische Ausbildung in der Schweiz.

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Zur OSE siehe: Zeitoun, Sabine: Histoire de l’O.S.E., Paris 2012. Dem OSE kam das grosse Verdienst zu, während des Zweiten Weltkrieges jüdische Kinder im besetzten Frankreich vor der Deportation gerettet zu haben. In der ersten Nachkriegszeit betreute das Hilfswerk auch ausserhalb Frankreichs Jugendliche, die den Völkermord überlebt hatten. In Anières bei Genf hatte die Organisation damals eine bedeutende Niederlassung. Die OSE war formal für das Zustandekommen der Patenschaft von Niouta Ghosh für Fabian Gerson verantwortlich. 15 Die Zitate wurden orthographisch im Originalzustand belassen. Obwohl Fabian und Niouta der deutschen Sprache mächtig waren, korrespondierten sie auf Englisch. Der Gebrauch des Deutschen war so kurz nach der Shoah unter Juden verpönt; siehe: Diner, Dan: Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage, München 2015. 16 Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Davos, 10. April 1947. 17 Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Davos, 10. April 1947. 18 Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Davos, 10. April 1947.

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Diese erste Annäherung zwischen der Industriellengattin und dem mittellosen Gymnasiasten verlief offenbar für beide Seiten zufriedenstellend. Im zweiten Brief vom 13. Juli 1947 wechselt die Anrede vom sehr förmlichen „Dear Madame“ zum persönlicheren „Dear Mrs. Ghosh“. In diesem Schreiben findet sich auch ein Abschnitt, der auf eindrückliche Weise den Umgang des jungen Mannes mit seinem Schicksal als Überlebender der Shoah offenlegt. Niouta Ghosh hat ihn offenbar gebeten, ihr über seine Verfolgungszeit zu berichten. Fabian Gerson weigert sich jedoch dieser Bitte nachzukommen: „You have asked me to tell you something more about my past. But it is rather a sad task for me and it will make you surely no pleasure too. I can’t but tell you, the reality passes all you have heard about the persecutions and the extirpations of the Jewish population in Europe. I am happy to be always occupied and not to think more at least about it, because I shall not forget it for ever.“19 Der Autor fasst in diesen wenigen Zeilen seine Haltung in Bezug auf die Kommunizierbarkeit seiner Erfahrungen zusammen: Ihm fehlen die Worte, um das Grauen zu beschreiben. Darüberhinaus zweifelt er an der Fähigkeit seiner Mitmenschen, die den Völkermord nicht am eigenen Leib erfahren haben, das Ausmass der Gewalt auch nur annähernd erfassen zu können. Lernen lenkt ihn von den unerträglichen Bildern der Vergangenheit ab. Diese Bilder kann er aber dennoch nicht vergessen. Diese Zeilen wurden gerade zwei Jahre nach seiner Befreiung verfasst. Diese Haltung sollte Fabian Gerson bis ins hohe Alter aufrecht halten. Erst ist im Alter von 80 Jahren konnte er in der Öffentlichkeit über seine Erfahrungen während der Shoah sprechen und zudem seine Memoiren verfassen.20 In den folgenden Briefen wird der Ton dennoch vertrauter: „I got my school-report. I showed it to Dr. Freund and she was very pleased indeed, because I made good progress in all subjects.“ Der Brief vom 24. Dezember 1947 endet bereits mit der emphatischen Grussformel „Yours affectionately“.21 Edith Freund verlässt Anfang 1948 die Schweiz, um nach Australien zu ihrem Verlobten Fred Kramer zu reisen, von dem sie durch den Krieg jahrelang getrennt worden war. Die Verbindung zwischen Fabian Gerson und Niouta Ghosh ist jedoch bereits so etabliert, dass sie sich nun auch ohne Vermittlung brieflich begegnen können. Fabian hofft im Frühling 1948 die eidgenössische Matura ablegen und im folgenden Herbst mit einem naturwissenschaftlichen Studium in Zürich beginnen zu können. Sein Optimismus wird jedoch erschüttert, als 19 Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Davos, 13. Juli 1947. 20 So sprach Fabian Gerson 2007 anlässlich des Holocaustgedenktages vom 27. Januar im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich über sein Schicksal während der Shoah. 21 Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Davos, 24. Dezember 1947.

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man bei ihm im Frühjahr 1948 eine Knochentuberkulose diagnostiziert. Diese zwingt ihn zu einem weiteren Sanatoriumsaufenthalt. Zwar verläuft der Heilungsprozess planmässig, doch die Zukunftspläne müssen abermals verschoben werden. Während dieser schwierigen Zeit war auch der Briefkontakt zwischen Davos und Kalkutta mehrere Monate unterbrochen. Doch am 20. Dezember 1948 erhält Fabian erneut einen Brief aus Indien. Noch am gleichen Tag antwortet er ausführlich. Er befindet sich nun im jüdischen Sanatorium Etania in Davos. Seine Heilung schreitet gut voran und die Planung der Zukunft sieht die Maturität im Frühling und den Beginn eines ETH-Studiums im Herbst 1949 vor. Fabian bedankt sich diesmal ausführlich für Geschenke, die er aus Indien erhalten hat. Er erkundet sich nach Josephine Farbstein22, die für den Transport der Geschenke verantwortlich war, und äussert an dieser Stelle das Bedürfnis, durch die Vermittlung von Josephine Farbstein seiner Gönnerin nahe zu sein: „I should enjoy myself very much of her visit if she could come and see me here. If she lives in Calcutta, I shall chat with her about you and your family I know so little about.“23 Diese Zeilen belegen seine Anteilnahme am Leben von Niouta Ghosh und auch sein Bedürfnis nach familiärem Anschluss. Am Ende des Schreibens erkundigt er sich nach „Dr. Freund“. Die monatliche Unterstützung von 20.- Schweizer Franken wird ebenfalls verdankt. Im Frühling 1949, als seine Gesundheit wiederhergestellt ist, die Maturitätsprüfungen und ein Studium an der ETH in Reichweite rücken, erlaubt sich Fabian Gerson eine kritische Bemerkung zum Umgang mit Ausländern im Schweizer Hochschulwesen: „I am now sure to be able to begin my studies in autumn, but first of all I shall have to pass my exams in September. I work very much, for there are eleven subjects to be repeated and the federal commission, which examines, is pitiless, especially towards the foreigners.“ In diesem Brief geht er auch auf die Situation des Verbandes Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen/Flüchtlingshilfen (VSJF) ein, dessen Hilfe für die Flüchtlinge weitgehend von Geldern des American Jewish Joint Distribution Committee (Joint) abhängig ist, die nur noch spärlich fliessen. Bemerkenswert ist seine harsche Kritik an den Schweizer Glaubensgenossen, die aus seiner Perspektive die jüdischen Flüchtlinge nicht im Land behalten wollen. Es wird hier erkennbar, wie ungern er über seine schwierige Lage als weitgehend mittelloser Flüchtling spricht: „I never wanted to trou22 Es handelt sich um Josephine Farbstein (1906–1980), geborene Silberroth. Sie ist die Gattin von Gustav Farbstein, einem Sohn des prominenten sozialdemokratischen Nationalrats David Farbstein und lebte längere Zeit in Bombay. Zur Familie Farbstein siehe: Zweig-Strauss, Hanna: David Farbstein (1868–1953), Zürich 2002. Ich danke Daniel Teichman herzlich für seine Hilfe bei der Klärung der biographischen Daten von Josephine Farbstein. 23 Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Davos, 24. Dezember 1947.

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ble you with my affairs, but as you think to be interested in them and asked me yourself to tell you something about them, I shall try to draw you a picture of the conditions of life and studies here. You surely know it, that is the Schweiz. Jüd. Flüchtlingshilfe that supports me and most of the refugees in Switzerland. The position of the later grows more and more difficult with every month, because the Joint refuses to support them here and demands their emigration to Israel. Consequently the Flüchtlingshilfe runs short with money and is obliged to restrict its activity. And the rich Swiss Jews do nothing for the refugees, on the contrary, they are rather glad to get rid of them.“24 Der Autor analysiert die problematische Lage der jüdischen Flüchtlinge durchaus realistisch. Seit Mai 1948 haben die Juden mit Israel einen eigenen Staat. Dieser ist sehr an Einwanderern interessiert. Die Diaspora kann sich somit eines Teils ihrer heimatlosen Glaubensgenossen entledigen. Unerwähnt bleibt, dass auch die Schweizer Behörden auf eine Ausreise der jüdischen Flüchtlinge drängten, um so den Arbeitsmarkt vor „Überfremdung“ zu bewahren.25 Sein Urteil über die Haltung der Schweizer Juden gegenüber den Flüchtlingen ist zudem sicherlich zu einseitig dargestellt. Auch wenn die einheimischen Juden gegenüber Holocaustüberlebenden oft eine distanziert-paternalistische Haltung einnehmen sollten, war gerade der materielle Einsatz der etablierten jüdischen Gemeinschaft zugunsten ihrer verfolgten Glaubensgenossen erheblich.26 Im selben Brief erlaubt sich Fabian Gerson, über den Begriff der „Zivilisation“ zu reflektieren und dabei einen Bezug zum Holocaust herzustellen. Er kommentiert die Sommerferien von Niouta Ghosh in der „Wildnis“ der Berge und verweist auf seine jüngste Lektüre des Romans „Lispeth“ von Ruyard Kipling27, der die Erfahrungen eines Mädchens aus der Wildnis mit der sogenannten „Zivilisation“ beschreibt: „You are enjoying your solitude in the mountains, aren’t you? I wonder whether this sort of is not to be prefered to the culture and civilization of 24 Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Davos, 23. Mai 1949 25 Zum antisemitisch gefärbten „Überfremdungsdiskurs“ in der Nachkriegszeit, siehe: Gerson, Daniel: „…die Grundsätze der Menschlichkeit für alle Flüchtlinge Wirklichkeit werden lassen“. Der „Fall Haroun“, Juden aus Ägypten als Prüfstein der schweizerischen Flüchtlingspolitik in der Nachkriegszeit, in: Kanyar Becker, Helena (Hg.): Verdrängung, Verklärung, Verantwortung. Schweizerische Flüchtlingspolitik in der Kriegs- und Nachkriegszeit, 1940–2007, Basel/Zürich 2007, S. 99–107. 26 Siehe dazu: Mächler, Stefan: Hilfe und Ohnmacht. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die nationalsozialistische Judenverfolgung 1933–1945, Zürich 2005; Picard, Jacques: Die Schweiz und die Juden, 1933–1945. Schweizerischer Antisemitismus, jüdische Abwehr und internationale Migrations- und Flüchtlingspolitik, Zürich 1994. 27 Die Kurzgeschichte „Lispeth“ von Ruyard Kipling wurde erstmals 1886 publiziert. Sie spielt in Nordindien und handelt von einer jungen einheimischen Frau, die auf die Ehe mit einem Briten verzichtet, um bei ihren Angehörigen in einem Dorf am Fuss des Himalayas bleiben zu können.

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our’s with its hypocrisy, its concentration camps and its gas-chambers. The other day I read a tale by Kipling: . Its heroine is a girl from the you are just now living in. Brought up in a mission, she gets into a touch with the civilized world, only to find it thousandfold worse than hers and she returns to her own dirty and primitive people. Do you know the story? If you read it, how do you like it? I wish sometimes I were a native of some distant and savage country. I had no surely gone through this terrible catastrophe, in which a highly civilized European nation annihilated millions of people only because of difference of race.“28 Fabian sieht in der Shoah ein Ereignis, das das europäische Selbstverständnis von Zivilisation grundsätzlich in Frage stellt. Doch auch wenn Europa durch seine jüngste Geschichte gebrandmarkt ist, hofft Fabian dennoch, dass Niouta Ghosh die „Wildnis“ Indiens verlassen und ihn eines Tages besuchen werde: „I hope for all that, you won’t abandon civilization and even visit Europe. But for the present try to forget everything in the world and fell happy in your doll’s house.“29 Trotz dieser zivilisationskritischen Anklänge absolviert er die Maturitätsprüfungen mit einem Glanzresultat und studiert bald darauf Ingenieurwesen an der ETH in Zürich. Doch seine Einsamkeit bleibt bestehen: „I feel very lonely here, I don’t know anybody and I can’t fill up my leisure hours.“ Fabian sehnt sich entsprechend nach einem Brief aus Indien: „I hope you are now back from the hill and there has been no serious reason for your long silence, so I shall soon hear from you again.“30 Fabian Gerson lebt trotz räumlicher Distanz den kolonial geprägten Jahresrhythmus von Niouta Ghosh mit, die ihren Aufenthalt zwischen den kühlen Hügeln am Fuße des Himalaya im Sommer und dem Badeort Puri am Golf von Bengalen wechselt. Wenige Monate später muss Fabian Gerson sein Studium abbrechen. Er berichtet seiner Gönnerin in einem Schreiben vom 4. April 1950 aus dem Zürcher Sanatorium Balgrist nach einer erneuten Erkrankung an Tuberkulose über seine traurige Situation. Diesmal ist der Ton nicht nur melancholisch, sondern schlicht verzweifelt: „That [die Erkrankung] took place three months ago. Little has changed since that day; a hospital-room shared with six invalids, a plaster bed, and above all the eternal imprisonment, without hope, helpless, immobile and inactive. I nearly feel going mad and can’t help meditating: six years of war and K.Z., four of illness, ten years of struggling and suffering and now again nothing but misery and despair. I doubt whether I 28 29 30

Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Davos, 23. Mai 1949. Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Davos, 23. Mai 1949. „Doll’s house“ bezeichnet das Ferienhaus des Ehepaars Ghosh in den Hügeln nördlich von Kalkutta. Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Zürich, 6. November 1949.

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shall be able to begin once more! If I could only continue my studies! (...) I must find some occupation, if I want to stop meditating on my fate that I can’t change.“31 „Meditating“, das „Nachdenken“, wird hier Synonym für die Gefahr, an seinem Schicksal zu zerbrechen. Doch seine Gesundheits- und Gemütslage bessert sich in der zweiten Jahreshälfte wieder. Doch Selbstzweifel und Zukunftsängste bleiben bestehen: „I must only struggle to avoid grumbling, especially I fear the long winter-evenings, for instance I can’t get out of my mind an idea, my life’s hopes have been frustrated now and I’m growing to old to start anything.“32 Endlich wird Fabian Gerson im Februar 1951 glücklicherweise als von der Knochentuberkulose geheilt erklärt, so dass er zu seinem Studium nach Zürich zurückkehren kann. Im überlieferten Briefwechsel klafft nun zwischen 1951 und 1954 eine Lücke von über drei Jahren. In dieser Zeit konnte Fabian mit Hilfe von Niouta Ghosh, aber auch dank dem Engagement von Vertretern des VSJF und der Jüdischen Studentenschaft ein erfolgreich abgeschlossenes ETH-Studium in organischer Chemie absolvieren. Am 7. August 1955 schreibt denn auch nicht mehr ein Patient und Student, sondern ein ETH-Diplomchemiker nach Indien. Die Anrede „Dear Niouta“ verrät, dass er nun auf vertrauter „Augenhöhe“ mit seiner Gönnerin korrespondiert. Der Brief endet durchaus weltmännisch mit einem Bezug auf die vergangenen Sommerferien: „I am glad you have enjoyed your holidays in Ghoom this year. I have got only three weeks too. I stayed in Zurich for the first few days to assist to the XIVth International Congress for Chemistry and to meet the most famous scientists of the world.“33 Fabian trifft nun zwar berühmte Wissenschaftler, bleibt aber dennoch einsam, auch wenn er sein Aussehen dank Schwimmen und Rudern als athletisch beschreibt: „I already look like a brown-skinned athlete.“ Seine Lebensfreude bleibt aber getrübt: „I miss company again, but, after so many years of living alone, I have learnt how to get on without any.“ Er äussert an dieser Stelle zurückhaltend das Bedürfnis nach einer Liebesbeziehung. Doch ein athletischer Körper allein lässt ihn die Kluft zu seinen Mitmenschen nicht überwinden. Er arbeitet an seiner Dissertation und erhofft sich bald eine Rente von der deutschen Wiedergutmachungsbehörde. Bis diese 1959 definitiv genehmigt wird, bittet er seine Mäzenatin um weitere Unterstützung. 34 Niouta Ghosh antwortet ihm zu Beginn des Jahres 1956. Nun werden offenbar erstmals Pläne für eine direkte Begegnung geschmiedet. Er schreibt nach Indien: “I am 31 32 33 34

Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Balgrist, 4. April 1950. Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Leysin, 16. November 1950. Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Zürich 7. August 1955. Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Zürich 31. Dezember 1955.

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looking forward to a little trip with you outside Switzerland, if you come to Europe this summer.“ Die Schweizer Fremdenpolizei hatte Fabian Gerson bei einer geplanten Israelreise im Jahr zuvor noch bürokratische Hürden in den Weg gelegt. Diese scheint er nun allerdings nicht mehr zu fürchten: „Of course, I can meet you in any place and at any time you like.“ Offenbar wäre er gerne nach Paris gefahren, wo Niouta Verwandte hatte:“By the way, I’ve never been to Paris.“35 Das erste persönliche Treffen sollte dann im August 1956 in Nizza stattfinden. Im Sommer 1957 folgen sich zwei Briefe in einem kurzen Abstand von nur wenigen Wochen: Am 9. Juni aus Lugano und am 31. Juli aus dem italienischen Badeort Cattolica. Im ersten Brief skizziert Fabian Gerson seine Optionen für die Zukunft: „1) Staying at the ETH as a scientific assistent; 2) Going on scholarship to the U.S.A. for a year or two (for instance, to Linus Pauling36, Pasadena, California); 3) Settling in Israel.“37 Aus Cattolica kann er berichten, dass er nun das schweizerische „Niederlassungsrecht“ besitzt. Dies ermöglicht ihm freie Arbeitsmöglichkeiten und Reisefreiheit. Schweizer Bürger ist er aber auch zwölf Jahre nach seiner Einreise noch immer nicht: „I am still far from being naturalized.“38 Bei einem Besuch in Israel 1958 muss er erkennen, dass er dort seine akademische Laufbahn kaum fortsetzen kann. Fabian Gerson entscheidet sich also, in der Schweiz zu bleiben. Am 12. September 1959 kann er Niouta Ghosh endlich mitteilen: „My naturalisation has been successful“.39 Bemerkenswerterweise thematisiert er in diesem Schreiben gleich auch seine Ehelosigkeit. Man kann diesem Brief entnehmen, dass Heiratspläne bereits früher erörtert wurden: „Nothing has changed on the matrimonial front. I think I have not got many chances to find a suitable Swiss girl.“40 Er nennt jedoch keine Gründe, weshalb er in der Schweiz keine passende Partnerin findet. Fabian stellt jedoch klar: „As I can’t go on living alone for the rest of my life, I shall have to look for a wife abroad.“ Diese Formulierung dürfte auf die Inanspruchnahme einer jüdischen Ehevermittlung hinweisen. Gleichwohl erscheint ihm dieses Verfahren jedoch als nicht ganz geheuer. Aber er will unbedingt heiraten: „Though the idea (einer Ehevermittlung, D.G.) does not appeal to me, I shall be obliged to do this one day, since marriage has become the problem Nr. 1 of mine.“41 Welche Gefühle sich hinter diesem in einem neutralen Satz formulierten 35 36 37 38 39 40 41

Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Zürich 6. Juli 1956. Linus Pauling (1901–1994), amerikanischer Chemiker, der 1954 den Nobelpreis erhielt. Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Lugano, 9. Juni 1957. Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Cattolica, 31. Juli 1957. Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Zürich, 12. September 1959. Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Zürich, 12. September 1959. Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Zürich, 12. September 1959.

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starken Wunsch verbergen, lassen sich aus einem Schreiben aus Cambridge zwei Jahre später erahnen: „I have got German reparation, I can even consider myself as a whealthy man. Still I am very far from being happy. As a matter of fact, I feel often depressed and miserable here. Cambridge is the last place to be recommended for a single man to live. In Zurich I have got some friends at least [...]. I think the tragic fate of mine is to be everywhere alone and to fit nowhere. Will that always remain so? Is that fate for life or can one change it?“42 Zu einem Zeitpunkt, an dem seine materielle Existenz nun gesichert ist, teilt Fabian Gerson der langjährigen Gönnerin seine fundamentalen Gefühle der Heimatlosigkeit und Einsamkeit mit. Er scheint zu ahnen, dass er trotz seiner beruflichen Erfolge nie mehr glücklich werden kann. Zwischen dem Schreiben von 1961 und dem letzten überlieferten Brief von 1967 hat sich keine Korrespondenz erhalten. Es ist unwahrscheinlich, dass Fabian Gerson in dieser Zeit nicht mit Niouta Ghosh korrespondierte. In diese Periode fallen Eheschließung (1962) und Vaterschaft (1963) sowie die Habillitation an der ETH Zürich (1965). Der Brief vom 2. Dezember 1967 spiegelt daher auch ein erfolgreiches, bürgerliches Leben. Ein verheirateter Mann berichtet nun von seiner Berufung als Professor an die Universität Basel, von seinem Sohn, der bald den Kindergarten besuchen wird, sowie über die erneute Schwangerschaft seiner Ehefrau.43 Fabian Gerson hat es also letztlich doch geschafft, eine erfüllte Existenz als Wissenschaftler, Ehemann und Vater aufzubauen. Die überlieferte Korrespondenz zwischen Fabian Gerson und Niouta Ghosh ist ein beredtes Zeugnis für das Bemühen eines Überlebenden, nach der Shoah sein Leben wieder eigenverantwortlich und erfolgreich zu gestalten. Dabei half ihm das ethisch-religiöse Prinzip der Zedaka, auf dessen Basis eine Jüdin in Kalkutta sich für einen ihrer hilfsbedürftigen Glaubensgenossen in Europa einzusetzen bereit war. Im Fall von Fabian Gerson kam ein bereits vor dem Holocaust bestehendes Beziehungsnetz (die wichtige Verbindung zwischen Edith Freund und Niouta Ghosh) zum Einsatz, das sich mit verschiedenen karitativen Organisationen (OSE und der VSJF) zu verbinden wusste und so eine wirkungsvolle transnationale Dynamik entwickelte. Die erfahrene Solidarität und Solidität in der Beziehung zur Mäzenatin erwies sich für den Begünstigten als ein rettendes und vitales Fallnetz über den Abgründen der europäischen Zivilisation. 42 43

Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Cambridge, 7. Mai 1961. Brief von Fabian Gerson an Niouta Ghosh, Zürich, 26. Dezember 1967.

MÖGLICHKEITEN-ERÖFFNEN ALS INTELLEKTUELLE GABE Claudia Willms

An einer Tagung in Kopenhagen teilnehmen, einen Vortrag in Tel Aviv halten, einen Text in einer namhaften Zeitschrift veröffentlichen, einen Forschungsaufenthalt an einer passenden Universität planen und Kontakte zu Wissenschaftler_innen in der ganzen Welt pflegen … Während der Gespräche, die Jacques Picard mit uns – seinen Doktorand_innen – führt, assoziiert und verknüpft er stets Menschen, Orte und Ideen; und mit Vorliebe eröffnet er uns dabei neue Möglichkeiten. Seine Vorschläge sind wohl überlegt, an die jeweiligen individuellen Bedürfnisse angepasst und von großer Empathie getragen. Und das Allerbedeutsamste ist: Es handelt sich tatsächlich um Eröffnungen, und daher niemals um Anweisungen. Jacques Picard nimmt somit seine Rolle als Mentor ernst und hilft uns dabei, unseren Weg zu finden, so dass wir uns mit unserem Thema und mit unserer Persönlichkeit weiterentwickeln können. Das Möglichkeiten-Eröffnen sollte daher, wie ich finde, insgesamt als eine besonders wertvolle Eigenschaft von Professor_innen im Interesse ihrer Studierenden und Doktorierenden betrachtet werden. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an folgende charakteristische Situation: Während meiner im Sommer 2012 durchgeführten Archivrecherchen in den Central Zionist Archives in Jerusalem war ich sehr erfreut, als ich erfuhr, dass zur gleichen Zeit Jacques Picard gemeinsam mit einer Studierendengruppe das Land besuchen würde. Zwar konnte ich die Gruppe (aufgrund meiner lange Aktenmeter andauernden Recherchearbeit) während ihres Aufenthalts in Israel nur einmal treffen, doch diese Begegnung stärkte mich aus vielerlei Gründen für die kommenden Tage. Nachdem ich am Morgen eine abenteuerliche Reise unternommen hatte (zunächst auf der historischen Bahnlinie Jerusalem-Malcha bis Tel Aviv, dann in einem Zug bis nach Haifa und schließlich im Bus den Karmel-Berg hinauf), traf ich an der Universität von Haifa endlich auf die Gruppe Schweizer Studierender. Jacques stellte mich den Umstehenden unkompliziert vor und so wurde ich sofort herzlich aufgenommen. Danach ließ ich mich treiben – zum ersten Mal in Israel musste ich nicht jeden Schritt selbst entscheiden, jeden zu gehenden Weg selbstverantwortlich abwägen und nicht beständig die Logik des mir noch ziemlich fremden Landes und seiner Sprache zu verstehen versuchen. Ich folgte also der Gruppe in einen Kinosaal der Universität und schaute mir einen Werbefilm über die zukunftsorientierte Wissenschaftslandschaft

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Asaf Ronen während der Führung durch Wadi Nisnas im Sommer 2012. Jacques Picard, Maria Yelenevskaya und einige der Studierenden im Hintergrund. Photo: Claudia Willms.

Israels an; danach setzte ich mich in den Reisebus der Gruppe, um zu den Hängenden Gärten der Bahai kutschiert zu werden – ich staunte damals: „Ihr habt tatsächlich einen eigenen Bus, der Euch überall hinfährt?“ Anschließend fuhren wir den Berg hinab bis nach Wadi Nisnas, wo wir von Asaf Ronen, dem Direktor des Arabisch-Jüdischen Kulturzentrums in Haifa, eine exklusive Führung durch die verwinkelten Straßen des arabischen Stadtviertels erhielten. Später fuhr ich mit der Gruppe zurück nach Tel Aviv, von wo aus ich am späten Abend ein Sherut (ein landestypisches Sammeltaxi) nach Jerusalem nehmen wollte. Überwältigt von den vielen neuen Eindrücken und erschöpft von dem langen Tag saß ich am Fenster des klimatisierten Reisebusses, blickte in die Ebene und genoss die letzten Momente des aufgehobenen Gefühls, das man bisweilen in einer Gruppe erfahren kann. Jacques, dem die Fähigkeit des Möglichkeiten-Eröffnens anscheinend in allen Lebenslagen gegeben ist, setzte sich auf einmal zu mir, um zunächst meine Recherchen und meinen aktuellen Forschungsstand zu besprechen. Urplötzlich fragte er nach meinen weiteren Schritten – aber nur, um mir sogleich die Möglichkeit zu eröffnen, eine

Möglichkeiten-Eröffnen als intellektuelle Gabe

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Cotutelle-de-thèse anzumelden: „Ja, das würde sich doch bei dem Thema bestens anbieten!“ Zu jener Zeit waren diese Pläne für mich noch ferne Zukunftsmusik. Aber vielleicht ist das Möglichkeiten-Eröffnen ja auch verbunden mit einer weiteren, einer ins Zukünftige reichenden Befähigung? So scheint Jacques die im Hier und Jetzt sich eröffnenden Möglichkeiten nicht nur zu erkennen, sondern sie in seinen Vorschlägen auch verdichten zu können. Manches davon wirbelt auf, verfängt sich in der Geschichte, anderes verweht oder formiert sich neu. Aufgrund seiner reichlichen Erfahrung und seiner Offenheit kann Jacques diese Entwicklungen bedenkenlos zulassen, da er stets akzeptiert (und sogar befördert), dass etwas Neues und Eigenes daraus entsteht. Ich zumindest habe mich später für eine Cotutelle in Deutschland und der Schweiz angemeldet (und meine Doktorarbeit schließlich auch als solche eingereicht) und konnte daher noch des Öfteren in den Genuss kommen, Jacques während der Ausübung seiner wunderbaren Fähigkeit zu erleben. Für seine vielen Eröffnungen und seine individuell zugeschnittene Förderung möchte ich mich, und dies sicherlich auch im Sinne all seiner Doktorand_innen, herzlich bedanken und ihm hiermit ein schwyzerdütsches „Merci vielmal“ aussprechen.

MIGRATORY STEPS Ukrainians in a Rural Danish Region Niels Jul Nielsen

Introduction The past three decades have been marked by a rise in mobility and transnational living that is evidence of a departure from the previous more than half a century, from the First World War to the end of the Cold War.1 Put it in overall terms the breakdown of the Soviet empire opened up the international economy, the former planned economies were integrated in the world market, and a neoliberal paradigm came to rule the political economy on an almost worldwide scale.2 Alongside the increase in capital flows, also borders that limited the movement of individuals have been loosened. And in the EU the launching of the single European market in 1993 established the principle of freedom of movement of not only capital, goods and services, but also labour. As a consequence, people can move around with almost no restrictions within the borders of the union. In the former Eastern bloc countries, the trammels of moving abroad have been removed. In the wake of these transformations, there has been an explosion in academic literature on migration. How do people utilize the new opportunities? How are they impacted by them? How do they change family patterns and interpersonal relations? How does the flow of people transform both the sending countries and the new host countries? How do people travel; are they circular migrants, temporary migrants, or permanent migrants moving continuously to new destinations? Do they make up 1

2

Cf. Elliott, Anthony/Urry, John: Mobile lives, London/New York 2010; Glick Schiller, Nina/Basch, Linda/ Szanton Blanc, Cristina (Ed.): Towards a transnational perspective on migration: race, class, ethnicity, and nationalism reconsidered, New York 1992. Cf. Baglioni, Guido/Crouch, Colin: European industrial relations: the challenge of flexibility, London 1990; Crouch, Colin: The Strange Non-death of Neo-liberalism, Oxford 2013; Crouch, Colin/Streeck, Wolfgang: The diversity of democracy: corporatism, social order and political conflict (MA: Edward Elgar), Cheltenham/Northampton 2006; Leitner, Helga/Peck, Jamie/Sheppard, Eric S.: Contesting neoliberalism: urban frontiers, New York 2007.

Migratory Steps

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mobile, transnational families or send out one family member to build a new home base? Inquiries into these patterns are varied. Quantitative studies include large-scale calculations of numbers, types, and time schedules of the migrants. In the field of political science, research focuses on regulatory frameworks and systems of rights. In the ethnological and anthropological realm, the primary focus is on the experiences of the migrants and the ways in which they organize their lives as individuals and families under the changing circumstances. The present article is embedded in the latter disciplines, using a case from current research to understand what motivates migrants and how they respond to the conditions they encounter. Moreover, it examines how migrants’ different understandings of ‘the good life’ lead them to choose diverse paths although faced with similar circumstances.3 The approach to answer these questions revolves to a large extent around issues related to the labour market. Although not the predominant scholarly entrance to migrant lives, I have found that work strategies and choices are key to understanding migrant lives.4 In the majority of cases, the reason for moving is an urge to work under different conditions in new settings; whether the choice to migrate is caused by poor conditions at home and a necessity to look for livelihood opportunities in new surroundings or by a desire to have interesting new experiences and build up international competencies and networks. This article concentrates on the former kind of migration, i.e. migrants in low or semi-skilled professions. These migrants predominantly move because of bare necessity to the marginal and often precarious parts of the labour markets, in contrast to highly-skilled professionals who jump from position to position as part of their career path. The article portrays two migrant families (currently living in the Danish region where the research has taken place); it lays out the paths their parents have taken in the homeland and the trajectory they have been on themselves from leaving their home 3

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The research project Neoculturation of life-modes during the current transformation of state system and world economy – the challenges, variations and changes in cultural lifemodes, funded by the Danish Velux foundation, is outlined in extension at www.lifemodes.ku.dk. Issues related to migration are not at the centre of the research project; but migration, as a significant condition of the present world order, is included when relevant, such as in relation to labour market transformations. Cf. Jul Nielsen, Niels: Ordinary Workers and Industrial Relations in a New World Order, in: Sociology Study 4/8 (2014), pp. 728–737; Jul Nielsen, Niels: Polishness as entrance ticket and barrier to an altered labour market in the Danish construction industry, in: Work Organisation, Labour and Globalisation 9/1 (2015), pp. 63–75; Jul Nielsen, Niels/Sandberg, Marie: Between social dumping and social protection. The challenge and re-negotiation of creating ’orderly working conditions’ among Polish circular migrants in the Copenhagen area, Denmark, in: Ethnologia Europaea 44/1 (2014), pp. 23–37.

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country and striving to get a foothold in the Danish labour market. Both families ultimately aim to become Danish citizens, and establish a permanent home in the country. The focus is on the different steps between national and labour market systems that their parents first took, and that they themselves have later followed in their endeavour to ‘become Danes’.

First step: entering a liberal era in Ukraine The two young couples, Ilya and Irina and Sergei and Sveta, are from Ukraine, and immigrated while they were still in their teens; they have been in Denmark for five to ten years.5 They embody the transformations that are described above, taking advantage of the opportunities that have emerged during the last decades to move across national borders in the internationalised economy. They have correspondingly encountered the downside of the neoliberal political economy, where security systems and worker welfare are generally dispensed in favour of market logic, also when this logic applies to competition among wage-earners. Ilya, Irina, Sergei and Sveta are not the first in their families to make a journey related to the change in the world order around 1990. Since they are all currently in their late 20s, they were hardly born when their parents experienced the collapse of the Soviet empire. This change introduced political independence together with liberal economic reforms and privatisation. As a result, their parents underwent a transition from being citizens under Soviet rule, and employees in state-owned enterprises, to being citizens in a democratic system, not only free to elect their own rulers but also to act freely on the market and urged to provide for themselves on market terms. Some of them found new occupations in private companies, while others remained employed in companies that were still partly run by the state. Several of them occasionally tried their luck as self-employed workers, i.e. as service providers of different kinds. The Ukrainian economy went through a grave downturn during the 1990s, and in many cases the household economy had to be complemented with different 5

In the Danish region that is the focus of this research, Ukrainians made up the first wave of foreign workers following the breakdown of the Soviet empire. Already during the 1990s they came in larger groups, partly due to measures taken by local farmers in order to attract them. Upon the EU enlargement in 2004, which included eight former Eastern bloc countries (Ukraine not included) as member states, Poles in particular became a sizeable group in the area. After the subsequent EU enlargement in 2007 (with the inclusion of Rumania and Bulgaria), Rumanians have found jobs in the region. Today Poles, Ukrainians, and Rumanian (in that order) make up the three largest migrant groups.

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forms of small trading, running of a small shop, sewing for people, or the like. Altogether, their lives were fundamentally changed by the liberalisation and the spread of market economy, but the transition took place within the national borders of Ukraine. Their children have taken a next step by seeking their fortune abroad. That does not mean, though, that the older generation has become entirely decoupled from its children. The parents are in frequent virtual contact with their children (typically using Skype); and when possible they travel to them in order to give them a helping hand in their new surroundings. Most significantly, the birth of grandchildren necessitated their presence to make ends meet in periods of peak load among the young couples. In a less direct though important way, the parents of the young couples now living abroad are present in their children’s lives through their example. During their childhood and adolescence, the children witnessed their parents’ strategies to cope with the new circumstances in Ukraine, including their parents’ choices of occupation, their experiences as ‘free workers’ in the labour market, and their experiences, if any, with self-employment. To some degree, these experiences have been internalised as part of their own approach to life: what is preferable work, appropriate working conduct, and possible routes to follow in the labour market? The now adult children with this background have formed particular practices and ways to comprehend life circumstances that they encounter. Such understandings are another important key to understanding migrants’ everyday practises in the labour market. Thus, in the following portrait of the Ukrainian families the insight into their practices and strategies will be analysed through two lenses: on the one hand, the opportunities and challenges that can be found in the labour market; and on the other hand their preferences and understandings of ‘the good working life’. As will be outlined, the two Ukrainian couples have taken almost parallel paths after entering Denmark. However, upon closer look it is revealed how they encounter and interpret the similar circumstances in dissimilar ways, because they differ in their understanding of the preferred type of working life. In this particular case, the couples strive for respectively ordinary-waged work and self-employment. The article is therefore reluctant to regard migrant livelihood patterns – such as an inclination for ordinary work or self-employment – as either related to particular circumstances or connected to specific migrant communities.6 The insight into proba6

Cf. Baycan Levent, Tuzin/Masurel, Enno/Nijkamp, Peter: Diversity in entrepreneurship: ethnic and female roles in urban economic life, in: International Journal of Social Economics 30/11 (2003); Clark, Ken/Drinkwater, Stephen: Ethnicity and Self-Employment in Britain, in: Oxford Bulletin of Economics and Statistics 60/3 (1998), pp. 383–407; Kloosterman, Robert/Rath, Jan: Immigrant entrepreneurs in advanced economies.

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ble differences within worldviews and dreams, and thus also practises and strategies, is important in order to succeed in unravelling the complexity in migrant cultures, including the question of why they end up in different parts of the labour market.

Second step: reaching Denmark – the common picture From the first fieldwork encounter with Ukrainians working in the region of research, they appear to make up a homogenous group. The region consists of a few larger towns and an extended countryside, and here Ukrainians are almost entirely occupied in agriculture. Ukraine is not a EU member country, and the preferred possible route for joining the Danish labour market is through trainee contracts in agriculture. The Danish state buttresses this opportunity due to difficulty of attracting national workers to the mainly unskilled undertakings, such as manual work in pig stables, at mink farms, at farms with dairy cattle, etc. The identification card that a Ukrainian migrant worker receives following the admission as a trainee contains not only personal data but also the name of the particular farmer employer that the person is connected to. Ukrainian migrant workers are allowed to find new employers but only within the field of agriculture, at which time a new ID card with updated information should be provided. In case of a migrant couple, the partner, typically the wife, is allowed to take any job (as a means to make the family self-sufficient), with an ID designation of ‘Family member’. Most commonly, the Ukrainian migrants are couples. The ones that do not have a partner when they enter Denmark are generally searching for one. Moreover, Ukrainians maintain a relatively close network of relationships. This is not only the case in physical encounters but also through the use of virtual networks. One common network is odnoklassniki (ok.ru), a Facebook-like internet site in Russian that connects them with other Ukrainians in the region (as well as outside and abroad). Through this site, members exchange furniture, cars, household items, and other goods; they also arrange carpooling locally or to the homeland. It is also here that new partners can be Mixed embeddedness further explored, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 27/2 (2001), pp. 189–201; Lever, John/Milbourne, Paul: Migrant workers and migrant entrepreneurs: changing established/outsider relations across society and space?, in: Space and Polity 18/3 (2014), pp. 255–268; Rusinovic, Katja: Moving between markets? Immigrant entrepreneurs in different markets, in: International Journal of Entrepreneurial Behavior & Research 14/6 (2008), pp. 440–454; Sahin, Mediha/Nijkamp, Peter/Rietdijk, Marius: Cultural diversity and urban innovativeness: personal and business characteristics of urban migrant entrepreneurs, in: Innovation: The European Journal of Social Science Research 22/3 (2009), pp. 251–281; Sahin, Mediha/Nijkamp, Peter/Suzuki, Soushi: Contrasts and similarities in economic performance of migrant entrepreneurs, in: IZA Journal of Migration 3/1 (2014), p. 7.

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found. In the region that was the focus of this research, many Ukrainians are active in the broad range of activities that take place in local associations, such as sports clubs. Typically, they gather with others of their own nationality. All in all, Ukrainians that are newcomers to Denmark appear rather uniform, taking part in unskilled manual work in agriculture and a well-developed social life. It can be added that in general Ukrainians as well as other ‘Eastern workers’ (the tag attributed in the public discourse to workers from the former Eastern bloc) are successfully integrated in the region. The supply of abandoned homesteads that are cheap in the countryside, the supply of work not favoured by Danes, and a local request for new inhabitants to balance the flow of people to the larger cities favours this pattern of migration in the region. Unlike Eastern workers from EU member countries, who are allowed to stay in Denmark, the Ukrainians must work uninterruptedly for five years in order to apply for a permanent residency permit. This also contributes to a pattern of maintaining a stable relationship to a particular region rather than moving on.

Third step: becoming Danish – different stages on the same path …? The two couples here fit well into the overall pattern, but indeed, when turning to individuals, the picture always smudges. Every person is unique and has an entirely individual story, where experiences and worldviews, just like future dreams, will never be merely a replica of another individual. What we seek in cultural inquiries, however, are not individual nuances but fundamental distinctions; i.e. where (relatively) similar circumstances are met with distinctly different strategies. In that case, it could be argued then, that similar circumstances become means in praxes of different kinds, since the individuals in question are actually entering (or continuing) different courses of life, although faced with similar opportunities. There are indications that these two families exemplify different life-courses; and thus their example can illuminate important features of divergent preferences, priorities and passions (in short, different ideas of what is the good life) within a migrant population that otherwise tends to fuse together as an entity associated merely with a common national background (or understood as differing only with regards to supposedly generalised sociological ‘factors’ such as gender, age, educational level, social background, etc.). By concentrating mainly on the males in the two families, this idea will be analysed in more depth below. A particular challenge when following migrants is their ever-changing life circumstances, which tend to repeatedly change their strategies and plans. This makes it hard

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as a researcher to capture the principal concerns and preferences of the people in question. Therefore, there is a risk that their choices and life-courses are understood as merely reflections of these altering circumstances (maybe combined with ‘explanations’ that bring in the aforementioned supposedly independent ‘factors’). In that case, their active engagement with the course they are on is overlooked. In methodological terms, it thus might be appropriate to first lay out the circumstances as they can be grasped in the investigation; and, secondly, scrutinize how they are met and approached amongst the people in question. Turning to Ilya and Irina, Sergei and Sveta, our immediate impression is that the two couples today stand in very dissimilar situations, although they have been on the same ‘Ukrainian path’. This is connected to the fact that Ilya and Irina, who have been in Denmark for eight years, have managed to achieve a permanent residency permit. The tremendous impact this has had on their situation in contrast to the situation of Sergei and Sveta can hardly be overestimated. Sergei and Sveta are still trying to become permanent residents; and in the period of the research project their situation has become notably uncertain and precarious. During the second interview (upon the passing of a year), the insecurity and unpredictability that often accompanies migrant life was striking: Danish authorities had recently extended the waiting period (requiring steady work to apply for permanent residency) from five to six years as an effect of the European refugee crisis. This caused grave frustrations in the family and jeopardized their entire plan. Unsurprisingly, they started to doubt if this new period would remain the same or whether new extensions – or, much worse, a blunt removal of the possibility of a permanent residency permit – could be expected. Ilya and Irina are thus at another stage of the trajectory towards being integrated in the Danish society, one that both couples imagine as the ideal. Upon receiving their permanent residency permit, they have been able to direct all their efforts towards realizing their dreams. They have bought a single-family house located in a development in a small town in the region. The house has had only one previous owner and appears brand new. It contains a garage for Ilya and Irina’s two cars, it spreads out over more than 250 m2, and it is situated in the middle of a large lawn so neatly kept that one would think they employed a gardener. However, that is not the case; of course Ilya and Irina save the money and mend the garden themselves. They economize on what they regard as unnecessary consumption; this includes spending money on things you can do for yourself. Their investment in a large house stands outside of that sphere. There is a clear reason for this large investment: they see the house as a means to

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their integration. Their residence enables them to become citizens on equal terms with Danes, and it makes up the future foundation for bringing up their children. Their first child, a one year old girl, attends the local daycare; and Irina joins the frequent gatherings of mothers of small children in the area (in the so-called ‘mothers groups’ organised by the municipality). They have also become members of the association of citizens of the town, where local activities are planned and organised. Irina still works with dairy cattle at the farm that has been key for obtaining her residency permit, while Ilya, since completing the required five-year period in agriculture, has started an apprenticeship as a metalworker. Upon Ilya’s completion, hopefully leading to a fulltime job, Irina’s plan is to pursue an education as an environmental assistant (connected to agriculture), adding to the education she already had from Ukraine.

… or different preferences? Thus, compared to Ilya and Irina, Sergei and Sveta are not well-off, uncertain of what the future will bring. As discussed previously, this could lead one to ascribe the dissimilarities in the life that they currently lead to these different circumstances. However, should Ilya and Sveta succeed in their efforts to become permanent residents in Denmark, it is probable that they will take another course in the labour market. This possibility is not apparent from their current undertakings; Ilya works in the pig stables for the farmer that he was connected to with a trainee contract when arriving to Denmark, while Sveta has different unskilled jobs, mainly in cleaning and as a papergirl. However, talking with Sergei reveals another conceptual world and definitions of the good working life than those that Ilya conveyed. Sergei exposes a strong inclination for becoming self-employed. Like many other Ukrainians working in farms, he is not particularly fond of the stable work; but unlike Ilya, for example, his dreams are not targeted at a traditional wage-earner job, even though this would probably provide more attractive conditions and more interesting undertakings than farm work. Sergei wants to be his own boss. To discuss in more depth the distinction between the way Sergei and Ilya approach their otherwise comparable circumstances, I employ the theoretical framework of lifemode analysis.7 7

Cf. Højrup, Thomas: Staat, Kultur, Gesellschaft: über die Entwicklung der Lebensformanalyse, Marburg 1995; Højrup, Thomas: State, culture, and life-modes: the foundations of life-mode analysis, Aldershot/Burlington 2003; Jespersen, A./Riegels, Melchior/Sandberg, Marie (Eds.): Verden over - en introduktion til stats- og livsformsteorien, Copenhagen 2006; Jul Nielsen, Niels: Virksomhed og arbejderliv. Bånd, brudflader og bevids-

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An important lesson from lifemode theory is that you cannot determine an individual’s lifemode preference from his or her occupation or position in the labour market. Again, we are not products of our circumstances; similar conditions can be met in different ways by the individual. The distinct conceptual worlds connected to the lifemode concepts might be a key to understand these differences. When interviewing Ilya, it appears that for him the favourable path away from his somewhat subordinate and constrained position as a trainee and later employee in agriculture is to get a job completely on the same terms as Danes enjoy, with relatively good wage and working conditions in Denmark. Following his first trajectory of leaving Ukraine, his next step, upon becoming a resident, is to push for an ordinary wage-earner job. Thus, the tendency to generalise a trajectory from waged work

thed på B&W 1850–1920 [Enterprise and Workers’ Life: Bonds, Ruptures and Consciousness on B&W 1850– 1920], Copenhagen 2002; Jul Nielsen, Niels: Mellem storpolitik og værkstedsgulv: den danske arbejder: før, under og efter den kolde krig [Between High Politics and the Workshop Floor. The Danish Worker - Before, During and After the cold War], Copenhagen 2004; Schriewer, Klaus: Die strukturelle Lebensformanalyse: ein Beitrag zur volkskundlichen Theoriediskussion, Marburg 1993. Here is not the place for a general outline of the principles of lifemode and state-form analysis, but the basic idea is to build up a structure of concepts, mutually interdependent and making up an inner ‘necessity’ (rather than claiming that they are made up from empirical generalisations). The purpose of the concept building is on the one hand to put them at risk when employed in analyses of empirical accounts (and eventually reconstruct them); and on the other hand to be able to scrutinize the ethnographic data (whether contemporary or historical) for connections and interdependencies that otherwise are not necessarily illuminated. Embedded in a Marxist (and Hegelian) tradition, the concept structure consists on the (concepts of) modes of production; but instead of the Marxist class concepts, concepts of ‘lifemodes’ (different forms of praxis made up by specific compositions of means and ends) are constructed in connection to the modes of production (that in their turn make up the necessary conditions for the lifemodes). In contemporary Western societies, two modes of production are depicted: the capitalist mode of production and simple commodity mode of production. The capitalist mode of production requires three lifemodes: the lifemode of the wage-earner (that contributes with predefined work and in return receives a wage at a tariff-based level); the lifemode of the investor that provide the finances to run the entire business (and in return receives a profit); and a career-professional lifemode that provides the business with the necessary innovative edge in order for it to be competitive (and in return receives an individualised salary, not comparable with ordinary wages). The (concept of) Simple commodity mode of production only ‘requires’ one lifemode, the lifemode of the self-employed, which provides the business with all the necessary components: means of production, production material, and labour. The lifemode masters the entire production process itself. In real life, companies might be made up by characteristics of both lifemodes (such as the family farm that occasionally hires ordinary wage workers). Notably, individuals ‘are’ not lifemodes; but their passions, preferences, strategies – in short, their praxes and ideological universe, and thus their idea of ‘the good life’ – can be analysed with the lifemode concepts. Usually characteristics from different (concepts of) lifemodes can be depicted, thus creating inconsistencies in the praxis (since the lifemode concepts are mutually distinct). By inquiring people over a period of time, it often is revealed which lifemode features are most strongly founded in the individual. The concept of neoculturation emphasizes the relation that lifemodes constantly have to deal with vis-à-vis and the changes in the external milieu that constitute their necessary conditions of existence. See also reference in note 1.

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(regarded as subordinate) to self-employment (regarded as more independent)8 does not appear to provide an accurate insight into distinct migrant practices. Someone like Ilya thrives with firm, stable conditions and the sharp division between work and leisure life. Such a job fits well into his idea of freedom and independence, as well as into the family life that he and Irina have begun with the purchase of their large house. He believes that the skills he now learns as a metalworker apprentice will give him sufficient flexibility to get jobs on the current fluctuating labour market. Sergei’s preferences go in another direction altogether. As mentioned, his path away from farm work is to become his own boss. The freedom that Ilya finds in wage work on good conditions, leaving work duties behind when he is not working to focus on leisure and family time, bears no meaning for Sergei. Freedom for him is not to be in a subordinate position, no matter the conditions. He sees himself as the owner of a oneman trading company where he can build up a network of customers, and in this way utilize his desire for activity, organisation and entrepreneurship. Such a path epitomizes his dream of acquiring freedom and independence, which Ilya found as a worker. The supposed freedom of the self-employed can be misinterpreted when approached from other lifemodes. For instance, when self-employed are perceived by people with a wage-earner conceptual world, the latter either tend to only see the lack of superiors (that they know from their own waged work) and not the huge responsibility for succeeding with a durable business that goes along with being one’s own boss, including the reliance entirely upon one’s own competences; or focus on the work and wonder how it can be meaningful to never really have time off. Thus, it is pivotal to understand what interviewees really mean and refer to when they point out attractive livelihoods. Here, it is generally relevant to bring in the concrete practical life experiences of the interviewees and also their possible acquaintance with particular conceptual worlds and practices. In Sergei’s case it appears that he has a realistic understanding of what self-employment entails. As a young man, Sergei’s father worked in the state-run coalmines in Ukraine. With the independence and liberalisation of the economy, he started up a small cargo-trading company; Sergei himself wants to start up a similar type of company. As a young man he helped in the business, both in administration, with practical tasks and as a driver. He thus most likely understands what it takes to be self-employed. He acknowledges the challenge it poses to manage a business without the secu8

Cf. Fee, Lian Kwen/Rahman, Md Mizanur: From Workers to Entrepreneurs. Development of Bangladeshi Migrant Businesses in The Republic of Korea, in: IMIG International Migration 52/2 (2014), pp. 122–139; Lever/Milbourne, Migrant.

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rity connected to obtaining regular payment as a wage-earner; and he knows he has to be smart enough to run a business in a way that consistently safeguards new costumers and continual commissions. Thus, parents’ values and norms regarding ways to cope with labour market challenges and other everyday practices do not go unacknowledged by their children. In Sergei’s case, it is obvious that experiences during his childhood and youth are important for his conceptual world in the radical new circumstances he faces in Denmark. Following the same line of argument, it is also intriguing that Ilya has not had experiences similar to Sergei. For a number of years, his father has worked in a subordinate inspector position in a state-run gas company in Ukraine, a position he has kept during the transition. In Ukraine, Ilya himself took training as security guard, also at that time favouring waged work with steady working hours and undertakings. Self-employment, however, he is acquainted with through his mother, who complemented the family economy with sewing work; accordingly, Ilya associates self-employment with poverty and something done from necessity, rather than with independence and freedom. As is apparent from the above discussion, in the case of Sergei and Ilya there are clear parallels between their lifemode characteristics and those of their parents (in this case their fathers). However, just like individuals are not mere products of their circumstances, practices and values passed on from parents are not simply mirrored in their children; they might even be rejected by the rising generation (leaving only a complete lack of relation between the idea of the good life of children and their parents unlikely). As individuals, we are rarely entirely clear about where the journey from youth to adulthood leads us; but along the way we employ all our working capabilities and social competences (among these also the ones passed on from parents) as we encounter challenges and opportunities. During that unpredictable process we learn more about our preferences and desires; what suits us, and what makes us withdraw and try out other opportunities? The example of the two Ukrainian families cannot be directly applied to all Ukrainians, nor in general to migrants in agriculture with probable access to a permanent residency permit. The principal insight is that their course of life cannot be reduced to either the circumstances that they face or the background that they come from; although both impact them. To have a more complete understanding, it is necessary to inquire into the ways in which they comprehend their life circumstances and background.

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Concluding remarks Fundamentally, migrants do not differ from other people. But they are likely to encounter much more unpredictability than non-migrants. The point therefore is that not only the special circumstances connected to migrants’ conditions (here with a main focus on the labour market) must be inquired, but also the distinct cultural preferences (here understood in lifemode terms) that the migrants’ hold in their encounter with these circumstances. The differences mean that in analyses of particular migratory processes it is important to acknowledge that migrants, if they establish livelihoods in new countries, will use the circumstances that they encounter in dissimilar ways. Accordingly, regarding the families inquired here, it is likely that in ten years we will find the migrants in very distinct courses of life, despite the fact that they now seem to be on the same course of integration (though at different stages) and have shared similar living and working conditions.

REMITTANCES AND MIGRATION Short Narratives and Biographies of Senegambian Migrants Khadeeja Haddy Sarr

“Leaving my country gave me the opportunity to take care of my family in a way that I couldn’t fulfil back home. However, I started to provide for family members long before I left my home country, it’s not as if I started providing for them because I left. But being here has given me the opportunity to do more for them, and probably the reason why I will stay here for a while.” Alieu Diarra, age 45, Senegambian living in Switzerland

Introduction An immense scholarship shared amongst migration scholars focuses on the idea that people migrate in search for better livelihoods in other countries. This notion is also connected to the idea that people leave their home countries due to push and pull factors. 1 This is especially conveyed in the case of migrants from Sub-Saharan Africa who often are described as individuals leaving their homes due to poverty, poor education systems, low wages, and poor infrastructure. However, the concept of push and pull factors as main motives to why individuals leave their home countries is also questioned and criticized by scholars2. Recently there has been a new approach to understanding the motives behind individuals who migrate and the practises they engage in abroad.3 Carling’s4 idea that there is an “instrumental value” to why migrants leave 1

2 3

4

Hahn, Hans Peter/Klute, Georg: Cultures of Migration. African perspectives (Beiträge zur Afrikaforschung 32), Münster 2007; Kohnert, Dirk: African Migration to Europe. Obscured Responsibilities and Common Misconceptions, in: GIGA – German Institute of Global and Area Studies 49 (2007), pp. 1–25. Portes, Alejandro/Rumbaut, Rubén G.: Immigrant America: A Portrait, in: University of California Press 4 (2014), pp. 48–79. Baláž, Vladimir/Williams, Allan M.: Been there, done that: international student migration and human capital transfers from the UK to Slovakia, in: Population, Space and Place 39/2 (2005), pp.439–468 on “total human capital.” Also see Carling, Jørgen: Scripting remittances: making sense of money transfers in transnational relationships, in: International Migration Review 48 (2014), pp. 218–262. Carling, Remittances.

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their home countries is similar with Sorenson’s and Olwig’s5 notion that people don’t migrate in order to start a new life elsewhere, but instead seek new ways to expand livelihood practises which are appreciated and valued back home. This paper sets out to redress the idea that maintaining and fulfilling value systems, as well as accomplishing one’s own desire to provide for family members, should be reflected as a motivation to why individuals choose to leave their home countries. In this paper, I make use of a study on migrants from Senegal and Gambia “Senegambians” as my samples. The approach of my research goes beyond the colonial construction of the two nation-states. I use the term “Senegambia” as both Senegal and Gambia share common social and cultural backgrounds and were in the past reunited into a confederation of states. Although the politico-ideological cleavages stemmed an ending to the confederation, the historical, anthropological, sociological foundations of the cultural and social unity still remain as Gambian and Senegalese people have their families within each territory. With remittances being considered a central practice amongst migrants from Senegambia, my initial approach was to further examine the underlying value to the practice of remittances. However, I soon realized that I had made the common assumption often made within research on remittances, which was linking remittances to migration and transnationalism. Through the accounts and biographies of Senegambian migrants, understanding livelihood and activities they engaged in back home before migrating suddenly became the vanguard of my approach to understanding the value of remittances. With this in mind, I now understood the importance of thinking outside the box and realized that to understand the decision-making and practices amongst migrants, we should consider Carling’s argument that migration may occur, as a strategy, as individuals want to fulfil practices that are valued and appreciated back home. The latter also falls in line with the New Economics of Labor Migration (NELM) theory6 which reflects on migration as a strategy to improve livelihoods through income intensification. The theory of NELM contends that individuals relocate on a momentary basis to accomplish their goals in host countries, a prerequisite before they return back home7. In conclusion, we need to understand an individual’s past to recognize their present experiences and decision-making; this includes studies focusing on any topics concern5

6 7

Olwig, Karen Fog/Sørensen, Ninna Nyberg: Mobile livelihoods. Making a living in the world, in: Olwig, Karen Fog/Sørensen, Ninna Nyberg (Eds.): Work and Migration. Life and livelihoods in a globalizing world, New York 2002, pp. 1–19. Abreu, Alexandre: The New Economics of Labor Migration. Beware of Neoclassicals Bearing Gifts, in: Forum for Social Economics 41/1 (2012), pp. 46–67. It is important to point out that NELM uses economic dimensions and neoclassical approach and wage differentials.

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ing migration and transnationalism. This paper offers a very short snapshot into my ongoing research at the University of Basel.8 I will share some accounts by Senegambian migrants and how they elaborate on remittances as a part of their experiences. The current symbolic understanding of remittances in migration studies appears to have overcrowded the original meaning of the act itself. Remittances are often referred to within the context of migration and transnationalism and considered as an act triggered due to migration.9 Yet, my own analysis illustrates that the act of providing and taking care of family members has always been a part of the life course of Senegambians as individuals and not as migrants. Studies on remittances fail to use “remittances” as their hub point but instead use the concept whilst signifying to migration and transnationalism.10 My intention is to contribute to the conventional understanding of remittances and migration amongst Senegambian migrants. Based on my interviewees’ accounts, I elaborate on the idea that remittance is an act, which is deeply embedded within Senegambians as individuals due to the setting and environment they grew up in. Furthermore, this also adds to the dialogue that Senegambians migrate or stay abroad for a certain period of time, as they seek for opportunities to enhance practices valued back home, such as remittances. The aim is to contribute to a new approach of thinking about migration and to provide a deeper insight into the value of remittances amongst African migrants in order to avoid classifying remittances as an act generated due to migration.

Short Analysis In this section, I have selected short quotes by three migrants from Senegambia, Alieu, Lamin and Fatou, who I interviewed for my current research project. When asked if he remits, Alieu (39) offered a very obscure yet detailed response: 8

Sarr, Khadeeja Haddy: Narratives, Multi-Sited Biography, and Transnational Experiences of Highly Skilled Migrants: Senegambia Migrants in Switzerland and Swiss Migrants in the Region of Senegambia (ongoing) is fully funded by the Swiss National Fund (SNF). Through their personal accounts this project aim to analyze their life experiences as skilled migrants and how these experiences translate into transnational activities. The samples used are highly skilled migrants from Senegambia residing in Switzerland and Swiss skilled migrants in the Senegambia region. A total of ten Senegambians and ten Swiss migrants have been interviewed in their respectively host countries. 9 Eversole, Robyn/Johnson, Mary: Migrant remittances and household development. An anthropological analysis, in: Development Studies Research 1/1 (2014), pp. 1–15. 10 Carling, Jørgen: Migration in the age of involuntary immobility. Theoretical reflections and Cape Verdean experiences, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 28/1 (2002), pp. 5–42; Carling, Remittances. Carling states that ethnographical literature on remittances shows “underutilized” potential.

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Of course, I send money to my family as frequently as I can, njon lolo lenj ham (that’s what we know). I always knew that I had to take care of my family one day. We learn that from an early age (...) in our culture we know that it is our responsibility to take care of our family members, when the opportunity is provided to us. No one has to tell us that, we know that already.

As previously mentioned, a very obscure account, but yet very detailed. Detailed in a sense that Alieu clearly indicates that the idea of providing for his family has been rooted within him since he was a child, yet there does not seem to be a clear answer to why, other than “njon lolo lenj ham,”11 a term I came across at several instances with migrants I interviewed. That’s what we know, that’s what we do, that’s what we learnt, were frequent statements made, not only by Alieu but by most of my interviewees. I consider these statements very unclear but yet strong and powerful accounts. In my own interpretation, these statements or “njon lolo lenj ham” illustrate that providing for family members should not be questioned nor debated, it is the way it is, with no further explanations needed. Alieu continues his account describing an incident in his life, which initially triggered his desire to move abroad: There was this one incident that made me realise that I wanted to move overseas. Oh, yes, my neighbour, you see when I was a child, I lived in a house the same size as my neighbour, they didn‘t own a car, neither did we, they didn‘t have a maid, neither did we. As soon as their oldest son moved to Europe, their house got bigger; they owned several cars, had a driver, a maid and the mum got new furniture. My initial thought was, one day I will move abroad so I can do big things for my family. I did work in Gambia at one point, but my salary was so low, I couldn’t take care of others, just my mum, myself every now and then I could help others (…). I just wanted to build a better life for my family and myself.

Alieu’s narrative touches on the issues Ousmane Kane12 describes in his book, which enlightens that the ties of migrants and the investment in their homelands help families and relatives to a better livelihood, which also determines the social competition and social status of the migrants in their country back home, “the homeland is the are-

11 12

The term “njon lolo leng ham” is a common saying in Wolof, which is often used with reference to culture, morals, values “that’s what we know, that’s what we do.” Kane, Ousmane O.: The Homeland is the Arena. Religion, Transnationalism and the Integration of Senegalese Migrants in America, New York 2011.

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na.”13 I also find his account concerning his neighbour very fascinating. Not only did that incident drive his motivation to leave for abroad, but it also demonstrated how his imagination of remittances from abroad was predetermined from a very young age. Alieu’s account describes Sørensen’s and Olwig’s14 idea that individuals often leave their home countries to enhance their opportunities to carry out practises valued back home. It is clear that he wanted to secure better opportunities, so he could provide for family members to a level to which he aspired. Alieu’s account also illustrates that his intent to remit long preluded his remittance act today. In a very similar extract Lamin (51) expressed: Nobody ever told me that I have to send money, I know this already. We grow up differently from people over here, the situation, circumstances and surroundings shape us to understand the essential aspect of taking care of family, I saw my parents do it, and people around me do it. Everyone does it, well all my friends do it anyway, and that’s how we grew up.

Lamin’s account offers a deeper insight into his decision to remit and part of his morals, values and solidarity towards his family. In his statement one can grasp how giving and taking care of family is also a socially constructed act. He specifically points out that he has seen his parents and others around him provide for their family members his whole life, knowing that one day this would be something he would have to do as well. Alieu’s and Lamin’s accounts really grasped the underlying importance of not remittances itself, but rather the importance of providing for family members and carrying out practises valued back home, which seem to be “rooted”15 within them. The underlying values of remittances, as expressed by many of my interviewees are also supported by scholars today who point to strong solidarity, and responsibility16 towards family back home. This is clearly indicated in Fatou’s (37) story, who had to return to Gambia for a while, after she graduated from university, before coming back to Switzerland. She stated: You can’t even compare the salaries between my country and here. I probably make ten times as much here then I did back home. However, despite my low salary I was constantly giving 13 14 15 16

Kane, Homeland. ‘The homeland is the arena’ is a Wolof saying which means that the perception of a migrant’s social status in Senegal is what matters the most, even if they stay abroad. Olwig/Sørensen, Livelihoods. Cohen, Jeffrey H.: Migration, remittances, and household strategies, in: Department of Anthropology, Annual Review 40 (2011), pp. 103–114 states that remittances is an act rooted within the decision-making of migrants. van Nieuwenhuyze, Inge: Getting by in Europe’s Urban Labour Markets. Senegambian Migrants’ Strategies for Survival, Documentation and Mobility, Amsterdam 2009; Baláž/Williams, Student, pp.439–468.

Remittances and Migration

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money to my parents, it was my duty and still is my duty. Luckily, I managed to get a great job in Switzerland and can do so much more for them now than I could before. So, you see this is not something I am doing due to the fact that I left my country, it’s something that I did even back home and always knew that I would have to do, and continue to do so.

In her quotation, it is clearly indicated that the intention to provide for her family occurred long before she even migrated and it continued when she left. The act to satisfy the obligation to provide for family members always took place, but takes place in a different shape and form in different circumstances. Yet, when individuals leave for overseas, we as scholars and researchers consider it as remittances and suddenly fail to recognize the values and meanings behind the act. Despite interviewing individuals who were migrants, they did not relate their act of remitting an activity of their present but instead related it to their past. This also showed that they were not exceedingly affected by my initial angle, which was instilling the act of remittances to their migration and transnational experiences. Furthermore, their biographies illustrated that the dimension of time was essential to understanding the act of remittances. The value of remittances has been established over long-time periods throughout an individual’s life span. Hence, migration is an instrument to achieve another objective, the objective of providing and taking care of family members.

Conclusion As indicated early on in this paper, scholarship tends to be occupied with making sense of remittance through the lens of migration and transnationalism. Yet, the set of values of achievement, solidarity and obligation of providing for and taking care of one’s family were the central goals amongst my interviewees even before their migration and illustrate how individuals “adopt” certain values and perhaps solidarity acts.17 However, I want to point out that my elaboration on the basis of my qualitative research data is no general statement that every individual from Senegambia remits or that Senegambians leave their countries due to the desire of remitting. My aim is to open up our attitude as scholars and grasp the realisation of value systems, practises and livelihood, which occurred back home to gain a deeper understanding into the decision-making of individuals or migrants. The goal was to provide a short insight 17

Findlay, Allan M./Li, F. L. N.: An auto-biographical approach to understanding migration. The case of Hong Kong emigrants, in: Royal Geographical Society with IBG 29/1 (1997), pp. 34–44.

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into the accounts of my interviewees and reveal a better understanding into the act of remittances and how the underlying motivation of giving money to the family is rooted within the individuals themselves, and yet bring to attention the importance of considering the opportunity to carry out valued migrant activities as a motivating force to leave for abroad or even stay abroad. For future study, considering research on Senegambian migrants who do not remit as well as examining research on individuals who live in Senegambia and provide for family members, would allow for a deeper insight into the act of providing for family members, as a basic foundation to understanding remittances. I hope my analysis allows for a more nuanced image of the value of remittances, as well as continues the debate on how we should consider culture, value systems, obligation, expectation, solidarity, and norms as deciding factors to migration and to how migrants live their lives.

DAS AKTUELLE FLÜCHTLINGSGESCHEHEN IN DEUTSCHLAND Klaus Schriewer, Juan Ignacio Rico Becerra

Die Flüchtlingswanderungen der letzten Jahre nach Mittel- und Nordeuropa stellen eine große Herausforderung für Europa dar. Die Europäische Union sieht sich vor einer Zerreißprobe, die einzelnen Staaten sind gezwungen, kurzfristig in dynamisch sich verändernden politischen Konstellationen zu agieren. Die Ankunft von hunderttausenden Flüchtlingen ist geprägt von hitzigen Debatten über Flucht und Asyl, Veränderungen der Parteienlandschaften und einer mehr und mehr von Skepsis geprägten Öffentlichkeit. Das Jahr 2015 steht für tiefgreifende Veränderungen. Der vorliegende Text versucht, die Geschehnisse in Deutschland unter verschiedenen Perspektiven zu beschreiben. Er versteht sich in erster Linie als politischer Text, der das Drama und die Dilemmata aufzeigen möchte, und weniger als ein Text mit theoretischen Ambitionen. Ausgangspunkt ist ein beispielhafter Blick auf eine Kleinstadt, der viele auch auf übergeordneter Ebene anzutreffende Phänomene zeigt. Um die Ereignisse in diesem größeren Maßstab besser einordnen zu können, werden wir zunächst die Zeitgeschichte des Migrations- und Flüchtlingsgeschehens in Deutschland ab 1945 nachzeichnen. Das dritte Kapitel stellt in kurzer Form die wesentlichen Daten und Fakten vor. Die Flüchtlingsdebatte ist Gegenstand des folgenden Kapitels und leitet zu einer Beschreibung der Ereignisse von 2015 über. Im abschließenden Kapitel stellen wir dann einige Überlegungen und Folgerungen bezüglich der Rolle der europäischen Staaten und vor allem der EU vor.

Begebenheiten in einer Kleinstadt Bad Iburg ist einer der vielen deutschen Orte, die seit zwei Jahren die Ankunft einer größeren Zahl von Flüchtlingen erleben. Was hier auf lokaler Ebene zu beobachten ist, kann als Spiegelbild der Prozesse und Debatten dienen, die dieses Phänomen begleiten und die eine große Herausforderung für die deutsche Gesellschaft darstellen. Wie in anderen deutschen Städten ist auch in Bad Iburg ein öffentliches Gebäude zum Aufnahmelager für Flüchtlinge geworden. Im Herbst 2015 hat das Bundesland Niedersachsen die örtliche Jugendherberge angemietet. Vorerst soll hier bis Ende 2018

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ein Teil der Erstaufnahme des Landkreises organisiert werden. Vor allem Familien werden aufgenommen, in geringerer Zahl auch Alleinstehende, die nach kurzem Aufenthalt auf die verschiedenen Gemeinden des Kreises verteilt werden. Die Flüchtlinge warten hier auf die Zuweisung des endgültigen Bestimmungsortes und die Ergebnisse ihres Asylantrags. Menschen aus fünf oder mehr Staaten leben auf engem Raum zusammen. Zusätzlich zu den Asylbewerbern im Aufnahmelager kommen noch weitere Flüchtlinge nach Bad Iburg. Sie gehören zum Kontingent, das der Gemeinde zugewiesen wird, und werden in der Regel in angemieteten Wohnungen untergebracht. Die Ankunft der Flüchtlinge hat Auswirkungen auf Alltag und Zusammenleben der lokalen Bevölkerung. NGOs wie Malteser oder Caritas konkurrieren darum, die finanzierte Betreuung des Zentrums zu übernehmen. Gegenwärtig wird dieses von sechs Sozialarbeitern der Malteser verwaltet. Darüber hinaus gibt es mehrere Initiativen, die ehrenamtlich helfen, die Arbeit im Aufnahmelager zu unterstützen. So organisiert der örtliche Asylkreis, eine von den Kirchengemeinden gegründete Initiative, Deutschunterricht durch freiwillige Lehrer im Ruhestand. Auf den ersten Blick scheint es, dass in Bad Iburg das praktiziert wird, was in Deutschland seit einigen Jahren als „Willkommenskultur“ propagiert wird. Diese von der Bundesregierung geförderte Initiative soll das Bewusstsein der Bevölkerung im Zuge der Transformation Deutschlands in ein Einwanderungsland steigern und die notwendige freundliche Aufnahme der neuen Mitbürger garantieren. Der Leiter einer lokalen NGO bestätigt in einem Interview, dass die Spenden von Kleidern und anderen Objekten seit der Ankunft der Flüchtlinge zugenommen haben. Er meint, dass in Bad Iburg eine positive Einstellung zu den Flüchtlingen dominiert. Nichtsdestotrotz sind auch Spannungen aufgetreten. Auf der einen Seite haben diese mit einer Reihe von Einbrüchen in Privathäusern zu tun, die sich Ende des Jahres 2015 ereigneten. Das Gefühl, angegriffen zu werden und verletzlich zu sein, hat etwa zwanzig Nachbarn bewegt, eine Bürgerwehr zu gründen, die nachts in der Stadt patrouilliert. Schließlich identifiziert die Polizei die Räuber und verhaftet vier Albaner, die im Aufnahmelager untergebracht sind. Dieses Ereignis löst in der Stadt eine lebhafte Debatte aus. Einer unserer Informanten bringt die Vorfälle auch mit der schwierigen Situation der Flüchtlinge in Verbindung, die bis zur Anerkennung ihres Asylstatus keine Arbeitserlaubnis erhalten und neben der materiellen Hilfe in Form von Nahrung, Kleidung und Unterkunft kaum die Möglichkeit haben, Geld zu erlangen. Ein Sachverhalt, der sie praktisch aus dem gesellschaftlichen Leben ausschließe. Darüber hinaus erwähnen unsere Informanten Konflikte, die ihren Ursprung in den unterschiedlichen Vorstellungen der Flüchtlinge und der Einheimischen haben.

Das aktuelle Flüchtlingsgeschehen in Deutschland

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Sie bemängeln zum Beispiel, dass einige Flüchtlinge nicht regelmäßig an Sprachkursen teilnehmen. Besonders die erwachsenen Männer wären kaum an der sprachlichen Integration interessiert. Ein weiteres mit Konflikten beladenes Thema ist das der Geschlechterverhältnisse. Immer wieder gebe es, so unsere Informanten, Männer, die sich weigerten, Essen oder Dienstleistungen von einer Frau entgegenzunehmen. Insgesamt könne aber gesagt werden, dass die Bevölkerung von Bad Iburg eine positive Einstellung gegenüber den Flüchtlingen habe. Die im Laufe der Zeit entstandenen Probleme würden weitgehend als überwindbar erlebt. Allerdings betrachte ein wachsender Teil der Bevölkerung die Ankunft mit Argwohn, eine Entwicklung, die wohl auch auf die erwähnten Ereignisse zurückzuführen sei.

Ein kurzer Blick auf die Zeitgeschichte von Migration und Asyl Migration und Asyl sind ein in der deutschen Geschichte seit 1945 omnipräsentes Phänomen, das eng mit der deutschen Identität verbunden ist. Das gilt einerseits, weil die aus der Tragödie von Naziherrschaft und Zweitem Weltkrieg erwachsene historische Verantwortung, vom deutschen Staat (insbesondere der BRD) und seiner Bevölkerung anerkannt und über Jahrzehnte hinweg als Verpflichtung verstanden wird. Andererseits entwickelt sich die BRD (die DDR hat hier einen Sonderstatus) zu einem Einwanderungsland, wenngleich das Selbstverständnis über lange Zeit hinweg ein anderes bleibt. Die aktuelle Situation ist ohne diesen Bezug zur Geschichte nicht zu verstehen. Die Flucht von Juden und politisch Verfolgten vor dem Naziregime führten nach 1945 zu der Auffassung, dass eine besondere historische Verantwortung Deutschlands bestehe. Diese Ansicht dürfte durch die kollektive Erfahrung bestärkt worden sein, die mit den mehr als 12 Millionen Deutschen verbunden ist, die zum Ende des Zweiten Weltkriegs von Osteuropa in den Westen kamen.1 Vor diesem Hintergrund ist kaum verwunderlich, dass die Bundesrepublik Deutschland das Recht der Flüchtlinge im Grundgesetz fixiert. Artikel 16, Absatz 2 der Verfassung von 1949 legt schlicht und umstandslos fest: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“2 Diese Formel wird in der Folgezeit allerdings immer weiter eingeschränkt, vor allem im Zuge der Balkankriege und in der aktuellen „Flüchtlingskrise“. 1 2

Lehmann, Albrecht: Im Fremden ungewollt zuhaus. Flüchtlinge und Vertriebene in Westdeutschland 1945– 1990, München 1993. Auch die Deutsche Demokratische Republik (DDR) garantiert das Asylrecht, allerdings nur für diejenigen, die ihre Grundsätze verteidigen. 1968 wird diese Klausel in einen Gnadenakt des Staates umgewandelt.

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Seit 1950 entwickelt sich die BRD mit der Ankunft von mehr als 14 Millionen „Gastarbeitern“ zu einem polykulturellen Land. Diese Einwanderung bringt Menschen mit anderen Lebensstilen und Weltbildern nach Deutschland und führt damit zu den ersten interkulturellen Erfahrungen der Nachkriegszeit. Etwa 3 Millionen dieser Gastarbeiter richten sich langfristig in Deutschland ein und holen ihre Familienangehörigen nach. Flüchtlinge hingegen spielen bis Ende der 1970er-Jahre kaum eine Rolle. Als 1980 ein Putsch die Türkei erschüttert, wird erstmals die Marke von 100.000 Flüchtlingen pro Jahr überschritten. Gleichzeitig beginnt eine Debatte über den vermeintlichen Missbrauch des Asylrechts und eine erste Beschränkung der Flüchtlingsrechte. Die Neuordnung der Welt nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 provoziert dann bedeutendere Flüchtlingsbewegungen. Für Europa ist der Balkankrieg von besonderer Bedeutung. Er bewirkt, dass im Jahr 1992 nicht weniger als 438.000 Menschen einen Asylantrag in Deutschland stellen. Gleichzeitig lebt die Asyldebatte auf und es wird intensiv über die Grenzen der Aufnahmefähigkeit der deutschen Gesellschaft diskutiert. Es ist kein Zufall, dass Artikels 16 des Grundgesetzes im Jahr 1993 geändert wird und das Asylrecht beschränkt. So wird die sogenannte Drittstaatenklausel eingeführt: Flüchtlinge, die aus einem Land nach Deutschland einreisen, in dem Menschenrechte und Flüchtlingskonvention eingehalten werden, können von nun an keinen Antrag auf Asyl mehr stellen. Zudem ermöglicht das Gesetz, Länder als „sicher“ zu definieren, wenn „gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet“. Personen aus diesen Ländern wird kein Asyl gewährt.

Einige Daten zur aktuellen Flüchtlingsbewegung Einen ersten Eindruck zur aktuellen Flüchtlingsbewegung bieten die statistischen Daten. Abbildung 1 zeigt, dass Deutschland in den letzten drei Jahren die höchste Zuwanderung von Flüchtlingen seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt. Diese Bewegung beginnt im Jahr 2013, als die Zahl der Asylanträge die magische Ziffer von 100.000 übersteigt. Im Jahr 2014 verdoppelt sich die Zahl registrierter Anträge. Im darauffolgenden Jahr führt die massive Ankunft von Flüchtlingen zum zeitweiligen Zusammenbruch des Systems.

Das aktuelle Flüchtlingsgeschehen in Deutschland

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Registrierte Flüchtlinge in Deutschland zwischen 1955 und 2015.3

Für die Jahre 2010 bis 2014 mögen die vom BAMF vorgelegten Zahlen eine gewisse Kohärenz mit der Realität besitzen. Die Begebenheiten des Jahres 2015 hingegen spiegeln sie nur unzureichend wider. An den Grenzübergängen verlieren die Beamten zeitweilig und trotz Gegenmaßnahmen die Kontrolle. Es gibt keine ausreichenden Kapazitäten, um die Asylanträge von Personen zu registrieren, die nach Deutschland einreisen. Züge aus Österreich bringen die Flüchtlinge direkt in die deutschen Städte. Im Jahr 2015 werden 476.649 Asylanträge registriert. Die Datenbank EASY (Erstverteilung der Asylbegehrenden) wird als Ad-hoc-Lösung eingesetzt, um zumindest erste Daten der Flüchtlinge aufnehmen zu können: die nationale Herkunft, das Geschlecht, die Größe der Flüchtlingsgruppe und die Fingerabdrücke. In dieser Datenbank werden im Laufe des Jahres 2015 Informationen über 1.091.894 nach Deutschland einreisende Personen gespeichert. Und obwohl die Flüchtlinge mit EASY registriert werden sollen, gibt es mannigfache Probleme. Zwei Beispiele: An den Grenzen werden etwa 130.000 Menschen registriert, die nie in der für sie vorgesehenen Stadt ankommen. Es verschwinden 10.000 minderjährige Personen. Außerdem können Angehörige von 3

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Aktuelle Zahlen zu Asyl, Mai 2016. https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/aktuelle-zahlen-zu-asyl-april-2016.html [letzter Zugriff 20.12.2016].

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Flüchtlingen, deren Antrag genehmigt wurde, die Grenze mit einem Visum überqueren und werden nicht in EASY registriert. BAMF und Polizei gehen deshalb davon aus, dass sich Zehntausende von Menschen in Deutschland aufhalten, ohne dass sie offiziell registriert sind.

Die Migrations- und Flüchtlingsdebatte – ein Prozess zunehmender Ablehnung Schon die Ankunft von Flüchtlingen in den frühen 1990er-Jahren wird durch eine intensive Debatte begleitet, die vom Recht auf Asyl und von der Bereitschaft der Bevölkerung handelt, Personen aus den vom Balkankrieg betroffenen Gebiete aufzunehmen. Es überrascht nicht, dass in diesem Klima Übergriffe auf Flüchtlinge passieren. Die Pogrome von Hoyerswerda (September 1991) und Rostock-Lichtenberg (August 1992) stehen beispielhaft für eine deutliche Eskalation. Den juristischen Schlusspunkt dieser Debatte bildet die vom Bundestag 1993 beschlossene Änderung des Grundgesetzes mit den erwähnten Einschränkungen des Asylrechts. Zu Beginn des neuen Jahrtausends konzentriert sich die Debatte auf Fragen der Integration von Einwanderern, vor allem aus der Türkei. In politischen Debatten wird von Parallelgesellschaften gesprochen und die Notwendigkeit einer Leitkultur verteidigt.4 Eine ähnlich kritische Position vertritt auch Thilo Sarrazin in seinem Buch Deutschland schafft sich ab, das 2010 ein politisches Erdbeben verursacht. Sarrazin geht davon aus, dass Deutschland de facto ein Einwanderungsland ist, und fordert, dass die gewünschten Einwanderer aktiv ausgewählt werden. Muslime gehören seiner Meinung nach nicht zu den Einwanderern, die für Deutschland förderlich sind. Das zeige sich daran, dass die Integration der muslimischen Einwanderer insgesamt gescheitert sei und auch wirtschaftlich wenig Nutzen bringe: „In jedem Land kosten die muslimischen Migranten aufgrund ihrer niedrigen Erwerbsbeteiligung und hohen Inanspruchnahme von Sozialleistungen die Staatskasse mehr, als sie an wirtschaftlichem Mehrwert einbringen. Kulturell und zivilisatorisch bedeuten die Gesellschaftsbilder und Wertvorstellungen, die sie vertreten, einen Rückschritt.“5 Viele der Argumente des Autors sind in der Debatte in Frage gestellt worden. So kann bezweifelt werden, ob der Fokus auf die Religion sinnvoll ist. Es gibt unter den muslimischen Einwanderern in Deutschland Gruppen wie die Iraner, deren Integration 4 5

Bundesanstalt für politische Bildung: Parallelgesellschaften?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1–2, 2006. Sarrazin, Thilo: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010, S. 267.

Das aktuelle Flüchtlingsgeschehen in Deutschland

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kaum angezweifelt werden kann. Weiterhin bleibt zu fragen, ob die schwierige Integration von Einwanderern nicht auf andere Aspekte zurückzuführen ist, wie den niedrigen Bildungsstand und die begrenzten wirtschaftlichen Möglichkeiten, die für die Gastarbeiter über Jahrzehnte kennzeichnend waren. Deutlich wird an diesem Beispiel aber, dass die Debatte sehr kontrovers geführt und die historische Verantwortung Deutschlands in Frage gestellt wird.

Die Ereignisse von 2015 Vor dem Hintergrund dieser Debatte ist es überraschend, dass die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel im Sommer 2015 mit Blick auf die wachsende Zahl von Flüchtlingen auf eine Politik der „offenen Tür“ setzt. Als sich Tausende von Flüchtlingen Richtung Österreich und Deutschland bewegen, nachdem Ungarn die Einreise verweigert, sprechen sich die Regierungen beider Länder zugunsten der Flüchtlinge aus und ermöglichen die Aufnahme. Das Geschehen der folgenden Monate, das von vielen Deutschen als chaotisch wahrgenommen wird und Unsicherheit verursacht, löst zwischen den Regierungsparteien Konflikte aus. In der Folge werden im September 2015 das Asylpaket I und im Februar 2016 das Asylpaket II verabschiedet, die das Asylrecht einschränken. Unter anderem definiert das Asylpaket I die Balkan-Staaten als „sichere Länder“ und erleichtert die Ablehnung von Anträgen, die Albaner und Kosovaren stellen. Es begrenzt auch die finanziellen Leistungen für die Flüchtlinge; z.B. auf 135 Euro pro Monat für Erwachsene, die in einem Aufnahmelager leben (eine vielfach als unzureichend kritisierte Unterstützung). Das Asylpaket I legt auch fest, dass eine Rückführung ohne vorherige Ankündigung durchgeführt werden kann, um so zu verhindern, dass Flüchtlinge vorher abtauchen. Die bedeutendste Maßnahme des Asylpakets II ist die Aussetzung der Familienzusammenführung für zwei Jahre. Der Versuch, Marokko, Tunesien und Algerien als „sichere“ Länder zu definieren, hat eine weitere Front in der Debatte eröffnet und ist noch nicht entschieden. Während die Asylpakete Einschränkungen einführen um den „Pull-Faktor“ zu reduzieren, will das neue Integrationsgesetz unter dem Motto „Fördern und fordern“ Flüchtlingen den Zugang zum Arbeitsmarkt und damit auch zur Aufenthaltsgenehmigung erleichtern. Zur gleichen Zeit nimmt es die Flüchtlinge in die Pflicht, die Integrationsbestrebungen zu erhöhen, z.B. durch die Teilnahme an Deutschkursen.

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Diese Änderungen werden zu einem Zeitpunkt beschlossen, in dem es im Hinblick auf die internationale politische Situation schwierig ist, die Politik der „offenen Türen“ beizubehalten. Auf der einen Seite ist nicht zu erwarten, dass der Syrienkrieg in absehbarer Zeit beendet wird. Es scheint eher so, dass die beteiligten Parteien ein Interesse daran haben ihn fortzusetzen. Darüber hinaus weigern sich die europäischen Partner, eine systematische Verteilung der Flüchtlinge vorzunehmen. Nicht nur die als Visegrád-Gruppe bekannten Länder Osteuropas, auch Großbritannien, Frankreich und Spanien verzögern auf die eine oder andere Weise eine verbindliche Vereinbarung der EU zur Einreise von Flüchtlingen.

Flüchtlinge und Deutsche In Deutschland angekommen, bezeugt die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge ihren Dank für die Aufnahme; ein Gefühl, das von Freude und Erleichterung geprägt ist, die gefährliche Reise überstanden zu haben. In den sozialen Netzwerken finden sich zahlreiche Nachrichten, in denen die Flüchtlinge diesen Dank ausdrücken und ihre Bemühungen dokumentieren, die Sprache derer zu lernen, die sie aufnehmen. Gleichzeitig geben sie der Hoffnung Ausdruck, ihre Familie nach Deutschland holen zu können und zeigen die wachsenden Schwierigkeiten auf, mit denen sie sich konfrontiert sehen. Ein Beispiel aus Facebook: Zwei junge Syrer veröffentlichen einen Videoclip, in dem sie in beeindruckend gutem Deutsch über ihre Erfahrungen berichten. Unter dem Motto „Merkel Lover“ schicken sie eine Botschaft des Dankes an die deutsche Bundeskanzlerin. Im zweiten Teil des Videoclips berichtet einer der Protagonisten dann, wie er allein und mit der Hoffnung nach Deutschland gereist ist, dass seine Familie nachkommen kann. Doch nun sei er darüber informiert worden, dass dieser Prozess zwei Jahre dauern könne. Abschließend gibt der junge Mann seiner Angst Ausdruck, dass seiner Familie in dieser langen Zeit etwas passieren könnte. Wie in diesem Video sind Dankbarkeit und Sorge die Gefühle, die die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge öffentlich zeigen. Die Schwierigkeiten, die mit der Ankunft von Flüchtlingen aufgekommen sind und die die deutsche Öffentlichkeit bewegen, sind unter anderem mit Ängsten vor einer importierten Kriminalität verbunden und auch mit möglichen terroristischen Anschlägen. Galt Deutschland über lange Zeit nicht als Ziel solcher Anschläge, haben eine Serie kleinerer Attentate und schließlich die Attacke an der Gedächtniskirche in Berlin für eine Sensibilisierung der Bevölkerung gesorgt.

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247 Merkel Lover. Ein syrischer Flüchtling schickt einen Kuss zum Bild von Angela Merkel auf seinem Computerbildschirm. Standbild aus einem Facebook-Video.

Jenseits terroristischer Aktivitäten ist es die gewöhnliche kriminelle Energie einiger Flüchtlinge, die, wie in Bad Iburg, die öffentliche Meinung beeinflusst. Das Buch SOKO Asyl, beschreibt – ausgehend von der Feststellung, dass Flüchtlinge kein höheres kriminelles Potenzial haben als Deutsche – die Arbeit einer Sonderkommission in Braunschweig mit gefälschten Identitäten, Ladendiebstählen und Einbrüchen oder auch organisierter Kriminalität und ethnischen Auseinandersetzungen.6 Insbesondere Konflikte in Aufnahmelagern, die unter den Flüchtlingen selbst und gelegentlich mit erhöhter Gewaltbereitschaft ausgetragen werden, finden ihr Echo in den Medien. Auch Berichte über den Missbrauch von Minderjährigen und Frauen haben die Öffentlichkeit bewegt, speziell nach den extremen chauvinistischen Angriffen am Silvesterabend 2015 in Köln.7 Trotz dieser negativen Seite des Phänomens kann festgehalten werden, dass der größte Teil der deutschen Bevölkerung bis 2016 dem Motto Merkels „Wir schaffen das!“ folgt und die Ankunft von Flüchtlingen unterstützt. Wie der Publizist Jochen Thies treffend beschreibt, arbeiteten die „Institutionen des Landes, sei es die Polizei oder die Gemeindeverwaltungen, seit Wochen am Limit ihrer Kapazität. Ohne die 6 7

Küch, Ulf: SOKO ASYL. Eine Sonderkommission offenbart überraschende Wahrheiten über Flüchtlingskriminalität, München 2016. Stock, Miriam: Überforderte Männlichkeit – junge Syrer auf der Flucht vom Nahen Osten nach Europa, in: Feministische Studien. 34 (2016), S. 311–324.

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Armee der ehrenamtlichen Helfer wäre dieser gigantische Betrieb an Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen zusammengebrochen“.8 Eine Studie der Humboldt-Universität zu Berlin stellt fest, dass die Freiwilligentätigkeit um 70 Prozent zugenommen hat. Sie hebt auch hervor, dass das typische Profil dieser Freiwilligen die gut ausgebildete Frau ist.9 Zu erwähnen ist zudem das Engagement der Kirchen. In vielen Gemeinden haben sich Initiativen zur Unterstützung von Flüchtlingen gebildet, und in den letzten Jahren haben Menschen ohne gültige Papiere vielerorts Kirchenasyl gefunden. Dennoch zeichnet sich eine Teilung der deutschen Gesellschaft ab. Ein wachsender Anteil der Bevölkerung betrachtet die aktuelle Asylpolitik mit Skepsis. Umfragen zufolge geht die Mehrheit der Befragten davon aus, dass die Grenzen der Aufnahmefähigkeit erreicht sind. Die im Parlament vertretenen Parteien (Konservative, Sozialdemokraten, die Grünen und die Linke) beziehen keine dezidierte Position zu dieser wachsenden Ernüchterung in der Gesellschaft, während die neue weiter rechts stehende Partei Alternative für Deutschland (AFD) mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Einwanderern und Flüchtlingen einen deutlichen Zuspruch verzeichnet. Diese steigende Ablehnung spiegelt sich auch in der deutlichen Zunahme fremdenfeindlicher Handlungen wider. Zwei Beispiele: Im August 2015 wird in Heidenau, einer kleinen Stadt in Sachsen, das Aufnahmelager bei der Ankunft eines Busses mit Flüchtlingen blockiert und es kommt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. In Bautzen wird ein Gebäude, das als Aufnahmelager dienen soll, in Brand gesetzt. Der Verfassungsschutzbericht 2015 stellt diesbezüglich fest: „Die Zahl der rechtsextremistischen Brandanschläge gegen Asylbewerberunterkünfte ist mit 75 im Vergleich zum Vorjahr enorm angestiegen (2014: 5).“10 Eine Analyse der Informationen zu fremdenfeindlichen Handlungen zeigt deutliche geographische Unterschiede auf. Das Gros der ausländerfeindlichen Angriffe wird im Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik verübt. Das Erstaunliche an dieser geographischen Konzentration ist, dass so gut wie keine Ausländer in diesen Regionen leben. 98 Prozent der ausländischen Bevölkerung lebt im Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland (einschließlich West-Berlin). Oder anders ausgedrückt, die Ablehnung tritt vorwiegend dort auf, wo es keine Erfahrung des 8 9 10

Thies, Jochen: Alemania y los refugiados, in: Economía Exterior, nº 75, 2015–2016, S. 32. Karakayali, Serhat Kleist, J. Olaf: EFA-Studie: Strukturen und Motive der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit in Deutschland, Berlin 2015. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2015, S. 50, https://www.verfassungsschutz.de/de/ oeffentlichkeitsarbeit/publikationen/verfassungsschutzberichte [letzter Zugriff 20.12.2016].

Das aktuelle Flüchtlingsgeschehen in Deutschland

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Zusammenlebens zwischen Lokalbevölkerung und Migranten oder Flüchtlingen gibt. Eine reale Bedrängung der Lokalbevölkerung durch Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt oder religiöse Konflikte zwischen Deutschen und Ausländern ist hier schlichtweg nicht möglich.

Fazit und Ausblick Die hohe Zahl der Flüchtlinge, die vor kurzem nach Deutschland gekommen sind, stellt eine große Herausforderung für die deutsche Gesellschaft und für ganz Europa dar. Wie erläutert war im Grundgesetz aus historischen Gründen zunächst eine liberale Auslegung des Asylrechts festgeschrieben. Mit dem Anstieg der Flüchtlingszahlen in den neunziger Jahren wurde das Asylrecht zunehmend begrenzt, um die Pull-Faktoren zu reduzieren. Diese Einschränkung wird in der aktuellen Situation fortgesetzt. Bisher hat die deutsche Bevölkerung in ihrer Gesamtheit eine positive Einstellung gegenüber der jüngsten Ankunft von fast 2 Millionen Flüchtlingen gezeigt. Im Jahr 2016 allerdings ist die Skepsis gewachsen. Abgesehen von dieser mehr oder weniger deutlich artikulierten Stimmung gibt es objektiv gesehen nur wenige Vorfälle der deutschen Bevölkerung gegen Einwanderer, die gegen das deutsche Recht verstoßen. Mit seiner großzügigen Asylpolitik provoziert Deutschland großen Druck auf die anderen europäischen Staaten und die Europäische Union selbst. Bundeskanzlerin Angela Merkel fordert „verbindliche Quoten“ für eine „gerechte“ Verteilung unter allen Mitgliedstaaten und zudem eine Revision des Schengen-Abkommens. Die Reaktion der meisten Staaten ist ablehnend, und bisher ist die von Deutschland geforderte Verteilung der Flüchtlinge nicht vorgenommen worden. Für die EU haben diese mangelnden Abstimmungen zwischen den Mitgliedstaaten weitreichende Folgen, denn zusammen mit dem Brexit stellen sie die europäische Integration prinzipiell in Frage. Gegenwärtig scheinen die europäischen Staaten nicht in der Lage, einen gemeinsamen Willen zu entwickeln und gemeinsam zu handeln. Die Idee einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik, und damit die Möglichkeit, mit europäischen Werten und Interessen in der Welt zu agieren, ist in weite Ferne gerückt. Dass Europa als Juniorpartner der USA agiert, hat gerade in jüngster Zeit zu gravierenden Konflikten und Problemen mit den Nachbarn geführt – die Ukraine ist nur ein Beispiel dafür. In der neu anbrechenden Ära Trump, in der die EU offensichtlich nicht als zentraler Partner angesehen wird, scheint ein engeres Zusammenrücken der Mitgliedstaaten mehr denn je notwendig.

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Vor diesem komplexen Hintergrund stellt sich die Frage, ob die EU überleben kann, wenn ihre Mitgliedstaaten weiterhin ihre vermeintlichen nationalen Interessen in den Vordergrund stellen und unfähig sind, einen gemeinsamen Willen durchzusetzen und von einem gemeinsamen Standpunkt aus zu agieren. Das gilt insbesondere auch für die große Herausforderung, die die Flüchtlinge für Europa darstellen. Eine gemeinsame Politik, mit welcher Ausrichtung auch immer, ist unabdingbar.

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Miss Kumbuk

MISS KUMBUK Ron Epstein-Mil

Nein, es ist keine Synagoge. Es ist das Elefantenhaus des Basler Zoos. Und es ist Jacques Lieblingsbild.

Elefantenhaus Zoo Basel, 1891, Architekt Robert Tschaggeny. Bild: Denkmalpflege Basel.

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RON EPSTEIN-MIL

Im Jahr 1891 fertiggestellt, ist das Gebäude wohl nach der 1869 eingeweihten Synagoge an der Leimenstrasse eines der wenigen Basler Bauten in maurischem Stil.1 Der mächtige Elefant auf der Abbildung hört auf den Namen „Miss Kumbuk“. Er wurde von Paul Sarasin (1856–1926) und Fritz Sarasin (1859–1942), beide Zoologen und Vettern zweiten Grades, am 9. Juni 1885 im fernen Ceylon, dem heutigen Sri Lanka, gefangen genommen.2 „Damals noch Säugling, wurde er mit Reis, Milch und wildem Honig aufgezogen und im Sommer 1886 nach Basel gebracht.“3 Die beiden Basler trugen mit ihrer reichhaltigen ethnographischen Sammlung wesentlich zum Grundstock des bereits 1849 an der Augustinergasse eröffneten Völkerkundemuseums bei. Paul Sarasin war zudem Mitbegründer des Schweizerischen Nationalparks.4 Ihren Namen Kumbuk verdankt die Elefantendame dem gleichnamigen ceylonesischen Fluss, heute ein touristisch erschlossenes Naturreservat, das erschöpften Managern Erholung vom hektischen Alltag bietet, direkte Buchungen eines der romantischen Elefanten-Baumhäuser über booking.com machen dies möglich. Der junge Dickhäuter wurde zunächst in einem Stall im Direktionsgebäude untergebracht und entwickelte sich rasch zur beliebten Hauptattraktion des ältesten, 1874 eröffneten Zoos der Schweiz. Ende der 1880er-Jahre war sein Gewicht von anfänglich 340 Kilo bereits auf stattliche 1448 Kilo angewachsen, was die Planung einer eigenen Bleibe unumgänglich machte. In einem Aufruf des Verwaltungsrates zur Einrichtung eines „Elephantenhausfonds“5 wurde die unabdingbare Notwendigkeit einer neuen und vor allem beheizbaren Unterkunft für Miss Kumbuk betont. Doch auch auf die sozialen Vorzüge des Bauvorhabens wurde hingewiesen: „Unsere Anstalt darf den Anspruch erheben, den bessern und gehaltvolleren Erholungsstätten der Einwohnerschaft, besonders auch der minderbegüterten, beigezählt zu werden“.6 Das ursprünglich formulierte Konzept des Basler Zoos beschränkte sich zunächst auf die Präsentation einheimischer Tiere aus der eigenen Alpenwelt. Um jedoch die Attraktivität des Tiergartens zu steigern, begann man ab 1880, den Baslern auch 1 2 3 4 5 6

Publiziert in: Epstein-Mil, Ron: Die Synagogen der Schweiz. Bauten zwischen Emanzipation, Assimilation und Akkulturation, Zürich 2008, S. 56. Vgl. Koellreuter, Isabel/Schürch, Franziska: Raum für Völkerkunde, in: Eigensinn, Band II, Von Miss Kumbuk bis Herzog & de Meuron. Publikation des Museums für Kulturen, Basel 2011. Bericht über das Basler Naturhistorische Museum für das Jahr 1917, Basel 1918, S. 300. Kumbuk – das erste Basler Elefäntli, in: Basler Zeitung, 17.3.1999, S. 34. Statistiken (Tierbestand, Besucherzahlen, Einnahmen, Betriebsausgaben, Futterverbrauch) Staatsarchiv Basel PA 1000a 1 (1) 1. Aufruf zu Beiträgen für den Elephantenhausfonds des Zoologischen Gartens, Dezember 1989, in: Elefantenhaus 1891: Korrespondenz und Pläne, Staatsarchiv Basel PA 1000a M 8.

Miss Kumbuk

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Völkerschauen zu präsentieren: Fremdländische Gruppen von Somaliern, Kalmücken, Nubiern, Marokkanern und Singhalesen wurden zur neuen exotische Attraktion des Zoos, welche die neugierigen Besucher mit Kriegs- und Maskentänzen unterhielten. Daher entsprach ein erstes, als traditioneller Fachwerkbau entworfenes Projekt für das neue Elefantenhaus der bekannten Basler Architekten Gustav und Julius Kelterborn7 nicht mehr der neuen Sehnsucht nach einem Hauch von Exotik. Ein neues Projekt wurde vom Baumeister Robert Tschaggeny8 (1848–1993) entworfen, der nach seinen Reisen in die Türkei, nach Algerien und in den Orient ein von der dortigen Architektur inspiriertes Kleinod entwarf: Sofort erscheint auch ein Genie, der wackre Meister Tschaggeny; von seiner Reis in türkschen Landen Hat er `nen Tempelplan in Handen. Den hat er mit geschickten Kniffen nach auss` und innen umgeschliffen. Den Tempel wandelt er zum Stalle, dass er dem Elephant gefalle.9

Nicht nur im Kinderbuch des bekannten Basler Dichters und Zeichners Emil Beurmann, sondern auch in den Tageszeitungen fand das 1891 eröffnete Gebäude regen Zuspruch: Das Innere „sieht im Parterre aus wie ein Salon, und ist […] mit hübschen Malereien versehen“. Eine Dampfheizung sorgte für die notwendige Wärme, das Dach krönte „dem maurischen Styl des Gebäudes entsprechend“10 ein vergoldeter Halbmond. Miss Kumbuk verstarb am 18. August 1917, abends um 6h45, in einem von den 7 8

9 10

Die Gebrüder Gustav Kelterborn (1841–1908) und Julius Kelterborn (1857–1915) hatten die ersten Gebäude des Basler Zoos entworfen. Robert Tschaggeny, 1848 in Thun geboren, Sohn eines Thuner Bauunternehmers, gründete 1891 sein eigenes Baugeschäft in Basel, beschäftigte sich jedoch auch mit anderen Wirtschaftszweigen: Er investierte in den Import von Süssholz, der sogenannten Reglisse-Wurzel, die ihn auf Reisen in die Türkei führte. Er war Mitglied des Verwaltungsrates der Société Générale pour le développement de l‘industrie Ottomane, einer 1888 begründeten Aktiengesellschaft, mit dem Zweck, „industrielle Unternehmungen jeder Art in der Türkei in‘s Leben zu rufen“. Vgl. Nachruf Robert Tschaggeny, in: National-Zeitung, 30. November 1893. Beurmann, Emil: Kumbuk der Elefant. Seine Erlebnisse und sein Einzug in das 
Neue Elephantenhaus im Zoologischen Garten in Basel, Basel 1892 Allgemeine Schweizer Zeitung Nr. 249, 23. Oktober 1891, S. 2-3.

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Wirren des Ersten Weltkriegs gezeichneten Jahr, in welchem der Zoo mit der schwierigen Versorgungslage sowie auch noch mit Streiks der Wärter zu kämpfen hatte. Im Bericht des Naturhistorischen Museums von 1917 ist zu lesen, dass die „Präparation des Kolosses“ sich äusserst schwierig gestaltete: „An eine Aufstellung desselben werden wir aber erst herantreten, wenn die Materialpreise wieder normale sein werden“.11 Ihr neues Plätzchen, d.h. ihren Schädel – die übrigen Teile wurden irgendwann entsorgt – hat Miss Kumbuk heute im Sammlungsdepot des Naturhistorischen Museums gefunden, im 4. Untergeschoss, Sammlungsnummer NMB C.III.898. Sic transit gloria mundi.

11

Basler Naturhistorisches Museum, Jahresbericht 1917, in: Verhandlungen der naturforschenden Gesellschaft in Basel, Band XXIX, Basel 1918, S. 300.

VILNIUS – A CITY IN THE CENTRE OF EUROPE Transformations, Place-Making and Practices of Staging Irene Götz

Before the Jewish population of Vilnius/Wilna was eliminated in the Holocaust, the multicultural capital of Lithuania was often praised as the ‘Jerusalem of the North’. After the independence of Lithuania in 1991 and by becoming a member of EU in 2004 different groups within the city have been strategically working towards positioning Vilnius as in ‘Central Europe’ again – in terms of politics, economy, symbolism (as cultural capital of Europe in 2009) and life-style. In this paper I want to sketch out how, in accordance with the return of Lithuania to the European political scene, the city of Vilnius is drawing attention to its traditional self-image as a decidedly European city. Vilnius has been invoking a widely recognised cultural heritage, which verifies and revives this ‘old European spirit’ in the city marketing strategies from the 1990s onwards. Traditional perceptions of Vilnius as a European capital are synthesised into a new image of the city. These perceptions are also linked with novel, late modernist features and interpretations of Europeanness. Thus, I aim to explore (a) how Vilinius repositions itself as a ‘European city’, (b) which discourses and symbolic practices figure in the process, and (c) which traditionalist as well as (late) modernist images of Europe are invoked and reinterpreted. Moreover, it needs to be asked how ‘the European’ is linked, or competes with other ethnically charged themes of commemoration. Due to the rupture after the fall of the Soviet Union in 1991, this especially concerns the observation of a ‘rebirth’ of Lithuanian national identity and the practices of nationalising urban culture. Both in the practices of staging connected to city marketing and in the relevant publications in the areas of cultural history and the social sciences1, the ‘European city’ of Vilnius figures as a hybrid entity and a product of a history of entanglement: Different cultures and boundaries were determined in different ways according to dif-

1

Cf. Briedis, Laimonas: Vilnius. City of Strangers, Vilnius 2008; Venclova, Tomas: Vilnius. Eine Stadt in Europa, Frankfurt a. M. 2006; Tauber, Joachim/Tuchtenhagen, Ralph: Vilnius. Kleine Geschichte der Stadt, Köln 2008; Vonderau, Asta: Leben im „neuen Europa“. Konsum, Lebensstile und Körpertechniken im Postsozialismus, Bielefeld 2010.

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ferent standpoints. Following Tomas Venclova2, the city was seen as “Europe en miniature”, up until the inter-war period, due to its multicultural population.

Tracing Urban Commemoration Sites The research findings presented in this article mainly result from an interdisciplinary research project, which I ran in 2009 together with two historians of Eastern Europe, Martin Schulze Wessel and Ekaterina Makhotina. Together with students from the course on ‘Eastern Europe’ at LMU Munich, the team carried out research in local archives and examined online media. Furthermore, we conducted interviews at the research site not just with local experts on tourism, town planners, directors of universities and museums, but also with war veterans and representatives of the still existing Jewish community, which had been practically eliminated in the Holocaust. Moreover, spokespeople of the organisations representing the Polish minority were interviewed – in the interwar period, Vilnius was still a Polish city called Wilno. The participating ethnographers documented the forgotten, disassembled sculptures and monuments of the Soviet era. In addition, they examined the shifting history and perception of the commemorative sites of the different cultures, from different epochs, such as cemeteries, churches, monuments, memorials, and museums. They looked at the National Museum, which focuses on developing a Lithuanian national history; the presidential palace, built in the tsarist era; and the parliament – a symbol of the resistance against the Soviet ‘occupation’ and of independence, which was won by fighting ‘on the barricades’ at this site in 1991. In the so-called Museum for the Victims of Genocide (‘KGB Museum’), they found that the Soviet occupation is portrayed as a history of resistance led by Lithuanian partisans, especially during the Stalin era. The museum depicts a history of martyrs and of the suffering of the Lithuanian population due to deportations and internment in the gulags, which is commemorated with the help of an expensive, modern exhibition design. Western visitors will be surprised by the way the term ‘genocide’ is used in this context – all the more since the Jewish genocide is not covered in this museum. The Shoah is commemorated in a small Jewish museum located off the tourist routes, which documents, with modest resources, the Holocaust as well as the proud 2

Venclova, Stadt; Venclova, Tomas: Vilnius. A Personal History, New York 2009. Like many Lithuanian intellectuals, Venclova emigrated during the Soviet era. Today, he is a professor at Yale University and an eminent voice in the transnational discourse on Vilnius.

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memory of the historical contribution of the Litvaks to the exportation of Jewish culture into the wider world. It seems that this museum attracts only limited public resources and attention. In sum, we followed diverging paths when we aimed to decode the commemoration sites in the urban space, which were partly heroised, partly imposed, and partly neglected or even covered up in present time. Implementing a wide range of methods, we discovered contradictory and often conflictive or competitive perceptions and stories in this and about this city. These different perspectives are collected in a historical reader.3 They reflect the current struggle over remembrance and identity search in Vilnius. In this article, I discuss just one of its features: the current practices of staging “Europe” in the public sphere, which are aiming at moving Vilnius into the ‘centre of Europe’ – not least by drawing upon the history of the city.

Historical Perspective: Vilnius as ‘Europe en Miniature’4 The reputation of Vilnius as an eminently European city results from a number of historical (political, economic, demographic and socio-cultural) developments. The city owes the label ‘Rome of the East’ to its many churches. Thanks to the architecture in the old town centre, people also refer to it as ‘Florence of the North’ and ‘little Prague’. Another illustrious epithet is ‘gem of the baroque era’; there is marked Italian influence in the architectural style. Even today, the historical, dynastic links between Vilnius and other parts of Europe are visible, at first sight, in the architectural styles, and so are the various waves of migration. Thanks to it, the old town centre became a ‘world cultural heritage site’ in 1994. There are street names and commemorative plaques that refer to international, primarily Jewish scholars and artists who used to live in Vilnius; and there are quarters that show signs of immigrant groups from different epochs. There are cemeteries with Lithuanian, French, Polish and Russian sections, which remind us of numerous wars and are evidence of the formerly multi-ethnic character of the city. 3 4

Cf. Schulze Wessel, Martin/Götz, Irene/Makhotina, Ekaterina (Eds.): Vilnius. Geschichte und Gedächtnis einer Stadt zwischen den Kulturen, Frankfurt a. M./New York 2010. For more on “European history of entanglement” in Vilnius and Lithuania, see Güntert, Karl-Philip et al.: Vom Europa „en miniature“ zu gegenwärtigen Neuverortungen, in: Schulze Wessel/Götz/Makhotina (Eds.), Vilnius, pp. 191–202.

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The former Jewish Ghetto. Photo: Irene Götz.

The ‘German street’ (Vokiečių gatvė) and a protestant church call to mind the settlement of German craftsmen. This street used to separate the two Jewish quarters. Under the Nazi occupation, these quarters were fenced in and transformed into a ghetto, and then became sites of genocide. These zones of the old town centre – recently enhanced with renovated façades, and new souvenir shops and restaurants – are marked only through a few small commemorative plaques attached to the walls of buildings and some faded Hebrew letters to be found above front doors. Vilnius figured in European history of entanglement as part of the formerly powerful Polish-Lithuanian Commonwealth. This empire was connected to the rest of Europe by extending as far as Crimea. In this context, one event was especially significant: the so-called ‘Krakow wedding’. The marriage between the Lithuanian Grand Duke Jogaila with the Polish Princess Jadwiga in 1386 marked the union between the Grand Duchy of Lithuania and the Kingdom of Poland, which increased the importance of the country in the European context. Subsequently, Vilnius became one of the European royal cities. Economic relationships with other European countries developed — thanks to dynastic links, migration and the exchange of knowledge. Vilnius became an import-

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ant node in European economic networks due to its position between the Baltic and the Black Sea. After the 16th century Vilnius entered an era of a political and economic decline, which was closely linked to the demise of the Grand Duchy. Subsequently, the political centre in the empire shifted to Poland. The occupation of Vilnius through Russian troops in 1655 had fatal consequences both for the population and the economy. Many aristocrats left the city, and a lot of the craftsmen and merchants escaped to neighbouring countries. It took about 130 years until the Grand Duchy finally disintegrated. This period was marked by further destruction, painstaking efforts at rebuilding the city, and its overall decline in importance. The state, weakened by a number of wars, fires and epidemics in the 18th century, was an easy target for neighbouring powers, which eventually divided it up. In 1795, Vilnius and Lithuania became part of Russia. The complaints of the Lithuanian national movement fed into a common anti-Russian discourse, which highlighted the glorious Middle Ages of the Grand Dukes as well as the Lithuanian language and folklore. Anti-Russian and pro-European attitudes were two sides of the same coin, and the aim was the return to the ‘centre of Europe’ as an independent national state. This aim was only achieved after World War I – initially without Vilnius, which belonged to the new state of Poland during the interwar period. As a result of industrialisation, the population of Vilnius rose quickly; through a rural exodus and migration the number of inhabitants doubled within 25 years. According to Russian statistics from 1909, the Lithuanians were the smallest ethnic group with a share of 1.2 per cent of the population, followed by the Byelorussians (4.3%), the Russians (18.3%), the Jews (36.8%), and the Poles (37.7%). Events characterising the contemporary history of Vilnius were the ‘double occupation’ (first through the Soviets from 1939, then through the Germans under Hitler from 1941, and then again through the Soviet Union after 1944), World War II, the Shoah, as well as mass flights and resettlements. As a result, the population was exchanged almost in its entirety. The emigrated Poles and the murdered Jews were replaced by people from rural Lithuania and newly settled Soviet Russians. Today, nearly 60 per cent of the inhabitants of the city are Lithuanians, 20 per cent are Poles, and 15 per cent are Russians. Only 0.5 per cent of the inhabitants are Jews, who once constituted more than a third of its population.

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Shopping mall in the new city. Photo: Irene Götz.

Europeanisation through Education: the two Universities During the decades of the ‘iron curtain’, the traditional links of Central and Northern Europe to the capital of Lithuania were cut. Today, it appears that elite groups in and from Vilnius consider it more important than ever to position the city – with reference to its history and on behalf of the country – in ‘free’ and ‘colourful’ Europe;5 to move it back into its centre and to remove the remnants of the socialist era. This is the case in the area of politics, but also in relation to the late modern, globalised market and financial economy. This latter tendency is visible in the new skyline of the city, which was erected with the help of EU subsidies and international capital provided by western investors and Swedish banks. The late modern Vilnius is embodied in a glass palace located at Europe Square, which houses a huge shopping mall called Europa, and the city council. Here, the city presents itself as an eye-catching service sector metropolis, rising up against the backdrop of its poor, dilapidated quarters. 5

See Vonderau, Leben.

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The city presents itself most of all as European in the sense of ‘western’, ‘post-modernist’, and ‘neoliberal’. However, there is a different discourse on Europe brought to bear in this context that seeks its roots again in the history of the city, resp. in one of its famous institutions. The foundation of the local university in the 16th century is meant to have connected Vilnius to a European education area. After the fall of the iron curtain the state university in Vilnius attaches great importance to having been a transnational institution from the start through the exchange of education and knowledge. 6 In his cultural history of the city, Tomas Venclova argues that up until today, its different national groups have been competing over the control of the university, which was famous as an educational institution throughout Europe for centuries.7 In the course of the current Europeanisation of the city and the country, there are attempts to reconnect to the old reputation. Venclova states that in 1979, some Lithuanians, Poles and Byelorussians exiled in the US came together to celebrate the anniversary of the University of Vilnius. During the festivities, everyone tried to claim that their nation was responsible for the foundation of the university. Venclova interprets the discord between the different national groups as reflecting the nationalist “misery of the 19th, and especially the 20th century”8. According to him, the university was neither Lithuanian nor Polish but “European” in previous centuries – in a very distinct manner. Originally founded as a Jesuit college in 1579, the university was born under the sign of European schools of thought. It saw itself for more than 200 years as a stronghold of an early form of ‘multiculturalism’. Even though the Jesuit order had been established as a weapon of the counterreformation, the Vilnius’ college transformed itself into an educational institution that eventually accepted Protestants, at least for some time. Venclova argues that nationalities of professors and students did not matter that much, as long as they had good command of Latin. According to Venclova the university regularly engaged in exchanges of ideas with the similarly significant Jewish schools of thought rooted in Vilnius and thus created a tolerant academic atmosphere in the multiethnic city.9 Yet there was a rupture: the annexation of the university through the Russian Empire in 1775. In 1832, it was finally shut down, only to be re-established in 1919 – after World War I – as a Polish university. This university remained open after the 6 7 8 9

The Europeanness of the city thanks to its university is stressed by an account of the history of the university entitled “Universitas Vilnensis 1579–2004”, to be found on its homepage. Cf. Güntert et al., Europa. Cf. Venclova, Stadt; Venclova, History. Venclova, Stadt, p. 92. Cf. Venclova, Stadt; Venclova, History.

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incorporation of Lithuania into the Soviet Union – but Marxist-Leninist curricula were introduced. It was only after Lithuania became independent again that the university attempted to define itself through its old European past. The historical account commissioned by the university contains numerous affirmative references to ‘Europe’. These contribute to a strategy of enhancement, which at the same time serves to link the university to the European education area. This is happening in the course of the ‘Bologna Process’, which is being driven forward in Vilnius, too. A second small university hidden on the edge of town refers to a different semantic content of the term ‘Europe’. It is a Belarus university in exile called ‘European Humanities University’. Founded in Minsk in the 1990s, it emerged out of the attempt by Belarus scholars to depart from the Soviet mode of teaching, which was ideologically driven. When the university was closed by the dictatorship, it found a new home in Vilnius. The founder of this university emphasises the “European spirit of education and human rights” and refers to the idea of a “free Europe”. According to him, there is freedom of research and teaching again, and the degrees are generally recognised – at least outside Belarus. In personal conversations in the city, the ethnographers of our project encountered the association of the EU with ‘free Europe’ time and again. People appear to be in favour of being part of it, especially in terms of being protected against the “nearby Russians” and due to open labour markets and the substantial investments made by western financiers. However, the attitudes were ambivalent. Not everyone in Vilnius is in favour of EU regulations, and not everyone profits from the processes of transformation: “Today, everyone has got a mobile phone, but we haven’t got any cows in the barn any more”, remarked an elderly lady in a small village on the edge of town. The flipside of the new links to the West is the political and economic dependency on Brussels as well as on investors and banks, which is noticeable in everyday life. Small-scale agricultural production is no longer worth the trouble. People are dependent on incomes outside agriculture, on the pricey goods on offer at supermarkets, and on being able to sustain their new affluence and consumer culture, which are often built on debt. This became a problem for all the Baltic countries when the financial crisis of 2008 hit.

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Europeanisation as De-sovietification and Re-nationalisation Only at first sight, the instances of Europeanisation appear to contradict the dominant strategies in identity politics, which seem to be going in a different direction: There is an observable re-nationalisation in the areas of culture and symbolic politics; few recent events were celebrated in a more solemn mood than the creation of the Lithuanian ‘nation’. The re-Lithuanisation of the city after 1991 is revealed (a) by the myths and statues of the glorious age of the Grand Dukes – the first Christian Grand Duke, Mindaugas, and the founding father of the city, Gedeminas –, and (b) by the festivals dominating the cityscape, which involve traditional folk costumes and celebrating folklore. In contrast, the Soviet heritage was removed from the cityscape and transferred, just like in other post-socialist cities, into a park of monuments called Grutas Parkas. In the last twenty years, the dissociation with Russia and the repositioning of Vilnius played a key role in national identity politics, understood as a search for meanings and symbols. Accordingly, May, 9th is celebrated as ‘Europe Day’ in Lithuania. After all, the end of World War II, which brought the ‘occupation’ through the Soviet Union, can hardly be interpreted as ‘liberation’. The relationship between Russia, where victory in the Great Patriotic War remains a key theme of remembrance, and the Baltic states, which currently predominantly commemorate their resistance, continue to be strained. In short, the repositioning and the search for identity in Vilnius, just like in many post-socialist settings, lead people to re-embrace the national heritage. This in turn is accompanied by identification offers such as “European city” or “European Nation”. These public practices of staging one’s nationhood and one’s Europeanness in one go correspond to the aspirations, practices of stylisation and habitual orientations of the winners of post-socialist transformation, who do business with the West and trade in its goods and sets of knowledge. Asta Vonderau has written a PhD thesis on the new Lithuanian elites and their business practices and patterns of taste and consumption. She demonstrates that the elites of this society in transformation are forced to undergo a process of “self-improvement” that goes as far as requiring the remaking of their bodies: They have to “clear” themselves visibly of any remnants of Soviet “mentality” in order to be good Lithuanians. The dominant discourse even promotes the activities linked to ‘Europe’ to “real national virtues”, for example a western life-style, thinking and acting in an entrepreneurial fashion, cosmetic surgery, going to the gym and driving a big car.10 10

See Vonderau, Leben.

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“In the Centre of Europe”: Geographic Space and Identity Politics In the 1990s, the processes of re-positioning were visible both at the level of individual actors and at the level of public space. Against this backdrop, it is not surprising that Vilnius exploits its location at the geographic “centre of Europe”, calculated in 1989. Two museums erected at this place, 26km to the north of Vilnius, promote themselves by referring to this illustrious site. The site can be used both for city marketing and the symbolic positioning of the state in sense of a political ‘return to Europe’. First of all, there is Europos parkas, a country park with international modern art, which was founded by a former art school student from Vilnius, Gintaras Karosas. The number of sculptures exhibited in the park that were made by internationally renowned sculptors and artists is increasing constantly. The park is designed as a work of art in itself, in which nature and art, landscape and ensembles of sculptures are assembled and arranged with attention to detail. In Europos parkas, art and the centre of Europe form a unit. The cultural diversity of Europe is supposed to be displayed through the multiplicity of sculptures and practices of staging by artists from different places. This is the conception of the founder. This park of sculptures is elevated into the local and the trans-local consciousness as a ‘European place’ also through festivities and public events. ‘Europe Day’ was celebrated here for the first time after being introduced in Lithuania – on May, 9th 2002. The contribution of the park to cultural policy in terms of shaping a European consciousness found the support of the European Union: It provided funds through the programme Culture 2000, which aims to preserve the European cultural heritage. The “Museum at the Geographic Centre of Europe” is located 15km away from Europos parkas. This site consists of two log cabins, an information centre and an exhibition building. Slightly further away, there is a flagged open-air stage with a granite column capped by a crown of stars – the EU symbol. A number of public events take place on this open-air stage, which is flagged by the flags of all member states of the European Union. Politicians appear on stage on important holidays like May Day, which is the anniversary of Lithuania’s entry to the EU; there are midsummer celebrations on Johannis Day (June, 21st); the ‘centre of Europe’ serves as a backdrop for wedding photos and as a finish area for a marathon and a bicycle race.

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Conclusion Politically, economically and symbolically, Lithuania has once more positioned itself within “Europe”. The imaged centre of Europe becomes an important element of a new “cognitive map” – a European spatial order –, that is no longer marked by the rigid “dichotomy between East and West”.11 If Europe is understood as an established label used in city marketing, many aspects of the topography of the city can be interpreted as instances of the staging of the city’s self-image. In late modern ‘experience society’, cities have to position themselves by producing specific cultural highlights. The aesthetic emphasis of the geographic centre of Europe claims to provide for another distinct tourist experience producing lasting memories. In this context, the centre of Europe becomes a novel commemorative site; and it elevates Vilnius, which was previously mostly known as a city of the baroque era, to a centre of modern art. With the help of these new, ‘modern’ and ‘European’ interpellations of identity, the city creates an image for itself that is not instantly ‘burdened’ by the conflict-ridden cultural heritage of Lithuanian, Polish, Jewish and Russian origin. Moreover, the symbolic enhancement of this city in the centre of Europe counters its political or geographical marginalisation at the periphery. It is located not even 30km away from the external border of the EU, and it is close to the border of Belarus – one of the last post-Soviet authoritarian regimes. Consequently, it may be of specific significance to be able to stress one’s location in the ‘centre’. Such imaginaries of the European city mix traditional ideas of a European cultural and education area with modern ingredients like western ways of doing business and of consuming. These imaginaries are reproduced in everyday life through the media (travel guides, historical accounts, academic literature, web pages), old monuments, and new place brandings. Through such practices of staging, the abstract idea of Europe becomes comprehensible for ‘ordinary people’, too – be they locals or travellers. Moreover, being European can be incorporated into personal life by adopting the Western life style. After the fall of the Soviet Empire, similar yet specific processes of the symbolic politics of memory and identity can be found in almost all of thee capital cities in Eastern Europe. They are part and parcel of the processes of economic, political and socio-cultural transformation. Especially the spatial fixing and the reinterpretation of remem11 Altenburg, Detlef et al. (Eds.): Im Herzen Europas: Nationale Identitäten und Erinnerungskulturen, Köln/ Weimar/Wien 2008.

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brance and, linked to it, the symbolic reinterpretation and enhancement of urban topography arranges (often seemingly contradictory) local, regional, national and European interpellations of identity in new ensembles. Cultural studies have a responsibility to trace these negotiations of identity and remembrance – two fields that are being reinterpreted time and again by different groups of actors. Vilnius provides us with a number of stimuli for aproaching the city, urban commemoration sites and identity policies from a multiplicity of perspectives.

FORGET HERITAGE – FORGETTING TO REMEMBER, REMEMBERING TO FORGET Über die Bedeutung des Prozesses der Kulturerbe-Selektion Mario A. Cavallaro

Es ist in der Tat eine Herausforderung, einen Beitrag, der sich mit Vergessen und Erbe beschäftigt, für eine Festschrift zu schreiben. Insbesondere dann, wenn diese Festschrift einem Historiker und Kulturwissenschaftler gewidmet ist, der zu seinen Forschungsschwerpunkten „Erinnerungen“ und „Narrationen“ zählt. Jedenfalls bin ich zuversichtlich, dass Jacques Picard ein offenes Ohr für solche Inhalte besitzt. Zumal ich ihn als sehr offene Person mit einer unerschütterlichen, wissenschaftlichen sowie persönlichen Neugier für Unkonventionelles kennen und schätzen gelernt habe. Es sei bereits zu Anfang meines Beitrags unterstrichen, dass der folgende Text keinen wissenschaftlichen Anspruch erhebt, sondern es sich vielmehr lediglich um „flüchtige Gedanken“ zu einem Projekt handelt, das ich im Rahmen unserer gemeinsamen Exkursion in die italienische Hafenstadt Genua mit Studierenden der Kulturanthropologie der Universität Basel im Oktober 2016 vertieft habe. Das Projekt „Forget Heritage“1 ist ein von Interreg Central Europe2 mit aufgerundet 2,5 Millionen Euro gefördertes Projekt. Interreg Central Europe ist ein von der Europäischen Union mit 246 Millionen Euro budgetiertes Programm, das in Zentraleuropa die transnationale Entwicklung und Zusammenarbeit in den Regionen und Städten Österreichs, Kroatiens, der Tschechischen Republik, Deutschlands, Ungarns, Italiens, Polens, der Slowakei und Sloweniens finanziell unterstützt. Unter Einbindung öffentlicher und privater Akteure fördert Interreg Central Europe transnationale Projekte gemäss ihrer Prioritätenachsen: „Zusammenarbeit in Innovation, um Mitteleuropa wettbewerbsfähiger zu machen“, „Strategien zur Kohlenstoffreduktion“, „Kooperation zur Förderung des nachhaltigen Wachstums der natürlichen und kulturellen Ressourcen“, „Zusammenarbeit in Mobilität zur besseren Vernetzung Mitteleuropas“. Das in Genua lancierte Projekt „Forget Heritage“ ist in der dritten Prioritätenachse „Kooperation zur Förderung des nachhaltigen Wachstums der natürlichen und kultu1 Vgl. dazu http://www.interreg-central.eu/Content.Node/Forget-heritage.html (10.12.2016). 2 Vgl. http://www.interregeurope.eu (10.12.2016); http://www.interreg-central.eu/Content.Node/home.html (10.12.2016).

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rellen Ressourcen“ angesiedelt. Dieser Bereich ist dem Schutz und der nachhaltigen Nutzung des natürlichen und kulturellen Erbes gewidmet und möchte dieses als wichtigen Standortfaktor für die regionalen Entwicklungen nutzbar machen. Dies soll direkt der Lebensqualität der Stadtbewohner zugutekommen. Um dies zu erreichen wurden die folgenden drei spezifischen Ziele ausformuliert, die stets in transnationaler Kooperation verfolgt werden: Das erste Ziel dient dem Schutz und der nachhaltigen Nutzung des Naturerbes und dessen Ressourcen. Es sollen Umweltstrategien und die dazugehörenden Werkzeuge entwickelt und umgesetzt werden, die im öffentlichen und privaten Sektor das nachhaltige Handeln implementieren. Mit dem zweiten spezifischen Ziel möchte man die nachhaltige Nutzung des kulturellen Erbes und dessen Ressourcen verbessern. Dies umfasst die Erhaltung und die Bewirtschaftung des kulturellen Erbes und dessen Ressourcen, mit dem Ziel ein nachhaltiges Wachstum zu erreichen. Die daraus generierten Strategien sollen der Kultur- und Kreativindustrie dienen, sodass daraus mit der Nutzung des Kulturerbes auf regionaler Ebene neue Wirtschaftszweige und Beschäftigung entstehen. Das dritte spezifische Ziel hat hingegen die Verbesserung des Umweltmanagements um urbane Gebiete im Fokus, womit die Lebensqualität der urbanen Räume gesteigert werden soll. In diesem Rahmen wird das integrierte Umweltmanagement unterstützt und werden den Entscheidungsträgern sowie Führungsebenen öffentlicher und privater Organisationen verbesserte Möglichkeiten zur effektiveren Planung, Verwaltung und Entscheidungsfindung gegeben. Zusammenfassend besitzt Interreg Central Europe als oberstes Ziel die Förderung diverser Managementmöglichkeiten zur Aufwertung historischer Stätten in Mitteleuropa. Es sollen dank dieser Zusammenarbeit öffentlicher und privater Akteure kulturelle, kreative und nachhaltige Aktivitäten implementiert und damit das Potenzial von unter- bzw. ungenutzten Kulturgütern aufgewertet werden, zu Gunsten der Lebensqualität der im Umkreis lebenden Stadtbewohner. Ziel ist es, daraus neue Tätigkeitsfelder für Kulturschaffende und Kreative entstehen zu lassen. Um dies zu erreichen wird lokal eng mit den kreativen Branchen zusammengearbeitet. Daraus soll dann im Idealfall ein Kreislauf generiert werden, um einerseits die Unternehmen in der Kreativindustrie unternehmerisch zu stärken und gleichzeitig den Wert der Kulturgüter aufzuwerten, der ansonsten aufgrund des mangelnden Unterhalts verloren ginge3. Nachdem das Projekt Mitte Juli 2016 unter dem Vorsitz Genuas in der mediterranen Hafenstadt seinen Kick-off erlebte, haben sich die daran beteiligten Städte und 3 Vgl. http://www.genovacreativa.it/progetto/forget-heritage-modelli-innovativi-di-gestione-di-siti-storici-abbandonati-attraverso-l%E2%80%99ins (10.12.2016).

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Akteure am 15./16. November 2016 zur Eröffnungskonferenz „Heritage in the City“ in Genua getroffen4. In deren Rahmen wurde über die Möglichkeiten debattiert, wie mit dem Kulturerbe umgegangen und wie dieses in der öffentlichen Wahrnehmung werbetechnisch vermarktet werden kann. Der Schwerpunkt lag auf einem nachhaltigen Umgang mit dem jeweiligen Kulturerbe der Stadt. Der Slogan des Projektes lautet „Forgetting to Remember, Remembering to Forget“. Der Slogan verweist nicht zufällig auf Rodney Harrisons Auseinandersetzung mit diesem Thema.5 Harrison schreibt, dass in der Spätmoderne6 – also ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – eine intensive Akkumulation von Kulturerbe stattfand. Dies sei im Anwachsen diverser Register zu beobachten, die – je nach Ausrichtung – auf lokaler, nationaler und globaler Ebene (im)materielles Kulturerbe beinhalten7. Die Auseinandersetzung und Beschäftigung mit dem Gedächtnis wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der westlichen Welt immer intensiver. Gründe dafür waren die Diskussion um die Dekolonialisierung sowie die Erinnerung an den Holocaust. Im Zuge dessen wuchs die Anzahl der Objekte, Bräuche und Landschaften exponentiell an, die nun als Kulturerbe definiert und somit in einem Register aufgeführt wurden. Es fand nicht nur ein Anwachsen der Register statt, die sich auf Kulturerbe konzentrieren, sondern die Anzahl der als Kulturerbe bezeichneten Objekte selbst multiplizierte sich. Diese Entwicklung kann auf lokaler, nationaler sowie globaler Ebene festgestellt werden, was Richard Terdiman8 dazu bewog von einer „memory crisis“ und Rodney Harrison von einer „’crisis’ of accumulation of the past“9 zu sprechen. Eine Entwicklung, die dazu führte, dass Kulturerbe heute omnipräsent ist und somit auf der ganzen Welt viele Register mit Kulturerbe zu finden sind, die mit Monumenten und Gebäuden überfüllt sind, und zudem oft veraltete Narrative von Nation und Standesunterschied repräsentieren. Zudem fanden diese Kulturerbe-Register in der Spätmoderne Eingang in einen Grossteil der Marketing- und Bran4

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Genua (Projektleitung), Ljubljana, Nürnberg, Bydgoszcz, Rijeka, Usti Nad Labem, Warschau, Region Lombardei, Institute for Economy Research (Slowenien), Cultural Innovation Competence Centre Association (Ungarn). Vgl. Harrison, Rodney: Forgetting to remember, remembering to forget: late modern heritage practices, sustainability and the „crisis“of accumulation of the past, in: International Journal of Heritage Studies, 19:6 (2012), pp. 579–595; Harrison, Rodney: Heritage. Critical Approches, London 2013. Harrison nimmt vom Begriff Postmoderne mit Absicht Abstand, weil er die Meinung vertritt, dass der Begriff Spätmoderne die Zeit ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert besser beschreibt. Vgl. Harrison, Heritage, pp. 76–79. Register soll hier stellvertretend für alle Arten von Listen, Katalogen usw. stehen, die in sich unterschiedliche Kulturerben beinhalten. Vgl. Terdiman, Richard: Present Past. Modernity and the Memory Crisis, New York 1993. Harrison, Forgetting, p. 1.

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ding-Strategien der Länder, Städte und Regionen, welche ihrerseits damit einen ­regelrechten Boom von Kulturerbe bewirkten.10 So erlebt der Brand „World Heritage“11eine regelrechte Konjunktur in der Marketingstrategie diverser Regionen und Städte, die mit dem Emblem ihre Zielgruppen, Touristen und Besucher, anvisieren. Diese Entwicklung ist aktuell auch in Genua festzustellen, wo mit „World Heritage“ Besucher in die Hafenstadt gelockt werden und zudem aus Marketingzwecken angestrebt wird, die Zubereitung des „Pesto Genovese al Mortaio“ als immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe anerkennen zu lassen: „The World Heritage Emblem itself has become a global brand [...] and is used to mark World Heritage sites clearly for visitors and tourists. [...] These plaques [das UNESCO-Logo; Anmerkung Autor] have thus become an important marketing tool not only for promoting tourism to individual sites, but also in promoting the World Heritage ‚idea’ as a universal, global principle“.12 Zu berücksichtigen ist dabei, dass dieser konstante Bezug auf das Kulturerbe und diese Valorisierung desselben wie auch die „Erfindung“ von Traditionen13 bereits auf die Zeit der Nationalstaatenbildung zurückgeht. Auch die ersten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit diesem Gegenstand haben sich mit der Verwendung der Vergangenheit zur Bildung einer nationalen Identität befasst.14 Obschon das Zeitalter der europäischen Nationalstaatenbildung vorüber ist, wird auch heute nicht nur auf sub- sondern auch auf supranationaler Ebene auf ein Kulturerbe verwiesen, das in nostalgischen Erzählungen zum Ausdruck kommt. Sei dies in einer europäischen Dimension, wo Populisten auf ein christliches Erbe verweisen, um alles „Fremde“ auszuschliessen. Oder so wie dies aktuell auch in den USA geschieht, wo der nächste Präsident mit seinem „Make America Great Again“ auf eine nostalgische Grösse der USA verweist, die nun wieder gefunden werden müsse. Auch war das Kulturerbe für die Bildung von kollektiven Identitäten in der Zeit der Entkolonialisierung von unschätzbarem Wert. In verschiedenen ehemaligen Kolonien und Staaten ist die Herausbildung von kollektiven Identitäten zu beobachten, die sich auf ihre vorkoloniale, indigene Zeit zurückbesinnen. Wichtig dabei ist stets, dass Kulturerbe identitätsstiftend wirkt und somit die Vergangenheit die Gegenwart mitgestaltet und die Zukunft bestimmt. 10 11 12 13 14

Vgl. Harrison, Heritage, pp. 69–72. Dies betrifft sowohl das materielle wie auch das immaterielle Kulturerbe der UNESCO. Harrison, Heritage, p. 89. Vgl. Hobsbawm, Eric/Ranger, Terence (Eds.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983. Vgl. Harrison, Heritage, p. 96.

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Um seine Wirkung zu entfalten, muss das Kulturerbe in Form von Repräsentation dargestellt werden. Daraus ergibt sich die kollektive Repräsentation (frz. représentation collective): „[...] ein von E. Durkheim eingeführter Begriff, der die Symbole bezeichnet, die für die Mitglieder eines Kollektivs [...] eine gemeinsame kognitive und affektive Bedeutung besitzen und durch die kollektiven Erfahrungen, Werte und Verhaltensnormen der Gruppe vergegenwärtigt und dargestellt werden. Die kollektive Repräsentation umfasst nicht nur materielle Symbole [...], sondern insbesondere auch die gemeinsamen Begriffe und die gemeinsame Sprache überhaupt, die ausdrückt, wie die Gesellschaft als Ganzes die Welt erfährt. […] Somit ist die kollektive Repräsentation die Vergegenwärtigung und Darstellung jener Inhalte, die dem individuellen Bewusstsein als eine dasselbe übersteigende, gesellschaftliche, institutionelle Wirklichkeit gegenübertreten [...]“.15 Wie aus dieser Definition herauszulesen ist, benötigt ein Kollektiv Instrumente, um sich selbst und seine Ziele zu repräsentieren. Damit verbunden sind die Repräsentation von Kulturerbe und die damit erzeugte kollektive Identität. Die Repräsentation und der Verweis auf das Kulturerbe wird gerne und oft auch von Minderheiten, Separatisten und weiteren ethnischen sowie sozialen kollektiven Gruppierungen verwendet, um unter anderem politische Anerkennung zu erzeugen. Nach Harrison ist es eine Herausforderung kulturelle Werte mit diesen Zielen zu verbinden und zu repräsentieren. Dabei stellt sich die Frage, was und wie repräsentiert wird und was dafür konserviert werden soll. In diesem Prozess einer interdisziplinären kritischen Auseinandersetzung ist es für die Entscheidungsträger wichtig herauszufinden, welches Kulturerbe die aktuellen Werte der jeweiligen Gesellschaft repräsentieren und in die Zukunft getragen werden sollen.16 Dies soll aber immer im Bewusstsein geschehen, dass die Werte selbst dem Wandel der Zeit unterworfen sind und deshalb flexibel sein müssen. Entsprechend kann es sein, dass bereits identifiziertes und konserviertes Kulturerbe – weil es keinen inhärenten Wert besitzt, sondern dieser ihm individuell zugeschrieben wird – plötzlich aufhört für die aktuellen oder zukünftigen Gesellschaften relevant zu sein oder es möglicherweise sogar Werte repräsentiert, die nicht mehr den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechen oder sogar in Widerspruch zu ihnen stehen.17 Daraus ergibt sich, dass unterschiedliche Vergangenheiten in die Gegenwart hineinwirken. 15 Fuchs-Heinritz, Werner u.a. (Hg.): Lexikon der Soziologie, Opladen 1995, S. 556. 16 Vgl. Appaduarai, Arjun: Modernity at large, Minneapolis 1996; Byrne, Denis: Heritage as social action, in: Fairglough, Graham et al. (Eds.): The heritage reade, Abingdon 2008, pp. 149–173. 17 Vgl. Harrison, Forgetting, pp. 580–597.

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Bei dieser kritischen Hinterfragung und Re-Selektierung von Kulturerbe soll das „kollektive Vergessen“18 gewagt werden. Für Marc Augé ist es wichtig, gewisse Erinnerungen zu missachten, um zu erinnern. Marc Augé sieht gar eine kollektive Pflicht zum Vergessen: „Memory and oblivion stand together, both are necessary for the full use of time [...] We must forget in order to remain present, forget in order not to die, forget in order to remain faithful.“19 Damit ist das kollektive Vergessen nicht der kollektiven Erinnerung entgegensetzt, sondern ihr integraler Teil.20 Dies bedingt einerseits Kulturerbe als Teil eines breiten sozialen Prozesses zu betrachten, welcher den räumlichen und zeitlichen Kategorien unterworfen ist und zur Produktion von Identität und Lokalität beiträgt.21 Andererseits sollte – um der „crisis of accumulation of the past“ entgegenzuwirken – bei der Beschäftigung mit Kulturerbe mit dem Konzept der Nachhaltigkeit gearbeitet werden und somit nicht nur nach der Beständigkeit von Gegenständen, Räumen und Praktiken gefragt werden, sondern auch, ob die mit ihnen aktuell verbundenen Vergangenheiten in die Zukunft fortdauern können. Dabei ist zu unterstreichen, dass diese neue Auseinandersetzung mit dem Kulturerbe weder zurück zu einem „Kanon“ führt, der nur noch den „Besten“ die Exklusivität reserviert, um konserviert zu werden. Noch dass eine Handhabung implementiert wird, mit welcher Dinge mit der Begründung „just in case“ als Kulturerbe deklariert werden. Es braucht mutige Entscheidungen, um Kulturerbe zu streichen, das nicht konsistent ist oder nicht in Kontinuität zu gegenwärtigen und zukünftigen Generationen steht. Dennoch ist es wichtig, dass Kulturerbe zugleich repräsentativ und divers ist.22 Diese kritische Hinterfragung von Kulturerbe sowie dessen Produktion soll in einem demokratischen Prozess, gemäss einem „dialogical model of heritage“23, geführt werden, der über die traditionellen Entscheidungsexperten von Eliten hinausgeht und weitere lokale Bevölkerungsgruppen – „Nicht-Experten“, Bürger, Politiker – involviert und in einem „hybrid Forum“ zusammenbringt. Dies würde heissen, Umwelt und soziale, wirtschaftliche sowie politische Themen individuell integral mit 18 19 20 21

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Augé, Marc: Oblivion, Minneapolis 2004. Augé, Oblivion, p. 89. Vgl. Forty, Adrian/Küchler, Susanne (Eds.): The Art of Forgetting, Oxford 1999. Vgl. Hetherington, Kevin: Secondhandness. Consumption, Disposal, and Absent Presence, in: Environment and Planning D: Society and Space 22/1 (2004), pp. 157–173, here p. 159; Kirshenblatt-Gimblett, Barbara: Destination Culture. Tourism, Museums, and Heritage, Berkeley 1998. Vgl. Harrison, Forgetting, p. 591. Harrison, Heritage, p. 223.

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Kulturerbe zu denken und somit in der Gegenwart Vergangenheiten für die Zukunft zu produzieren. Diese neue aktive Auseinandersetzung mit Erinnerung, die sich von der passiven Konservierung von Vergangenheit entfernt, würde ermöglichen, neues Wissen sowie neue Wege zum Denken und Handeln zu generieren.24 In dieser Auseinandersetzung mit Erinnerung kann die Kulturanthropologie mit Einbezug der Geschichtswissenschaft einen wertvollen Beitrag leisten. Zumal sich viele Arbeiten zu Gedächtnis im späten 20. Jahrhundert auf die Rolle „[…] of popular culture in shaping collective memory and representations of the past“25 konzentrierten. Historiker sind gar der Meinung, dass die populäre Kultur wichtigster Ort für die Konstruktion von Erinnerung und Identitätspolitik ist.26 Das eingangs vorgestellte europäische Projekt „Forget Heritage“ sucht diese kritische Auseinandersetzung mit dem urbanen Kulturerbe. Es möchte ungenutztes materielles Kulturerbe in Form von historischen Bauten, die für die Geschichte der Lokalgesellschaft wichtig sind, ausfindig und wieder nutzbar machen. Dabei werden nicht nur Themen rund um Stadtplanung angeschnitten, sondern es werden auch juristische Aspekte betrachtet, die – insbesondere in der italienischen Gesetzgebung – eine Zwischen- bzw. Neunutzung mit entsprechenden baulichen Interventionen aufgrund der strengen Richtlinien des Denkmalschutzes praktisch unmöglich machen. Die aus dem Projekt gewonnenen Erkenntnisse sollen nicht nur die Lebensqualität der Stadtbewohner verbessern, sondern auch neue (Arbeits- und Beschäftigungs-)Möglichkeiten aufzeigen, die dann in einem zweiten Schritt an andere Städte vermittelt werden sollen. Dafür werden Skills im Management ermittelt und Pilotprojekte organisiert sowie Werkzeuge geschaffen, die es ermöglichen un- und untergenutzte historische Stätten ausfindig zu machen und diese der Kultur- und Kreativindustrie zur Verfügung zu stellen. Genua hat im Projekt eine Leitungsfunktion, wozu sich die Stadt aufgrund ihres eigenen Kulturerbes und ihrer geographischen Lage mit dem entsprechenden Mangel an freien Flächen sehr gut eignet. Beispiele für das Kulturerbe Genuas sind die mittelalterliche Innenstadt sowie die Palazzi dei Rolli, die beide auf der UNESCO-Liste stehen. Zurzeit ist geplant, Werkzeuge zu schaffen, die es ermöglichen historische Stätten 24 Vgl. Harrison, Heritage, pp. 223–225. 25 Harrison, Heritage, p. 168. 26 Vgl. Lipsitz, George: Time Passages. Collective Memory and American Popular Culture, Minnesota 1990; Hamilton, Paula: The Knife Edge. Debates about Memory and History, in: Darian-Smith, Kate/Hamilton, Paula (Eds.): Memory and History in Twentieth-Century Australia, Oxford 1994, pp. 9–32.

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in öffentlich-privater Partnerschaft besser zu verwalten. Damit einhergehend sollen Empfehlungen herausgegeben werden, um auf lokaler und nationaler Ebene die entsprechenden legislativen Änderungen herbeizuführen. Darüber hinaus sollen, und damit ganz im Sinne Harrisons, Möglichkeiten geschaffen werden, um bei der Neuausrichtung von historischen Stätten die Bürger aktiv zu involvieren. Ebenso werden „Entrepreneure“ der Kulturindustrie mit einbezogen, deren Bedürfnisse auch bei der Verwaltung der historischen Stätten berücksichtigt werden. Nebst der entsprechenden unternehmerischen Schulung soll auch mit innovativen Pilotprojekten zur Verwaltung und Neulancierung historischer Stätten experimentiert werden. Genua verfügt zudem mit dem „Galata – Museo del Mare“ über ein Paradebeispiel einer öffentlich-privaten Partnerschaft, woraus die lokalen Projekt-Teilnehmenden Ideen und Modelle übernehmen könnten. Das 2004 eröffnete und nach Galata – dem Quartier in Konstantinopel, wo sich in der Frühen Neuzeit die genuesischen Händler etablierten – benannte „Galata – Museo del Mare“ widmet sein Interesse dem Kulturerbe der Hafenstadt Genua und legt damit einen Schwerpunkt auf das Meer und die mit ihm verbundenen Erzählungen. Bereits der Ort, wo das Museum seinen Sitz hat, ist ein städtischer Erinnerungsort. Als Genua 2004 Kulturhauptstadt Europas war, entstand das Museumsgebäude im Quartier Darsena, wo zu Zeiten der Seerepublik die Galeeren gebaut wurden, im „Porto Antico“, dem ehemaligen Standort des „Palazzo Galata“. Der Neubau verband sich mit der auch stattfindenden Transformation des „Porto Antico“, dessen Infrastruktur und Gebäude gemäss den Plänen des Stadtplaners und Architekten Renzo Piano seit 1992 neu genutzt und neu ausgerichtet werden. Das interaktiv konzipierte Museum thematisiert die Geschichte der Stadt als Seerepublik und diejenige seiner berühmten Bürgerinnen und Bürger, darunter vor allem Cristoforo Colombo. Ein weiterer prominenter Teil ist der Migration über das Meer gewidmet. Das Museum interpretiert nicht nur ein historisches Quartier und historische Gebäude neu; beachtenswert ist auch, dass die Aktivitäten und die Infrastruktur des Museums einen Großteil des Quartiers Darsena umfassen: Im Quartier wird zurzeit unter der Federführung des Galata-Museums ein eigentliches Open-Air-Museum errichtet. Darüber hinaus gehören dem Museum weitere historische Stätten an, wie das Johanniterkloster „Commenda di Pré“ in der Stadt oder das ausserhalb gelegene „Museo Navale di Pegli“. Die Institution „Museo del Mare“ ist institutionell zwar der Stadtkommune Genua unterstellt, ist aber ökonomisch selbsttragend. Das Museum betreibt, ganz wie von Harrison bezüglich Kulturerbe verlangt und es auch das Projekt „Forget Heritage“ anstrebt, eine öffentlich-private Partnerschaft, in welche die Stadt selbst und verschie-

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dene private Unternehmen27 eingebunden sind. Hinzu kommt, dass das Museum privatwirtschaftlich geführt wird und zugleich soziale Ziele verfolgt.28 Des Weiteren wurde darauf geachtet, dass im Personalbereich möglichst wenig eigenes Personal angestellt wird, sondern möglichst viele Aufgaben an auswärtige Organisationen vergeben werden. So wird die Administration vom Unternehmen „Costa Edutainment“ übernommen, eine Firma, die sich mit der Wissensvermittlung im Bereich des ligurischen Meeres, seiner Küsten und seiner Häfen befasst29. Ausserdem fördert das Museum ehrenamtliche Aktivitäten sowie die Zusammenarbeit mit der Universität, woraus Projekte und Ausstellungen entstehen30. Das nachhaltige Denken ist bis hin in die Konzipierung der Ausstellungen spürbar, da es das primäre Ziel neuer Ausstellungen ist, diese langfristig als Dauerausstellung in das Museum zu übernehmen. Darüber hinaus ist das „Museo del Mare“ international in das Netzwerk „Musei del Mare del Mediterraneo“ eingebunden, wo es eine führende Rolle einnimmt, und zusätzlich im „Site Council Coalition“ integriert. Der Dialog mit der Lokalbevölkerung wird unter anderem durch rege Aktivitäten im Bereich der Integration von Immigranten31 gepflegt. Ein weiteres Beschäftigungsfeld ist zudem die Auseinandersetzung mit mediterranen (Kultur)Landschaften, wofür unter der Leitung des „Museo del Mare“ das internationale Netzwerk „Parco Culturale del Mare“ gegründet wurde. Die Museumsleitung hat in diversen Veranstaltungen stets betont, dass ihr nicht nur die wirtschaftliche Nachhaltigkeit und die soziale Vernetzung sehr wichtig sind, sondern dass für sie die Beschäftigung mit dem Verhältnis „Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft“ fundamental ist. Insofern greift das Museum Themen auf, welche die Vergangenheit der Stadt durch die gegenwärtige Erzählung in die Zukunft projizieren könnten. So werden nicht nur lokale „Exzellenzen“ im Museum thematisiert und ausgestellt, es wird auch ein Augenmerk auf Einzelgeschichten und auf bedeutungsvolle Objekte32 geworfen, die repräsentativ für einen Prozess stehen. Schlussendlich wurde die Initiative 27 Aus dem Shipping-Bereich, aber nicht nur weil unter anderem weitere privatwirtschaftliche Unternehmen, bspw. eine nationale Bank, darunter zu finden sind. 28 Italienisch: „Gestione privato-sociale“. 29 Costa Edutainment ist eine von der Familie Costa betriebene Aktiengesellschaft und hat ihr Tätigkeitsgebiet im Porto Antico und an den Küsten Genuas. Sie ist nicht gewinnorientiert und konzentriert sich auf Wissensvermittlung und Erziehung. 30 Hier soll als Beispiel die Panoramaterrasse des Museums genannt werden, die ein Projekt eines Materstudiengangs der Universität Genua war und infolgedessen definitiver Teil des Museums wurde. 31 Im Commenda di Pré wird regelmässig dem Thema Migration und Integration mit kulturellen Veranstaltungen viel Raum gewidmet. 32 Es sei hier lediglich auf das im Migrationsteil ausgestellte Boot verwiesen, auf welchem Migranten versucht haben, das Mittelmeer von Nordafrika zu überqueren.

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„Carta del Mare“33 unter demselben Museum lanciert und vereinigt in sich diverse private sowie öffentliche Akteure und Non-Profit-Organisationen. Mit der „Carta del Mare“, die bis heute immer mehr Teilnehmer34 zählen darf, wird die ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit gefördert, indem nachhaltige Projekte der Teilnehmer jährlich ausgezeichnet werden. Diese Initiative zielt darauf ab, die Bevölkerung aktiv in nachhaltige Projekte zu involvieren. Wird nun die Funktionsweise des „Museo del Mare“ betrachtet und in Verbindung mit Harrisons Empfehlungen gebracht, könnte dies einen Mehrwert für das Projekt „Forget Heritage“ generieren. Ausserdem könnte aufgrund des Austausches mit Sicherheit ein beträchtlicher Erkenntnisgewinn für Museum und Projekt gewonnen werden. Bis zum heutigen Datum sind auf genuesischer Seite das entsprechende Amt für Kultur und Tourismus, die Fakultät für Architektur der Universität Genua und einzelne private Akteure am Projekt beteiligt. Wobei anzumerken ist, dass sich das Projekt erst in seinen Anfängen befindet. Jedenfalls sind solche Projekte und die daraus generierten Überlegungen und Prozesse für Städte wertvoll, die sich – wie Genua – in Transformation befinden. Wobei auch für Städte, die Wandel, Transformation und Austausch in ihrem Selbstverständnis haben, eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Kulturerbe äusserst wertvoll ist. Denn daraus werden Erzählungen geschrieben, die einerseits nach innen eine urbane Identität schaffen sollen. Andererseits nach aussen das urbane Territorium möglichst effizient repräsentieren müssen. Persönlich bin ich zuversichtlich, dass die Ergebnisse des Projektes einen weiteren internationalen Dialog animieren, welcher seinerseits möglicherweise auch Auswirkungen auf unsere Schweizer Städte hat: Wenn schon keine freie Sicht zum Mittelmeer besteht, kann doch immerhin dem Mittelmeer Gehör geschenkt werden.

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http://www.cartadelmare.it (10.12.2016). Der Carta del Mare können sich Teilnehmende aus dem gesamten mediterranen Raum anschliessen.

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VOM STAUSEE VERDRÄNGT – VOM STAUSEE GESCHENKT Technikgeschichte aus kulturwissenschaftlicher Perspektive Sabine Eggmann

Über die ganze Schweiz verteilt liegen heute rund 50 Seen, die von (meist) riesigen Dämmen gestaut werden.1 Mehr als die Hälfte der in der Schweiz produzierten Elektrizität entsteht dank der davon erzeugten Wasserkraft. Die Füllmenge der Schweizer Stauseen beträgt ca. zehn Millionen Kubikmeter, was zur Bezeichung der Schweiz als „Wasserschloss Europas“2 mitbeigetragen hat, und womit sich nicht zuletzt ein wesentlicher Teil der schweizerischen Identitätskonstruktion im 20. Jahrhundert verbindet. Der Blick auf den Staudammbau in der Schweiz rückt ein wichtiges Kapitel nationaler Technik- und Industriegeschichte ins Zentrum. Megaprojekte wie die verschiedenen Stauwerke in den Schweizer Alpen erforderten immenses Wissen, Können, Handeln und Verhandeln. Moderne konkretisiert sich hier sozusagen at its best. Was die Moderne für die Menschen – gerade in ihrem Umgang mit Technik – bedeuten kann, hat für das Fach Volkskunde/Kulturwissenschaft ein erstes Mal Hermann Bausinger sehr deutlich gemacht. In seiner „Volkskultur in der technischen Welt“ von 1961 hat er die damalige Forschungsperspektive – den Blick auf „Volkskultur als vortechnische, vorindustrielle, vormoderne Form“3 – umgedreht und so gezeigt, wie „die technische Welt als ‚natürliche’ Welt“4 der Bevölkerung zu verstehen und zu analysieren war. Inzwischen hat sich das Wissen um die reflexive Bedingtheit von 1

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Für die Hilfe bei der teilweise schwierigen Bildbeschaffung und die inhaltliche Ausarbeitung der Webseite „Versunkene Täler – neue Landschafen: Geschichte(n) der Stauseen in der Schweiz“ möchte ich mich bei Pierrine Saini herzlich bedanken. Die Schweiz gilt sowohl wegen ihres Wasserreichtums als auch wegen verschiedener Flüsse, deren Quellen in der Schweiz liegen und die in die europäischen Meere münden, als „Wasserschloss Europas“. Sowohl ein wichtiger Teil der Süsswasservorräte als auch der Energiegewinnung Europas stammt somit aus dem Schweizer „Rohstoff “ Wasser. Vgl. Bartu, Friedemann: Wasserschloss Schweiz, in: NZZ, 18.5.2012, http://www.nzz.ch/ wasserschloss-schweiz-1.16921466 (14.11.2016); http://www.vier-quellen-weg.ch/weg/hintergrund/ (14.11.2016); http://www.lehrmittelverlag.ch/GetAttachment.axd?attaName=Wasserreiche_Schweiz+_2 (14.11.2016). Bausinger, Hermann: Volkskultur in der technischen Welt, Frankfurt a. M./New York 1986 (Erstauflage: Tübingen 1961), S. 4. Bausinger, Volkskultur, S. 13–53.

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Titelbild von Wilde Wasser – Starke Mauern. Zürich: Silva-Verlag 1960.

Technik, Wissenschaft und Alltag in der Kulturwissenschaft etabliert. „Kulturwissenschaftliche Technikforschung“5 bzw. „Wissenschafts- und Technikforschung aus ­sozial- und kulturanthropologischer Perspektive“6 konzentrieren sich auf die „vielfältigen Rollen von Wissen und Technologie in modernen Gesellschaften“7 und fragen 5

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Vgl. Hengartner, Thomas: „Technik – Kultur – Alltag”. Technikforschung als Alltagskulturforschung, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 108 (2012), S. 117–139; Hengartner, Thomas/Rolshoven, Johanna (Hg.): Technik – Kultur. Formen der Veralltäglichung der Technik – Technisches als Alltag, Zürich 1998; Forschungskolleg Kulturwissenschaftliche Technikforschung, http://www.technik-kultur.uzh.ch/de.html (14.11.2016). Niewöhner, Jörg/Sørensen, Estrid/Beck, Stefan: Einleitung. Science and Technology Studies – Wissenschaftsund Technikforschung aus sozial- und kulturanthropologischer Perspektive, in: Beck, Stefan/Niewöhner, Jörg/Sørensen, Estrid: Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung, Bielefeld 2012, S. 9–48. Niewöhner/Sørensen/Beck, Einleitung, S. 9.

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nach den Umgangsweisen mit, den Implementierungen von und vice versa den Wahrnehmungen bzw. Bewertungen der Technik im Alltag. In diesem Sinn werden auch Staudämme neu perspektivierbar: Als materielle Bedingungen bestimmen sie die kulturellen Topographien des Landes sowie die subjektiven Normalitäten der Menschen; gleichzeitig sind sie selbst gesellschaftlich bedingt und werden reflektiert, bewertet, positiv bis euphorisch aufgenommen oder hartnäckig abgelehnt. Staudämme bringen Täler, Moore, Weiden, Wälder, Flüsse, Dörfer, Kirchen, Friedhöfe und Strassen zum Verschwinden, lassen gleichzeitig neue Seen, Infrastrukturen und Verkehrswege entstehen und schaffen Raum für veränderte Wahrnehmungen, Praxen, Erfahrungen, Beziehungen und Berufe.8 Durch den Bau von Staudämmen werden langjährige Selbstverständlichkeiten herausgefordert, neue Routinen müssen gefunden und etabliert werden.9 Dies alles steht im Zeichen der Moderne, die typischerweise mit Begriffen wie Dynamik, Ambivalenzen und Pluralitäten verbunden ist.10 Diesem Projekt auf der Spur sollen im Folgenden eben diese Veränderungen, Vielfältigkeiten, Widersprüche und Ambivalenzen komplexitätsorientiert – aus wechselnden Blickwinkeln – nachvollzogen werden. Unter der Perspektive der Dynamik wird der Wandel der Lebenswelten in ihrem konkreten Vollzug in ihrer jeweiligen Umgebung sichtbar; das Wissen um die Pluralitäten moderner Zusammenhänge sensibilisiert für die Beteiligung und Betroffenheit vieler und unterschiedlicher Personen an den Stauwerkprojekten. Und das Stichwort „Ambivalenzen“ öffnet Raum für den Nachvollzug von Vieldeutigkeiten, Widersprüchen und Widerständen, die mit den gesellschaftlichen Megaprojekten seit dem späten 19. Jahrhundert verknüpft sind. In Form eines „Memoryboard“ werden unterschiedliche Hinterlassenschaften zu Quellen einer kulturwissenschaftlich orientierten Technikgeschichte.11 Ohne interpretierend-auktorialen Kommentar sollen verschiedene Akteursgruppen vorgestellt werden, indem ihnen eine Stimme verliehen und eine Perspektive zugeordnet wird. Diese Form der Dramaturgie beabsichtigt, zugleich die alltäglichen Praxen, die (biographischen) Erfahrungen und die subjektiven Vorstellungen in ihren komplexen gesellschaftlichen Dynamiken, Pluralitäten und Ambivalenzen zu skizzieren. 8

Vgl. die Webseite „Versunkene Täler – neue Landschaften: Geschichte(n) der Stauseen in der Schweiz”, Kap. Visionen und Visualisierungen, http://www.verschwundene-taeler.ch/de/verschwundene-taeler/Visionen-und-Visualisierungen.html (15.11.2016). 9 Vgl. Parr, Joy: Sensing Changes, Technologies, Environments, and the Everyday, 1953–2003, Vancouver (Toronto) 2010, p. 2. 10 Vgl. Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 2005; Giddens, Anthony: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am Main 1995. 11 Vgl. http://interactive.nfb.ca/#/pinepoint (15.11.2016).

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Als Quellen liegen dem so entstehenden „Memoryboard“ auf Tonband dokumentierte Erzählungen, filmisch festgehaltene Erinnerungen, fotografische Präsentationen, zeichnerische Entwürfe, in amtlichen Dokumenten niedergelegte Beschlüsse, in Texten formulierte Darstellungen, literarisch verarbeitete Beobachtungen, wissenschaftliche Überlegungen sowie journalistische Kommentare zugrunde.

Stabilisierer: Die Behörden – Für die Gesundheit und den Wohlstand aller Die Öffentlichkeit war fasziniert vom Spektakel des ansteigenden Wassers, das eine ganze Landschaft verschlang. Nie mehr würden wir auf der bekannten Hängebrücke spielen, oder unseren Durst im Gasthof von Bad Bonn löschen können! Zu den Auswirkungen auf Natur und Landschaft kam das persönliche Schicksal der Bewohner, die zwangsumgesiedelt wurden und ihre Bauernhöfe verlassen mussten. / Und doch war man diesem Projekt gegenüber weitgehend positiv eingestellt. Auch ich teilte dieses Empfinden. Gewiss, das Saanetal von Freiburg flussabwärts verschwand – und doch trat es nur zurück, um einer neuen Landschaft Platz zu machen, die sich mit einem idyllischen, schönen See schmücken würde. Aber nicht mit irgendeinem See, denn im Gegensatz zu anderen Staumauern, welche vor der Schneeschmelze nicht selten wie Mondlandschaften aussehen, würde dieser neue See das ganze Jahr gefüllt sein mit Wasser, mit einem technischen Meisterwerk, welches das Wasser von der Höhe der Krone der Staumauer bezieht. Überdies konnten die umliegenden Gemeinden von einer nie dagewesenen Bekanntheit träumen und sich über die Benennung dieses neuen geographischen Orts streiten. Auch wenn der Volksmund das Saanetal als Graben bezeichnete – die Deutschschweizer reden vom ‚Röstigraben’ – schüttete der See – symbolisch – diesen Einschnitt der Landschaft zu. Natürlich gab es da früher einige Flussübergänge – die Pfarrei Bärfischen erstreckte sich über das gegenüberliegende Ufer hinweg – aber der neue See hat die Begegnung der beiden Kulturen begünstigt, weil er die Landschaft glättete. […] Heute, fünfzig Jahre nach seiner Einrichtung, kann der Schiffenensee stolz sein, nicht nur zwei Kulturen, sondern auch zwei Epochen verbunden zu haben. Es ist bemerkenswert, dass die Staumauer von Schiffenen mit einem halben Jahrhundert Vorsprung die Rückkehr zu erneuerbaren Energien gefördert und uns eine Lektion in Sachen Nachhaltigkeit erteilt hat; eine Lektion, wie wir sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts dringend benötigen. […] Der Schiffenensee – ein Wegbereiter für die Begegnung von Epochen und Kulturen. Er zeigt uns, dass unsere lokalen Bemühungen Teil der grossen Herausforderungen sind, die unsere heutige Welt bewegen.12

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Verein O.S.K.A.R. (Hg.): Schiffenensee. Das versunkene Saanetal, Schmitten 2011, S. 9.

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Joseph Deiss, ehemaliger Bundespräsident und Bundesrat der Schweiz, erinnert sich lebhaft an die Flutung des Saanetals, die den Fluss in einen See verwandelt. Im Jahr 2012 präsentiert er als (ehemaliger) behördlicher Vertreter einen – fast schon euphorischen, sicher aber durchweg optimistischen – Standpunkt hinsichtlich der wasserwirtschaftlichen Grossunternehmen. Eine Sichtweise, wie sie schon 1931 bezüglich der Planung des Sihlseeprojekts vom damaligen Regierungsrat August Bettschart formuliert wurde: „Es ist [...] die grosse Kunst, zwischen Fortschritt und Beharrung, Technik und Ethik, Maschine und Mensch die gesunde Mitte einzuhalten.“13 Die gesunde Mitte soll es ermöglichen, Industrie und Landwirtschaft miteinander zu versöhnen14, denn durch die wachsenden Städte, die sich über das ganze Land mit einem weiten Streckennetz ausdehnende Eisenbahn, durch den damit stetig steigenden Energieverbrauch wird die Suche nach neuen Ernergiequellen vorangetrieben. Persönliche Interessen müssen dabei hinter dem nationalen Wohl zurückstehen. Allgemeinheit geht vor Individualität.15 Und letztlich reissen Staudämme auch bisherige Grenzen ein: regionale, kulturelle, wirtschaftliche und soziale Unterschiede werden genauso untergehen wie die gefluteten Gebiete. In diesem Sinn rechtfertigt sich die „Innenkolonisation“ der Schweiz, die mit den Staudammprojekten einhergeht. Die Baupläne für die neuen Siedlungen und Häuser sollen verdeutlichen, welcher Fortschritt mit der Umsiedelung auch für die Bevölkerung selbst verbunden ist. Denn damit bietet sich ihnen die Chance auf eine modernere und gesündere Lebensweise.16 Für die Operationalisierung der Umsiedelung war die Schweizerische Vereinigung für Innenkolonisation und industrielle Landwirtschaft (SVIL) zuständig. 1918 von Hans Bernhard, damals Dozent für Siedlungs- und Wirtschaftsgeographie an der Universität Zürich, als gemeinnütziger Verein gegründet, wollte die SVIL durch den Bau von neuen Wohnhäusern in den ursprünglichen Siedlungsgebieten – meist oberhalb oder am Ufer der neuen Stauseen – wesentlich zur Entwicklung der Landwirtschaft und zur Verbesserung der Lebensbedingungen auf den Bauernhöfen beitragen17. Immer wieder und bald grundsätzlich wurde die SVIL involviert, wenn es zu Stauseeprojekten mit grossen Zwangsumsiedelungen kam.18 13 14 15

16 17 18

Saurer, Karl (Hg.): Der Sihlsee. Eine Landschaft ändert ihr Gesicht, Zürich 2002, S. 84. Saurer, Sihlsee, S. 84. Vgl. die Webseite „Versunkene Täler – neue Landschaften: Geschichte(n) der Stauseen in der Schweiz”, Kap. Die Projektierung, http://www.verschwundene-taeler.ch/de/verschwundene-taeler/Die-Projektierung.html (15.11.2016). Vgl. Saurer, Sihlsee, S. 76 f. Saurer, Sihlsee, S. 76 f. Vgl. die Webseite „Versunkene Täler – neue Landschaften: Geschichte(n) der Stauseen in der Schweiz“, Kap. Vorbereitungsarbeiten und Umsiedlung, http://www.verschwundene-taeler.ch/de/verschwundene-taeler/ Vorbereitungsarbeiten-und-Umsiedlung0.html (15.11.2016).

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Umsiedlungs- und Ersatzplan für das Sihlsee-Projekt von Hans Bernhard, dem Gründer der „Schweizerischen Vereinigung für Innenkolonisation und industrielle Landwirtschaft“, 1936. Aus: Saurer, Karl: Der Sihlsee. Zürich 2002, S. 80.

Die Behörden versuchen nicht zuletzt auch über symbolische Handlungen der Bevölkerung – gerade im Hinblick auf den neu entstehenden See – ein Angebot zur eigenen Neu-Verortung zu machen. Beim Bau des Stauwerks von Rossens – in den 1940er-Jahren – werden bewusst und gezielt die BewohnerInnen der Region aufgefordert, einen passenden Namen für die geflutete Landschaft zu (er-)finden. Mit dem Namen „Lac de Gruyère“ bzw. „Greyerzersee“, den der Regierungsrat unter den vielfach eingegangenen Vorschlägen auswählt, ist der Boden für ein neues regionales Gemeinschaftsverständnis gelegt.19 Behörden und Bevölkerung finden sich in der gemeinsamen Namensgebung.

Pragmatiker: Die Ingenieure – Verkörperung von Für und Wider Pensons aussi que ces aménagements hydro-électriques et le dévouement généreux de ceux qui y travaillent servent à l’amélioration des conditions de vie des habitants – indigènes – des hautes vallées. La vie redevient possible dans ces hauts villages des Alpes, parce que les caisses communales utilisent pendant la durée des concessions des revenus provenant des redevances et des impôts, afin de construire et d’entretenir des réseaux d’eau potable et d’égouts, des maisons d’école, des églises, des voies de communication, le payement de l’apprentissage, etc. [...] Que ceux qui bénéficient du confort créé par la vie rude des hommes, là-haut, pen19

Vgl. die Webseite „Versunkene Täler – neue Landschaften: Geschichte(n) der Stauseen in der Schweiz“, Kap. Symbole des Verschwundenen und kollektive Erinnerung, http://www.verschwundene-taeler.ch/de/verschwundene-taeler/Symbole-des-Verschwundenen-und-kollektive-Erinnerung.html (15.11.2016).

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sent souvent à eux dans la lumière, la chaleur du foyer, et dans le ronronnement des moteurs qu’ils utilisent.20

Fortschritt, Verbesserung der Lebensbedingungen und Dankbarkeit, die das neue Leben im Schatten eines Staudamms begründen und begleiten werden, legitimieren die Pläne und das Tun der involvierten Ingenieure. Dass es mit dieser Dankbarkeit und der Einsicht in die bessere Zukunft von Seiten der Bevölkerung allerdings nicht immer weit her ist, zeigt aus Sicht der Ingenieure das Beispiel der Talschaft Urseren. Widerstand regt sich gegen das geplante Projekt, die Gemeinden Andermatt, Hospental und Realp für einen neuen Stausee zu überschwemmen. Der vom Geist der Moderne getragene und getriebene zuständige Ingenieur Karl J. Fetz, der häufig vor Ort zugegen und zugange ist, wird konsequenterweise zur Inkarnation des zu bekämpfenden Projekts. Er wird zur Zielscheibe erboster Gegenstimmen und tätlicher Angriffe: Im Februar 1946 wird „der Ingenieur [...] von der wütenden Masse mit Faust- und Fusstritten traktiert. Der Tumult führt zum Eingreifen der Armee. Etwa 20 beteiligte Personen werden 1948 vor Gericht gestellt, angeklagt und freigesprochen.“21 Nach ein paar weiteren Vorstössen und einer Konzessionsanfrage beim Kanton Uri durch die ausführende Wasserwirtschaftsgesellschaft wird das Projekt im Mai 1946 endgültig fallen gelassen.22 Verlaufen die Verhandlungen und Vorabklärungen der unterschiedlichsten Spezialisten – darunter Ökonomen, Juristen, Politiker und Naturwissenschaftler –, die den Strom- und den Wasserbedarf, die Rentabilität und die Umwelteinflüsse an einem Standort analysieren, friedlicher und erfolgreicher, und sind letztendlich die Genehmigungen erteilt, müssen die Ingenieure die technische Machbarkeit eines Projekts nachweisen und umsetzen. Sie übernehmen damit die Verantwortung, sowohl für die Sicherheit des Bauwerks als auch für dessen konkrete Ausführung.23 Eine komplexe Logistik, die dem Organisationstalent der Ingenieure unterliegt, muss entworfen, entwickelt und etabliert werden: Die gesamte Infrastruktur eines Ortes steht in nächster 20 21

22 23

R. Bovin, Ingenieur, in: Guex, André: Barrages, Lausanne 1956, S. 170. Webseite „Versunkene Täler – neue Landschaften: Geschichte(n) der Stauseen in der Schweiz“, Kap. Verhandlungen, Vernehmlassungen, Abstimmungen – Nicht realisierte Projekte in Urseren und Rheinwald, http:// www.verschwundene-taeler.ch/de/verschwundene-taeler/Verhandlungen--Vernehmlassungen--Abstimmungen/Les-projets-avort-s-du-Rheinwald-et-d-Urseren.html (15.11.2016). http://www.verschwundene-taeler.ch/de/verschwundene-taeler/Verhandlungen--Vernehmlassungen--Abstimmungen/Les-projets-avort-s-du-Rheinwald-et-d-Urseren.html (15.11.2016). Vgl. die Webseite „Versunkene Täler – neue Landschaften: Geschichte(n) der Stauseen in der Schweiz“, Kap. Die Projektierung, http://www.verschwundene-taeler.ch/de/verschwundene-taeler/Die-Projektierung.html (15.11.2016).

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Zukunft im Zeichen des Staudammbaus. „Strassen, Seilbahnen, Stromleitungen, Tunnels, Umleitungspassagen, Brücken, Zementfabriken und Ladeposten“ gehören zu den wichtigen Grundlagen für das Gelingen des Grossprojekts; „mehrere Dämme, Wasserversorgungsstellen, Pumpstationen, Brunnen und Auffangbecken [müssen] gebaut werden [...], die wiederum durch kilometerlange Passagen verbunden werden. Es muss sichergestellt werden, dass der Boden das Gewicht der Staumauer aushält. Gegebenenfalls muss dieser mit Bohrungen oder Betoneinspritzungen verbessert und gestützt werden. Verschiedene Nebenbaustellen zum Bau von Hochwasserentlastungsanlagen, Abflussrohren und Wasseranschlüssen entstehen“; „Hunderte, wenn nicht gar Tausende Handwerker werden mobilisiert“; „riesige Mengen an Material und Maschinen müssen verwaltet werden“24; die Zukunft beginnt.

Imagineure: Die Visionäre – mit Blick auf die Zukunft und auf das kommende Glück Das Sihltal präsentiert sich uns heute als langgestreckte, braungelbe, düstere Ebene, als tote Tiefe, die stellenweise von weithin sichtbaren Schuttfluren unterbrochen ist. Einen ganz andern Anblick wird die Gegend gewähren, wenn einmal der Stausee vorhanden ist. Während jetzt dieses hochgelegene, sumpfige Tal in keiner Jahreszeit das menschliche Gemüt zu erfreuen vermag, werden dann die so schönen, teils mit Weiden, Häusern und Hütten besäten Berg­ abhänge die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich ziehen und sie werden einen wundervollen Rahmen bilden zu dem an ihrem Fusse sich ausdehnenden See. Niemand wird sich die Moore zurückwünschen, wenn beim Aufgang der Sonne das Frühgold auf des Sees sanft gekräuselter Fläche erzittert und das klare Spiegelbild der benachbarten Bergriesen dem sinkenden Tagesgestirn das letzte Lebewohl zuwinkt.25

1903 entwirft der Geograph Max Düggeli ein kontrastreiches Bild des Sihltals. Wie viele visionäre Männer – vor und nach ihm – imaginiert er bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts das zeitgenössische Elend und das kommende Glück, das mit den Staudämmen verbunden ist: In düsteren Farben wird der aktuelle Zustand gezeichnet, 24

25

Vgl. die Webseite „Versunkene Täler – neue Landschaften: Geschichte(n) der Stauseen in der Schweiz“, Kap. Der Kraftwerkbau, http://www.verschwundene-taeler.ch/de/verschwundene-taeler/Der-Kraftwerkbau.html (15.11.2016). Webseite „Versunkene Täler – neue Landschaften: Geschichte(n) der Stauseen in der Schweiz“, Kap. Visionen und Visualisierungen, http://www.verschwundene-taeler.ch/de/verschwundene-taeler/Visionen-und-Visualisierungen.html (15.11.2016).

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in leuchtenden Sphären die Zukunft gesehen. Noch poetischer fasst die Vision der neuen, guten Welt der Einsiedler und Mundartdichter Meinrad Lienert (1865–1933) wenige Jahre nach Düggeli – 1909 – in seinem Gedicht „Sihlsee“26: I gseh di lang scho i dä Träume Sihlsee, Bärgwasser klar und blo; und wien äs Lüftli chunnt cho fäume äs Morgenäbeli dervo; Und wie das a dä Tannebäume ufstygt und äntli muess vergoh. Das git ä See für mynesglyche, wo gäre bloi Wasser hend, und gäre tüend dur d’Stuude stryche, wo still und heimli Rose stönd. Wo’s Aug voll hend vo Zaubersprüche, as d’Wasserfraue ufechönd. O Seeli, villicht g’sehn is nümme, wie d’spieglist mys grüen Heimedland! Wie gääre köirti d’Gloggestimme, wänn’s spoot druf g’speisted umenand. Da wetti wyt driuse schwimme, bis löscht im Härz dr Heiwehbrand.27

Getragen von ihrer Vision und den damit verbundenen Hoffnungen spiegeln die Imagineure der Staudämme in den entworfenen Seen sowohl gigantische Berge als auch eine höhere Zukunft.

26 27

Lienert, Meinrad: Schwäbelpfyffli. Gedichte, Bd. 1: Dur d’Stuude us!, Aarau 1909. „Ich sehe dich schon seit langem in meinen Träumen, Sihlsee; Bergwasser, klar und blau; und ich sehe, wie ein Luftzug den Morgennebel davonträgt; und wie er an den Tannenbäumen aufsteigt und endlich vergehen muss. Das wird ein See werden für meinesgleichen, die blaues Wasser lieben, und gerne durch die Büsche streichen, wo still und heimlich Rosen blühen. Deren Augen voller Zaubersprüche glänzen, sodass die Wasserfrauen wieder aus dem Wasser aufsteigen. Oh, kleiner See, vielleicht werde ich es selber nicht mehr sehen, wie du mein grünes Heimatland widerspiegelst! Wie gerne würde ich die Glockenstimmen hören, wenn sie viel später hin und her geistern. Dann möchte ich weit draussen schwimmen, bis der Heimwehbrand in meinem Herzen gelöscht wäre.“ [Übersetzung se]

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Wehmütige: Die AnwohnerInnen – Im Paradies gab es keine Autos und keine Äpfel Es isch en Idylle gsi, die Göscheneralp e Stück wiit vo dr Natur här, die Bäch mit Forälle, wo me wirklich het chönne ga packe unter de Schtei und so; und zum Schpiele verusse, me het eifach d’Fryheit kha als Chind, bisch dusse gsi; me het Schtei kha, e Huufe grossi und chlini, wo me het chönne Versteckis mache; und jo, eifach Bluemewiese im Früehlig oder d’Krokus im Früehlig, nachedhär die Bluemewiese, dr Duft, oder, wenn’s de kheibet hent und me het jo immer chönne dusse si …28

Geht der Blick der Visionäre, Ingenieure und Behördenvertreter nach vorn, wendet sich derjenige der BewohnerInnen der betroffenen Täler zurück: Idyllisierung, Heimweh, Melancholie und Fassungslosigkeit charakterisieren die Gefühle vieler Bewohner­ Innen, die sich noch an die früheren Dörfer und Orte – vor dem Stauwerkbau – erinnern. Auch wenn das Leben hart und oft beschwerlich war, ist mit dem Wegzug vorerst Trauer und Verlust verbunden: Ein Sterben ist gegenwärtig in unserem Sihlseegebiet. Eine Wohnstätte um die andere verschwindet. Wehmutsvoll betrachtet man deren Niederreissen. Wenn kahl die Dachrassen durch das Gebiet Ausguck halten, schnürt es einem fast das Herz zusammen. Lebt wohl, alte, traute, gemütliche Wohnstätten, welche noch freien Menschenkindern Brot, wenn auch vielfach ein klägliches verschafften, aber dennoch ein unabhängig Menschendasein boten, wo Liebe die Sorgen verscheuchte.29

Viele gehen deshalb auch erst im letzten Moment, wie das Beispiel von Rossens – am neu entstehenden Greyerzersee – vom 8. Mai 1948, eindrücklich zeigt: Nous nous sommes rendus au vieux pont de Thusy, le revoir une dernière fois, puisque nous avons reçu l’avis de son prochain décès. Tout autour de lui, ses plus fidèles amis défilent et ne 28

29

Steiner, Martin: Alte Göscheneralp, Erzählungen und Bilder zur Zeit vor dem Stausee (1920–1955), Altdorf 2008, CD Track 2, 0:00–0:30 min. [Transkription se]; „Es war eine Idylle, die Göscheneralp, im Hinblick auf die Natur; die Bäche mit den Forellen, die man wirklich selbst packen konnte unter den Steinen und so; und um draussen zu spielen, hatte man einfach die Freiheit als Kind, man war einfach draussen; es gab Steine, viele grosse und kleine, in denen man Verstecken spielen konnte; und ja, die Blumenwiesen im Frühling oder die Krokusse im Frühling, und eben die Blumenwiesen, der Duft, nicht wahr, wenn sie angefangen haben zu blühen und man konnte einfach immer draussen sein...“ [Übersetzung se] Einsiedler Anzeiger 19.03.1937, in: Saurer, Sihlsee, S. 85.

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peuvent détourner de lui un regard reconnaissant. Des chars, des autos, des piétons veulent encore le franchir une dernière fois et brassent l’eau jusqu’à mi-jambe. Des conseillers d’État se font conduire à son chevet et ce témoignage rendra son agonie plus douce. Le vieux pont submergé de toute part va s’enfoncer lentement dans un éternel sommeil.30

Obwohl es in unterschiedlichen Gegenden immer wieder zu erfolgreichen Protesten gegen geplante Stauwerke kommt, formiert sich in anderen Gemeinden kein wirksamer Widerstand. Dafür gibt es ganz unterschiedliche Gründe: Schulden der Gemeinde, Armut, Uneinigkeit, Katastrophen – wie im Fall des aussergewöhnlichen Lawinenwinters auf der Göscheneralp 195131 – sowie ungenügende juristische Kenntnisse bzw. die Überwältigung der BewohnerInnen durch die Komplexität des Planungs-, Verkaufs- und Bauprozesses und seiner Folgen lassen reelle Chancen auf eine aussichtsreiche Offensive von Seiten der Bevölkerung versanden.32 Immerhin wird oft zwischen den Eigentümern und den Unternehmen bzw. den zuständigen Behörden zäh verhandelt, wenn es um die Entschädigungen für die überschwemmten Besitztümer geht.33 Als Glück für die Behörden und UnternehmerInnen, als Pech für die BewohnerInnen erweisen sich Naturkatastrophen oder der Verzicht der Bauern auf Realland-Ersatz. Beides ermöglicht eine reibungslose und günstige finanzielle Abgeltung der benötigten Landstücke.34 Religiöse Akte helfen beim Abschiednehmen: In der alten Kapelle von Salanfe (Kapelle von Barmaz) liest der Domherr Jean-Marie Boitzy eine letzte Messe, noch kurz vor dem Einlassen des Wassers in den neuen Stausee.35 Ist der Abschied und der Wegzug auch schmerzlich, ermöglicht er gleichzeitig neue Erfahrungen und öffnet Horizonte, die bisher weder erkenn- noch vorstellbar gewesen waren: Nochhär hie use do isch eifach alles e chli komisch gsi; isch eifach e ganz e anderi Wält gsi. Oder, hesch jo devore nie e Bäim gseh, nie ä Öito gseh; z’ Erscht isch gsi, wo-n-ich do ane cho 30 31 32 33

34 35

Barras, P., in: Gasser, Bernard/Gremaud, Michel: Ogoz, de la cite à l’île, Le Bry 2014, pp. 73–74. Steiner, Alte Göscheneralp, CD Track 10. Vgl. Saurer, Sihlsee, S. 68. Vgl. die Webseite „Versunkene Täler – neue Landschaften: Geschichte(n) der Stauseen in der Schweiz“, Kap. Vorbereitungsarbeiten und Umsiedlung, http://www.verschwundene-taeler.ch/de/verschwundene-taeler/ Vorbereitungsarbeiten-und-Umsiedlung0.html (15.11.2016). Vgl. Verein O.S.K.A.R., Schiffenensee, S. 249. Vgl. die Webseite „Versunkene Täler – neue Landschaften: Geschichte(n) der Stauseen in der Schweiz“, Kap. Symbole des Verschwundenen und kollektive Erinnerung, http://www.verschwundene-taeler.ch/de/verschwundene-taeler/Symbole-des-Verschwundenen-und-kollektive-Erinnerung.html (15.11.2016).

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Letzte Messe in Salanfe kurz vor dem Einlassen des Wassers, ca. 1950. © Archiv der Abtei St. Maurice.

bi, uf d’Bäim ufechräsmet; oder mir sind jo grad im Herbscht simmer jo uf Chägiswil cho und do isch natierli Äpfel, das isch de eppis gsi. Das isch e Delikatäss gsi.36

Verändert der See die Landschaft, so verändert er auch die früheren Berg- und TalbewohnerInnen. Er ändert ihre Häuser, er ändert ihre Arbeitsabläufe und ihren Alltag, er ändert ihre Berufe, er ändert ihre Vorstellungen von sich und der Welt, er ändert ihre Ernährung, ihre Mobilität und ihre Freizeit.37 Konsequent erklärt 1938 ein junger Lehrer seinen Schülern in Willerzell am Ufer des Sihlsees:

36

37

Steiner, Alte Göscheneralp, CD, Track 12: 3:47–4:10 min. [Transkription se]; „Danach war hier draussen [ausserhalb des Tals] alles einfach ein wenig seltsam für uns; es war einfach eine ganz andere Welt, nicht wahr. Wir hatten davor ja nie einen Baum gesehen, nie ein Auto gesehen; das Erste, was ich gemacht habe, als ich hierhergekommen bin, war, dass ich auf die Bäume geklettert bin; wir sind ja genau im Herbst nach Kägiswil gekommen und da gab es natürlich gerade Äpfel, das war etwas sehr Besonderes. Das war eine Delikatesse.“ [Übersetzung se] Vgl. Parr, Sensing Changes, p. 5–6.

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So, Buebe und Meitschi, jetzt simmer es Seedorf. Jetzt müend er alli lehre schwimme!“38 Die Bergkinder schrien auf. Ins Wasser sollten sie steigen? Schwimmen sollten sie lernen?! Auch die Eltern reagierten mit Entsetzen. Sie packten ihre Mistgabeln und Reisigbesen und jagten den wahnsinnigen Schulmeister aus dem Dorf. Das Wasser war für die Taufe gut, einmal im Monat zur Wäsche und einmal im Jahr zum Baden — punctum. Aber in den See steigen, nein, das kam für einen guten Christenmenschen nicht in Frage!39

Wenn auch langsam, so doch stetig gewöhnen sich die BewohnerInnen an ihre neuen Lebenssituationen. Mit der Gewöhnung entstehen auch neue Routinen, mit der veränderten Infrastruktur neue Bedürfnisse. Aus ehemaligen Bauern, Land- und FeldarbeiterInnen werden SeebewohnerInnen und TourismusexpertInnen.40

Transformierte: Die ArbeiterInnen – Vom Feld, Wald und Hof hinauf auf die Baustelle 1962 wurde das Land des Kleinbauernbetriebes für den Bau der Staumauer benutzt. Ein Barackendorf für die Arbeiter wurde erstellt. Erdverschiebungen wurden gemacht, Kies aus dem Boden geholt und Füllmaterial eingefüllt. Hans hatte keine Existenz mehr; und das sahen auch die Bauherren. Hans wurde als Maschinist auf der Baustelle angestellt. Als 1964 das Kraftwerk in Betrieb ging, wurde er als Maschinist in der Zentrale Schiffenen angestellt.41

Ein Stauwerk benötigt Hunderte von Arbeitern, einheimische Kräfte und auswärtige Gastarbeiter – aus anderen Kantonen und meist aus Italien –, die die unterschiedlich­ sten Verrichtungen auf den riesigen Baustellen ausführen: Noch nie in der ganzen Geschichte, nicht einmal zur Zeit der Franzosenkriege, hatte das Tal einen solchen Rummel erlebt. Für die unzähligen Arbeiter aus dem In- und Ausland entstanden grosse Barackendörfer. Es gab Kinoleinwände, Theaterbühnen und Kantinen und ein Notspital. Sämtliche Gasthäuser im Vorder- und Innerthal liefen wie geschmiert. Dutzende von 38 39 40

„So, meine Kinder, jetzt sind wir ein Seedorf. Jetzt müsst ihr alle schwimmen lernen!“ [Übersetzung se] Saurer, Sihlsee, S. 174. Vgl. die Webseite „Versunkene Täler – neue Landschaften: Geschichte(n) der Stauseen in der Schweiz“, Kap. Der aktuelle Umgang mit den Kraftwerkbauten, http://www.verschwundene-taeler.ch/de/verschwundene-taeler/Der-aktuelle-Umgang-mit-den-Kraftwerkbauten.html (15.11.2016). 41 Hans Bachofner, Jahrgang 1940, Kleinbösingen, Maschinist in der Zentrale, Werk Schiffenen. In: Verein O.S.K.A.R., Schiffenensee, S. 215.

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Bauarbeiten für den Stausee Pfaffensprung (UR), ca. 1921. Fotograf: Ernst Brunner, © Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde.

Auswärtigen witterten Goldgräberstimmung und lösten Wirtepatente für weitere Restaurants. Es gab normale und auch alkoholfreie Gasthäuser. In vielen Familien verdiente man sich ein paar Franken dazu, indem man Kostgänger aufnahm. Die Betten wurden im Schichtbetrieb weitergereicht: Verliess ein Arbeiter das Bett, um seine Schicht anzutreten, stand bereits ein anderer Arbeiter bereit, um müde in das noch warme Bett zu schlüpfen. […] Die Arbeiten waren bald auf allen Baustellen gleichzeitig voll im Gang. Wie viele andere Wägitaler Burschen beteiligten sich jetzt auch Xaver und Dölf daran. Xaver arbeitete auf der Baustelle der Staumauer mit, wo Tag für Tag im Schichtbetrieb betoniert wurde. Dölf betätigte sich als Mineur im Berg, sprengte Gesteinsmaterial heraus und schaufelte es auf eine Art Förderband, mit dem es abgeführt wurde. So entstanden Tunnels, in die die Röhren für die kilometerlangen Druckstollen eingezogen wurden. Durch die Druckstollen würde das Wasser später zum Rempen und ganz nach vorne in die Eisenburg geleitet, und schliesslich von dort steil nach unten zur Kraftwerkszentrale in Siebnen, um einen idealen Wasserdruck auf die Turbinen zu erzeugen.42 42

Hüppin, Beat: Talwasser. Roman, Basel 2016, S. 95 f.; vgl. die Webseite „Versunkene Täler – neue Landschaften: Geschichte(n) der Stauseen in der Schweiz“, Kap. Der Kraftwerkbau, http://www.verschwundene-taeler. ch/de/verschwundene-taeler/Der-Kraftwerkbau/Vie-et-travail.html (15.11.2016).

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Männer, die bisher auf dem Feld, in den Wäldern und auf dem Hof gearbeitet haben, die als Handwerker und Fischer tätig waren, verdienen nun auf den Stauwerkbaustellen ihr Einkommen unter extremen Bedingungen.43 Sie sind jetzt Bauarbeiter, Zimmermänner, Mineure, Köche, Bürokräfte, Postboten, leben im Winter in Baracken und Iglus, sind zahlreichen Gefahren ausgesetzt und befinden sich plötzlich in einem multikulturellen Umfeld.44 Neue soziale Gruppen bilden sich, neue Beziehungen werden geknüpft, ein neues Miteinander muss erprobt und ausgehandelt werden. Agnes, eine der Hauptfiguren in Beat Hüppins Roman „Talwasser“, macht ihre eigenen Erfahrungen: So begann sie seufzend: „Da war halt einer auf der Baustelle. Du weisst vielleicht nicht, dass ich im Lohnbüro als Hilfskraft gearbeitet habe.“ „Du meinst bei der Staumauer?“ „Natürlich, wo denn sonst? Jedenfalls, bei den Lohnauszahlungen muss ich ihm aufgefallen sein, und dann hat er sich bei mir eingeschmeichelt. Ein Italiener. Ein Heissblütiger. Die sind da in der Fremde am Arbeiten und haben keine Frauen.“ „Verstehe. Und du hast ihn nicht gleich fortgejagt?“ „So wie er zu mir gekommen ist, war er schon charmant. Er sah auch nicht schlecht aus. Ich war gerade neunzehn Jahre alt geworden. Ich tat sowieso am liebsten gerade die Dinge, die mir mein Vater verboten hatte. Der Italiener lud mich ins Kino im Barackendorf ein. Was für ein Film gezeigt wurde, weiss ich nicht einmal mehr. Dann ergab sich aus dem Einen das Andere, wie bei dir.“ „Verstehe vollkommen.“ „Es ging alles so rasch, da gab es kein Zurück mehr.“ „Und er?“ „Hat sich aus dem Staub gemacht, der Feigling. Gut, geheiratet hätte ich ihn sowieso nicht. Und doch, einem so jungen Mädchen ein Kind anzuhängen und sich dann davonzumachen, das ist schon nicht ganz die feine englische Art.“ „Hast du nie probiert, ihn ausfindig zu machen? Den Namen hättest du ja gehabt.“ „Wozu? Es hat doch keinen Zweck. Das Leben geht auch so weiter. Ich war damals zu naiv, meinen Fehler muss ich auf meine Kappe nehmen. Ich muss damit leben, dass nun manche Leute schlecht von mir denken.“45

Die Erlebnisse sind prägend und reichen über das Leben auf der Baustelle hinaus. Olivier Morard, der seinerzeit im Wallis an den verschiedenen Stauwerken mitgearbeitet hat, gründete im Nachgang einen Verein, in dem sich ehemalige Bergmänner an die 43 44

45

Vgl. Parr, Changes, 9. 5. Vgl. die Webseite „Versunkene Täler – neue Landschaften: Geschichte(n) der Stauseen in der Schweiz“, Kap. Der Kraftwerkbau – Leben und Arbeiten, http://www.verschwundene-taeler.ch/de/verschwundene-taeler/ Der-Kraftwerkbau/Vie-et-travail.html (15.11.2016). Hüppin, Talwasser, S. 215–216.

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Zeit auf den Baustellen erinnern. Einmal pro Jahr feiern sie gemeinsam den Tag der Heiligen Barbara – der Schutzpatronin der Mineure – und gedenken so ihrer ereignisreichen Zeit beim Bau der Walliser Staudämme.46

Modernisierungskritiker: Die Heimat- und Naturschützer – gegen die indust­rielle Zerstörungswut Il y a bien des années – c‘était en 1913 – au retour d‘une course au pâturage de Salanfe, j‘avais lancé, dans la Semaine littéraire, un cri d‘alarme: Salanfe, l‘alpage romand par excellence, était menacé: un industriel projetait d‘en faire un réservoir destiné à actionner ses usines à Vernayaz. La Suisse romande s’émut à la nouvelle de ce danger. Ce mouvement d’opinion suffit-il à sauver ce lieu, qui, pour beaucoup d’entre-nous, était sacré?47

Postkarte, Salanfe/Tour Sallière, 1920. Private Sammlung von Nicolas Mettan, Evionnaz, 46

Vgl. die Webseite „Versunkene Täler – neue Landschaften: Geschichte(n) der Stauseen in der Schweiz“, Kap. Symbole des Verschwundenen und kollektive Erinnerung, http://www.verschwundene-taeler.ch/de/verschwundene-taeler/Symbole-des-Verschwundenen-und-kollektive-Erinnerung.html (15.11.2016). 47 Louis Debarge, Journal de Genève, 10.09.1930, in: Webseite „Versunkene Täler – neue Landschaften:

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Salanfe, im 19. Jahrhundert von Alpinisten und intellektuellen Bergliebhabern als „Paradies“ entdeckt, steht während des Stauwerkprojekts, das dort geplant ist, ganz im Zeichen einer idealistischen Vision der Alpen und eines romantisch gefärbten Naturschutzgedankens, der zahlreiche Städter im Kampf gegen die industrielle Zerstörungswut vereint. Das Zubetonieren der Alpen, der Verlust der Heimat und Natur bilden die Eckpunkte für Heimat- und Naturschützer, die oft im Kampf gegen unterschiedliche Staudammprojekte aktiv werden. Mitte der 1940er-Jahre formulieren bekannte Journalisten, Fotografen, Maler, Schriftsteller und der Präsident der Schweizer Liga für Naturschutz, Charles J. Bernard, verschiedene Texte, um die Öffentlichkeit auf das Salanfe-Projekt aufmerksam zu machen und sie gleichzeitig dagegen zu mobilisieren.48 Interessanterweise befürworten die damaligen NaturschützerInnen die Atomenergie als valable und weitaus weniger problematische Alternative zur Wasserkraft. Die Einsprachen erreichen zwar die Bundesbehörden, werden aber mit dem Hinweis auf die volkswirtschaftliche Wichtigkeit der hydraulischen Energieprojekte zurückgewiesen.49

Mystifizierte: Wiedergänger – die Angst vor den aufgescheuchten Seelen Das Bad Bonn wurde Anfang November 1963 von der Firma Losinger gesprengt. Am 9. November 1963 wurde eine Schiessdemonstration des Militärs durchgeführt, bei welcher das Bad Bonn bis auf das Waschhaus bodeneben war. Erst dann wurde die Gegend geflutet, und das Wasser verschluckte den Ort mit seiner Geschichte und bewahrt die Erinnerungen auf dem Grund des Sees.50

Geschichte(n) der Stauseen in der Schweiz“, Kap. Verhandlungen, Vernehmlassungen, Abstimmungen, Kampf um Natur- und Landschaftsschutz, http://www.verschwundene-taeler.ch/de/verschwundene-taeler/ Verhandlungen--Vernehmlassungen--Abstimmungen/Luttes-pour-la-protection-de-la-nature-et-du-paysage.html (14.11.2016). 48 Schweizer Liga für Naturschutz/Ligue suisse pour la protection de la nature (Hg.): La cascade de Pissevache et le plateau de Salanfe doivent être sauvés!, Basel 1947. 49 Vgl. Mettan, Pierre-François: Salanfe ou L’histoire d’une convoitise, Evionnaz 1991; Webseite „Versunkene Täler – neue Landschaften: Geschichte(n) der Stauseen in der Schweiz“, Kap. Verhandlungen, Vernehmlassungen, Abstimmungen – Kampf um Natur- und Landschaftsschutz, http://www.verschwundene-taeler.ch/ de/verschwundene-taeler/Verhandlungen--Vernehmlassungen--Abstimmungen/Luttes-pour-la-protectionde-la-nature-et-du-paysage.html (15.11.2016). 50 Hanspeter Blaser, Jahrgang 1942, Düdingen, Sohn eines Landwirts in Staad, in: Verein O.S.K.A.R., Schiffenensee, S. 74.

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„Le lac de la Gruyère – il était si bas“, 2012, © Chantal Codourey Piguet, Maules www.notrehistoire.ch.

Viele Orte, die nach der Errichtung eines Staudamms geflutet werden, sind bereits vorher „bodeneben“ abgebrochen worden. Um zu verhindern, dass die geflutete Erinnerung und die dort einst gelebte Geschichte vom Grund des Sees wieder auftauchen – entweder in Form von Baumgerippen oder als regelrechte Wiedergänger – soll die Zerstörung der Häuser und Kirchen sorgen. Im Extremfall wird gar der Friedhof zubetoniert.

Vom Stausee verdrängt – vom Stausee geschenkt

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Film-Still aus „Les Revenants“, ca. 2015, © Canal +.

Trotzdem bleiben die Erinnerungen und die Geschichte(n) präsent und beschäftigen die Phantasie nicht nur der ehemaligen BewohnerInnen eines überschwemmten Dorfes. Am Greyerzersee geht die Sage, dass jeweils nachts die Seelen der Pestopfer von 1348 ihr Unheil treiben, weil sie den Menschen ihre gestörte Ruhe und die Schändung ihrer Überreste zum Vorwurf machen. Beim Bau des Stauwerks von Rossens, als Arbeiter Kies in der Nähe eines Friedhofs aufluden, sollen auch Knochenreste mitgeborgen und nach der Verarbeitung zu Beton später in den Staudamm eingegossen worden sein.51 Auch sie bleiben somit für immer ein Teil und Zeugen für die skandalöse „Umbettung“, die sich rächt … In zahlreichen Fernsehserien, Filmen oder Romanen tauchen die Verstorbenen – quasi als geisterhafte Mahnmale wie der Kirchturm am Reschensee – wieder aus dem Wasser auf und nehmen Rache für die schändliche Überflutung ihrer einstigen Lebensorte und Wohnstätten.

51

Vgl. Gasser/Gremaud/Ogoz, p. 59; Vgl. die Webseite „Versunkene Täler – neue Landschaften: Geschichte(n) der Stauseen in der Schweiz“, Kap. Symbole des Verschwundenen und kollektive Erinnerung, http://www.verschwundene-taeler.ch/de/verschwundene-taeler/Symbole-des-Verschwundenen-und-kollektive-Erinnerung. html (15.11.2016).

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Sabine Eggmann

Faszinierte: Die Touristen – ein Sonntag am Stausee Im Dienste seiner Majestät stürzte sich 007, gespielt von Pierce Brosnan, am Gummiband in die Tiefe. 7,5 Sekunden freier Fall, 220 Meter tief, parallel zur eindrucksvollen Staumauer. Die 380 Meter lange und 220 Meter hohe, Contra genannte Staumauer ist die vierthöchste der Schweiz. Sie liegt auf 470 Meter über Meer am Ausgang des Verzascatals, einem ursprünglichen und landschaftlich reizvollen Tal. Erreichbar ist die Contra-Staumauer von Gordola aus über ein zwei Kilometer langes Strassenstück. In der Mitte der Staumauer befindet sich die Sprunganlage, die höchste stationäre Bungee-Anlage der Welt. Für den 007-Sprung oder Goldeneye-Bungee-Jump ist eine Reservation unbedingt notwendig.52

Staumauer von Contra, ca. 2015. Fotograf: Christopf Sonderegger, © Christof Sonderegger.

52 Vgl. http://www.myswitzerland.com/de-ch/wie-einst-james-bond-bungy-jump-im-verzascatal.html (14.11.2016).

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Sonntagsausflug zur Baustelle, Emosson, zwischen 1967–1973. © Roger Dorsaz, Treize Etoiles, Média­ theques Valais - Martigny (081phC03a02-023).

Die Talsperre von Contra zieht Tausende Touristen und Springlustige, wie einst James Bond in „Goldeneye“, an – und in die Tiefe. Der Bau der Staumauer stoppt den Tourismus keineswegs. Im Gegenteil, die Staumauern und die für sie errichtete Infrastruktur werden von Anfang an zu touristischen Attraktionen, die das Gesicht der Landschaft und das Angebot an Freizeitaktivitäten verändern, ja sogar steigern. Stolz auf die Errungenschaften der Moderne fahren Familien zum Sonntagsausflug auf die Staudammbaustelle oder lassen sich zu einem Gesamterlebnis auf den „Gipfel des Spektakulären“53 – wie bei der Barrages d’Emosson – entführen.

53 Vgl. http://verticalp-emosson.ch/ (14.11.2016).

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Empathische: Die Forscherin– mulitvokale Alltagsgeschichte „Ich würde es extrem einschneidend finden, wenn man von mir verlangen würde, meinen Heimatort zugunsten eines industriellen Projekts zu verlassen“, sagt Sabine Eggmann, Lehrbeauftragte und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel. Sie hat sich in ihrer Forschung in den letzten vier Jahren eingehend mit dem Bau von Wasserkraftwerken in der Schweiz auseinandergesetzt. Dabei wählte sie einen akteurzentrierten Blick aufs Thema: ‚Uns interessierten nicht in erster Linie die Bauwerke, sondern die vom Bau betroffenen Menschen.’54

Empathie in Bezug auf den Verlust, den Untergang und das Verschwinden dessen, was man als eigene Umgebung, als eigenen Lebensort verstanden und empfunden hat, bestimmt den Ausgangspunkt und das Anstossmoment für meine Beschäftigung mit den Stauseen in der Schweiz. Nicht nur für mich, sondern auch gesellschaftlich sind die schweizerischen Staudämme – die meisten davon wurden zwischen 1920 und 1970 gebaut – heute neben ihrer energiewirtschaftlichen Funktion bereits zu Erinner­ ungsträgern und zu Baudenkmälern avanciert. Sie stehen ebenso für den Stolz auf die eidgenössische Ingenieurstechnik als auch für den Anschluss der Schweiz an die Moderne. Und sie bewahren das Wissen, Können und die Erfahrungen früherer Menschen. Sowohl architektonisch als auch alltagshistorisch sind sie Zeugen wissenschaftlicher Leistungen, vergangener Zukunftsprojektionen, behördlicher Entscheidungen und politischer Vernehmlassungen, sie sind sichtbare Zeichen handwerklicher Kraftakte, verschwundener und neu geschaffener Landschaften sowie alltäglicher Lebensweisen. Sich über das Zeugnis und über die Erinnerung – betroffener Menschen und meiner daran anschliessenden Rekonstruktion – diesen Dimensionen in ihrer ineinander verschlungenen Komplexität zu nähern, bildete das Erkenntnisinteresse meiner Beschäftigung mit den technik- und industriegeschichtlichen „Errungenschaften“ der schweizerischen Moderne. Es war dabei leitendes Ziel des Projekts, sich der Komplexität aus Menschen, Materialitäten, Praxen und Erfahrungen zu nähern, sie sichtbar zu machen und sie zu durchleuchten. Dementsprechend fiel die Wahl des Zugangs auf eine alltagsbestimmte Mikroperspektive und aufgrund des gewählten subjektorientierten Zugangs auf die Re-Präsentation der Vielstimmigkeit, die den Prozess der Staudammbauten vorantrieb und begleitete. Sich den Nostalgien und den Utopien, den Verlusten und den neuen Möglichkeiten auszusetzen, ohne 54

Schlaefli, Samuel: Eine Kulturgeschichte der Staudämme, in: uninova 128 (2016), S. 54–56, hier S. 54.

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ihnen aufzusitzen, bestimmte die Austarierung von empathischer Nähe und analytischer Distanz. Inzwischen stehen (auch) die energiewirtschaftlichen Grossprojekte des 20. Jahrhunderts vor grossen Herausforderungen: Verfall des Strompreises auf dem Weltmarkt, schwindende Rentabilität der Stauwerke und Diskussionen um Nachhaltigkeit stellen die Stauwerke auf den Prüfstand. Was das für die – erneut – davon betroffenen Menschen bedeutet, welche Konsequenzen diese Entwicklungen für sie haben werden und wie spätere Nachfahren und WissenschaftlerInnen damit umgehen werden, bleibt zukünftig zu erforschen.

HERZL IN TEL AVIV A Commemorative Journey Maoz Azaryahu

At the end of August 1897 the first Zionist Congress convened in Basel, Switzerland, chaired by Theodor Herzl. The congress adopted the Basel program that stated in its first paragraph: “Zionism seeks to establish a home for the Jewish people in Palestine under public law”.1 In a prophetic entry in his diary (September 3, 1897), Herzl ­wrote: If I had to sum up the Basel Congress in a word – which I shall guard against pronouncing publicly – it would be this: At Basel I founded the Jewish State. If I said this out loud today l would be greeted by universal laughter. In five years perhaps, and certainly in fifty years, everyone will perceive.2

In 1904 Herzl died in Vienna, and was buried there. In May 1948, almost 51 years after the first Zionist Congress in Basel, the State of Israel was proclaimed at a festive event in Tel Aviv. Herzl never visited Tel Aviv, which was founded in 1909, five years after his death. Yet from the start, Herzl’s memory was woven into the symbolic fabric of Tel Aviv. Celebrated since the early 1920s as “The First Hebrew City”, Tel Aviv became an epitome of Jewish self-rule in British Mandate Palestine and a vibrant hub of Hebrew cultural revival. As a Zionist city, Tel Aviv was committed from its inception to the legacy and memory of the founder of modern Zionism. This was clearly demonstrated in an array of commemorative acts and honorific gestures, some of which became permanent features of the city. Focused on the early history of Tel Aviv, when its celebration as “The First Hebrew City” was pre-eminent in the city’s public discourse, this essay explores assorted commemorations of Herzl in Tel Aviv. The underlying aim is to shed light on various commemorative measures that integrated the memory of Herzl into the symbolic infrastructure of Tel Aviv. The analysis draws on archival materials and news1 2

Bein, Alex: Theodore Herzl: A Biography. Translated by Maurice Samuel, London 1957, p. 239. Herzl, Theodor: The Diaries of Theodor Herzl. Edited and translated by Marwin Loewenthal, New York 1956, p. 224.

Herzl in Tel Aviv

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paper reports that yield background information concerning decision-making procedures and offer the opinions of pundits regarding proposed commemorations, respectively.

Toponymic commemorations When Herzl visited the Land of Israel in 1898 on his way to meet the German emperor Wilhelm II there, he stayed in the port city of Jaffa. In 1906 the Ahuzat Bayit building company was founded in Jaffa with the aim of building a modern Jewish neighborhood to the north of Jaffa. In 1909, five years after Herzl’s death, the idea became reality, and the construction of houses in the new neighborhood began. The founders were committed to the Zionist vision espoused by Herzl. The link between the new Jewish neighborhood in Jaffa and the Zionist project of national revival was also manifested in the relocation of the Hebrew high school (in Hebrew: Gymnasia). The Hebrew high school had been established in Jaffa in 1905 and its relocation to the newly founded Jewish neighborhood in 1909 was an unequivocal statement about the importance assigned to Hebrew revival. As the main public building in the new neighborhood, the Gymnasia would figure as a visual icon introducing the revival of Hebrew culture into the local landscape. At its meeting in January 1909, a few months before the plots had been allocated to the families that had purchased land in the new project, the Ahuzat Bayit committee, which represented the founders decided to call the main street of the neighborhood

Herzl St., Tel Aviv. Photo by the author.

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leading to the Gymnasia after Herzl.3 The commemoration of Herzl in the name of the neighborhood’s main street represented a consensus among the founders and its use in documents had already begun in 1909. It was only in February 1910 that the general assembly of residents deliberated to give names to the other five streets of the neighborhood. The symbolic linkage between Herzl and the new neighborhood was augmented by naming the Gymnasia after the visionary of political Zionism. The ceremonial laying of the cornerstone of the Gymnasia in the new neighborhood took place in summer 1909. In his address, the founder of the Gymnasia proclaimed that the Gymnasia “[i]s named ‘Herzliya’ after the late Zionist leader Dr. Binyamin Ze’ev Herzl”.4 The name chosen by its founders for the new neighborhood was an issue with much symbolic resonance. The general assembly of the founders discussed this issue in May 1910. The Ahuzat Bayit committee proposed the name “Tel Aviv”: “with this name our leader Herzl expressed the hope of our future in the Land of Israel: A tell [archeological mound] where the buds of spring blossom.”5 Sheinkin mentioned that Tel Aviv was the Hebrew translation of Herzl’s utopian novel Altneuland which had been published in 1902. Herzl’s novel sketched his vision for a future Jewish state. Sokolov’s translation of the novel into Hebrew appeared in the same year as the German original. An innovative and poetic translation of Altneuland, Tel Aviv was not, however, a neologism for it was also a place name in ancient Babylonia, mentioned in Ezekiel 3:15. Among other options deliberated were Herzliya, an explicit commemoration of the Zionist visionary, and New Jaffa. The name Herzliya was rejected since it was not a Hebrew name, and it had already been given to the Gymnasia. The name Tel Aviv gained 20 votes, followed by Neve Yafo (Jaffa Haven) with 15 votes, with Herzliya only receiving six votes. As a place name, Tel Aviv is an implicit and poetic commemoration of both Herzl and his vision for a new Jewish nationhood. The name Herzliya was eventually used in 1924 for a new settlement founded north of Tel Aviv.

3 4 5

Meeting of the Ahuzat Bayit Committee, 28 January 1909, Tel Aviv – Yafo Historical Archive, 279-31. Ben-Yehuda, Baruch: The story of the Herzliya Gymnasium, Ramat Gan 1970. Protocol, meeting of the general assembly on 21 May 1910, in: Droyanov, Alter: Sefer Tel Aviv, Tel Aviv 1936, pp. 125–126.

Herzl in Tel Aviv

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Herzl: Institute and Monument The mortal remains of Herzl were buried in Vienna. In his will, Herzl requested that he should be reinterred in the Land of Israel without specifying the exact location. In 1925, the Zionist leader Nahum Sokolov raised the issue at the 14th Zionist Congress that convened in Vienna. A committee was elected to execute Herzl’s will, yet no progress was made. The issue was raised again at the 17th Zionist Congress that convened in 1929. Following the anti-Jewish riots in Palestine, the issue was postponed only to be raised again at the 18th Congress, which convened in 1933 in Prague. An issue of much significance was that there was lack of agreement among Zionist leaders as to where Herzl should be interred in the Land of Israel. Some maintained that Herzl expressed a wish to be buried on Mt. Carmel, in the vicinity of Haifa, which he envisioned as the “city of the future”. Others claimed that Herzl did not express this wish explicitly, and should therefore be buried in Jerusalem, the ancient Jewish capital. However, as long as the British ruled the country, Jerusalem was a remote possibility. Meir Dizengoff, the mayor of Tel Aviv, suggested interring Herzl in the first Hebrew city, intending this as only a temporary solution. Dizengoff ’s idea was that Herzl should not be reinterred in an ordinary municipal cemetery, but on top of a low hill overlooking the Mediterranean. This proposal was rejected by the Viennese ‘Herzl Committee’, which was in charge of managing Herzl’s estate. Meir Dizengoff was committed to making Tel Aviv a Zionist metropolis and he prioritized the burial of Zionist leaders there. In 1926 the mayor arranged for the reinterment of Max Nordau, a renowned author and a close associate of Herzl, in Tel Aviv. This was the first reinterment of a major Zionist leader in the Land of Israel and as such, a precedent. Whereas the idea of reinterring Herzl in Tel Aviv had been rejected, another initiative was gaining Dizengoff ’s support: building the Herzl monument and the Herzl Institute in the first Hebrew city. At the Zionist Congress in Prague in 1933 it became clear that the transfer of Herzl’s mortal remains for reburial in Tel Aviv was not feasible. Simultaneously another idea was raised: building a ‘Herzl House’ in Tel Aviv as a memorial complex with two complementary elements: a Herzl monument and a Herzl institute. Also prompted by the impending 30th anniversary of Herzl’s death in summer 1934,6 this memorial project was at the conjunction of two independent initiatives. First was the idea of Felix Weiss, a young Viennese sculptor, to build a Herzl monument in Tel Aviv. The sculptor later 6

Tilo Nussenblatt to Meir Dizengoff, 25 Mai 1934, Tel Aviv – Yafo Historical Archive, 04-3761.

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A model of Herzl Institute and statue. Courtesy of the Historical Archive, Tel Aviv-Yafo.

met Tilo Nussenblatt, an historian and authority on Herzl, and together they decided to create a memorial complex comprising both a Herzl monument and a Herzl institute where Herzl’s archive and the writings and correspondence of his associates and confidants would be housed to form a ‘literary pantheon’ of the Zionist movement.7 The design also included a spacious reading room for the public and a large convention hall with the intention of boosting the study of Herzl’s life and ideas. The ‘Herzl Archive Committee’ in Vienna supported the idea of transferring the archive from Vienna to Tel Aviv. Interested in promoting the memorialization of Herzl in Tel Aviv, Dizengoff supported the project, in particular after it became evident that the reinterment of Herzl in Tel Aviv was not a feasible option. In a letter in February 1933 he wrote: “Was aber zweifellos sicher ist – dass das Herzl-Institut nur in Tel Aviv errichtet werden kann.”8 According to Tilo Nussbaum, the edifice was meant to cast Herzl’s ideas in a fitting architectural mold with its underlying concept being that the complex, a symbol of liberty and tolerance, should be built in the vicinity of the seashore and that the building together with the statue would form an unit.9 A fundamental element of the design by 7 8 9

Tilo Nussenblatt to Meir Dizengoff, 10 January 1933, Tel Aviv – Yafo Historical Archive, 04-3761. Meir Dizengoff to Tilo Nussenblatt, 6 February 1934, Tel Aviv – Yafo Historical Archive, 04-3761. Tilo Nussenblatt, ‘Herzl Institute’, Do’ar Hayom, 8 June 1934, p. 6.

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the Viennese architect Jonas Mond was an open portico with columns allowing a view of the sea from the city. The terraces in front of the structure were intended to incorporate the near surroundings into the general architectural effect. Lighted by a skylight, the Hall of Honor was to accommodate 500 people. The design anticipated balconies and a tower the spiral ascent of which was meant to symbolize the ascent of the people of Israel to the Land of Israel. To the right of the statue, on the flat terrace covering the pillared hall, receptacles for nine lights were provided, eight “Chanukah lights” and one “servant light” (Shamash). These lights were also meant as “lights of joy, which, on special occasions send their rays over land and sea”.10 The Herzl monument was to be 18 meters high: a landmark visible from afar, welcoming Jews returning to Zion. The conceptual model was the Statue of Liberty at the entrance to New York, welcoming immigrants on their entry to the United States. Herzl’s statue was to be a full-size likeness of the visionary, with his right hand pointing towards the ‘chosen land’, showing the direction to Zion, while his left hand behind him is directed toward the diaspora. Dizengoff proposed setting up a Tel Aviv committee consisting of leading public figures.11 The expenditure was estimated to be 30,000 British pounds. The municipal government of Tel Aviv was willing to allocate the plot where the Herzl Institute would be built. However, Dizengoff was aware that “the official Zionism”, namely the Zionist organizations centered in Jerusalem, would not approve of building the Herzl Institute in Tel Aviv: “Today we have a united front against anything that we would like to do in Tel Aviv and not in Jerusalem”.12 Dizengoff was reluctant to continue the project without the approval of the Jewish Agency. As he related in June 1934, as long as he did not have clearance, he could only be in ‘reserve’, since the municipality could not promote a project that was not entirely under its jurisdiction.13 In July 1934 the municipal government approved the composite project of the Herzl Institute and the issue was discussed briefly by the municipal council. Zvi Pinkas, the head of the Mizrahi (national-religious) faction expressed doubt about the statue, noting that as a figurative statue it was contrary to an explicit Biblical prohibition.14 In his response, deputy mayor Israel Rokach (who succeeded Dizengoff in September 1936) evaded the sensitive issue and explained that it was about the reburial of Herzl, 10 11 12 13 14

The Composition and Structure of the Herzl Institute, Tel Aviv – Yafo Historical Archive, 04-3761. Meir Dizengoff to Tilo Nussenblatt, 6 March 1934, Tel Aviv – Yafo Historical Archive, 04-3761. Meir Dizengoff to Tilo Nussenblatt, 9 April 1934, Tel Aviv – Yafo Historical Archive, 04-3761. Meir Dizengoff to Tilo Nussenblatt, 17 June 1934, Tel Aviv – Yafo Historical Archive, 04-3761. Davar, 20 July 1934, p. 4

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and that yet no decision had been made by the Zionist leadership. Nemirovsky, a member of the Labor faction and a future mayor, was of the opinion that national issues such as this were not the business of the municipal government. The municipal council expressed its support for the Herzl Institute.15 In September 1934, in the course of a large-scale naming of new streets in Tel Aviv, a major thoroughfare in the north of the city was named Basel St. as a commemoration of the first Zionist Congress that Herzl convened in 1897.16 In the matter of the Herzl Institute the municipal government of Tel Aviv could not proceed on its own. In response to a direct inquiry the Jewish Agency related its objections to relocating the Herzl archive from Vienna to Tel Aviv and stressed its insistence on Jerusalem as the right place for the archive. At this stage Dizengoff was not enthusiastic “to conduct this war alone”, and urged the Vienna activists to travel to Palestine to negotiate the location of the project. 17 With the Herzl Institute shelved, the Herzl monument was also off the municipal agenda. Whereas in October 1934 it still seemed as if there was some hope, should pressure be exerted, the verdict passed in December 1934 was: “there is no chance to realize it for the time being”.18

On the Road to Jerusalem The issue of reinterring Herzl in the Land of Israel was raised again at the 19th Zionist Congress convened in Luzern in 1935. The decision was to put the Zionist Executive in charge of formulating an official policy in this regard. The majority of members of the ad-hoc-committee set up by the Executive supported the reburial of Herzl in Jerusalem.19 Yet the worsening political situation in British Mandate Palestine and Europe rendered the reburial of the Zionist visionary in the Land of Israel impractical. In the late afternoon of 14 May 1948 at the Tel Aviv Museum of Art, David Ben-Gurion proclaimed the creation of the Jewish state, the State of Israel. The venue was the former residence of Meir Dizengoff. Behind the podium where the dignitaries assembled two Zionist flags were draped, and in the middle hung a large portrait of Herzl. 15 16 17 18 19

Resolution #564/8, meeting of the municipal council, session on 18 July 1934. Do’ar Hayom, 4 September 1934, p. 4. Yehuda Nedivi to Tilo Nussenblatt, 22 October 1934, Tel Aviv – Yafo Historical Archive, 04-3761. On behalf of Mr. Dizengoff to Dr. Yehuda Leibe, 10 December 1934, Tel Aviv – Yafo Historical Archive, 04-3761. Circular, the Executive of the Zionist organization to the Zionist federations, 29 July 1949, Tel Aviv – Yafo Historical Archive, a 04-3333.

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Independence Hall, Tel Aviv. Herzl’s iconic portrait at the center. Photo by the author.

This portrait acknowledged and honored Herzl as the visionary of the Jewish state. It also entailed a vow of loyalty on behalf of those assembled there and the nation at large to Herzl’s vision. The ceremonial event taking place in Tel Aviv turned the First Hebrew City named after Herzl’s utopian novel into the cradle of the Jewish state. With Jerusalem under siege, the newly formed political institutions of the new state – the provisional government and the Knesset, the parliament, were located in Tel Aviv. The Knesset was housed at the Opera Hall, near the seashore. Yet the special place accorded to Jerusalem within the symbolic structures of Israel’s nationhood became apparent in December 1948, when the issue of reinterring Herzl in the newly founded Israel became feasible. In an internal memorandum of the Tel Aviv Municipality, the idea of reinterring Herzl in Tel Aviv was raised again: The place most suitable for reinterring Herzl is a hill near the seashore, near the Yona Camp (later: Independence Park), which is the highest spot in Tel Aviv. On the grave of Herzl it is possible to build a magnificent edifice and a lighthouse for the ships of new immigrants approaching the port of Tel Aviv. We should reconsider the design of the sculptor Felix Weiss. There is no more appropriate place for the burial of Herzl than this hill by the sea, which over-

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looks the port and is not far from the residence of Israel’s government, and it is in an area where street names symbolize the entire Jewish history and its revival.20

Despite this attempt to recommend Tel Aviv as a candidate for the final resting place of Herzl, the eventual destination of the visionary, as agreed upon by those in charge of his reinterment, was Jerusalem. The plane carrying Herzl’s coffin landed in Lod (Lydda) Airport, whereupon the casket was transported to Herbert Samuel Square in Tel Aviv near to the Knesset’s temporary location, where the coffin lay in state for over twelve hours on a black draped catafalque, with the sea in the background.21 The setting was designed by the architect Arieh Elhanani, who had designed the Levant Fair in Tel Aviv in the 1930s and the Jewish Palestine Pavilion at the New York World Fair 1939. At the rear of the coffin seven tall pillars symbolizing Herzl’s idea of a seven-hour work day with amber lights adorned the tops of the pillars. The steps to the platform upon which the blue and white draped casket was placed were covered with a green mat. On the platform stood two guards of honor in uniform with Herzl’s casket in Tel Aviv, 16 August 1949. Unknown photographer.

20 21

Aharon-Zeev Ben-Yishai to the mayor of Tel Aviv, 21 December 1948, Tel Aviv – Yafo Historical Archive, a 04-3333. The description is based on: Brilliant, Moshe: Victory of Vision that became Real, in: The Palestine Post, 17 August 1949, p. 1.

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swords. The street leading to the catafalque was adorned with Israeli flags hanging from polls. A special session of the Knesset marked the arrival of the remains of Theodor Herzl to Israel. The Prime Minister and the Speaker of the Knesset delivered short speeches. The casket arrived at its Tel Aviv destination at 4 p.m. First to pay tribute to the visionary were national leaders, with Prime Minister Ben-Gurion and Speaker Sprinzak heading the procession of dignitaries. Following the dignitaries were ordinary people who came to pay respect to Herzl. According to estimates, the number of people passing the casket was 200,000 — a quarter of the Jewish population of Israel. Around 10 p.m. people stood in line more than an hour for the opportunity to pay tribute to Herzl. The Hebrew newspapers related emotional stories about old people crying at the scene. At 4 a.m. the casket began its journey to Jerusalem, the final destination being the designated burial site on Mount Herzl.22

Final Remarks In reality, Herzl spent only 12 hours in Tel Aviv. His was a brief, albeit emotional first and only “visit” to the first Hebrew city. Indeed, Tel Aviv was the center of the Jewish Yishuv in the pre-state era, and the city – as Mayor Dizengoff was proud to claim – was a model for the future Jewish state. Yet Dizengoff ’s efforts to make Tel Aviv a center of Herzl remembrance failed. The symbolic primacy of Jerusalem was a factor. Notably, Herzl’s famous oath of loyalty to the idea of Zion: “If I forget you, O Jerusalem, let my right hand forget her cunning” (Psalms 137:5, King James Version) epitomized his Zionist legacy for future generations. In the realm of symbolic politics, a Zionist obligation to Zion was definitive, and the ancient city shrouded with national memories was chosen as Herzl’s final burial place. Aharon-Zeev Ben-Yishai, the editor of Yediot Iryat Tel Aviv, the official organ of the municipality, described the ceaseless passage of people in front of the casket as “Tel Aviv’s farewell to Herzl”.23 In the title Ben-Yishai reminded readers that Herzl not only envisioned the Jewish state, but also anticipated Tel Aviv. Significantly, “Tel Aviv’s farewell to Herzl” also implied a farewell to the vision of Tel Aviv as a national center of 22 23

See Azaryahu, Maoz: Mount Herzl. The Creation of Israel’s National Cemetery, Israel Studies 1/2 (1996), pp. 46–74. Ben-Yishai, Aharon-Zeev: The casket of the visionary of “Tel Aviv”, in: Yediot Iryat Tel Aviv 19/3-4 (1949), p. 42.

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Herzl’s remembrance. However, as Ben-Yishai noted, Herzl had been embedded into the experience of Tel Aviv through various commemorative references. Tel Aviv, the First Hebrew City owed its name to the visionary; even if people are unaware of it, every time the name Tel Aviv is mentioned, Herzl’s vision of an Old-New Homeland is evoked. A fact unbeknown to most is that the city’s emblem, designed in 1926 by the painter Nahum Gutman, depicts the seven stars, symbolizing the seven-hour work day which Herzl foresaw for the socially progressive future Jewish state. Indeed, as the city expanded northward, Herzl St. lost its significance in the urban fabric. In 1959 the iconic building of the Gymnasia was demolished, and the high school named after Herzl was relocated to a new and modern building in the north of the city. The demolition of the old building was later mourned as a senseless destruction of Zionist heritage and historical memories, and prompted the emergence of an acute awareness to historical preservation in Israel. Ironically, the story of the building of the Gymnasia belongs to the dialectic of “old” and “new” which underlay Herzl’s vision and found its powerful expression in the name Tel Aviv.

KRACAUER ET L’ANTINOMIE DU TEMPS HISTORIQUE Jacques Revel

A sa mort, en 1966, Siegfried Kracauer laissait inachevé le manuscrit d’un livre, History. The Last Things Before the Last, que son ami, le grand historien de la Renaissance Paul Oskar Kristeller fit publier trois ans plus tard par Oxford University Press. Ce patronage prestigieux n’a pas pour autant suffi à assurer la réception de l’ouvrage. Il a été sur le moment presqu’entièrement ignoré et il a fallu attendre les années 1990 pour qu’il soit pris en compte dans le débat des historiens. Sa réédition par un petit éditeur américain y est sans doute pour quelque chose, mais plus encore le fait que certains thèmes qu’il abordait faisaient désormais écho aux préoccupations courantes de l’historiographie.1 Kracauer avait longtemps cherché sa voie. Après des études d’architecture, il avait suivi à Berlin les cours de Georg Simmel qui devaient durablement marquer de leur empreinte son imagination sociologique. Après la guerre, autour d’une institution juive de Francfort, le Freie jüdische Lehrhaus, puis pendant les années 1920 en tant que rédacteur à la Frankfurter Zeitung, il avait noué des relations avec Martin Buber, Franz Rosenzweig, mais surtout, plus durablement, avec Leo Löwenthal, Ernst Bloch et le jeune Theodor Wiesengrund Adorno (dont il fut le premier maître de philosophie) et, plus tard, avec Walter Benjamin. Il s’était avant tout fait connaître par son activité de critique de la vie culturelle et par ses essais, en particulier par ses « miniatures sociologiques », convaincu, comme beaucoup de ses contemporains qu’un monde comme celui de Weimar, un monde non seulement désenchanté mais déréalisé et vidé de toute signification profonde, appelait une phénoménologie des « manifestations de surface ». Il choisit l’exil dès 1933. En France, pendant huit ans, sans jamais pouvoir trouver à s’y intégrer, puis aux Etats-Unis, où il émigra en 1941 et où il passa les vingt-cinq dernières années de sa vie, sans jamais y trouver de position stable, vivant de subsides, de collaborations diverses, de commandes et d’occasionnels crédits de recherches. De cette situation d’extra-territorialité qu’il n’avait pas choisie, il décida pourtant de faire un point de vue, dont la revendication se lit en clair dans ses trois derniers livres, écrits en anglais: From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film (1947), Theory of Film. The Redemption of 1

Kracauer, Siegfried: History. The Last Things Before the Last, New York/Oxford 1969; rééd., Princeton 1995 (avec une nouvelle préface de P.O. Kristeller). Dans cet essai, je me référerai à cette deuxième édition.

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Physical Reality (1960), et enfin History. De cette précarité, il fit aussi un principe de vie.2 Kracauer n’était pas un historien et il ne prétendait pas l’être. L’intérêt qu’il a manifesté pour l’histoire est tardif. Au début des années 1960, il eut le sentiment qu’il s’imposait à lui. Mieux, il découvrit qu’il avait été présent dans sa propre réflexion dès les années 1920, depuis son article sur La photographie (1927) jusqu’à ses études sur le cinéma, en passant par son roman Ginster (1928), son essai Die Angestellten (1929) et sa biographie de Jacques Offenbach (1937). Mais voici qu’à la fin de son parcours, il éprouvait le besoin de reprendre les termes d’une préoccupation qu’il percevait désormais comme la plus pressante. « La principale raison de mon intérêt pour l’histoire est peut-être le besoin d’en savoir davantage sur la constitution et sur la signification de cette branche controversée du savoir».3 Comme il l’avait toujours fait, cet intellectuel mal classable choisissait de recomposer son paysage intellectuel autour des questions qui lui paraissaient désormais les plus urgentes. Plutôt que de se faire l’historien de sa propre pensée, il choisissait de l’actualiser autour d’un nouveau projet. Sur les opérations techniques qui sont celles des historiens, Kracauer n’a sans doute pas grand-chose à nous apprendre. Mais là n’est pas son propos. Son attention critique se porte sur les représentations, les formae mentis qui sous-tendent ces opérations et qui les rendent possibles. Son projet ne doit pas être compris comme un discours de la méthode après tant d’autres, mais plutôt comme une critique du discours historique située au niveau des préalables qui l’informent: des catégories dont nous faisons usage le plus familièrement, sans que nous n’ayons besoin d’y penser, et qui façonnent, souvent à notre insu, notre appréhension et nos reconstructions du passé. Menée sur plusieurs lignes parallèles, cette critique tourne autour d’un point central. Les historiens – mais aussi leurs lecteurs, et la plupart des représentations du temps historique, spontanées ou savantes, qui sont partagées dans nos sociétés – imaginent volontiers celui-ci 2

3

Jay, Martin: The Extraterritorial Life of Siegfried Kracauer, in: Jay, Martin: Permanent Exiles. Essays on the Intellectual Emigration from Germany to America, New York 1985, pp. 152–197; Belke, Ingrid/Renz, Irina: Siegfried Kracauer 1889–1966, Marbach a. N. 1989 (Marbacher Magazin, 47/1988); Traverso, Enzo: Siegfried Kracauer. Itinéraire d’un intellectuel nomade, Paris 1994; Koch, Gertrud: Kracauer zur Einführung, Hamburg 1996. Notons que celui qu’on a longtemps pris pour un second rôle a entretenu des relations tout au long de sa vie avec ses amis de jeunesse, Adorno, Benjamin, Bloch, Löwenthal; à New York, il se lia avec le milieu intellectuel réuni autour de la Columbia University qui lui a offert une sorte de niche: avec l’historien de l’art Meyer Schapiro (dont l’invitation lui avait permis d’immigrer), avec Paul Oskar Kristeller, avec le sociologue Robert Merton; des correspondances nourries, dont plusieurs ont été récemment publiées, attestent de l’intensité de ces relations. Dans la préparation de son dernier livre, il a multiplié les contacts avec les partenaires intellectuels qu’il avait choisis. Kracauer, History, pp. 3–4.

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comme un flux massif et homogène qui emporte tout avec lui et recompose en permanence le paysage des hommes, dans son ensemble comme dans ses détails. Dans son ensemble avec ses détails. Telle est du moins la version qui s’est imposée en Occident (et à partir de l’Occident) depuis la fin du XVIIIe et le début du XIXe siècle.4 Elle est pour nous indissociable de l’idée de progrès (ou, le cas échéant, de décadence), qu’elle a rendue possible et qui l’a rendue possible. Elle instaure un temps orienté, vectoriel, pourvu d’un sens (dans la double acception de direction et de signification). C’est à dégager les antinomies liées à des représentations de ce type que se consacre Kracauer. Il ne le fait pas au nom d’une critique idéologique (du type: le progrès est un leurre; ou encore: l’histoire est un récit de bruit et de fureur raconté par un idiot), ni d’une critique positive (rien ne permet de démontrer que les processus historiques soient, dans la durée, cumulatifs), mais en partant des implications cognitives qui sont inséparables de ces constructions temporelles. Derrière ce nom collectif, l’histoire, il existe, on le sait, une variété d’histoires dont les attendus et les projets sont profondément différents. Les historiens qui les composent ne sont pas toujours d’accord entre eux. Il leur arrive même d’expliciter leurs désaccords. Plus souvent, ils les taisent, convaincus qu’ils sont de ce que de toute recherche qui satisfasse aux règles du métier, il restera toujours quelque chose, puisqu’elle a vocation à retenir quelque chose du passé dans ses filets. Ainsi s’explique que les résultats parfois modestes, « prosaïques » comme il l’écrit, des travaux de terrain soient implicitement promis à un avenir qui les dépasse: ils sont destinés à trouver leur place dans de grandes histoires qui sauront un jour leur faire, précisément, cette place. L’empirisme actif, qui reste la maxime dominante de la corporation, peut faire comprendre cet optimisme, mais c’est là une conception qui est largement partagée, bien au-delà du monde des historiens professionnels. Elle ne va pourtant pas de soi. Kracauer oppose ce qu’il appelle une micro-histoire à une macro-histoire qui se situe à l’autre extrémité du spectre des histoires possibles. Dissipons d’emblée un malentendu: je ne crois pas qu’il soit le père, ni le grand-père ni même l’oncle de ce que l’on entend aujourd’hui par micro-histoire. Sous ce nom, il range le plus souvent les travaux circonscrits, « techniques », qui se donnent les moyens d’approfondir le rapport au matériau documentaire, là où les macro-histoires proposent de grandes architectures descriptives, explicatives, interprétatives, mais qui ne peuvent retenir qu’une mince couche de la réalité historique qu’elles embrassent. Une histoire myope et dense s’oppose donc à une histoire panoramique et, par force, superficielle. La plupart des 4

Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979.

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historiens poursuivent des travaux de type micro, qui les font reconnaître au sein de leur tribu. Il arrive qu’avec l’âge ou les sollicitations qui accompagnent la réputation, ils se lancent dans des synthèses plus audacieuses. Mais ils ne voient habituellement pas de hiatus entre ces possibilités. La plupart des historiens admettent, au moins implicitement, qu’une circulation est possible et qu’elle est souhaitable entre les niveaux micro et macro. C’est après tout ainsi que la recherche est le plus souvent pensée et qu’elle est organisée. Kracauer, même s’il a une préférence évidente pour les plans rapprochés de la micro-histoire, estime que les deux voies sont légitimes – à supposer qu’elles soient deux seulement (ce qui ne va nullement de soi). Il s’emploie, en revanche, à montrer qu’elles ne sont pas conciliables et que les résultats qu’elles produisent ne sont ni compatibles, ni cumulables. La distance vis-à-vis de l’objet – les jeux sur les échelles d’observation – ne relève pas seulement d’une convention d’étude, elle a des implications cognitives: c’est ce qu’il appelle la « loi de la perspective ». Il en résulte que les faits observés n’ont de pertinence qu’à l’échelle à laquelle ils l’ont été: c’est la « loi des niveaux ».5 Il est illusoire de penser que des explications macro-analytiques sont susceptibles de se fonder sur les données de la micro-observation car les « micro-événements risquent de perdre certaines de leurs particularités et de leurs significations lorsqu’ils sont transportés à de plus hautes altitudes »6. Les faits que dégagent les historiens n’ont de signification que par rapport à un contexte donné. Ce principe de disjonction va contre la plupart de nos représentations accoutumées, puisque nous pensons volontiers que les principes les plus abstraits garantissent la possibilité d’une montée en généralité qui, elle, garantira, à terme, l’intégration de chaque élément singulier au sein d’un ordre plus englobant. Contre cette confiance, Kracauer pose que la structure du monde historique est discontinue et qu’elle est hétérogène. En ce sens, s’il n’est pas l’ancêtre de la micro-histoire, il identifie et il impose à l’attention l’un des thèmes majeurs que le travail des micro-historiens a introduit dans le débat historiographique d'aujourd'hui. C’est une opération homologue qu’il conduit en dégageant ce qu’il appelle l’antinomie du temps historique. L’historiographie moderne se représente celui-ci « comme un processus immense et continu […], un medium homogène englobant indistinctement tous les événements imaginables ».7 Elle le pense comme un tout, dont les éléments singuliers qui le composent doivent entretenir avec l’ensemble des rapports investis de sens. Ces rapports ne sont pas toujours évidents, mais ils ont vocation à être explicités. 5 6 7

Kracauer, History, pp. 123–127. Kracauer, History, pp. 125–126. Kracauer, History, p. 139.

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Quand bien même les historiens ne sont plus disposés à accepter le modèle du Zeitgeist à la Hegel8, ils restent attachés à l’idée qu’il existe des structures englobantes qu’ils nomment périodes, civilisations, moments, et qui sont fondées sur cette articulation générale des parties au tout. Ils invoquent en permanence des entités qui sont appelées à jouer un rôle tout à la fois descriptif et explicatif. Cette conviction est efficace aux deux bouts de la chaîne. C’est elle qui fait comprendre le rôle de pivot des dates dans la construction du temps des historiens: 1492, 1789, 1917, 1989 peuvent ainsi servir de repères à des scansions dont les effets sont supposés pouvoir être généralisés, de loin en loin, à l’ensemble du processus historique. C’est elle aussi qui fait comprendre la valorisation de l’histoire générale, voire de l’histoire universelle, par rapport à des versions plus restreintes, plus locales. Car d’elle, on attend le point de vue qui garantira la meilleure intégration des données de l’expérience. Elle leur confère, estime-t-on, une forme et une signification. Kracauer décrit avec une extrême acuité les conséquences de cette vision largement partagée depuis deux siècles. Il ne s’y intéresse pas comme à une idéologie, mais plutôt comme à la condition préalable de notre appréhension du temps de l’histoire qu’elle est communément devenue. Or, elle ne résiste pas à l’analyse. Il vaut ici la peine de noter que Kracauer ne semble pas avoir connu l’existence du grand livre de Fernand de Braudel, La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II (publié en 1949), avec la construction des durées différentielles qu’il propose; et qu’il ne s’est guère intéressé à l’histoire économique, dans laquelle il aurait pu trouver des modèles de décomposition des séries temporelles. Il n’en a eu que plus de mérite à avoir entrepris ce travail de critique dans le domaine qui l’intéressait davantage, celui de l’histoire des cultures pour l’essentiel. C’est du côté des historiens de l’art qu’il a trouvé des exemples et des instruments analytiques, ou plus exactement chez certains d’entre eux, sans nul doute minoritaires à l’époque où il les a lus: chez Henri Focillon dans Vie des formes (1934); chez George Kubler, disciple de Focillon et auteur d’un bref essai ravageur sur The Shape of Time (1962) – et sans doute aussi, on peut l’imaginer, auprès de ses amis Erwin Panofsky et Meyer Schapiro. Chez eux, il trouve la démonstration que la co-existence et la co-occurrence des objets n’apportent en rien la preuve que ceux-ci seraient liés par des relations significatives, mais qu’elles mettent plutôt en valeur des décalages qui sont constitutifs du temps historique. Comme l’écrit Kubler, lui-même historien de l’art pré-hispanique puis colonial de l’Amérique centrale et très tourné vers l’anthropologie: « Voir l’instant en coupe fait penser à une mosaïque de pièces à des stades de dévelop8

Cf. Gombrich, Ernst Hans: In Search of Cultural History, in: Gombrich, Ernst Hans: Ideals and Idols. Essays on Values in History and in Art, Oxford 1979, pp. 25–59.

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pement différents […] plutôt qu’à un schéma rayonnant conférant leur signification à toutes les pièces. »9 Cette leçon qui lui convient si bien, Kracauer se propose de l’étendre à l’ensemble des histoires et à l’histoire dans son ensemble qu’il décompose au prisme de l’expérience temporelle. « A un moment donné, par conséquent, nous avons affaire à une quantité d’événements qui, en raison de leur place dans des domaines différents, ne sont simultanés que sur le plan formel. En fait, la nature de chacun de ces événements ne sera correctement définie que si nous prenons en compte la position qu’il occupe dans sa séquence particulière. Les formes du temps propres à chacun des domaines relèguent dans l’ombre le cours uniforme du temps. »10 C’est donc au pluriel qu’il faut parler des temps de l’histoire et de leur déroulement. La critique, on le voit, emporte avec elle la plupart des catégories descriptives et analytiques les plus familières aux historiens: celle de période, mais aussi celle plus fondamentale encore d’une chronologie organisatrice qui pourrait être la mesure du flux temporel. Que Kracauer retrouve en ce point, comme il le rappelle, le Walter Benjamin des Thèses sur la philosophie de l’histoire11 vaut d’être remarqué. La référence et le commentaire qui l’accompagnent viennent souligner la force de son engagement critique. Peut-on pour autant le pousser à son terme, comme le fait Kubler, par exemple, qui propose de ne voir dans la constitution des agrégats temporels que le fait du hasard? Dans un mouvement qui est caractéristique de sa manière d’argumenter, Kracauer passe alors de la critique de la doxa à la critique de la critique. Et, significativement, c’est Jacob Burckhardt qu’il choisit d’interroger. Chez l’auteur de La civilisation de la Renaissance en Italie (1860), on rencontre peu d’intérêt apparent pour la chronologie autour de laquelle il se refuse à organiser son histoire; pas même un récit, mais un goût évident pour le montage de tableaux, de plans rapprochés, une technique quasi cinématographique avant le film. Il reste que le livre construit un objet (la civilisation) et une entité spatio-temporelle (la Renaissance italienne). Tout en se soustrayant au temps chronologique, il impose l’existence d’une totalisation. Or, « dès que l’on reconnaît une époque comme une totalité intégrée, les structures temporelles propres au domaine s’effacent automatiquement et, de pair avec le processus historique général, la chronologie tend à recouvrer un sens ».12 Si désaccordés que soient les temps, il reste donc nécessaire de donner aux configurations temporelles une forme reconnaissable, 9 Kubler, George: The Shape of Time. Remarks on the History of Things, Newhaven/London 1962, p. 56. 10 Kracauer, History, p. 147. 11 Le commentaire de Kracauer mérite d’être rappelé: « Comme l’observe judicieusement Walter Benjamin, si l’idée d’un progrès de l’humanité est intenable, c’est principalement parce qu’elle est inséparable de l’idée du temps chronologique comme matrice d’un processus porteur d’un sens. » Kracauer, History, pp. 149–150. 12 Kracauer, History, p. 152.

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c’est-à-dire d’accepter qu’il soit possible de reconstruire des liens entre certains au moins des éléments qui les composent. Elles retrouvent ainsi la consistance que l’on avait mise en cause et avec elle, une articulation au temps chronologique. Telles est, selon Kracauer, l’antinomie du temps historique. Les figures qu’il présente relèvent de conceptions irréconciliables. La littérature sait échapper à ce dilemme. Proust à nouveau lui sert à montrer qu’il lui est possible de récuser la chronologie et l’idée même d’un processus que le romancier a décomposé à l’infini à travers l’expérience de la mémoire. Mais ce qui permet à Proust d’établir le continuum d’A la recherche du temps perdu, c’est la possibilité de clore son histoire, c’est-à-dire de la constituer à la fin en une totalité réunifiée. L’admirable commentaire qu’en donne Kracauer (en s’inspirant de Jauss) montre comment une rédemption esthétique est possible – dans le cas du roman comme dans celui du film. Il ne débouche pas pour autant sur une solution acceptable pour l’histoire. Car celle-ci est un processus sans fin ni totalisation possible. Surgit alors la figure ridicule et tragique d’Ahasverus, le Juif errant à travers les temps: « Seul de toute l’histoire, il a pu, sans l’avoir voulu, faire l’expérience du devenir et du déclin personnellement. Quelle terrible apparence doit être la sienne! […] tandis qu’inlassablement et en vain, il tente au travers de ses pérégrinations de reconstruire à partir des temps qui l’ont configuré, le temps unique qu’il est condamné à incarner. »13 Mais Ahasverus n’est jamais que l’incarnation de notre impossibilité à porter sur l’histoire un regard unifié. Son errance n’a pas de terme et s’il devait parvenir à la fin de l’histoire, il disparaîtrait avec elle. Où ces critiques nous conduisent-elles? On pressent que l’intérêt nouveau qu’a récemment rencontré la réflexion de Kracauer a souvent reposé sur un malentendu. Si, après tout, la pertinence des énoncés est limitée à des contextes limités, si les voies de la généralisation sont suspectes, si l’écriture de l’histoire peut être définie comme un ensemble de dispositifs rhétoriques destinés à forcer l’apparence d’une cohérence et d’un sens, que peut-il bien subsister des prétentions de la connaissance historique? Ce n’est pourtant pas de ce côté-là que l’auteur entend nous mener. Tout au contraire, il s’interroge sur ce qui fait la spécificité de l’activité historienne parce qu’elle « dénote une disposition d’esprit et définit une région de la réalité qui, en dépit de tout ce qu’on a pu en dire, demeurent en grande partie terra incognita »14. La réalité dont traite l’histoire, dans le double sens du mot d’expérience historique (les res gestae) et de rendu de cette expérience (l’historia rerum gestarum), c’est le monde de la vie, le Lebenswelt – Kracauer ne cesse de nous le rappeler tout au long de 13 14

Kracauer, History, p. 157. Kracauer, History, p. 4.

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son livre. Il s’agit d’une région hétérogène, irrégulière, fragmentée, pour partie aléatoire, pour partie ordonnée, d’un monde « à moitié cuit » (et donc à moitié cru) comme il l’écrit, d’un monde précaire. Pour l’appréhender, il faut en prendre en compte les spécificités. Telle est la tâche que s’est assignée History – comme l’avait fait auparavant son essai sur la Théorie du film15. Il est aussi nécessaire d’accepter que les énoncés historiques partagent le statut des objets qu’ils visent et dont ils ambitionnent de rendre compte. Quelle qu’en soit la sophistication relative, ils sont eux aussi des produits semi-finis puisqu’ils sont eux-mêmes situés dans l’histoire. Un tel rappel n’est pas, en tant que tel, original puisqu’il s’agit de la thèse centrale de l’historicisme depuis le XIXe siècle. Mais les conclusions que Kracauer en tire le sont davantage. Il n’a pas de sens de vouloir référer des vérités historiques à des vérités philosophiques: à la lettre, elles ne relèvent pas du même monde. Les secondes se situent à un niveau d’abstraction et de généralité, elles prétendent à un type d’objectivité qui reste hors de portée des premières: elles traitent des choses ultimes. La connaissance historique ne traite que des avant-dernières choses, « the last things before the last »: ses propositions « partagent leur caractère intrinsèquement provisoire avec le matériau qu’elles enregistrent, qu’elles explorent et qu’elles pénètrent ».16 Le savoir qui en est le produit n’en est pas pour autant invalidé et il reste contrôlable pour autant qu’il se soumette à des règles explicitées. Il est pertinent dans le registre où il lui est possible de se situer. Mieux, cette connaissance, que l’on considère trop souvent comme imparfaite, offre des prises sur le réel qui sont inaccessibles aux vérités proprement philosophiques dont le degré de généralité ne permet pas de couvrir tous les cas particuliers qu’elles sont censées subsumer. Elle est susceptible de repérer dans le détail et le désordre du monde des configurations inédites, des perspectives inattendues, « des choses qui n’ont pas de nom ». Dans cette formule, qui évoque bien sûr la « science sans nom » d’Aby Warburg, reparaît sous une forme plus explicite le thème cher à Kracauer de la rédemption de la réalité dont on mesure mieux désormais les enjeux proprement cognitifs. « Car si les vérités qui demeurent dans les interstices ne peuvent être acquises par voie de déduction à partir d’une conception ou d’un principe établis, il se peut qu’elles émergent de l’absorption dans des configurations de détails. »17 Au plus près du réel.

15 16 17

Kracauer, Siegfried: Théorie du film. La rédemption de la réalité matérielle [1960], Paris 2010. Kracauer, Théorie, p. 191. Kracauer, Théorie, p. 215.

GEDÄCHTNISPOLITIK IM „MAKING“ Bruder Klaus als polyvalente Figur der schweizerischen Erinnerungskultur Urs Altermatt

Jacques Picard kommt 1994 im Vorwort zur zweiten Auflage seines in der Geschichtswissenschaft grundlegenden und die zeitgenössische Debatte anregenden Buches „Die Schweiz und die Juden 1933–1945“ auf die historischen Mythen der Schweiz zu sprechen. Dabei setzt er sich kurz mit der 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft von 1991 auseinander, die wegen der sogenannten Fichenaffäre von der Mehrzahl der Kulturschaffenden boykottiert wurde. Wenn wir die schweizerischen Identitätsdebatten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überblicken, kann man drei Perioden unterscheiden: erstens diejenige des Réduitund Bollwerk-Denkens der „geistigen Landesverteidigung“ vom Zweiten Weltkrieg bis in die 1950er- und 1960er-Jahre, zweitens die Periode nach „1968“ mit ihren Dekonstruktionen der traditionellen Geschichtsmythen und schliesslich drittens die Zeit nach der Wende von 1989, die eine zunehmende Pluralisierung der Schweiz-Bilder in der Erinnerungs- und Geschichtskultur brachte. Darüber habe ich mich schon mehrfach geäussert, ich möchte hier auf ein im allgemeinen wie im wissenschaftlichen Diskurs bisher wenig beachtetes Detail hinweisen: Während 1291, Rütli und die Morgartenschlacht, Tell und Winkelried entmythologisiert wurden, blieben das Stanser Verkommnis von 1481 als Verfassungsgrundlage der Alten Eidgenossenschaft und seine Akteure weitgehend unberührt. Insbesondere konnte der Obwaldner Niklaus von Flüe die ihm zugeschriebene Rolle als herausragender Friedensstifter bei der Konfliktlösung von 1481 in den Erzählungen behalten. Ein illustratives Beispiel: Zum ehrenden Gedächtnis von Niklaus von Flüe publizierte die PTT in den 1920er- und 1930er-Jahren Sondermarken. Das 600. Geburtsjahr von Niklaus von Flüe (1417–1487), das in diesem Jahr mit verschiedenen Anlässen feierlich begangen wird, veranlasst mich, meinen Essay den Metamorphosen des Klausen-Bildes in der populären Erinnerungskultur im Verlaufe des 19. und 20. Jahrhunderts zu widmen. Wie dies Jacques Picard an Beispielen aus der jüdischen Geschichte wiederholt demonstriert hat, können Persönlichkeiten den Zeitgeist illustrativ zum Ausdruck bringen. In erster Linie interessiere ich mich nicht für das Leben und Wirken, sondern für das „Was“ und „Wie“ der Erinnerungskonstruktionen und der dabei hergestellten Mythen um Klaus von Flüe. Ich hoffe über das Medi-

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um „Niklaus von Flüe“, Hoffnungen und Ängste der Schweizerinnen und Schweizer in verschiedenen Epochen beleuchten zu können. Als gebürtiger Solothurner, dessen Heimatkanton 1481 als Folge des Stanser Kompromisses in den Bund der Eidgenossen aufgenommen worden ist, hat mich die Auseinandersetzung mit Klaus von Flüe und mit dem Stanser Verkommnis mein ganzes Berufsleben lang begleitet. Kein anderes Thema – und dies ist für mich in der biographischen Rückschau doch bemerkenswert! – interessierte im Zusammenhang mit meiner publizistischen Tätigkeit aus unterschiedlichen Motiven so lange ein so vielfältiges Publikum. Den ersten Artikel zur Thematik verfasste ich gemeinsam mit François de Capitani im Jahre 1981, die bislang letzten Seiten über Niklaus von Flüe sind in diesem Jahr 2017 erschienen.1 Und vor neuen Anfragen kann ich mich kaum retten! Dabei ist anzumerken, dass sich bei den Vorträgen die Zuhörerschaft keineswegs auf ein kirchennahes Publikum beschränkt und die rege Teilnahme von Frauen stets augenfällig ist. Ende des 15. Jahrhunderts drohte das Bündnisgeflecht der Eidgenossenschaft an Interessengegensätzen zwischen den Städte- und den Länderorten auseinanderzubrechen. Um einen Ausweg aus den Konflikten zu finden, ersuchten die 1481 in Stans versammelten Tagsatzungsherren den weitherum bekannten und im nahen Ranft/Flüeli bei Sachseln lebenden Einsiedler Klaus von Flüe um seinen Rat. Nach historisch gesicherter Überlieferung trugen dessen Ratschläge dazu bei, die schwere Krise des eidgenössischen Bundes zu überwinden. Das Stanser Verkommnis von 1481 wurde zur Verfassungsgrundlage der Alten Eidgenossenschaft; die beiden Städteorte Freiburg und Solothurn durften in der Folge dem Bund der Eidgenossen beitreten. Seither hat der Politiker, Bauer und Eremit im kollektiven Gedächtnis der Nation den Platz des Friedensstifters inne. Die katholischen Schweizerinnen und Schweizer der älteren Generation nennen ihn mit Sympathie und Ehrfurcht meistens „Bruder Klaus“.

Vom Eremiten, Patrioten und Friedensstifter Im konfessionellen Zeitalter des 16. und 17. Jahrhunderts wurde Klaus von Flüe zum politischen Prototyp des patriotischen Friedensstifters. Dadurch verlor er die religiös 1

Als Beispiele verweise ich auf: Altermatt, Urs: Konflikt und Konsens in der Schweiz. Vom Stanser Verkommnis zum Friedensabkommen, in: Altermatt, Urs/Preiswerk, Roy/Ruh, Hans (Hg.): Formen Schweizerischer Friedenspolitik, Freiburg 1982, S. 67–97. Mit vielen Quellenhinweisen belegt ist das lange Kapitel über Bruder Klaus in: Altermatt, Urs: Konfession, Nation und Rom, Frauenfeld 2009, S. 161–190. Dieser Beitrag stützt sich auf: Altermatt, Urs: Bruder Klaus: polyvalente Erinnerungsfigur, Mythos und Faszinosum, in: Gröbli, Roland u.a. (Hg.): Mystiker, Mittler, Mensch. 600 Jahre Niklaus von Flüe 1417–1487, Zürich 2016, S. 343–355. Ich beschränke mich in diesem Essay auf wenige Fußnoten und verweise interessierte Leserinnen und Leser auf meine Beiträge.

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fundierte, heiligmässige Entrücktheit des Waldbruders und Mystikers, gewann aber als friedensstiftender Landesvater an politischer Bedeutung. Als die konfessionspolitischen Konflikte im 18. Jahrhundert ihre Schärfe verloren, bot sich „Bruder Klaus“ dann als Personifizierung des staatsbürgerlichen Patriotismus an. Nachdem die Helvetische Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts den Sturz des Ancien Régime der Alten Eidgenossenschaft herbeigeführt hatte, predigte Bruder Klaus in den Erbauungsschriften weiterhin Eintracht, einen eidgenössischen Frieden mit betont transzendentaler Fundierung. Im frühen 19. Jahrhundert wurde er zum Verfechter edler Religiosität als Voraussetzung für einen guten Patriotismus, ähnlich wie heute die US-amerikanische Zivilreligion funktioniert. In den 1840er-Jahren brachen im Prozess der schweizerischen Nationsbildung politische Konflikte mit solcher Heftigkeit aus, dass der Obwaldner Mystiker seine überparteiliche Rolle als Friedensbruder verlor. 1848 verstand sich der Bundesstaat zudem als säkulares Staatswesen und bedurfte keines katholischen Seligen. Die freisinnigen Gründerväter besassen andere und modernere Symbole wie etwa die Mutter Helvetia auf den eidgenössischen Briefmarken und den Geldmünzen. Nach der Niederlage im Bürgerkrieg von 1847 zog sich der Kern des besiegten Sonderbunds ins Réduit ihrer katholisch-konservativen Stammlande zurück. Jüngere Kräfte um den katholischen Studentenverein versuchten zur gleichen Zeit, mit Hilfe des Zeitungs-, Vereins- und Parteiwesens ihre Anhänger in der ganzen Schweiz zu sammeln, wobei ihnen Klaus von Flüe als symbolische Leitfigur diente. Der Piusverein, der 1857 als gesamtschweizerischer Katholikenverein gegründet worden war, wählte ihn gar zum Vereinspatron. In der Zeit des Kulturkampfes der 1870er-Jahre vermischten sich die konfessionspolitischen Motive mit den von Rom aus propagierten „ultramontanen“ Frömmigkeitsformen, was im radikal-freisinnigen und im antikirchlichen Lager abwehrende Reaktionen hervorrief. Obschon Bruder Klaus von dieser Frömmigkeitsbewegung instrumentalisiert wurde, eignete sich seine knorrige Bauerngestalt eigentlich nicht für einen triumphalistischen Ultramontanismus. Ein Gemälde des Kirchenmalers Melchior Paul von Deschwanden, das damals häufig auf Karten, Andachtsbildchen und Kommunionandenken reproduziert wurde, prägte nun das Bild des Landesvaters – Bruder Klaus in gottesfürchtiger Anbetung vor dem Allerheiligsten Sakrament, gemalt zur Erbauung frommer Seelen. Mit dem Abflauen des Kulturkampfes in den 1880er-Jahren kam es zwischen dem politischen Katholizismus und dem radikalen Freisinn zu einem Annäherungsprozess, der sich vor dem Hintergrund von national-patriotischen Feiern (Feier zur Erinnerung an das Stanser Verkommnis 1881, Sempacher Schlachtfeier 1886, Bundesjubilä-

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um 1891) abspielte. Auch die Klausen-Feiern von 1887 in Sachseln boten den radikalen und liberalen Regierungsparteien die Möglichkeit, ihre Versöhnungsbereitschaft zu demonstrieren, während die früheren „Sonderbündler“ die Gelegenheit erhielten, sich als gute, ja ältere Patrioten zu präsentieren. Klaus von Flüe wurde aus der konfessionellen Einbindung der Kulturkampfzeit herausgelöst und auf ein patriotisches Podium gehoben, wo ihn Freund und Feind von 1847/48 als Vorbild eines zur Konkordanz mahnenden Staatsmannes verehren konnten. Der zusammenwachsende Nationalstaat Schweiz benötigte solche Leitfiguren, die das Bundeswerk ideell überhöhten. In der Zeit des Ersten Weltkrieges nahm Klaus von Flüe endgültig den Platz des überparteilichen und überkonfessionellen Landesvaters ein. Am Abend des 20. März 1917, also am Vorabend seines 500. Geburtstages, liess der Bundesrat im ganzen Land ein patriotisches Glockengeläut erklingen. Bundesrat und Armeeführung stellten den alteidgenössischen Helden als leuchtendes Beispiel für friedenstiftendes und vermittelndes Wirken in der Welt vor. Die inneren und äusseren Gefährdungen, die den Zusammenhalt der Schweiz bedrohten, machten Klaus von Flüe zu einem „Gegenwartssymbol“ (so hiess es wörtlich im Kreisschreiben des Bundesrates, das an alle Kantonsregierungen ging). Nun wurde Klaus erstens als Protektor der mehrsprachigen Schweiz und zweitens als Versöhnungsfigur zwischen den sozialen Klassen präsentiert. Im Kriegsjahr 1917 kam zudem eine neue internationale Komponente zum bisherigen Klausen-Bild hinzu. Verschiedene Redner und Autoren brachten Bruder Klaus in Zusammenhang mit der aussenpolitischen Maxime der Schweiz. Neutralität und internationaler Völkerfriede waren von nun an Begriffe, die die traditionellen Bruder-Klausen-Narrative ergänzten. Niklaus von Flüe wurde zum Exportartikel, der das aussenpolitische Sendungsbewusstsein des neutralen Kleinstaates zum Ausdruck brachte. Eine Einschränkung ist allerdings anzubringen: Die Sozialdemokraten, die mittlerweile von den „Sonderbündlern“ die Zuschreibung als „vaterlandslose Gesellen“ übernommen hatten, standen ausserhalb dieser zivilreligiösen Beschwörungsfeiern.

Auf dem steinigen Weg zur römischen Heiligsprechung Nach dem Ersten Weltkrieg nahm die Verehrung des seligen Bruder Klaus im katholischen Bevölkerungsteil ein bisher unbekanntes Ausmass an. Erst jetzt gingen die Eliten und das gläubige Volk mit Hilfe der Vereine und Zeitungen und dank der Eisenbahn und des Postautos daran, für das Anliegen der Heiligsprechung zu mobilisieren. Im Jahre 1927 entstand der Bruder-Klausen-Bund, ein Gebetsverein, der enorme Akti-

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vitäten entfaltete und in grossen Auflagen Gebetbüchlein und eine ganze Reihe volkstümlicher Erbauungsschriften drucken liess. Die Gläubigen machten sich auf den Weg, die überfällige römische Kanonisation mit den Füssen und Gebeten wallfahrender Pilger gleichsam plebiszitär vom Himmel zu erbitten. Einen Höhepunkt erreichten die Pilgerzüge 1937. Victor Bieri2 schätzt die Zahl der Pilger in diesem 450. Todesjahr auf über 100.000. Die Post gab 1929 eine Pro-Juventute-Briefmarke mit dem Bruder-Klausen-Sujet heraus. Eine Ehre, die dem Eremiten ein weiteres Mal, nämlich 1937, zuteilwurde. Fünfzig Jahre später, 1987 anlässlich seines 500. Todestages, lehnten die PTT den Wunsch nach einer neuen Sondermarke allerdings ab. Von protestantischer Seite soll moniert worden sein, dass der Reformator Zwingli im Jubiläumsjahr seines 500. Geburtstages 1984 keine Sondermarke erhalten habe. Im Jahre 2017 erhält Niklaus von Flüe wieder eine Gedenkmarke. Vor dem Hintergrund der gefahrvollen Zwischenkriegszeit mit Diktaturen rund um die Schweiz versteht man leicht, dass die Bruder-Klausen-Feiern den Zeitgeist der „geistigen Landesverteidigung“ dankbar aufnahmen. So lässt sich in der Zwischenkriegszeit die Argumentation weiterverfolgen, die an das Narrativ des internationalen Friedensmannes anknüpfte. Es hiess, die Schweiz solle den Heiligen der ganzen Welt als Patron der Völkerversöhnung und als Schutzherrn des Friedens, des Völkerbundes und der Abrüstung schenken. Allerdings stand die Linke dem Obwaldner nach wie vor distanziert, wenn auch insgesamt weniger abweisend, gegenüber. Im Zweiten Weltkrieg – und auch das ist keine Überraschung – verstärkte sich die Bruder-Klausen-Verehrung. Die Ängste der Kriegsjahre erklären auch, dass im kritischen Kriegsjahr 1940 rund 50.000 Wallfahrer nach Sachseln pilgerten. 1947 erklärte sich die römische Kirche endlich bereit, die Heiligsprechung vorzunehmen, die die Schweizer Katholiken schon lange gefordert hatten. Um skeptische Stimmen im Protestantismus abzudämpfen, entsandte die Landesregierung Bundesrat Enrico Celio, indessen als Privatmann, zu den römischen Feierlichkeiten vom 15. Mai 1947 in Rom. An den Sachsler Feierlichkeiten vom 25./26. Mai nahmen hingegen Bundespräsident Philipp Etter und Vizepräsident Celio teil. Nach der kirchlichen Heiligsprechung passten sich Kirche und katholische Innerschweizer Kantone dem römischen Heiligenkalender an. Der Bruder-Klausen-Tag war fortan der 25. September. Die nicht-katholische Schweiz blieb beim zivilen Todesdatum des 21. März als Gedenktag. 2

Bieri, Victor: „… drum kommt aus jedem Schweizer Haus ein Beter zu den Pilgerscharen“. Bemerkungen zu Bruder-Klaus-Wallfahrten zwischen 1933 und 1957, in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 81 (1987), S. 31–50.

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Während die Heiligsprechung von der grossen Mehrheit der Katholiken als Ehrenbezeugung von Papst und Kirche betrachtet wurde, nahmen sie viele Reformierte mit gemischten Gefühlen auf und blieben entsprechend reserviert. Die Heiligsprechung entzog den Nationalhelden nämlich der patriotisch-überkonfessionellen Verehrung und vereinnahmte ihn für die katholische Seite. Für viele Protestanten war er nun in erster Linie katholischer Heiliger und erst in zweiter Linie patriotischer Nationalheld. Der „Abschiedsbrief an Bruder Klaus“, der 1947 in einer evangelischen Zeitung zu lesen war, gab dieser kritischen Stimmung Ausdruck: „Lieber Bruder Klaus [...] ,selig’ warst Du für alle Eidgenossen, ,heilig’ bist Du in Zukunft nur für einen Bruchteil.[...] Dein Platz war bisher im Herzen jedes aufrechten Eidgenossen; jetzt stellen sie Dich auf einen Altar, vor dem unsereins nicht niederkniet. So leb denn wohl, lieber Bruder Klaus. Armer, nicht einmal dies kannst Du der heutigen Menschheit einprägen, dass sie aus Deiner Heiligkeit kein Geschäft machen darf. Schick Dich drein in Deinem Chambre séparée.“3 Die Heiligsprechung ging also mit einigen konfessionalistischen Irritationen über die Bühne. Die kleineren Dispute, die im Zusammenhang mit der Heiligsprechung von 1947 aufflackerten, waren für die damalige labile Lage des konfessionellen Klimas in der Nachkriegs-Schweiz charakteristisch. Die Jesuiten blieben weiterhin durch die Bundesverfassung diskriminiert, und der päpstliche Nuntius in Bern erhielt erst 1991 bzw. 2004 ein diplomatisches Pendant in Rom. Bruder Klaus konnte diesbezüglich keine politischen Wunder wirken.

Krisenmanager, alternativer Aussteiger und Isolationist Die rapide Säkularisierung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts liess diese konfessionellen Vorbehalte erodieren. Mit der Ökumene des Alltags rückten Katholiken, Protestanten und Juden einander näher. Die konfessionellen Streitfragen erhielten einen anachronistischen Geschmack. Im Jahr 1973 nahm das Schweizer Stimmvolk – allerdings mit nur knapper Mehrheit – symbolisch Abschied vom Kulturkampf, indem es die diskriminierenden Jesuiten- und Klosterartikel aus der Bundesverfassung strich. Seit den 1960er-Jahren bemühten sich evangelisch-reformierte Theologen vermehrt darum, die katholische Heiligenverehrung zu verstehen, und die Katholiken kamen dieser Entwicklung dadurch entgegen, dass sie ihren Heiligen menschlichere Züge gaben. 3

Evangelische Volkszeitung, 9. Mai 1947.

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Grossen Erfolg verzeichneten die Bücher des reformierten Theologen und Schriftstellers Walter Nigg, der aus „Bruder Klaus einen ökumenischen“ Heiligen machte.4 Im Zeitalter der Globalisierung gewannen in den 1980er-Jahren die internationalen Elemente des Bruder-Klausen-Bildes wieder an Bedeutung. Die von der Friedensbewegung ins öffentliche Bewusstsein gehobenen Endzeit-Szenarien eines Atomkrieges gaben der Friedensthematik neue Dimensionen. Bruder Klaus wurde so zum Aufhänger für Reflexionen über den Frieden in der Welt. Doch auch die Nationalkonservativen beriefen sich auf den Obwaldner Eremiten und verwendeten bei der eidgenössischen Volksabstimmung über den UNO-Beitritt 1986 seine tatsächlichen oder vermeintlichen Worte, um das Schweizer Volk gegen den Beitritt der Schweiz zur Weltorganisation zu mobilisieren und den Isolationismus zu rechtfertigen. Zu Beginn der 1980er-Jahre wurde unter dem Druck der Frauenbewegung vermehrt auch Dorothea Wyss, der Frau des Eremiten, Beachtung geschenkt. In seiner Friedenspredigt vom 14. Juni 1984 im Flüeli erwähnte Papst Johannes Paul II. – wie schon vor ihm Pius XII. 1947 – die Verdienste der Ehefrau. Nach dem Ölschock und der Wirtschaftsrezession von 1973 erfuhr der Eremit Klaus eine neue breite gesellschaftliche Akzeptanz im Zuge der Kritik am Fortschrittsglauben. Die verunsicherten Menschen suchten nach Vorbildern, und hier bot sich Bruder Klaus als Eremit und Aussteiger an. Für viele, so etwa für den Schriftsteller Hans Rudolf Hilty5 galt der Waldbruder als prophetische Persönlichkeit, die sich mit ihrem Rückzug in den Ranft den Zwängen der zivilisierten und konsumeristischen Welt verweigerte. Bewegungen, die das Landleben und die Mystik, Bio-Nahrung und ganzheitliche Lebensweise in den Mittelpunkt rückten, gaben dem Ranft-Heiligen eine postmoderne Deutung: Bruder Klaus als Postmaterialist und Antimodernist, als Schutzheiliger für Randgruppen und für Alternativen in unserer Überflussgesellschaft. Die charismatische Persönlichkeit des Mystikers gewann in jenen Schichten der Gesellschaft an Sympathien, die sich von der institutionellen Religion abgewendet hatten. Ist das Motto von 2017 „Mehr Ranft“ – also mehr Stille und Meditation –nicht eine Fortsetzung dieser Erzählung?

4 5

Nigg, Walter: Niklaus von Flüe. Eine Begegnung mit Bruder Klaus, Basel/Freiburg/Wien 1976; Nigg, Walter: Niklaus von Flüe in Berichten von Zeitgenossen, Olten 1980. Hans Rudolf Hilty, Bruder Klaus oder Zwei Männer im Wald. Eine erzählerische Recherche, Zürich 1981.

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Worin besteht das Faszinosum? Was zeigen uns die Metamorphosen des Bruder-Klaus-Bildes? Über Jahrhunderte hinweg war Niklaus von Flüe ein Faszinosum, ein Erinnerungsmythos, der die historisch reale Person mit vielfältigen Erzählungen immer neu deutete und konstruierte. Erstens: Von allen Bildern und Mythen, die Bruder Klaus in der Vergangenheit umrankt haben, kommt das nationalpolitische Narrativ am häufigsten vor. Wegen des Stanser Kompromisses von 1481 umgab ihn von Anfang an die Aura des Friedensstifters und Retters des Vaterlandes, eine Rolle, die der aufklärerische Helvetismus im 18. Jahrhundert zum Landesvater stilisierte. Im 19. Jahrhundert geriet seine Persönlichkeit in den Strudel von partei- und konfessionspolitischen Konflikten. Je mehr die katholisch-konservative Parteibewegung den Obwaldner für sich okkupierte, desto stärker gingen die kirchenfernen oder säkularen Schweizer auf Distanz. Indessen wirkte der Bruder-Klausen-Mythos auch in die andere Richtung. Als die Freisinnigen am Ende des 19. Jahrhunderts den früheren Landesvater als nationalpolitische Integrationsfigur neu entdeckten, wurde es für die katholisch-konservative Opposition einfacher, sich mit seiner symbolischen Hilfe in den liberalen Bundesstaat von 1848 einzuordnen. Die Narrative über Bruder Klaus sind illustrative Beispiele für diesen Inklusionsprozess, in dem Konfession und Nation verschmolzen. Zweitens: Unterlegt war das patriotische Narrativ bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts stets mehr oder weniger mit religiösen Elementen. Dies hatte auch Nachteile zur Folge. Je mehr es den Katholiken gelang, Klaus als Heiligen zu sakralisieren, desto mehr entrückte er den säkularen Bezugspunkten der modernen Schweiz. Paradoxerweise erleichterte erst die fortschreitende Säkularisierung des ausgehenden 20. Jahrhunderts die Annäherung von religionsfernen Menschen an das Phänomen Bruder Klaus und ermöglichte sowohl ökumenische als auch weltliche Interpretationen. Drittens: Die polyvalenten Narrative von Bruder Klaus von Flüe sind Ausdruck der Pluralisierung von Erinnerung und Gedächtnis in der postmodernen Gesellschaft. In der Erinnerungsfigur von Bruder Klaus manifestiert sich die zunehmende Hybridisierung von Geschichte, die seit den 1970er-Jahren von eindimensionalen „Meistererzählungen“ Abschied nimmt. Vielleicht ist das eine Erklärung dafür, warum die reale Persönlichkeit Bruder Klaus bis heute so variable und biegsame und doch so konstante und zeitlose Erinnerungsnarrative für deren Deutung bietet. Ich bin überzeugt, dass der sensible Geschichts- und Zeitdeuter Jacques Picard, der wie ich seine Studien in Fribourg begonnen und in Bern abgeschlossen hat, eine solche Debatte mit überraschenden Beiträgen befruchten könnte.

Dezemberraunen die graue Wacht fest im Blick mutig sein und klug

Dezemberraunen Dinge, Menschen, Vorstellungen über-setzen

Vom Schmuggeln für Jacques Picard von Silvy Chakkalakal

Dezemberraunen ohne Angst beim denken und retten grenzenlos

Take it deeper Brigitte Lustenberger

3 BRÜCHE UND STÖRUNGEN

LIEBMANN HERSCH IN THE ERA OF THE SECOND WORLD WAR A Research Note Jack Jacobs

In the course of a research project on the relationship between the Jewish labor movement in the United States and those who were attempting to flee from Europe during the Nazi era, I came across hitherto unknown materials documenting the attitudes and activities of Professor Liebmann Hersch. These documents shed light not only on ­Hersch – a significant figure in his own right – and on the organizations with which he worked, but also on the fears of Jews in Switzerland during the Second World War. Based primarily on archival work conducted in New York at the YIVO Institute for Jewish Research and at the Robert F. Wagner Labor Archives, this research note describes the tension created by Hersch’s desire to aid others while also striving to protect himself and his family. Hersch, who was born in Lithuania in 1882 into a Jewish family, first travelled to Switzerland at the end of 1904, and served, from the 1920s until the time of his death in 1955, as a professor of statistics and demography at the University of Geneva.1 He produced a significant body of academic writings on themes related to Jewish migration, Jewish population trends, criminality among Jews and non-Jews in Poland, and Jewish delinquents, and won prestigious awards for his work. While maintaining an active research agenda, and publishing in a number of languages, including Polish, French, German, English, and Yiddish, he also participated in Jewish political and communal affairs. Hersch was closely associated with the Jewish Workers Bund, with which he first had contact while still a gymnasium student, and with which he formally affiliated in Geneva in 1905, and accepted as his own the Bund’s Marxist-influenced, diaspora-oriented, secularist, and Yiddishist world view. Indeed, his Bundist perspective is evident 1

The biographical information on Hersch in the first two paragraphs of this research note is derived from Reyzen, Zalmen (Ed.): Leksikon fun der yidisher literature (Vol. I), Vilna 1926, columns 875–880. Hertz, J[acob] S. [I. Sh. Herts] (Ed.): Doyres bundistn. (Vol. II). New York 1956, pp. 32–40; and Leksikon fun der nayer yidisher literature (Vol. III), New York 1960, columns 220–226; Cf. Liebmann Hersch (1882–1955), in: Population X/3, (July–September, 1955), pp. 529–530; Alroey, Gur: Demographers in the Service of the Nation: Liebmann Hersch, Jacob Lestschinsky, and the Early Study of Jewish Migration, in: Jewish History XX/3–4 (2006), pp. 270–276.

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not only in his popular and political writings but also in his scholarly work. Hersch served, at varying points in the years of the Czarist Empire, as a member of the Bund’s Foreign Committee (founded in Geneva in 1898), as an editor of Otkliki bunda (first published in Geneva in 1909), and as a delegate of the Bund to the international conference of socialists held in Zimmerwald in 1915.2 In the interwar era, to be sure, Hersch was not as prominent in Bundist affairs as had earlier been the case. He signaled his continuing adherence to the ideas which he had embraced as a younger man, however, by serving as the representative in Geneva of the Warsaw-based Tsentrale yidishe shul organizatsie (TSYSHO), a network of Yiddish language schools for Polish Jewish children, in which Bundists played a significant role. More generally: He is known to have aided Bundist and Yiddish-secular institutions insofar as he was able to do so from Switzerland throughout the 1920s and 1930s. The outbreak of the Second World War ultimately created an existential crisis both for much of European Jewry and for non-Jewish leftists in the Axis and Axis-dominated countries of Europe. The Jewish Labor Committee (JLC), which had been established in New York in 1934, and which contained within its ranks substantial numbers of individuals sympathetic to the ideas of the Bund, undertook extraordinary efforts to aid social democratic, socialist, and labor leaders stranded in Europe, including Bundist and Labor Zionist activists trapped in Poland by the German invasion of 1939, German and Austrian exiles stranded in France by the Nazi invasion of that country in May 1940, and other pro-labor, non-Communist refugees who were in desperate need of help.3 By interceding with prominent officials in the American government, the JLC succeeded, in the summer of 1940, in obtaining roughly 400 emergency visitors’ visas to the US, each of which could be used not only by the individual named on the visa but also by the members of his or her immediate family. Steps were taken to inform those for whom visas had been obtained of their new status, and to provide help to those concerned with travel arrangements to the US. Individuals and groups for whom visas could not be obtained were provided with material support. It rapidly became all but impossible, however, for those in the US to send funds directly to either individuals or groups in Axis-occupied areas. At that moment, the 2

3

For background information on Bundists in Switzerland in the Czarist Era see: Mayoraz, Sandrine: The Jewish Labor Bund in Switzerland, in: Lewinsky, Tamar/Mayoraz, Sandrine (Eds.): East European Jews in Switzerland, Berlin 2013, pp. 54–76. Jacobs, Jack: Ein Freund in Not. Das Jüdische Arbeiterkomitee in New York und die Flüchtlinge aus den deutschsprachigen Ländern, 1933–1945, Bonn 1993; Cf. Collomp, Catherine: Résister au nazisme. Le Jewish Labor Committee New York, 1934–1945, Paris 2016.

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fact that Hersch was living in Switzerland, a neutral country, became of crucial import. The JLC gathered funds in America and wired them to Hersch. Hersch, in turn, acting as a volunteer representative of the JLC,4 forwarded the money sent to him to comrades and friends in need of help, and was, in specific instances, authorized by the JLC to use the money as he saw fit in conjunction with the JLC’s rescue and relief campaigns.5 In addition, despite regulations introduced in Switzerland in October, 1939, which severely limited the number of refugees who were permitted to enter that country, Hersch used his prominent academic position and his reputation in the scholarly world in order to intercede with Swiss authorities on behalf of specific individuals seeking asylum. When, in the wake of the German invasions of France and Belgium, refugees who had succeeded in entering Switzerland despite Swiss laws designed to prevent them from doing so were interred in camps by the Swiss government, Hersch also helped to organize cultural activities for the internees. But it is today no longer widely recognized that, by mid-1940, Hersch had concluded that there was a good chance that he was himself in danger and that it would be prudent for him to take steps to seek an escape route for himself. Switzerland was, following the German military victories of 1940, surrounded by the Third Reich, fascist-ruled Italy, and Vichy France. Like many others, Hersch was deeply worried that Germany would invade Switzerland. In the summer of 1940, therefore, Hersch applied to the American Consulate in Geneva for a “non-quota immigrant visa” to the United States.6 He included with his application a series of documents, including a promise of employment from the YIVO Institute in New York. When, however, this application came to naught, Hersch corresponded with Emanuel Nowogrodzki (a member of the Central Committee of the Bund in Poland who had travelled from Europe to the US on a fundraising mission before the beginning of the Second World War, and who had remained in New York in the wake of the invasion of Poland) about other paths by which he could obtain an American visa for himself. Indeed, Hersch believed, on the basis of a telegram he received from Nowogrodzki dated September 13th, 1940, that Nowogrodzki had in fact obtained such a visa for Hersch, and that the requisite docu4 5

6

“University of Geneva Honors Prof. Hersch for Science, Humanity,” in Voice of the Unconquered, (January– February, 1946), p. 4. See Jacob Pat to Sh[muel] Zygielbaum, 17 July, 1940, Jewish Labor Committee Collection, Wagner Archives, Tamiment Library, New York, indicating that help for Raphael [Abramovitch] and other Russian Social Democrats who were caught in France had been sent via Hersch. Letter from Liebmann Hersch, 22 June, 1940, Archives personnelles de Liebmann Hersch [henceforth: ALH] 1940. My thanks to Daniel Bitter for helping me to obtain access to specific items in this collection.

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mentation was in the hands of the American Consul in Marseilles. Hersch went so far as to write to the Consul in order to see whether he would be obliged to travel to Marseilles in order to pick up his visa, or whether it would be sufficient for him to mail his passport to Marseilles in order to have it stamped.7 To his surprise, however, the Consul responded that “No authorization to give you a visa has been received by the Consulate.”8 Hersch immediately informed Nowogrodzki, and requested that the latter “please intervene [with] Washington”.9 Contacts in NY sent Hersch information as prominent Bundist refugees succeeded in reaching the US. On March 22, 1941, Hersch wrote a lengthy letter to the American Representation of the Polish Bund which began “First of all a hearty welcome to the newly arrived comrades … I am particularly happy about the arrival … of our beloved and honored comrade Noyakh [Portnoy]” who had been the head of the Polish Bund’s executive committee throughout the interwar era.10 The success of those in the US in saving Portnoy and other Bundists, including some older than Hersch, may well have encouraged Hersch to re-raise his own situation. In any event, on April 7th, 1941, Hersch followed up with Nowogrodzki and noted that he had decided to leave Geneva “not five minutes before twelve, but five minutes after twelve” – that is, to stay in Geneva as long as possible (presumably in order to render aid where he could for as long a period as he could) but then to leave as soon as possible after the beginning of a German attack on Switzerland.11 Hersch feared that Geneva would be occupied immediately in the wake of such an attack, because, he reported, the Germans were massed just beyond the border of the Canton of Geneva, and because he feared that the city would not be militarily defensible. He also noted that, under German pressure, there was reason to believe that anti-Jewish laws would be introduced. Hersch informed Nowogrodzki that it was very possible that once an invasion had begun it would be too late for him to flee – but that he was willing to take the risk of that being the case. On the other hand, Hersch continued, he did not want to altogether foreclose the possibility of rescuing himself if the need for doing so arose.

7 8

Liebmann Hersch to the Consul General of the United States, Marseilles, 15 November, 1940, ALH 1940. Liebmann Hersch to Emanuel Nowogrodzki, 24 November, 1940, RG 1461, file 203, YIVO Institute for Jewish Research, New York. 9 Cable, Liebmann Hersch to Emanuel Nowogrodzki, [20 November, 1940?], ALH 1940. 10 Liebmann Hersch to American Representation of the General Jewish Workers Bund (Bund) in Poland, 22 March 1941, RG 1461, file 203, YIVO Institute for Jewish Research, New York. 11 Liebmann Hersch to Emanuel Nowogrodzki, 7 April, 1941, RG 1461, file 203, YIVO Institute for Jewish Research, New York.

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Hersch thus asked Nowogrodzki to obtain an American visa for him immediately, and to inform him of crucial details (i.e. whether the relevant authorizations would be sent to the US consulate in Geneva or to the consulate in Zurich) via a telegram. Hersch added “It is not certain that my wife will decide to go immediately, but my son would travel with me. My two daughters (both Swiss citizens, born in Geneva) [would] remain in Switzerland.” Hersch made it clear that he did not intend to leave Geneva unless he had to, but he understood that if he “fell into the hands of the Hitlerists”, he would not come out alive. Hersch suggested that the exchanges he had had with Nowogrodzki in 1940 about relevant matters remained a matter about which he was still unclear – writing, in passing, “what kind of a ‘misunderstanding’ took place with the visa for me last summer?” – but it was his intent to underscore that whatever had happened in the past, further delay in obtaining a visa for him could under certain circumstances prove to be fatal. “That is where things stand” Hersch wrote. “And now do what you can.” On April 17th (by which date Hersch’s letter of April 7th had probably not yet reached New York) Hersch sent Nowogrodzki a cable underscoring his sense of the urgency, which reads, in full, “Please accelerate visa.”12 As late as May 19th, Nowogrodzki informed Hersch that “We hope to send you an affidavit soon.”13 But the matter was apparently not resolved. Though Nowogrodzki and Hersch remained in contact in later periods, I have thus far not located additional responses by Nowogrodzki to Hersch’s explicit requests for help either at the YIVO Institute (which has both a collection devoted to Hersch and a large archival collection devoted to the Bund) or at the Tamiment Institute (which owns the papers of the Jewish Labor Committee). The question of whether any such responses are extant in Switzerland or elsewhere remains an open one. The dreaded invasion of Switzerland, however, did not take place. Hersch, therefore, stayed in that country, and continued his service to the JLC both in the latter years of the Second World War and in the immediate postwar period. He also became far more prominent in Bundist affairs after the War ended than had been the case in the 1920s and 1930s, serving, for example, on the Bund’s World Coordinating Committee.14 12

Cable, Liebmann Hersch to Emanuel Nowogrodzki, 17 April, 1941, Jewish Labor Committee Collection, box 38, folder 7, Wagner Archives, Tamiment Library, New York. 13 Emanuel Nowogrodzki to Liebmann Hersch, 19 May, 1941, ALH. 1941. 14 Hersch’s positions on debates within the postwar Bund have been discussed by Yosef Gorny: Converging Alternatives. The Bund and the Zionist Labor Movement, 1897–1985, Albany 2006, pp. 220–222; Slucki, David: The International Jewish Labor Bund after 1945. Toward a Global History, New Brunswick 2012, pp. 21–22, pp. 186–190.

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Hersch’s fears were not actualized, but his missives and cables provide deeply disturbing evidence of the atmosphere in Switzerland during the years of the War, as well as evidence of his selfless work on behalf of others.

ÜBER DAS BIOGRAPHISCHE SCHREIBEN Der Fall Maurice Picard Stefanie Mahrer

Zur Einleitung: Über das Schreiben einer Biographie Maurice Picard, geboren am 12. September 1870 in La Chaux-de-Fonds,1 hinterliess trotz seiner grossen Bedeutung für die Uhrenstadt La Chaux-de-Fonds kaum Quellen zu seinem Leben. Wie also kann man, aus dem Wenigen, was von und über ihn überliefert ist, seine Lebensgeschichte rekonstruieren? „Wie“, fragte auch Virginia Woolf, als sie das Leben von Roger Fry niederschreiben wollte, „kann man ein Leben aus sechs Kartonschachteln voller Schneiderrechnungen, Liebesbriefen und alten Postkarten konstruieren? “2 Von Maurice Picard bleiben uns noch nicht einmal sechs Kartonschachteln. Die Biographie ist ein publikumswirksames, aber gleichzeitig eines der schwierigsten Genres des wissenschaftlichen Schreibens. Als rein hermeneutisches Verfahren sah sie sich in den 1970er-Jahren der Fundamentalkritik der nunmehr verstärkt theoriegeleiteten Geschichtswissenschaft ausgesetzt. Die Singularität eines Lebens und die individuelle Erfahrung des einzelnen Subjektes mochten das Erkenntnisinteresse einer neuen Generation von Historikerinnen und Historikern nicht mehr befriedigen. Im Hinblick auf die neuen Fragen nach langfristigen Entwicklungen und nach den Strukturen der menschlichen Geschichte wurde die angeblich theoriefeindliche Biographik und ihre Verfahren der Rekonstruktion eines singulären Lebens von der Sozialgeschichte als überholt und erkenntnisfrei diskreditiert.3 Erst das aufkommende Unbehagen an der menschenleeren Strukturgeschichte weckte ein Jahrzehnt später ein neues Interesse am Bewusstseinsleben des historischen 1 2 3

Es gibt zwei widersprüchliche Angaben zu Picards Geburtsdatum. Er selbst nennt den 12. und nicht wie in Zeitungsberichten angegeben den 20. September als Tag seiner Geburt. Brief Virginia Woolf an V[ictoria Mary] Sackville-West, 3. Dezember [1939], in: Nicolson, Nigel (Ed.): Leave the letters till we’re dead. The letters of Virginia Woolf (Bd. VI), London 1980, pp. 373–374. Vgl. Lässig, Simone: Die historische Biographie auf neuen Wegen?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 10 (2009), S. 540–553, hier S. 540.

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Subjekts. Der Soziologe Pierre Bourdieu machte deutlich, dass die von der Sozialgeschichte ins Zentrum gerückten „sozial-strukturellen Tatsachen“, erst durch die Aneignung durch einen Handelnden, einen historischen Akteur, „soziale Wirklichkeit“ werden.4 Die erneuerte Biographik, die eng mit dem aus der Soziologie entstammenden Konzept der „Lebenswelt“ verbunden ist, bedeutete jedoch keinesfalls ein Zurückfallen in theoriefreie Zustände und führte auch keineswegs zu hagiographischen Überhöhungen des Individuellen. Der Zerfall des Fortschrittparadigmas und die Abkehr von einer linearen und teleologischen Geschichtsschreibung verhindern dies. Vielmehr hat die neue Biographik Konsequenzen aus der soziologischen Kritik5 gezogen, indem eine methodisch erneuerte Forschung den im Wandel befindlichen Realitätsund Wissenschaftskonzepten gerecht werden kann, wenn der Aspekt des Biographischen als Erkenntnisgewinn entsprechend eingebracht wird.6 Hierfür wird etwa fremdes Leben in einer Weise nachgezeichnet, dass der dazugehörige Inszenierungsund Konstruktionscharakter ebenfalls Bestandteil der Beschreibung ist. Im Unterschied zur alten Biographik des Historismus begreift somit die moderne Forschung (mit der neuen Forschungskategorie ‚Lebensbeschreibung’) das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft nicht länger dichotomisch; sie geht vielmehr von einem „soziologischen Begriff der historischen Persönlichkeit“7 aus. Ein isoliertes Betrachten des historischen Subjektes ist folglich ebenso als unbefriedigend zu bezeichnen, wie eine Strukturgeschichte, der die eigentlichen Menschen abhandengekommen ist. Es geht vielmehr darum, den Menschen im Netzwerk seiner Beziehungen, sowie im Gefüge von Zeit und Raum zu verstehen, denn das Handeln und Denken jedes Einzelnen ist geprägt von lokalen Sitten, geschlechtsspezifischen Vorstellungen und gesellschaftlichen Erwartungen. „Der Mensch lebt nicht nur ein persönliches Leben als Einzelperson, sondern, bewusst oder unbewusst, das seiner Epoche und Zeitgenossenschaft[,]“schrieb Thomas Mann im Zauberberg, und erfasste damit, was die wissenschaftliche Biographik erst Jahrzehnte später zu verstehen begann, nämlich dass eine Lebensgeschichte auch immer die Geschichte ihrer Epoche ist. Dies bedeutet jedoch gleichzeitig auch, dass 4 5 6 7

Vgl. Sieder, Reinhard: Sozialgeschichte auf dem Weg zu einer historischen Kulturwissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 20/3 (1994), S. 446–468, hier S. 448. Bourdieu, Pierre: Die biographische Illusion, in: Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a. M. 1998, S. 75–83. Vgl. Klein, Christian: Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, Stuttgart 2002. Bödeker, Hans Erich: Forschungs- und Diskussionsstand, in: Bödeker, Hans Erich: Biographie schreiben, Göttingen 2003, S. 9–63, hier S. 20.

Über das biographische Schreiben

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die gesellschaftlichen und sozialen Zustände von Menschen geprägt werden. Das wechselseitige Einwirken von Individuen und Strukturen macht Geschichte. Denn auch die poststrukturalistische Geschichte rekonstruiert Strukturen. „Allerdings“, so schreibt Reinhard Sieder, „denkt sie diese Strukturen nicht mehr als die zähen Determinanten des Handelns und Deutens, sondern ‚strukturell‘ ist eine Eigenschaft der durch Handeln und Deuten hervorgebrachten Verhältnisse.”8 Ein solcher Zugang zu Geschichte und zur historischen Biographik ermöglicht es, die Lebensgeschichte eines Menschen zu erzählen, auch wenn nur wenige Quellen überliefert sind, da es nicht darum gehen soll, eine lückenlose Chronik eines Lebens zu beschreiben. Vielmehr muss es darum gehen zu verstehen, wie das historische Subjekt in seiner Epoche sein Leben gestaltete, welche Entscheidungen es traf und wie diese von den Umständen der Zeit beeinflusst wurden. Es geht aber auch darum, den Eigensinn der jeweiligen Akteure im Blick zu behalten, und danach zu fragen, wo Neues geschaffen wurde und inwiefern sie sich gegen die vorherrschenden gesellschaftlichen Erwartungen und Normen auflehnten. Mit diesen Fragen soll die Lebensgeschichte von Maurice Picard, eines französischen Juden, der in der Schweiz geboren wurde, als junger Mann die Stadt La Chauxde-Fonds prägte, später nach Paris übersiedelte um in den 1940er-Jahren unter lebensbedrohlichen Umständen in die Schweiz zurückkehrte, in seinem historischen Kontext rekonstruiert werden.

Im Zentrum der Gesellschaft – Der junge Maurice Picard in La Chaux-de-Fonds Maurice Picard wurde 1870 in La Chaux-de-Fonds geboren. Sein Vater, Henri Picard, war einer der wichtigsten Händler von Präzisionswerkzeugen für Uhrmacher sowie Einzelteilen am Ort, seine Firma „Henri Picard & Frères“ hatte ihr Ladengeschäft an der Rue Léopold Robert Nummer 12, also mitten im Zentrum der Uhrenstadt mit weiteren Filialen in London und Paris.9 Als Maurice 1870 als ältester Sohn von später insgesamt sechs Geschwistern (vier Brüder und zwei Schwestern) auf die Welt kam, zählte La Chaux-de-Fonds etwas mehr als 459 jüdische Einwohner, was 2,34 Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung ausmachte. Gemessen an der allgemeinen Bevölke8 9

Sieder, Sozialgeschichte, S. 452. Notizen, Archiv des Musée international d’horlogerie (Rue des Musées 29, 2300 La Chaux-de-Fonds), 1948. (In der Folge MIH).

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rung war La Chaux-de-Fonds somit die Stadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil der Schweiz.10 Nachdem im Jahr 1857 das Niederlassungsverbot für Jüdinnen und Juden auf dem Gebiet des Kantons Neuenburg aufgehoben wurde, wuchs die zu diesem Zeitpunkt noch kleine jüdische Gemeinde rasant an. Der weitaus grösste Teil der jüdischen Immigranten stammte aus dem Elsässer Sundgau, ein weiterer Teil übersiedelte aus den umliegenden Orten im Berner Jura in das regionale Zentrum La Chaux-de-Fonds. Die Attraktivität der Uhrenstadt lag trotz der einsetzenden Uhrenkrise11 in den wirtschaftlichen Möglichkeiten, zudem verfügte die Stadt inzwischen über eine gut ausgebaute Infrastruktur für jüdisches Leben. In den Jahren 1860 bis 1880 etablierte sich die jüdische Bevölkerung in La Chauxde-Fonds auf mehreren Ebenen: sie integrierte sich verstärkt in die lokale Uhrenproduktion und wurde dadurch zu einem integralen Teil der regionalen Uhrmacherei. Gleichzeitig löste sich die jüdische Gemeinde vom Hegenheimer Rabbinat, das bis 1867 die Gemeinde mitbetreut hatte. Die Einweihung der Synagoge im Jahr 1863 und des Friedhofes im Jahr 1872 markierten die Eckpunkte einer definitiven Etablierung einer eigenständigen jüdischen Gemeinde. Auf gesellschaftlicher Ebene kam es vermehrt zu einem Austausch zwischen jungen jüdischen und christlichen Uhrmachern und Firmeninhabern, denn mit dem zunehmenden wirtschaftlichen Erfolg ging eine Verbürgerlichung des Grossteils der jüdischen Bevölkerung einher. Dieser soziale Aufstieg drückte sich unter anderem in der Freizeitgestaltung aus. Geselliges Beisammensein fand nun nicht mehr nur in konfessionell getrennten Sphären statt. Solange die Zusammenkünfte nicht der Anbahnung potentieller Eheschliessungen dienten, trafen sich die jungen Menschen von La Chaux-de-Fonds gerne zu Freizeitaktivitäten. In dieser Atmosphäre des wirtschaftlichen Aufstiegs und der sozialen Integration wuchs der junge Maurice Picard auf. Anders als die Generation seines Vaters erlebte er keine Unsicherheit einer nur provisorischen Niederlassungsbewilligung. Als Maurice 1870 geboren wurde, konnten sich die Juden frei niederlassen, sie hatten eine gut funktionierende Gemeindestruktur und zahlreiche Glaubensgenossen hatten sich als spezialisierte Uhrmacher und Uhrenhändler ein Unternehmen aufgebaut.12 Dass Maurice 10

Sämtliche Angaben sind den publizierten Statistiken der eidgenössischen Volkszählungen entnommen. Bundesamt für Statistik: Die Bevölkerung. Heimaths- und Aufenthaltsverhältnisse vom 1. Dezember 1870, Bern 1870. 11 Siehe dazu u.a.: Landes, David Saul: Revolution in Time. Clocks and the Making of the Modern World, Cambridge (Mass.)/London 1983, p. 345; Barrelet, Jean-Marc/Ramseyer, Jacques: Les résistances à l’innovation dans l’industrie horlogère des Montagnes neuchâteloises à la fin du XIXe siècle, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 37 (1987), S. 394–411. 12 Zur Geschichte der jüdischen Uhrmacher im Neuenburger Jura siehe: Mahrer, Stefanie: Handwerk der Moderne. Jüdische Uhrmacher und Uhrunternehmer im Neuenburger Jura 1800–1914, Köln 2012; Picard,

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seine französische Staatsbürgerschaft beibehielt, schloss ihn zwar von der politischen Partizipation aus, nicht aber von der gesellschaftlichen und der wirtschaftlichen. Das väterliche Geschäft und die gesicherte Stellung Henri Picards ermöglichte es der Familie nämlich, Maurice gut ausbilden zu lassen und ermöglichte ihm die Zugehörigkeit zu jenen jungen Männern, die sich in der oberen Gesellschaftsschicht bewegten. Es waren dann auch vor allem seine sportlichen und kulturellen Unternehmungen, die ihn in der oberen Gesellschaft bekannt machten. Als 26-jähriger Mann organisierte er gemeinsam mit Charles Bersin eine Ausstellung über die Geschichte und die Entwicklung des Fechtsportes. Als gut ausgebildeter Fechter lag ihm daran, den Sport einer weiteren Bevölkerung näherzubringen. Picard war nicht nur der Organisator der Veranstaltung, sondern trat auch als Fotograf in Erscheinung. Drei Jahre nach der Ausstellung erschien ein illustrierter Band mit Fotografien von Maurice Picard.13 Im Frühjahr des Jahres 1900 war er zudem Teil einer Gruppe, die den lokalen Touring-Klub gründete und im Jahr 1904 stand er einem Komitee vor, das einen Wintersport-Klub ins Leben riefen. Dieser Klub hatte allerdings keinen Bestand, da die Mitglieder zu hohe Vorstellungen hatten. Sie wollten Skipisten, ein Eislauffeld, Rodel- und Bobbahnen. Immerhin ging aus dieser ersten Initiative 1905 dann der Ski-Klub La Chaux-de-Fonds hervor.14 Diese Engagements machen deutlich, wie sehr Maurice Picard als junger Jude um die Jahrhundertwende Teil des sozialen städtischen Gefüges war. Dies deckt sich mit jener Forschung, die gezeigt hat, dass um 1900 die jüdische Bevölkerung von La Chaux-de-Fonds in die lokale bürgerliche Oberschicht integriert war.15 Als erfolgreiche Uhrmacher – nicht wenige waren an der renommierten Uhrmacherschule von La Chaux-de-Fonds ausgebildet worden – und als ebenso erfolgreiche Unternehmer waren sie Teil der lokalen Uhrmacherelite, aus der sich in der Uhrenstadt La Chauxde-Fonds die Oberschicht zusammensetzte. Nach der grossen Uhrenkrise der Jacques: Swiss Made oder Jüdische Uhrenfabrikanten im Räderwerk von Politik und technischem Fortschritt. Einige Notizen über einen zeit- und grenzgeschichtlichen Forschungsgegenstand, in: Allmende 36/37 (1993), S. 85–105; Mahrer, Stefanie: Migration und Verbürgerlichung, in: Marinelli-König, Gertraud/Preisinger, Alexander (Hg.): Zwischenräume der Migration. Über die Entgrenzung von Kulturen und Identitäten, Bielefeld 2011, S. 141–156; Donzé, Pierre-Yves: Les patrons horlogers de La Chaux-de-Fonds. Dynamique sociale d’une élite industrielle (1840–1920), Neuchâtel 2007, pp. 61–68. Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in La Chaux-de-Fonds zudem das einleitende Kapitel in: Blum, Sarah: La communauté israélite de La Chaux-deFonds de 1933 à 1945, Neuchâtel 2012. Wenn nicht anders vermerkt, stützen sich die folgenden Darstellungen auf die bisherigen Arbeiten der Autorin. 13 Anon.: Maurice Picard was a pioneer of the Swiss Horological Museum, in: Horological Journal. The Watch & Clock Journal, 1981, p. 68. 14 Vgl. Hirsch, Pierre: Un pionnier du Musée d’horlogerie: Maurice Picard (1870–1951), L’Impartial, 2. Mai 1977. 15 Mahrer, Handwerk, siehe Kapitel 4 und 5.

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1870er-Jahre, die durch die aufkommende industrielle und maschinelle Produktion von Zeitmessern in den USA ausgelöst worden war, folgte eine neue, junge Generation von Uhrmachern und übernahm die wirtschaftliche Vorherrschaft der eingesessenen Familien. Die bislang grossen Uhrmacherdynastien verschlossen sich nämlich grösstenteils den technischen Entwicklungen in der Produktion und verloren damit den Anschluss an den Weltmarkt. Es waren nun junge Uhrmacher, die ohne Rücksicht auf bestehende Familientraditionen bereit waren, sich für neue Techniken zu öffnen und die Handwerkskunst den neuen Anforderungen und Möglichkeiten anzupassen. Besonders jüdische Uhrmacher taten sich als Modernisierer der Branche hervor, hatten sie doch als Neuzugezogene und als Angehörige einer konfessionellen Minderheit wenig Sozialprestige zu verlieren.16 Durch den beruflichen Erfolg, der sich nicht nur in den Steuerakten widerspiegelt, sondern vor allem auch an der hohen Zahl an gewonnenen Auszeichnungen auf nationaler und internationaler Ebene, gehörten diese jüdischen Familien zum führenden Wirtschaftsbürgertum der Stadt. Es war weniger ein Vorstossen in bestehende Kreise, als vielmehr ein Mitaufbauen einer neuen städtischen Elite. Daraus lassen sich auch Maurice Picards zahlreiche kulturelle und sportliche Initiativen erklären. Als selbstverständlicher Teil dieser städtischen Elite war für ihn die Zugehörigkeit zur jüdischen Minderheit kein Ausschlussgrund. Maurice Picard gründete 1900 auch das Uhrenmuseum, das bis heute Bestand hat. Picard schwebte ein Ort vor, in dem sowohl die Geschichte der Uhrmacherkunst und der technischen Entwicklungen ausgestellt, als auch der gegenwärtige Stand der Uhrmacherei und mögliche zukünftige Neuerungen thematisiert werden. Am 24. März 1902 wurde das Museum eröffnet.17 Die Ausrichtung des Museums widerspiegelte zu Beginn sehr stark die Interessen ihres Gründers. Trotz seiner Verbundenheit mit La Chaux-de-Fonds verliess Picard 1906, wie viele andere seiner Generation, den Neuenburger Jura und liess sich gemeinsam mit seiner Frau Sara Marguerite18 in Paris nieder. Ungeachtet seines Wegganges blieb er, der inzwischen das Renommee eines international preisgekrönten Forschers genoss, mit seinem Herkunftsort eng verbunden, denn er führte in Paris die Zweigniederlassung des Familienbetriebes, der sich inzwischen „Les fils de Henri Picard“ nannte. Daneben 16

17 18

Siehe dazu: Barrelet/Ramseyer, Résistances, p. 401; Donzé, Patrons, p. 89; Mahrer, Stefanie: Retter in der Krise. Die Rolle der jüdischen Uhrenpatrons im Überwinden der Uhrenkrise im Jura der 1870er Jahre, in: Tachles. Jüdisches Wochenmagazin der Schweiz. Sonderbeilage, 2011, S. 4–5; Mahrer, Handwerk, S. 164–165. Aufzeichnungen der Tochter Maurice Picards, 2. Mai 1972, in: MIH D 1948. Sie bevorzugte den Rufnamen „Marguerite“.

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trat er als Forscher in Erscheinung und arbeitete unter anderem an der Entwicklung von Messgeräten. Auch zeigte er sich verantwortlich für die Einführung des metrischen Systems in der Uhrmacherei. Etwas aus diesem uhrenspezifischen Rahmen fällt Picards Gründung einer Fabrik zur Entwicklung und Herstellung von künstlichen Zähnen in der Nähe von Versailles. 19 Die Übersiedlung von Picard nach Paris war für die damalige Zeit durchaus üblich. Viele seiner Zeitgenossen verliessen La Chaux-deFonds, um sich im Ausland entweder weiter auszubilden oder aber Filialen des Familienbetriebs zu führen. Durch diese Migration entstanden internationale Wirtschaftsnetzwerke, die auf familiären Beziehungen beruhten. Als französischer Staatsbürger konnte sich Maurice Picard zudem problemlos in Paris niederlassen und weitere Geschäftsgründungen vornehmen. Auch in Frankreich war er daher ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft. Als passionierter Briefmarkensammler amtete er zum Beispiel als Vizepräsident der französischen Gesellschaft für Philatelie.20 Mit der Besetzung Paris‘ durch die Truppen des nationalsozialistischen Deutschlands änderte sich das Leben für Maurice und Marguerite Picard allerdings schlagartig. Aus dem angesehenen Uhrmacher, Entwickler und Geschäftsmann wurde ein verfolgter Jude, dem jederzeit die Deportation drohte.

Klandestine Rückkehr – aus einem angesehenen Mitglied der Gesellschaft wird ein internierter Jude Im Juni 1940 wurde Frankreich von den Nationalsozialisten besetzt.21 Durch das Vichy-Judenstatut vom Oktober und die deutsche Verordnung vom November 1940 wurden Juden und Jüdinnen aus dem öffentlichen Dienst ausgeschlossen und Berufs-, Ausgangs- und Bewegungseinschränkungen unterworfen und das Vermögen der in Frankreich lebenden Juden beschlagnahmt. Eine wichtige Etappe in der Verfolgung der französischen Juden war die im Jahr 1941 einsetzende karteimässige Erfassung. Während die Juden aus dem Elsass und aus Lothringen bereits 1940 ins Lager Gurs in Südfrankreich deportiert wurden, kam es im Grossraum Paris 1941 zu drei grossen Razzien. Maurice Picard befand sich zu dieser Zeit mit seiner Frau weiterhin dort. Die Situation muss für ihn bedrohlich gewesen sein. Trafen die Razzien von 1941 noch hauptsächlich ausländische Juden, die als Teil einer angeblich jüdisch-bolschewisti19 20 21

Aufzeichnungen der Tochter Maurice Picards, 2. Mai 1972, in: MIH D 1948. Siehe: Anon.: Maurice Picard. Premier président, L’Impartial, 11. November 2002. Zur Besetzung Frankreichs siehe Jackson, Julian: France. The dark years 1940–1944, Oxford 2003.

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schen Verschwörung gebrandmarkt wurden, begann die Deportation französischer Juden im Sommer 1942 im Zuge der neu etablierten Zusammenarbeit zwischen der französischen Polizei und der SS unter dem SS-Brigadenführer und Generalmajor der Polizei, Carl Oberg.22 Im Laufe des Sommers wurden von der französischen Polizei über 13.000 Juden und Jüdinnen in Paris festgenommen und in den französischen Lagern Pithiviers, Beaune-la-Rolande und Drancy interniert, von wo aus sie nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden. Unter Oberg wurde auch in Frankreich das Tragen des „gelben Sterns“ eingeführt, er und sein Adjudant, SS-Standartenführer Helmut Knochen, waren verantwortlich für die Deportation von insgesamt 75.000 Jüdinnen und Juden aus Frankreich.23 Spätestens im Sommer 1942 waren Maurice und Marguerite Picards Leben ernstlich bedroht. Jederzeit konnten sie zuhause festgenommen oder auf der Strasse aufgegriffen werden. Die Internierung und die Deportation in eines der Vernichtungslager hätten sie wohl kaum abwenden können. Weil beide bereits gesetzten Alters waren – Maurice war damals bereits über siebzig und Marguerite knapp über sechzig – wären sie, wenn sie denn den Transport überlebt hätten, kurz nach ihrer Ankunft ermordet worden. Ob ihnen die Gefahr, in der sie sich befanden, in diesem Ausmass deutlich war, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Sicher ist allerdings, dass sie sich bewusst waren, dass sie jederzeit deportiert werden könnten. Sie harrten jedoch trotz der grossen Gefahr weiterhin in Paris aus und blieben wohl unbehelligt. Im Winter 1944 bemühte sich das Ehepaar schliesslich doch um Papiere, die eine legale Einreise in die Schweiz erlaubt hätten. Maurice Picard kontaktierte im Laufe des ersten Quartals des Jahres 1944 den Berner Advokaten Georges Brunschvig, damit dieser für ihn und seine Frau eine sichere Einreise in die Schweiz erwirken konnte. Brunschvig war bekannt für seinen unermüdlichen Einsatz für jüdische Flüchtlinge. Es ist ein Brief Brunschvigs an Dr. Tschäppät vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement überliefert. In diesem Schreiben nimmt Brunschvig Bezug auf eine Besprechung zwischen ihm und dem Beamten, in der ihm zugesichert worden sei, dass „Herr Maurice Picard, geb. 12. September 1870 in La Chaux-de-Fonds, und dessen Ehefrau Sara Marguerite geborene Wolf, geb. 25. März 1881 in La Chaux-de22

23

Zu Carl Knochen siehe u.a. Moisel, Claudia: Frankreich und die deutschen Kriegsverbrecher. Politik und Praxis der Strafverfolgung nach dem Zweiten Weltkrieg (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 2), Göttingen 2004, Kapitel II.2. Zur Organisation der Judenverfolgungen und -deportationen in Frankreich siehe: Laub, Thomas J.: After the fall. German policy in occupied France 1940–1944, insb. Kapitel 9.

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Fonds, bei einer Einreise in die Schweiz nicht zurückgewiesen werden.“24 Tschäppät hat diesen Abschnitt des Schreibens markiert und handschriftlich angefügt „Stimmt nicht. Tschäppät.” Mit Brunschvig wählten die Picards einen vehementen Fürsprecher jüdischer Flüchtlinge, die versuchten in der Schweiz Zuflucht zu finden. Bei einer Vorstandssitzung der Israelitischen Kultusgemeinde Bern klagte er im Sommer 1942 die verfehlte Flüchtlingspolitik der Schweiz mit deutlichen Worten an: Zu Hunderttausenden sollen in Polen Menschen auf schrecklichste Weise zum Tode geführt werden […] Es ist mehr als begreiflich, dass unsere Glaubensgenossen versuchen, sich der Deportation zu entziehen, und so kamen in den letzten Tagen einige Hundert Personen, Männer, Frauen und Kinder, schwarz und ohne Ausweis in die Schweiz. […] Uns wurde auf der eidgenössischen Fremdenpolizei erklärt, dass ein derartiger Zustrom für die Schweiz aus politischen Gründen untragbar sei. Eine derartige Stellungnahme, die mit dem heiligen Asylrecht aller Kulturvölker nicht vereinbar ist. Es wird verlangt, dass nichts unversucht bleibt, um Abhilfe zu schaffen.25

Brunschvig löste im August 1942 eine Debatte über die schweizerische Asylpolitik aus, als er einem Journalisten von seinem vergeblichen Versuch berichtete, ein jüdisches Paar vor der Rückschaffung nach Deutschland zu retten. Mit seinem dezidierten Eintreten für eine humane Asylpraxis und mit seiner Kritik an der Politik der Schweiz widersprach er offen dem defensiven Vorgehen des Präsidenten des Schweizerisch Israelitischen Gemeindebundes (SIG), Saly Mayer.26 Das Eintreten von Brunschvig für Maurice Picard bei der Eidgenössischen Polizeiabteilung blieb jedoch ohne Wirkung, die von ihm erbetene Zusicherung einer sicheren Einreise wurde ihm verwehrt. Brunschvig unterliess es nicht, in seinem Schreiben an Tschäppat zu erwähnen, dass Marguerite Picard gebürtige Schweizerin und Maurice Gründer und Ehrenpräsident des Musée d’Horlogerie in La Chaux-deFonds sei. Zudem fügte er eine Erklärung von Jules Wolf und René Grumbach bei, 24 25

Kopie eines Briefs von Georges Brunschvig an Dr. R. Tschäppät, 27. März 1944, in: MIH D1948. Israelitische Kultusgemeinde Bern, Vorstandsprotokoll vom 20. August 1942. Hier zitiert nach: Einhaus, Hannah: Für Recht und Würde. Georges Brunschvig. Jüdischer Demokrat, Berner Anwalt, Schweizer Patriot (1908–1973), Zürich 2016, S. 131. 26 Zur Biographie Saly Mayers siehe: Zweig-Strauss, Hanna: Saly Mayer (1882–1950). Ein Retter jüdischen Lebens während des Holocaust (Jüdische Moderne), Köln 2007. Und zum SIG: Mächler, Stefan: Hilfe und Ohnmacht. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die nationalsozialistische Verfolgung 1933– 1945. (Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz). Zürich 2005.

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dem Bruder und dem Schwager von Marguerite, in denen die zwei Unterzeichnenden sich verpflichteten, für den Unterhalt des Ehepaares in der Schweiz aufzukommen.27 Dass die Schweiz verfolgten Frauen, die wie Marguerite Picard durch ihre Heirat mit einem ausländischen Ehepartner ihre schweizerische Staatsbürgerschaft verloren hatten, die Einreise in die Schweiz verweigerte und sie damit wissentlich der Gefahr einer Deportation aussetzte, gehört zu den dunkelsten Kapiteln der schweizerischen Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg. Den Frauen wurde mangelnde Loyalität zum Mutterland vorgeworfen, denn, so argumentierte der Adjunkt der Polizeiabteilung, Max Ruth „wenn eine Schweizerin die enge Lebensgemeinschaft der Ehe mit einem Ausländer eingeht [könne man] im Ernstfalle eben doch nicht mehr voll auf sie zählen“.28 In einem Kreisschreiben des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements wird über den Bundesratsbeschluss vom 11. November 1941 zum „Bürgerrecht der Schweizerin, die einen Ausländer heiratet“ informiert. Der Schweizerische Bundesrat kam zum Schluss, dass eine Schweizerin, „die einen Ausländer heiratet, [sich] immer mehr oder weniger harten Konsequenzen [ausgesetzt hat]. […] Vor dem Abschluss einer solchen Ehe muss sich die Frau deren Konsequenzen überlegen und nachher muss sie sie tragen. Sie muss wissen, dass nach schweizerischer Rechtsauffassung die Frau zum Manne gehört und während bestehender Ehe sein Schicksal zu teilen hat“.29 Bereits im November und Dezember 1941 wurde das Eidgenössische Politische Departement, vom Schweizerischen Konsul in Köln, Franz-Rudolph von Weiss über die Deportationen deutscher Juden in den Osten informiert. Paul Rüegger, der Gesandte in Rom und René de Weck, Gesandter in Budapest berichteten zudem über die systematischen Verfolgungen und die „versuchte biologische Vernichtung weiter Teile der Bevölkerung in den besetzten Gebieten im Osten“.30 Dass die Entscheidungsträger in Bern trotz dieser expliziten Informationen noch im Februar 1942 an der menschenverachtenden Politik festhielten und Frauen die Rückreise in die sichere Schweiz verwehrten, ist stossend. Umso mehr als dies mit der Begründung geschah, diese hätten ihre Situation selbst herbeigeführt und hätten daher das Schicksal ihres Mannes zu 27 28

Kopie eines Briefs von Georges Brunschvig an Dr. R. Tschäppät, 27. März 1944, in: MIH D1948. Zit. nach: Kury, Patrick: Für ‚die Seele unseres Landes‘. Der Fall Anna B., in: Petry, Erik u.a. (Hg.): Orte der Erinnerung. Menschen und Schauplätze in der Grenzregion Basel 1933–1945, Basel 2008, S. 78–80, hier S. 80. 29 Kreisschreiben des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements über die ‚mehr oder weniger harten Konsequenzen‘ für Schweizerinnen, die einen verfolgten Ausländer geheiratet hatten, 25. Februar 1942, abgedruckt in: Kury, Seele, S. 79. 30 Diplomatische Dokumente der Schweiz, 47311; 11981; 47318; 47313; 47314, Online Datenbank Dodis: dodis.ch (31.08.2016).

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tragen – ein Schicksal zudem, das notabene bei den Behörden bekannt war. So wurde Bundesrat von Steiger von Robert Jezler, dem stellvertretenden Leiter der Polizeiabteilung im Justizdepartement, Ende Juli 1942 ein ausführlicher Bericht vorgelegt, in dem dieser schrieb, dass die Zustände „derart grässlich“ seien, „dass man eine Rückweisung nicht mehr verantworten [könne].“31 Im August 1942 schloss die Schweiz ihre Grenzen für Asylsuchende aus Rasse-Gründen.32 Die Polizeiabteilung hielt im Falle des Ehepaars Picard auch im Winter 1944 an dieser folgenschweren Weisung fest, obwohl Bern aus verschiedenen gesicherten Quellen definitiv um die Existenz von Vernichtungslagern wusste. Unter dieser Prämisse wurde Maurice und Marguerite Picard eine geregelte Ausreise in die Schweiz versagt. Die Bedrohungslage war jedoch derart gross, dass sich das Ehepaar entschloss, auch ohne Einreisebewilligung in die Schweiz zurückzukehren. Die überlieferten Akten geben Aufschluss über die eingeschlagene Fluchtroute: Maurice und Marguerite fuhren mit der Bahn von Paris nach Dijon und von dort aus weiter mit dem Auto nach Foncine-le-Haut, einer kleinen Ortschaft im französischen Jura direkt an der Grenze zur Schweiz. Zu Fuss überquerte das Ehepaar am 17. Juni 1944 die Landesgrenze und wurde kurz nach Grenzübertritt von einer Patrouille der Grenzwacht aufgegriffen. Die Beamten schafften die Flüchtlinge nicht, wie sonst üblich, zurück nach Frankreich, sondern nahmen sie fest und übergaben sie der Waadtländer Polizei. Zu diesem Zeitpunkt kamen Flüchtlinge fast nur noch über die genferisch-jurassische Grenze, da dort die Beamten dem Bundesratsbeschluss vom August 1942 kaum Folge leisteten.33 Warum Maurice Picard und seine Frau nicht zurückgewiesen wurden, lässt sich aus den Akten nicht abschliessend beantworten, man kann aber davon ausgehen, dass sie wegen ihres fortgeschrittenen Alter als „Härtefall” betrachtet wurden und von den Grenzwächtern wohl deswegen nicht weggewiesen wurden. Maurice gab bei der Einvernahme zu Protokoll, dass er ausgestattet mit einer gefälschten französischen Identitätskarte wegen seiner Religionszugehörigkeit geflüchtet sei, da die deutsche Besatzungsmacht Juden festnahm. Er hoffe, in der Schweiz mit seiner Familie vereint zu werden. Und er erwähnte ebenfalls, dass er in La Chaux-de31

32 33

Streng vertraulicher Bericht Dr. Robert Jezler vom 30.07.1942, in: Bundesarchiv E 4800 (A) 1967/111, Nr. 336. Hier zitiert nach: Roschewski, Heinz: Rothmund und die Juden. Eine historische Fallstudie des Antisemitismus in der schweizerischen Flüchtlingspolitik 1933–1957 (Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz), Basel 1997, S. 40. Siehe dazu: Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg: Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus, Zürich 2001, S. 113–132. Unabhängige Expertenkommission Flüchtlinge - Zweiter Weltkrieg, Schweiz, S. 168.

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Fonds geboren sei, dass er wichtige Forschungsbeiträge im Bereich der Uhrmacherei geleistet habe und dass er Gründer und Ehrenpräsident des Uhrenmuseums La Chauxde-Fonds sei.34 Das Ehepaar wurde anschliessend für einige Zeit in einer Schule in Lausanne interniert. Durch die Bürgschaft von Wolf und Grumbach wurden die Picards aber schliesslich entlassen, sodass sie wie geplant nach La Chaux-de-Fonds fahren und sich dort im Kreise ihrer Familie niederlassen konnten.

Resümee „Biography […] has a particular kind of delicacy. It seeks to evoke life out of inert materials – in a shoebox or an attic – records of endeavor and imagination, cupidity and terror, kindness and love.“35 Als Historikerinnen und Historiker suchen wir das Individuum in den uns überlieferten Quellen und versuchen mit ihm in einen Dialog zu treten. Durch unsere Fragen und durch die Kontextualisierung lässt sich ein Leben aus den trägen unbeweglichen Materialien rekonstruieren. Dass ein Leben keinen „kohärenten und orientierten Zusammenhang, der als ein einheitlicher Ausdruck einer subjektiven ‚Intention‘, eines ‚Entwurfes‘ aufgefasst werden kann und muss“36 hat, hat bereits Bourdieu festgehalten – entsprechend zeigt auch das Leben von Maurice Picard Brüche auf. Als junger Mann genoss er als Mitglied der Oberschicht sämtliche Möglichkeiten, die die boomende Stadt ihm bot. Diese Möglichkeiten ausnützend, brachte er sich in das gesellschaftliche und kulturelle Leben ein. Bei der Wahl seiner Ehepartnerin folgte er jedoch den gesellschaftlichen Normen und heiratete eine junge lokale Jüdin. Gemeinsam verliessen sie den Neuenburger Jura, um sich in Paris niederzulassen. Auch dort standen ihm alle Möglichkeiten offen – bis zur Okkupation durch die Nationalsozialisten. Von einem Tag auf den andern wurden aus zwei gleichberechtigten Bürgern Menschen zweiter Klasse, die fortan fürchten mussten, verhaftet und interniert zu werden. Das Ehepaar, das zehn Jahre zuvor noch unbehelligt in die Schweiz, ihr Geburtsland, hatte einreisen können, wurde 1944 von den Schweizer Behörden nun als unerwünschte Flüchtlinge betrachtet, denen man eine Einreisebewilligung versagte. Der einst bekannte Uhrmacher, der Ehrenpräsident des Uhrenmuseums, und seine Frau wurden gezwungen, als über 70-Jährige mit gefälschten Papieren durch halb Frankreich zu fahren und heimlich über die grüne Grenze in die sichere Schweiz zu flüchten. 34 35 36

Kopie des Einvernahmeprotokolls, Maurice Picard, 21.06.1944, in: MIH D1949. Edel, Leon: Writing Lives. Principa Biographica, New York/London 1959, p. 20. Bourdieu, Illusion, S. 75.

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Als Historikerinnen und Historiker sind unsere Mittel, um das Gefühlsleben aber auch Ursachen für das Handeln von Individuen zu beschreiben, beschränkt. „A novelist“ – schreibt Leon Edel – „in his omniscience, knows the measures of his characters, out of his passion for all sorts and conditions of human life. The biographer, however, begins with certain limiting little facts.“37 Dennoch kann es gelingen, das Handeln und Fühlen einer Person in die Interpretation einzuweben, denn der Akteur deutet seine Umwelt in der Lebenswelt, in ihr findet Sinnstiftung statt, und zwar im kommunikativen Netz von objektiven Strukturen, Gesellschaft und Individuum.

37

Edel, Lives, p. 19.

„WIR SÜFFELN HALT JETZT DAS TINTENFASS AUS, WENN WIR UNS SPRECHEN WOLLEN.“ Die Briefe der Else Ehrenbacher – eine gescheiterte Emigration Beate Weinhold

Am 9. November 2005 druckte die Pittsburgher Post-Gazette folgenden Nachruf: Reis Anne on Sunday, November 6, 2005, beloved wife of the late Walter J. Reis, M.D., Ph.D. Beloved mother of Alan Jan (Chantal) Reis, M.D. of Pgh., Judy (Peter Vicars) Reis Tsafrir, M.D. of Boston, MA and the late Claude J. Reis, M.D. Sister of the late Anna-Maria Ehrenbacher and Hans-Heinz Ehrenbacher. Grandmother of Cam, Talia and Yosef Vicars and Sa­ muel Claude Deines Reis. Friends may meet at RALPH SCHUGAR CHAPEL, INC. 5509 Centre Ave., Shadyside on Thurs[day, B.W.], at 10 am and then proceed to B’nai Israel Cemetery for 11 am graveside services. Contributions may be made to Phipps Conservatory, Schenley Park, Pgh. PA 15213.1

Anne, eigentlich Annelore Reis, geboren am 7. Juni 1920 im mittelfränkischen Nürnberg, Tochter des Rechtsanwaltes Ludwig Ehrenbacher2 und seiner Ehefrau Else Ehrenbacher, geb. Selig, zog 1933 – nach dem frühen Tod des Vaters – zusammen mit ihrer Mutter und den zwei jüngeren Geschwistern, Annemarie3 und Hans Heinz4, in die Geburtsstadt der Mutter, nach Würzburg, zurück.5 Hier lebte die ebenfalls verwitwete Karoline Selig, geb. Stern, Annelores Großmutter und Mutter von Else. Ihr Gatte, der Weinhändler Simon Selig, war bereits 1911 verstorben.6 Nun selbst alleinstehend, wünschte Else, wieder in der Nähe ihrer Mutter zu sein.

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Vgl. http://www.legacy.com/obituaries/postgazette/obituary.aspx?n=anne-reis&pid=15651074&fhid=4365 (21.10.2016). Ludwig Ehrenbacher: geb. 17. Januar 1884 in Nürnberg, Studium der Rechtswissenschaften in Würzburg, München, Erlangen und Berlin, 1907 Promotion zum Dr. jur., seit 1919 mit Else verheiratet. Vgl. Weber, Reinhard: Das Schicksal der jüdischen Rechtanwälte in Bayern nach 1933, München 2006, S. 115, S. 273. Annemarie Ehrenbacher: geb. 6. Mai 1922. Vgl. Strätz, Reiner: Biographisches Handbuch. Würzburger Juden 1900–1945, Würzburg 1989 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg 4), S. 126. Hans Heinz Ehrenbacher: geb. 29. November 1925. Vgl. Strätz, Handbuch, S. 126. Else Ehrenbacher ist am 15. Juni 1892 zur Welt gekommen. Vgl. Strätz, Handbuch, S. 126. Karoline Selig: geb. 28. November 1868. Simon Selig: geb. 16. April 1860. Vgl. Strätz, Handbuch, S. 547.

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Im April 1939 glückte Annelore die Emigration nach Radlett, einer kleinen Ortschaft nordwestlich von London7, eine junge Frau unter etwa 75.000 bis 80.000 Juden, die sich aufgrund der verschärften judenfeindlichen Politik des Jahres 1938 zur Auswanderung entschlossen hatten und Deutschland in den Jahren 1938 und 1939 verlassen konnten. Vom 23. April desselben Jahres datiert ein erster Brief, den Else Ehrenbacher an ihre Tochter Annelore sendet — diese sitzt noch im Zug, während ihre Mutter bereits an sie schreibt — und der zu einem Konvolut von insgesamt 62 Briefen gehört, das sich im Familienbesitz befindet und dessen Digitalisat im Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken archiviert wird.8 Seit ihrer Trennung standen Mutter und Tochter in einem regen und innigen Briefwechsel, der Elses Einbindung in Annelores Alltagsleben, ihre berufliche Tätigkeit und ihre privaten Beziehungen dokumentiert. Die Briefe wurden von Else Ehrenbacher zwischen April 1939 und September 1941 handschriftlich verfaßt, im Jahr 1939 schreibt Else nahezu wöchentlich, von Januar 1940 bis Mai 1940 wöchentlich oder halbmonatlich.9 In den Monaten August, September, November und Dezember 1940 folgt jeweils nur noch ein Brief monatlich. Aus dem Jahr 1941 sind insgesamt drei Briefe überliefert (Januar, Februar, September). Bedauerlicherweise sind nicht alle Briefe Elses an Annelore erhalten – der letzte Brief trägt das Datum des achten September 1941, aus dessen Inhalt – „[…] Bald sende ich ein Bildchen.“10 — jedoch zu schließen ist, daß weitere Schreiben folgten. Die Zeilen werden zumeist während des Nachtdienstes im jüdischen Krankenhaus in der Dürerstraße zu Papier gebracht.11 Adressatin von 59 Briefen ist Annelore, vier Briefe richten sich an Karoline Selig12, die Ende des Jahres 1938

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Vgl. Strätz, Handbuch, S. 126. Ich danke Dr. Rotraud Ries, der Leiterin des Johanna-Stahl-Zentrums für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken, für die schnelle Kontaktaufnahme mit Judy Tsafrir, der Tochter Annelore Ehrenbachers, für die Überlassung der Briefe und für viele zusätzliche Informationen. Ein weiteres Dankeschön gilt Prof. Gunnar Lindström, einem Freund der Familie Reis, und Sarah Zimmermann, einer Praktikantin des Johanna-Stahl-Zentrums, für Transkription und Datierung. Vor allem jedoch bin ich Judy Suzanne Reis Tsafrir zu großem Dank verpflichtet, die — ohne mich persönlich zu kennen — sofort in die Veröffentlichung dieses Aufsatzes einwilligte. 9 Vgl. außerdem Brief, Sommer 1939: „[…] nachdem jetzt alle Briefe geöffnet werden, haben sie dadurch alle Verspätung.“ 10 Brief, 8. September 1941. 11 Else Ehrenbacher war seit mindestens April 1939 bis zum 8. September 1941 (letzter erhaltener Brief) als Krankenpflegerin im jüdischen Krankenhaus in Würzburg beschäftigt. Zwischendurch arbeitete sie auch als solche im jüdischen Altersheim und im jüdischen Landesheim, welches zum jüdischen Krankenhaus gehörte. 12 Briefe, 23. September 1939; 7. Dezember 1939; 3. Januar 1940; 3. Mai 1940. Drei Briefe sind an Walter Reis, den späteren Ehemann Annelores und an Annelore adressiert (Briefe, 29. Dezember 1939; 25. November 1940; 30. Dezember 1940). Separate Briefe an Hans Heinz Ehrenbacher werden nur indirekt erwähnt.

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zu ihrer zweiten Tochter, Paula Sinzheimer, nach Amsterdam flüchten konnte.13 Besagte Paula ist die Gattin Hugo Sinzheimers, der bereits im April 1933 in die Niederlande geflohen war.14 Beider Neffe, Hans Heinz Ehrenbacher, folgte seiner Großmutter am 26. Dezember 1938 in die Niederlande.15 Die Briefe Else Ehrenbachers an Annelore sind durchgängig in einem innigen, vertraulichen Tonfall gehalten, sie sind in der „natürlichen Sprache des Herzens“‘16 verfaßt. Aus ihnen spricht die Sorge einer Mutter um das Wohlergehen ihrer Tochter in der Fremde. Immer wieder wird Annelore ermahnt, für ihre Gesundheit Sorge zu tragen, sich gesund zu Else Ehrenbacher ca. 1923. Privaternähren, sich ausreichend zu bewegen, nicht zu besitz Judy Reis Tsafrir. heiß zu baden, richtig zu atmen, kurz, auf den Erhalt ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit zu achten.17 Die Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit ist Grundvoraussetzung der Existenz in der Emigration. Doch nicht allein der Körper muß trainiert werden, es gilt, eine eigene Persönlichkeit herauszubilden.18 Der gleichen Intention sind die Ratschläge der Mutter an Lori, wie sie Annelore nennt, geschuldet, sich unter allen Umständen das Wohlwollen ihrer Arbeitgeber zu sichern. So heißt es beispielsweise: „[…] Siehe, daß du dich unentbehrlich nützlich machst. […] stell dich mit allen gut.“ — und gleichsam als Aufmunterung — „Vergiß nicht, daß Lori Pionier ist, für uns — das ist eine große Aufgabe und jedes Opfer wert. 13 Paula Sinzheimer: geb. 20. Mai 1890, stirbt 1960. Vgl. Strätz, Handbuch, S. 564. 14 Hugo Sinzheimer: geb. 12. April 1875, Studium der Rechtswissenschaften und Nationalökonomie, promovierter Jurist, Mitherausgeber der Zeitschrift Arbeitsrecht, Professor für Arbeitsrecht und Rechtssoziologie an den Universitäten Frankfurt/Main, Amsterdam und Leiden, Frühsommer 1940 Verhaftung, Ende November Freilassung, Leben im Untergrund, gest. 16. September 1945. Vgl. Blanke, Sandro: Sinzheimer, Hugo Daniel, Berlin 2010 (Neue Deutsche Biographie 24), S. 417–418. Familienüberlieferung Judy Reis Tsafrir und Hugo Postma. 15 Hans Heinz Ehrenbacher wird bei einer Razzia im August 1942 in der Rubensstraat, in der die Familie lebte, verhaftet und nach Westerbork verbracht, am 10. August 1942 vom Lager Westerbork aus nach Auschwitz deportiert und am 30. September 1942 für tot erklärt. Vgl. Bundesarchiv — Gedenkbuch. Datenbank der Opfer der Shoa aus den Niederlanden. Dokin – Duitse Oorlogskinderen in Nederland. Familienüberlieferung Judy Reis Tsafrir und Hugo Postma. 16 Vgl. Moritz, Karl Philipp: Anleitung zum Briefschreiben, Berlin 1783. Zitiert nach: Meier, Albert/Wingertszahn, Christof (Hg.): Briefsteller, Tübingen 2008 (Karl Philipp Moritz, Sämtliche Werke. Kritische und kommentierte Ausgabe 9), S. 10. 17 Brief, 21. Mai 1939; Brief, 28. Oktober 1939 und öfter. 18 Vgl. Brief, 21. Mai 1939.

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Es geht den anderen deutschen Mädchen in Stellungen im Ausland auch nicht anders […].“19 Immer wieder berichten Elses Briefe von ihrer Liebe zu Kunst und Literatur, so über ein aufrüttelndes Leseerlebnis von Romain Rollands Sommer.20 Bei dem Roman Sommer handelt es sich um den zweiten Teil der zwischen 1920 und 1923 erschienenen Trilogie L’âme enchantée (Verzauberte Seele). In diesem Romanzyklus lockt es Rolland, den freien Menschen, der sein Ich, der seine Persönlichkeit, der seinen selbsterworbenen Glauben gegen die Welt, gegen die Zeit, gegen die Menschen mit unerschütterlicher Kraft aufrecht hält, einmal in der sieghaften Gestalt einer Frau darzustellen. […] die Frau verteidigt sich gegen sich selbst, ihr Leben, ihre Seele, ihr Gefühl und vielleicht noch ihr zweites Leben, ihr Kind, […] gegen das Gesetz, gegen alle die unsichtbaren Schranken, die einer freien Entfaltung inneren Frauentums in der Zivilisation, in der moralischen, in der christlichen Welt gesetzt sind.21

In Sommer begegnet uns die im ersten Band Annette und Sylvia eingeführte Protagonistin Annette, ein aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammendes Mädchen, als eine aus der Gesellschaft Ausgestoßene, die ihr Vermögen verloren hat und all ihre physischen und psychischen Kräfte mobilisieren muss, um ihr Kind, Sylvia, und „jenes andere in sich, das ihr mit ihrem Kind das Teuerste ist: ihren Stolz, ihre Freiheit“22 zu bewahren – der Bezug zu Else Ehrenbachers Lebenswirklichkeit ist unübersehbar! Literatur wird zu einem Stück Lebensersatz, zu einer Möglichkeit der Zerstreuung, zu einem Fluchtweg aus der Einsamkeit, zu einem Hilfsmittel der Lebensbewältigung, sie lässt den Leser in weite Fernen reisen, die eine entlastende Distanz zur bedrückenden Alltagswirklichkeit schaffen. Hatte nicht schon Flaubert Mademoiselle Leroyer de Chantepie brieflich (!) ermuntert: „Lesen Sie nicht wie die Kinder lesen, um sich zu vergnügen, noch wie die Ehrgeizigen lesen, um sich zu bilden. Nein, lesen Sie, um zu leben.“23 Wie die Literatur, so dient auch die Lektüre der wechselseitig geschriebenen Briefe dazu, das im Leben schmerzlich Vermißte zu kompensieren. Die tägliche 15-minütige Lektüre der Mutter soll auch der Tochter Trost und Freude nach einem harten Arbeitsalltag sein: „Nun gebe ich Dir folgenden Rat, […] Jeden Abend nach der 19 20 21 22 23

Brief, 29. April 1939. Brief, 21. Mai 1939. Zweig, Stefan: Romain Rolland. Der Mann und das Werk, Frankfurt a. M. 1929, S. 269. Zweig, Romain, S. 269. Brief, Juni 1857 an Mademoiselle Leroyer de Chantepie (1800–1888).

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Uhr, daran mußt Du Dich aber halten, 15 Minuten 2-3 Seiten — nicht mehr, […] Du freust Dich den ganzen Tag darauf, Du kommst mit der Zeit auch durch das Buch und Du hast eine Freundin, die am Nachmittag nur auf Dich wartet bis Du kommst — Du wirst unbedingt einen kleinen Wert davon haben und wenn mal nicht, so sicher Freude.“24 Damit verweist Else Annelore jedoch vornehmlich an literarische Werke von besänftigender Wirkung – der Doppelcharakter von Literatur, der auch die Wirkung einer irritierenden Beunruhigung einschließen kann, bleibt weitestgehend unausgesprochen. Und entbehrt ihre Empfehlung einer zeitlich und umfänglich genau dosierten Lektüre gänzlich des Bestrebens, die Lesende im Sinne ihrer pädagogischen Ziele zu lenken? Dessen ungeachtet kann ein von beiden Akteuren, Else und Annelore, nach dem gleichen Modus operandi ausgeübtes Ritual helfen, Fernsein als Nähe zu erfahren, der bedrückenden, lähmenden Fatalität des Geschehens zu entfliehen und die Spannung zwischen einer Identifikation mit der Abwesenden und der tagtäglich erlebten (räumlichen) Distanz abzubauen. An den künstlerisch und intellektuell geprägten Lebensstil Else Ehrenbachers erinnert auch Herbert A. Strauß, geboren 1918 in Würzburg, der Annelore in den 1930er-Jahren in einer jüdischen Jugendgruppe kennen und lieben gelernt hatte.25 Fünf dem Briefkonvolut beiliegende Blätter dokumentieren die Affinität der Schreiberin zur Lyrik: drei der fünf Blätter enthalten handschriftliche Gedichte verschiedener Autoren wie Ernst Bertram, Ruth Schaumann, Bruno Frank oder Christian Morgenstern, auf den anderen beiden Blättern finden sich von Else Ehrenbacher selbst verfaßte Gedichte. Eines dieser Gedichte sei hier zitiert: 24 25

Brief, 21. Mai 1939. Herbert A. Strauß: kaufmännische Lehre in Würzburg, Studium an der „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ in Berlin, Hilfsrabbiner der jüdischen Gemeinde in Berlin, ab 1942 Leben im Untergrund, 1943 Flucht in die Schweiz, in Bern Studium der Geschichte, promovierter Historiker, Gründungsdirektor des „Zentrums für Antisemitismusforschung“. Vgl. Strauß, Herbert A.: Über dem Abgrund. Eine jüdische Jugend in Deutschland 1918–1943, Frankfurt a. M. 1997. In seiner Autobiographie blickt Strauß auch auf seine Begegnung mit Annelore zurück: „Aus einer Freundschaft […] wurde die erste Liebe. Anne war neu zu unserem engeren Freundeskreis hinzugekommen und nahm an unseren wöchentlichen Wanderungen und den meist an Feiertagen stattfindenden Zeltlagern teil – ein wunderhübsches klares Gesicht, eine schöne Stimme, ein selbstsicheres Wesen […] Sie war der erste Mensch, der mir seine Gefühle ganz zuwandte, ein Mädchen, das im Begriff war, eine junge Frau zu werden, und mich genauso akzeptierte wie ich sie, ohne Bedingungen oder Forderungen zu stellen, wie es die anderen uns wichtigen Menschen bislang getan hatten. Wir fühlten uns tief miteinander verbunden, durch gemeinsame Interessen, gemeinsam verbrachte glückliche Stunden, gemeinsame ästhetische Erfahrungen – und so erlebten wir die erste Liebe, während wir dem Rhythmus folgten, den unsere Kulturen vorgaben, und die Melodien der Jahreszeiten unsere neu erwachten Gefühle untermalten. Diese schöne Zeit hatte ein Ende, als ich Würzburg verließ, und 1938 trennten sich unsere Wege schließlich ganz.“ Strauß, Abgrund, S. 75–76. Zu Herbert A. Strauß vgl. auch Strauss, Lotte: Über den grünen Hügel. Erinnerungen an Deutschland, Berlin 1997 (Bibliothek der Erinnerung 2).

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Trost Du meinst, dein Gott ist tot Vielleicht ein Gott dir bot die Hand zum weiten Weg Gerade, wenn du denkst: hier ist das letzte Leid —, erhebet sich ein Mensch zu einer neuen Zeit In allem liegt ein hoher Sinn, Soll es neue Säfte geben, sollen neue Kräfte leben, muss das Alte erst dahin Und wenn es schmerzhaft brechen will, so halte still Susanne [d.i. Else Ehrenbacher]

Ob Else und Annemarie Ehrenbacher am kulturellen Gemeindeleben des Selbsthilfewerkes der Würzburger jüdischen Gemeinde teilnahmen, das dieses nach dem Ausschluss der jüdischen Künstler/innen aus dem öffentlichen Kulturleben organisiert hatte, wissen wir nicht. Mutter und Tochter hatten nur wenige Verbindungen zur jüdischen Gemeinde und lebten nicht religiös.26 So wird in keinem der Briefe die Feier jüdischer Feste, der Besuch der Synagoge, die Teilnahme an Veranstaltungen der jüdischen Gemeinde erwähnt. Eine einzige Ausnahme stellt eine Karte dar, die Karoline Selig an Rosch ha-schana an die Familie Ehrenbacher in Würzburg schreibt.27 Des Weiteren wird der 6. Dezember 1939 als Datum des Chanukkafestes genannt, jedoch ohne religiösen Bezug. Gleichwohl setzte sich der Freundeskreis der Familie nach 1939 nur noch aus jüdischen Personen zusammen, was den Zwängen der Zeitumstände geschuldet ist. Wer in den Briefen eine detaillierte Beschreibung der Zustände in Würzburg der Jahre 1939 bis 1941 zu finden hofft, wird möglicherweise enttäuscht sein. Das hätte auch die Vorzensur nicht zugelassen. So erfahren wir über Entrechtung, Verfolgung und Ausgrenzung allenfalls indirekt. In vielen Briefen lesen wir von Einsamkeit und Isolation — „[…] – das Wort ‚allein‘ ist mir schon wie so eine Art Heimat geworden.“ 26 27

Vgl. Strauß, Abgrund, S. 75. Zum kulturellen Gemeindeleben nach 1933 vgl. Flade, Roland: Die Würzburger Juden. Ihre Geschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Würzburg 21996. Brief, 23. September 1939.

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heißt es am 22. April 940. Immer mehr wird der Rückzug ins Private fokussiert: „[…] und versuchen uns das eintönige und stille Leben so behaglich wie möglich zu machen, und zwar im Haus.“28 „Eben würdest du die ‚Nähstube‘ nicht mehr kennen. Im Schlafzimmerschrank ist ein neues Glas, an allen Fenstern neue wunderschöne Vorhänge […] im Eßzimmer, weiße d.h. creme Voilevorhänge mit elfenbein mit großen farbigen Blumen, alles in reichen Falten — die Sessel bekommen Schonbezüge, mit Kissen und Blumen am Fenster […] und ein Vogelhäuschen vor dem Fenster, das ganze Fenster ist lebendig — mit ‚guten‘ Gästen, nicht nur Spatzen — allmählich wird es ein süßes Annelore Ehrenbacher als Teenager. Nest […].“29 In unsicheren Zeiten — so die Hoffnung Privatbesitz Judy Reis Tsafrir. — möge der private Rückzugsraum Schutz vor äußerer Bedrohung bieten. Zu den zentralen Themen des Briefkonvoluts zählen Auswanderungspläne. So heißt es beispielsweise bereits am 29. April 1939: „Das Wichtigste ist, daß wir unseren Mut nicht verlieren und fest daran glauben, daß wir später alle miteinander wieder vereint sein werden, das ist ein schönes Ziel, für das es sich lohnt zu leben […].“ Und einige Zeilen später ganz pragmatisch: „Frag᾽ mal nach Altersheim in London aber bald.“ Else Ehrenbacher beabsichtigte, nach einer geglückten Emigration in einem Altersheim in Großbritannien als Pflegerin zu arbeiten, später kristallisiert sich jedoch der Wunsch heraus, lieber bei einem kinderlosen Ehepaar tätig zu sein.30 Insgesamt ist ein starkes Oszillieren zwischen der Sehnsucht, Mutter, Sohn und Tochter, baldigst wiederzusehen, und der Furcht, mit den Gegebenheiten im Emigrationsland nicht zurechtzukommen, zu beobachten. Symptomatisch für das Changieren zwischen Hoffnung und Verzagen sind folgende Zeilen an Annelore: „Also Lori ich muß Dir sagen, daß ich prima Zeugnisse besitze. […] Erstens Schwester Oberin — die von vor28 29 30

Brief, 8. Oktober 1939. Else und Annemarie Ehrenbacher wohnen in der Schillerstraße 10 in Würzburg. Brief, 5. November 1939. Der Philo-Atlas. Handbuch für die jüdische Auswanderung, Erstdruck Berlin 1938, zeigt Arbeitsmöglichkeiten für Frauen in englischsprachigen Ländern auf: „Als Hauspersonal (Dienstboten, Köchin, Kinderfräulein usw.) sind Frauen in den meisten englisch sprechenden Ländern gesucht, auch in den entwickelteren südamerikanischen sowie in einzelnen größeren Städten der Kolonialgebiete. Handwerklich ausgebildete Frauen finden in USA, Südamerika, englischen Dominions ihr Auskommen. Bevorzugt sind: Schneiderinnen, Putzmacherinnen usw.: weniger günstiger, meist schon übersetzt: Kosmetik, Gymnastik usw.“ Löwenthal, Ernst G./ Oppenheimer, Hans (Hg.): Philo-Atlas. Handbuch für die jüdische Auswanderung, Berlin 1938, S. 68.

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bildlichem Fleiß und sehr guten Kenntnissen schreibt und sich große Mühe zum Zeugnis gab. Igenberg31der doch ohne uns näher zu stehen […] sehr warme Worte fand. 3. Windhund32 auch sehr gut, wenn auch kühl und unpersönlich […].“33 Aber auch: “[…] Ich sag es Dir ganz ehrlich — ich fürchte, und sicher mit Recht, daß meine Kräfte nicht reichen, alle Brücken hinter mir abzubrechen; — So gerne ich da bin, wo Du bist, wir hätten sicher nicht viel in freien Stunden voneinander, denn ich kenne meine müden Stunden […].“34 Im Sommer 1939 hatte Else zwei Koffer für die Auswanderung besorgt, aber immer wieder wird sie von starken Zweifeln gequält, ob sie für eine Emigration überhaupt stark genug wäre und ob jetzt der richtige Zeitpunkt dafür sei: „Was mich an dem Sprung hindert weißt du — es ist meine Freiheit und starke körperliche und seelische Bedenken!“35 Oder: „Wenn es jetzt keinen Krieg gibt, wäre dazu vielleicht der Oktober in vieler Beziehung günstiger.“36 Als sie von den Plänen ihrer Tochter erfährt, in die USA weiterzureisen, sorgt sie sich, daß eine so große räumliche Trennung ein baldiges Wiedersehen unmöglich machen wird.37 „Ich warne 31

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Igenberg, d.i. Dr. Hans Ikenberg, geb. am 2. Oktober 1900 in Heidingsfeld, 1918 Konversion zum Protestantismus, Studium der Medizin in Frankfurt/Main und Würzburg, Approbation 1926 und Übernahme der Praxis seines Vaters, Dr. Bendix Ikenberg, in Heidingsfeld, am 1. Juli 1933 Entzug der Kassenzulassung, am 1. Oktober 1938 Zulassung als einer von zwei „Krankenbehandlern“ in Würzburg, Privatpraxis und ärztliche Tätigkeit im Israelitischen Krankenhaus und im Altenheim, im November/Dezember 1938 vierwöchige Schutzhaft im Konzentrationslager Buchenwald, Emigrationspläne, die mit Kriegsausbruch endgültig scheitern, ab 1941 ärztliche Betreuung der Deportationen sowie der die Stadt passierenden Transporte. Ikenberg überlebte die Verfolgung in „Mischehe“, gest. am 30. September 1975 in Würzburg. Vgl. Damskis, Linda Lucia: Zerrissene Biografien. Jüdische Ärzte zwischen nationalsozialistischer Verfolgung, Emigration und Wiedergutmachung, München 2009, S. 200–201; vgl. Flade, Würzburger, S. 328. Windhund: wahrscheinlich Dr. Sally Mayer, geb. am 7. Juni 1889 in Mayen bei Koblenz, Studium der Medizin in Würzburg, 1914 Approbation und Assistenzarzt am städtischen Krankenhaus in Fürth, 1920 Niederlassung als Arzt für Allgemeinmedizin in Fürth, seit 1923 praktischer Arzt und Badearzt in Bad Kissingen, 16. November bis 12. Dezember Schutzhaft im Konzentrationslager Dachau, 18. Februar 1939 Zulassung als „Krankenbehandler“ für Bad Kissingen, 15. März 1939 Umzug nach Würzburg, seit März 1939 Leiter des Würzburger Israelitischen Kranken- und Pfründnerhauses, auf behördliche Anweisung Wohnsitzverlegung ins jüdische Krankenhaus, ab 1941 wie Ikenberg ärztliche Betreuung der Deportationen bzw. der die Stadt passierenden Transporte, am 23. September 1942 gemeinsam mit seiner Ehefrau Irma, geb. Bretzfelder, nach Theresienstadt deportiert, am 19. Oktober 1944 Weitertransport nach Auschwitz, vermutlich im Oktober 1944 ermordet. Vgl. Damskis, Biographien, S. 202–203. Brief, 21. Mai 1939. Brief, 21. Mai 1939. Brief, Sommer 1939. Brief, 29. August 1939. Annelore Ehrenbacher gelingt 1941 mit Hilfe von Walter Reis die Weiterreise in die USA. Dieser hatte sich an das State Departement in Washington gewandt. Eleanor Roosevelt persönlich schaltete sich in die Causa Annelore Ehrenbacher ein. Nachdem Annelore einen Brief mit Foto an die Präsidentengattin geschickt hatte, erhielt sie durch deren Hilfe eine Einreisegenehmigung für die USA. Nach ihrer Hochzeit mit Walter verdiente zunächst Annelore den Lebensunterhalt, um ihrem Mann das Medizinstudium zu ermöglichen. Zwischen

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dich ernstlich, lege nicht eine noch größere Entfernung zwischen dich und deine Familie. Später, wenn du wolltest, kannst du das immer noch.“38 Else befürchtet, Annelore endgültig zu verlieren – vielleicht bittet sie diese deswegen wenige Wochen später, ihre Familie in Würzburg noch einmal zu besuchen (!).39 Das Vertrauen auf die Realisierbarkeit dieses Herzenswunsches wird jedoch dadurch relativiert, dass das Objekt des Begehrens – der Besuch – in Anführungsstriche gesetzt worden ist. Bald darauf kann an der Ernsthaftigkeit des Ansinnens einer Rückkehr nicht mehr gezweifelt werden: Meine Leben hätte wieder Wert und Sinn wärst du da – zusammen in Not und Gefahr, zusammen was auch kommt in Freud und Leid. Du hast nicht nötig Dienstmädchen und in Stellung zu sein. In welcher Familie es auch ist. Lorchen sei gescheit und komme zu Weihnachten heim, in unser heißes Stübchen – der Ofen glüht den ganzen Tag rot – wir kommen zur Bahn und holen dich und ich drück mein Lorchen halb tot vor Glück, daß ich es jetzt erst, seit sie Baby war, wiedergefunden habe.“40

Hinzu kommen Schwierigkeiten bezüglich der Finanzierung der Auswanderung: „Mit Einkaufen geht es aus gewissen Gründen langsam. Fast alles ist aufgebraucht an der Bank — deine Auswanderung hat 3000 M gemacht […] und die 4 Raten dazu. - Hansis Versicherung will nichts zahlen […].“41 Immer wieder bittet Else ihre Tochter um eine Lebensbestätigung, nach deren Erhalt sie sich durch den „Rechtskonsulenten“ Müller eine Versicherungssumme ausbezahlen lassen kann.42 Leider hat sie diese Bestätigung bis zum Herbst 1941 nicht erhalten. Ein für den 30. September 1939 zunächst anberaumter Ausreisetermin kann nicht eingehalten werden, da die jüngere Tochter Annemarie zu diesem Zeitpunkt noch über kein Permit43 verfügt. Bis zum September 1941

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1949 und 1958 bekam das Paar drei Kinder: Claude Jay, Judy Suzanne und Alan Jan, die alle drei Ärzte wurden. Nur drei Monate nach dem Tod ihres Mannes starb Annelore am 6. November 2005 in Pittsburgh (vgl. den Nachruf in der Pittsburgher Post-Gazette). Vgl. Strätz, Handbuch, S. 126, S. 454–456, S. 547, S. 564. Familienüberlieferung von Judy Reis Tsafrir und Hugo Postma. Brief, 8. Oktober oder 9. November 1939. Brief, 23. November 1939. Brief, nach dem 5. November oder vom Dezember 1939. Brief, Sommer 1939. Richard Müller: geb. 18. April 1884, Studium der Rechtswissenschaften in Würzburg und München, Rechtsanwalt in Würzburg, nach dem Berufsverbot im November 1938 als „jüdischer Konsulent“ für den Landgerichtsbezirk Würzburg zugelassen, überlebte als Partner einer „privilegierten Mischehe“, gest. 20. Januar 1953. Vgl. Strätz, Handbuch, S. 399. Vgl. Weber, Schicksal, S. 260. Hier wahrscheinlich in Großbritannien benötigte Genehmigung des Home Office zur Ausübung des Berufs, gleichgültig, ob selbständig oder angestellt. Vgl. Löwenthal/Oppenheimer (Hg.), Philo-Atlas, S. 154.

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können die Auswanderungspläne nicht konkretisiert werden. Mit Wirkung vom 23. Oktober 1941 ist die Auswanderung von Juden ausnahmslos für die Dauer des Krieges verboten.44 Am 3. Mai 1941 wurde ein Spaziergang Annemaries mit Eugen Stahl Letzterem beinahe zum Verhängnis.45 Leider wissen wir nicht, ob Else ihrer Tochter in England diesen Vorfall mitgeteilt hat, da aus dem Monat Mai 1941 keine Briefe überliefert sind und das Vorkommnis auch in keinem der späteren Briefe Erwähnung findet. Das Ereignis sei hier trotzdem mitgeteilt, da es ein bezeichnendes Licht auf eine nicht seltene Einstellung der Zeitgenossen zur Judenverfolgung wirft. Eugen Stahl war an einem Samstagmorgen mit seiner Nachbarin Annemarie Ehrenbacher im Gutenbergwald spazieren gegangen. Eine junge Frau, die den beiden unterwegs begegnet war, meldete sich kurz darauf bei der Gestapo-Außendienststelle, um eine Anzeige vorzubringen: Am 5.5.1941 machte ich mit den übrigen Gefolgschaftsangehörigen des Betriebes Uniformfabrik Franz Kreisel46 einen Betriebsausflug nach dem Forsthaus Gutenberg. Wir gingen durch 44

Vgl. Walk, Joseph: Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung, Heidelberg 21996, S. 353. 45 Staatsarchiv Würzburg, Gestapo 14893. Ich danke Dr. Ingrid Heeg-Engelhart und Christina Oikonomou vom Staatsarchiv Würzburg für ihre Beratung. Eugen Stahl: geb. 19. Februar 1890, selbständiger Kaufmann in Würzburg, ab 1939 bei der jüdischen Gemeinde für die Verwaltung der Heime zuständig. Vgl. Strätz, Handbuch, S. 574–575. Am 24. August 1940 ist Eugen Stahl zusammen mit seinen Schwestern, Johanna und Jenny Stahl, in das Haus Schillerstraße 10 in Würzburg gezogen, in dem auch Else und Annemarie Ehrenbacher wohnten. Das Würzburger Adreßbuch gibt die Adresse Schillerstr. 10 für die Geschwister Stahl zwar erst ab 1941 an, es ist jedoch davon auszugehen, dass ein Adreßbuch den jeweiligen Wohnsitz des vorigen Jahres nennt. Vgl. Würzburger Adreßbuch 44. Jg. 1941. Jenny Stahl, geb. 28. Juli 1885, Tätigkeit als Angestellte, führte ihrer Mutter und ihren ledigen Geschwistern Eugen und Johanna den Haushalt. Vgl. Strätz, Handbuch, S. 576–577. Dr. Johanna Stahl, Namensgeberin des Zentrums für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken, geb. 16. März 1895 in Würzburg, promovierte Volkswirtschaftlerin und Journalistin, seit 1934 Mitarbeit im „Büro für Beratung und Wirtschaftshilfe“ bei der jüdischen Gemeinde in Würzburg. Vgl. Strätz, Handbuch, S. 576–577. 46 Nachstehende Informationen wurden folgenden Quellen entnommen: Staatsarchiv Würzburg, Finanzamt Würzburg, Vermögenskontrollakten 2829; Staatsarchiv Würzburg, Bayerisches Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung, Zweigstelle Unterfranken 1741; Staatsarchiv Würzburg, Spruchkammer Würzburg 5517. Die Akte der Gestapostelle Würzburg 5047 konnte aufgrund von Restaurierungs- und Digitalisierungsmaßnahmen nicht eingesehen werden, Uniformfabrik Franz Kreisel: Franz Kreisel, geb. am 22. Mai 1884, Textilkaufmann, 1933 Aufnahme in die NSDAP (ohne eigenes Zutun, so Kreisel), Ratsherr der Stadt Würzburg von 1933 bis 1937, 1937 Absetzung als Ratsherr und Aberkennung der Fähigkeit, ein Parteiamt auf Lebenszeit zu bekleiden. Kreisel lässt am 20. Februar 1936 unter seinem Namen eine Textilfabrik in das Handelsregister der Stadt eintragen. Die Gelegenheit, eine solche zu gründen, erwies sich als günstig, nachdem Kaspar Greb seine Uniformfabrik (Hauptstelle Annastr. 12a, Zweigstelle Lutherstr. 19), die hauptsächlich Uniformteile für die Wehrmacht herstellte, im Oktober 1935 aufgeben mußte. Unter mehreren

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das Steinbachtal, am Richtertempel vorbei in Richtung zum Waldfriedhof. In der Nähe des Waldfriedhofes sah ich einen Mann mit jüdischem Aussehen, der mir vom Sehen aber nicht namentlich bekannt war, mit einem Mädchen auf einem Waldweg uns entgegenkommen. Der Mann war ungefähr 40-50 Jahre alt, hatte einen grauen einfarbigen Mantel an und trug einen braunen Hut, er war etwas größer wie ich, kann also ungefähr eine Größe von 1,65 bis 1,70 m gehabt haben. Eine genauere Beschreibung kann ich nicht abgeben. Das Mädchen, welche bei Bewerbern fiel die Wahl auf Kreisel und dieser erhielt durch die Regierung von Unterfranken eine Lizenz zur Eröffnung einer Textilfabrikation mit der Begründung, dass er sowohl fachlich geeignet wäre als auch über die notwendigen Geldmittel verfügen würde. Kreisel übernimmt einen Teil der Belegschaft Grebs (Die Industrie- und Handelskammer Würzburg verlangte die Übernahme von 500 Arbeitern der Firma Greb.) und kauft diesem ca. 100 Nähmaschinen sowie Inventar ab. Eröffnet wird die Uniformfabrik Franz Kreisel aus räumlichen, betriebs- und bautechnischen Gründen im Mai 1936 in den neuerstellten Räumen der Schürer’schen Tabakfabrik, Beethovenstr. 1 (vgl. Artikel über die Betriebseröffnung in der Mainfränkischen Zeitung vom 5. Mai 1936). Da diese zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz fertig waren, produziert Kreisel wahrscheinlich ein bis zwei Monate gegen eine Mietzahlung in den Räumen der ehemaligen Greb‘schen Fabrik. Nach seinem Auszug werden die Fabrikräume später an die Firma Hans Tiefel (Firma für Berufs- und Sportbekleidung) verkauft. Ob Kreisel anfangs noch für die Firma Greb vorhandene Aufträge ausgeführt hat, geht aus den Quellen nicht eindeutig hervor. Im März 1936 erhält Kreisel einen ersten Auftrag zur Herstellung von 12.000 Blusen und Mänteln. Am 23. März 1937 meldet er seine bisherige Firma Franz Kreisel Handel mit Schirmen, Stöcken, Pfeiffen und einschlägigen Artikeln ab. Vor und während des Krieges stellt die Uniformfabrik Franz Kreisel v.a. Uniformen für Partei und Wehrmacht her und erledigt Kleinarbeiten (Reparaturen, Umarbeitungen, Einzelanfertigungen). Diese Kleinarbeiten sind unrentabel, aber notwendig, um eine dauernde Beschäftigung für die Arbeiter zu haben. Zu den Auftraggebern Kreisels zählen die Heeresbekleidungsämter in Fürth und München, das Bekleidungsamt der Luftwaffe Sonneberg, die Reichszeugmeisterei München, die Dienststelle des Reichsarbeitsdienstes und sonstige Behörden. Laut Kreisel gaben die Auftraggeber Art, Menge und Abschlagpreis der herzustellenden Gegenstände vor und lieferten Stoffe (hauptsächlich Zellstoffe von schlechter Qualität), Zutaten und sonstiges Fertigungsmaterial. Zu Fabrikationsbeginn beschäftigt die Firma 400 Arbeiter und Angestellte, im September 1939 350. Der Höchststand der Belegschaft beläuft sich auf 600 Personen, darunter auch Kriegsgefangene. Bis einschließlich Mai 1944 zählten auch etwa 36 Juden zu den Angehörigen des Betriebes, die in einem eigenen Arbeitsraum tätig waren, die Kantine nicht nutzen durften und schlechter als das nichtjüdische Personal bezahlt wurden. Im Jahr 1941 wird ein Teil der Fertigung in zwei neu errichtete Heimwerkstätten verlagert, zwei Jahre später wird Kreisel – sicher wegen der Luftangriffe auf Deutschland – dazu angehalten, Ausweichbetriebe zu errichten. 1944 beschlagnahmt der Ortsgruppenleiter der NSDAP in Rimpar (Landkreis Würzburg) den Tanzsaal der Wirtschaft Stauder zugunsten der Firma Kreisel. Kreisel mietet den Raum an, der im Frühjahr oder Herbst 1944 bezugsfertig ist. Zum Jahresanfang 1945 beschlagnahmt die Gauleitung diesen Raum zur Unterbringung von Flüchtlingen, als Ersatz dient der „Christ‘sche Saal“ am Marktplatz 2 in Rimpar. Einen weiteren Nebenbetrieb unterhält die Firma seit 1943 oder 1944 in Estenfeld (Landkreis Würzburg). Bei dem Bombenangriff auf Würzburg am 16. März 1945 wird der Hauptbetrieb mit Maschinen und Geschäftsunterlagen fast vollständig zerstört. Bereits im Monat Mai desselben Jahres kann die Produktion in Rimpar und Estenfeld fortgeführt werden, da dort Maschinen und Einrichtungsgegenstände nicht zerstört worden sind. Am 26. Juni 1949 wird die Firma unter Vermögenskontrolle gestellt, die am 23. Januar 1950 wieder aufgehoben wird. Be- und Entlastungszeugen äußern sich in der öffentlichen Sitzung der Spruchkammer II Würzburg Stadt am 25. Juni 1948 dahingehend, dass sie nichts Negatives über Kreisel bezüglich der Behandlung seiner jüdischen Angestellten aussagen könnten. Z.B. gibt eine gelernte Schneiderin, Jahrgang 1909, an, von Kreisel angestellt worden zu sein, obwohl dieser wußte, daß sie nach nationalsozialistischer Terminologie „Halbjüdin“ war.

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dem Mann war, konnte etwa 20–25 Jahre alt gewesen sein. Ich hatte es bisher noch nicht gesehen und weiß auch seinen Namen nicht. Es sah aber absolut nicht wie eine Jüdin aus [sic!], sondern hatte arisches Aussehen. Seine Haare waren vom Wind zerzaust, ihre Farbe war mittelblond. Die Form der Haarfrisur kann ich nicht angeben, weil die Haare in Unordnung waren. Das Mädchen war etwas größer als der Jude, trug einen beigefarbenen Mantel mit Fischgrätenmuster, braune Halb- oder Sportschuhe und kurze braune Söckchen. Es trug eine blaue Handtasche. Außer mir haben den Juden und seine Begleiterin auch noch andere Angehörige unseres Betriebes gesehen. Sie haben aber nicht besonders auf die Beiden geachtet. Ich vermute [sic!], daß es sich bei dem Juden und dem Mädchen um einen verbotenen Umgang handelt. Ich würde den Juden, wenn ich ihm begegne oder ein Lichtbild von ihm sehen würde, wieder erkennen.47

Die Zeugin identifizierte Eugen Stahl anhand eines Fotos.48 Für beide, Eugen und Annemarie, hatte der Waldgang glücklicherweise keinerlei Konsequenzen, da hier kein Verstoß gegen das Sonderrecht für Juden im NS-Staat vorlag. Der Umstand, dass er strafrechtlich nicht belangt werden konnte, musste gerade für Stahl eine große Erleichterung darstellen, da er nach dem Novemberpogrom 1938 wie viele seiner männlichen jüdischen Mitbürger verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald verbracht worden war.49 Nachdem der Inhaftierte nachweisen konnte, daß er im Juli desselben Jahres einen Antrag auf Auswanderung nach Frankreich und nach Amerika gestellt hatte, war Eugen Stahl am 6. Dezember 1938 aus der Schutzhaft entlassen worden.50 Else Ehrenbacher gehörte gemeinsam mit ihrer jüngsten Tochter Annemarie zu den 64 am 17. Juni 1943 aus Würzburg deportierten Juden.51 An diesem Tag verließ 47 48 49

Gestapo 14893. Gestapo 14893. Gestapo 14893. Stahl befand sich seit dem 12. November 1938 in Buchenwald. Vgl. auch Strätz, Handbuch, S. 574–575. 50 Gestapo 14893. 51 Gestapo 18880. Alle folgenden Informationen zur Deportation am 17. Juni 1943 wurden der Gestapoakte 18880 entnommen. Zu den Deportationen aus dem Deutschen Reich vgl. Gottwaldt, Alfred/Schulle, Diana: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941–1945, Wiesbaden 2005. Zu den Deportationen speziell aus Mainfranken vgl. v.a. Ries, Rotraud/Schwinger, Elmar (Hg.): Deportationen und Erinnerungsprozesse in Unterfranken und an den Zielorten der Transporte, Würzburg 2015 (Schriften des Johanna-Stahl-Zentrums für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken, Band 1); Schultheis, Herbert: Juden in Mainfranken 1933–1945 unter besonderer Berücksichtigung der Deportationen Würzburger Juden, Bad Neustadt a. d. Saale 1980 (Bad Neustädter Beiträge zur Geschichte und Heimatkunde Frankens, Band 1); Wege in die Vernichtung. Die Deportation der Juden aus Mainfranken 1941–1943. Begleitband zur Ausstellung des Staatsarchivs Würzburg und des Instituts für Zeitgeschichte München/Berlin in Zusammenarbeit mit dem Bezirk Unterfranken, München 2003.

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um 14.19 Uhr der planmäßige Personenzug nach Nürnberg den Würzburger Hauptbahnhof. An diesen Personenzug waren zwei Waggons angehängt: ein Waggon mit sieben, der zweite mit 57 Personen. Zielort der sieben Personen war Theresienstadt, alle anderen Juden wurden nach Auschwitz deportiert. Von den 57 nach Auschwitz zu Deportierenden hatten 52 Personen – wie auch Else und Annemarie Ehrenbacher — ihren letzten Wohnsitz in der Sammelunterkunft Bibrastraße 6. Auch die sieben für Theresienstadt bestimmten Personen wohnten zuletzt in diesem Haus. Die auf dem Gelände des jüdischen Friedhofs wohnhaften Familien Krebs und Heippert (insgesamt fünf Personen) waren bereits am 16. Juni 1943 in das Gebäude Bibrastraße 6 verlegt worden.52 Dort erschienen am Morgen des 17. Juni der Leiter der Aktion, Kriminalinspektor Völkl, und ein Gerichtsvollzieher, um die Anwesenden zu durchsuchen und ihnen etwaige Wertgegenstände (mit Ausnahme des Eheringes), Wertpapiere, Devisen, Sparkassenbücher, Lebensmittelmarken etc. abzunehmen. Unter den Habseligkeiten Else Ehrenbachers befand sich ein Kaffeelöffel, der beschlagnahmt wurde. Ebenso wurden Arbeitsbücher, Lohnsteuerkarten und andere Papiere sichergestellt, so die Lohnsteuerkarte, die Invalidenkarte und das Arbeitsbuch Annemarie Ehrenbachers, aus welchem hervorgeht, daß Annemarie unmittelbar vor ihrer Deportation (Zwangs)Arbeiterin bei der Uniformfirma Kreisel in Würzburg gewesen ist. Unter den zu Deportierenden befanden sich weitere Kreisel-Arbeiter, ihre Wochenlöhne53 waren an die Staatspolizei-Außendienststelle übergeben worden, „da sie den abgewanderten Juden nicht mehr ausgezahlt werden konnten“.54 Ebenso hatte man die Quittungskarten Elses und Annemaries an die Landesversicherungsanstalt Mainfranken zurückgesandt. Der Betrag von 60 bzw. 50 Reichsmark pro Person „zur Deckung der evtl. anfallenden Unkosten der nach Osten zur Abwanderung gebrachten Personen bzw. einer Wohnsitzverlegung nach Theresienstadt“ war bereits am 16. Juni durch Eugen Stahl der Staatspolizei-Außendienststelle Würzburg übergeben worden. Der „Konsulent“ Richard Müller hatte ihre Wohnungsschlüssel, gekennzeichnet mit der jeweiligen Zimmernummer, in Empfang zu nehmen. Nach einem letzten Mittagessen in der Bibrastraße um elf Uhr, traten die Ausgestoßenen um 12.30 52 Das sich auf dem Gelände des jüdischen Friedhofes befindende Gebäude diente seit 1942 zwangsweise als Gemeinschaftsunterkunft. „Im Erdgeschoß und der ersten Etage dieses großen Gebäudes wurden sämtliche Säle in Wohnräume verwandelt. Wegen der räumlichen Beengtheit wurden auch das Trauerzimmer, der Saal, der für Trauerfeiern gedient hatte, sowie das Bethaus und das Zimmer des Friedhofwächters zu Wohnzwecken genutzt. Auch in der obersten Etage des Gebäudes brachte man sieben jüdische Familien unter.“ Ophir, Baruch Z./Wiesemann, Falk (Hg.): Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918–1945. Geschichte und Zerstörung, München/Wien 1979, S. 447. 53 Der Wochenlohn Annemarie Ehrenbachers betrug 0,42 Reichsmark! Vgl. Gestapo 18880. 54 Gestapo 18880.

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Uhr den Marsch zum Hauptbahnhof an. Nach den „Richtlinien zur technischen Durchführung der Evakuierung von Juden nach dem Osten (KL Auschwitz) [sic!]“ vom 20. Februar 1942 mussten pro Person mitgenommen werden: Marschverpflegung für ca. fünf Tage, ein Koffer oder Rucksack, ein Paar Arbeitsstiefel, zwei Paar Socken, zwei Hemden, zwei Unterhosen, ein Arbeitsanzug, zwei Wolldecken, zwei Garnituren mit Bettzeug, ein Eßnapf, ein Trinkbecher, ein Löffel und ein Pullover.55 Auf der Deportationsliste vom 17. Juni 1943 sind Annemarie und Else unter der Evakuierungsnummer vier und fünf erfasst. Mit ihnen werden auch die Geschwister Stahl (Johanna, Jenny und Eugen) deportiert. Nach der Ausrangierung der zwei Wagen am Fürther Bahnhof erfahren wir über den Auschwitz-Transport nichts mehr. Die zwei Transportbegleiter der Theresienstadt-Deportation berichten am 21. Juni lapidar: „[…] keine Zwischenfälle, keine Ausfälle durch Unglücksfall, kein Ableben von Juden.“56 „Mit diesem Transport sind sämtliche nach den ergangenen Richtlinien abzuschiebenden Juden (hier sind nur noch die jüdischen Mischehepartner sowie die Geltungsjuden) aus Mainfranken ausgewandert.“57 Für die kameradschaftliche Zusammenarbeit während des Einsatzes vom 17. Juni bedankt sich SS-Sturmbannführer und Kriminalrat Dr. Grafenberger bei seinen Nürnberger Kameraden mit einer Radierung der Marienburg [sic!].58 In Würzburg leben jetzt noch 24 Personen in „Mischehe“, darunter der „Rechtskonsulent“ Müller und fünf „Geltungsjuden“, die, zwischen 1928 und 1935 geboren, alle in der Domerschulstraße 23 bei ihrer „arischen“ Mutter wohnen.59 Zwei Juden mit ausländischer Staatsangehörigkeit waren nach Rumänien „zurückgewandert“.60 Die Gesamtzahl der aus Mainfranken deportierten Juden beträgt mit Datum 17. Juni 1943 2063 Personen. Das Mobiliar und andere Hinterlassenschaften der Deportierten versteigerten Auktionäre an den Meistbietenden. So bat beispielsweise am 4. Juni 1943 das Hauptamt für Volkswohlfahrt der NSDAP-Gauleitung Mainfranken die Geheime Staatspolizei in Würzburg um Mobiliar für zu eröffnende NSV-Heime (ein NSV-Säuglingsheim, eine NSV-Jugendheimstätte, eine NSV-Vorschülerinnenschule, ein NSV-Schwesternheim) aus den Beständen der „Judenmöbel“.61 Dieses Mobiliar wird der NSV-Gauamtsleitung aus 55 56 57 58 59 60 61

RSHA IV B 4 a 2093/42g (391). Zit. nach: Gestapo 18880. Gestapo 18880. Die Gestapo-Akten von Annemarie und Else Ehrenbacher konnten nicht eingesehen werden, da innerhalb des Corpus genannter Akten die Akten mit den Buchstaben A-G nicht erhalten geblieben sind. Schlußbericht der Staatspolizei-Außendienststelle Würzburg vom 6. August 1943. Zit. nach: Gestapo 18880. Gestapo 18880. Gestapo 18880. Gestapo 18880. Gestapo 18880.

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den hinterlassenen Gegenständen der am 17. Juni 1943 Deportierten zur Verfügung gestellt.62 Eine letzte Spur der ermordeten Else Ehrenbacher findet sich in den Wiedergutmachungsakten.63 In einer Verhandlung der Wiedergutmachungsbehörde Unterfranken am 6. Dezember 1955 wird der Restitutionsanspruch der Verfolgten, vertreten durch die Jewish Restitution Successor Organization (JRSO), der sich aus der (Zwangs)Versteigerung von Mobiliar aus dem Haushalt Else Ehrenbachers ergibt, anerkannt und mit einer Vergleichszahlung abgegolten. Die Gegenstände waren weniger als vier Wochen nach dem Tod Else Ehrenbachers öffentlich versteigert worden.64

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Gestapo 18880. Staatsarchiv Würzburg, Wiedergutmachungsakten JR 5386, JR 5387, JR 5388. Wiedergutmachungsakte JR 5386.

HERR H. UND DIE SCHREIBMASCHINE Stefan Keller

Schweizerisches Bundesarchiv. E4264#1985/196#2069*.

Diese Geschichte, die Herr H. seinen Freunden in Melbourne erzählte, hätten wir lieber von ihm selbst gehört. Doch Herr H. ist im März 2000 mit 83 Jahren verstorben. Die Freunde sagen, er habe im Swimmingpool einen Herzanfall erlitten, seine Frau habe ihn noch zu retten versucht: vergeblich. Gerne hätten wir Herrn H. interviewt, ihm diese und jene Frage gestellt, später aufgrund von Aktenkenntnissen nachgefragt

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STEFAN KELLER

und vielleicht auftauchende Widersprüche geklärt. Als ich im Februar 2000, kurz vor seinem Tod, einige Wochen in Melbourne arbeitete, lernte ich Herrn H. leider gar nicht kennen. Ich sah aber andere Emigranten und Emigrantinnen in jener Stadt. Ich traf sie auf Gartenpartys und bei Abendessen, zu denen mich meine Gastgeber oft mitnahmen. Ich sprach mit sehr freundlichen Leuten, die wunderbar erzählten und auch grossartige Witze kannten. Manche hatten rechtzeitig fliehen können, andere waren später angekommen. Einzelne trugen eine tätowierte Nummer auf dem Arm, was man an heissen Sommertagen sofort sah. Mein Gastgeber zum Beispiel landete 1946 in Melbourne. Ende 1943 hatten ihn Schweizer Beamte als Sechzehnjährigen der Gestapo ausgeliefert, die ihn nach Auschwitz bringen liess. Ein Herr L., dem ich begegnete, jüdischer Werkzeugmacher, schaffte hingegen die Flucht nach Grossbritannien. Dort internierte man ihn 1940 als feindlichen Ausländer. In Australien, wo L. dann Möbeldesigner geworden ist, traf er auf einem Gefangenenschiff ein. Wie und wann Herr H. nach Melbourne kam, wäre leicht herauszufinden. In den uns vorliegenden amtlichen Akten endet H.’s Geschichte mit seiner Ausreise aus der Schweiz im Dezember 1946, die eine Ausschaffung gewesen ist. Eine erste und – wenn man so will – ordentliche Ausreise hatte bereits im August 1945 stattgefunden, als sich H. zu einem behördlich fixierten Zeitpunkt bei der Kantonspolizei Schaffhausen melden musste, damit diese ihn dem französischen Grenzposten im deutschen Bietingen zuführen konnte. Herr H. verliess die Schweiz auf eigenen Antrag. Wie es scheint, hatte er die militärisch geführten Flüchtlingslager schlecht vertragen, mehrmals war er von Urlauben nicht zurückgekehrt, man verwahrte ihn deshalb ab 1941 unbefristet in der Strafanstalt Witzwil und platzierte ihn später als billigen Knecht bei einem Bauern. Als er 1946 noch einmal einreiste, um in der Schweiz persönliche Schulden zu begleichen (was ihm dank eines Schmuggelgeschäfts gelang), dachte H. nicht daran, dass die 1939 in Chiasso verhängte und seither nur aufgeschobene Landesverweisung nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Europas immer noch galt. Soweit ist H.s Geschichte rekonstruierbar. Man könnte sie jetzt erzählen. Allerdings herrscht in den behördlichen Akten fast durchwegs ein feindseliger Ton. Auch als H. am 10. Mai 1945 versuchte, sich mit einem Flobert-Gewehr umzubringen – möglicherweise hatte er von der Ermordung seiner Familie erfahren –, entstand bei den Beamten keinerlei Empathie. Nur beiläufig wird erwähnt, dass der aus Baisingen in Württemberg stammende H. schon als Siebzehnjähriger das erste Mal verhaftet worden war, dass er 1933 nach Frankreich floh, Ende 1935 oder Anfang 1936 als jüdischer Aktivist – oder wie ein Schweizer Psychiater schreibt, „illegitim, einer zyonistischen

Herr H. und die Schreibmaschine

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Gesellschaft angehörend“ – aus Belgien ins Deutsche Reich zurückkehrte, hier erneut verhaftet und jetzt ins Konzentrationslager eingesperrt wurde. Der Psychiater attestiert ihm einen „wenig stabilen“ Charakter. Als der 23-jährige H. im August 1939 nach illegalem Grenzübertritt im Tessin verhört wird, hat er nach eigener Aussage 43 Monate Haft in den Konzentrationslagern Esterwegen, Sachsenhausen, Dachau und Buchenwald hinter sich. Dank einem Schanghai-Visum kam er frei, unter der Bedingung, das Reich sofort zu verlassen. Als die Schweizer Behörden ihn zurückschicken oder – wie die Akten zeigen – allenfalls den deutschen Behörden direkt übergeben wollen, packt Herr H. zur eigenen Rettung im Polizeibüro von Chiasso eine Schreibmaschine, schmeisst sie auf den Boden und macht sie kaputt. So erzählten es seine Freunde in Melbourne mit Respekt. Wegen der Zerstörung von staatlichem Eigentum hätten die Schweizer ihn eingesperrt und nicht ausgeschafft. Die amtlichen Akten sind an dieser Stelle lückenhaft. Sie belegen den Entscheid zur sofortigen Abschiebung vom September 1939 und melden als Nächstes das Wegbleiben H.’s aus dem Flüchtlingslager im Mai 1941.

„ICH HABE WEDER VOR EUCH ANGST NOCH VOR DEN TÜRKEN!“ Frauen in der Makedonischen Revolutionären Organisation um 1900 Nada Boškovska

Der Widerstand gegen die osmanische Herrschaft nimmt in der makedonischen Historiographie seit der Entstehung einer eigenen Geschichtsschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg einen herausragenden Platz ein. Insbesondere der Ilinden(Eliastag)-Aufstand, der am 2. August 1903 begann und zur kurzfristigen Befreiung einiger Gebiete führte, ist ein Kernstück makedonischen Nationbuildings und ist entsprechend breit erforscht und rezipiert worden. Jedem makedonischen Schulkind sind zahlreiche Helden aus dieser Zeit geläufig. Fast alle dieser Figuren haben mittlerweile in Skopje im Zuge einer beispiellosen Umgestaltung der Hauptstadt ein Denkmal erhalten. Die aktuelle Historiographie widmet den „Makedonischen Aktivisten“ (Makedonski dejci) seit 2013 eine eigene Reihe, in der fortlaufend Monographien zu einzelnen Persönlichkeiten erscheinen. Dabei handelt es sich ausnahmslos um Männer. Die makedonische Geschichte, wie sie im neuen Stadtbild Skopjes oder im ebenfalls neu gegründeten „Museum des makedonischen Kampfes für Staatlichkeit und Unabhängigkeit – Museum der IMRO und Museum der Opfer des kommunistischen Regimes“ präsentiert wird, ist weitgehend frauenfrei. Wer jedoch das Tagebuch eines der damaligen Kämpfer, des Vojvoda Vasil Čakalarov, liest, stösst keineswegs auf eine Welt ohne Frauen. Auf der Grundlage dieses Tagebuchs möchte ich im Folgenden ein Schlaglicht darauf werfen, welche Rolle Frauen in der Makedonischen Revolutionären Organisation (MRO)1 spielten. Makedonien war um 1900 eines der letzten Gebiete auf dem Balkan, das – nach über 500 Jahren – noch immer unter osmanischer Herrschaft stand. 1893 gründeten sechs junge Männer, fünf Lehrer sowie ein Arzt, der in Zürich und Berlin studiert hatte, in Thessaloniki eine revolutionäre Geheimorganisation, deren Ziel es war, auf die Erfüllung des Art. 23 des Berliner Vertrags von 1878 hinzuarbeiten, der eine Autonomie für Makedonien innerhalb des Osmanischen Reiches vorsah. Goce Delčev, der 1894 zur Organisation stiess und später sicher deren charismatischste Führer war, betrachtete Makedonien als ein versklavtes Land, das sich selbst von innen befreien müsse. Seine Devise war es deshalb, das Volk in jedem einzelnen Dorf auf den kom1

Die Organisation änderte den Namen mehrmals leicht. Der Einfachheit halber wird hier durchgehend die ursprüngliche Bezeichnung verwendet.

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menden grossen Aufstand vorzubereiten. Bis es so weit war, sollte die Autorität und Legitimität der osmanischen Herrschaft durch eine Guerilla-Taktik und durch den Aufbau paralleler Strukturen erodiert werden.2 Seit 1897 wurden darum systematisch kleine, mobile Kampfeinheiten aufgestellt, die so genannten Tscheti (Scharen), die 15 bis 50 Kämpfer im Alter von etwa 18 bis 40 Jahren umfassten und einem Vojvoda (Befehlshaber) unterstanden. Makedonien wurde vom Zentralkomitee der Organisation, das seinen Sitz in Thessaloniki hatte, in militärische Operationsgebiete eingeteilt, für die je eine Tscheta zuständig war, die ihrerseits dem lokalen Komitee der MRO verantwortlich war. Die Tscheti waren der ausführende Arm und hatten nebst der militärischen weitere Funktionen inne: Sie betrieben politische Agitation, zogen Steuern ein und übten Polizei- und Gerichtsfunktionen aus.3 Nicht zuletzt hatten sie die Aufgabe, in der Bevölkerung besonders verhasste Repräsentanten des Regimes oder andere als Unterdrücker oder Ausbeuter angesehene Personen zu liquidieren. Vasil Čakalarov war Anführer jener Tscheta, die das Gebiet um die Stadt Kastoria/ Kostur (heute in Nordgriechenland) unter sich hatte, und einer der wichtigen Akteure innerhalb der revolutionären Organisation. Er wurde 1874 im Dorf Smrdeš in der Region Kastoria/Kostur als Sohn eines Schuhmachers geboren. Nach einem längeren Aufenthalt in Albanien, über den nichts Näheres bekannt ist, und einer gewissen Zeit, die er in Bulgarien verbrachte, wurde er für die MRO tätig und übernahm im Jahr 1900 die Aufgabe, aus Griechenland Waffen zu beschaffen.4 Im Ilinden-Aufstand von 1903, der im Gebiet von Kastoria/Kostur grosse Ausmasse annahm, spielte Čakalarov eine bedeutende Rolle.5 Nach der Niederschlagung des Aufstandes lebte er erneut einige Jahre in Bulgarien und kehrte nach der jungtürkischen Revolution von 1908 in seine Heimat zurück, die weiterhin Teil des Osmanischen Reiches war.6 Den Tod fand der Vojvoda im Zweiten Balkankrieg, als er auf Seiten der Bulgaren kämpfte. Am 9. Juli 1913 wurde seine Tscheta von griechischen Truppen aufgerieben, sein Kopf abgeschnitten und in Florina/Lerin von seinen griechischen Feinden in einer triumphalen Prozession durch die Strassen getragen.7 2 3 4 5 6 7

Perry, Duncan M.: The Macedonian cause. A critical history of the Macedonian Revolutionary Organisation 1893–1903, Ann Arbor 1981, pp. 77–106. Perry, Cause, pp. 252–258, pp. 261–263. Žežov, Nikola: Vasil Čakalarov (1874–1913), Skopje 2014, S. 19–24. Trajanovski, Aleksandar (Hg.): Ruski dokumenti za Makedonija i makedonskoto prašanje (1859–1918), Skopje 2004, S. 269. Žežov, Čakalarov, S. 171. Žežov, Čakalarov, S. 211–214.

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Der osmanische Balkan um 1900. Karte: Daniel Ursprung.

Sein überliefertes Tagebuch umfasst die Zeit vom 1. Juli 1901 bis zum 30. August 1903. Der Autor machte fast täglich chiffrierte Einträge in kleine Hefte.8 Das Werk gibt detailliert Einsicht in den Aufbau der MRO, in deren Wirkungsbereiche und das alltägliche Leben der Mitglieder wie auch der Bevölkerung. Spannungen, divergierende Meinungen und Unverträglichkeiten in der Organisation kommen deutlich zum Ausdruck. Der oft strapaziöse Alltag der Freischärler wird nachvollziehbar, der von langen Märschen in den Bergen, häufig auf unbekannten Wegen, geprägt war. Hunger und Durst waren ständige Begleiter; oft genug ernährten sich die Männer nur von Brot und Milch oder Käse, die ihnen von den Schäfern mehr oder weniger freiwillig gegeben wurden. In der Regel zogen sie es vor zu bezahlen, aber nicht immer hatten sie Geld. Auch Bekleidung und Schuhwerk waren häufig unzureichend.9 Ungeschönt schreibt Čakalarov auch darüber, wie er im Auftrag der revolutionären Organisation Geld ein8 9

Pavlevski, Dejan (Hg.): Dnevnikot na vojvodata Vasil Čakalarov. Vorwort von Paskal Gilevski, Skopje 2007, S. 5. Erstmals wurde das Tagebuch 2001 in Sofia publiziert. Im Juli 1903 plante Čakalarovs Tscheta eine – dann nicht realisierte – Entführung, weil sie kein Geld für Kleider und Schuhe hatte. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 325.

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Čakalarov (vorne links sitzend) mit einem Teil seiner Tscheta. Brailsford, H.N.: Macedonia. Its races and their future, London 1906, S. 151.

trieb oder Verräter liquidieren liess oder auch selbst liquidierte. Das Tagebuch gibt ausserdem wertvolle Hinweise zum Verhältnis zwischen der Bevölkerung und der Organisation. Nicht zuletzt können wir dem Text auch zahlreiche Informationen über die Rolle von Frauen in der Gesellschaft und ihre Bedeutung für die MRO entnehmen. Als Erstes fällt auf, mit welcher Beiläufigkeit und Selbstverständlichkeit von Frauen als in zahlreiche Vorgänge Involvierte die Rede ist. Kaum einmal wird erklärt oder begründet, warum die eine oder andere Frau in dieser oder jener Funktion auftritt. Auffallend häufig quartierten sich die Kämpfer bei Frauen ein. In seinem Heimatdorf Smrdeš versteckte sich Čakalarov im Juli 1901 nicht in seinem Elternhaus – was ihm die Rüge seiner gekränkten Mutter eintrug –, sondern bei Fotevica Meržova. Diese war offensichtlich eine erfahrene und verlässliche Stütze der Organisation, mit der sich Čakalarov vertrauensvoll austauschte und die ihm auch wertvolle Informationen vermittelte. Auch andere Komiti10 hatten längere Zeit bei ihr gewohnt. Čakalarov wurde in ihrem 10 Volkstümlich auch „Kumiti“. Dies war die in der Bevölkerung übliche Bezeichnung für die Mitglieder der MRO (abgeleitet von „Komitee“).

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Haus regelmässig von weiteren Mitgliedern der Organisation aufgesucht, die meistens mitten in der Nacht eintrafen.11 Möglicherweise war Fotevica eine Witwe, auf jeden Fall wird ihr Mann Fote12 im Text nie genannt. Auch im Haus von Koljovica Popkirova fanden Treffen statt und Čakalarov übernachtete bei ihr.13 Als Anfang November 1901 ruchbar wurde, dass bei ihr eine Razzia stattfinden sollte, fanden die Freischärler am 5. November bei Pandovica Ljačka Unterschlupf.14 Warum sie wen auswählten – dazu macht Čakalarov selten nähere Angaben. Aber wichtig war etwa, dass ein Haus geräumig war, denn zuweilen versammelten sich dort viele Leute.15 Einmal heisst es explizit, dass bei Kirovica Beščurka in Kosinec ein gutes Versteck eingerichtet war. Kirovica unterrichtete die bei ihr untergekommenen Komiti laufend über die Vorgänge im Dorf, denn Soldaten waren im Begriff, die Häuser zu durchsuchen.16 In Kosinec fanden die Kämpfer auch bei einer Donovica Terziovska Unterkunft, deren Mann Dono verraten worden war und im Gefängnis in Korça (im heutigen Albanien) einsass.17 In den damaligen streng patriarchalen Strukturen war es alles andere als üblich, dass eine Frau fremde Männer beherbergte. Die Frauen nahmen somit ein mehrfaches Risiko auf sich: Sie liefen einerseits Gefahr, von den osmanischen Behörden verfolgt zu werden, und andererseits, ihren Ruf als ehrbare Frauen zu gefährden. Ausserdem gab es in der Bevölkerung nicht wenige Gegner der Organisation. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Čakalarov gerade eine dieser Frauen, die sie regelmässig versteckten, heroische Worte sprechen lässt. Eine Lazovica Mitruševa, bei der man den Vojvoda und einige seiner Leute vermutet hatte, wurde von einem Gegner Čakalarovs, Apostol (Toljo), darauf hingewiesen, es sei solchen Leuten schon das Haus angezündet worden. Sie schleuderte ihm aber laut Tagebuch Folgendes entgegen: „Toljo, Toljo, ich bedaure, dass ich sie nicht sehen kann und dass sie nicht kamen. Ich bin bereit, ihnen zu helfen, sie zu verstecken und zu versorgen, wenn sie nur kommen! Ich habe weder vor euch 11 12

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Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 12–13, S. 15–17, S. 32, S. 36. Gemäss makedonischer Tradition, die sich in der älteren Generation auf dem Land bis heute hält, wurde eine verheiratete Frau nicht mit ihrem eigenen Vornamen angesprochen oder bezeichnet, sondern mit einer Ableitung des Namens ihres Mannes (auf -ica). Ihr eigener Name wurde nur noch von ihrer Herkunftsfamilie verwendet. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 33–34, S. 40, S. 47, S. 52, S. 109 (hier wohl aus Versehen des Dechiffrierers des Tagebuchs als Koljovica Popristova bezeichnet). Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 54. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 55. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 204. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 45. Zahlreiche weitere Frauen, die Freischärler beherbergten, könnten genannt werden.

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Angst noch vor den Türken! Das Haus wird so oder so irgendeinmal brennen [...], es tut mir aber leid, dass ich sie nicht sehen und ihnen helfen kann.“ Čakalarov kommentiert das so: „Als unser Apostol diese wunderbare Antwort erhielt, rannte er beschämt davon.“18 Neben der essentiellen Funktion, den Komiti Unterschlupf zu gewähren, sticht bei der Lektüre des Tagebuchs eine weitere, für die konspirative Kommunikation unentbehrliche Funktion sofort ins Auge: Die Frauen sind in einem erstaunlichen Ausmass als Kurierinnen unterwegs, um mündliche Nachrichten, Briefe und Geld zu überbringen. Da Frauen offenbar weit weniger Gefahr liefen, durchsucht zu werden, schmuggelten sie zudem auch Waffen. Čakalarovs Mutter und Schwester kamen regelmässig als Kurierinnen zum Einsatz. Seine Mutter und andere Frauen fungierten des Weiteren immer wieder als Begleiterinnen von Freischärlern, damit diese weniger Verdacht erregten.19 Frauen wurden auch als Kundschafterinnen ausgeschickt, um die Bewegungen der türkischen Truppen zu beobachten.20 Die im Text geläufige Wendung „wir schickten Frauen“, um etwas auszukundschaften oder Nachrichten zu überbringen, benennt einen selbstverständlichen, eingespielten Vorgang.21 Čakalarov beschreibt auch andere Situationen, in denen die Kämpfer die Hilfe von Frauen in Anspruch nahmen. Einmal liess er in einem Dorf vier bis fünf Frauen in einem gewissen Abstand vor sich hergehen, damit sie ihm ein Zeichen gäben, sollten Soldaten auftauchen.22 Ein anderes Mal, als sie zu zweit aus einem Dorf in die Hügel flüchteten, weil eine türkische Einheit im Anmarsch war, gingen Frauen hinter den beiden her und verwischten die Spuren, wodurch sie selbst ins Visier der Soldaten gerieten.23 Eine dritte wichtige Aufgabe der Frauen bestand darin, internationale Aufmerksamkeit zu erregen. Diese war, wie Stefan Troebst richtig festgestellt hat, für nationalrevolutionäre Bewegungen schon damals eine wichtige Ressource. 24 Vor Ort repräsentierten die zahlreichen ausländischen Konsuln in Bitola (in der heutigen Republik Makedonien gelegen) die Weltöffentlichkeit. Wenn es Übergriffe von osmanischen Soldaten oder Beamten gab, wurden mit Vorliebe Frauen nach Bitola geschickt, um sich bei den Konsuln zu beschweren. Auf die Reise machten sich dabei jeweils nicht 18 19 20 21 22 23 24

Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 233. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 27, S. 31, S. 32, S. 33, S. 36, S. 77, S. 189. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 173. Vgl. z.B. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 101, S. 115. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 212. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 244. Troebst, Stefan: Von den Fanarioten zur UÇK. Nationalrevolutionäre Bewegungen auf dem Balkan und die „Ressource Weltöffentlichkeit“, in: Requate, Jörg/Schulze Wessel, Martin (Hg.): Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002, S. 231–249.

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einige wenige Frauen, sondern häufig Dutzende, in einem Fall waren es 50 bis 60.25 Gar zu einer „Aufsehen erregenden Demonstration“ kam es am 13. März 1903, als rund 200 Personen aus dem zwei Tagesreisen entfernten Dorf Dmbeni – Männer, Frauen, Kinder – in Bitola erschienen, um sich bei den Konsuln über „Vexationen der Soldaten“ zu beschweren. Der österreichisch-ungarische Konsul riet ihnen, sich an den Wali (Gouverneur) zu wenden, was sie auch taten.26 Die ausländischen Vertreter machten sich aber auch durchaus selbst ein Bild. Der russische Konsul suchte am 16. Oktober 1902 das Dorf Breznica auf, um die Kirche zu inspizieren, welche die türkischen Soldaten auf der Suche nach Waffen nahezu komplett zerstört hatten.27 Frauen wurden nicht nur zu den Konsuln geschickt, sondern auch zu den osmanischen Behörden, um Klage zu erheben oder Gefangene freizubekommen. Nach einer Razzia in Dmbeni an der Jahreswende zu 1903, bei der die Soldaten den Dorfvorsteher und andere Gemeindevertreter nach Kastoria/Kostur abgeführt hatten, wurde beschlossen, 70 bis 80 Frauen und ein paar Männer zum Kajmakam (Bezirksvorsteher) zu schicken. Die Frauen sollten dort Aufruhr verursachen und aussagen, ihnen seien Kleider gestohlen worden, so und so viele seien geschlagen und entehrt worden. Sie führten den Auftrag zur Zufriedenheit Čakalarovs aus und reichten auch eine offizielle Klage ein. Vergeblich hatten die Wachen versucht, die Frauen hinauszuwerfen. Es gelang diesen sogar, die verhafteten Dorfoffiziellen freizubekommen. Einige der Frauen kamen daraufhin um drei Uhr nachts nach Hause, andere mussten unterwegs in anderen Dörfern übernachten.28 Diese erstaunliche Mobilität der Frauen, die als Kurierinnen, Schmugglerinnen oder Klägerinnen bei Tag und bei Nacht in der ganzen Region unterwegs waren, dadurch mit Männern in unterschiedlichen Funktionen (Komiti, Soldaten, Beamte, Konsuln) in Kontakt traten, ist bemerkenswert und war so in der traditionellen Rollenverteilung nicht vorgesehen. In den patriarchalen Familien des Balkans, die von Patrilinearität und Patrilokalität sowie einem strengen Sittenkodex geprägt waren, kam den Frauen grundsätzlich eine deutlich untergeordnete Stellung zu, die mit vielen Einschränkungen verbunden war.29 25

Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 99. Zehn bis zwölf Frauen aus dem Dorf Gabreš, die nach Bitola gingen, um den Konsuln die Übergriffe von Soldaten zur Kenntnis zu bringen, nahmen bei dieser Gelegenheit einen Brief an den Anführer des Komitees in Bitola mit. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 128–129 26 Bridge, F. R. (Ed.): Austro-Hungarian documents relating to the Macedonian struggle, 1896–1912, Thessaloniki 1976, Nr. 67. Bericht des Konsuls in Bitola nach Wien vom 15.03.1903. 27 Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 173. 28 Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 249–250. 29 Halpern, Joel M./Kaser, Karl/Wagner, Richard A.: Patriarchy in the Balkans. Temporal and Cross-Cultural approaches, in: The History of the Family 1 (1996), pp. 425–442, here p. 427; Brunnbauer, Ulf: Families and mountains in the Balkans, in: The History of the Family 7 (2002), pp. 327–350, here p. 328.

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Ob im oben geschilderten Fall tatsächlich geplündert und vergewaltigt wurde, wissen wir nicht mit Sicherheit. Das beschriebene Vorgehen war allerdings verbreitet. Am 29. Februar 1903 wurde das Heimatdorf Čakalarovs, Smrdeš, von Soldaten und Baschibosuk30 eingekreist und ausgeplündert, Vieh weggetrieben und zwei Männer wurden getötet.31 Ein Brief aus Dmbeni schildert den Verlauf einer Razzia, wie sie in der Regel durchgeführt wurde. In diesem Dorf suchte am 14. Oktober 1902 eine Einheit von 120 Soldaten nach Freischärlern und Waffen. Das Militär forderte alle männlichen Einwohner zwischen 15 und 80 Jahren auf, sich zu versammeln, und befragte sie, wobei Schläge, in der Regel auf die Fusssohlen, routinemässig dazugehörten. Der Reihe nach wurden die Männer mit Stöcken misshandelt, danach die Häuser systematisch durchsucht. In der Folge schickte das Dorf Frauen nach Bitola und Kastoria/Kostur, damit sie darüber berichteten.32 Čakalarov hatte aber auch keine Skrupel, etwas zu inszenieren, um die Aufmerksamkeit der Konsuln zu wecken. Im Oktober 1902 dachte er sich eine haarsträubende Geschichte aus: In seinem Heimatdorf sollten sich einige junge Männer zunächst verloben und dann mit ihren Verlobten in einem Haus gesellig zusammensitzen. Dort würde man die jungen Leute misshandeln, um dann, wenn die türkische Nachtwache vorbeikäme, ein grosses Geschrei zu veranstalten und zu behaupten, die jungen Frauen seien von den türkischen Wachsoldaten „entehrt“ worden. Den wahren Sachverhalt sollten nicht einmal die Familien der Mädchen kennen. Das ganze empörte Dorf würde in der Folge die Soldaten angreifen und sich dann nach Bitola zu den Konsuln und zum Wali begeben. Auf diese Weise sollte die Aufmerksamkeit „Europas“ geweckt werden. Das krude Vorhaben scheiterte allerdings am Mangel an Freiwilligen.33 Dass ein solches Unterfangen in Betracht gezogen wurde, zeugt davon, dass Misshandlungen und Vergewaltigungen durch Soldaten oder auch muslimische Zivilpersonen immer wieder vorkamen und demzufolge entsprechende Anschuldigungen durchaus glaubwürdig waren. Besonders übel beleumdet waren etwa die Feldhüter, die ausserhalb der Dörfer in den Feldern und Gemüsegärten arbeitenden Frauen und Mädchen begegneten.34 Čakalarov und seine Leute bekamen im Juli 1903 einen zu fas30

31 32 33 34

Eigentlich irreguläre, unbesoldete und undisziplinierte Truppen, die vom Plündern lebten. Zu dieser Zeit gab es die Baschibosuks als Truppe jedoch nicht mehr, es handelte sich vielmehr um Einwohner der muslimischen Dörfer der Umgebung, die sich jeweils den Truppen anschlossen, um zu plündern. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 269–270. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 165–168. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 189–190. Lape, Ljuben (Hg.): Izveštai od 1903 godina na srpskite konzuli, mitropoliti i učilišni inspektori vo Makedonija, Skopje 1954, S. 298–313.

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sen, der mehrere Frauen vergewaltigt hatte und bei der Bevölkerung sehr verhasst war. Die Komiti machten kurzen Prozess mit ihm.35 Čakalarov war stetig bestrebt, die Bevölkerung für die Organisation zu mobilisieren und sie zu motivieren. In der Regel versammelte er die Einwohner eines Dorfes in der Kirche und agitierte. Zuweilen waren bei diesen dörflichen Vollversammlungen auch die Frauen anwesend, so etwa im November 1902 in Dmbeni und Kosinec. Die Frauen wurden instruiert, mit Stöcken und Steinen auf die Soldaten loszugehen und gegen sie zu kämpfen. Es wurde ihnen gesagt, dass sie noch mehr als die Männer für die Organisation arbeiten müssten: Briefe transportieren, nach Bitola gehen, um zu klagen – man werde es ihnen nicht vergessen. Sie zeigten sich laut Čakalarov denn auch sehr motiviert und zufrieden, dass sie auch zu diesen Versammlungen eingeladen worden waren.36 In der Tat bewiesen Frauen immer wieder grossen Mut und liessen sich vom Militär nicht einschüchtern. In Gabreš prügelten 10 bis 15 Frauen mit Stöcken auf Soldaten ein, die einen Mann misshandelten, woraufhin sie ihrerseits von den Soldaten geschlagen wurden. Das hielt sie aber nicht davon ab, diese zu verfolgen und mit Steinen zu bewerfen, als sie den Mann abführen wollten. Auch als die Soldaten sie mit dem Gewehr bedrohten, liessen die Frauen nicht ab und erreichten schliesslich, dass ihnen der Mann übergeben wurde.37 Frauen konnten auch reguläre Mitglieder der Organisation werden und schworen gemäss den Aussagen von Donka Bučakovska aus Kruševo (in der heutigen Republik Makedonien) bei der Aufnahme den üblichen Eid. Donka gehörte zu jenen, die um 1950 in der damals jugoslawischen Republik Makedonien als „Ilindenci“ (Ilinden-Kämpfer) um eine Pension nachsuchten und in ihrem Antrag ausführten, in welcher Weise sie in der Organisation aktiv gewesen waren. Demnach war Bučakovska Anfang 1901 beigetreten und hatte zunächst Briefe und Waffen geschmuggelt. Später sammelte sie in Kruševo und den umliegenden Dörfern Zinn, Blei und alte Patronenhülsen ein und versteckte sie bei sich zu Hause. Ab Juli 1903 wurde daraus in ihrem Haus Munition für den Aufstand fabriziert. Ein Uhrmacher stellte die Gussform für die Kugeln her, sie selbst führte Listen darüber, welche Tscheti wie viel Munition bekamen. Auch das Archiv wurde ihr anvertraut.38 35 36 37 38

Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 319–320. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 198–199, S. 207–208. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 128–129. Brown, Keith: Loyal unto death. Trust and terror in revolutionary Macedonia, Bloomington 2013, pp. 197– 198.

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Die schriftlichen Quellen sowie Volkslieder erwähnen auch einige kämpfende Frauen. Türkische Berichte nennen eine „Masalina“, Mitglied des „bulgarischen Komitees“, Lehrerin in Zagoričani, die in der Tscheta von Čakalarov gewesen sein soll. Allerdings wird sie von Čakalarov nie erwähnt – Maslina Grnčarova war in einer anderen Gruppe aktiv. Gemäss dem osmanischen Kommandanten an der Grenze zu Griechenland war Maslina sehr gefährlich und eine geschickte Anstifterin. Sie hielt Brandreden, um die Männer zu ermutigen, und trug selbst Waffen und gekreuzte Patronengürtel39 – so wie alle Komiti. Am 18. September 1903 wurde sie verhaftet und eine Untersuchung gegen sie eingeleitet.40 Sie selbst sah sich vor allem im „Dienst jener, die Gewehre trugen“.41 Čakalarov spricht einmal von zwei bewaffneten Frauen. Gemäss seinen Ausführungen hatten sie einen wohlhabenden türkischen Grundbesitzer, einen notorischen „Lüstling und Trinker“, der es auf die eine der beiden abgesehen hatte, in eine Falle gelockt und mit Hilfe des Ehemanns getötet. Die Frauen flohen daraufhin und waren mit Revolvern bewaffnet unterwegs. Während jedoch der beteiligte Ehemann der Tscheta von Bitola beitreten konnte, nahm keine Freischärlergruppe die Frauen auf, obwohl die Organisation sie wiederholt darum bat.42 Čakalarov gibt dafür keine Begründung an, offensichtlich waren aber Frauen in den kämpfenden Truppen nicht unbedingt erwünscht. Eine bewaffnete Frau, die mit Männern unterwegs war, verliess ihren angestammten sozialen Platz vollständig und war deswegen kaum in die herrschenden Vorstellungen zu integrieren. Im Volkslied „Kruševo aber pristigna“43 verkleidet sich das Mädchen Todorka denn auch als Mann, als sie zu den Komiti geht. Die MRO war als Organisation bestrebt, alle Bereiche im Alltag der christlichen Bevölkerung zu regeln und parallele Strukturen zur osmanischen Verwaltung zu etablieren. Dazu gehörte, dass sie selbst Gericht hielt und Streitfälle regelte. Sie versuchte auch, die Werte der streng patriarchalen Gesellschaft und deren Vorstellungen von Anstand und Moral durchzusetzen. In dieser Funktion begegnete sie den Frauen (und Männern) als Ordnungsmacht. „Liederlichkeit“ war ein schwerwiegendes Vergehen, umso mehr, wenn Frauen mit Vertretern der osmanischen Obrigkeit Umgang pflegten. In einem Dorf wurden aus diesem Grund am 28. November 1901 drei Frauen aus 39 Stojanovski, Aleksandar (Hg.): Turski dokumenti za Ilindenskoto vostanie, Skopje 1993, S. 172–175. Telegramm an das Generalinspektorat in Bitola, 17.09.1903. 40 Stojanovski (Hg.), Turski, S. 176–177. 41 Vasilev, Sp.: Edna geroinja v makedonskoto osvoboditelno dviženie, in: Makedonsko zname, Juli 1946, zit. nach: Cǎrnušanov, Kosta: Roljata na bǎlgarkata v makedonskoto osvoboditelno dviženie, in: Makedonski pregled 1995/3, http://www.promacedonia.org/mpr/cyrnushanov.html#33 (23.01.2017). 42 Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 280–281. 43 „In Kruševo traf ein Aufruf ein“ (einen Sohn für den Kampf zu stellen).

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ihren Häusern geholt und am Dorfrand umgebracht.44 Im Mai 1903 tötete eine Tscheta in Vrbnik (im heutigen Albanien) „die Hure“ (razvratnica) Kalkovica Grozdanova.45 Im Dorf Čurilovo waren es einige Bauern, die sich mit der Bitte an die Organisation wandten, gegen einige „liederliche“ Frauen Massnahmen zu ergreifen.46 Die Todesstrafe war das Extrem der möglichen Strafen, das aber durchaus nicht gescheut wurde. Als mildere Maßnahmen verhängte die Organisation für verschiedene Vergehen Stockschläge oder Geldbussen.47 Die rigiden Vorstellungen von Sitte und Moral galten auch für Männer. Im Dorf Crnovišta wurde am 22. Januar 1902 im Haus des Priesters eine allgemeine Versammlung abgehalten, bei der als wichtiger Akt die Führung gewählt wurde, mit dem Priester als Vorsitzender. Darüber hinaus kam aber auch die „Schürzenjägerei [ženkarstvo], die alle Grenzen in dem kleinen Dorf gesprengt hatte“, zur Sprache.48 In einem Fall bestrafte die Organisation den Liebhaber einer verheirateten Frau mit 30 Stockschlägen.49 Und am 5. Mai 1902 wurde ein Mann vorgeladen, weil er mit einer Lazovica Trajanova „Schändliches“ (bezobrazluk) getrieben hatte. Die Affäre dauerte offenbar schon länger, denn er war bereits mehrfach ermahnt worden, „nicht mit Lazovica zu gehen“, und wusste, dass ihm nun der Tod drohte. Dass er dennoch freigelassen wurde, hatte einen pragmatischen Grund: Er erhielt von der Organisation den Auftrag, einen Verräter, der schon lange auf der Liste stand und dessen Freund er war, zu liquidieren.50 Die christliche Bevölkerung stand durchaus nicht geschlossen hinter den Komiti. Sie befand sich vielmehr zwischen zwei Fronten. Auf der einen Seite war sie weitgehend schutzlos dem brutalen Vorgehen der osmanischen Armee und den Übergriffen muslimischer Zivilisten ausgesetzt. Auf der anderen Seite war sie mit der MRO konfrontiert, die Gefolgschaft einforderte, Geld eintrieb und sich als wenig zimperliche bis brutale Ordnungsmacht etablieren wollte; die mit ihrem Agieren die Staatsgewalt herausforderte und deren Vorgehen radikalisierte. Zwei Hinweise zu diesem Dilemma müssen hier genügen: Am 9. Mai 1903 wurde das Heimatdorf Smrdeš des Vojvoda Vasil Čakalarov von türkischem Militär eingenommen und weitgehend zerstört, die Häuser in Brand gesteckt. Čakalarov musste sich von den Einwohnern den bitteren 44 45 46 47 48 49 50

Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 64–69. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 300. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 323. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 151, S. 163–165. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 80. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 151. Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 87–88.

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379 Die Ruinen von Zagoričani (heute in Griechenland) nach dem Ilinden-Aufstand von 1903. Brailsford, H.N.: Macedonia. Its races and their future, London 1906, S. 158.

Vorwurf gefallen lassen, das Dorf sei wegen ihnen, den Komiti, angegriffen worden.51 Auf der anderen Seite kam der russische Konsul in Skopje, A.K. Beljaev, im Verlauf des Ilinden-Aufstandes zur Überzeugung, dass die Bevölkerung von den türkischen Gewalttätigkeiten genug hatte und von der Hoffnung auf Freiheit lebte. Er meinte, die Idee von der Befreiung habe tiefe Wurzeln geschlagen und die Bevölkerung, klein und gross, unterstütze die Komitees, „trotz deren Missbräuchen und Erpressungen [злоупотребления и вымогательства]“.52 51 52

Pavlevski (Hg.), Dnevnikot, S. 303–304. Novye dokumenty o položenii v uskjubskom vilajete v 1903 (Iz donesenij russkich konsulov), in: Slavjanskoe istočnikovedenie. Sbornik statej i materialov, Moskva 1965, S. 191, Nr. 303. Bericht vom 26.07.1903 (alter Stil).

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Der Aufstand selbst war letztlich ein Fiasko. Er wurde nach kurzer Zeit niedergeschlagen, ein Eingreifen der Grossmächte – „Europas“ –, wie es sich die Organisatoren erhofft hatten, fand nicht statt. Die Folgen für die MRO wie für die Bevölkerung waren verheerend. Die Organisation wurde materiell und personell dezimiert und spaltete sich danach in zwei Strömungen.53 Rund 8.800 Menschen kamen um, 30.000 wurden zu Flüchtlingen, über 12.400 Häuser wurden niedergebrannt54 und unzählige Frauen vergewaltigt.55 Die osmanische Herrschaft in Makedonien endete zehn Jahre später als Folge der Balkankriege von 1912/13. Mit dem Vertrag von Bukarest wurde die Region am 10. August 1913 unter Griechenland, Serbien und Bulgarien aufgeteilt.

53 54 55

Perry, Cause, p. 333. Bitovski, Riste (Hg.): Istorija na makedonskiot narod (Bd. 3), Skopje 2003, S. 347. Castellan nennt die Zahl von 3000 Frauen. Vgl. Castellan, Georges: La Macédoine. Un pays inconnu. Hier et aujourd’hui, Crozon 2003, p. 355–356.

„... MAN WOLLE KEINE ‚LOKALUNIVERSITÄT‘ MEHR SEIN ...“.1 Von Widersprüchen und Widerständen im Umgang mit Ausländerinnen und Ausländern an Schweizer Hochschulen Noëmi Sibold

Periodisch ist das Verhältnis von Einheimischen und Ausländern und Ausländerinnen an den Schweizer Universitäten ein Thema, so auch in den letzten Jahren. Wie viele ausländische – oder konkreter, wie viele deutsche Dozierende verträgt eine Schweizer Uni? Warum importieren wir den wissenschaftlichen Nachwuchs aus dem Ausland, anstatt den Einheimischen zu fördern? Und sollen ausländische Studierende gleich viel für ihr Studium bezahlen wie Schweizerinnen und Schweizer? 2012 forderte eine Gruppe junger Forschender längst fällige Massnahmen zur Verbesserung der Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses an Schweizer Universitäten2, prangerte dabei die verkrusteten Strukturen an und machte zugleich auf den hohen Ausländeranteil aufmerksam: […] Die Schweiz hat von allen westlichen Ländern den mit Abstand höchsten Ausländeranteil unter den universitären Wissenschaftlern […] Hohe Anziehungskraft üben unsere Hochschulstrukturen … auf Angehörige einer anderen Nation aus: Deutschland. […] Schweizer Universitäten bieten ihnen vertraute Verkrustungen zu besseren Konditionen. Und sie wiederum bieten den Schweizer Universitäten einen billigen Ersatz für einheimische Talente und ein billiges Argument für die Beibehaltung des Status quo. […] Eine Hochschulpolitik nach dem Real-Madrid-Prinzip, das ausländischen Professoren ein Fürstendasein verspricht und den einheimischen Nachwuchs verkümmern lässt, ist der Weg des geringsten Widerstandes, aber er wird, wenn es zu spät ist, Widerstand hervorrufen, vor allem in der Form stärkerer Ressentiments.3 1 2

3

StABS, Universitätsarchiv V 1.4. Rektorat Universität Basel an Erziehungsdepartement Basel-Stadt, Regierungsrat Fritz Hauser, 04.06. sowie 09.06.1929. Siehe dazu Sibold, Noëmi: Nachwuchsförderung an Schweizer Fachhochschulen und Universitäten – Entwicklungen, Positionen und Herausforderungen, in: Truniger, Luzia (Hg.): Führen in Hochschulen. Anregungen und Reflexionen aus Wissenschaft und Praxis, Wiesbaden, 2017, s. 105–122. Fink, Alke u.a.: Vision 2020. Ohne massiven Umbau der universitären Hierarchien wird die Schweiz ihre Eliten vorwiegend aus dem Ausland einkaufen müssen. Positionspapier junger Forschender; Hearing WBK-S, 02.04.2012.

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2013 wurde die Berufung eines deutschen Bewerbers am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung an der Universität Zürich sistiert, weil die Berufungskommission in einem Medienbericht verdächtigt worden war, deutsche Kandidierende gegenüber schweizerischen zu bevorzugen. Gemäss dem Geschäftsführer des Deutschen Wissenschaftsverbandes kam es an verschiedenen Schweizer Universitäten im Zusammenhang mit Berufungen deutscher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu Schwierigkeiten – ihnen wurde u.a. vorgeworfen, „nicht schweizerisch“ genug zu sein.4 Im gleichen Jahr wurde auch die Frage diskutiert, ob Ausländer und Ausländerinnen nicht höhere Studiengebühren bezahlen sollten als Schweizer und Schweizerinnen. Die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) stellte klar: „Die Schweizer Hochschulen, finanziert durch die Schweizer Steuerzahler“, seien in erster Linie dazu da, Schweizer Studenten auszubilden. Ausländische Studenten seien willkommen, sollten ihr Studium aber angemessen mitfinanzieren.5 Eine andere Wendung erhielt die Debatte mit der sogenannten „Masseneinwanderungsinitiative“ der SVP, die eine Kontingentierung der ausländischen Wohnbevölkerung in der Schweiz forderte. Nun stand für die Hochschulen der internationale Austausch und die Rekrutierung der „besten Forschenden“ auf dem Spiel. Mit einem „Manifest für einen offenen Bildungs- und Forschungsplatz Schweiz“ traten „Vertreterinnen und Vertreter des Wissensplatzes Schweiz“ an die Öffentlichkeit und riefen dem Schweizer Stimmvolk die große Bedeutung der Erfolgsfaktoren Offenheit und Internationalität für den Bildungs-, Forschungs- und Innovationsstandort Schweiz in Erinnerung: Seit der Gründung der ersten Schweizer Universität vor 550 Jahren in Basel erfolgte der Aufbau und die Etablierung aller Schweizer Hochschulen mit wesentlicher Unterstützung zahlreicher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt.6

Bekanntlich nützten weder dieser Apell noch das weitere Engagement der Gegnerschaft etwas: Die ausländerfeindliche Initiative wurde im Februar 2014 angenommen. Ziehen wir ein erstes Fazit: Schweizer Universitäten sind auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Ausland angewiesen. Nicht selten taucht in den Debat4 5

6

Bernet, Walter: Scharf beobachtete Universität Zürich, in: Neue Zürcher Zeitung, 13.03.2013, http://www.nzz. ch/zuerich/scharf-beobachtete-universitaet-zuerich-1.18045635 (03.09.2016). Matt, Allen: Ausländische Studierende: Herausforderung für Schweizer Unis, in: swissinfo.ch, 07.04.2013, http://www.swissinfo.ch/ger/auslaendische-studierende--herausforderung-fuer-schweizer-unis/35379758 (03.09.2016). CRUS/KFH/COHEP/A+/SNF: Manifest für einen offenen Bildungs- und Forschungsplatz Schweiz, 21.01.2014.

„... man wolle keine ‚Lokaluniversität‘ mehr sein ...“.

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ten über den „angemessenen Anteil“ eine Art „Überfremdungsangst“ auf. Jedoch nicht nur. Wenn Ausländer und Ausländerinnen als billigere Arbeitskräfte eingesetzt werden, kann sich dies zwar in Widerständen gegen sie äussern, hat im Kern allerdings nichts mit Fremdenfeindlichkeit zu tun. Diese Argumentationslinien und auch die mit ihnen einhergehenden Widersprüche sind nicht neu – und gerade deshalb wirkmächtig. Dieser Beitrag wirft im Folgenden einen Blick auf die Universität Basel in den 1930er-Jahren, um aufzuzeigen, wie in der damaligen Debatte Themen und Argumente von verschiedenen Akteuren genutzt wurden, sei es von der Fremdenpolizei, der Universitätsleitung oder einzelnen Professoren. Interessant sind dabei immer auch die strategische Interessenslage und die unterschiedlichen Ziele hinter diesen Argumenten.

Die Universität Basel in den 1930er-Jahren In der Zwischenkriegszeit war die steigende Anzahl ausländischer Studierender im Kontext der damaligen Ausländer- bzw. Flüchtlingspolitik und des herrschenden Überfremdungsdiskurses ein kontrovers diskutiertes Thema in Basel. Die schweizerischen Hochschulen konkurrierten nach Ende des Ersten Weltkriegs um auswärtige Studierende. So bemühte sich auch die Universität Basel aktiv darum, dass vermehrt Personen aus anderen Kantonen sowie dem benachbarten Ausland in Basel studierten. Sie wollte keine „Lokaluniversität“ mehr sein.7 Die internationale Studentenschaft war der kantonalen Fremdenpolizei jedoch ein Dorn im Auge. Sie schlug Ende der 1920er-Jahre vor, insbesondere die Einreise von Studierenden aus osteuropäischen Ländern zu erschweren: Gegen das Studium von Deutschen, Franzosen, Italienern und Österreichern in Basel wird ja gewiss niemand etwas einwenden, weil jedermann weiss, dass umgekehrt wieder Schweizer die Hochschulen dieser Staaten besuchen, während ein solcher Austausch bei Polen, Lettland, Litauen etc. nicht möglich ist. Für die Volksstimmung fällt dann noch stark ins Gewicht, dass die Studenten dieser Staaten fast ausnahmslos Juden sind. Wir halten es nicht für ausgeschlos-

7

StABS, Universitätsarchiv V 1.4. Rektorat Universität Basel an Erziehungsdepartement Basel-Stadt, Regierungsrat Fritz Hauser, 04.06. sowie 09.06.1929; siehe auch Bonjour, Edgar: Die Universität Basel von den Anfängen bis zur Gegenwart 1460–1960, Basel 1971, S. 811. Zur eingehenderen Darstellung siehe Sibold, Noëmi: Bewegte Zeiten. Zur Geschichte der Juden in Basel, 1930er bis 1950er Jahre (Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz, Bd. 14), Zürich 2010, S. 223–245.

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Noëmi Sibold

sen, dass, wenn von der Universität aus nicht eine gewisse Einschränkung solcher Studenten angestrebt wird, eine Missstimmung im Volke entsteht, die der Universität schaden könnte.8

Das Basler Erziehungsdepartement sowie das Rektorat der Uni Basel distanzierten sich explizit von einer Haltung, die „erwünschte“ von „unerwünschten“ Ausländern unterschied und sprachen sich gegen eine Einreiseerschwernis für Studierende aus osteuropäischen Staaten aus. Nach dem Machtantritt Hitlers flohen Tausende deutscher Juden und Jüdinnen nach Basel. Unter den ersten Flüchtlingen bzw. „Emigranten“, wie sie vor August 1942 offiziell hiessen, befanden sich zahlreiche Studenten und Studentinnen. So stieg der Anteil ausländischer Studierender an der Universität Basel 1933 sprunghaft an: Im Sommersemester 1933 waren insgesamt 1461 Studierende (davon 186 Frauen) immatrikuliert. Ein Jahr zuvor waren es noch rund 300 weniger. Von den Neuimmatrikulierten stammten 261 aus dem Ausland. Damit war der Anteil der neu immatrikulierten ausländischen Studierenden erstmals höher als der Anteil der neu immatrikulierten Schweizer und Schweizerinnen.9 Die angebliche „Überfremdung“ und „Verjudung“ der Universität war ein gefundenes Fressen für nationalistische und faschistische Kreise. Der grosse Andrang ausländischer Studenten, denen pauschal „ein unverschämtes Benehmen“ und ein Vordrängen in der Universitätsbibliothek vorgeworfen wurde, war aber auch Thema der etablierten Politik. Die Liberale Partei forderte den Regierungsrat auf, dafür zu sorgen, dass die „einheimischen Studenten durch den Zuwachs ausländischer Elemente nicht benachteiligt werden“.10 Zwischen der Professorenschaft und der Basler Regierung herrschte Konsens, dass nun der „Schutz“ der Schweizer im Vordergrund stehen müsse. Die einheimischen Studierenden sollten nicht benachteiligt, und für Assistenzen gezielt Schweizer gesucht werden.11 Die Medizinische und die Juristische Fakultät, die die meisten Neuimmatrikulationen zu verzeichnen hatten, lösten 8 9

10

11

Staatsarchiv Basel-Stadt (StABS), Universitätsarchiv V 1.4. Erziehungsdepartement an Kuratel und Regenz der Universität Basel, 21.01.1927. StABS, Universitätsarchiv AA 4. Verschiedene Jahresberichte der Universität Basel. Siehe auch Zwicker, Josef: Zur Universitätsgeschichte in den 1930er Jahren, in: Basler Universitätsreden 85. Heft, 50 Jahre Kollegienhaus der Universität Basel, Basel 1991, S. 10–11. National-Zeitung, 27.06.1933, zit. nach: Wacker, Jean-Claude: Humaner als Bern. Schweizer und Basler Asylpraxis gegenüber den jüdischen Flüchtlingen von 1933 bis 1943 im Vergleich (Quellen und Forschungen zur Basler Geschichte, Bd. 14), Basel 1992, S. 77. Siehe StABS, Universitätsarchiv I 79. Protokoll der Konferenz betr. Zustrom von ausländischen Dozenten und Studenten an die Universität Basel, 02.05.1933; Bericht über die zweite Konferenz vom 30.06.1933 im Schreiben von Regierungsrat Hauser an Rektorat, Dekane der Universität Basel u.a. vom 06.07.1933.

„... man wolle keine ‚Lokaluniversität‘ mehr sein ...“.

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ihre Platzprobleme mit der Einführung eines Numerus clausus für ausländische Studierende. Während im Reden über Fremde in der Regel judenfeindliche, antibolschewistische und antislawische Reflexe eine Rolle spielten12, traten an der Universität in diesem speziellen Kontext auch antideutsche Ressentiments zutage. Mehr als die Hälfte der neu immatrikulierten Ausländer und Ausländerinnen stammten aus dem Deutschen Reich. In verschiedenen Quellen wird von „deutschen“ Eigenheiten gesprochen, welche im Kontrast zu als schweizerisch geltenden Werten und Verhaltensweisen standen: „Deutsche“ Eloquenz, Zielstrebigkeit und Selbstbewusstsein vertrugen sich schlecht mit „schweizerischer“ Zurückhaltung und Bescheidenheit. Diese klischeehaften kulturellen Zuschreibungen waren Teil der Abwehr der deutschsprachigen Schweizer gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland. Alles was mit dem Begriff „Deutschtum“ in Verbindung gebracht werden konnte, war suspekt und traf – als Ironie des Schicksals – auch die Opfer des Nationalsozialismus.13

Universität versus Fremdenpolizei Der Umgang mit den ausländischen, vorwiegend jüdischen Studierenden an der Universität Basel führte während der ganzen Vor- und zum Teil auch in der Kriegszeit zu einem Hin und Her zwischen der Universität, der Regierung sowie der kantonalen und der eidgenössischen Fremdenpolizei. War das Aufenthaltswesen für Ausländer und Ausländerinnen ursprünglich Sache der Kantone, erfolgte in der Zwischenkriegszeit eine allmähliche Kompetenzverschiebung in Richtung Bund. Es kam immer wieder zu Unklarheiten, Missverständnissen und auch zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Universität und Fremdenpolizei, deren Interessen sehr unterschiedlich waren. Nach dem „Anschluss“ Österreichs und als Folge des einsetzenden Flüchtlingsstroms von Juden und Jüdinnen führte die Schweiz Ende März 1938 die Visumspflicht für Österreicher ein. Einreisegesuche mussten fortan von der eidgenössischen Fremdenpolizei bewilligt werden. Die Kantone wurden angewiesen, auch diejenigen Österreicher, die vor dem Visumszwang eingereist waren, möglichst schnell zu kontrollie12 Siehe Kury, Patrick: Über Fremde reden. Überfremdungsdiskurs und Ausgrenzung in der Schweiz 1900– 1945, Zürich 2003, S. 212. 13 Siehe Urner, Klaus: Die Deutschen in der Schweiz. Von den Anfängen der Koloniebildung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Frauenfeld 1976, S. 13–14.

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ren und zur „Rückkehr oder zur Weiterreise“ zu veranlassen.14 Ende Mai 1938 erhielten zehn an der Universität Basel immatrikulierte jüdische Studenten aus Österreich von der eidgenössischen Fremdenpolizei die Anweisung, die Schweiz innerhalb von drei Tagen zu verlassen. Dies führte nicht nur zu Protesten unter den Schweizer Studierenden, sondern auch zu heftigem Widerstand seitens der Universität. Der Rektor bat das Basler Erziehungsdepartement um dringliche Hilfe in der Angelegenheit und stellte sich auf den Standpunkt, die eidgenössische Fremdenpolizei müsse sich in solchen Fällen zuerst mit den Hochschulen in Verbindung setzen. Die Ausweisungen der kurz vor dem Examen stehenden Mediziner seien eine unnötige Härte, „wenn nicht Unmenschlichkeit“.15 Des Weiteren bemerkte der Rektor, dass er „nicht unbesehen für jeden Juden“ eintrete, was die Fremdenpolizei auch wisse. Er wünsche sich gar deren Eingreifen in Fällen, wo „fremde Mediziner“ nach mehr als zehn Semestern ihr Propädeutikum immer noch nicht gemacht hätten. Doch hier solle sie menschlich sein. Der Rektor schlug dem Erziehungsdepartement sogar vor, sich den Anweisungen der Fremdenpolizei zu widersetzen: Übrigens gibt es, wenn die Eidgenössische Fremdenpolizei nicht Einsicht haben will, ein anderes Mittel (das in Lausanne praktiziert wird), um den Bedrängten zu helfen: man kümmert sich um die Ausweisung nicht und lässt die Studierenden, wo es als angezeigt erscheint, weiter studieren. Es liesse sich denken, dass Basel auch einmal remonstriere [sic], wie die welsche Schweiz.16

Die welsche Universität kam den Direktiven der Fremdenpolizei offensichtlich weniger strikte nach als Basel. Dies zeigt, dass lokale Akteure – insbesondere im föderalistischen System der Schweiz – durchaus über Handlungsspielräume verfügten. Die Ausweisungen der Fremdenpolizei wurden schliesslich vom sozialdemokratischen Regierungsrat und Vorsteher des Polizeidepartements, Fritz Brechbühl, rückgängig gemacht.17

14 15 16 17

Wacker, Bern, S. 91–92. StABS, Universitätsarchiv V 1.4. Rektor an Erziehungsdepartement, 28.05.1938. StABS, Universitätsarchiv V 1.4. Rektor an Erziehungsdepartement, 28.05.1938. Wacker, Bern, S. 112.

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Gratisarbeit im Mittelbau In einer besonderen Situation befanden sich die ausländischen Studierenden der Medizin. Ihre Ausbildung war mit dem theoretischen Studium noch nicht beendet, sondern erforderte zusätzliche Praxis. Nach abgeschlossener Studienzeit erhielten sie allerdings die fremdenpolizeiliche Weisung, dass ihr Aufenthalt in Basel lediglich Ausbildungszwecken gedient habe und sie „wegen Überfremdung nach Absolvierung des Examens nicht weiter in der Schweiz geduldet“ würden.18 Die Medizinische Fakultät der Universität Basel wehrte sich im Frühjahr 1936 gegen die fremdenpolizeilichen Regelungen. Der Dekan bezeichnete das Vorgehen als „hart und ungerecht“ und erklärte unverblümt, dass die Basler Kliniken auf die Mithilfe von Ausländern angewiesen seien, weil sich Schweizer für entsprechende Arbeiten nicht unentgeltlich zur Verfügung stellten: Sie können in Deutschland wegen ihrer politischen Einstellung oder ihrer nicht-arischen Abstammung fast nirgends mehr arbeiten; die Schweiz ist das einzige Land, in welches zu Studienzwecken aus Deutschland Gelder überwiesen werden dürfen. Viele unserer wissenschaftlichen Institute und Kliniklaboratorien sind auf die Mithilfe seitens solcher Ausländer direkt angewiesen, weil Schweizer sich für solche Arbeiten, wenigstens nicht unentgeltlich, nicht zur Verfügung stellen.19

Während der Aufenthalt der Studierenden „nur“ zwischen Universität, Regierung sowie kantonaler und eidgenössischer Fremdenpolizei ausgehandelt wurde, schalteten sich im Falle der lizenzierten Mediziner nun auch das Arbeitsamt und die Schweizerische Ärzteorganisation ein. Diese wehrten sich prinzipiell gegen jegliche Gratisarbeit von Ausländern und forderten die Ausschreibung der Stellen.20 Es ging nun um den Schutz des schweizerischen Arbeitsmarktes – ein zentrales Anliegen im Kampf gegen die „Überfremdung“. Die Arbeitgeber waren im Zuge der Weltwirtschaftskrise angehalten, wenn möglich einheimische Arbeitskräfte zu berücksichtigen. Die Medizinische Fakultät wehrte sich schliesslich erfolgreich gegen die Forderung, dass jede Stelle auszuschreiben sei. Das Arbeitsamt sollte stattdessen jeden Fall einzeln prüfen. Mediziner, die in Basel promoviert hatten, durften ein bis zwei Jahre weiterbe18 19 20

StABS, Universitätsarchiv I 79. Dekan der Medizinischen Fakultät an Erziehungsdepartement, 03.02.1936. StABS, Universitätsarchiv I 79. Dekan der Medizinischen Fakultät an Erziehungsdepartement, 03.02.1936. StABS, Universitätsarchiv I 79. Kantonales Arbeitsamt an Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Basel, 23.03.1936.

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schäftigt werden, sofern sie keinem „Schweizer Arzt“ die Stelle wegnähmen. Die Religionszugehörigkeit der Gratisarbeitskräfte und „Überfremdungsängste“ spielten unter diesen Voraussetzungen keine Rolle mehr.

Professorenschaft Anders sah es an der Spitze der Universität aus. Ab 1933 bewarben sich viele deutsche Dozenten an der Universität Basel, die in NS-Deutschland aufgrund des Gesetzes zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ ihre Anstellung verloren hatten. Die Basler Regierung sowie die Leitung der Universität waren sich einig, dass man zwar einige „vorzügliche deutsche Dozenten“ gewinnen könnte, die eine „Zierde der Universität“ wären, doch dass aus finanziellen Gründen keine neuen Arbeitsplätze geschaffen werden könnten und die Bewerber abgewiesen werden sollten.21 Die internen Diskussionen treten in den Akten selten zutage, da meistens nur noch die formale Korrespondenz vorhanden ist. Aufschlussreich ist daher ein universitätsinternes Schreiben von 1934, welches die Bewerbung eines Prof. Dr. Robert Glücksmann betrifft, der zuvor Dozent an der Handelshochschule Berlin war. Er bewarb sich an der Philosophischen Fakultät für das Fach Verkehrswesen: Glücksmann ist bekannt als der Fachmann auf dem Gebiete der Verkehrsforschung. […]. Sachlich [Hervorhebungen im Orig.] läge meines Erachtens kein Grund vor, das Gesuch abzulehnen, […] Nun das Persönliche. […] Dagegen wird man die Frage aufwerfen müssen, ob es trotz des sachlichen Gewinnes wünschenswert sei, einen ‚Christ jüdischer Herkunft‘ als Privatdozenten oder Extraordinarius zuzulassen. Man wird in ihm immer nur den ehemaligen Juden sehen. Es käme ferner darauf an, zu erfahren, ob er zu den sog. ‚anständigen‘ Juden zählt, die bekanntlich viel leichter ertragen werden.22

Obwohl Professor Glücksmann fachlich also durchaus ein Gewinn für die Universität gewesen wäre, und er wohl auch für wenig Lohn gearbeitet hätte, wurde seine Beschäftigung mit einer judenfeindlichen Begründung abgelehnt. Dies ist nur ein Einzelbeispiel und daher nicht repräsentativ für die Haltung der Professorenschaft. Doch es 21 22

StABS, Universitätsarchiv I 79. Protokoll der Konferenz betr. Zustrom von ausländischen Dozenten und Studenten an die Universität Basel, 02.05.1933. StABS, Universitätsarchiv I 79. Prof. F. Mangold an Dekan der philologisch-historischen Abteilung der philosophischen Fakultät, 10.04.1934.

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zeigt, dass es unter ihr durchaus Judenfeindschaft gab, und in den internen Diskussionen judenfeindliche Vorurteile und Argumente Verwendung fanden, um sich vor unerwünschter Konkurrenz zu schützen: in diesem Fall die Aufspaltung in genehme und unerwünschte bzw. „anständige“ und „unerträgliche“ Juden. Der strategische Einsatz judenfeindlicher Argumentationen war dabei sehr unterschiedlich in Bezug auf verschiedene Hierarchieebenen und Konkurrenzverhältnisse. Die Universität Basel betrieb in den 1930er-Jahren im Kontext der antijüdischen Überfremdungsbekämpfung eine klare Interessenpolitik. Auf der Ebene der Studierenden spielte die Religionszugehörigkeit und das „Fremdsein“ der Emigranten und Flüchtlinge für die Professorenschaft keine entscheidende Rolle. Im Gegenteil: ausländische Studierende wurden – bis zu einer gewissen Anzahl – als Ressource wahrgenommen. Dementsprechend widersetzte sich die Universität der restriktiven Politik der Fremdenpolizei und verteidigte damit gleichsam ihre Autonomie. Wenn es um Verlängerungen von Aufenthaltsbewilligungen ging, hatten die jüdischen Studierenden in Professorenschaft und Rektor einflussreiche Verhandlungspartner. Dank deren grossem Engagement wurden auch immer wieder Ausweisungen verhindert. Gleichzeitig finden sich in der Korrespondenz aber auch vereinzelt judenfeindliche Aussagen. Auch auf der Ebene des universitären Mittelbaus setzte sich die Universität gegen die institutionalisierte Fremdenabwehr durch: Solange die jungen Mediziner und Medizinerinnen unentgeltlich arbeiteten, schienen „Überfremdung“ und Judenfeindlichkeit kein Thema zu sein. Anders dann aber an der Spitze der Universität: Hier hatte der „Schutz des Arbeitsmarktes“ oberste Priorität, so dass Überfremdungsängste und judenfeindliche Argumente auch ohne grosses Zutun von Fremdenpolizei oder Arbeitsamt wirkten. Die oberen Chargen schützten sich selbst vor der unerwünschten Konkurrenz und hielten sich möglichst „judenfrei“.

Fazit Abschliessend kann festgestellt werden, dass der Umgang mit ausländischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an Schweizer Hochschulen in verschiedenen historischen Epochen und bis heute als bisweilen ambivalent bezeichnet werden kann: Es ist unbestritten, dass zu den Grundmaximen der Wissenschaften Internationalität und Weltoffenheit gehören und dass sich der Austausch von Erkenntnissen nicht an Grenzen orientiert. Keine Hochschule will ‚Lokaluniversität‘ sein. Im Wettbewerb um ‚die besten Köpfe‘ sind sie daher unweigerlich auch auf Personen aus

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dem Ausland angewiesen, sowohl auf Studierende als auch auf Forschende und Lehrende. In den aktuellen wie historischen Debatten geht es immer wieder darum, das „richtige Mass“ zu verhandeln, was auf unterschiedlichen Ebenen mit verschiedenen strategischen Argumenten und unter anderen Vorzeichen diskutiert wird. Dies kann zu Widerständen in Form von Ressentiments und nicht zuletzt zu Widersprüchlichkeiten innerhalb des Hochschulsystems selbst führen. Wichtig, auch aus der Perspektive der historischen Debatten, erscheint ein Blick auf die Interessens- und Bedürfnislage, die sich manchmal hinter den augenscheinlich vorgebrachten Argumenten verbirgt. Zur Zeit der Abfassung dieses Beitrags wurde die Umsetzung der „Masseneinwanderungsinitiative“ in den eidgenössischen Räten lange und kontrovers diskutiert. Das Modell „Inländervorrang light“ scheint im Moment am ehesten mehrheitsfähig zu sein. Ein solches würde verlangen, dass alle offenen Stellen bei den Arbeitsvermittlungszentren gemeldet werden, damit sie von inländischen Stellensuchenden eingesehen werden können. Ob es diese Variante sein wird, die sich am Ende der parlamentarischen Beratung durchsetzen wird, ist noch nicht klar – ebenso wenig, wie die Umsetzung konkret ausgestaltet sein wird und wie schliesslich die Hochschulen mit den neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen umgehen werden.

MIT AUSCHWITZ DENKEN Dan Diner

Der Holocaust ist ein ultimativer Genozid. Ultimativ insofern, als er sich auf alle Juden erstreckte – und dies überall. Überall dort, wohin die deutsche Wehrmacht gelangte. Den Holocaust als ultimativen Genozid zeichnet zudem aus, dass er jenseits aller hergebrachten Vorstellung von Konflikt und Krieg exekutiert wurde. Jenseits aller Vorstellungen von Konflikt nicht allein deshalb, als zwischen Deutschen und Juden von einem solchen Gegensatz nicht die Rede sein konnte, sondern weil es sich bei den Juden Europas nicht um ein kohärentes, um ein territorialisiertes, mithin nicht um ein konflikt- und kriegsfähiges Kollektiv handelte. Es oblag den Nazis, die Juden in ein zu verfolgendes Kollektiv zu verwandeln, sie durch Kennzeichnung erst sichtbar zu machen, sie unter erheblichem bürokratischen Aufwand den ihnen zugedachten Maßnahmen zu unterwerfen, sie aus den entferntesten Winkeln der deutsch-beherrschten Länder zusammenzutreiben, um sie schließlich einem kollektiven Vernichtungstod, mithin grundlos, zu überantworten. Diese Art des Todes erfolgte zwar im Schatten eines Krieges, war indessen kein Kriegsakt. Er war auch kein Regel verletzendes, gleichwohl militärischer Raison folgendes Kriegsverbrechen wie ein im Extremfalle Kriegshandlungen begleitendes Massaker. Der Vollzug des absoluten Genozids stand gar den Notwendigkeiten einer auf den militärischen Erfolg gerichteten Kriegsführung der deutschen Wehrmacht entgegen. Auch aus anderen Gründen steht der Holocaust jenseits des Krieges. So wären allen Vorhaben, sich mit der Reichsführung zu Gunsten der Juden Europas ins Benehmen zu setzen durch die von den Alliierten den Achsenmächten und damit auch dem nationalsozialistischen Deutschland auferlegte Forderung nach bedingungsloser Kapitulation, der Weg verlegt gewesen. Das ohnehin fragile alliierte Kriegsbündnis machte es erforderlich, das Schicksal der Juden dem angestrebten militärischen Sieg über das „Dritte Reich“ unterzuordnen. Die Vorhaben Nazideutschland gänzlich niederzuwerfen sowie die Juden vor einer absoluten Vernichtung zu bewahren, schlossen sich politisch und militärisch aus. Tertium non datur. Der universell negative Kern des Holocaust war gleichwohl die durch ihn realisierte Zerstörung aller Vernunftvorstellungen und Rationalitätserwartungen. Als Referenz für jenen zerstörerischen Einbruch soll an zwei ikonische Denker, der Zeit bekannte Personen, erinnert werden: Max Horkheimer und Hannah Arendt. Dem Philosophen

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und der politischen Denkerin ist der Umstand gemeinsam, dass sie angesichts des Holocaust sich in einer epistemologisch sich auswirkenden Randzone von Wahrnehmung aufhielten. Diese Randzone war ebenso biographisch wie topographisch. Biographisch, als beide, Horkheimer wie Arendt, bei aller ihnen gemeinsamen jüdischen Herkunft, die sie zu prospektiven Opfern des Nationalsozialismus machte, dem Judentum gleichwohl fern standen. Dies versetzte sie in die Lage das Geschehen aber aus einer eher menschheitlichen, einer universellen Perspektive in den Blick zu nehmen. Topographisch verfolgten sie die sich abspielenden katastrophischen Ereignisse auf dem dunklen Kontinent von Amerika aus, mithin aus sicherer Distanz. Die existenziell bestimmte, gleichsam proto-philosophischen Reaktionen beider Denker auf das Ereignis des Holocaust – und dies bei aller Verschiedenheit ihrer philosophischen Prägungen (Arendt von Heidegger herkommend, Horkheimer von Marx beeinflusst) – richteten sich wesentlich auf die von den Nazis mit der Vernichtung der Juden jenseits aller kriegsdienlicher Erfordernisse vollzogenen Überschreitung nachgerade anthropologischer Grenzen vernunftgeleiteten Handelns. So reagierte Arendt auf die sich verdichtenden Meldungen von einem ultimativen Genozid an den Juden, also von einer totalen Vernichtung um der Vernichtung willen jenseits von zuvor als Massaker verstandener Tötungshandlungen, mit reinem Entsetzen. Es sei unvorstellbar, geradezu widersinnig unter den militärischen Sachzwängen der Kriegsführung rollendes Material für den Transport von Juden ins Gas aufzuwenden, meinte Arendt. Max Horkheimer reflektierte angesichts der ubiquitären Regelhaftigkeit der Vernichtung – alle Juden und dies überall – in tiefer Verzweiflung die bloße Zufälligkeit von Überleben. Derartige Reaktionen sind in seinen eher privaten Niederschriften zu finden. In seinen akademisch gehaltenen vernunfts- und rationalitätskritischen Schriften findet die niederschmetternde Erkenntnis nur sporadisch Erwähnung, bei den Nazis habe es sich den Juden gegenüber um eine Durchbrechung anthropologischer Gewissheit und ontologischer Sekurität gehandelt. Bei Horkheimer und Adorno, deren Arbeit an der „Dialektik der Aufklärung“ bereits angesichts der vollen Kenntnis über den Genozid erfolgt, wird dieser Gedanke in die Kritik einer instrumentellen, vornehmlich technischen, sich aus den Verankerungen der Vernunft reißenden Vernunft verschoben. Damit ward die bodenlose Tiefe des später sogenannten Holocaust eigentlich verfehlt – und dies vielleicht absichtsvoll. Das Phänomen einer Vernunft zerstörenden Vernunft wird Horkheimer des Weiteren beschweren und ihren Niederschlag in der 1947 erschienenen Schrift „Eclipse of Reason“ finden. Dort wie auch in seinem Werk „Vernunft und Selbsterhaltung“ widmet er sich den ihn bewegenden Fragen von den Aporien von Rationalität.

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In der Zerstörung von auf Vernunft und Selbsterhaltung gründenden Kategorien sozialen Handelns macht Hannah Arendt den Kern der von den Nazis verbrochenen Katastrophe aus. Diese Erkenntnis ist weniger einem konsequenten philosophischen Argument, denn ihrer schier unübertroffenen Intuition geschuldet. Arendt versteht schlagartig, dass es sich bei dem später als Holocaust bezeichneten Geschehen um eine Durchbrechung aller zivilisatorisch vorausgesetzten Gewissheiten handelt. Vor allem aber um die Durchbrechung jener Gewissheit, soziales wie individuelles Handeln werde im Sinne und zum Zwecke der eigenen Selbsterhaltung praktisch. Arendt schließt daraus, die Nationalsozialisten hätten mit dem systematischen Vollzug des Holocaust den anthropologisch vorausgesetzten Maßgaben von Selbsterhaltung zuwidergehandelt. Eine willentlich beabsichtigte Durchbrechung der Schranken von Selbsterhaltung lässt sich aus der Perspektive der Nazis allerdings nicht beobachten. Sie erschließt sich allein aus der Perspektive ihrer prospektiven ultimativen Opfer – der Perspektive der für eine grundlose Vernichtung ihrer Herkunft wegen ausgesonderten Juden. Doch auch hier sind erkenntnistheoretisch ausgelegte Einschränkungen nötig. So kann der wohl radikalste Ort ultimativer industrieller Vernichtung – die Gaskammer – nicht die dem Ereignis angemessene Perspektive richten. Angesichts der Gaskammer findet sich ein jedes Handeln der Opfer ebenso ausgesetzt wie ein solches Handeln anleitendes Denken. Der Ort, von dem aus die von den Nazis inszenierte Durchbrechung der Schranken von Vernunft und Selbsterhaltung sinnfällig wird, war indes das Getto. Als ein Ort simulierter sozialer Normalität legte dieser Schein den dort festgehaltenen Menschen nahe, ihre Häscher nach den Maßgaben des traditionell Bösen – nämlich Triebbefriedigung und materieller Vorteil – räsonierend zu kalkulieren. Für ein solches Kalkül schien die den Juden in den Gettos abverlangte Arbeit zu sprechen. Tatsächlich kommt dem Umstand abgepresster Arbeit ein hohes Maß an Rationalität zu. Sie simuliert einen auf Wertschöpfung ausgelegten Sinn. Der Arbeit kommt demzufolge die Bedeutung geronnener Rationalität zu. Und Arbeiten zu Kriegszwecken kommt eine existenziell gesteigerte Bedeutung insofern zu, als sie jenseits der in ökonomischer Sprache erfolgenden Wertschöpfung, den Maßgaben bloßer Selbsterhaltung dienen. Die Juden in den Gettos, vornehmlich die sie repräsentierenden „Judenräte“, meinten in der ihnen abverlangten Arbeit einen strategischen Anker von Überleben und damit ein Indiz für ein utilitaristisch angeleitetes Vorgehen auf Seiten ihrer Peiniger zu erkennen. Die damit einhergehende „rationale“ Blendung der Opfer war aus Ermangelung anderer Handlungsoptionen eigentlich nicht hintergehbar. Alles andere überstieg die schiere Vorstellungskraft. Als jüdische Facharbeiter in einem deutschen

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Flugzeugmotorenwerk in Czestochowa, dessen kriegswichtiger Produktion höchste Priorität zukam, aus den Fabrikhallen heraus ins Gas und damit in einen nutzlosen Tod geschickt wurden, wurde diese Nachricht von Juden anderenorts als völlig unglaubhaft abgetan. Das Vorgehen kollidierte mit der lebensweltlichen Vorstellung der Opfer, die Täter würden im Sinne einer praktischen Vernunft schon allein der eigenen Selbsterhaltung wegen rational handeln. Hannah Arendt gehörte zu den wenigen, die die zivilisatorisch einschneidende Bedeutung der Katastrophe zum Zeitpunkt des Geschehens von außen her intuitiv erfasste. Ihre Reaktion war moralische Fassungslosigkeit. Diese radikale Einsicht kommt mit der von den „Judenräten“ in den Gettos gemachten Erfahrung zur Deckung, als diese das Zerbrechen fundamentaler Kategorien, einer sozialen Vivisektion gleich, an sich selbst erfuhren. In dieser Erfahrung kristallisiert sich die wohl radikalste Perspektive auf den Holocaust. Dem extremen Geschehen gegenüber ist sie die wohl angemessenste, weil denkbar radikalste epistemologische Warte. Umso erstaunlicher ist der irritierende Umstand, dass Arendt dieser Einsicht Jahre später angesichts des Eichmann-Prozesses verlustig ging. In ihrem ikonischen Report wird der ungestüme, keinerlei soziale Bindungen bedenkende jugendliche jüdische Widerstand gegen die verantwortungsethisch handelnden „Judenräte“ ausgespielt, die sie zudem des Verrats an der jüdischen Sache zeiht. Damit wird sie paradoxerweise Parteigängerin einer Strömung in einem die Nachkriegszeit beherrschenden jüdischen Diskurs, die sich als besonders national, gar nationalistisch gerierte. Der bei Arendt angesichts des Eichmann-Prozesses zu diagnostizierende Verlust an zuvor gewonnener Erkenntnis über das sie im Kriege fassungslos gemachte Geschehen des ultimativen Genozids ist vor dem Hintergrund eines inzwischen eingetretenen umwälzenden kollektiven, letztlich auch dem Holocaust geschuldeten Paradigmenwechsels unter Juden zu verstehen. Es handelt sich dabei um eine fundamentale Transformation jüdischen Bewusstseins im Gefolge der Katastrophe. Die diasporisch erfahrene jüdische Schutzlosigkeit verwandelte sich in eine tellurische gestützte israelische Staatlichkeit. Hannah Arendt war, obschon sie vom politischen Zionismus rhetorisch Abstand nahm, in ihrem aktivistischen Vorhaben, den Juden ein politisches Kollektivbewusstsein anzuempfehlen, von den Grundannahmen des Zionismus wenig entfernt. Davon geben ihre proto-zionistischen Kriegsschriften ausgiebig Auskunft. Vor allem dort, wo sie der Aufstellung einer jüdischen Armee an der Seite der Alliierten gegen Hitler das Wort redet um nach dem Kriege, auf einer zu erwartenden Friedenskonferenz legitimerweise kollektive jüdische Forderungen erheben zu können. Daraus folgt eine paradoxe Amnesie: Die Ungeheuerlichkeit des Geschehens des ultimativen Genozids gerät

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auffälligerweise dann in Vergessenheit, als die daraus hervorgegangene Staatlichkeit ihrer sich einer Raison zu bedienen beginnt, die sich politisch auf jenes vergangene katastrophische Geschehen stützt. Solch eine Indienstnahme des Holocaust für die Belange israelischer Staatsraison wird von Hannah Arendt vehement zurückgewiesen. Ihre Haltung nimmt die paradoxe Gestalt eines gegen sich selbst kehrenden jüdischen Nationalismus an.

VERGESSEN – VERDRÄNGEN – ERINNERN Ein steirisches Beispiel zu Zwangsarbeit und Judenvernichtung Johannes Moser

Erst unlängst hat sich Brigitte Bönisch-Brednich in der Zeitschrift für Volkskunde ausführlich mit dem Genre Autoethnographie auseinandergesetzt und dabei drei Varianten autoethnographischer Texte unterschieden: die erste Variante, die aus den Konzeptionen einer anthropology at home stammt und daraus abgeleitet das Forschen, Deuten und Analysieren in der eigenen Gesellschaft und im engeren Umfeld gründlich reflektiert.1 Die zweite Variante, die sie als evocative anthropology bezeichnet, stellt das Selbst des Forschers oder der Forscherin in das Zentrum der ethnographischen Repräsentation und thematisiert das eigene Erleben und biographische Schlüsselerlebnisse, die analysiert und verschriftlicht werden, um eine „Leserschaft in eine imaginäre emotionale Kommunikation einzubinden“2. Die analytische Autoethnographie ist schließlich die dritte Form, bei der „herkömmliche epistemologische Paradigmen der qualitativen Sozialforschung und Autoethnographie“ verknüpft werden und auto-narrative „Textformen auch eine biographische Präsenz der Schreibenden“ erzeugen.3 Ich stelle diese Überlegungen an den Beginn meines Beitrags, weil ich nachfolgend eine frühere eigene Forschung einer Neubearbeitung unterziehe.4 Die Idee dazu, die ich schon längere Zeit mit mir herumtrage, verdanke ich Jacques Picard, den ich über unser gemeinsames Promotionsprogramm „Transformations in European Societies“ kennen und schätzen gelernt habe. Jacques‘ ungeheure Sensibilität und seine analytischen Fähigkeiten, Biographien in ein profundes epistemologisches Verhältnis zu größeren kulturgeschichtlichen und kulturwissenschaftlichen Verhältnissen zu setzen,5 waren der Anlass, den 1 2 3 4

5

Vgl. Bönisch-Brednich, Brigitte: Autoethnografie. Neue Ansätze zur Subjektivität in kulturanthropologischer Forschung, in: Zeitschrift für Volkskunde 108/1 (2012), S. 47–63, hier S. 54–55. Bönisch-Brednich, Autoethnografie, S. 56. Bönisch-Brednich, Autoethnografie, S. 61. Ich habe erste Überlegungen zu dieser Thematik außerhalb des engeren wissenschaftlichen Kontextes bereits im Jahrbuch des Forum Stadtpark veröffentlicht: Moser, Johannes: Der vergebliche Versuch des Vergessens. Zwangsarbeit und Judenvernichtung – ein steirisches Beispiel, in: Forum Stadtpark (Hg.): Von mir nach dort. Jahrbuch 2001. Standort und Identität, Wien 2002, S. 109–117. Vgl. dazu seine wunderbare Monographie Picard, Jacques: Gebrochene Zeit. Jüdische Paare im Exil, Zürich 2009 und den Sammelband Picard, Jacques et al. (Eds): Makers of Jewish Modernity. Thinkers, Artists, Leaders, and the World They Made, Princeton/Oxford 2016.

Vergessen – Verdrängen – Erinnern

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zunächst zwar peripheren, aber mit meiner eigenen Biographie doch verknüpften Teil meiner Habilitationsforschungen noch einmal zur Hand zu nehmen. Ich stamme aus der kleinen österreichischen Bergbaustadt Eisenerz, die als ein typisches „Kind der Moderne“ bezeichnet werden kann. Erst durch den Bergbau am sogenannten Erzberg entwickelte sich aus einem peripheren Örtchen mitten in den steirischen Alpen eine Industriegemeinde, die – trotz wechselnder Konjunkturen – ihren Bewohnern über Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte das nötigste Auskommen gestattete. Bis in die Mitte der 1980er-Jahre blieb dieses industrielle Paradigma unangetastet, obwohl im Zuge von Rationalisierung und Innovation zahlreiche Arbeitsplätze verlorengegangen waren. Längst waren andere alte Industrieregionen schon vom Ende des fordistischen Arbeitsregimes betroffen, als man sich in Eisenerz noch innerhalb der alten Konventionen einrichten zu können hoffte. Mit dem Crash der Verstaatlichten Industrie und der Schließung des Untertageabbaus Mitte der 1980er-Jahre war der Traum der immerwährenden Prosperität allerdings endgültig ausgeträumt. Eisenerz musste sich nun den schwierigen Herausforderungen einer neuen Ökonomie stellen, wofür die strukturellen Voraussetzungen aber kaum gegeben waren. In Eisenerz trauerte man nach dem wirtschaftlichen Einbruch zwar den verlorengegangenen Arbeitsplätzen und den fehlenden Perspektiven nach, aber andererseits stiften die industrielle Vergangenheit – mit den aus der Arbeitssphäre stammenden Leitwerten „Solidarität“ und „Kooperation“6 – und die wunderbare Landschaft eine Form von lokaler Identität, die es nach den neuesten Befunden postmoderner Theoretiker gar nicht mehr geben sollte. Ich gelangte zu der im Zeitalter von Individualisierung, Globalisierung und Mobilität vielleicht überraschenden Erkenntnis, dass diese Kleinstadt für seine Bewohnerinnen und Bewohner ein Ort mit hohem Identifikationspotential ist, ja sogar so etwas wie Heimat symbolisiert. Heimat, dieser die Intellektuellen zum Naserümpfen reizende Begriff, entsteht aus den verschiedenen, manchmal auch etwas vagen Facetten geteilter Geschichte, aus Kommunikationsstrukturen und einer auf Landschaft, Ökonomie oder sonstige Faktoren aufbauenden Symbolik. Daraus entwickelt sich ein Ethos oder eine Eigenart, die ein Wir-Gefühl oder eine „we belong here-intimacy“ (Clifford Geertz) reifen lässt, bei der allerdings auch der aktive Part des sich Beheimatens berücksichtigt werden muss.7 Mit diesem scheinbar so harmoni6

7

Vgl. Moser, Johannes: Das symbolische Kapital der Bergmannsarbeit. Veränderungsprozesse in der steirischen Bergbaugemeinde Eisenerz im 20. Jahrhundert, in: Löden, Sönke (Hg.): Montanlandschaft Erzgebirge. Kultur – Symbolik – Identität (Schriften zur Sächsischen Geschichte und Volkskunde, Band 7), Leipzig 2003, S. 113–139. Vgl. Binder, Beate: Heimat als Begriff der Gegenwartsanalyse? Gefühle der Zugehörigkeit und soziale Imaginationen in der Auseinandersetzung um Einwanderung, in: Zeitschrift für Volkskunde 104/I (2008), S. 1–17, hier S. 11–13.

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Johannes Moser

schen und Stabilität ausdrückenden Heimatgefühl korrespondiert aber eine andere Seite der Heimat, die gewisse Aspekte ausblendet, das Andere und Fremde abwehrt und abwertet und die unangenehmen Teile der eigenen Geschichte und des eigenen Verhaltens verdrängt. Bereits vor dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs an das deutsche Reich zeigten die Nationalsozialisten großes Interesse an der Österreichisch-Alpinen Montan Gesellschaft (ÖAMG) und insbesondere am Erzberg. Gleich nach der Wiedervereinigung erwarben die Reichswerke „Hermann Göring“ den Betrieb von den Vereinigten Stahlwerken. Der Aufschwung, der schon in den Jahren zuvor eingesetzt hatte, weil der Erzberg von den Investitionen seiner deutschen Eigentümer – den Vereinigten Stahlwerken – und den Aufrüstungsbemühungen des Hitlerregimes profitiert hatte, setzte sich nach dem „Anschluss“ fort. Zwar erfüllten sich nicht alle Hoffnungen der Arbeiterschaft am Erzberg, die sogar einen Streik gewagt hatten, um gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen und die nach wie vor schlechte soziale Lage der Bergarbeiter zu protestieren.8 Zumindest stiegen die Abbau- und Beschäftigtenzahlen kontinuierlich an, wobei es bereits ab 1939 einen massiven Einsatz von Fremd- und Zwangsarbeitern, von Kriegsgefangenen und auch von KZ-Häftlingen zu berücksichtigen gilt. In vielen Bereichen und auf dem Rücken dieser ausgebeuteten Menschen vollzog sich während der NS-Zeit ein immenser Modernisierungsschub am Erzberg.9 Dieser zeigte sich sowohl in einer Erhöhung des Erzabbaus wie auch in Investitionen am Erzberg, die bis 1944 allein 63 Millionen Reichsmark ausmachten. Für viele Menschen in Eisenerz ist der enge Zusammenhang zwischen diesem Aufschwung und den Kriegsplanungen der NS-Führung nie deutlich geworden. Ganz im Gegenteil existiert bis heute eine Sichtweise, die – manchmal in unverblümter Bewunderung – jene Leistungen aufzählt, welche die Nationalsozialisten am Erzberg und im lokalen Wohnbau vollbracht hätten. An die Kehrseite der Medaille – die damit verbundenen Opfer – wird dabei kaum je gedacht. In den „Geschichtlichen Angaben“10 werden zwar Zivilarbeiter, sogenannte „Ostarbeiter“11 und auch Kriegsgefangene erwähnt, aber die Darstellung klingt nach der Lösung eines organisatorischen Problems, die 8 9 10

11

Vgl. Fiereder, Helmut: Reichswerke „Hermann Göring“ in Österreich (1938–1945) (Veröffentlichungen des Historischen Instituts der Universität Salzburg, Band XVI), Wien/Salzburg 1983, S. 103. Eine genaue Auflistung der Investitionen und Innovationen muss hier aus Platzgründen unterbleiben (vgl. ÖAMG: Geschichtliche Angaben. Handschriftliches Manuskript, o.J. (ca. 1950)). ÖAMG, Angaben. Bei den „Geschichtlichen Angaben“ handelt es sich um eine handgeschriebene interne Aufzeichnung der Firmengeschichte der Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft (ÖAMG), die sich im Archiv des heute unter dem Namen VA Erzberg GmbH firmierenden Unternehmens befindet. „Ostarbeiter“ war die euphemistische Bezeichnung für all jene Arbeitskräfte, die aus den besetzten Gebieten Osteuropas „angeworben“ oder zur Zwangsarbeit verpflichtet wurden.

Vergessen – Verdrängen – Erinnern

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dahinterliegenden Schicksale von Menschen spielen keine Rolle. Nicht nur die Modernisierungsleistungen hatten nämlich „Hand und Fuß“, wie ein Ortshistoriker in einem Interview erzählte, sondern eben auch die systematische Vernichtung und Ausbeutung von Menschen, von denen viele auch in Eisenerz schärfsten Repressalien und Entbehrungen ausgesetzt waren und teilweise sogar ihr Leben ließen. Besonders deutlich wird das eingeschränkte Geschichtsbewusstsein, wenn der Ortshistoriker während eines Interviews im Jahr 1995 in nahezu makabrer Weise und in grotesker Umkehrung der Tatsachen die Opfer des faschistischen Systems zu den Verursachern einer Krise macht: Die Gemeinde hat große Krisen gehabt auch natürlich, fertig zu werden mit den Kriegsgefangenen zum Beispiel, die große Angst war damals, wie, besonders die Russen, und so weiter, die nach dem Krieg eigentlich frei waren, sie waren ja vollkommen frei, dass sie plündern usw. Wir haben damals einen guten Bürgermeister gehabt, der das mit den Engländern und vorher mit den Russen gut hat schaukeln können, wie man so sagt, sonst wäre Eisenerz in eine besondere Krise hineingeschlittert dadurch, weil die Fremdarbeiter plötzlich frei sind und die plündern einfach, oder so etwas, aber das hat man sehr gut in der Hand gehabt.12

Mir geht es nicht darum, solche Aussagen einer moralischen Bewertung zu unterziehen, obwohl die offensichtlichen blinden Flecken 50 Jahre nach der NS-Zeit schon etwas merkwürdig anmuten. Der französische Historiker Pierre Nora hat in einem einflussreichen Text eine Unterscheidung zwischen Gedächtnis und Geschichte getroffen, die beiden sogar als Gegensätze bezeichnet. Für ihn rückt das Gedächtnis die Erinnerung ins Sakrale, während die Geschichte als eine Repräsentation der Vergangenheit sie daraus vertreibt, „ihre Sache ist die Entzauberung“.13 In meinem Beispiel stehen Geschichte und Gedächtnis in einem direkten Zusammenhang, weil der Ortshistoriker jene Geschichte präsentiert, die dem Wunschbild des kollektiven Gedächtnisses entspricht, gleichzeitig prägt er dieses Wunschbild mit. Eine Entzauberung der sakralen Erinnerung des Gedächtnisses findet so nicht statt. Die Geschichte der Zwangsarbeit14 in Eisenerz ist noch nicht ausreichend erforscht. Es fehlen genaue Aufschlüsselungen, wie viele Zwangsarbeiter in welchen Bereichen 12 Der damals 85-jährige Pensionist und Hobbyhistoriker Stefan Weder (Pseudonym) wurde 1994 bei einem Feldforschungsaufenthalt in Eisenerz interviewt. 13 Vgl. Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 12–13. 14 Zwangsarbeit leisteten am Erzberg so verschiedene Gruppierungen wie Ost- und Fremdarbeiter, KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene – die ich in der Folge meist unter dem Begriff Zwangsarbeiter zusammenfassen werde, was insbesondere den mehreren Hundert KZ-Häftlingen nicht gerecht wird.

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tatsächlich am Erzberg und in Eisenerz beschäftigt waren. Sicher ist, dass im Jahre 1939 und 1940 die ersten polnischen und jüdischen Arbeitskräfte nach Eisenerz kamen, um am Erzberg und im Straßenbau zu arbeiten; der Einsatz von sowjetischen Zwangsarbeitskräften begann im Jahr 1942. Wenn man sich durch die vorliegenden Statistiken arbeitet, kommt man zu einer stattlichen Anzahl von Zwangsarbeitern. Nach den „Geschichtlichen Angaben“ betrug der Mannschaftstand im Jahr 1944 8760 Personen, von denen knapp 5000 keine Deutschen waren und daher wohl zu den Zwangsarbeitern zu rechnen sind.15 Die offizielle Bevölkerungsstatistik von Eisenerz weist von 1938 bis 1944 einen Zuwachs von 8914 auf 18.419 Bewohner aus. Im Dezember 1945 sind es – nach Abzug der Fremdarbeiter, wie es in der Statistik euphemistisch heißt – nur mehr 10.034 Einwohner. Man wird mit der Vermutung nicht falsch liegen, dass ein Großteil dieser fast 8400 Personen, die von 1944 bis 1945 den Ort verlassen haben, zur Gruppe der sich zwangsweise in Eisenerz aufhaltenden Menschen gehörte. Die Zwangsarbeiter in Eisenerz – und in Österreich wie Deutschland insgesamt – haben massiv zur Modernisierung der Wirtschaft und Industrie beigetragen. Der nach dem Krieg als „Wirtschaftswunder“ apostrophierte Erfolg der Industrie verdankt sich also nicht zuletzt dem massiven Einsatz von Zwangsarbeitern. Deren Lebensbedingungen waren schlicht entsetzlich. Ziel war es, ihnen bei sparsamstem Einsatz von Nahrung und sonstigen Mitteln eine größtmögliche Leistung abzutrotzen. Dabei gab es noch graduelle Unterschiede, die mit der Art der Tätigkeit, den Arbeitgebern und mit der Personengruppe zu tun hatten, denen die Zwangsarbeiter angehörten. Unter den nach dem Krieg Geborenen in Eisenerz wusste man zwar von den Gefangenenlagern, die noch längere Zeit bestanden, aber es handelte sich um einen abgeschlossenen Teil der Geschichte, den zu thematisieren es keinen Bedarf gab. Mit ein Grund für dieses Schweigen ist sicherlich ein weiteres traumatisches Ereignis – nämlich das Massaker an durchziehenden ungarischen Juden im Frühjahr 1945 –, das auf dem nahegelegenen Passübergang Präbichl stattfand und bei dem mehr als zweihundert ungarische Juden auf brutale Weise niedergemetzelt wurden.16 Die jüdischen Zwangsarbeiter, die aus Ungarn stammten und am Ostwall gearbeitet hatten, wurden noch im Frühjahr 1945 nach Mauthausen getrieben. Einer dieser später 15 16

Vgl. ÖAMG, Angaben. Die umfangreichsten Auseinandersetzungen mit dem Thema Todesmärsche stammen von der Kulturwissenschaftlerin Eleonore Lappin. Vgl. u.a. Lappin, Eleonore: Ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Österreich 1944/45. Arbeitseinsatz – Todesmärsche – Folgen, Wien 2010; Lappin, Eleonore: Terror auf steirischen Straßen. Die Todesmärsche ungarischer Jüdinnen und Juden im April 1945, in: Halbrainer, Heimo (Hg.): Kriegsende 1945 in der Steiermark. Terror, Kapitulation, Besatzung, Neubeginn, Graz 2015, S. 33–50.

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„Todesmärsche“ genannten Transporte bestand aus mehreren tausend Männern und ein paar hundert Frauen und marschierte Ende März/Anfang April 1945 über Feldbach nach Graz und von dort über Bruck und Leoben nach Trofaiach. Die Menschen mussten im Freien übernachten und wurden nur unzureichend verköstigt. Es verwundert daher nicht, dass viele Menschen diesen Strapazen, die auf die bereits unmenschlichen Bedingungen der Zwangsarbeit zuvor folgten, nicht gewachsen waren und vor Erschöpfung den Schritt nicht halten konnten. Dies kam einem Todesurteil gleich, weil die Wachmannschaften angewiesen waren, keine lebenden Teilnehmer zurückzulassen. Eine Kolonne von ungefähr 3.000 Menschen verließ Trofaiach am Morgen des 7. April und marschierte bei Schneewetter durch Vordernberg auf den Präbichl. Dort wurde die Begleitmannschaft gewechselt und der Transport vom Eisenerzer Volkssturm übernommen. Etwa um 16 Uhr setzte sich der Zug in Bewegung, um über die Passhöhe nach Eisenerz zu gelangen. Offenbar plötzlich kam es zu einer beinahe eine Stunde dauernden Schießerei, in der über 200 Teilnehmer des Transportes ermordet wurden. Die Opfer wurden in der Eisenerzer Seeau verscharrt und zum Teil auch verbrannt. Wie sich in den Prozessen17 zu diesen Morden im Jahr 1946 in Graz zeigte, hatten Mitglieder des Eisenerzer Volkssturmes dieses Massaker geplant und durchgezogen. Aber neben diesem Massaker passierten auch am Rande dieses Marsches grauenhafte Übergriffe und Morde. 17 Angeklagte wurden bei den Prozessen vor dem britischen Militärgericht verurteilt, zwölf davon zum Tode, wovon einer zu zehn Jahren Haft begnadigt wurde.18 Interessant ist der Umgang mit dieser Greueltat, die nach dem Krieg allen Menschen in Eisenerz bekannt war, zumal die Leichen der Opfer teilweise nach dem Zweiten Weltkrieg wiedergefunden wurden. Seit Maurice Halbwachs ist bekannt, dass das Gedächtnis keine rein individuelle Angelegenheit, sondern in soziale Zusammenhänge eingebettet ist19; die soziale Gruppe bestimmt, „was des Andenkens wert ist und wie erinnert wird“20. Maurice Halbwachs interessierte sich dafür, was Menschen als Gruppe zusammenhält und erachtete die „gemeinsamen Erinnerungen als wichtigstes Mit17

Insgesamt gab es drei sogenannte Eisenerzer Prozesse, die sich mit den Morden an den ungarischen Juden in und um Eisenerz beschäftigten. Der erste fand vom 1.4.–29.4.1946, die anderen beiden vom 16.10.–21.10. bzw. vom 21.10.–26.10.1946 statt. 18 Diese Ausführungen sind eine Zusammenfassung von Berichten aus den steirischen Tageszeitungen Neue Zeit, Steirerblatt und Wahrheit, die im Jahr 1946 über die Prozesse berichtet hatten. Darin sind auch die Namen aller Verurteilten genannt und es werden Zeugenaussagen zitiert. 19 Vgl. Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a. M. 1985. 20 Burke, Peter: Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Assmann, Aleida/Dietrich Harth (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a. M. 1991, S. 289–304, hier S. 290.

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tel der Kohäsion“21. Aus dieser Einsicht leitete er die Existenz eines „Gruppengedächtnisses“ ab. Aber die Erinnerungen stabilisieren nicht nur die Gruppe, die Gruppe stabilisiert auch die Erinnerungen. Dabei handelt es sich um ein komplexes Zusammenspiel von individueller und kollektiver Erinnerung, wie dies unter anderem an der Aussage eines ehemaligen Bergarbeiters deutlich wird, der meinte, man könne „natürlich“ über diese Sachen nicht mehr reden, das sei vorbei. Das verweist zugleich auf einen weiteren bedeutsamen Punkt bei der Betrachtung von Erinnerungen. Die Erinnerungsleistung ist immer eine Form der Rekonstruktion, die im Hinblick auf die momentane Situation und die jeweiligen gesellschaftlichen Umstände erfolgt. Oder wie Franziska Becker es ausgedrückt hat: „Erinnerung schlägt grundsätzlich sehr persönliche Brücken von der Gegenwart in die Vergangenheit. Das Gedächtnis ist kein Archiv, das man nur betreten muß, um faktisch Überliefertes zu studieren, es ordnet von heute aus erlebte Geschichte, stiftet Sinn und lebensgeschichtliche Kontinuität, es modelliert historische Wirklichkeit nach aktuellen Bedürfnissen und hat sie nicht datengespeichert“22. Harald Welzer hat konstatiert, dass die öffentlichen Normen einer Erinnerungsund Gedenkpolitik nichts darüber aussagen, „wie Menschen sich in nichtöffentlichen Sphären, also etwa in der Familie, an dieselbe Vergangenheit erinnern oder wie sich die Erlebnis- und Erfahrungsgeschichte des ‚Dritten Reichs‘ in der transgenerationellen Vermittlungskette fortschreibt, welche Rolle die Verbrechen in ihr spielen und welchen Erinnerungsort der Holocaust in ihr findet!“23. Wie er in seinen eigenen Forschungen zeigen konnte, „kommt weder den nationalsozialistischen Verbrechen noch dem Holocaust im deutschen Familiengedächtnis eine bedeutende Rolle zu – ganz im Gegensatz zu Erinnerungen, in denen die Familienmitglieder selbst als Opfer des ‚Dritten Reichs‘ (…) in Erscheinung treten“24. Auch in meiner eigenen Familie – mein Vater war Arbeiter im Bergbau, meine Mutter konnte in der NS-Zeit eine Ausbildung zur Krankenschwester absolvieren und diesen Beruf ausüben – gab es kaum Erzählungen über Zwangsarbeit am Erzberg oder über die Opfer des sogenannten Todesmarsches über den Präbichl. Lediglich meine 21 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 131. 22 Becker, Franziska: Gewalt und Gedächtnis. Erinnerungen an die nationalsozialistische Verfolgung einer jüdischen Landgemeinde, Göttingen 1994, S. 20. 23 Welzer, Harald: Der Holocaust im deutschen Familiengedächtnis, in: Knigge, Volkhard/Frei, Norbert (Hg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 342–358, S. 343. 24 Welzer, Holocaust, S. 344.

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Mutter erzählte aufgrund ihrer Krankenschwestertätigkeit einmal kurz von den unmenschlichen Bedingungen, denen die Zwangsarbeiter ausgesetzt waren. Einmal fiel von meinen Eltern eine Randbemerkung über einen entfernten Verwandten, der ein eingefleischter „Nazi“ gewesen sei und der sich gegenüber den durch Eisenerz getriebenen ungarischen Juden unmenschlich verhalten habe. Unser Familiengedächtnis fügt sich also perfekt in die generelle „Erinnerungslandschaft“ in Österreich, denn dieser Staat sah „sich und seine Gesellschaft als Opfer des Nationalsozialismus“, weshalb „für die Erinnerung an die NS-Gewaltverbrechen und die Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung für diese Verbrechen wenig Platz“ war.25 Wie sehr man sich gegen die Erinnerung an die eigene Verstrickung wehrte und wie stark gewisse Kontinuitätslinien fortwirkten, zeigen zahlreiche weitere Beispiele: So opponierten österreichische Printmedien nach 1945 vehement gegen die Erhaltung des KZ Mauthausen mit dem Argument, dass das Lager „als ‚unösterreichisch‘, ‚landfremd‘ und nicht zur eigenen ‚Kultur‘ gehörig auch nicht ‚konserviert‘ werden dürfe“26. Demgegenüber wurde seit den späten 1940er-Jahren – getragen hauptsächlich vom Kameradschaftsbund, aber durchaus mehrheitsfähig – das Gedenken an die Gefallenen „zur Signatur der regionalen Erinnerungslandschaft, sichtbar zum Ausdruck gebracht in der Neuerrichtung bzw. Erweiterung von Kriegsdenkmälern, die zumeist an markanten Orten im öffentlichen Symbolraum platziert wurden“27. Auf diese Art und Weise fand jener „völlige Opfertausch“28 statt, den der Historiker Bertrand Perz auf eine so griffige Formel gebracht hat. Die Hauptfunktion dieser Verleugnung des eigenen Anteils an den Gewaltverbrechen bestand zwar in der Herstellung einer nationalen Identität, mit der man sich von Deutschland abgrenzen wollte, dennoch gibt es einige Parallelen in der Entwicklung der Erinnerungskultur in beiden Staaten. In beiden Ländern wurde der Mantel des Schweigens über die unheilvolle und mit Schuld behaftete Vergangenheit gelegt. In der psychoanalytischen Ausdeutung von Alexander und Margarete Mitscherlich hätten die Deutschen die eigene Schuld verdrängt29 und sich „mit einem Panzer der Abwehr gegen ihre eigenen Gefühle gewappnet“30. In eine ähnliche Richtung argumentierte 25 26 27

28 29 30

Perz, Bertrand: Österreich, in: Knigge/Frei (Hg.), Verbrechen, S. 150–162, S. 160. Perz, Österreich, S. 156. Uhl, Heidemarie: Die zeitgeschichtliche Denkmallandschaft von Eisenerz als Fallbeispiel für die Topographie des „steirischen Gedächtnisses“, http://www.generationendialog-steiermark.at/wp-content/uploads/2013/11/ Eisenerzer_Denkmaeler_als_Fallbeispiel_des_steirischen_Gedaechtnisses.pdf (10.11.2016). Perz, Österreich, S. 156. Vgl. Mitscherlich, Alexander/Mitscherlich, Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern, München 1967. Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013, S. 43.

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der Historiker Reinhart Koselleck, der von einem doppeldeutigen negativen Gedächtnis sprach, „denn entweder meint das Negative im Gedächtnis, daß der Inhalt, der darin gespeichert wird, abstößt, unwillkommen ist, verächtlich und verachtenswert, oder das Negative bedeutet uns, daß das Gedächtnis sich der Erinnerung sperrt, sich weigert, das Negative überhaupt zur Kenntnis zu nehmen: also verdrängt und so der Vergangenheit überantwortet und der Vergessenheit ausliefert“31. Dagegen sprach der Philosoph Hermann Lübbe von absichtsvollem Schweigen, „weil man nicht mehr Auskunft geben [wollte] über die eigene Begeisterung und Zustimmung, über alle Aktivitäten, Hoffnungen und Emotionen, die man in den eben zusammengebrochenen Staat investiert hatte“32. Lübbes Konzept des Beschweigens beruhte auf einer Art Geheimhaltungsabkommen mit der „unausgesprochenen Übereinkunft, daß die Anti-Nazis von diesem Wissen keinen Gebrauch machen und daß die ehemaligen Nazis sich ihrerseits in der Öffentlichkeit zurückhalten“33. Die Thesen der Mitscherlichs und von Lübbe widersprechen sich, denn im ersten Fall handelt es sich um ein unbewusstes Verdrängen und im zweiten Fall um ein bewusstes Verschweigen, das auch einem weiteren Zusammenleben dienen und die Eingliederung der Nationalsozialisten in die demokratische bundesrepublikanische Gesellschaft gewährleisten sollte. Den Mitscherlichs war durchaus bewusst, wie problematisch die Übertragung individueller und psychoanalytisch gedeuteter Verdrängungsprozesse auf Kollektive ist, gleichwohl können auch ihre Überlegungen nicht einfach übergangen werden. Als ich in den 1990er-Jahren meine Forschungen zum Strukturwandel in Eisenerz begonnen habe und dafür Interviews und Archivrecherchen angestellt habe, war mir durchaus bewusst, dass es Zwangsarbeit am Erzberg und den sogenannten „Todesmarsch“ gegeben hatte und dass dabei fürchterliche Verbrechen begangen worden waren. Auch der jüdische Friedhof beim Leopoldsteiner See war mir ein Begriff, kamen wir als Jugendliche doch ständig dort vorbei, wenn wir unsere Sommerwochenenden wild campierend am See verbrachten. Irgendwie war es aber zwischen uns befreundeten Jugendlichen nie ein Thema, was es mit diesem kleinen Friedhof auf sich hatte. Das tatsächliche Ausmaß des damaligen Massakers wurde beschwiegen und man konnte durchaus den Eindruck gewinnen, viele jener am sogenannten „Judenfriedhof “ beim Leopoldsteiner See begrabenen Juden seien Opfer der schwierigen und unmenschlichen Bedingungen auf diesem Marsch und nicht der 31 Koselleck, Reinhart: Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses, in: Knigge/Frei (Hg.), Verbrechen, S. 21–32, S. 21. 32 Assmann, Unbehagen, S. 43. 33 Assmann, Unbehagen, S. 44–45.

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Mordlust konkreter Täter aus Eisenerz gewesen. Obwohl ich durch mein Zweitstudium der Geschichte und als politisch engagierter Student sehr genau über die Verbrechen der NS-Zeit Bescheid wusste, hatte ich die Geschehnisse in Eisenerz aus meiner eigenen Erinnerung ausgeklammert, als ob ich mir meine Heimatstadt und meine dort lebenden Bezugspersonen nicht mit dem Makel einer Mitschuld beflecken wollte und als ob ich fürchtete, von mir geliebte oder geschätzte Personen könnten irgendwie darin verstrickt sein. Ich erinnere mich an abwehrende Gefühle im Zuge meiner Erhebungen, als ich (wieder) auf den Komplex von Zwangsarbeit und weitere Verbrechen stieß, die ich nur durch intensive Gespräche mit meiner überaus geschätzten Kollegin Elisabeth Katschnig-Fasch bewältigen konnte.34 Nicht nur bei mir und in meiner Familie, sondern insgesamt existierten Erinnerungen an die Schrecken der NS-Zeit in Eisenerz, im kollektiven Gedächtnis wurden diese jedoch verdrängt und im Sinne einer moderateren Präsentation der Heimat oder der eigenen Gemeinde, der man sich trotz allem angehörig fühlt, entsprechend verklärt. Zu Hilfe kommt dabei sicherlich, dass „die unangenehmsten Aspekte der Gesellschaft von ehedem“ vergessen werden, wie Maurice Halbwachs einmal angemerkt hat.35 Die bisher vorgestellten Formen des Erinnerns und Vergessens/Verschweigens haben hauptsächlich familiäre und nationale Gedächtnisformationen in den Blick genommen, aus kulturwissenschaftlicher Perspektive lohnt allerdings auch ein Blick auf lokale und regionale Prozesse, die aber selbstredend nicht unabhängig von den anderen Erinnerungspraktiken sind. An dem Angesprochenen wie an dem Verschwiegenen in Eisenerz können wir erahnen: Nicht nur die Formen des Gedächtnisses sind kollektiv, auch das Vergessen fällt unter diese Rubrik. „Das Vergessen ist ein Spezialfall des kollektiven Gedächtnisses, wie was vergessen wird, das ist nicht dem Individuum überlassen, sondern es gibt vorgefertigte Formen der Ahnungs-, Erinnerungs- und Schuldlosigkeit“36. Daher meint Peter Burke, es sei manchmal besonders erhellend, sich Problemen von der Rückseite zu nähern, sie von innen nach außen zu stülpen. Es mag „von Wert für das Verständnis der gesellschaftlichen Erinnerungsarbeit sein, die soziale Organisation des Vergessens zu untersuchen: die Ausschließungsregeln, Unterdrückung oder Verdrängung und die Frage, wer von wem und warum verlangt, dies 34

35 36

Von einer echten Supervision zu sprechen, wäre in diesem Fall übertrieben, dennoch dürfte das Resultat vergleichbar gewesen sein, weil ich von da an mit einer viel reflektierteren, aber auch distanzierteren Position an diesen Teil meiner Forschung herangehen konnte. Vgl. Halbwachs, Gedächtnis, S. 159. Jeggle, Utz: Archäologie der Erinnerung, in: Kuckuck. Notizen zu Alltagskultur und Volkskunde 3/1 (1988), S. 4–5, hier S. 4.

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oder das zu vergessen“37. Gerade in kleineren sozialräumlichen Zusammenhängen – im dörflichen Milieu oder in einer Kleinstadt wie Eisenerz – steht die eigene Sicht der Dinge in enger Verbindung und Übereinstimmung mit dem Blickwinkel der anderen und deren Perspektive kann leicht übernommen werden. Aber auch individuell liegt es nahe, jene Dinge auszulassen, die einer Ideologie des eigenen Lebens – zumindest aus heutiger Perspektive – widersprechen. Die Schrecken der Diktatur und der eigenen Verstrickung darin werden ausgeblendet, weil sie nicht mehr in den Bezugsrahmen der Gegenwart passen und daher nicht erinnert werden „wollen“. Zwischen Erinnern und Vergessen besteht also ein direkter Zusammenhang, weil das Vergessen Spuren hinterlässt. Manche Arten des Vergessens sind nur „eine Ersatzform, ein Modus der Erinnerung ... Das Vergessen ist das Negativ der Erinnerung, die verwischte Spur ist die Spur“38. Genau dies geschah in Eisenerz seit Ende der 1990er-Jahre. Schon als Otto Hwaletz mit seinen Mitautoren für ihr Buch „Bergmann oder Werkssoldat“39 die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts am Erzberg in den Blick nahmen und erstmals recherchierten, wurde die harmonieträchtige Situation gestört und es öffnete sich ein Spalt zu einer verdrängten Geschichte. Entsprechend heftig war die Reaktion auf die Veröffentlichung des Buches. Dies hat sich mit der Ausstellung der Arbeiterkammer40 und mit dem Projekt „Steirisches Erz“ fortgesetzt. Es ist also ein Prozess in Gang gekommen, der als Wiederkehr des Verdrängten bezeichnet werden kann. Die vielfältigen Strategien, die das kollektive Gedächtnis entwickelt hatte, um eine Wiederbelebung der Vergangenheit zu umgehen und die Realität zu verleugnen oder umzudeuten, funktionierten nicht mehr. Es gibt wohl Geschehnisse, die regelrecht darauf harren, entdeckt zu werden. Die Amnesie funktioniert also nur bedingt, weil immer etwas geschehen kann, was das Vergessene oder Verdrängte zurückholt und alte Konflikte und Wunden aufreißt. Kaum irgendwo wird das so deutlich wie in der Erzählung von Judita Hruza41, einer Überlebenden des Massakers am Präbichl. Ihre Erzählung erinnert an Friedrich Nietzsches Diktum, der Schmerz sei das wirkvollste Mittel der Erinnerungstechnik: „Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis“.42 Und manchmal wird es aus 37 38 39 40 41 42

Burke, Geschichte, S. 299. Jeggle, Archäologie, S. 4. Vgl. Hwaletz, Otto u.a.: Bergmann oder Werkssoldat. Eisenerz als Fallbeispiel industrieller Politik, Graz 1984. Vgl. Anzenberger u.a.: Zwischen den Fronten. Die Region Eisenerz von 1938–1945, Leoben 2000. Zu Judita Hruza gibt es auch ein eindrückliches Dokument auf der Seite des Holocaust Museum & Learning Center: http://hmlc.org/first-love/ (letzter Zugriff am 20.11.2016). Zit. nach Assmann, Aleida: Zur Metaphorik der Erinnerung, in: Assmann/Harth, Mnemosyne, S. 13–35, hier

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diesem Gedächtnis in einem schmerzvollen Prozess an das Tageslicht aktueller Erinnerung geholt. Wie schmerzhaft diese Erinnerung sein kann, zeigt eine Hörfunkpassage aus dem Jahr 1999, in der Frau Hruza von den Geschehnissen am Präbichl berichtete: „Dann haben wir die Geschiesse gehört. (....) Dann sind wir um eine Kurve gekommen und da sahen wir es, die Straße war bedeckt mit Körpern. All of them bled, some were dead and some still moved. Alle bluteten, manche waren tot und manche bewegten sich noch und der Schnee war rot von Blut. Die Wächter haben geschrien: Los, los ihr Saujuden! Und wir haben gesehen, dass (...) Wächter standen, ihre Waffen an uns gerichtet haben, und sie haben ununterbrochen geschossen. Und die Menschen sind gefallen. Unsere Reihen waren dünner und dünner geworden.“43 Noch schmerzhafter für ein Opfer wie Frau Hruza war allerdings folgende Begebenheit, die sie schon zuvor in Eisenerz erfahren musste. Frau Hruza kam mit ihrem Bruder und ihren beiden Kindern 20 Jahre nach den Geschehnissen am Präbichl nach Eisenerz und suchte nach einem Mahnmal für die ermordeten Juden. In einem Geschäft erwarb sie Ansichtskarten und kam mit dem Besitzer ins Gespräch, der sie fragte, ob sie schon einmal in Eisenerz gewesen wären. Sie erzählte ihm, dass sie eine der jüdischen Gefangenen war, die durch Eisenerz getrieben worden seien. Der Ladenbesitzer erinnerte sich daran, dass diese Menschen in Eisenerz etwas zu essen bekommen hätten, worauf sie antwortete, sie erinnere sich vor allem an die Ermordung von vielen ihrer Mitgefangenen. Als sie das gesagt hatte, wurde der Geschäftsinhaber wütend und sprach von einer Lüge und kommunistischer Propaganda, es seien höchstens ein bis zwei Häftlinge erschossen worden.44 Frau Hruza erzählte in dem Hörfunkgespräch, dass sie dem Besitzer die Augen hätte auskratzen können, weil sie das Bild der blutenden Körper niemals vergessen könne. Ihr Bruder habe sie mit Gewalt aus dem Geschäft tragen müssen und sie habe geweint wie ein Baby.45 Die eruptive Aggression, mit der dieser Ladenbesitzer auf ihre Erzählung reagiert, verweist auf die Dimension der Verdrängung: „Die Erzählung dieser Geschichte ist durch psychischen Druck des Individuums oder soziale Tabus der Gemeinschaft blockiert“46. Wie oben erwähnt, wurde die NS-Zeit in Eisenerz und insbesondere das

S. 20. Allerdings zeigt mein Beispiel, dass es sich häufig nicht um einen aktiven Vorgang des Einbrennens handelt, sondern vielleicht noch öfter um den passiven Akt des Gebranntmarktwerdens. 43 http://guentherjacob.populus.org/rub/6 (20.11.2016). 44 http://www.generationendialog-steiermark.at/video/verurteilung-verdraengung-neues-erinnern/ (20.11.2016); http://guentherjacob.populus.org/rub/6 (20.11.2016). 45 „And I wept as a baby“: http://guentherjacob.populus.org/rub/6 (20.11.2016). 46 Assmann, Erinnerungsräume, S. 329.

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Massaker an jüdischen Menschen seit Ende der 1990er-Jahre47 intensiver erforscht, woran neben der Wissenschaft insbesondere auch Eisenerzer Lehrer sowie Schülerinnen und Schüler beteiligt waren. Dies mündete letztlich in die Errichtung eines Mahnmals am Präbichl, an dessen Einweihung auch die bereits zitierte Judita Hruza als Rednerin teilnahm. In engem Zusammenhang mit den Formen des Erinnerns und Vergessen steht eine Perspektive, auf die ich zum Schluss eingehen und die ich mit „Schuld und Scham“ umschreiben möchte. Sighard Neckel hat eine Unterscheidung zwischen Schuld und Scham getroffen. „Schuld“, so Neckel, „entsteht in der Übertretung von Verboten, Scham in der Nichterfüllung von eigenen Idealen: in der Kluft zwischen dem realen und dem idealen Selbstbild. (...) Schuld ist das Gefühl, durch eigenes Handeln für die Verletzung einer Norm verantwortlich zu sein, Scham jenes, seine Integrität beschädigt zu haben“48. Es mag zutreffen, wie verschiedentlich argumentiert wurde, dass die verdrängte Erinnerung in Eisenerz eine Form der Schuldabwehr darstellt. Ich glaube aber weniger, dass sich hinter den Verdrängungsstrategien eine reale Schuld verbirgt, als vielmehr das diffuse Gefühl, schuldlos Schuld auf sich geladen zu haben. Dies erst evoziert ein Schamgefühl, wie es Neckel beschrieben hat: „Zwischen moralischen Normen und sozialer Macht vermittelnd, entsteht das Schamgefühl im Schnittpunkt von Individuum und Gesellschaft, verweist es wechselseitig auf das je Soziale im Individuellen und das Individuelle des Sozialen, das ohne Verkörperung im Einzelnen praktisch nicht zur Geltung käme“49. Diese doppelte Bestimmtheit des Schamgefühls vermag vielleicht auch die einhellige Verdrängungsweise in Eisenerz zu erklären, weil durch die individuelle wie die kollektive Seite gleich zwei mächtige Barrieren aufgebaut sind. Die obige Behauptung, die Eisenerzer hätten schuldlos Schuld auf sich geladen, mag ob der stattgefundenen Verbrechen eigenartig anmuten, aber die Täter wurden bestraft und die Eisenerzer versuchten danach, ihre Geschichte zu bewältigen. Vielleicht ist es die tief in uns allen wurzelnde Aggressionsneigung, die nach Freud eine der Ursachen unseres Unbehagens in der Kultur ist, da uns die Kultur einen Triebverzicht aufnötigt, die unter den Bedingungen des Nationalsozialismus ausgelebt werden 47

Ungefähr zu jener Zeit, als ich mich seit 1995 durch meine Interviews und durch meine Beschäftigung mit der Geschichte des Bergbaus auch für Zwangsarbeit und das Massaker am Präbichl zu interessieren begann, entstanden – zum Teil unabhängig voneinander – auch im Umfeld der Universität Graz und durch private wie politische Initiativen Forschungen in diesem Feld. 48 Neckel, Sighard: Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit, Frankfurt/New York 1991, S. 52. 49 Neckel, Status, S. 56.

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konnte, und die im Nachhinein von allen verdrängt wird, weil sich ein Schuldbewusstsein – oder besser eine Form von Scham – nicht nur bei den Tätern, sondern auch bei den Mitläufern ausbildet, die die Potentialität eigener Verstrickung erkennen.50 Es gibt nämlich stets ein Danach, wo nach Freud jenes mächtigste Mittel zur Triebbändigung wieder einsetzt, nämlich das subjektive Schuldbewusstsein, welches aus der Angst vor dem Über-Ich gespeist wird. Die Ernüchterung nach dem Rausch der Gewalt hat bei dem Eisenerzer Massaker nicht nur die Täter eingeholt, sondern wirkte auch beim Rest der Bevölkerung weiter. Die Schuld- und Schamgefühle mussten verdrängt werden, um ein einigermaßen unbelastetes Weiterleben zu ermöglichen, nicht umsonst steht die ‚Amnesie‘ (…) sprachlich dem Begriff der ‚Amnestie‘ nahe, was die gesellschaftliche Kohäsion fördert“51. Nachdem aber dieses Abwehrbedürfnis in Eisenerz nicht ausgereicht hat, ja gar nicht ausreichen konnte, weil auch die Verdrängung selbst ihre Spuren hinterlässt, sind die verdrängten Anteile der Geschichte wieder in den Vordergrund gerückt und mussten entsprechend bearbeitet werden.

50 51

Vgl. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt a. M. 1994, 72–79. Vgl. Burke, Geschichte, S. 299.

EIN SPRUNG INS LEERE Das Philo-Lexikon und der jüdisch-deutsche Hellenismus René Bloch

Philo von Alexandria, geb. um 20 v. (40 n. Führer einer j.-alexandrin. Gesandtschaft bei Caligula), Theologe u. Philosoph, klassischer Vertreter d. j. Hellenismus, Meister d. allegor. Schriftauslegung, vereinigt Sprach- u. Gedankengut d. griech. Philosophie (Plato) mit j. Offenbarungsglauben; im j. Bereich für lange Zeit singulär, wirkt er sichtbar zunächst auf d. christl. Kirchenväter. Erhaltene W etwa 70 Schriften (griech.), Erklärungen zum Pent. (insbes. zu G), Monographien über d. Urväter, Darstellung d. mosaischen Gesetzgebung u. a. (Dt. Übers., L. Cohn u. I. Heinemann, 1909ff.). L: Heinemann, P.ʼs griech. u. j. Bildung 1932.

So lautet der Eintrag zu Philon von Alexandrien im 1935 zum ersten Mal und 1937 in vierter Auflage letztmals erschienenen Philo-Lexikon.1 Dieses einbändige, zum Schluss 832 Spalten umfassende Handlexikon wollte einen raschen Einblick ermöglichen in all das, „was das Judentum umschließt: Religion und Geschichte, Leistung und Leben“.2 Es handelt sich also keineswegs um ein Lexikon über den jüdisch-hellenistischen Theologen und Philosophen Philon von Alexandrien oder auch nur im Speziellen über die jüdische Antike. Dass aber Philon und allgemein der jüdische Hellenismus für das Lexikon und darüber hinaus auch für das jüdische Selbstverständnis im Deutschland der 1920er- und 1930er-Jahre generell ein Orientierungs- und Streitpunkt sein konnte, soll im Folgenden anhand des Philo-Lexikons und seiner Rezeption erläutert werden.3 Für den Verfasser des Artikels über Philon von Alexandrien war es gewiss kein leichtes Unterfangen, Leben und Werk eines derart komplexen Autors auf knappstem 1

2 3

Bin Gorion, Emanuel u.a. (Hg.): Philo-Lexikon. Handbuch des jüdischen Wissens. Mit 250 Abbildungen, zahlreichen Plänen, Tabellen und Übersichten sowie 40 zum Teil mehrfarbigen Tafeln und Karten. Vierte vermehrte und verbesserte Auflage, Berlin/Amsterdam 1937, S. 558. Philo ist die lateinische Schreibung, Philon die griechische. In den weiteren Zitaten aus dem Philo-Lexikon werden die Abkürzungen ausgeschrieben. Bin Gorion u.a. (Hg.), Philo-Lexikon, S. IV. Die breite jüdische Rezeption des Hellenismus im Deutschland der 1920er- und 1930er-Jahre ist bisher wenig erforscht. Für Literatur zum Philo-Verlag vgl. Anm. 9; zur Deutung der jüdischen Antike bei jüdischen Altertumswissenschaftlern vgl. v.a. Hoffmann, Christhard: Juden und Judentum im Werk deutscher Althistoriker des 19. und 20. Jahrhunderts, Leiden 1988, S. 200–245.

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Raum (nämlich in nur 91 Wörtern) gut verständlich darzustellen. Die vielen Abkürzungen und die auf einen Titel beschränkte Bibliographie deuten darauf hin, dass die Mitarbeiter aufgerufen waren, sich möglichst kurz zu fassen. Wer den Artikel verfasst hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen (die Einträge weisen keine Namenskürzel auf). Aus der um die 100 Namen umfassenden Mitarbeiterliste, die dem Lexikon vorangestellt ist, drängt sich aber die Vermutung auf, dass der Eintrag aus der Feder des großen Philon-Kenners Isaak Heinemann (1876–1957) stammt. Nur schon die nicht selbstverständliche Bezeichnung Philons als Theologe wie auch der markante Begriff „jüdischer Hellenismus“ (anstelle von hellenistischem Judentum) weisen auf die Handschrift Heinemanns hin.4 Heinemann, der aus einem Frankfurter jüdisch-orthodoxen Haus stammte, war bis 1938 Dozent für jüdische Religionsphilosophie am jüdisch-theologischen Seminar in Breslau und von 1930–1933 auch Honorarprofessor für die Geistesgeschichte des Hellenismus an der Universität Breslau. 1939 emigrierte er nach Palästina und wurde in Jerusalem Professor an der Hebräischen Universität.5 1897 hatte Heinemann in Berlin bei Hermann Diels mit einer altphilologischen Arbeit über Solon promoviert und danach zwei Bände über Poseidonius vorgelegt. Ins Zentrum seines wissenschaftlichen Interesses rückte dann aber der jüdische Hellenismus. So war Heinemann Mitherausgeber und Mitübersetzer der von Leopold Cohn lancierten deutschen Philon-Ausgabe. Seine Übersetzung des langen Traktats „Über die Einzelgesetze“ (De specialibus legibus) aus dem Jahr 1910 führte mithin zu seiner großen komparatistischen Studie „Philons griechische und jüdische Bildung: Kulturvergleichende Untersuchungen zu Philons Darstellung der jüdischen Gesetze“ (1929–1932 in Breslau erschienen). Mit dem doppelten Interesse am Jüdischen und Griechischen einher ging dabei aber immer auch die Frage nach dem Trennenden. So hat sich ­Heinemann intensiv und wiederholt mit dem antiken Antisemitismus auseinander­ gesetzt.6 Diesen sah er zuallererst in punktuellen Konflikten begründet (statt in ­essentiellen), andererseits sah er bereits als Student Parallelen zwischen antiker Judenfeindschaft und modernem Antisemitismus. Als ihm in seiner Göttinger Studienzeit als Jude der Zugang zum „philologischen Verein“ verwehrt blieb, beschwerte sich der 19-jährige Student in einem Brief an den von ihm verehrten Gräzisten Ulrich von 4

5 6

In seiner kulturvergleichenden Studie zu Philons griechischer und jüdischer Bildung, im Artikel als einziger bibliographischer Hinweis aufgeführt, nennt Heinemann Philon einleitend einen Theologen und spricht vom jüdischen Hellenismus (S. 3, S. 5). Heinemann verfasste auch den ausführlicheren Artikel über Philon im Jüdischen Lexikon (Bd. IV.1), Berlin 1927, S. 907–910. Lexikon deutsch-jüdischer Autoren (Bd. 11), München 2002, S. 30–37. Vgl. insbesondere Heinemann, Isaak: Antisemitismus, in: Paulys Realencyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft (RE), Supplementband 5, Stuttgart 1931, S. 3–43.

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Wilamowitz-Moellendorf. Heinemann hielt fest, dass sich Juden unabhängig von ihrer religiösen Ausrichtung mit Antisemitismus konfrontiert sehen würden, und zog diesbezüglich eine Parallele zum jüdisch-hellenistischen Alexandrien: „Und doch habe ich schon häufig die persönliche Erfahrung gemacht, daß heute sowenig, wie einst in Alexandrien, freiere Praxis vor Zurücksetzung schützt (…).“7 Isaak Heinemann steht mit seinem Werk, das Jüdisches und Nichtjüdisches verbindet, mit seinem Ringen um ein adäquates Verständnis des jüdischen Hellenismus, aber auch mit seiner Biographie, die in Verfolgung und im Exil endet, gleichsam symptomatisch für das Philo-Lexikon.8 Der Name des Lexikons leitet sich vom gleichnamigen Verlag, dem Philo-Verlag, ab.9 Dieser wurde 1919 vom Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens e.V. (abgekürzt: C.V.) gegründet und verlegte – so der Eintrag „Buchhandel“ im Philo-Lexikon – „meist apologetische Literatur“, ­daneben aber auch „wissenschaftliche Werke“ und „Unterhaltungsliteratur“.10 Erster Verlags­leiter wurde der Rechtsanwalt Ludwig Holländer. Der Name „Philo-Verlag“ war freilich erst zweite Wahl: Während weniger Monate hieß das Unternehmen zuerst „Gabriel Riesser-Verlag“, benannt nach Gabriel Riesser (1806–1863), dem jüdischen Richter und Politiker, der vehement für die Gleichstellung der Juden und ein jüdisch-deutsches Selbstverständnis eingestanden war.11 Der ursprüngliche Name war durchaus passend für die Ziele des neuen Verlags. Allerdings erhob Jacob Riesser, ein (getaufter) Neffe von Gabriel Riesser, Einspruch, und der Verlag war gerichtlich gezwungen, eine Alternative zu finden. Er fand sie im „großen jüdischen Philosophen“ Philon von Alexandrien.12 7

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Hoffmann, Christhard: Antiker Völkerhass und moderner Rassenhass: Heinemann an Wilamowitz, in: Quaderni di Storia 25 (1987), S. 145–157, hier S. 151. Zu einem späteren Briefwechsel vgl. Hoffmann, Christhard/ Kamesar, Adam: Wilamowitz and Heinemann II: Three Letters from the 1920s, in: Illinois Classical Studies 31/32 (2006–2007), S. 130–144. Das Philo-Lexikon enthält im Übrigen auch kurze Einträge zu Isaak Heinemann und Leopold Cohn: S. 138, S. 286. Zur Verlagsgeschichte vgl. Braun, Helmuth F.: Der Philo Verlag (1919–1938). Ein Berliner Verlag für jüdische Abwehr- und Aufklärungsliteratur, in: Berlinische Notizen. Zeitschrift des Vereins der Freunde und Förderer des Berliner Museums e.V. 4 (1987), S. 90–103 und v.a. Urban-Fahr, Susanne: Der Philo-Verlag 1919–1938. Abwehr und Selbstbehauptung, Hildesheim 2001. Über den Philo Verlag hinaus vgl. u.a. Dahm, Volker: Das jüdische Buch im Dritten Reich. Zweite, überarbeitete Auflage, München 1993; Barbian, Jan-Pieter: Literaturpolitik im NS-Staat: von der Gleichberechtigung bis zum Ruin, Frankfurt a.M. 2010. Bin Gorion u.a. (Hg.), Philo-Lexikon, S. 113. Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Bd. 18, Berlin 2010, S. 269–279. In einer Annonce verkündete der neue Philo-Verlag: „Von Seiten der Familie Riesser ist Einspruch erhoben worden gegen die Führung des Namens „Gabriel Riesser Verlag“. Wir nennen den Verlag nunmehr in Erinnerung an den großen jüdischen Philosophen „Philo“ „Philo Verlag“. Vgl. Im Deutschen Reich. Zeitschrift des Centralvereins Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens, Januar 1920, S. 19.

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Philon konnte gleichsam als hellenistische Alternative zu Gabriel Riesser verstanden werden: Denn Philon verband ja jüdisches mit griechischem Gedankengut, mitunter korrigierte er in seiner Exegese Vorurteile und wirkte schließlich auch als Politiker, indem er im Nachgang zu den antijüdischen Ausschreitungen in Alexandrien (38 n.Chr.) eine jüdische Delegation zum römischen Kaiserhof anführte.13 Auch gegen den neuen Verlagsnamen erhob sich allerdings Widerspruch, dieses Mal ein innerjüdischer: Von nationaljüdischer Seite wurde dem Verlag vorgeworfen, sich an einem „Assimilanten“ zu orientieren. So polemisierte die Zeitung „Das Jüdische Echo“ in einer Notiz, dass Philon „ohne Wirkung auf seine nächste Familie“ geblieben sei: „sein Neffe Tiberius Alexander fiel sogar vom Judentum ab“.14 Der Verweis auf Tiberius Julius Alexander, der nach Flavius Josephus den „väterlichen Gesetzen“ nicht treu geblieben war,15 wurde von Seiten des C.V. mit einem Hinweis auf Moses Mendelssohn gekontert: Mendelssohn möge zwar auch „ohne Wirkung auf seine nächste Familie“ geblieben sein, dies sage aber wenig über seine enorme Bedeutung insgesamt aus.16 In einer längeren, äußerst engagierten Replik mit dem Titel „Kann uns Philo Vorbild sein?“ weist Max Mayer in der C.V.-Zeitung drei Jahre später die offenbar andauernde Kritik am Verlagsnamen aus „nationaljüdischen Kreisen“ zurück: Philon sei keineswegs ein Assimilant gewesen. Jedenfalls habe er sich nicht „kritik- und würdelos seiner jüdischen Werte entäußert und den kulturellen Einflüssen seiner alexandrinischen Umwelt hingegeben“. Vielmehr stünde Philon für eine erfolgreiche Verbindung der jüdischen Sittenlehre mit dem „Weltbild des Hellenentums“. In Mayers Plädoyer für Philon schwingt die eigene jüdisch-deutsche Befindlichkeit deutlich mit. Seine Hochachtung für Philon begründet er mit einem expliziten Verweis auf die Situation des deutschen Judentums: „Wir haben es leichter, denn kein Gegensatz besteht zwischen unserer sittlichen Grundauffassung und der unserer nichtjüdischen Volksgenossen, soweit sie wahre Christen sind. Was für Philo Aufgabe war, die er vollendete, ist für uns seelische Gegebenheit.“ Philon habe es im Hellenentum schwerer gehabt als die Juden im christlichen Deutschland. Und doch habe sich Philon durchgesetzt. Ein zweites Mal schlägt Mayer im Zusammenhang mit der antiken Judenfeindschaft 13 Hinter Philons Wirken kann man wiederum auch eine Art Imitatio Mosis vermuten: Schon der biblische Moses reagiert auf die Unterdrückung der Juden in Ägypten, indem er bei den Obrigkeiten (dem Pharao) protestiert. Vgl. Bloch, René: Jüdische Drehbühnen: Biblische Variationen im antiken Judentum, Tübingen 2013, S. 29–52. 14 So zitiert in der Replik in: Im Deutschen Reich: Zeitschrift des Centralvereins Deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens, 5. Mai 1920, S. 173. 15 Josephus, Flavius: Antiquitates Iudaicae 20,100. In Philons Traktaten De animalibus und De providentia ist Tiberius Iulius Alexander sein philosophischer Gesprächspartner. 16 Im Deutschen Reich, 5. Mai 1920, S. 173.

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eine Brücke zur zeitgenössischen Situation: „Wie unsere heutigen Judenhetzer suchten auch die Heiden der damaligen Zeit das Judentum als menschenfeindlich hinzustellen.“ Dagegen habe sich Philon gewehrt. Und er sei es ja auch gewesen, der vor dem römischen Kaiser die jüdische „Bürgertugend“ und das jüdische Bürgerrecht verteidigt habe – im Wissen, dass die politischen Anschuldigungen gegen die Juden darauf zielten, „die Gleichstellung der Juden im römischen Reiche zu erschüttern“. Ähnlich wie im Brief des jungen Isaak Heinemann an Ulrich von Wilamowitz dient hier das antike Alexandrien im römischen Reich gleichsam als Chiffre für die Herausforderungen, die sich den Juden in der Weimarer Republik stellten. Eine Orientierung an Philon bot sich demnach in zweifacher Hinsicht an: Philon verband erfolgreich und unter schwierigen Bedingungen Jüdisches mit Nichtjüdischem, und er kämpfte mutig gegen antijüdische Verleumdungen an. Und damit „ist und bleibt er in seinem Kampf um Ehre, Recht und Wahrheit ein leuchtendes Vorbild für unsere Arbeit“.17 Das Philo-Lexikon war von Beginn weg ein großer Erfolg. 31.000 Exemplare wurden in den vier Auflagen von 1935–1937 gedruckt.18 Im Rückblick erscheint das Unternehmen wie ein apokalyptischer Versuch, jüdisches Wissen kurz vor dem drohenden Niedergang nochmals zu sammeln und für die Nachwelt zu sichern. Unmittelbarer Anstoß der Herausgeber war aber ein anderer gewesen: Man wollte dem Interesse der Zeit nachkommen und ein möglichst umfassendes, gleichzeitig aber auch handliches und erschwingliches Lexikon zur Verfügung stellen.19 Allerdings war es kein freies Unterfangen: Das Philo-Lexikon unterstand der nationalsozialistischen Zensur. So wuchs der Artikel „Arier- und Judengesetzgebung“, der dem Lexikon aufgezwungen wurde,20 von zwei Spalten in der ersten Auflage von 1935 auf fast sieben in der vierten Auflage von 1937 an. „Nichtjuden“, Menschen „jüdischer Abstammung“ 17 18 19

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C.V.-Zeitung, 19. Juli 1923, S. 236–237. Urban-Fahr, Philo-Verlag, S. 241. Neuburger, Otto: Rund um ein Lexikon, in: Der Morgen: Monatsschrift der Juden in Deutschland, Dezember 1934, S. 414–417: „Fragt man nach den Gründen, so liegt die Antwort auf der Hand: Unsere Zeit ist jüdischem Wissen so aufgeschlossen wie kaum eine andere zuvor [sic!]. Eine Unzahl von Menschen drängt danach, sich über Gebiete, die ihr bisher mehr oder weniger fremd und uninteressant waren, rasch und zuverlässig zu orientieren. Auf der Suche nach einem Hilfsmittel standen ihr bisher nur umfangreiche Werke zur Verfügung: einmal die „Encyclopaedia Judaica“, von der die Buchstaben A bis L bisher in zehn Bänden vorliegen, und dann das fünf bändige „Jüdische Lexikon“; beides sind große, doch auch teure und anspruchsvolle Werke, die weder zur Massenverbreitung bestimmt noch zur Massenwirkung geeignet waren“ (S. 414). Die Machtübernahme des Nationalsozialismus habe nicht am Anfang des Unternehmens gestanden: „Es wäre aber falsch zu glauben, daß die an sich naheliegende Idee eines jüdischen „Knaur“ ihr Entstehen erst den Ereignissen des Jahres 1933 zu verdanken habe“ (S. 414–415). Vgl. das Vorwort von Urban-Fahr, Susanne zum Reprint der Ausgabe des Philo-Atlas. Handbuch für die jüdische Auswanderung von 1938, Bodenheim b. Mainz 1998, S. 28–29; Braun, Philo Verlag, S. 100.

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und „Antisemiten“ werden im Lexikon mit einem eigenen Kürzel gekennzeichnet. So werden Alexander der Große, Boccaccio oder Dante als Nichtjuden markiert. Dass die Herausgeber Einträge wie diese aufgenommen haben, spiegelt auch das Selbstverständnis des Lexikons wider: Juden werden als integraler Teil der Weltkultur präsentiert. Das Reich von Alexander dem Großen umfasste „den größten Teil der damaligen Judenheit“, Boccaccio „erzählt im Dekameron (I,3) die durch Lessing bekannte Ringparabel“ und Dante Alighieri ist „in der hebräischen Literatur mehrfach nachgeahmt“.21 Noch wichtiger war dem Lexikon aber der jüdische Beitrag an Wissenschaft, Kultur und Politik. Dieser wird mit langen Namenslisten unterstrichen: So etwa im Eintrag „Erfinder und Entdecker“, „Nobelpreisträger“ oder „Übersetzer“. Aus letzterem Artikel geht hervor, dass Juden vielen Klassikern der Weltliteratur „den Weg zum deutschen Leser vermittelt haben“.22 Das Judentum wird als eine Kulturnation beschrieben; Analphabeten habe es im Judentum kaum je gegeben: Analphabeten, Schreibens und Lesens Unkundige, sind und waren unter Juden selten; wie Kenntnis der heiligen Schrift im jüdischen Altertum selbstverständlich war, so später Kenntnis der Landessprache und -schrift.23

Die jüdische Antike ist im Philo-Lexikon recht gut abgedeckt. Trotz der Knappheit sind auch Randthemen aufgenommen worden, die man in manchen späteren Lexika vergeblich suchen würde: Der jüdisch-hellenistische Dramatiker Ezechiel, Autor einer Exodus-Tragödie, findet genauso Erwähnung wie z.B. auch eine Reihe von Aspekten der antiken jüdischen Magie (Einträge zu „Abracadabera“, „Abraxas“, „Amulett“, „Aschmedai“, „Dämonen“).24 Noch ganz frisch war zur Zeit der Abfassung des Lexikons der überraschende Fund der Synagogenfresken im syrischen Dura Europos (1932), der die Vorstellung eines bildlosen Judentums aus den Fugen hob. Mit zwei Bildern wird in den Artikeln „Dura Europos“ und „Wandmalerei“ auf die „vor kurzem entdeckten Fresken“ verwiesen, deren „kunstgeschichtliche Auswertung“ noch nicht abgeschlossen sei.25 Kühn, aber zum Selbstverständnis des Philo-Lexikons passend, ist der kurze Eintrag zu „Athen“, das „als geistiger Mittelpunkt der antiken Welt schon im Altertum Beziehungen zum palästinischen Judentum“ gehabt habe.26 Der hier sugge21 22 23 24 25 26

Bin Gorion u.a. (Hg.), Philo-Lexikon, S. 14, S.102, S.143. Bin Gorion u.a. (Hg.), Philo-Lexikon, S. 179–180, S. 512, S. 771. Bin Gorion u.a. (Hg.), Philo-Lexikon, S. 24–25. Bin Gorion u.a. (Hg.), Philo-Lexikon, S. 3, S. 4, S. 24, S. 51, S. 142. Bin Gorion u.a. (Hg.), Philo-Lexikon, S. 163–164, S. 793. Bin Gorion u.a. (Hg.), Philo-Lexikon, S. 55.

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rierte Kontakt zwischen dem klassischen Athen und Jerusalem fand in Wirklichkeit kaum statt. Solche Einträge klingen mitunter wie ein verzweifelter Aufschrei aus der Dunkelheit der Zeit und ein Erinnern an die doch schon lange bestehende jüdisch-deutsche Synthese. Im für die Kürze des Lexikons recht ausführlichen Eintrag zum „Hellenismus“ werden zuerst die Heterogenität des hellenistischen Einflusses und für Palästina die negativen Folgen erwähnt. Gegen Ende des Artikels wird dann aber vor allem die kulturelle Bereicherung betont, die mit dem Hellenismus für die jüdische Diaspora einherging. Der Eintrag führt zum Schluss auf den Namen Philons hin. Das Alphabet wollte es, dass der Eintrag „Hellenismus“ nur durch „Heirat“ von „Heinemann, Isaak“ getrennt ist. Hellenismus, Bezeichnung der durch das Griechentum, daneben durch orientalische Einflüsse bestimmten Mischkultur, die etwa seit Alexander dem Großen die Mittelmeerländer ergriff, sich bis zum Sieg des Christentums behauptete und auf die Volkskulturen nivellierend, oft zerstörend, vielfach (zumal künstlerisch) bereichernd gewirkt hat. Im palästinischen Judentum überwogen anfangs die zerstörenden Wirkungen. (…) Aber es entsteht auch ein selbstsicheres, werbefreudiges „hellenistisches Judentum“. Es wendet griechische Literatur-Formen (Drama, Epos, Rhetorik, Geschichtsschreibung) auf die jüdische Geschichte an und sucht eine Synthese zwischen biblischer und griechischer Weltanschauung, indem es Erzählungen und Gebote allegorisiert (Beschneidung = Einschränkung des Trieblebens) und den ethischen Monotheismus der Bibel wissenschaftlich unterbaut und formuliert (Philo).27

Neben dem Philo-Lexikon erschienen im Philo-Verlag noch zwei weitere Lexika: 1936 das „Philo-Zitaten-Lexikon“ (mit dem Untertitel „Worte von Juden. Worte für Juden“) und 1938 der „Philo-Atlas. Handbuch für die jüdische Auswanderung“.28 Ersteres steht noch für ein ähnliches Selbstverständnis wie jenes des Philo-Lexikons. Auch hier – dem Genre entsprechend freilich in weit erbaulicherer Form als in einem Lexikon – wird die kulturelle Leistung des Judentums vor Augen geführt. Der erste Teil des Untertitels, „Worte von Juden“, verweist auf die eine Absicht der Sammlung: Es wird der jüdische Beitrag zum allgemeinen, deutschen Sprachgebrauch präsentiert.29 Die Zitatensammlung ist auch als jüdische Ergänzung zu Georg Büchmanns in vielen Auf27 28

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Bin Gorion u.a. (Hg.), Philo-Lexikon, S. 286–287. Fränkel, Ernst: Philo Zitaten-Lexikon. Worte von Juden. Worte für Juden, Berlin 1936. Der Historiker Ernst Fränkel (1891–1971) brachte die Arbeit des verstorbenen Eugen Tannenbaum (1890–1936) zu Ende. Löwenthal, Ernst G./Oppenheimer, Hans (Hg.): Philo-Atlas. Handbuch für die jüdische Auswanderung, Berlin 1938. Vgl. Fränkel, Philo, S. 7: „Manches dieser Worte gehört zum Bestand des allgemeinen Sprachgutes.“

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lagen erschienenem Band „Geflügelte Worte“ zu verstehen, auf den der Herausgeber explizit verweist. Zuletzt war Büchmann ohne jüdische Zitate erschienen.30 Das Philo-Zitaten-Lexikon enthält bemerkenswerterweise auch einen Abschnitt „Aus der jüdisch-hellenistischen Literatur“ mit elf Zitaten aus dem Werk Philons von Alexandrien: vier aus seinem Traktat über die Tugenden (De virtutibus 147.177.187.194), drei aus jenem über die speziellen Gesetze (De specialibus legibus 2,69. 259; 4,73) und je einem aus den Traktaten über die Entstehung der Welt (De opificio mundi 146), über die Opferungen Kains und Abels (De sacrificiis Abelis et Caini 41), über die allegorischen Gesetze (Legum allegoriarum libri 3,137) und über den Dekalog (De decalogo 5). Diese Zitatenauswahl macht einen etwas willkürlichen Eindruck und keine der Sätze dürften einem weiteren Lesepublikum bekannt gewesen sein. Aber sie ermöglichen doch einen ganz knappen Einblick in das philonische Denken: Von der geistigen Verwandtschaft des Menschen mit Gott (op. 146: „Jeder Mensch ist in seinem Geiste nach der göttlichen Vernunft verwandt“) bis zur prinzipiellen Freiheit des Menschen (virt. 2,69: „Niemand ist von Natur Knecht“). Philon von Alexandrien hatte offenbar nicht nur als Namensgeber und Referenz, sondern auch als jüdisch-hellenistischer Autor seinen Platz im deutschen Judentum der 1930er-Jahre. Der zwei Jahre später erschienene Philo-Atlas war das letzte Buch, das in einem jüdischen Verlag erscheinen durfte. Und es hatte nur noch ein Ziel: ein Wegweiser aus Deutschland in eine bessere Welt zu sein. 1938 hatte sich die rechtliche Situation der deutschen Juden weiter verschlechtert. Die Annahme einer deutsch-jüdischen Symbiose, wie sie im Philo-Lexikon noch präsent ist, liegt hier bereits in weiter Ferne. Der jüdisch-deutsche Hellenismus stand vor seinem Ende. Symptomatisch hierfür ist ein Artikel zur Geschichte der jüdischen Diaspora, der in zwei Teilen in den Ausgaben vom 27. Oktober und vom 3. November 1938 der C.V.-Zeitung erschien.31 Autor des Artikels mit dem Titel „Sprungbretter der Diaspora“ war der Journalist und Lehrer Fritz Friedländer (1901–1980), der auch zum Philo-Lexikon beigetragen hatte. Ausgehend von der „aktuellen Diaspora“ seiner Zeit schlägt Friedländer einen Bogen zur jüdisch-hellenistischen Diaspora: Die Weltbewegung des Hellenismus sei auch für die Juden ein Segen gewesen. Hier habe sich ein gleichsam aufgeklärtes, die eigene Tradition nun allegorisch lesendes Judentum entfalten können: „Die gräzisierenden Stimmungen eines sich „modern“ dünkenden Reformjudentums waren ein Sprungbrett zu der Diaspora-Existenz in der hellenistischen Einheitskultur.“ Und Philon von 30 31

Fränkel, Philo, S. 11: „Die Auflage von 1935 konnte nicht herangezogen werden, da sie die Namen jüdischer Autoren im Textteil nicht mehr enthält.“ C.V.-Zeitung, 27. Oktober 1938, S. 1; C.V.-Zeitung, 3. November 1938, S. 2.

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Alexandrien sei „als Denker und Persönlichkeit das charakteristische Paradigma dieser Diaspora“ gewesen.32 Dieses modern-antike Judentum war auch für die nichtjüdische Umwelt attraktiv. Bis in die höchsten Schichten des Kaiserhofs hätten sich Proselyten gefunden. Friedländers Darstellung ist nicht falsch, ist aber deutlich geprägt von seinem eigenen jüdisch-deutschen Selbstverständnis. Alexandrien erscheint für die Juden wie ein Berlin der Antike. An beiden Orten kam die Diaspora gleichsam zum Stillstand, denn die Juden hatten ihren Platz in der Gesellschaft gefunden. Freilich nur auf Zeit, sowohl in Berlin wie in Alexandrien. Letztlich ist nach Friedländer die jüdische Diaspora der Antike doch „ein Opfer ihrer Treue zum Judentum geworden.“ Die Weigerung, sich an dem Kaiserkult zu beteiligen und das Festhalten am „Anders-sein“ – letztlich die „Unmöglichkeit, dem Hellenismus zu geben, was des Hellenismus ist“ – führten zu Konflikten.33 So wie zur Zeit, als Friedländer den Artikel verfasste, in Deutschland die „Ruhepause der Emanzipation“34 zu einem Ende gekommen war und den Juden nur noch die Auswanderung blieb, scheiterte damals auch der jüdische Hellenismus: „Der Hellenismus war gewiß ein Sprungbrett zur Diaspora; aber es war, sobald durch die Annäherung an die fremde Welt eine Preisgabe der eigenen drohte, ein Sprung ins Leere.“35 Was vorerst wie ein erfrischender Sprung aussah, entpuppte sich zum Schluss nur als ein weiteres Beispiel einer zwischenzeitlichen Diasporablüte. Und das, diese wiederkehrende Vergänglichkeit der jüdischen Diaspora, sei – so Friedländer einleitend – „der rote Faden“ der jüdischen Geschichte.36 Friedländers Artikel hätte in späteren Ausgaben der Zeitung fortgeführt werden sollen: Vorgesehen waren weitere Teile zur jüdischen Diaspora auf der iberischen Halbinsel, im slawischen Osten und schließlich ihre Neubildung in Übersee.37 Dazu kam es jedoch nicht. Die Ausgabe der C.V.-Zeitung vom 3. November 1938 war die letzte, die erscheinen durfte. Eine Woche später, am 10. November 1938, schloss die Gestapo auch den Philo-Verlag. Fritz Friedländer gelang nach einer zeitweiligen Haft im Konzentrationslager Sachsenhausen 1939 die Emigration nach China (Schanghai) und 1946 nach Australien.38 Dreißig Jahre nach der vierten Auflage des Philo-Lexikons erschien unter Leitung 32 33 34 35 36 37 38

C.V.-Zeitung, 3. November 1938, S. 2. C.V.-Zeitung, 3. November 1938, S. 2. C.V.-Zeitung, 27. Oktober 1938, S. 1. C.V.-Zeitung, 3. November 1938, S. 2. C.V.-Zeitung, 27. Oktober 1938, S. 1. C.V.-Zeitung, 3. November 1938, S. 2. Vgl. die „Fritz Friedländer Collection“ im Leo Baeck Institute: http://findingaids.cjh.org/?pID=403515 (18.12.2016).

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eines der früheren Herausgeber, John F. (Hans) Oppenheimer, das Lexikon des Judentums.39 Ziel war es, „nach dem damaligen Vorbild in der durch Beschränkung auf einen Band gedrängten Form, aber ohne geistige Zensurfesseln, den heutigen Lesern in deutscher Sprache aufs neue über das Judentum zu unterrichten“.40 Das neue Lexikon war deutlich umfangreicher als das Philo-Lexikon, wobei es viele Einträge aus dem Vorgängerwerk integrierte. Auch der Eintrag zu Philon von Alexandrien erschien 1967 in unveränderter Form noch einmal.41 Die optimistische Vision eines jüdisch-deutschen Hellenismus hatte da ihren Kontext freilich längst verloren.

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Oppenheimer, John F. u.a. (Hg.): Lexikon des Judentums, Gütersloh 1967. Oppenheimer u.a. (Hg.), Lexikon des Judentums, Vorwort. Oppenheimer u.a. (Hg.), Lexikon des Judentums, Vorwort, S.623. Der Name des heutigen „Philo Fine Arts“ Verlags mit Sitz in Hamburg geht auf den Berliner Judaica Verlag „Philo“ zurück, der wiederum kein Rechtsnachfolger des einstigen Philo-Verlags ist. Vgl. http://www.philo-fine-arts.de/verlag.html (18.12.2016).

JUDAS ISKARIOTH IM SPIEGEL VON AMOS OZ Bemerkungen aus historisch-kritischer Sicht Klaus Plaar

Zweifellos gehören die Romane, Erzählungen und Essays des israelischen Schriftstellers Amos Oz zur Weltliteratur. Eine lange Liste von Auszeichnungen legt davon beredtes Zeugnis ab. In seinem jüngsten Roman mit dem Titel „Judas“1 erweist er sich erneut als sagenhaft guter Erzähler. Das Buch ist spannend, hat sehr plastische Figuren und diese faszinierende religionsphilosophische Ebene des Judas Iskarioth sowie anderer „Verräter“. Die Romanfigur Schmuel Asch stellt die These auf: „Ohne Judas hätte es vielleicht keine Kreuzigung gegeben und ohne Kreuzigung kein Christentum.“2 Und ohne Christentum keine Schoah3, ist man geneigt hinzuzufügen. Wie aber sieht es aus, wenn man diese und andere Thesen aus der Perspektive der historisch-kritischen Forschung betrachtet?

Judas als Kristallisationsfigur des christlichen Antisemitismus Der alte Jude Gershom Wald sagt in dem Roman: „Um einen Gott umzubringen, muss der Mörder noch stärker sein als Gott, und er muss auch unendlich bösartig sein. Jesus von Nazareth, eine göttliche Gestalt voller Wärme und Liebe, wer ihn absichtlich ermordete, war stärker als er und zugleich listig und abscheulich. Diese verfluchten Gottesmörder konnten nur unter der Bedingung zu Gottesmördern werden, wenn sich in ihnen alle scheusslichen Kräfte des Bösen konzentrierten. Deshalb stehen für Judenhasser die Juden auf der untersten Stufe. Wir alle sind Judas Iskarioth. Auch nach achtzig Generationen sind wir Judas Iskarioth.“4 Und an anderer Stelle sagt die Romanfigur Schmuel Asch bei Amos Oz: „Bei den Christen ist in den Augen des einfachen Volkes Judas, der Verräter, zum Archetypen aller Juden geworden, in allen Ländern und durch alle Generatio-

1 2 3 4

Oz, Amos: Judas. Roman, Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin 2015. Oz, Judas, S. 94. Vgl. Oz, Judas, S. 126. Oz, Judas, S. 48.

Judas Iskarioth im Spiegel von Amos Oz

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nen hindurch.“5 Nicht nur beim einfachen Volke, wäre hinzuzufügen: Judas Iskarioth wurde auch theologisch und rezeptionsgeschichtlich zur Personifikation des Bösen schlechthin, zum verteufelten Juden. Mit dem angeblichen Verrat des Judas bilden schon die Evangelien die Grundlage dazu, auf der die Apostolischen Väter und frühchristlichen Apologeten schon im 1. und 2. Jhdt. weiterbauen, gefolgt von den Kirchenvätern und mittelalterlichen Legendenbildungen und Passionsspielen. Die Judas-Ikonographie des Mittelalters visualisiert dann diese theologischen Inhalte auf oft antijudaistische Weise. Es gehört zum dualistischen Gut-Böse-Schema, dass Judas als satanischer Antipode, als Verkörperung einer „absoluten jüdischen Verworfenheit“ und moralischen Desintegrität, dem „göttlichen Christus“ letztendlich durch Suizid unterliegt und der ewigen Verdammnis anheim fällt, während der vergottete Christus als Pantokrator, als Weltbeherrscher ans Firmament metaphysischer Welten und Kirchenkuppeln erhoben wird.6 Aus diesem Grund sagt der alte Gershom Wald: „Aber eines sage ich Ihnen, Judas Iskarioth oder nicht, der Hass der Christen auf die Juden wäre nicht von der Welt verschwunden. Er verschwindet nicht und wird nicht weniger. Mit oder ohne Judas, der Jude hätte für die Gläubigen immer den Verräter verkörpert.“7 Aus historisch-kritischer Sicht kann diese traurige Erkenntnis nur bestätigt werden, wofür die zahlreichen Diffamierungen der Juden, die Gottesmordlüge, Brunnenvergiftungen, rituellen Kindermorde und die damit verbundenen Judenverfolgungen beschämendes Zeugnis ablegen.

Ohne Judas keine Kreuzigung? Wie steht es um die Hypothese, ohne Judas hätte es vielleicht keine Kreuzigung gegeben?8 Wenn wir auf die antiken Quellen zurückgehen (zunächst die Evangelien9), so geht der Impuls zur Kreuzigung Jesu nicht von Judas, sondern von den Sadduzäern und Herodes Antipas aus. Eine erste direkte Konfrontation Jesu mit den Hohenpriestern Kajaphas und Hannas I. wird im Zusammenhang mit der Heilung (Erweckung) 5 6

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Oz, Judas, S. 222. Etwa das Apsismosaik von San Vitale in Ravenna aus dem 6. Jhdt., das einen jugendlichen Christus Pantokrator zeigt. Foto auf https://de.wikipedia.org/wiki/San_Vitale#/media/File:Ravenna_Basilica_of_San_Vitale_mosaic_Christ2.jpg (21.02.2017). Oz, Judas, S. 276. Oz, Judas, S. 94. Wir zitieren nach: Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, Zürich 1958 (Verlag Zwingli-Bibel); Das Neue Testament, übersetzt und erläutert von P. Dr. Konstantin Rösch O. M. Cap., Paderborn 1946.

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des Eleazar (Lazarus) im Johannes- und Lukas-Evangelium berichtet, die vom (pharisäischen) Volk als „Auferstehung“ gewertet wurde.10 Beim Einzug in Jerusalem bezeugt die zahlreiche pharisäische Anhängerschaft Jesu die „Auferstehung“ des Eleazar (Lazarus), wie das Johannes-Evangelium berichtet.11 Wegen dieser Ereignisse versammelt sich der Sanhedrin,12 und hier meldet sich Kajaphas zu Wort: „Es ist uns besser, ein Mensch sterbe für das Volk, denn das ganze Volk verderbe.“13 Bei dem (späteren) Verhör Jesu durch Hannas I. wiederholt der Evangelist noch einmal dieses Kajaphas-Wort,14 von dem wir annehmen dürfen, dass es tatsächlich die Einstellung der Sadduzäer spiegelt, wie wir überhaupt davon ausgehen müssen, dass die Hannas-Clique in den Tod Jesu verwickelt ist.15 Das wird deutlich, wenn wir uns die Verfolgungen der „Judenchristen“ – nachdem Jesus hingerichtet war – durch diese Hohenpriester-Dynastie in Erinnerung rufen: Der Diakon Stephanus erweckt mit seinen Predigten den Zorn der „Schulen“16 von religiösen Autoritäten der Antike und wird vor den Sanhedrin geführt.17 Man wirft ihm vor, das Jesuswort von der bevorstehenden Tempelzerstörung wiederholt zu haben.18 Die Verteidigungsrede des Stephanus vor dem Sanhedrin19 ging den Ratsherren so auf die Nerven, dass sie auf die Zähne beissen mussten‚20 bis sie ihn zur Stadt hinaus stiessen und steinigten.21 War auch

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Jh.11,23-25; 12,9-11; Lk.16,20-31. Möglicherweise war schon früher ein Grund gesucht worden, Jesus zu verhaften (Lk.20,20; Mt.22,15; Mk.12,13; Jh.7,32). 11 Jh.12,17. 12 Der Sanhedrin war unter Römerherrschaft der Oberste jüdische Gerichtshof, in dem 71 Richter (Pharisäer und Saddzuzäer) sassen; es war eine nationale Institution, deren Urteile auch für das Diaspora-Judentum bindend waren. 13 Jh.11,50; vgl. Ben-Chorin, Schalom: Bruder Jesus, München 1985, S. 158. 14 Jh.18,14. 15 Vgl. Flusser, David: Die letzten Tage Jesu in Jerusalem, Stuttgart 1982, S. 99; Fricke, Weddig: Standrechtlich gekreuzigt, Buchschlag bei Frankfurt 1987. Der Versuch von Fricke, alle jüdischen Parteien aus den Verwicklungen herauszunehmen, die zur Hinrichtung Jesu führten, ist vom historisch-kritischen Standpunkt aus nicht haltbar. Frickes Buch ist in vielen Stücken sehr lehrreich und auch von einer hehren Absicht getragen, die wir durchaus teilen. Allein, die historischen Zusammenhänge können nicht verdreht werden – weder zur einen, noch zur andern Seite hin. Es ist unumstösslich richtig, dass die Römer Jesus zum Tode verurteilt haben, doch sind sowohl die Sadduzäer, als auch die Herodianer (Antipas) in die Verurteilung verwickelt. 16 Apg.6,9. Irritierend ist hier der Plural. Ob auch die Schulen Hillel’s und Schammai’s gemeint sind, ist fraglich und eher zu bezweifeln. 17 Apg.6,12. Niemand weiss, ob es der grosse Sanhedrin (71 Mitglieder) oder der kleine Sanhedrin (23 Mitglieder) war. 18 Apg.6,14. 19 Apg.7,1-53. 20 Apg.7,54. 21 Apg.7,56-59.

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Paulus mit der Hinrichtung des Stephanus einverstanden,22 so geriet er doch selbst bald um seines „Auferstehungsglaubens“ willen, nämlich Jesus sei auferstanden, mit den Sadduzäern in Konflikt und erregte einen Tumult im Sanhedrin.23 Der Hohepriester Hannas I. befahl den Umstehenden, dass „sie ihm aufs Maul schlügen“.24 Vierzig Ratsherren beschliessen den Tod Paulus’.25 Durch die Gunst eines Neffen26 und den Schutz des römischen Hauptmanns der Burg Antonia kann Paulus nach Cäsarea entkommen.27 Auch Petrus und der Zebedaide Johannes (Sohn des Zebedäus und der Salomé28) waren um des Glaubens an die Auferstehung Jesu willen von den Sadduzäern verfolgt worden. Nach der Apostelgeschichte waren es „die Priester und der Hauptmann des Tempels und die Sadduzäer“,29 die Petrus und Johannes verhafteten; „sie verdross, dass sie das Volk lehreten, und verkündigten an Jesu die Auferstehung von den Toten“.30 Die beiden Apostel wurden vor den Sanhedrin geführt31 und von Hannas I., Kajaphas, Johannes und Alexander und den anderen aus Hohenpriesterlichem Geschlecht verhört.32 Die Verfolgungen der Jerusalemer Urgemeinde wurden also von denselben Personen angezettelt, die Jesus den Römern überstellt hatten.33 Die Richter raten den beiden Aposteln, die Auferstehung Jesu nicht mehr zu verkünden und lassen sie frei.34 Kurz darauf werden Petrus und Johannes erneut verhaftet und verhört, weil sie wieder im Tempel gepredigt hatten.35 Wieder ist es der „Hohepriester und alle, die mit ihm waren, welches ist die Sekte der Sadduzäer“;36 sie beabsichtigen Petrus und Johannes zu töten.37 Erst auf Intervention des Pharisäers Gamaliel I. werden die Apostel freigelassen.38 Der Bruder des Zebedaiden Johannes, Jakobus, wird 22 Apg.8,1; vgl. Gal.1,13-14. 23 Apg.23,1 ff. 24 Apg.23,2. 25 Apg.23,12-14; 23,21. 26 Apg.23,16. 27 Apg.23,17-24. 28 Diese Salomé war eine Schwester der Mutter Jesu. 29 Apg.4,1. 30 Apg.4,2. 31 Apg.4,5. 32 Apg.4,6. 33 Vgl. Flusser, David: Entdeckungen im Neuen Testament (Bd. I, Jesusworte und ihre Überlieferung), Neukirchen-Vluyn 1987, S. 148; Flusser, David: Bemerkungen eines Juden zur christlichen Theologie, München 1984, S. 13; Flusser, Tage, S. 98. 34 Apg.4,17-18. 35 Apg.5,17-33. 36 Apg.5,17. 37 Apg.5,33. 38 Apg.5,34-42.

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(noch vor dem Jahre 44 n. Chr.) auf Geheiss von Herodes Agrippa I. enthauptet39 und schliesslich wird auch Jakobus, der Bruder Jesu, von einem Glied der Hannas-Dynastie (Hannas II.) 62/63 n. Chr. zum Tode durch Steinigen verurteilt.40 Diese Zusammenhänge sind es, die es überaus wahrscheinlich machen, dass auch Jesus von den Sadduzäern beargwöhnt, verhört und den Römern überstellt wurde. Ohne Zweifel wird Jesus später festgenommen und zum Verhör vor Hannas I. und Kajaphas geführt. Schon diese Feststellungen auf sadduzäischer Seite machen es sehr wahrscheinlich, dass Jesus auch ohne Judas gekreuzigt worden wäre.

Die Rolle des Herodes Antipas Der Evangelist Lukas fügt im Verlauf des Verfahrens gegen Jesus eine Begegnung zwischen Jesus und Herodes Antipas ein, die eine sehr hohe historische Wahrscheinlichkeit für sich hat. Die Perikope lautet: Als Pilatus das hörte [die Anklagen der Sadduzäer, Anm.d.Verf.], fragte er, ob dieser Mensch [Jesus, Anm.d.Verf.] ein Galiläer sei. Und als er erfuhr, dass er aus dem Herrschaftsbereich des Herodes [Antipas, Anm.d.Verf.] komme, liess er ihn zu Herodes bringen, der in diesen Tagen ebenfalls in Jerusalem war. Als Herodes [Antipas, Anm.d.Verf.] Jesus sah, freute er sich sehr. Es war nämlich schon seit längerer Zeit sein Wunsch, ihn zu sehen, denn er hatte von ihm gehört; nun hoffte er, ein Zeichen zu sehen, das von ihm vollbracht würde. So stellte er ihm mancherlei Fragen; er aber gab ihm keine Antwort. Die Hohen Priester und Schriftgelehrten standen dabei und brachten schwere Anschuldigungen gegen ihn vor. Herodes [Antipas, Anm.d.Verf.] aber und seine Soldaten verhöhnten und verlachten ihn, legten ihm ein Prunkgewand um und schickten ihn wieder zu Pilatus zurück. Herodes [Antipas, Anm.d. Verf.] und Pilatus aber wurden an ebendiesem Tag Freunde; vorher waren sie einander feind gewesen.41

Wir haben an anderer Stelle schon dargelegt, dass zwischen Johannes dem Täufer und Jesus familiäre Verwandtschaft, persönliche Freundschaft und eine weitgehende religiöse Kongruenz bestand, die im Qumran-Essenismus und der widerständischen 39 Apg.12,1-11. 40 Josephus Flavius: Jüdische Altertümer (Antiquitates Judaicae), übers. von Heinrich Clementz, Wiesbaden 51983, XX,9,1. 41 Lk.23,6-12

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„Theologie der Wüste“ wurzelt42: Die Einkerkerung Johannes des Täufers durch Herodes Antipas auf der Burg Machärus hat Jesus tief bewegt: „Als er hörte, dass man Johannes gefangen genommen hatte, zog er sich nach Galiläa zurück“.43 Doch Antipas liess den Täufer bald enthaupten,44 weil dieser die Endogamie des Antipas als nach jüdischem Eherecht illegitim kritisiert hatte und weil seine grosse Anhängerschaft den Machthabern ein Dorn im Auge war. Kaum war Johannes enthauptet, als das „Gerücht von Jesus zu Herodes [Antipas, Anm.d.Verf.] kam“.45 Es verwundert deshalb auch nicht, dass Antipas Jesus „zu sehen begehrte“, wie es schönfärberisch umschrieben wird, und zwar im Zusammenhang mit Johannes dem Täufer: Es hörte aber Herodes [Antipas, Anm.d.Verf.], der Tetrarch, von all diesen Geschehnissen. Und es beunruhigte ihn, dass von einigen gesagt wurde, Johannes sei von den Toten auferweckt worden, von anderen, Elija sei erschienen, von wieder anderen, einer der alten Propheten sei auferstanden. Und Herodes sagte: Den Johannes habe ich doch selbst enthaupten lassen. Wer aber ist das, über den ich solches höre? Und er wollte ihn sehen.46

Jesus seinerseits warnt vor dem „Sauerteig des Herodes [Antipas, Anm.d.Verf.]“.47 Als einige Pharisäer Jesus darauf aufmerksam machen, dass Antipas ihn ermorden will, nennt Jesus Antipas einen „Fuchs“.48 Antipas wusste genau, dass der Präfekt (Pontius Pilatus) das Recht hatte, Todesurteile zu vollstrecken; im Falle des Täufers hatte Antipas das Todesurteil selbst vollstrecken können, weil die Burg Machärus in Peräa und damit in seinem Hoheitsgebiet lag. Das Verhör durch Pilatus aber fand in Jerusalem statt (Judäa), das seit dem Jahre 6 n. Chr. unter Verwaltung des römischen Präfekten der Provinz Syrien stand. Hier konnte Antipas kein Todesurteil vollstrecken und war deshalb auf die Mithilfe des Pilatus angewiesen, mit dem er sonst als Vierfürst (Tetrarch)49 stets zerstritten war. Doch angesichts der bevorstehenden Verurteilung Jesu zum Tode verbrüderten sich Antipas und Pilatus: „An diesem Tag wurden Herodes und Pila-

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Plaar, Klaus: Juden, Jesus, Judas. Neues Testament, christlicher Antijudaismus und rezeptionsgeschichtliche Wurzeln der Judenverfolgung von der Antike bis zur Gegenwart, Hanau 2016, S. 598–599, S. 785. 43 Mt.4,12; Mk.1,14-15; vgl. Lk.4,14-15. 44 Mt.14,3-12; Mk.6,17-19; Joseph. Ant. XVIII,5,2. 45 Mt.14,1; Mk.6,14-16; Lk.9,7-9. 46 Lk.9,7-9; vgl. Mk.6,14-16; Mt.14,1-2. 47 Mk.8,14. 48 Lk.13,32; vgl. Jh.7,1-9. 49 Herodes Antipas war Tetrarch (Herrscher über ein Viertel); gemeint ist ein Viertel des Reiches seines Vaters Herodes I.

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tus Freunde; vorher waren sie Feinde gewesen.“50 Das ist der historische Kontext, der vor allem im lukanischen Sondergut richtig überliefert ist.51 Bei diesem Mordkomplott war Antipas, der Mörder des Täufers, die treibende Kraft – und hatte in der Person des Judenhassers Pilatus seinen Komplizen gefunden. Hatte Antipas Jesus schon im Zusammenhang mit der Hinrichtung des Täufers „sehen wollen“52, so bekam er ihn nun im Rahmen des Verfahrens tatsächlich zu Gesicht: „… Als Herodes Jesus sah, freute er sich sehr. Es war nämlich schon seit längerer Zeit sein Wunsch, ihn zu sehen, denn er hatte von ihm gehört; nun hoffte er, ein Zeichen zu sehen, das von ihm vollbracht würde.“53 Dass Antipas sich gefreut habe, Jesus zu sehen, ist wohl ein christologischer Einschub des Evangelisten oder dann hat Antipas sich wirklich gefreut, nämlich darüber, dass er Jesu endlich habhaft werden und dem Tode zuführen konnte. Jesus scheint diese Freude nicht geteilt zu haben, verweigert er doch Antipas jede Antwort! Ohne den christologischen Einschub hat Lukas dann allerdings das historisch Zutreffende überliefert; dann lautet nämlich die (bereinigte) Perikope: Als Pilatus das hörte [die Anklagen der Sadduzäer, Anm.d.Verf.], fragte er, ob dieser Mensch [Jesus, Anm.d.Verf.] ein Galiläer sei. Und als er erfuhr, dass er aus dem Herrschaftsbereich des Herodes [Antipas, Anm.d.Verf.] komme, liess er ihn zu Herodes bringen, der in diesen Tagen ebenfalls in Jerusalem war…So stellte er ihm mancherlei Fragen; er aber gab ihm keine Antwort. Die Hohen Priester und Schriftgelehrten standen dabei und brachten schwere Anschuldigungen gegen ihn vor. Herodes [Antipas, Anm.d.Verf.] aber und seine Soldaten verhöhnten und verlachten ihn, legten ihm ein Prunkgewand54 um und schickten ihn wieder zu Pilatus zurück. Herodes [Antipas, Anm.d.Verf.] und Pilatus aber wurden an eben diesem Tag Freunde; vorher waren sie einander feind gewesen.55

Auch diese Zusammenhänge auf herodianischer Seite machen es überaus wahrscheinlich, dass Jesus auch ohne Judas gekreuzigt worden wäre.

50 Lk.23,12 51 So auch Jaroš, Karl: Jesus von Nazareth, Mainz 2000, S. 331. 52 Lk.9,7-9; vgl. Mk.6,14-16; Mt.14,1-2. 53 Lk.23,8 54 Einige Übersetzungen schreiben „glänzendes Gewand“ oder „strahlendes Gewand“, während in der Lutherbibel von einem „weissen Gewand“ die Rede ist. 55 Lk.23,6-12. Auch die Jerusalemer Urgemeinde glaubt, Herodes Antipas und Pontius Pilatus hätten sich zusammen mit Heiden und Juden gegen sie verbündet (Apg.4,27).

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Facetten der Judas-Figur Doch zurück zu Amos Oz: Er argumentiert in seinem Roman, dass Judas der erste, letzte und einzige Christ gewesen sei.56 Das ist eine etwas gewagte Hypothese;57 sie setzt die Anschauung von Amos Oz voraus, Judas sei von den Sadduzäern als Spion zu den „Jesuanern“ geschickt worden58 und sei dann Jesu treuester Gefährte geworden59. Judas habe Jesus nicht verleugnet60 und nicht verraten61, und es sei eine Ironie, „dass der erste und letzte Christ, der einzige, der Jesus keine Minute verliess…,der an die Göttlichkeit Jesu bis zu seiner letzten Sekunde am Kreuz glaubte, der Christ, der sehnsüchtig erwartete, dass Jesus vom Kreuz steigen würde…, der einzige Christ, der mit Jesus starb und nach ihm nicht weiterlebte, der einzige, dessen Herz beim Tod Jesu wirklich brach, ausgerechnet er wird von Hundertmillionen Menschen auf allen fünf Erdteilen und durch zwei Jahrtausende hindurch als der herausragende Jude betrachtet, er wird mehr als jeder andere verspottet und verabscheut. Als Verkörperung des Verrats und als Verkörperung des Judentums und als Verkörperung der Beziehung zwischen dem Judentum und dem Verrat“.62 Unzweifelhaft richtig ist, dass Jesus auch ohne Judas festgenommen und gekreuzigt worden wäre63, aber dass Judas Christ gewesen sei, kann von der historisch-kritischen Forschung nicht bestätigt werden: Jesus selbst war kein Christ, sondern Jude, so wie Judas und alle Jünger und Apostel. Es passt auch schlecht zum „ersten Christen Judas“, dass Amos Oz selbst Paulus als den Erfinder des Christentums bezeichnet.64 Es ist auch unwahrscheinlich, dass Judas von den Sadduzäern als Spion bei den „Jesuanern“ eingeschleust worden ist. Der historische Jesus war nicht der Anführer eines Geheimbundes, sondern sagte: „Ich habe allezeit in der Synagoge und im Tempel gelehrt, wo alle Juden zusammenkommen, und im geheimen habe ich nichts geredet. Was fragst du mich…?“65; „Täglich war ich bei euch im Tempel lehrend, und ihr habt mich nicht ergriffen“66.

56 Oz, Judas, S. 170, S. 209. 57 Als Roman-Autor darf man das vielleicht machen. 58 Oz, Judas, S. 126, S. 165. 59 Oz, Judas, S. 166. 60 Oz, Judas, S. 209. 61 Oz, Judas, S. 129. 62 Oz, Judas, S. 209. 63 Oz, Judas, S. 274. 64 Oz, Judas, S. 125–126. 65 Jh.18,19-21. 66 Lk.22,53; Mk.14,49; Mt.26,55.

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Völlig richtig liegt Amos Oz mit der Feststellung, dass Judas Jesus nicht verraten hat67: „Bestimmt war der Judaskuss kein verräterischer Kuss“68. Zu recht sagt er auch: „Jesus und seine Jünger waren Juden und Söhne von Juden, aber in der volkstümlichen Vorstellung der Christen ist Judas Iskarioth der Einzige unter ihnen, der als Jude gebrandmarkt war – und der für das ganze jüdische Volk steht.“69 Aus historisch-kritischer Sicht muss das bestätigt werden. Judas ist nach christlicher Auffassung der Antipode Jesu und paktiert mit den Juden. Judas und die Juden sind Gesinnungsgenossen. In ihrer Boshaftigkeit und Schuldhaftigkeit besteht ihre Kumpanei! Dadurch wird Judas zum Juden und die Juden insgesamt zu „Judassen“. Judas Iskarioth wurde theologisch und rezeptionsgeschichtlich zur Personifikation des Bösen schlechthin. Doch die verteufelte Gestalt des Judas Iskarioth ist eine literarische Fiktion, die in der Geschichte nie existiert hat.

Entwicklung der Judas-Figur – Widersprüche im Neuen Testament Mit der Abendmahlszene, einem Seder,70 nähern wir uns einem Höhepunkt des neutestamentlich begründeten Antijudaismus. Das Abendmahl bietet eine ganze Reihe von Widersprüchen, die beim Namen genannt werden müssen. Beim Seder (Passahmahl) soll die „Voraussage des Verrates“ durch Jesus stattgefunden haben.71 Man beachte das gemeinsame Rätseln aller zwölf Apostel anlässlich der Voraussage des „Verrats“: „Doch nicht ich bin’s, Herr?“.72 Alle Evangelisten stimmen darin überein, dass jeder Jünger es für möglich halten konnte, selbst der angekündigte „Verräter“ zu sein, selbst der Johannes-Evangelist.73 Einzig Matthäus nennt bei der Voraussage des Verrats einen Namen: Judas.74 Wiederum in Übereinstimmung berichten alle Evangelisten, dass Jesus als Antwort auf die Frage, wer der Verräter sei, lediglich die Voraussage wiederholt, ohne einen Namen zu nennen. Doch beim Johannes-Evangelisten schreitet dann Jesus selbst zur Tat, um den „Verräter“ zu identifizieren: 67 68 69 70

Oz, Judas, S. 129. Oz, Judas, S. 209. Oz, Judas, S. 209. Zum letzten Abendmahl Jesu siehe auch: Navon, Moshe: Jesu Teilnahme am jüdischen Gottesdienst. Ein jüdischer Kommentar zu Lk.22,14-20, in: Freiburger Rundbrief 7/3 (2010), S. 162–170, http://freiburger-rundbrief.de/de/?id=1050&format=print (21.02.2017). 71 Mt.26,20-25; Mk.14,17-21; Lk.22,21-23. 72 Mt.26,21-22; Mk.14,18-19; Lk.22,22-23. 73 Jh.13,21-25. 74 Mt.26,25.

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Der ist es, dem ich den Bissen eintauchen und geben werde. Dann taucht er den Bissen ein, nimmt ihn und gibt ihn Judas, dem Sohn des Simon Iskarioth“.75 „Und als der den Bissen nahm, fuhr der Satan in ihn.“76

Damit ist Judas zur Inkarnation des Bösen, zum „Judas Iskarioth“ gestempelt und der Antagonismus zwischen Judas, der Verkörperung des Bösen, und Jesus, der Verkörperung des Guten, ist ins absolut Unversöhnliche gesteigert. Ausgerechnet ein Mann, der sein ganzes Leben nichts Anderes gelehrt hat, als dass man dem Bösen keinen Raum geben und das Gute tun solle, der Gott als seinen Vater ansprach, der sich selbst als „Tempel Gottes“ verstand, soll einen seiner Vertrautesten aktiv mit dem Satan infiziert haben? Das widerspricht allem, was Jesus je gelehrt hat und entbehrt jeglicher Logik. Vielmehr handelt es sich um eine üble theologische Verzerrung und Verunglimpfung des jüdischen Seder: Mit dem rituellen Bissen des ungesäuerten Brotes feiert die Judenheit symbolisch ihren übereilten Auszug aus der ägyptischen Sklaverei und ihren Aufbruch in die Freiheit. Mit der Abendmahlszene stehen wir deshalb vor einer perfiden theologischen Diffamierung des Judentums: Anstelle der Freiheit hält mit dem Seder-Bissen der Satan Einzug! Ausserdem widerspricht sich der Johannes-Evangelist selbst: Er erzählt dreimal, dass der Teufel in Judas gefahren sei, einmal in der Synagoge von Kapharnaum77, dann bei der Fusswaschung der zwölf durch Jesus, bevor er Judas den Bissen reicht78, und einmal als er ihm den Bissen reicht79. Bei Lukas fährt Satan bereits vor der Vereinbarung des Verräterlohnes in Judas ein, ohne Jesu Mitwirkung. Nach den synoptischen Berichten soll der eigentliche „Verrat“ vor dem Abendmahl stattgefunden haben, „Satan“ müsste also schon zu diesem Zeitpunkt in ihn gefahren gewesen sein.80 „Was du tun willst, tue bald“81, ruft Jesus bei Johannes seinem „Verräter“ zu, worauf dieser den Saal verlässt, ganz ungehindert. Kein einziger Jünger empörte sich über den Aufbruch zum „Verrat“, keiner versuchte ihn zu verhindern und kein Einziger verstand, warum Jesus das „Tue es bald“ zu ihm sagte.82 Die Exegeten haben es seit jeher als Aufforderung zum „Verrat“ aufgefasst – obschon das nirgends expressis verbis geschrieben steht. Deshalb gingen auch die Jünger nicht von einem Auf75 Jh.13,26. 76 Jh.13,27. 77 Jh.6,71. 78 Jh.13,2. 79 Jh.13,27. 80 Lk.22,3-6; vgl. Mt.26,14-16; Mk.14,10-11. 81 Jh.13,27. 82 Jh.13,28.

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bruch zum Verrat aus: „Einige meinten, weil Judas den Beutel hatte, spräche Jesus zu ihm: Kaufe, was wir zum Fest nötig haben! oder dass er den Armen etwas geben sollte.“83 Die Apostel dachten also nicht an „Verrat“, sondern an den Seder und an das Gebot der Zedaka, das Jesus sehr wichtig war. Bei den Synoptikern wird denn auch das Mahl nach Ankündigung des Verrats gemeinsam zu Ende geführt – nur der vierte Evangelist lässt Satan hier in Judas Iskarioth fahren. Auf diese Weise ist Judas zum Sündenbock geworden, in dem die nicht aufgeklärte Christenheit bald die Verkörperung aller widergöttlichen Kräfte sah.

Die Verwendung des „Verräterlohnes“ Aber auch die Verwendung des angeblichen Verräterlohnes von 30 Silberlingen ist in den Schriften der Christenheit widersprüchlich dargestellt und deshalb wenig vertrauenserweckend. Ihr Männer und Brüder, es musste das Wort der Schrift erfüllt werden, das der Heilige Geist durch den Mund Davids vorausgesagt hat über Judas, der denen den Weg zeigte, die Jesus gefangen nahmen; denn er gehörte zu uns und hatte dieses Amt mit uns empfangen. Der hat einen Acker erworben mit dem Lohn für seine Ungerechtigkeit. Aber er ist vornüber gestürzt und mitten entzwei geborsten, sodass alle seine Eingeweide hervorquollen. Und es ist allen bekannt geworden, die in Jerusalem wohnen, sodass dieser Acker in ihrer Sprache genannt wird: Hakeldamach, das heisst Blutacker …84

Hier wird also mit dem Verräterlohn ein Stück Land gekauft, während der „Verräter“ Judas bei Matthäus die 30 Silberlinge aus Reue zurückbringt und in den Tempel wirft85 – ein Beweis gegen die Historizität dieser neutestamentlichen Überlieferungen. Petrus seinerseits greift in Apg.1,18 auf ein alttestamentliches Motiv zurück: Der von Joab geküsste Amasa stirbt durch das Schwert Joabs, und seine Eingeweide treten heraus.86 Dieses legendär ausgestaltete Ende des Judas (Sturz, Zerbersten und Austreten der Eingeweide) zeigt schon das christliche Bedürfnis, den „Verrat“ bestraft zu sehen, eine Tendenz, die gemäss Apollinaris im Fragment des IV. Buches von Papias von Hierapo83 Jh.13,29. 84 Apg.1,16-19. 85 Mt.27,3-6. 86 2.Sam.20,10.

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lis (um 140n.) durch Verfaulen bei lebendigem Leibe noch eine Steigerung ins Unermessliche erfährt: Als hervorragendes Beispiel von Gottlosigkeit wandelte Judas in dieser Welt, der zu einem solchen Fleischesumfang angeschwollen war, dass er nicht einmal, wo ein Wagen leicht durchfährt, hindurchgehen konnte, ja nicht einmal allein die Masse seines Kopfes. Denn seine Augenlider, heisst es, seien dermassen angeschwollen gewesen, dass er überhaupt das Licht nicht sah, und seine Augen konnten auch nicht von einem Arzte mit Hilfe eines Augenspiegels erblickt werden; so tief lagen sie von der äusseren Oberfläche. Sein Schamglied erschien aber durch Missgestaltung überaus widerlich und gross, und es gingen dadurch aus dem ganzen Körper zusammenfliessend Eiterteile und Würmer zu (seinem) Schimpfe ab, allein schon durch die natürlichen Bedürfnisse. Als er dann nach vielen Qualen und Strafen an privatem Orte, wie es heisst, gestorben war, sei der Ort von dem Geruch bis jetzt öde und unbewohnt gewesen, ja es könne bis zum heutigen Tage nicht einmal einer an jener Stelle vorübergehen, ohne sich die Nase mit den Händen zuzuhalten. So stark erfolgte der Ausfluss durch sein Fleisch auch auf die Erde.87

Während sich Judas bei Matthäus erhängte, bei Petrus88 durch das Hervortreten der Eingeweide starb, entschwindet er bei Markus, Lukas und Johannes ohne böses Ende aus der Geschichte. Matthäus ist also derjenige, der den Suizid des Judas hinzugedichtet hat. Doch wenn es keinen Verrat gegeben hat, so kann es auch keinen Suizid aus dem Motiv der Reue über diesen Verrat gegeben haben. Damit ist der Matthäus-Evangelist einmal mehr als antijudaistischer „Märchendichter“ entlarvt, wie schon bei den Wehe-Rufen, dem Blutruf und den Antithesen, denn von einem Selbstmord des Judas wissen die anderen Evangelisten nichts. „Judas den Verräter“ hat es in der Geschichte nie gegeben, er ist der verteufelte Jude: Verrat an den Juden! Mit Blick auf den Johannes-Evangelisten empört sich Walter Jens zu Recht: … dass ein Mann es gewagt hat, den Kosmos in gut und böse, fromm und teuflisch, christlich und jüdisch zu teilen, in wir und sie, in weiss und schwarz? Ein Mann, der die Satansbrut in jenem Judas Gestalt werden liess, dem er – kalt und wohl überlegt – ein doppeltes Kainsmal einbrannte: das Zeichen des Verrats und das Zeichen des Wuchers…zwei Symbole, die 87 Zitiert nach: Hennecke, Edgar: Neutestamentliche Apokryphen, Tübingen 21924, S. 130; vgl. Hennecke, Edgar: Neutestamentliche Apokryphen, hrsg. von Wilhelm Schneemelcher, Bd. II Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 41971, S. 33. 88 Apg.1,18.

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Judas Iskarioth – bis in unsere Tage hinein: man denke an die Schmähschriften der deutschen Faschisten und die antisemitischen Traktate, die während des Konzils verteilt worden sind 89

– zum Stellvertreter der gesamten Judenschaft machten. Judas, der Schacherer, Inbegriff

der Zinstreiber im Ghetto. Judas, der Verräter: Sprecher eines Volkes, das Jesus preisgegeben hat und darum ausgerottet werden muss. Judas, der Teufelssohn, der die Teufelskinder die Teufelskunst lehrt …90

Auch wenn Judas keinen Verrat begangen hat und es die Kreuzigung Jesu in jedem Falle gegeben hätte, um zur Eingangsthese aus dem Roman zurückzukehren, so zeigt Amos Oz durch diese Formulierung doch eindrücklich auf, wie sehr die Juden unter der konstruierten Figur „Judas“ in christlicher Interpretation gelitten haben. Dieses Faktum ist unbestreitbar und in seiner Intention liegt der Autor zweifellos richtig.

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Darunter eine üble antisemitische Hetzschrift, die von einer Gruppe katholischer Geistlicher inkognito unter einem Pseudonym herausgegeben wurde: Pinay, Maurice: Verschwörung gegen die Kirche. Übersetzt aus dem italienischen Original, verbessert und ergänzt durch den Autor, Madrid 1963. Das Werk war für die geistlichen Väter des II. Vatikanischen Konzils gedacht und erschien 1962 in Italienisch, 1963 in Spanisch und Deutsch. Darin heisst es u. a., Jesus selbst sei Antisemit gewesen (S. XIV/XV). F. Heer fasst die Ansicht der anonymen Autoren so zusammen: „Die Synagoge war vor nahezu zweitausend Jahren weniger ein Tempel zur Verehrung Gottes, sondern vielmehr das Hauptquartier der gefährlichsten, mächtigsten Verbrecherbande aller Zeiten“ (zitiert nach Heer, Friedrich: Gottes erste Liebe. 2000 Jahre Judentum und Christentum. Genesis des österreichischen Katholiken Adolf Hitler, München/Esslingen 1967, S. 20). Jens, Walter: Der Fall Judas, Stuttgart 1975, S. 87–88. Hinzuzufügen wäre allerdings, dass nicht allein der vierte Evangelist ein Antijudaist ist: Matthäus steht ihm nicht nach.

RICHARD WAGNER, THE JEWS, AND ISRAEL A New Hypothesis Michael P. Steinberg

Richard Wagner did not call Parsifal, his final work, a music drama. Rather, he named it a Bühnenweihfestspiel: a festival play for the consecration of the stage. It premiered in his own festival house in Bayreuth in the summer of 1882, six months before his death in Venice in February 1883. Derived from the legend told by Chrétien de Troyes and Wolfram von Eschenbach, the story involves the reconsecration of the Holy Grail – the cup that held Christ’s blood – through the redemptive powers of a pure fool, an enfant sauvage, turned wise and chaste. The music is haunting and exquisite, with a distinct ambition of sonic sacredness: “the lack of melody itself sanctifies,” Friedrich Nietzsche sneered. Having been a pivot point for controversy, conflict, and bans, Parsifal shows us never­theless how re- and deconstructive moments run contrary to each other even within the work itself, touching on the level of musical composition, poetics and history. We might describe the haunting quality of Parsifal’s music as the desire for silence. In musical terms, silence is associated with both completion and death. In plot terms, the desire for death drives two principal protagonists: the disgraced Amfortas, heir designate as keeper of the Holy Grail, and Kundry, a fallen sorceress, who both live under the curse of unwanted life. Both are guilty of crimes – or rather sins. Amfortas’s sin was the sacrifice of the spiritual in favor of the sensual – the repetition of which Parsifal himself narrowly escapes. Kundry’s, more serious and more shocking, was to have witnessed the Crucifixion and laughed. But the desire for silence becomes confused with the violent act of silencing. There is a disingenuousness in this confusion, even a lie. The lie resides in the promise that the world will be reconsecrated, purged of the dissipating demons of modernity. The governing trope of the Holy Grail reinforces the enormity of the claim: the cup that held the blood of Christ is resanctified along with the world it represents. Christ is himself redeemed, according to the final chorus: Erlösung dem Erlöser/Redemption for the Redeemer. The question of what Christ requires redemption from is not answered. The answer may reside in the means of restoration: namely, the cleansing of culture of the element that spilled the blood:

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the Jews. The Jews, identified literally with bad blood, become the cultural pollutant preventing reconsecration. Parsifal’s claim to restore goodness in fact delivers the world to racism and exclusion. For this reason, contemporary productions have a notoriously difficult time obeying the plot’s directives to “allow” both Amfortas and Kundry to die, with the grace of redemption but also the sentence of total exclusion from the redeemed community. Wagner’s precise stage directions read: “Kundry sinkt, mit dem Blicke zu ihm auf, vor Parsifal entseelt langsam zu Boden/Kundry sinks, her gaze on Parsifal, soulless to the ground.” In Bayreuth in 1981, Wolfgang Wagner, sensitive perhaps to his grandfather’s excesses, had Kundry join the community of the monks. Nikolaus Lehnhoff in Zurich in 2004 had her accompany all of the monks on a collective march of exile out from Monsalvat. And yet, ambivalence remains. The leitmotiv of the Holy Grail, perhaps the work’s most central musical figure, is not original to Wagner but is rather a trope known as the “Dresden Amen.” Prior to Parsifal, it was used as a trope of similar significance in Mendelssohn’s Reformation Symphony. The upward, longing movement of the phrase can easily be heard as a musical longing for resolution, perhaps specifically the cultural resolution of Jewish assimilation to Christianity. This is presumably how Wagner would have interpreted Mendelssohn’s own musically encoded desire. Here as elsewhere, Wagner’s reading would be a mistake, as Mendelssohn’s Lutheranism was fully inhabited. For Mendelssohn, the Dresden Amen is a declaration of achieved cultural community and not a confession of longing. The Dresden Amen appears through the course of Parsifal, most densely during the Act 1 narrative of the faithful monk Gurnemanz, telling the story of the moral fall of Amfortas at the moment of his seduction by Kundry. But it also appears, ephemerally but to uncanny effect, at a most incongruous moment in Act 1, from the mouth of Kundry herself. Moments after her exhausted arrival in the sacred forest and her gift of balsam to the ailing Amfortas, one of Gurnemanz’s squires abuses her, asking why she crouches “like a wild animal/wie ein wildes Tier.” She replies, with dignity, “Are the animals not holy here?/Sind die Tiere hier nicht heilig?” The complex utterance indicates her knowledge of Monsalvat and its rules (setting the stage also for the sacrilegious kill of a swan that will announce Parsifal’s arrival). But Wagner here allows Kundry’s music to inhabit the musically sacred figure of the Dresden Amen, now associated with the Holy Grail. This may indicate that even she is deserving of redemption, or, more cynically still, that she knows how to imitate local discourse, the way the most dangerous Jews (according to anti-Semitic claims) are able to pass as Germans. But the moment’s emotional constitution speaks to a certain sincerity in the work’s

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deployment of the phrase, as if to say “Listen to this woman!” Wagner does produce Kundry so that he can silence her, but he also wants to listen to her. Here he himself resembles the Wanderer (Wotan) in Siegfried Act 3, awakening his consort Erda so that he can order her to go back to sleep. Erda and Kundry share a kind of wisdom, and the Wanderer and Wagner alike betray their own desire to proceed – in the words of the Norns – “Down . . . To Mother/Hinab . . . zur Mutter.” Kundry is both fallen woman and wandering Jew. By allowing her – however momentarily – to speak, and to speak truth, Wagner enters the aporia in his own ideological apparatus. In a flash of uncanny self-disclosure, he becomes the wandering Jew Mendelssohn (as he described him in Judaism in Music in 1850) so that he might listen to the wandering Jewess Kundry. Amfortas’s wound is the condition of modernity. The closing of the wound – the promise of Parsifal and Parsifal – amounts to the end of pain and the end of history; also the end of music and the end of listening. Amfortas’s wound is of the body and body politic in the same way that the voice is of the body. The curse and promise of modernity, however, is the need for subjectivity to reconstitute itself continuously. In this respect, the bureaucratic mentality is the enemy of a mobile, imaginative subjectivity. The modern ego rebels against the command to be am Amt [at one’s post, on the job]. When being am Amt is confused with solidarity (in Emile Durkheim’s sense of the integration of the self with the community), then the inability to be am Amt is the wound that anti-Semitism blames on the Jews. To be am Amt means, however, to be a Beamter, a functionary, to participate in the self-sacrifice of subjectivity. Amfortas’s inability to perform his duty is the refusal to be am Amt: the refusal he expresses to his father Titurel. Titurel, in turn, has no patience for his son’s personal crisis, or for his symptomatizing of a modern crisis, for that matter. Amfortas exemplifies the Wilhelmine son: the incapacitated, over-sensitive heir to a grossbürgerlicher father, titan, regent: Max Weber, Daniel Paul Schreber, Aby Warburg, Frederick III. of Prussia, Crown Prince Rudolf of Austria. This generation suffers from a burden that their fathers didn’t have: the command to choose an identity and a way of living correlative to and compatible with the official culture of the German Empire. Masculinity and respectability are now no longer civic virtues but imperial ones. Amfortas’s alienation is not only generational, though. It is also cultural. Like Wagner himself, Amfortas is out of place as a Saxon Protestant trapped in a Catholic baroque play. His refusal to perform the ritual of the Grail must be taken seriously not merely as a sign of incompetence but as the very refusal of theatricality. In this Bühnenweihfestspiel, it is the stage, the Bühne, to which he objects most. Living with the

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wound as an aspect of sensation and interiority, he refuses to honor its visual correlative in the (bleeding) vessel, the Grail itself. (Wagner followed the false etymology of the Grail as conflation of “sang réal” – royal blood.) The evolution of German Protestantism, as Heinz-Dieter Kittsteiner and others have argued, corresponds to the internalization of conscience and the increasing suspicion of representation.1 For Mary Douglas, the Protestant rejection of magic as a kind of repetition of the ancient Hebrew rejection of paganism included also the English and Scots: “In a sense magic was to the Hebrews what Catholicism was to the Protestants, mumbo-jumbo, meaningless ritual, irrationally held to be sufficient in itself to produce results without an inner experience of God.”2 Interiority resists mimetic display. The wound cannot be represented. Titurel wants to see the Grail. In his father’s house, Amfortas’s duty to care for the Grail, which he wants to disavow, is identical to its visualization, to its revelation (“Enthülle den Gral/Reveal the Grail!”). Dmitri Tcherniakov at the Berlin State Opera had the monks become abusive to Amfortas, unwrapping his bandages in the demand to see the wound, as if to confuse it with the Grail itself as a carrier of holy blood. Here and generally, the suffering Amfortas recoils from the demands of the theater, from the spotlight –Lichtstrahl – that descends onto the ritual object. Thus the passage from father Titurel to son Amfortas embodies the passage from mid-century grand bourgeois to fin-de-siècle decadent, but it reinscribes as well the early history of modernity, which German historiography consistently places in the passage from Catholicism to Protestantism, from ritual magic to human isolation from the divine, from ideologies of seeing to subversive, invisible interiorities: regimes of the ear and the wound. The early Protestants’ assertion of human isolation from the divine enabled, unintentionally, the take-off of the secular. Such is the argument of Max Weber’s aporetic masterpiece The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism, with its definition of modernity, taken ultimately from Friedrich Schiller, as the disenchantment of the world. Weber began to work on this project upon his emergence from the years of psychic dysfunction that followed the death of his father. He thus lived the modern disenchantment through which the fin-de-siècle generation recapitulated the general history of modernity. The tragic irony of the modern – the iron cage, in Weber’s formulation – is disenchantment’s simultaneous restoration of interiority and its second loss through rationalization and bureaucracy. As in the case of the repeated subjection of Brünnhilde – by Wotan, by Siegfried, by Wagner – music drama ends up a symptom of the bureaucratic side of modernity. 1 2

Kittsteiner, Heinz-Dieter: Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a. M. 1991. Douglas, Mary: Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, London 1966, p. 18.

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Music drama rationalizes and systematizes the transgressive energy of opera and the voice. Leitmotivic writing becomes – or, rather, can become – composition by administration, especially so in the scholarship that takes von Wolzogen’s catalogue of leitmotivs as a guide to music and music drama. The voice remains the instrument of the siren and the prophet, of both truth and hallucination. It is also the voice of the citizen, the voice of the individual’s disclosure to the polis, in Hannah Arendt’s formulation. Max Weber’s reclassification of the pre-rationalized and the rationalized modes of political power into the charismatic and the bureaucratic carries as well his own political and theoretical refusal to choose between charism and bureaucracy as the carriers of political legitimacy. As he decries the iron cage of law and bureaucracy, he prepares himself to re-enter the public sphere as a framer of the Weimar constitution. At the traumatic moment of transition from empire to republic, Weber is again am Amt. The refusal to choose between charisma and bureaucracy includes the refusal to produce their synthesis, their resolution, their transcendence. Weber died suddenly in 1920. It would do no harm to rehistoricize the long Weimar decade of 1920 to 1933 as the struggle between Weberian principles and Wagnerism. Parsifal’s is a politics of purity and purification, amounting fairly accurately to our contemporary category of ethnic cleansing. The argument is unavoidably internal to the work. Here the work’s unique performance history comes into pertinent play as well. To underscore the sanctity of Parsifal as a Bühnenweihfestspiel, Wagner instructed in his will that it should be performed – or rather celebrated – only in Bayreuth. This triple consecration – of the work itself, the house of Bayreuth, and the German nation, now empire – statutorally combined ethnic cleansing with nationalism and imperialism. After his death in 1883, six months after the premiere of Parsifal, Cosima Wagner enforced her husband’s wish with ferocity, until the Metropolitan Opera challenged her in 1903 (citing the United States twenty-year statute of limitations from the date of Wagner’s death) in an assault on the Grail that Cosima attributed to the Jewish origin of its general manager, Heinrich Conreid, né Cohn.3 “Danger,” Mary Douglas writes in her classic study Purity and Danger, “lies in marginal states.” She cites Arnold van Gennep for the “sociological insight” that understood society itself “as a house with rooms and corridors in which passage from one to another is dangerous. Danger lies in transitional states, simply because transition is neither one state nor the next, it is undefinable. The person who must pass from one 3

See Gutman, Robert: Richard Wagner. The Man, His Mind, and His Music, New York 1966, p. 409. There were several isolated European performances outside of Bayreuth prior to 1903. See Barry Millington’s entry “Parsifal” in The New Grove Dictionary of Opera III, London 1992, p. 891.

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to another is himself in danger and emanates danger to others. The danger is controlled by ritual which precisely separates him from his old status, segregates him for a time and then the publicly declares his entry to his new status.”4 This is the kind of portentous transition that Gurnemanz has in mind as he decides to guide the enfant sauvage Parsifal to Monsalvat with the words “Du siehst mein Sohn: zum Raum wird hier die Zeit/You see, my son, here time becomes space.” Claude Lévi-Strauss characterized this moment as “probably the most profound definition that anyone has ever offered for myth.”5 For Douglas, presumably, the achievement of myth would be the goal or wish of the transitional state: the achievement of space and stability as the resolution of time and flux. In musical terms, again, this is the “achievement” of silence as the mark of resolution. The pulse of history, however, is marked by the continuity of transitional states. Thus the etymology of the word secular as ordinary, earthly time. The “end of history” is itself a myth of resacralization, on the way to which the “post-secular” is presumably the final stage of transition. At the same time, as the disenchantment with disenchantment, the post-secular is itself a fundamentally secular phenomenon. With Parsifal, Wagner stands as a prime inventor of the post-secular. Tristan’s hint in that direction, if we follow Kerman, remains palpable but non-viable, as it ends only in personal death. The Ring, in its inscription of history as cyclical or circular, defies such sacralization. Siegmund’s crime – and the motivator of the punishment that cannot be countermanded for fear of social collapse – involves the multiple taboos of social marginality and instability: adultery, incest, and perhaps Jewishness. These observations may bring us, finally, to a diagnosis of a contemporary issue. When Bronislav Huberman, the founder of the Palestine Symphony, persuaded Arturo Toscanini to conduct its inaugural concerts in Tel Aviv in December 1936, they placed the prelude to Wagner’s Die Meistersinger von Nürnberg on the program. Some three thousand people attended, including the British High Commissioner Arthur Wauchope, Chaim Weizmann, David Ben Gurion, Golda Meir, and Meir Dizengoff, Tel Aviv’s first mayor. In December 1938, the orchestra removed the same piece from a concert program in the aftermath of the Kristallnacht terror of November 9. That gesture held. In the period following the Holocaust, the declaration of the state of Israel in 1948, and the transition of the Palestine Symphony into the Israel Philharmonic, the public performance of Wagner in Israel solidified as a cultural taboo. The taboo has 4 5

Douglas, Purity, p. 97. Lévi-Strauss, Claude: From Chretien de Troyes to Richard Wagner, in: Lévi-Strauss, Claude: The View from Afar, New York 1957, p. 219.

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intensified over time, extending to several failed proposals to the Knesset to elevate the taboo into national law.6 Carefully calibrated attempts by Daniel Barenboim, Zubin Mehta, and the Israel Philharmonic to introduce Wagner to local audiences in small and non-political doses (with music from Tristan und Isolde offered as optional encores to non-subscription concerts) have failed to gain traction due to extensive post-facto publicity and opposition. The taboo is kept alive by the correct identification of Wagner with the onset of racialized Anti-Semitism, by the dubious association of Wagner with the Third Reich (often grounded in the false assertion of their simultaneity), and by the citation of and respect for traumatic repetition on the part of survivors who do, correctly or not, associate Wagner with the Holocaust. More generally, however, the anxieties of race and racial thinking, in Wagner and beyond, amount to an anxiety about the sources and boundaries of identity and selfhood – the individual self and the collective or indeed national self. Wagner’s musical-dramatic world, replete as it may be with racial thinking and even racist stereotyping, contains an equally powerful deconstructive element which displaces such ideology with a more convincing foray into critical and self-critical depths. (The self-criticism I refer to here emerges at the level of the work, not the man; in the music dramas, not in the essays.) Wagner’s musical, dramatic, and critical depths are both experiential and analytical. If Beethoven freed music, Wagner took music into the depths of the unconscious, the forbidden dimension of the human psyche which artists recognized, so Sigmund Freud said, before he mapped it scientifically. The unconscious is dangerous. Wagner’s music is thus equally dangerous, for what it finds there, what it duplicates, what it handles critically. Wagner occupies both sides of modernism: the absolutist side, which in his case begins with the “absolute music” (Wagner coined the term) of Beethoven and metastasizes into fantasies of absolute myth and absolute culture; and the critical, deconstructive side which drives meaning and knowledge according to expectations of multiplicity and infinite variation. The abiding Israeli taboo, finally, can be understood in two dimensions, paralleling the two dimensions of Wagner. First and openly, the taboo universalizes and rejects Wagner’s anti-Semitism, painting it with too broad and monotonic a brush. But, second, the taboo results, I would argue, from the challenge that Wagner’s self-critical, deconstructive energy poses to arguments of sacralization, and specifically to the resacralization of modernity and modern societies. It is, finally, Wagner’s critique of the post-secular that proves a threat to mainstream Israeli discourse. The Wagner taboo 6

The taboo is well chronicled in Sheffi, Na’ama: The Ring of Myths. The Israelis, Wagner, and the Nazis, Sussex 2013.

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emerges as a symptom of anxiety about the nation itself: the national self that wishes to equate the Israeli with the Jewish as authentic and equal marks of citizenship, despite the multiple historical and legal impediments to that desire, including the legal citizenship the non-Jewish, mostly Arab, citizens of Israel who compose twenty per cent of the population. This imagined community would wish to transcend the political, itself understood as the continuous negotiation of instabilities and transitions. The instability of Wagner threatens more than the ideology: the inner tensions and contradictions among the claims to purity and the recognitions of reality, ambiguity, and danger, with the claim to purity amounting to the deepest danger of all.

DAS GLÄSERNE ZENTRUM Bilder vom jüdischen Leben in Edward Steichens Family of Man-Ausstellung (1955) Ulrike Gehring

Im Jahr 1783 beklagt der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn, dass die amerikanische Verfassung schon vor ihrer Verabschiedung durch den Kongress einen besorgniserregenden Konstruktionsfehler aufweise.1 Indem der Entwurf von „einer herrschenden Religion“ spreche, ohne den Pluralismus der Kulturen und Religionen anzuerkennen, sei die notwendige Trennung von Staat und religiösen Institutionen nicht gegeben.2 Früh erkennt Mendelssohn damit einen von Jacques Picard aufgezeigten Widerspruch, der in der Ausgestaltung der Verfassung später nicht mehr auftaucht, den amerikanischen Gründungsmythos aber bis heute prägt. Obwohl die Vereinigten Staaten bis heute zwischen Staat und Religionen strikt trennen, wird das Entstehen der amerikanischen Nation gleichwohl religiös (biblisch) begründet; ein Umstand, den Jacques Picard 2006 zum Anlass nimmt, um über das Diasporaverständnis in der amerikanisch-jüdischen Gesellschaft der Gegenwart nachzudenken.3 Dabei zeigt die Analyse verschiedener Inauguralreden amerikanischer Präsidenten, dass „der Topos von der ‚Auserwählten Nation‘ als Ersatz für das Fehlen einer gemeinsamen Geschichte und die Tatsache der verschiedenartigen Herkunft“ dient.4 Inwiefern aus dieser spezifisch amerikanischen Konstellation in Zeiten des Kalten Krieges nicht nur moralische, sondern auch hegemoniale Forderungen erwachsen, kann an Edward Steichens berühmter Family of Man-Ausstellung nachvollzogen werden. Die 1955 am Museum of Modern Art eröffnete Fotoausstellung präsentiert das umfassende Portrait einer globalen Menschheitsfamilie. Die zentrale Botschaft von der Gleichheit aller Menschen, ungeachtet ihrer Rasse, Herkunft oder Religion wird dabei mit der Forderung nach einer pluralistischen Gesellschaft verknüpft, mit der die 1

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Siehe hierzu die Ausführungen von Picard, Jacques: Homeland America: der amerikanisch-jüdische Diasporabegriff zwischen säkularer Pluralisierung und mythischer Überhöhung, in: Eidherr, Armin (Hg.): Diaspora – Exil als Krisenerfahrung: jüdische Bilanzen und Perspektiven, Klagenfurt 2006, S. 67–82, hier S. 70. Mendelssohn, Moses: Schriften zum Judentum, in: Altmann, Alexander (Hg.): Gesammelte Schriften (Jubiläumsausgabe, Bd. 8), Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, S. 156. Picard, Homeland, S. 71. Picard, Homeland, S. 71.

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Wanderausstellung in Europa für mehr transkulturelles und transreligiöses Verständnis wirbt. Max Horkheimer greift diesen Apell auf, wenn er in seiner Eröffnungsrede zur Family of Man-Ausstellung im Frankfurter Amerika-Haus 1958 die ‚message‘ als spezifisch amerikanisch beschreibt: „Wollte man den Unterschied [zwischen Europa und den USA, Anm. d. Verf.] bezeichnen, so wäre vielleicht festzustellen, dass in Amerika das Bewusstsein von der Verwandtschaft aller Menschen, von ihrer Brüderlichkeit, wahrscheinlich aus der noch recht lebendigen Tradition der frühen Siedler sowie aus dem Gefühl der gemeinsamen Herkunft von vielen Ländern in der einen Heimat“5 schon lange existiert. Tatsächlich sollte sich der Toleranzgedanke in der universellen Sprache der Fotografie und einer klug inszenierten Bildfolge mitteilen, um daran zu erinnern, dass alle Erdenbürger dieselbe Würde besitzen und einer ‚gemeinsamen Natur‘ entstammen. Was vielen Besuchern seinerzeit Hoffnung spendete, widersprach in den Augen Roland Barthes’ der Vorstellung eines „fortschrittlichen Humanismus“.6

Edward Steichen und die Family of Man-Ausstellung 1942 trat der in Luxemburg geborene und ab 1881 in Amerika lebende Fotograf und Maler Edward Steichen der U.S. Navy bei, bevor er 1945 die Leitung des U.S. Naval Photographic Institute übernahm. Nur zwei Jahre später wechselte er ans New Yorker Museum of Modern Art (MoMA), wo er der Fotoabteilung als Direktor vorstand. In dieser Funktion konzipierte er ab 1951 eine Ausstellung, die nach den Erlebnissen des Zweiten Weltkriegs das Bild einer besseren, zukunftsweisenden Welt zeichnen sollte. Die als Family of Man-Ausstellung in die Geschichte eingegangene Werkschau reiste im Anschluss an ihre New Yorker Station nach Berlin und 90 weitere Orte.7 Finanziert wurde die kostspielige Ausstellungstournee von dem United State Information Service (USIS), der an Steichens kuratorischem Konzept großes Interesse zeigte. Als „Paradebeispiel der ‚Kultur-Diplomatie‘ des Kalten Krieges“ tourte die Family of Man-Ausstel5

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Horkheimer, Max: Eröffnung der Photo-Ausstellung The Family of Man – Wir alle. Rede anlässlich der Eröffnung der Ausstellung in Frankfurt am Main, 25.10.1958, unveröffentlichtes Manuskript. Ich möchte an dieser Stelle Prof. Dr. Gerd Hurm (Trier) für die Überlassung des Skriptes danken, das Gegenstand seiner in Vorbereitung befindlichen Publikation ist: Hurm, Gerd/Reitz, Anke/Zamir, Shamoon (Eds.): Revisiting Edward Steichen’s The Family of Man. Photography and Humanism in the Global Age, London 2017 (in print). Barthes, Roland: La Grande Famille des Hommes, in: Barthes, Roland: Mythologies, Paris 1957. Wiederabdruck in: Back, Jean/Schmidt-Linsenhoff, Viktoria (Hg.): The Family of Man 1955–2001. Humanismus und Moderne: Eine Revision von Edward Steichens Fotoausstellung, Marburg 2004, S. 273–274, hier S. 273. Orvell, Miles: American Photography. Oxford History of Art, Oxford 2003, pp. 118–119.

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Ezra Stoller: Blick in die Ausstellung im Museum of Modern Art. 1955 @ESTO, aus: Harley (Jr.), Ralph L.: Edward Steichen’s Modernist Art-Space, in: History of Photography 14/1, 1990, S. 9.

lung zwischen 1955 und 1963 durch 38 Länder auf vier Kontinenten, um schließlich von mehr als 9 Millionen Besuchern gesehen zu werden.8 Ihren letzten Standort fand sie in Luxemburg, wo sie auf Schloss Clervaux heute dauerhaft präsentiert wird.9 Die entscheidende Frage, die Steichens Präsentation damals wie heute an den Besucher richtet, ist die nach dem Wesen des Menschen. Was macht den Einzelnen gegenüber einem Anderen aus und worin liegen die Gemeinsamkeiten jenseits von Hautfarbe und Rasse? Der Kurator sucht die Antwort in einem Konvolut aus über zwei Millionen Fotografien, bevor er 503 Aufnahmen von 273 Fotografen auswählt. Nach Themen geordnet werden diese in 37 Sektionen vorgestellt. Unter Aussparung des Künstlernamens werden lediglich die Aufnahmeorte (Länder) erwähnt. Die Autor8 9

Schmidt-Linsenhoff, Viktoria: Verleugnete Bilder. The Family of Man und die Shoa, in: Back/Schmidt-Linsenhoff (Hg.), Family, S. 80–99, hier S. 90. 1994 ging die Ausstellung als Geschenk der USA an das Großherzogtum Luxemburg. 2003 wurde die Dauerausstellung zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt. Zu den Hintergründen der Ausstellungstournee seit 1955 siehe: Solomon-Godeau, Abigail: The Family of Man. Refurbishing Humanism for a Postmodern Age, in: Back/Schmidt-Linsenhoff (Hg.), Family, S. 28–55.

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schaft der Fotografen wird der kuratorischen Idee Steichens untergeordnet, mit der Folge, dass der Besucher weder den Bildschöpfer noch die Identität des Abgebildeten eindeutig identifizieren kann. In dichter Folge wechseln spontane Momentaufnahmen (Pariser Straßenleben, Tanzcafés oder Kinderspiele) mit intimen Nahsichten (Liebe, Sexualität, Geburt) und historischen Bilddokumenten (Atompilz, Warschauer Ghetto, amerikanische Landbevölkerung zur Zeit des New Deal).10 Unverglast und ohne Rahmen appellieren die in Größe und Format stark divergierenden Aufnahmen an eine Art Urgefühl, das im empathischen Nachvollzug eine verbindende, sich über nationale Kategorien hinwegsetzende Wirkung entfalten soll. Mit der Bereitschaft, sich in das Schicksal des Anderen einzudenken, können nach Steichens Auffassung die Grenzen zwischen hier und dort, zwischen vertraut und fremd sowie schuldig und schuldlos überwunden werden. Vor diesem Hintergrund wird auch die von Paul Rudolph entworfene Ausstellungsarchitektur verständlich, die von ein und demselben Standpunkt unterschiedliche Blickperspektiven eröffnet.11 Welche Auslassungen, Überzeichnungen oder religiösen Klischees gleichwohl bemüht werden, kann eine Auswahl an Szenen aus dem jüdischen Alltagsleben belegen.

Das jüdische Leben in Steichens Menschheitsgeschichte Wie viele Bilder in der Family of Man-Ausstellung direkt oder indirekt vom jüdischen Leben berichten, lässt sich schwer ausmachen. Auch kann der biographische Hintergrund einzelner, im kunsthistorischen Kanon heute weitgehend vergessener Fotografen nicht mehr ohne größeren Rechercheaufwand geklärt werden. Mit einiger Gewissheit kann jedoch angenommen werden, dass von den 273 Fotografen mindestens 30 jüdischer Abstammung sind. Unter ihnen finden sich prominente Vertreter wie beispielsweise Israëlis Bidermanas (Izis), Robert Capa, Cornell Capa, Roman Vishniac, Alfred Eisenstaedt, Margaret Bourke-White, Allan und Diane Arbus, Eve Arnold, 10

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Zum Aufbau der Ausstellung siehe: Turner, Fred: The Family of Man and the Politics of Attention in Cold War America, in: Public Culture 24/1 (2012), pp. 55–84, here p. 66; Borhi, László: Rollback, Liberation, Containment, or Inaction? U.S. Policy and Eastern Europe in the 1950s, in: Journal of Cold War Studies 1/3 (1999), pp. 67–110; Fußmann, Klaus: Eine Kunst kam aus Amerika. Der Abstrakte Expressionismus und die CIA, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 158, 11. Juli 1998, S. 3; Harley, Jr., Ralph L.: Edward Steichen’s Modernist Art-Space, in: History of Photography 14/1 (1990), pp. 1–22, here p. 13; Gehring, Ulrike: The Family of Man and Post-War Debates about American Art, in: Hurm /Reitz/Zamit (Eds.), Revisiting. Steichens inszenierte Multiperspektivität bezeichnet Morris-Suzuki als „a kaleidoscopic maze of images“. In: Morris-Suzuki, Tessa: The Past Within Us. Media, Memory, History, London 2005, p. 110.

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445 Israëlis Bidermanas (gen. Izis), Junge auf jüdischem Friedhof St. John, London, 1952. Reproduktion aus: AK, Steichen, Edward/Sandburg, Carl: The Family of Man, MoMA, New York 1955, S. 138.

Richard Avedon, Lou Bernstein, Joseph Breitenbach, Reva Brooks, Nat Farbman, Clemens Kalischer, Dmitri Kessel, Leon Levenstein, Helen Levitt, Sol Libsohn, Herbert List, Sanford Roth, David Seymour, Ben Shan und Garry Winogrand.12 Die Aufstellung der beteiligten jüdischen Künstler bleibt jedoch ähnlich unvollständig wie die Auswertung vermeintlich jüdischer Motive. Zu ihrer Identifikation bedarf es eindeutiger Hinweise, sichtbarer Zeichen, religiöser Symbole oder kulturell 12

Eine Übersicht der an der Ausstellung beteiligten Fotografen findet sich in: Steichen, Edward/Sandburg, Carl: The Family of Man. The Museum of Modern Art, New York 1955. Photographs documenting the complete original exhibition at MoMA: https://www.moma.org/calendar/exhibitions/2429?locale=en (08.02.2017); Liste der an der Ausstellung 1955 beteiligten Fotografen nach Ländern und Sektionen geordnet: https://www. moma.org/d/c/checklists/W1siZiIsIjMyNTk2MiJdXQ.pdf?sha=3c5c52fc46475704 (27.12.2016).

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eindeutig zuschreibbarer Handlungen. Fehlen diese, verlieren sich die Spuren in den Bildern in ähnlicher Weise, wie wenn die Protagonisten sich ihrem gesellschaftlichen Umfeld in Kleidung und Lebensstil bis zur Ununterscheidbarkeit angepasst haben. Einem solchen Graubereich gehört beispielsweise die Aufnahme des litauisch-französischen Fotografen Israëlis Bidermanas (gen. Izis) an. Sie zeigt einen Jungen in schwarzer Hose, hellem Hemd und Wolljackett, der auf einer umgekippten Grabplatte steht und irritiert auf das vor ihm liegende, vermutlich geschändete Gräberfeld blickt. Ob es sich dabei um einen jüdischen Friedhof handelt, bleibt in Steichens Präsentation unklar, zumal auf den wenigen noch aufrecht stehenden Mazewot kein Stein zu finden ist. Erst die Kontextualisierung des Fotos innerhalb des Gesamtwerks des Künstlers zeigt, dass die Aufnahme Teil einer Serie ist, die Izis 1952 vom jüdischen Friedhof St. John, in Wapping, East London gefertigt hat. Blendet Steichen die Information über den Aufnahmeort und die Aufnahmezeit aus, bleibt er dem Besucher die Antwort schuldig, wofür die gewaltsam herbeigeführten Bruchstellen der umgestürzten Grabplatten stehen. Im Umkehrschluss verleiht er dem Foto eine interpretatorische Offenheit, die über das dargestellte Verbrechen hinaus grundsätzlich den respektvollen Umgang mit Kultstätten fordert. Motiv und Künstler werden gleichsam zu Stellvertretern, wenn der Ort für alle Orte steht, an denen Grabsteine zum Gegenstand von Vandalismus werden und der Fotograf Izis zum Repräsentanten einer Generation wird, deren gesamtes Leben von den Auswirkungen des (deutschen) Antisemitismus geprägt war. Vielleicht erklärt diese Platzhalterfunktion, warum Steichen bei der Betitelung der Aufnahme von seiner kuratorischen Norm abwich und statt der Länderbezeichnung des Aufnahmeortes (Großbritannien) das Land benannte, in dem Izis eine neue Heimat gefunden hatte: „France, Izis“.13 Zu den vagen Zuschreibungen jüdischer Motivik zählen in der Family of Man-Ausstellung Bilder einer russischen Bauernfamilie, die vor einem Laib Brot sitzt, und einer israelischen Kindergärtnerin, die ausgelassen mit den ihr anvertrauten Kindern im Kreis tanzt. Beiden eher versteckten Hinweisen stehen eindeutige Motive gegenüber, die ein recht traditionelles Bild jüdischer Kultur und Geschichte entwerfen. Gemeint sind Fotos jüdischer Schüler, welche die Thora oder den Talmud studieren, sowie historische Aufnahmen, die den Warschauer Ghetto-Aufstand vom Mai 1943 dokumentieren. Dem in die Zukunft weisenden Akt des Unterrichtens und Ausbildens wird der finale Akt der Vernichtung des Judentums gegenübergestellt. Zwischen beiden klafft eine Lücke, die erst in der Spiegelung der Motive Sinn generiert. 13

Steichen/Sandburg, Family, p. 138.

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Roman Vishniac: Polnische Schulklasse, ca. 1938. Reproduktion aus: AK, Steichen, Edward/ Sandburg, Carl: The Family of Man, MoMA, New York 1955, S. 122.

Margaret Bourke-White: Thora-Schule in der Tschechoslowakei, 1937. Reproduktion aus: AK, Steichen, Edward/Sandburg, Carl: The Family of Man, MoMA, New York 1955, S. 158.

Roman Vishniacs Portrait einer polnischen Schulklasse und Margaret Bourke-Whites Aufnahme dreier tschechischer Talmud-Schüler gehen auf das Lesen und die zentrale Bedeutung dieser Kulturtechnik für das Judentum ein. Derweil die noch jungen Schüler bei Vishniac unter dem Zeichen des Judensterns den Anweisungen des Rabbi folgen, wenden die älteren Talmud-Schüler in Bourke-Whites Aufnahme das Wissen bereits an. Sie nutzen ihre Fähigkeit zum Bibel-Studium, zum vergleichenden Lesen und Interpretieren der talmudischen Regeln. Dieser kontinuitätssichernden, heilen Welt stehen drei erschütternde Aufnahmen sowie ein erläuterndes Zitat von George Sand entgegen.14 Zwei der Bilder thematisieren die Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Ghetto. Beide Aufnahmen entstammen dem sogenannten Stroop-Bericht, einer von den Amerikanern für die Dachauer Prozesse zusammengestellten Akte über den deutschen SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS. Dem Bericht liegen Bilder bei, die der Angeklagte Stroop bei der Räumung des Ghettos am 16. Mai 1943 angeblich selbst aufgenommen hat. Was dem Fotografen als Beweis für seine erfolgreiche Befehlsausübung diente, schrieb sich dank der großen Verbreitung der Aufnahmen später ikonengleich in das kollektive Bildgedächtnis ein: Es sind die Bilder vom brennenden Ghetto, dem Männer, Frauen und Kinder zu entfliehen versuchen sowie 14

Das mit drei Auslassungspunkten beginnende Zitat George Sands lautet: „... Humanity is outraged in me and with me. We must not dissimulate nor try to forget this indignation which is one of the most passionate forms of love.“, Steichen/Sandburg, Family, pp. 166–167.

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Jürgen Stroop: Warschauer Ghetto-Aufstand, Flucht aus brennendem Ghetto, 1943. Reproduktion aus: AK, Steichen, Edward/Sandburg, Carl: The Family of Man, MoMA, New York 1955, S. 166–167.

Jürgen Stroop: Abtransport von Frauen und Kindern nach Niederschlagung des Aufstandes, 1943. Digital bei Wikipedia, © gemeinfrei.

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Blick auf Themeneinheit Nr. 28 mit Aufnahme von Anna Riwkin-Brick. Reproduktion aus: Back, Jean/ Schmidt-Linsenhoff, Viktoria (Hg.): The Family of Man 1955–2001, Humanismus und Moderne: Eine Revision von Edward Steichens Fotoausstellung, Marburg 2004, S. 85.

das Portrait eines kleinen Jungen, der mit erhobenen Händen in die Gewehrläufe der deutschen Wehrmacht blickt. Beide Fotos ergänzt Steichen mit einer dritten Aufnahme von der jüdischen Photographin Anna Riwkin-Brick. Sie lichtet 1951 in Israel eine klagende Frau ab, deren himmelgreifende Geste von einem verzweifelten Schrei unterlegt ist. Warum diese drei ungleichen Fotos in Steichens Family of Man eine Schlüsselposition einnehmen, zeigt die jüngere kunsthistorische Forschung.

Zur Repräsentation der Shoa in der Ausstellung Mit dem Erscheinen von Jean Backs und Viktoria Schmidt-Linsenhoffs Tagungsband verändert sich 2004 der Blick auf Steichens Bilderzählung.15 Die Herausgeber und Autoren vermuten in der linearen und mit Nummern versehenen Abfolge der Ausstel15

Back/Schmidt-Linsenhoff (Hg.), Family.

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Grundriss und Synopsis der Family of Man-Ausstellung, MoMA, New York, 1955. Reproduktion aus: Back, Jean/Schmidt-Linsenhoff, Viktoria (Hg.): The Family of Man 1955–2001, Humanismus und Moderne: Eine Revision von Edward Steichens Fotoausstellung, Marburg 2004, S. 82

lungsräume (1–37) sowie den aufeinander aufbauenden Handlungsmotiven eine heilsgeschichtliche Logik. Danach setzt die teleologische Entwicklung mit der biblischen Schöpfung ein (Licht, Kosmos, Wasser, Erde); Es folgt die Erschaffung des Menschen (Geburt, Hochzeit, Fami-

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lie, Tod) mit allen seinen Tätigkeiten (spielen, lernen, arbeiten, beten, kämpfen) und kulminiert in der in Aussicht gestellten Erlösung (Wiedereintritt in das ‚Paradies‘, Licht). Kulturelle, ethnische oder soziale Unterschiede werden innerhalb der Menschheitsfamilie nivelliert und im nächsten Schritt mit Naturkatstrophen oder historischen Verbrechen auf eine Ebene gestellt.16 So folgen auf Hungersnöte in Sektion 27 (hard times and famine) Bilddokumente zum Völkermord an den Juden in Sektion 28 (Man’s inhumanity to man). Die im Kontext der Kritischen Theorie von Theodor W. Adorno formulierte Frage, ob und wie sich der „Zivilisationsbruch von Auschwitz“ ästhetisch darstellen oder literarisch dokumentieren ließe, beantwortet Steichen auf ungewöhnliche Art und Weise.17 Indem er gerade nicht die Schreckensbilder aus deutschen Konzentrationslagern zeigt und die abgemagerten und auf Güterwagen gestapelten Leichen ausblendet, verbleibt das eigentliche Zentrum der Ausstellung – nach Schmidt-Linsenhoff – leer. Die Menschheitskatastrophe des 20. Jahrhunderts, die Shoa, wird in der Family of Man-Ausstellung weitgehend ausgespart. Als Grund mutmaßt Schmidt-Linsenhoff, dass die „opulenten Bildkaskaden [...] die kulturellen Unterschiede zwischen den Mitgliedern der globalen Menschheitsfamilie nur entfalten, um deren wesenhafte Gleichartigkeit zu beweisen“ und „ein Weiterleben nach Auschwitz möglich zu machen“.18 Folgt man dieser Lesart, dokumentiert Steichen die Verbrechen der Shoa, um sie in der Folge „in einen Triumph des Widerstandes und der Menschlichkeit“ zu wenden. „Mit der zentralen Deutungsmetapher der universalen ‚Menschheitsfamilie‘ beantwortet die Ausstellung die Fragen, die ‚Auschwitz als Zivilisationsbruch‘ aufwirft, ohne sie explizit stellen zu müssen.“ Sie „widerlegt [...] die Schreckensbilder aus den befreiten Konzentrationslagern, ohne sie zu zeigen. Der unbewusste Subtext der Ausstellung argumentiert: Es wird sich nicht wiederholen, weil es nicht wirklich stattgefunden hat“.19 Mit dieser provokanten Schlussformel unterstellt die Autorin Steichen nicht, den Holocaust zu leugnen. Stattdessen bewertet sie seine Ausstellung als Symptom eines traumatisierten Subjektes, das den unerträglichen Verlust nur annehmen kann, indem es ihn ausblendet. Unter Anwendung aktueller Theorien aus der Trauma-Forschung erklärt Schmidt-Linsenhoff die nicht gezeigten, „verleugneten Bilder“ der Shoa zum eigentli-

16 17

18 19

Back/Schmidt-Linsenhoff (Hg.), Family, S. 84. Adorno, Theodor W.: Prismen. Ohne Leitbild, in: Kulturkritik und Gesellschaft I. Gesammelte Schriften (Bd. 10.1), Frankfurt a. M. 1977, S. 30; Kiedaisch, Petra (Hg.): Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 9363), Stuttgart 2012, S. 10; Diner, Dan (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a. M. 1988, S. 8. Schmidt-Linsenhoff, Bilder, S. 80. Schmidt-Linsenhoff, Bilder, S. 80.

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Margaret Bourke-White: Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald, April 1945. Reproduktion aus: Life Magazine, May 7, 1945.

chen Kern der Präsentation.20 In der Aussparung der spätestens ab 1945 in den USA bekannten, weil von großen Bildagenturen verbreiteten Dokumentaraufnahmen ruht das eigentliche „Konstrukt einer globalen ‚Menschheitsfamilie‘, deren Leiden sinnvoll in den ewigen Kreislauf der Natur eingebunden“ werden soll, um das „beschädigte humanistische Menschenbild zu rekonstruieren“.21 Die These scheint insofern plausibel, als Fotografinnen wie Margret Bourke-White oder Lee Miller mit anrührenden Kinderbildern vertreten sind, derweil ihre erschütternden Dokumentaraufnahmen aus den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald von Steichen unberücksichtigt blieben.22

20 21 22

Schmidt-Linsenhoff, Bilder, S. 80. Schmidt-Linsenhoff, Bilder, S. 84. Brink, Cornelia: Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998, S. 46–58, S. 231–242.

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Mag die traumatische Erfahrung vielleicht die „verharmlosende und marginalisierende Repräsentation“23 nationalsozialistischer Verbrechen erklären, so machte die amerikanische Außenpolitik sich dieses Schweigen zu eigen. Anstatt die Deutschen mit ihren Gräueltaten zu konfrontieren, vermarktete sie die Utopie von einer friedlich zusammenlebenden Menschheitsfamilie. Nach Schmidt-Linsenhoffs Interpretation erfolgte die „moralische Rehabilitierung der Deutschen“, um sie „rhetorisch von den größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte in ehrenwerte Bündnispartner der USA im Kalten Krieg (zu) verwandel(n)“.24 Hierzu ist dreierlei anzumerken: Richtig ist, dass die Verbrechen der Wehrmacht mit anderen Verbrechen verglichen und kontextualisiert wurden, wiewohl sie faktisch nicht vergleichbar sind. Zweitens ist zu hinterfragen, ob das von der Autorin konstatierte „leere Zentrum“ tatsächlich leer ist. Schließt man sich dieser Annahme an, wäre drittens zu überprüfen, wie eine traumatische Erfahrung, in deren Folge es zur Ausblendung des ursächlichen Ereignisses kommt, Gegenstand einer kulturpolitischen Kampagne werden kann. An diesem dritten Punkt setzt Dennis Janzen an, der Zweifel an Schmidt-Linsenhoffs These von der „traumatisch verschlüsselten Repräsentation eines Zivilisationsbruchs“ hegt.25 Mit dem Hinweis, dass „jede Form gestalteter Erinnerung immer schon eine Interpretation“ darstellt, verweist er auf die Besonderheit des fotografischen Mediums, das nicht nur über eine indexalische, sondern stets auch eine ikonische Funktion verfüge.26 Die indexalische Funktion des Bildes ergibt sich aus dem Sachverhalt, dass ein Foto von dem Zeugnis ablegt, das sich vor der Linse befindet. Dem engen Wechselverhältnis von Vorbild und Abbild steht die ikonische Zeugenschaft gegenüber, in Folge derer das Bild das Ereignis lediglich repräsentiert, niemals aber mit dem Ereignis identisch ist. In der Konsequenz vermag die „Fotografie [...] nur zu zeigen, was auf ihr sichtbar gemacht wurde und sich dessen nicht zugunsten eines unsicht­ baren Faktums verschließen, das gerade durch die Sichtbarkeit der fotografischen Abbildung verdeckt ist“.27 Mit anderen Worten verlangt das fotografische Bild einen Bezugspunkt, eine Referenz. Fehlt diese – wie in Schmidt-Linsenhoffs leerem Zentrum – vermag das Bild keine Erinnerungsleistung zu provozieren. 23 24 25

26 27

Schmidt-Linsenhoff, Bilder, S. 90. Schmidt-Linsenhoff, Bilder, S. 90. Janzen, Dennis: Die Auslassung des Holocaust in The Family of Man. Eine kurze Revision der postmodernen Kritik, in: Neueste Beiträge an der Philipps-Universität Marburg, 05.10.2009, https://cyberpunkcrisis.wordpress.com/2009/10/05/die-auslassung-des-holocaust-in-the-family-of-men-eine-kurze-revision-der-postmodernen-kritik/ (03.01.2017). Janzen, Auslassung, o. P. Janzen, Auslassung, o. P.

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Die Frage nach den verleugneten Bildern in Edward Steichens Family of Man-Ausstellung gilt es folglich neu zu stellen. Vielleicht markieren die Aufnahmen vom Warschauer Ghetto nicht die Grenze zwischen dem leicht konsumierbaren Bilderfluss und der traumatisch belegten und deshalb leeren Mitte, sondern das Epizentrum selbst.

Das gläserne Zentrum in Steichens photographischer Bilderzählung Die Aussage, wonach die Aufnahmen vom Warschauer Ghetto den eigentlichen Kern der Family of Man-Ausstellung definieren und nicht lediglich den Rand eines leer gebliebenen Zentrums, basiert auf zwei Überlegungen: Formal gehören die Bilder zu den wenigen Fotos, die Opfer und Täter gleichermaßen repräsentieren. Wählt Steichen an dieser neuralgischen Stelle zwei Täterfotografien aus, verleiht er den Kriegsverbrechern eine Stimme. Durch ihren Aufnahmefokus blickt der Betrachter auf Ereignisse, die zur Auslöschung der jüdischen Kultur in Europa geführt haben. Des Weiteren unterscheiden sich die Stroop-Aufnahmen auch ästhetisch von den übrigen Ausstellungsexponaten. Ihr relativ kleines Format, die sichtbare Faktur (Körnung) und die schlechte Aufnahmequalität grenzen sie deutlich von den makellosen Portraits der Menschheitsfamilie ab.28 Insofern kaschieren die Bilder nicht den Bruch, sondern inszenieren ein gläsernes Zentrum, das sich beim Hindurchblicken mit Erinnerung füllt. Die Protagonisten der Bilder sind tot, so, wie die jüdische Kultur, die diese Opfer vor ihrer Ermordung gelebt haben und von der heute nur mehr die Erinnerung weniger Überlebender berichtet. Die Historisierung der Erinnerung mag für Steichens Bildauswahl maßgeblich gewesen sein, stehen die romantisch anmutenden Momentaufnahmen doch dem amerikanisch-jüdischen Selbstverständnis der 1950er-Jahre partiell entgegen. Die sich abzeichnende Sollbruchstelle ist dabei nicht bloß begrifflicher Natur. Sie kann weder mit orthodox oder konservativ noch mit assimiliert oder liberal hinreichend beschrieben werden. Dennoch fehlen in Steichens Tableau vom jüdischen Leben die für die Nachkriegszeit so charakteristischen Anzeichen der „Hybridisierung“, infolge derer jüdische Paradigmen und „Traditionen vor dem Hintergrund soziopolitischer Bedingungen in neue – teils erfundene, teils abgewandelte – Traditionen umgesetzt“ werden.29 Die in der Ausstellung vertretenen Repräsentanten stehen für eine jüdische Tra28 29

Janzen, Auslassung, o.P. Picard, Jacques: Transition spots. Über das Verhandeln auf beiden Seiten des Bindestrichs und das Beispiel des amerikanisch-jüdischen Pluralismus, in: Huwiler, Elke/Wachter, Nicole (Hg.): Integration des Widerläu-

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dition, die mit der Shoa verloren ging. „Kulturelle Traditionen beruhen [aber] nicht auf einer ‚ewigen‘ Geltung des Religiösen oder Sakralen, sondern auf dem kontinuierlichen Wandel des als unverändert geltenden Eigenverständnisses.“30 Traditionelle Codes werden neu interpretiert und in Codes der Allgemeinheit konvertiert.31 Eben diesen „binnenweltliche[n] Wertewandel“ blendet Steichens große Menschheitsgeschichte aus. Stattdessen lassen Bilder längst vergangener Tage ahnen, dass sich neue Formen jüdischen Selbstverständnisses nur im Rückbezug auf die Shoa herausbilden.32 Diese hat eine Lücke gerissen, die nicht einmal symbolisch geschlossen werden kann. Stattdessen bleibt eine Wunde der Geschichte, die Zeit und Raum benötigt, um in ihrer Offenheit das Erinnern wach zu halten. Den Raum dafür gewährt Steichens Ausstellung, ohne jedoch eine optimistische Zukunftsvision zu formulieren. Was die Bilderfolge anbietet, ist eine auf Verzeihung aufbauende teleologische Weltgeschichte, die auch den Tätern Gehör verleiht. Das Zentrum der Ausstellung ist also nicht leer, wohl aber zerbrechlich wie die gläserne Linse eines Fotoapparates, mit dem die Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgezeichnet wurden. Die Bilder vom jüdischen Leben gliedern sich keinesfalls bruchlos in Steichens Family of Man-Ausstellung ein, sondern formulieren über den Verlust des Dargestellten die Forderung, dass sich Vergleichbares nie wiederholen darf.

30 31 32

figen: ein Streifzug durch geistes- und kulturwissenschaftliche Forschungsfelder, Kulturwissenschaft, Bd. 3, Münster 2004, S. 257–272, hier S. 260. Picard, Transition, S. 260. Picard, Transition, S. 260. Vgl. hierzu die Ausführungen von: Kaplan, Louis: American Exposures. Photography and Community in the Twentieth Century, Minneapolis 2005, pp. 55–80, here pp. 68–73.

RESTITUTING ART Some Reflections Richard I. Cohen

Jacques Picard is a man who has always sought truth and justice and has worked for these goals throughout his life, and has pursued the values of authenticity and trustworthiness. His scholarly and cultural world are exemplary of his moral character, in his support and struggle for lofty cultural and social causes. This contribution in his honour touches on issues that are close to his heart. Looting art did not begin with National Socialism, nor did it end with its fall. Indeed it has been part and parcel of armies and empires from time immemorial and has remained an unnerving aspect of modern society. The great modern museums of the world that democratized the possibility of seeing works of art and enabled many millions to share in the cultural evolution of society, would never have risen to their glory would their collections have remained the assembly of works, duly acquired. Various efforts were made in the nineteenth century, through extensive excavations, to bring to the west unique monumental works of the cultural heritage from the east, but also from countries in Europe. Such expeditions enriched the collections of several major institutions and became the hallmark of their permanent exhibition. Yet, before these archaeological expeditions took place, a major act of looting occurred, engineered by Napoleon Bonaparte. Napoleon’s designs emerged from an imperialistic vision. He believed that France was the pinnacle of civilization and had every right to showcase this to the world. Napoleon’s military campaigns were accompanied by a tremendous thirst for artistic treasures. Lands conquered, be they in the east or the west, became the playground for the Emperor’s voracious appetite. His Egyptian campaign is a case in point. The well-documented and well-researched plunder of countless Egyptian artifacts and works of art took years to complete and years to be shipped to Paris. Napoleon’s teams of scientists and researchers were part and parcel of the Egyptian penetration. Eventually the Egyptian objects were to be displayed in the Louvre in an attempt to show the process of civilization from classical cultures to modern French society. This was the linear belief of the Enlightenment, now reinforced by the desire to highlight French civilization as the ultimate rung of this development. The Louvre sought to educate the

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public on the progression of civilization. Egyptian culture of the pre-Muslim period was to be seen as part of this chain of the history of great civilizations. Underlying this notion was the conflict of civilizations: the “west” had the capability of preserving the cultures of the “east.” Napoleon like many other 19th century rulers was convinced of the superiority of the western civilization and its sense of entitlement and, in contrast, the inability of the non-western countries to preserve their cultural treasures. The 19th century national museum became a showpiece for pronouncing the virtues of western values and ways above all others. Whichever way one looks at the archaeological, artistic, and military expeditions, it is hard to overlook the colonialist – and, following Edward Said, the orientalist – ideology attached to them that ran havoc over the local authorities and their unique cultural patrimony. Looting of the weaker culture or society was commonplace. But not only in the east. This was true for Napoleon in his campaigns in Italy and Germany as well. There too his rapacious tendencies brought a slew of remarkable works of art to the Louvre and other French museums. Some of the many plundered objects from those countries were returned to their original owners in an unprecedented act by the Duke of Wellington who defeated Napoleon in battle and encouraged the conservative Congress of Vienna in 1815 to follow suit. But, alas, few objects were returned to Egypt. However, over the last few decades as a by-product of post-colonial thinking and decolonization, and an increased sensitivity to looted art, visitors to major museums have had the occasion to learn of the problematics of the European passion with impounding art from non-European or conquered countries. An excellent and famous case in point is the Elgin Marbles in the British Museum. The controversy, legal and political, over the marbles certainly needs no expansion. Suffice it to say that the transportation of the Greek treasures to England was a source of contention already at the beginning of the 19th century, engaging inter alia, members of Parliament and the great Romantic poets, Byron and Keats. To this day professors of law debate the legality of the “purchase,” while politicians in both countries fulminate at one of the alternatives – either that they will remain in British possession or will be relocated to Greece. One country’s hero is another country’s villain, as the adage goes. Recently the British Museum decided to engage the viewer in this controversy. It has decided to confront the viewer with the moral and museological dilemma. Next to the exquisite objects, the museum’s curators have placed a text that briefly presents the positions of both sides of the controversy. Their apologia pro sua is clear: Lord Elgin received the authorization from the Ottoman Sultan to remove the objects and by virtue of their preservation and presentation by the Museum, millions of visitors have been able to see these

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beautiful artifacts that otherwise may have been lost to local vandals or fallen to the ravage of time and inappropriate care. The text indeed makes mention of the claims made by various Greek figures that the rightful home of the marbles is Greece. Undoubtedly the repeated attempts by various Greek personalities, most notably Greek’s Minister of Culture in the 1980s, the actress Melina Mercouri, have kept this treasure in the public arena and forced the Museum to respond in some fashion. Mercouri was instrumental in laying the ideological foundation for the New Acropolis Museum that was to house the repatriation of the marbles. The museum was eventually opened in 2008, years after she had passed away, though the marbles remain in London, nothwithstanding international attempts to mediate between the British Museum and the Greek cultural ministry. The controversy continues to reverberate in courts, legal studies, and in public discussion and, of course, it has been aired with regard to the claim from individuals and museums to retrieve Nazi-stolen objects. But why was art so important to the European rulers? What function did art and the museum have for rulers in the modern context? Carol Duncan in her excellent book Civilizing Rituals. Inside Public Art Museums points to the role art assumed in a society that no longer revolved around landownership. As Duncan indicates the display of art was a means of showing that one was cultivated and discerning and fit to hold power. “Art collections were prominent artifacts in a ritual that marked the boundary between polite and vulgar society… the boundary of legitimated power.”1 (p. 38) That is, long before the price of art made some works so coveted, art served a function of great importance in the construction of the nation state and in granting a sense of moral and spiritual enlightenment to a particular country or city. Hitler’s dream of creating a museum of European art in his hometown in Linz, Austria, was certainly part of this drive. Albeit it was to be a showpiece of Nazism, but in Hitler’s terms a manifestation of the most significant creations of European art that Nazi ideology recognized. He even returned to this long-stated desire on the eve of his suicide on 30 April 1945 when he dictated his last will and testament in the presence of Goebbels, Bormann, and Colonel von Bulow: “My pictures, in the collections which I have bought in the course of years, have never been collected for private purposes, but only for the extension of a gallery in my home town of Linz a.d. Donau. It is my most sincere wish that this bequest may be duly executed.”2 It was clearly his notion 1 2

Duncan, Carol: Civilizing Rituals. Inside Public Art Museums, London/New York 1995. Hitler’s last will and testament appeared in: Nazi Conspiracy & Aggression, Volume VI, translation of Document 3569-PS, Office of United States Chief of Counsel for Prosecution of Axis Criminality. Here quoted from https://en.wikipedia.org/wiki/Last_will_and_testament_of_Adolf_Hitler (01.08.2016).

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that this museum would establish the link between his life and what he thought was eternal. But in the same manner that art had the capability of arousing uplifting emotions and values it also had the capability of arousing antagonistic feelings and emotions. Art provoked and continues to provoke anger, disagreement, and deep emotional resentment. Duncan spoke of civilizing rituals; but we are also cognizant of anti-civilizing rituals that can lead to the expropriation of art from private individuals in order to highlight a particular ideological position. This was especially true in the ideological wars of the twentieth century, with the competing nationalist, socialist, communist, and fascist ideologies that emerged in many countries. Indeed, “decadent art” became a common notion for those who led a crusade for a particular artistic course in the service of the ideology they upheld. In such a charged atmosphere, be it in Soviet Russia, under Mussolini in Italy, Spain during the Franco years, France during Vichy and even before, or for that matter under the Taliban in Afghanistan, the instinct to destroy or expropriate or loot was as powerful as the desire was to preserve and collect. The infamous Entartete Kunst (Degenerate Art) exhibition that made its rounds in Germany from 1937 and included expropriated works of art, including those of German artists, like Max Beckmann, was only one of the many similar exhibitions that were held in the divisive twentieth century. Art was granted a very unique status, as the expression of patriotism and authentic national spirit but also the contrary. Such works were seen to represent what was essential in the nature of a particular ideology and therefore necessitated destruction, expropriation, or acclaim. Restitution of art objects from the National Socialist period has taken a dramatic turn in the last two decades, pushing many museums to embark on serious provenance research of their collections. Efforts undertaken by representatives of descendants or victims of Nazi persecution to retrieve works of art stolen during World War II have also engaged European and American (and Israeli) institutions and governments. Understandably such efforts have not gone on silently and without controversies of a different nature, and it appears this will remain in the future. Minor successes cannot overcome the tremendous developments orchestrated by the Washington Principles of 1998 and those of Vilnius of 2000. In the course of these deliberations and public controversies, one can see the impact or possible consequences of Holocaust restitution on other examples of looted art. Being a historian and not an advocate I am intrigued by the fact that “litigation,” as two lawyers Ratner and Becker have argued is not considered the ultimate way or best option to proceed for those who claim to be rightful heirs or direct victims of Nazi appropriation. That is if restitution is to be achieved it needs

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to have success outside the court room – it has to be based on some moral, ethical principles and a true commitment that restitution will atone for acts of the past and will build a bridge of cooperation. Clearly in certain well-known, recent examples of restitution of art objects, individuals to whom the “stolen art” has been returned have made impressive gestures to overcome the sense of loss by the temporary keeper of the object. This to my mind may be a hidden meaning of the 8th and 9th Washington principle, that “steps should be taken expeditiously to achieve a just and fair solution.”3 A recent act of restitution strikes me as being a remarkable expression of goodwill that may be a paradigm for restitution beyond the problem posed by stolen art during the Holocaust. I am referring to the case of the Danilov Bells that were returned to the St. Daniel Monastery in Russia in 2007 and 2008. Here we are dealing with 18 bells cast in the 17th and 19th centuries. The bells that were in the possession of the Danilov Monastery bear inscriptions in Old Church Slavonic with icons of Christ, Mary and the saints. Bought in 1929 by Charles Crane, an American businessman from the Soviet Union as it was disbanding the monastery, the bells were donated to Harvard University a year later. Legally belonging to Harvard, the bells became a permanent fixture of the university, were regularly heard on Sundays, yearly commencements, and special occasions. Prior to the fall of communism Harvard had been asked whether it would consider returning the bells. Nothing came of this request, nor of subsequent ones in the 1990s when the monastery began to reestablish itself in post-communist Russia. Eventually an agreement was reached in 2003 between the monastery and Harvard to return the bells to the monastery. A Russian Cultural-Historical Foundation “The Link of Times,” designed to repatriate cultural and historical values removed from Russia in the ХХth century, assumed responsibility for supplying Harvard with a set of new bells, reproduced as a replica of the original ones. Though we have no idea of the behind-the-scenes pressure, financial arrangements and mutual agreements, the ultimate exchange reached is impressive. The Russian Cultural-Historical Foundation, through the efforts of a Russian industrialist who agreed to pay for the repatriation of the bells and for the cost of casting their replacements in Russia and having the new bells sent to and installed at Harvard and, of course, the installation of the old bells in the monastery. Certainly it can be argued that this case has no bearing on other examples of restitution as the bells have little financial clout as compared to a Great Master’s painting, a Cranach or a Picasso, but they 3

The formulation was adopted at The Washington Conference on Holocaust Era Assets that took place in Washington, DC on December 3, 1998, and appears in many publications dealing with repatriation of Holocaust art assets.

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had become part of a Harvard tradition for over 70 years, a tradition not easily abandoned. It would appear that this arrangement was indeed a “just and fair solution” to both parties. The Monastery received in return an heirloom object that had become synonymous with its existence and Harvard received in turn a specially made replica and possibly other financial benefits unknown to the public. Harvard showed a profound respect for the culture and tradition of this Russian Monastery. This out of court “gentleman’s agreement” took place within optimal conditions – the Monastery was not a victim of Harvard’s behaviour and could not rightfully feel a historical wrong was done them by the university. The university could rightly sense that it was making a contribution to Russian-American relations and to a spirit of universalism in the era of globalization. Before returning to other contentious issues, let me posit a hypothetical situation to relate to the desire to find a “just and fair solution,” in restitution of art. How can one overcome in this domain the “clash of civilizations” between the “west” and the “east”? Can one reverse the process of history? Can art be moved back to its “original” owner? How can one determine who was the “original” or “rightful” owner of a particular object of art? Were the countries of the “east,” then seen as being unable to protect their treasures, able today to provide the same conditions of exhibition and preservation as in the west, would they not have a moral and historic claim to receive in return their cultural and historical objects, even if this would deplete the west of many of its great treasures? Alas, the counter argument for restitution in such cases follows the argument of the British Museum presented above. The efforts that museums, libraries, archives, and other repositories have made to preserve the objects they retrieved from the East were significant and have provided the finest conditions for their conservation for generations to come. A case in point is the Cairo Genizah, which to my mind, has never been the source of a counter claim by the original owners of the depository, or by a Cairo institution. This genizah, a remarkable cache of sacred Hebrew books and diverse manuscripts of daily life, was located in the Ben Ezra synagogue in Fostat (Old Cairo), and began to attract attention of certain scholars and travelers in the 19th century. Eventually an expedition led by Solomon Schechter, a professor of Talmudic and rabbinical literature at Cambridge, to Cairo resulted in the removal of thousands of documents to Cambridge University. Today genizah fragments, that have opened up the history of the Jews in the medieval Middle East and unearthed precious manuscripts of poets and philosophers, are held in various institutions, most notably the Cambridge Library, John Rylands library in Manchester, the National Library of Israel and the Jewish Theological Seminary in New York. Previously the fragments were piled

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together in cartons in a sealed, dry room in the synagogue, unavailable for any scholarly or other purpose, but as they contained God’s name they could not be dispensed with. Since their removal to the west, scholars have utilized this material extensively over the recent generations and dozens of books and countless articles have emerged from their scrutiny. Everywhere known as the Cairo Genizah, the archive, as so many other archaeological and anthropological expeditions to the East in the 19th and 20th centuries, has enriched our knowledge and understanding of the history of the Jews beyond imagination. Would a request appear from a reputable Egyptian institution engaged in retrieving the cultural and historical heritage of Egypt not have a moral stake to this material? Certainly the request would fall on deaf ears. Cambridge library, that houses the largest proportion of the Geniza, speaks clearly in its internet site, that the material was “rescued” in the late 19th c. and rightly prides itself on its efforts for conservation and research. What would be a “just and fair solution” to this and so many other pre-Holocaust examples of public and private looting/rescuing/saving of art and historical objects? All of these issues, including restitution, come together when one considers the fate of Picasso’s Guernica, painted in May-June 1937 for the Spanish pavilion of the World’s Fair in Paris. Clearly an anti-Fascist protest against the German-Italian attack on the Basque city of Guernica, now known to have been Göring’s initiative for a birthday gift to Hitler. The painting was hailed by the Republicans and aroused profound objections by the National Socialist press. Its fate and the path it took is well known, but in this context I wish to emphasize the most recent developments that illuminate the issue of restitution. Picasso, as we know, stipulated that the painting should not be shown in Spain as long as the regime remained under autocratic rule and the republic not reconstituted. The painting was deposited in MoMA for several decades and attracted wide attention. Cleary the efforts of the Spaniards to have the painting housed in a Spanish institution, following Franco’s death, did not sit well with the custodians of the distinguished New York museum. As the local museum in Guernica relates in a rather impressive video, it took a yeoman’s effort to convince MoMA to relinquish the painting in 1981 to a responsible and leading Spanish museum in Madrid, as Picasso had bequeathed. Housed from 1992 in the Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, the painting has remained a source of contention. The museum refused to lend the painting to the opening of the Guggenheim Museum in Bilbao, ostensibly claiming a variety of museological concerns. In fact, it was clear then, as it is now, that the Madrid museum feared that the temporary loan would become permanent, as the Basques in

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Bilbao would claim their moral rights to the painting. Undoubtedly were the painting to be offered as a loan to any museum in Basque country, inevitably people in the town of Guernica (also in the Basque region) would certainly demand to have it shown there, as the town’s claim to fame is the destruction of the city in 1937. Guernica was never stolen or looted, yet its “lawful” possessor continues to split the art world. MoMA made every effort to keep the original, even though it went against the spirit of Picasso’s will and testament. Now housed in Spain in a museum that received the painting from the one that the artist had designated one wonders whether it has found its most “legitimate” setting, one that refuses to this day to have the painting travel, even temporarily, to the area most identified with the catastrophe of 1937. In such a charged political and ideological setting, all artistic expressions, as all daily manifestations of human activity, could not go untouched. How is one to determine the distinctiveness of one form of pillaging to another is not my concern here though it has certainly engaged the scholars of art looting but as a historian, reflecting on these situations in modern times, I cannot avoid making the comparisons and placing these developments in a contextual framework. Ideological considerations have indeed determined the fate of much art work as did the sheer desire for aggrandizement. The Russians, after all, also looted an enormous amount of art during World War II and not in the name of communism but for national grandeur and as booty for the victors. And they were not the only ones by any means, not then and not now. Clearly as we become more and more aware and attuned, as is the British Museum today, to the actions of the previous generations and as public conscience places these concerns alongside the virtues of civilization’s progress over the generations, the claim on works of art, stolen or pillaged or extracted from individuals and institutions, will grow. Restitution continues to engage the minds and energies of many. Can we compare the situation of art to any other commodity? Without entering into the legal, political, and moral issues that are inevitably connected to the problems and questions raised in this essay, I think that comparative contexts need to be considered and alternatives to outright restitution need to be raised to grant some just solution to those who have been wrongfully treated in this domain of culture.

VICTIMHOOD, INTERSECTIONALITY, AND THE DEBATE ON ACADEMIC BOYCOTT IN AN AGE OF IMPENDING ILLIBERALISM Dan Rabinowitz

This essay, written as a tribute to Jacques Picard’s pragmatic look at research and at life in general, comes in three parts. The first part presents a critical review of victimhood in recent Israeli history and of current attempts to cross-mobilize disenfranchised groups in liberal democratic contexts under the buzzword ‘intersectionality’. Next I analyze the concept of boycott as a tool for political brinkmanship, highlighting how attempting to implement it in an academic setting can be self contradictory and confusing. The critical points highlighted in the first two segments are then integrated into an overview of BDS (the movement to cast boycotts, divestments and sanctions against Israel) highlighting its potential harm during an age already marked by rapid transformations, in the US, Europe and beyond, towards illiberalism.

Victimhood and Intersectionality Between the 1940s and the 1990s Israel reaped significant rewards from the recognition it enjoyed as a composite embodiment of holocaust victims and survivors. Initial international recognition of Israel stemmed primarily from a European willingness to accept Jewish claims to a national home in Palestine, the Jewish people’s historic cradle, as recompense for the enormous, unprecedented suffering endured by Jews during the holocaust. Instated as a legitimate repository for these claims and for the rights they should engender, the state of Israel also became an emblem of the human capacity for regeneration, healing and rejuvenation. Victimhood, mediated by European guilt, was thus converted to resilient commitment to Israel and a stubborn willingness to support it. Six or seven decades on, Israel’s political leadership, riding an alarmingly well-liked populist wave, is perilously flirting with racist sensibilities, ultranationalist sentiments and rabid jingoism reminiscent of 1930’s Germany. Israel is certainly not unique here: monstrous racist xenophobia, violent exclusion and intransigent isolationism are on the rise in many parts. Unlike other places however the history of modern Israel raises intriguing analytical, theoretical and moral questions about the nexus of victimhood,

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self-righteousness and their astonishingly rapid evolution to repugnant animosity and isolationism. Most states and nations going through phases reminiscent of what Germany endured in the 1930s have not evolved into the beastly murderous machine that Nazism begot a decade later. There are reasons to believe – or hope at least – that Trump’s ‘America’, Russia under Putin, Orban’s Hungary, Poland, the Philippines and other countries toying with explosive mixes of radical populism, disregard to checks and balances in governance, deregulation run amok and scapegoating vulnerable communities will somehow swing back towards sanity. Even Israel, where an opportunistic, hyper-populist Prime Minister suspected of corruption is held hostage by an intensely ideological and cohesive religious Alt-right, might still be redeemable. My focus here however is not the future but the vicissitudes of victimhood. I do not wish to trivialize suffering. Physical, mental, political or economic hardship, individually endured or collectively experienced, is immensely significant and can have long term impacts. This notwithstanding, the privileged position which victims often assume, from which they readily assert analytical, theoretical and moral judgement calls, can and must be scrutinized. Kimberle Crenshaws’s seminal work on intersectionality1, which drew on bell hooks’ assertion that discrimination against black women cannot be understood merely by their gendered reality, was written from a classic legal perspective. Focused on individuals and their standing in US courts of law, Crenshaw identified that whereas white women are deemed worthy representative of all women, and while black men speak for all blacks, black women are in a double bind. Legislative bodies and the judiciary habitually overlook the compounded perils they are subject to by ethnic and racist tendencies within feminism and by sexism within black activism, leaving them no space for adequately defending the multiple discrimination they endure due to their particular positionality. The notion of intersectionality has been since usurped by a radically different agenda. Guided primarily by Postcolonial sensibilities, recent works invoking the term tend to expand Crenshaw’s emphasis on individuals to collectives. Applying a class act logic, these evocations of intersectionality collapse a range of bases for exclusion – ethnic1

Cf. Crenshaw, Kimberle: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex. A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, in: The University of Chicago Legal Forum 140 (1989), pp. 139–167; Crenshaw, Kimberle: Mapping the Margins. Intersectionality, Identity Politics, and Violence Against Women of Color, in: Stanford Law Review 43 (1991), pp. 1241–1299, www.jstor. org/stable/1229039 (27.02.2017).

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ity, race, nationality, sexual orientation, social class, religion, age, mental disability, physical and mental disability and many more2 – into one overarching umbrella category. Additive, ‘transversial’ intersectionality, denoting an emphasis on victimhood, thus emerged. Gayatri Spivak’s notion ‘strategic essentialism’ was coined in the 1980s to denote a possibility for tactical political alliances between different minorities that, for the sake of a unified struggle, overlook the particular contexts and historical nuances that characterized each of them respectively. Current usage of intersectionality is premised on a similar logic, now cavalierly elevated to theoretical tenet with obvious moral overtones. Like strategic essentialist activists, champions of intersectionality focus on the all-important, but vastly oversimplified dichotomy between victims and perpetrators. Those bowing to the theoretical validity of intersectionality are automatically placed on the moral side of a plethora of divides signified by resonant key-words: colonialism, domination, oppression, inequality, human rights abuses, runaway capitalism, rabid consumerism, anti-environmentalism, self-perpetuation and privilege to name but a few. This immediately creates a high ground which excludes ‘The West’, now reduced by default to its most privileged, patriarchal, racist, expansionist and exploitative segments. Born out of essentialized bifurcation, intersectionality has increasingly grown to rely on depicting ‘The West’ – all of it, always – as the primary source of ultimate evil or at least its most effective proxy. Intersectionality is crude. It regularly obfuscates differences between types of exclusion and discrimination. It tends to overlook particular contexts in which oppression takes place and to misrecognize that means of perpetration vary. One major casualty of this is the other side of Western thought: its contribution to the emergence of a liberal political reality which, while tenuous and easily thrown out of balance, enables important types of justice, struggles for equality and freedom to exist in reality. This omission works well for intersectionality: it allows its prophets to position the new doctrine as a timeless panacea for injustice everywhere. As in the case of Israel as repository of Jewish victimhood, intersectional discourse draws authority and credibility from purporting to speak simultaneously for victims of 2

Cf. Knudsen, Susanne V.: Intersectionality – a theoretical inspiration in the analysis of minority cultures and identities in textbooks, in: Bruillard, Éric et al. (Eds.): Caught in the Web or Lost in the Textbook. 8th IARTEM (International Association for Research on Textbooks and Educational Media) conference on learning and educational media, held in Caen in October 2005, Utrecht 2006, pp. 61–76; Collins, Patricia H.: Intersectionality’s Definitional Dilemmas, in: Annual Review of Sociology 41 (2015), pp. 1–20.

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a variety of contexts of discrimination. By doing so, however, a new type of discursive imbalance emerges regarding permission to narrate. Those who are recognized as legitimate inhabitants of the universe of suffering defined by intersectionality are permitted – indeed encouraged – to critique those outside it, who are repeatedly depicted as collective oppressors or their defenders. Criticism in the opposite direction, however, is persistently stultified and is habitually mischaracterized as the old guard regressively attempting to blame its erstwhile victims. Few liberally minded academics are able to withstand the mental pressures exerted by this moralizing logic. Yet the question is there, and must be reckoned with: does speaking in the name of the oppressed guarantee an enhanced ability to come up with effective remedies? Does permission to speak, correctly demanded – and usurped – by those speaking for subalterns, necessarily breed better ideas? The case of the Israelis, initially recognized as the ultimate victims but now inflicting suffering on Palestinians is pertinent here. But so is Palestine, where those who now assume the role of victims are forging ties of solidarity, advocacy and support with groups that speak for disenfranchised communities globally. Do attempts on the part of BDS (the call for boycott, divestment and sanctions of Israel) to invoke the logic of intersectionality for its flagship drive to boycott Israeli academic and cultural institutions – project a valid intellectual, political and moral sensibility?

Israel and Palestine: Playing from the Margins The Israeli occupation of Palestinian lands, now in its 50th year, has turned Gaza, and to a lesser extent the West Bank, into de facto detention zones for Palestinians. It humiliates millions, robs them of meaningful citizenship and routinely violates their human rights. The consistent refusal by official Israel to recognize the tragic consequences of 1948 for the Palestinians and the continuous disregard for the plight of refugees exacerbate the situation further. The notable drift in Israel’s public sphere towards essentialist thought patterns with obvious racist elements underwrites disturbing tendencies that echo practices employed by South Africa’s Apartheid regime. The inferno in the Gaza Strip, in which Israel is a willing collaborator with Egypt, is untenable. And the periodic outbursts of Israeli assaults against Hamas, with lethal consequences for civilians in the strip, are grossly disproportionate to any damage caused by missiles Hamas sometimes launches at Israeli targets.

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Two opposing extreme positions currently delineate debate on Israel and Palestine. One is associated with BDS (Boycott Divestment and Sanctions), a loosely organized, Pro-Palestinian advocacy group committed to undoing Israel by disavowing its validity as a legitimate political formation, (thus robbing Jews and Israelis of the right to self determination). The second is radical ultra-nationalist Zionism, exemplified in Israeli radical right wing parties such as ‘The Jewish Home’, which, refusing to recognize the legitimate existence and rights of Palestinians, push a rejectionist, confrontationalist view of the conflict in the opposite direction. In many ways, BDS’s efforts to boycott Israeli academic and cultural institutions, where the majority of players are moderates who nurture genuine aspirations towards reconciliation, play right into the hands of the Israel Alt-right. This dangerous trajectory – sometimes misguided, at other times stemming from cynical manipulation – merits more attention than it has been getting from social scientists lately.

Boycotts 1013 Boycotts and sanctions are legitimate forms of political brinkmanship that can be inspiring and effective. Captain Charles Boycott, the heavy-handed manager of an estate in 1880s Ireland, evicted 11 tenant families for petty debts. Outraged parishioners quickly organized and issued an ultimatum: unless the families are reinstated, no local would work for the estate or trade with it. To save the summer’s harvest, Boycott hired farm workers from neighboring parishes, but soon discovered that the costs of transporting, accommodating and protecting them far exceeded the income from the harvest they were hired to complete. To cut his losses he reinstated the evicted families before the summer was out. Countless instances of boycott have taken place since. Famous ones include the boycott of British goods in China in retaliation to the Chinese Exclusion Act of 1902; the Jewish American boycott of Henry Ford in the 1920s; Ghandi’s boycott of British goods in the 1940s; the Montgomery bus boycott during the American civil rights movement in the 1950s; and the economic and disinvestment movement against South Africa in the 1980s.

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101 is a number usually given in US universities to an introductory course in some discipline: “Anthropology 101” etc.

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To be effective, a boycott must fulfill four main criteria: A. Those boycotted must be primarily and directly responsible for the injustice (Charles Boycott was the manager who instigated the eviction), B. Those boycotted must be capable of rectifying the injustice as soon as they resolve to do so (Boycott could re-instate those evicted at will, which he eventually did), C. The conditions set for lifting the boycott must be clear, uncontestable and doable, D. Those boycotted must trust the boycotters to truly want their conditions to be met, without fear of hidden additional future stipulations down the road. The call for an academic boycott of Israel, as reflected for example in the resolution carried at the annual business meeting of the American Anthropological Association (AAA) on 20 November 20154 fails miserably on all four accounts. First, Israeli universities are not directly or primarily responsible for the occupation and the violation of Palestinians’ human rights. Second, these institutions cannot, even if they wanted to, rectify the situation.5 Third, the condition set for ending the suggested boycott (“until such time as [Israeli universities] end their complicity etc…”) is deliberately murky. I want to invite the reader to perform a mental exercise. Think of a university you know. Now consider the following three questions: In 2015, is this university currently more or less complicit in the US-led invasion of Iraq than it had been five years ago? Is it more or less complicit in US drone attacks, social inequality or police treatment of minorities than the university down the road? How would you go about determining the answers to these two questions? These questions, which have no obvious answers, illustrate a simple fact: the pivotal condition of BDS’s AAA’s 2015 boycott resolution can never be truly met.6 Failure on criteria C of course leads to failure on criteria D. Those boycotted – and here I speak for myself and virtually every Israeli academic I conversed with on the boycott, including friends positioned on Israel’s radical left – interpret the impossible conditions as proof that BDS has no interest in any Israeli university ever qualifying to 4 5

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The proposal was narrowly defeated in an electronic ballot put to the entire membership of the AAA in April and May 2016. A nested argument which I will not develop here is that ‘complicity’, of which Israeli universities are repeatedly but not convincingly accused by boycotters, is an irregularity for which boycott is not necessarily the best remedy. This by the way is not a first. In 2014, many anthropologists signed a petition calling to boycott Israeli universities which had a different condition, equally impossible to meet: that Israeli universities ‘call on Israel’ to comply with BDS’s blueprint for normalization (above). It is impossible because universities do not, cannot and must not, as institutions, take sides in political debates that split the societies in which they operate down the middle.

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have the boycott lifted. As the report of the AAA’s own Task Force on engagement with Israel and Palestine states, the initiative to boycott Israeli universities could potentially lead to an indefinite ostracizing. An indefinite boycott is deplorable not only because it is too harsh or too extreme. It is unacceptable because it defeats the purpose which every sanction ever deployed for political brinkmanship strives to achieve: to motivate the boycotted party to redirect its conduct and induce positive change. Why do anything, when you think that however hard you try, you will never really qualify to have the sanction lifted?

The Political Context of the Current Call for Boycott Boycotters are a diverse crowd. They have no official leadership and cannot be held collectively accountable for anything. Based on observation of Palestinian intellectuals and activists for many years however, I argue that BDS’s leadership share a vision of a future without Israel. Some of them have held this view for decades. Others joined the drift more recently. But that undoubtedly is where they are today. While some followers of BDS may see a future for Israel, perhaps even as part of a two state solution, the movement repeatedly refrains from clarifying this critically important point. The leaders in particular deliberately obfuscate it, using a standard line which states that the movement has no position on the endgame and is strictly preoccupied with reasserting human rights for Palestinians. This position is deeply unconvincing and unsettling. BDS’s leaders do have a position. But since the notion of a future without Israel is hard to sell, they do their best to mute and to embellish it. Their vision of undoing Israel is carefully dressed as an attempt to reform it. An academic and cultural boycott, clearly designed to isolate, marginalize and silence Israeli moderates pretends to be a quest ‘to reduce the complicity of Israeli universities to the occupation’ as part of a larger struggle for human rights. Struggles for human rights must not be trivialized. I have been committed to them throughout my academic career and in every segment of my service for civil society. But how can boycotting academic and cultural institutions promote human rights for anyone? Without convincing reasoning, many in Israel and abroad suspect that the real intention behind it all is to use Israeli universities, as well as the international academic associations called upon to boycott Israel universities, as means with which to achieve a broader, more sinister objective.

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A boycott and sanctions campaign makes no sense if it denies its target a future. It can only work if those boycotted can expect a brighter turn once they comply with the boycotters’ demands. Applying boycott in a situation where the actual goal is to eliminate your opponent’s existence can only produce die-hard intransigence as a response. BDS has never supported European initiatives to apply economic pressure on Israel in an attempt to force it to relinquish Palestinian territories it occupies since 1967. Economic sanctions are carrot-and-stick ploys, forcing those targeted to do things they do not wish to do in exchange for lifting off the sanction. BDS, which strives to eclipse Israel altogether, has no carrots for it. That is why its leadership consistently neglects economic sanctions, leaving them to committed student activists on US campuses who operate sporadically. The leadership of BDS offers no intervention, supervision or direction for such actions. An academic and cultural boycott, on the other hand, is a perfect fit for those who seek a future without Israel. Israel’s uncompromising and often violent conduct in recent years has brought international sympathy for it to an all time low. BDS’s leaders now hope this fall from grace can soon be followed by an ultimate collapse, and see an active role for themselves in this process: demonize Israel as a radically essentialized epitome of evil, and you might expedite its ultimate demise. BDS’s strategy finds willing partners on the Israeli Alt-right, where politicians thrive on cultivating a belligerent ethos whereby ‘the world is all against us’. Significantly, it is a strategy that cannot tolerate moderation. A vibrant Israeli intellectual milieu, where academics and artists embrace complexity and nuance would subvert BDS’s essentializing mission. Israelis who openly criticize the occupation and the government who stand in solidarity with Palestinian farmers against settler violence, who work with off-grid Palestinian villages installing solar panels, wind turbines and rainfall water systems have no place in BDS’s world. Moderates on both sides who complicate BDS’s over-simplified, self-righteous, monolithic tale of evil colonial oppressors versus angelic indigenous victims must be marginalized and silenced. Stakes are even higher when it comes to people like my friend the late Edward Said or Daniel Barenboim, whose West-Eastern Divan Orchestra which brings Israeli and Palestinian teenagers to play classical music together was declared ‘boycottable’ by BDS in 2012. In fact as far as BDS is concerned, the more amenable to dialogue we are, and the more prominent we might become, the more ‘boycottable’ we must remain.

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Those convinced that Israel should not have been created in the first place, or that it no longer has the right to exist, are entitled to their opinion. But they have obligations, too. They must come clean about seeking a post-Israel endgame. They must own up to the highly stereotyped, dichotomized incitement they pursue. They must develop detailed plans for what the new post-Israel reality might look like, and specify the process they suggest might get us there. And they must openly acknowledge the terrible price many Palestinians and Israelis will have to pay if an attempt is made to force this vision on Israelis who, apart from a tiny group of academics, are unable to imagine such a scenario even as an intellectual exercise. They must, in short, take seriously the warning Noam Chomsky issued in a 2014 article in The Nation, that BDS and its supporters must be careful what they wish for. Nothing about this debate is trivial. BDS’s real goals are fateful, and discussing them in earnest will inevitably be tense. To engage in it, the leadership of BDS must be willing to come out of the comfort zone of the echo-chamber they created, partly by using intersectionality as shield. This conversation, which is the only way for stakeholders and onlookers to form opinions and to take positions based on reality rather than its manipulations, cannot take place under the constant threat of cutting off communication with potential interlocutors simply because they are associated with the other side.

Conclusion The progressive response to BDS I am trying to portray here is essentially an attempt to expand the bipolar equation in which BDS on one side and the Israeli Alt-right on the other are the only options. Rather than bi-polarism, we need to recognize a spectrum here. The debate on academic and cultural boycott of Israel is amiss without a third space where progressive Israelis, Palestinians and others willing to work against the Israeli occupation, for equality to Palestinian citizens and for a dignified solution for Palestinian refugees in independent Palestine alongside Israel can speak against the divisive line which BDS now tows. The bipolar dichotomy of two extremes is BDS’s most tangible achievement so far. And challenging it is highly relevant to the important task of untangling the knee-jerk sensibilities that underwrite intersectionality. Like BDS, intersectionality hinges on the ability to transform justified rage on the part of the oppressed into an indiscriminant, destructive push against anything vaguely associated with perpetration of injus-

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tice. This crude approach is perhaps useful in galvanizing splinter groups of disgruntled activists into ad-hoc coalitions and to feel good about creating mini-momentums that will hopefully bring cosmic justice. It is worthless, indeed perversely counterproductive as a strategy for prudent political plans with real effects out there. If Donald Trump’s first months in office have taught us anything, it is that attempts like BDS’s to turn against the liberal mainstream in a frenzy of ideological hair-splitting exercises, is a luxury we no longer have. Driving wedges into segments of global society where people still believe in facts, still trust democracy in spite of all its weaknesses, are willing to deliberate instead of bullying and to stand up against populism, tyranny and bigotry is not only stupid – it is dangerous.

BACK TO DIPLOMACY Vom Brückenschlagen über Gräben, die sich weiten Barbara Haering*

Im Dezember 2014 berief der damalige Schweizer Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Absprache mit der Führungstroika1 ein „High Level Panel“ zusammengesetzt aus 15 Experten/innen der Aussen- und Sicherheitspolitik aus Ländern des ganzen OSZE-Raums mit dem Ziel, Ansatzpunkte für eine Wende hin zu einer wieder verstärkt kooperativen Sicherheitspolitik und mehr Stabilität in Europa zu erarbeiten. Hintergrund und aktueller Anlass zur Einberufung des „High Level Panels on Eminent Persons on European Security as a Common Project“2 waren die jüngsten politischen Entwicklungen, die aufzeigten, dass zwischen den Staaten, die sich der North Atlantic Treaty Organization (NATO) und/oder der Europäischen Union (EU) verpflichtet oder zugewandt wissen, einerseits und der Russischen Föderation andererseits ein Dialog über grundlegende Werte und Ziele einer kooperativen Sicherheit in Europa nicht mehr möglich war. Der in der Helsinki Schlussakte der KSZE 19753, in der Charta von Paris 19904 sowie im Budapester Memorandum von 19945 gemeinsam festgelegte Kanon von Pluralismus, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit sowie Souveränität der Staaten samt der Anerkennung der Unverletzbarkeit staatlicher Grenzen * 1 2

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Mit herzlichem Dank an Adrienne Schnyder und Kathrin Lenz für ihre Kommentare und Hinweise. Ende 2014 setzte sich die OSZE-Troika aus der Schweiz (Vorsitzland 2014), Serbien (Vorsitzland 2015) und Deutschland (Vorsitzland 2016) zusammen. Das High Level Panel war regional breit und ideologisch sowie bzgl. der individuellen politischen Erfahrungen der letzten fünfundzwanzig Jahre heterogen zusammengesetzt: Wolfgang Ischinger, Präsident der Münchner Sicherheitskonferenz (GER) als Chairperson primus inter pares; weitere Mitglieder Tahsin Burcuoglu (TUR), Dora Bakoyannis (GRC), Oleksandr Chalyi (UKR), Ivo H. Daalder (USA), Jean-Marie Guéhenno (FRA), Vaira Vike-Freiberga (LVA), Barbara Haering (CH), Sergi Kapanadze (GEO), Sergey A. Karaganov (RUS), Malcolm Rifkind (GBR), Adam Daniel Rotfeld (POL), Teija Tiilikainen (F), Kassym-Jomart Tokayev (KAZ), Ivo Viskovic (SRB). Die Helsinki Schlussakte schloss 1975 den mehrjährigen internationalen Prozess zur Kooperation und Sicherheit in Europa (KSZE) ab. Charta von Paris für ein neues Europa als internationales Abkommen über die Schaffung einer neuen friedlichen Ordnung in Europa nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der Einstellung der Ost-West-Konfrontation. Budapester Memorandum zur Anerkennung der Staatsgrenzen der Ukraine, 1994.

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war in Frage gestellt. Dies veranschaulichte zuletzt der Konflikt in der Ukraine, der mit der gewaltsamen und völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch die Russische Föderation im März 2014 eskalierte.6

Mandat des High Level Panels In dieser Phase der Unfähigkeit zum politischen Konsens auf Ebene der Staatsführungen sollte es Aufgabe des Panels sein, wenigstens auf der Stufe von Experten/innen das Gespräch weiter zu suchen, um damit sowohl gegenseitiges Verständnis für die jeweiligen Positionen zu entwickeln, als auch Anknüpfungspunkte für einen neuen Dialog auf politischer Ebene zu identifizieren.7 Der Auftrag der OSZE-Troika war ein dreifacher:8 - Analyse des Einsatzes der OSZE in der Ukraine: Der erste Auftrag an das Panel umfasste eine Analyse des operativen Einsatzes der OSZE in der Ukraine in den Jahren 2014/15 mit dem Ziel, Lehren für die OSZE als Organisation zu ziehen und gegebenenfalls entsprechende Empfehlungen abzugeben. - Bericht zur Zukunft der kooperativen Sicherheit in Europa: Das Panel erhielt zudem den Auftrag, innert Jahresfrist einen umfassenden Bericht zur Europäischen Sicherheitspolitik zu verfassen. Dieser zweite Bericht sollte eine längere zeitliche Perspektive der sicherheitspolitischen Entwicklungen in Europa analysieren, regional über die Krise in und um die Ukraine hinausweisen – und damit künftigen OSZE-Vorsitzen wie auch anderen Akteuren Optionen für Frieden und Stabilität in Europa aufzeigen. - Outreach und Dialog: Aufbauend auf den beiden Berichten sollte das Panel über6

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Auch der im Frühling 1999 von der NATO geführte militärische Luft-Boden-Einsatz gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien gilt als völkerrechtswidrig. Die im Wesentlichen von den USA geführte Militäroperation war der erste Militäreinsatz, den die NATO ausserhalb eines Bündnisfalls und auch ohne ausdrückliches Mandat der UNO führte. Diese sogenannte „Track II diplomacy“ bezieht sich auf nichtstaatliche, informelle Aktivitäten privater Bürger/innen oder Gruppen – im Unterschied zur „Track I diplomacy“ auf offizieller, staatlicher Ebene und durch offizielle Kanäle. Mandat: „The Panel shall provide advice on how to (re-) consolidate European security as a common project: Prepare the basis for an inclusive and constructive security dialogue across Euro-Atlantic and Eurasian regions; Reflect on how to re-build trust to enhance peace and security in Europe on the grounds of the Helsinki Final Act and the Charter of Paris; Examine perceived threats in the OSCE area and explore common responses; Explore possibilities to reconfirm, refine, reinvigorate and complement elements of cooperative security; Analyse the role of the OSCE including its role in preventing and resolving crises in the OSCE area, including in Ukraine.“

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dies das Gespräch mit Akteuren der europäischen und transatlantischen Sicherheitspolitik sowie mit der Öffentlichkeit suchen. Das Mandat des Panels war somit breit gefasst und adressierte grundlegende Fragen sicherheitspolitischer Konzeptionen in und für Europa. Dies mag erstaunen, ging man doch spätestens nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 davon aus, dass die Staaten östlich und westlich der Oder wieder friedlich und direkt miteinander verkehren.

Zwischenbericht zum Einsatz der OSZE in der Ukraine Der Einstieg in die Diskussion über die konkrete und weniger ideologisch geprägte Analyse zum operativen Einsatz der OSZE in der Ukraine 2014/15 erwies sich für die Arbeit des Panels als hilfreich. Bereits im Juni 2016 unterbreitete dieses dem Ständigen Rat9 der OSZE seinen ersten Bericht.10 Dieser kommt zum Schluss, dass die Konfliktlinien innerhalb der ukrainischen Gesellschaft seit Jahren bekannt waren, dass aber diese Spannungen im Land selbst, zwischenstaatlich und auch auf internationaler Ebene nicht adäquat angegangen worden waren. Die für die Kohäsion des Landes notwendigen wirtschaftspolitischen Strukturreformen fanden nicht statt. Gleichzeitig wurde die Brisanz der Sprachenfrage in der Ukraine unterschätzt.11 Rückblickend ist somit, wie so oft, ein nationales und internationales Versagen bzgl. des rechtzeitigen Ergreifens stabilisierender Massnahmen zu erkennen. Gleichzeitig lobt der Bericht das wirkungsvolle und effiziente Eingreifen der OSZE nach dem Ausbruch der Gewalt im Osten der Ukraine. Besondere Anerkennung erhalten der Schweizer OSZE-Vorsitz 2014, das Generalsekretariat der OSZE sowie die Sonderbeauftragte der OSZE, die Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini. Vorsitz und Generalsekretariat zeigten in konzertierter Aktion Führungsfähigkeit und Engagement und stellten sicher, dass die OSZE als einzige der internationalen Organisationen in dieser Krise handlungsfähig blieb und vielfältige Mittel der Friedensvermittlung, der Beobachtung im Kriegsgebiet und an der Grenze sowie der Projektarbeit einsetzte. Deutlich zeigte der Einsatz der OSZE in der 9

Vertretungen aller Teilnehmerstaaten der OSZE auf Stufe Botschafter/in. Der Ständige Rat tagt einmal wöchentlich in Wien und tritt bei Bedarf zu Sondersitzungen zusammen. 10 Vgl. Lessons learned for the OSCE from its engagement in Ukraine; Intermediate Report of the Panel of Eminent Persons on European Security as a Common Project, 17 June 2015, http://www.osce.org/networks/164561 (04.02.2017). 11 Im Osten und Süden der Ukraine ist Russisch die dominierende Sprache. Russisch verlor jedoch mit der Unabhängigkeit des Landes seinen Status als Amtssprache: 1991 wurde Ukrainisch alleinige Amtssprache. Seit 2012 ist Russisch in neun Regionen des Landes wieder eine regionale Amtssprache, aber nach wie vor dem Ukrainischen nicht gleichgestellt.

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Ukraine aber auch die Notwendigkeit eines nachhaltigen Aufbaus friedensunterstützender Kapazitäten durch die Organisation auf, die fähig sein muss, aktuellen Formen der Kriegsführung kompetent zu begegnen.12 Zudem unterstreicht der Bericht die Dringlichkeit, die Frage der fehlenden Rechtspersönlichkeit der OSZE zu klären, da dieses Defizit der OSZE im operativen Einsatz immer wieder hinderlich ist – und dies nicht zuletzt auch hinsichtlich der Verantwortlichkeit der Organisation für die in Krisengebieten eingesetzten Experten/innen.13

Schlussbericht „Back to Diplomacy“ Schwieriger erwiesen sich die Arbeiten des Panels am umfassenden Bericht zur sicherheitspolitischen Lage in Europa.14 Die Diskussionen begannen mit dem Versuch zu erklären, wie sich die Krise entwickelt hatte und welche Fehler und Fehltritte im Verlauf der vergangenen zwanzig Jahren gemacht wurden – und dies auf allen Seiten. Heftige Debatten unter den Expert/innen liessen aber schon bald erkennen, dass dazu keine einvernehmliche und gemeinsame Analyse möglich sein würde. In dieser Situation verständigte sich das Panel darauf, diesen Umstand zu akzeptieren und in seinem Bericht drei verschiedene Narrative zu präsentieren: Die Sicht der Staaten „westlich von Wien“, die Sicht der Russischen Föderation sowie die Sicht der Staaten, die zwischen diesen beiden Machtblöcken ihre Wege suchen. Diese drei teilweise diametral entgegengesetzten Narrative zur sicherheitspolitischen Entwicklung Europas in den letzten 25 Jahren sind eine Tatsache, die kurzfristig nicht überwunden werden kann. Sie bilden damit den Hintergrund, vor dem Lösungen für die Zukunft gesucht werden müssen. Bezüglich der zusammenfassenden Schlussfolgerung war sich das Panel allerdings einig: Die aktuelle sicherheitspolitische Lage in Europa birgt gravierende Gefahren und Risiken für alle. Zwar ist Europa nicht mehr geteilt wie zur Zeit des Kalten Kriegs, doch lässt sich die Situation als unsicher und prekär bezeichnen. Ein allseits akzeptierter „Status quo“ bzgl. staatlicher Souveränität und Allianzfreiheit in politischer und

12 Notwendig sind neben starker Schutzausrüstung auch Zugang zu elektronischen Mitteln der Überwachung. 13 So müssen Akkreditierungen von Experten/innen in Einsatzländern jeweils durch ihre Herkunftsländer beschaffen werden. 14 Vgl. Back to Diplomacy: Final Report and Recommendations of the Panel of Eminent Persons on European Security as a Common Project, November 2015, http://www.osce.org/networks/205846?download=true (04.02.2017).

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auch wirtschaftlicher Hinsicht existiert zurzeit nicht.15 Vor dem Hintergrund dieser Einschätzung unterbreitete das High Level Panel im November 2015 seine Empfehlungen unter dem Titel „Back to Diplomacy“. Die Empfehlungen lassen sich in drei zentrale Themenbereiche fassen: Risiken reduzieren, Minsker Abkommen umsetzen, Sicherheitsgarantien für alle. - Risiken reduzieren: Kurzfristig geht es darum, das Risiko eines ungeplanten militärischen Zwischenfalls und der damit gegebenenfalls einhergehenden Eskalation des Konflikts in Europa zu minimieren. Eine kontinuierliche gegenseitige Information der in einem gemeinsamen geographischen Raum agierenden militärischen Streitkräfte ist dazu zwingend. Die Transparenz bzgl. militärischer Einsätze und Übungen im Rahmen der entsprechenden Kontroll-Regimes16 gewinnt wieder an Bedeutung; sie ist Voraussetzung zur Deeskalation. Somit bleibt das Konzept der umfassenden Sicherheit der ehemaligen KSZE auch heute noch relevant, enthält es doch neben dem Dekalog von Prinzipien, welche die Beziehungen der Teilnehmerstaaten leiten sollen, die Grundsätze der friedlichen Streitbeilegung sowie vertrauens- und sicherheitsbildende Massnahmen im politisch-militärischen Bereich. - Umsetzung der Minsker Abkommen: Voraussetzung für neue Schritte in Richtung einer wieder verstärkt kooperativen Sicherheitspolitik in Europa ist die vollständige Umsetzung der Minsker Abkommen.17 Angesichts der Notlage der Menschen im Osten der Ukraine und ebenso mit Blick auf die geopolitische Relevanz der Auseinandersetzung ist ein Deblockieren des Konflikts dringend erforderlich. - Sicherheitsgarantien für alle Länder: Darüber hinaus fordert der Bericht des High Level Panels für jene Länder, die geographisch zwischen der Europäischen Union und der Russischen Föderation liegen, Sicherheit bzgl. ihrer eigenen sicherheitsund wirtschaftspolitischen Handlungsfähigkeit. Notwendig ist dazu ein robuster diplomatischer Prozess auf der Grundlage der Prinzipien und Regeln, wie sie 1975 in der Helsinki Schlussakte sowie 1991 in der Charta von Paris festgelegt wurden. 15 Durch die damaligen Einflussgebiete der Grossmächte wirkt der Kalte Krieg nach. 16 Vorliegend insbesondere: Wiener Dokument der OSZE (2011). 17 Das Protokoll von Minsk („Minsk I“) ist die schriftliche Zusammenfassung der Ergebnisse der Beratungen der aus Ukraine, der OSZE und der Russischen Föderation bestehenden trilateralen Kontaktgruppe. Das Protokoll wurde am 5. September 2014 in Minsk (Weissrussland) unterzeichnet, Hauptziel war ein begrenzter Waffenstillstand. Im Februar 2015 verhandelten der französische Präsident, die deutsche Bundeskanzlerin, der ukrainische Präsident sowie der russische Präsident („Normandie-Format“) einen „Massnahmenkomplex zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen“ (Minsk II). Der Massnahmenkomplex zielt auf eine Deeskalation und Befriedung der gewaltsamen Auseinandersetzungen im Osten der Ukraine und eine politische Beilegung des Konflikts und konkretisiert den Weg der Umsetzung von „Minsk I“. Er wurde von den Teilnehmern der Trilateralen Kontaktgruppe am 12. Februar 2015 unterzeichnet.

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An den Prinzipien, die damals festgelegt wurden, kann – bei aller Offenheit für neue Entwicklungen und trotz unterschiedlicher Perspektiven auf sicherheitspolitisch relevante Ereignisse – nicht gerüttelt werden. Überdies unterstreicht der Bericht mit dem Ansatz „economic connectivity“ die Bedeutung wirtschaftlicher Zusammenarbeit als Chance für sicherheitspolitische Stabilität.

Outreach und Dialog Um die Ergebnisse und Empfehlungen des Berichts zu verbreiten und eine umfassende Diskussion zur Sicherheit in Europa zu fördern, führten Mitglieder des Panels 2015 und 2016 vertiefende Gespräche mit Akteuren der europäischen Sicherheitspolitik. Zudem organisierten sie öffentliche Veranstaltungen in ihren Herkunftsländern18 und nahmen an weiteren geschlossenen und öffentlichen Veranstaltungen teil. Des Weiteren äusserten sich die Mitglieder des Panels in diversen Publikationen. Dabei unterstrichen sie wiederholt die Notwendigkeit, Spannungen zu deeskalieren, Beziehungen zu entmilitarisieren und im Rahmen eines robusten diplomatischen Prozesses Schritte zur Verbesserung des Sicherheitsumfelds in Europa zu unternehmen. Die Ergebnisse dieses Outreach-Prozesses wurden Ende 2016 in einem dritten Bericht des High Level Panels zusammengefasst.19

Lehren aus der Arbeit des High Level Panels mit Blick auf kooperative Sicherheit Seitdem das High Level Panel seinen Schlussbericht veröffentlichte, hat sich die sicherheitspolitische Lage in Europa nicht verbessert. Noch immer finden im Osten der Ukraine gewaltsame Auseinandersetzungen20 statt und nach wie vor fehlen die Grundlagen für eine menschliche Sicherheit im umfassenden Sinne. Deutlich wird, dass die 18 19

20

So organisierten Panelmitglieder Veranstaltungen u.a. in Brüssel, Basel, München, Rom, Athen, Washington, Kiew, Riga, London, Warschau; leider wurde in Moskau keine entsprechende Veranstaltung durchgeführt. Vgl. Renewing Dialogue on European Security: A Way Forward. Report on outreach events of the Panel of Eminent Persons on European Security as a Common Project in 2016, http://www.osce.org/networks/291001?download=true (04.02.2017). Das UN Office of the High Commissioner on Human Rights (OHCHR) spricht von über 9.700 Kriegsopfern seit April 2014.

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Politik allseits blockiert ist: Nicht nur in Moskau, auch in Kiew und auf internationaler Ebene findet aktuell lediglich eine Bewirtschaftung der Krise statt. Wie schnell aber aus einem eingefrorenen Konflikt wieder ein Krieg entstehen kann, zeigte 2015/16 die Eskalation des seit Jahrzehnten dauernden Konflikts in Bergkarabach/Aserbaidschan. Dies ruft die verschiedenen sogenannten eingefrorenen Konflikte in Ländern zwischen der Machtsphäre von NATO und EU einerseits und Russlands andererseits in Erinnerung.21 Die Empfehlungen des Berichts „Back to Diplomacy“ behalten deshalb ihre Aktualität. Darüber hinaus lassen sich aus den Arbeiten des High Level Panels einige grundlegende Lehren mit Blick auf kooperative Sicherheit, Frieden und Versöhnung ziehen. - Historisches Wissen und Erinnern sind Voraussetzungen für Stabilität und Frieden. Die Krise in und um die Ukraine offenbarte unter anderem das mangelhafte Wissen in Europa und in den USA zu politischen Wahrnehmungen und Absichten der Russischen Föderation während der letzten 25 Jahre. Im Glauben, mit der Wende von 1989/90 hätten sich „westliche“ Konzepte von Pluralismus, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und staatlicher Souveränität europaweit und ein für alle Mal durchgesetzt, nahm mancherorts die vertiefte und faktennahe Auseinandersetzung mit Entwicklungen in der Russischen Föderation ab. Entsprechende Wissensdefizite wurden nachträglich selbst in Ministerien grosser geopolitischer Akteure erkannt. Wie wichtig präzises Wissen zur Geschichte, zu ihrer Wahrnehmung und zu ihrer Rezeption ist, um rechtzeitig stabilisierend handeln zu können, zeigt aber nicht nur die Krise in und um die Ukraine, sondern ebenso der aktuelle Aufstieg rechtspopulistischer Gruppen in Europa und darüber hinaus, deren Denk- und Handlungsstrukturen die verhängnisvollen politischen Entwicklungen der 30er-Jahre wiedererkennen lassen. - Gegenseitige Anerkennung auf Augenhöhe ist zwingend. Dass das High Level Panel drei unterschiedliche Narrative zur jüngeren sicherheitspolitischen Geschichte Europas präsentierte und trotz unterschiedlicher Einschätzungen zu den Ursachen und zur Entwicklung der Krise zu gemeinsamen Schlussfolgerungen und zu Empfehlungen kam, die von den Mitgliedern des Panels weitgehend getragen werden,22 ist als innovativer und sicherheitspolitisch bedeutsamer Beitrag des Panels 21 22

Abchasien, Südossetien, Transnistrien, Bergkarabach, Krim sowie aus Sicht der Russischen Föderation auch das Kosovo. Das russische Mitglied des Panels distanzierte sich in einem präzisierenden Brief, der im Anhang zum Bericht ebenfalls präsentiert wird, von einem Teil der Ansätze. Er spricht sich dabei für eine grundlegend neue sicherheitspolitische Architektur für Eurasien aus.

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zur aktuellen Lage in Europa zu werten. Das Verfassen gemeinsamer Schlussfolgerungen stellte eine grosse Herausforderung für das Panel dar, dessen Mitglieder zumindest teilweise die zwischenstaatlichen Spannungen selbst widerspiegelten. Es unterstreicht die Bedeutung der gegenseitigen Anerkennung auf Augenhöhe als Voraussetzung für friedens- und sicherheitspolitische Übereinkommen. Doch gerade daran mangelte es in den letzten fünfundzwanzig Jahren allzu oft, wenn sich die NATO, die EU und die Russische Föderation begegneten. Präzise Sprache ohne Wertungen ist Voraussetzung zum Dialog. Innenpolitisch wie auch aussenpolitisch werden die Bedeutung und das Konfliktpotenzial der Sprache immer wieder unterschätzt. Dies betrifft die Anerkennung verschiedener Sprachen innerhalb eines Landes einerseits sowie andererseits den sorgsamen Umgang mit Sprache an sich. Verkürzende Ausdrücke wie „der Westen“, „der Osten“, „Russland“ oder „die Demokratie“ können Kristallisationskerne für neue Konflikte werden. Ein Dialog, welcher die jeweils andere Seite ernst nehmen will, muss eine präzise Sprache führen, Fakten benennen und gleichzeitig auf scheinbar vereinfachende, aber implizit oder explizit ideologisch konnotierte Ausdrücke verzichten. Gemeinsame Interessen sind Grundlage für gemeinsames Handeln. Unsere Welt vernetzt sich technologisch, wirtschaftlich und kulturell immer stärker – und steht gleichzeitig vor den globalen Herausforderungen des Klimawandels, der abnehmenden Beschäftigung angesichts zunehmender Automatisierung sowie der gesellschaftlichen Umwälzungen durch weltweite Migrationsströme. Hinzu kommt die Notwendigkeit der Eindämmung terroristischer Anschläge gewaltbereiter Individuen und Gruppen. Diese „Grand Challenges“ schaffen ausreichend gemeinsame Interessen als Grundlage für gemeinsames Handeln auf internationaler Ebene – unabhängig von zwischenstaatlichen Differenzen. Die neue Agenda 203023 der Vereinten Nationen mit ihren 17 Zielen zur nachhaltigen Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDG) bietet dazu den international verbindlichen Rahmen. Menschliche Sicherheit kann nur umfassend sein. Die Umsetzung der 17 SDG in nationale und internationale Politiken bietet eine neue Chance für umfassende friedenspolitische Ansätze in der Tradition der OSZE, die sich seit ihrer Gründung stets sowohl für die politisch-militärische Dimension als auch für die Wirtschafts- und Umweltdimension und für die Humanitäre (Menschenrechts-) Dimension von Sicherheit einsetzt. Was vor 40 Jahren als Ergebnis unterschiedliTransforming our World: The 2030 Agenda for Sustainable Development, United Nations, 2015.

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cher Ideologien und Interessen ausgehandelt wurde, könnte heute aktueller nicht sein: Immer stärker zeigt sich, dass menschliche Sicherheit nur umfassend konzipiert und umgesetzt werden kann. - Innenpolitik und Aussenpolitik sind friedenspolitisch miteinander verknüpft. Die Krise in und um die Ukraine zeigt einmal mehr, wie fliessend die Übergänge von innenpolitischen Auseinandersetzungen und zwischenstaatlichen Konflikten sein können – und dies im vorliegenden Fall mit einer geopolitischen Relevanz, die über die Ukraine und über Europa hinausweist. Es wird deutlich, in welchem Ausmass zwischenstaatliche Konflikte durch innenpolitische Auseinandersetzungen und Machtfragen in den jeweils beteiligten Staaten ausgelöst oder verstärkt werden und wie umgekehrt zwischenstaatliche Auseinandersetzungen innenpolitisch notwendige Klärungen verhindern. Zwischenstaatliche Friedenspolitik muss deshalb einhergehen mit einer Politik, die auch innenpolitisch den Menschen Sicherheit gibt, Perspektiven aufzeigt und Horizonte öffnet. Nur so sind innenpolitisch Mehrheiten zu schaffen für aussenpolitische Zugeständnisse und Kompromisse. Abschliessend zeigen die Auseinandersetzungen in und um die Ukraine zudem, in welchem Ausmass das Konzept der nichtgebundenen und neutralen Staaten samt der damit einst verbundenen Sicherheitsgarantien der Grossmächte an Bedeutung verloren hat. Völkerrechtlich obsolet wurde die Neutralität 1945, als die internationale Staatengemeinschaft in Artikel 2 der UNO-Charta24 ein allgemeines Gewaltverbot in internationalen Beziehungen statuierte, das über das blosse Kriegsverbot des Briand-Kellogg-Pakts25 hinausgeht. Und politisch hinfällig wurde die Neutralität mit dem Wegfall der bipolaren Weltordnung des Kalten Kriegs Ende des letzten Jahrhunderts. Die ehemals „westlichen“ Neutralen26 treten heute nur noch im Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat (EAPC) der NATO unter der Bezeichnung der „WEP 5 Group“ in Erscheinung und auch in der OSZE hat diese Staaten-Konstellation nur noch sporadisch Bestand. Das Konzept der Neutralität wirkt somit heute vor allem noch in einem metaphorischen Sinne. Gleichzeitig unterstreicht der Schweizer OSZE-Vorsitz 2014 die ungebrochene Bedeutung unparteilicher Brückenbauer/innen als Vermittler/innen zwischen Streitparteien. Ihr Engagement im Rahmen internationaler Organisationen wie der UNO oder der OSZE ist mit Blick auf mehr Frieden auf der Welt zentral. 24 25

26

Unterschrieben am 26. Juni 1945 in San Francisco. Vgl. https://www.unric.org/html/german/pdf/charta.pdf (04.02.2017). Der „Briand-Kellogg-Pakt“, benannt nach den damaligen Aussenministern Frankreichs und der USA, ist ein völkerrechtlicher Vertrag zur Ächtung des Kriegs. Er wurde am 27. August 1928 in Paris zunächst von elf, später von insgesamt 62 Nationen unterschrieben. Schweden, Österreich, Schweiz, Finnland und Irland.

ZUM VIELGESTALTIGEN KONZEPT DES RULE OF LAW – gleichzeitig eine Einladung an Wissenschafter und Bürger, sich vermehrt mit den Grundlagen des rechtlichen Denkens zu befassen

Daniel Thürer*

In the following pages I offer nothing more than simple facts, plain arguments, and common sense; and have no other preliminaries to settle with the reader, than that he will divest himself of prejudice and prepossession, and suffer his reason and his feelings to determine for themselves; that he will put on, or rather that he will not put off, the true character of man, and generously enlarge his views beyond the present day.1

Jacques Picard und ich waren Mitglieder der „Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg“ (UEK). Die 1998 vom Bundesrat eingesetzte Kommission verfügte, verglichen mit entsprechenden Einrichtungen in anderen Ländern, über grosszügig bemessene Ressourcen und war insofern nicht einfach eine „Historikerkommission“, als ihr immer auch ein Jurist angehörte.2 Die Sitzungen der Kommission, die ihre Arbeiten 2002 abschloss, waren oft turbulent und verwirrend, oft aber auch luzid und produktiv. Für grundsätzliche Debatten rechtlicher Natur blieb meist nicht viel Zeit. Dabei stellten sich grundlegende Fragen, vor allem zum Thema von „transitional justice“. Was für fundamentale Rechtsprinzipien, so fragte man sich etwa, waren für die Vorgänge, welche die Kommission zu eruieren, zu analysieren und zu bewerten hatte, relevant? Standen diese Normen im einschlägigen historischen Zeit*



1

2

Das Manuskript wurde Mitte Dezember 2016 abgeschlossen; spätere Vorgänge sind nicht mehr berücksichtigt worden. Paine, Thomas: Common Sense, in: Paine, Thomas (Ed.): Rights of Man, Common Sense and Other Political Writings (Oxford Wold’s Classics, Edited with an Introduction and Notes by Mark Philip), Oxford 1995, reissued 2008, p. 19. Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (Band 18 (Öffentliches Recht) und Band 19 (Privatrecht), koordiniert und zusammengestellt von Daniel Thürer und Frank Haldemann), Zürich 2001.

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punkt in Geltung? Oder befanden sie sich im Prozess der Entstehung? In welchen Formen und in welchem Mass hatte sich das Recht, gerade als Reaktion auf den Schock des Zweiten Weltkriegs, seither weiterentwickelt mit der Folge, dass es auf damalige Tatbestände noch nicht als solche zur Anwendung gebracht werden konnte? Auch wenn viele Fragen nicht gestellt wurden oder offenblieben, hatte ich doch in unseren Debatten stets das Gefühl, dass Jacques einen besonderen Sinn für rechtliche Problemstellungen, für die Methoden des juristischen Denkens und für die Eigenheiten unseres juristischen Métiers besitzt.3 Deshalb möchte ich mit ihm (und mit anderen interessierten Leserinnen und Lesern) in seiner so sehr verdienten Festschrift mit vielen guten Erinnerungen den damals nicht weiter verfolgten Faden wieder aufnehmen. Ich hoffe, dass der Jubilar meinen Gedanken mit Wohlwollen begegnet.

Zur Thematik – eine Einleitung Meine Überlegungen bewegen sich auf einer eher abstrakten Ebene und in einem breiten Kontext. Ich greife in meinem Essay das alte, vielgestaltige, vielfach verkannte und missverstandene Konzept der „Rule of Law“ auf. Dieses Prinzip ist heute – über den angelsächsischen Bereich hinaus – in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen, wenn es auch noch nicht so sehr Teil des allgemeinen öffentlichen Bewusstseins geworden ist. Stephen Breyer, Mitglied des amerikanischen Supreme Court, betonte unlängst sogar: ... the important divisions in the world are not geographical, racial, or religious but between those who believe in the rule of law and those who do not. Jurists across the world help to weave the fabric in their day-to-day work, persisting in their labors even if, in the manner of Penelope’s handiwork, what is woven by day sometimes unrevals during the night. Yet we continue working, not as politicians but as technicians, hopeful but uncertain of success.4

Was also ist der Inhalt, der Stellenwert dieses schillernden Konzepts, dem Richter Breyer eine so kategoriale, weltbestimmende Bedeutung beimisst? Man könnte all­ gemein sagen, dass mit „Rule of Law“ ein verbindliches, autoritatives System von Prinzipien und Regeln bezeichnet wird. Dieses hat nicht eine deskriptive, sondern eine 3 4

Das zeigt sich auf Schritt und Tritt in seinen Schriften und insbesondere auch in seinem Standardwerk „Die Schweiz und die Juden“, Zürich 1994. Breyer, Stephen: The Court and the World – American Law and the Global Realities, New York 2015, p. 284.

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normative Bedeutung. Das Konzept ist also nicht einfach formal im Sinne von Rechtmässigkeit, Legalität oder – so die Businesssprache – als „compliance“ zu verstehen. „Rule of Law“ bedeutet vielmehr Geltungsanspruch des Rechts als solchen. Der Anspruch auf Verbindlichkeit steht im Zentrum des Rechts, ob national, transnational oder international, ob privat-, öffentlich- oder gemischtrechtlichen Charakters. Der Begriff ist umfassend, systematisch, verbindet rechtliche Ordnungsformen und ist ihnen immanent. Das Konzept besagt, dass hoheitliches Handeln nicht willkürlich sein darf, dass sich staatliches Handeln auf Regeln stützen muss. Die Ausübung staatlicher Macht muss rechtlich diszipliniert sein. Obrigkeitliches Handeln darf nicht schrankenlos und muss voraussehbar und kontrollierbar sein.5 Viele Fragen stellen sich ein: Ist mit „rule of law“ dasselbe gemeint wie mit „rule by laws“? Oder beinhaltet Letzteres ein Instrument oder eine Methode der Herrschaft, während der Begriff der „rule of law“ wertebasiert ist? Ist der Begriff formal im Sinne des Legalitätsprinzips („thin“) oder substanzgeladen im Sinne einer werthaften Grundordnung („thick“) zu verstehen? Und wenn Letzteres der Fall ist: Deckt sich der moderne Begriff mit „Demokratie“ oder „Menschenrechten“? Oder handelt es sich hierbei um sich überschneidende Kreise? Auf welchen Stufen des Rechts ist das „Rule of Law“-Prinzip in welchen Ausformungen angesiedelt? Was für ein Gestaltungspotential hat „Rule of Law“ als Ordnungsprinzip für die Zukunft? Wir haben jedenfalls eine komplexe normative Idee vor uns. Ich versuche, diese Rechtsidee zu verstehen, indem ich den Spuren ihrer geschichtlichen Entfaltung nachgehe und verschiedene Formen ihrer dogmatischen und praktischen Ausgestaltung aufzeige. Im vorliegenden Text gehe ich zunächst den Ursprüngen des „Rule of Law“-Konzepts in der Sphäre staatlicher Rechtsordnungen nach. Danach folgt ein Blick auf die Projektion des Prinzips in die Welt europäischer Institutionen und dann, in einem weiteren Abschnitt, auf die Plattform des Völkerrechts. Abschliessend weise ich darauf hin, wie sehr diese Idee im zeitgenössischen Diskurs vernachlässigt wird und diesen verarmen lässt und wie notwendig, ja imperativ eine Renaissance des prinzipiell-rechtlichen und institutionellen Denkens für die Gestaltung des Gemeinwesens in seinen verschiedenen Formen und Stufen gerade heute geworden ist.

5

Zu den Grundgedanken von „Rule of Law“ vgl. bereits Thürer, Daniel: Das Willkürverbot nach Art. 4 BV, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht II (1987), S. 412–533. Zu seiner Funktion als verbindendes Glied zwischen Ordnungssystemen des Staates und jenseits der Staaten: Thürer, Daniel: Demokratie und Rule of Law im internationalen, staatlichen und transnationalen Recht – eine kosmopolitische Perspektive, in: Swiss Review of International and European Law 26 (2016), S. 7–19.

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Ursprünge in der Sphäre staatlicher Rechtsordnungen: Entfaltung des Rechtsstaates von mittelalterlichen Ansätzen bis zu Formen des modernen Konstitutionalismus Il n’y a point encore de liberté si la puissance de juger n’est pas séparée de la puissance législative et de l’exécutrice. Si elle était jointe à la puissance législative, le pouvoir sur la vie et la liberté des citoyens serait arbitraire; car le juge serait législateur.6

Die „Rule of Law“-Idee ist nicht Produkt unserer Tage, sosehr sie nunmehr auch Eingang ins moderne Vokabular gefunden hat. Ihre Wurzeln reichen weit zurück in die Geschichte der westlichen Zivilisation. Sie führen vom mittelalterlichen Staatsrecht Englands über die amerikanische Verfassungsentwicklung hin zu modernen Formen des Konstitutionalismus, bis das Konzept dann eine staatenübergreifende Gestalt erlangte. Die Ursprünge der Idee liegen also im angelsächsischen Recht. Wichtiges Signal für die Etablierung des „Rule of Law“-Konzepts im rechtlichen Denken und Handeln bildete die Magna Carta von 1215, die in Artikel 39 proklamierte: The King must not take the definition of rights into his own hands, but must proceed against none by force for an alleged violation of them until a case has been made out against such a one by ‚due process of law‘.

Die Gedanken der persönlichen Freiheit und der prozeduralen Fairness stehen im Zentrum. „Rule of Law“ war auch eine Leitidee in der Amerikanischen Revolution. Thomas Paine, einer der massgebenden Gestalter der amerikanischen Staatsideen, nahm den Geist der Magna Carta auf und schrieb: „For as in absolute governments the king is law, so in free countries the law ought to be king and there ought to be no other.“ Der Gedanke der Souveränität des Rechts fand seine Verkörperung im Verfassungsstaat, wie er 1787 in den Vereinigten Staaten und nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa, besonders eindrücklich 1949 in Form des deutschen Grundgesetzes, Gestalt annahm.

6

Montesquieu, Charles: De l’esprit des lois, Genève 1748 (Livre XI), Chapitre 6.

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In den USA nahm der Supreme Court im Fall Marbury vs. Madison (1803) für sich die Kompetenz in Anpruch, die Verfassungsmässigkeit von Gesetzen zu überprüfen („judicial review“). Es war damit die historisch erste Verfassungsgerichtsbarkeit entstanden. Das „Rule of law“-Prinzip erhielt eine neue, integrative, umfassende Gestalt. In Europa verstand man den „Rule of law“-Gedanken lange als „Herrschaft der Gesetze“. Regierung und Verwaltung sollten dem Gesetz gehorchen, wie dieses von der Legislative beschlossen wurde. Die Idee des Rechtsstaates gelangte allerdings im 20. Jahrhundert – pervertiert in ihr Gegenteil – im Zeichen von Totalitarismus und Diktatur in eine fundamentale Krise. Das Legalitätsprinzip vermochte nicht zu verhindern, dass auf dem Wege der Gesetzgebung schwerstes Unrecht angerichtet wurde. Im Jahr 1935 wurden vom deutschen Gesetzgeber in formell legaler, materiell aber zutiefst illegitimer Weise die Nürnberger Rassengesetze erlassen. Das nationalsozialistische Regime beging schwerste Verbrechen unter Berufung auf und mit den Mitteln des damals geltenden Verwaltungsrechts. Das „Bürgerliche Gesetzbuch“ und das Strafgesetzbuch wurden von den Gerichten auf dem Wege der Interpretation in das Gegenteil der ihnen ursprünglich zu Grunde gelegten Werteordnung verwandelt. „Rule by laws“ war also keine Garantie dafür, dass „rule of law“ in einem werthaften Sinne zum Tragen kam. Millionen von Opfern, die sich das nationalsozialistische und sozialistische Regime wie auch andere Gewaltherrschaften zu Schulden kommen liessen, sind Zeugnis hierfür. Die Erfahrungen mit der Diktatur führten auf dem europäischen Kontinent zur Neubelebung der Ideen der Verfassungsstaatlichkeit. Mit wertgeladenen, gerichtlich kontrollierten Verfassungen sollten Diktatur und schrankenlose Staatsmacht für die Zukunft verhindert werden. In der Schweiz war etwa der Zürcher Staatsrechtler Werner Kägi mit seinem Buch über „Die Verfassung als Grundordnung des Staates“7 ein wichtiger Vorkämpfer der Verfassungsidee. Er knüpfte an bedeutende Werke wie diejenigen von Walther Burckhardt oder Zaccaria Giacometti an. Einen historischen, wirkungskräftigen Neuanfang machte Deutschland 1949 durch Erlass des Grundgesetzes, das im Laufe der Jahre in ganz Europa Resonanz fand. „Als Verfassung instituiert das Grundgesetz“, befand der derzeitige Präsident des deutschen Bundesverfassungsgerichts, „staatliche Gewalt als rechtliche Gewalt.“ Diese verkörpere eine Kultur des „Masses“ und der „Mitte“.8 Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit entfalteten im deutschen Staatsverständnis eine überragende Bedeutung und erlangten in Ostund Mitteleuropa und weit darüber hinaus eine Resonanz ohnegleichen. Zurzeit wird 7 8

Kägi, Werner: Die Verfassung als Grundordnung des Staates, Zürich 1945. Vosskuhle, Andreas: Die Verfassung der Mitte, München 2015, S. 28.

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allerdings zunehmend kritisiert, dass das Bundesverfassungsgericht im politischen und rechtlichen Geschehen eine übermächtige Position einnehme. Wichtig scheint mir, aus einer historischen Perspektive auf die Transformation des „Rule of Law“-Prinzips in dasjenige der Verfassungsstaatlichkeit hinzuweisen. Der Konstitutionalismus hat, als Errungenschaft des modernen Staatsrechts, grosse Erfolge erzielt. Heute zeigen die Fälle Ungarn, Polen oder die Türkei allerdings auch, dass der Verfassungsstaat selbst in Europa noch grosse Bewährungsproben zu bestehen haben wird.

Projektion auf Europa: The „european way“9 Europe will be what it was, and what it never has been.10

In Europa ist nach dem Zweiten Weltkrieg ein Werk der Integration von Staaten und Völkern entstanden, über das sich – wie der Historiker Fritz Stern urteilte – im Rückblick nur staunen lässt. Ein zentrales Element, das den alten, autoritären Nationalismus überwinden und einen gemeinsamen Boden für die Einigung schaffen half, war das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. In Artikel 1 des Statuts des Europarates von 1950 heisst es: Jedes Mitglied des Europarates erkennt den Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts und den Grundsatz an, dass jeder, der seiner Hoheitsgewalt unterliegt, der Menschenrechte und Grundfreiheiten teilhaftig werden soll.

In einem ähnlichen Geist verlief die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft/Union. Im Lissabon-Vertrag über die Europäische Union wird nur eine längere Entwicklung resümiert, wenn im Artikel 2 statuiert wird: Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.

9 10

Vgl. Jacobs, Francis G.: The Sovereignty of Law – The European Way, Cambridge 2007. Allott, Philip: The Health of Nations – Society and Laws beyond the State, Cambridge 2002, p. 204.

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Gemäss den 1992 in Kopenhagen beschlossenen Kriterien für die Aufnahme neuer Mitglieder in die Union gehört Rechtsstaatlichkeit neben Demokratie und Minderheitenschutz zu den Voraussetzungen der Mitgliedschaft. Der Europäischen Union ist es zwar nicht gelungen, sich eine eigentliche Verfassung zu geben. Sie hat sich aber als „Raum der Rule of Law, der Menschenrechte und der Demokratie“ etabliert.11 In diesem Rahmen nahm der Europäische Gerichtshof zunehmend eine dominierende Stellung ein. Mittels teleologischer, dynamischer Interpretation der Verträge und des Sekundärrechts unterschied er sich in seiner Rechtsprechung zusehends von Funktionen, wie sie sonst von staatlichen und internationalen Gerichten wahrgenommen werden.12 Der Luxemburger Gerichtshof manövrierte sich im Institutionensystem der Gemeinschaft/Union zusehends in eine Position, die als „gouvernement des juges“ (Edouard Lambert) bezeichnet wurde. Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nahm, wenn auch weniger weitgehend, ähnlich dynamische, rechtsschöpferische Züge an. So betonte der Strassburger Gerichtshof wiederholt, dass die Europäische Menschenrechtskonvention ein „living instrument“ darstelle. Neben den europäischen Gerichten stehen auch wichtige Organe des Europarates wie die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz oder die Folterkommission und Mechanismen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zum Schutze von Menschenrechten und Minderheiten auf ihre Weise im Dienste des „rule of law“. Vor dem Hintergrund der kriegs- und krisenreichen Geschichte Europas betrachtet, stellen Recht und Rechtsprechung „the european way“ ein segensreiches Phänomen, eine Zäsur, ein neues Paradigma der europäischen Ordnung dar, das auch von Historikern in der Regel in seiner Neuartigkeit und in seiner vollen Tragweite nicht adäquat erfasst wird. Gewiss ist das Werk europäischer Integration vielerorts durch bürokratisch-gerichtliche Eigendynamik und Übereifer der einzelnen Funktionsträger gefährdet. Auch wenn europäische Institutionen oft genug mangelnde Sensibilität für Diversität und Pluralismus rechtlicher und politischer Kulturen und mangelnde Abstimmung mit nationalen Rechtstraditionen sichtbar werden lassen, ja gar Züge eines mechanistisch-uniformistischen Denkens nicht von der Hand zu weisen sind, präsentiert sich das ganze grosse Bild aber doch als eine im öffentlichen Bewusstsein zwar – da abstrakt – noch zu wenig wahrgenommene, aber doch historische Errungenschaft, der Sorge zu tragen ist. 11 Näheres hierzu etwa bei Thürer, Daniel: Europa als Erfahrung und Experiment – Grundidee Gerechtigkeit (Band 3), Baden-Baden/Zürich 2015, S. 189–194. 12 Vgl. hierzu Grimm, Dieter: Europa ja – aber welches?, München 2016.

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Völkerrecht als weltweite Plattform Franklin was in some sense a citizen of the world. He did many things because he thought they were good for the world at large, not just for any group within it. But the Junto or the Masons or the Club of Honest Whigs was too small and partial a group to define an identity, the world was too large.13

Anders als in der staatlichen Sphäre und im Rahmen der europäischen Institutionen nahm „Rule of Law“ in der internationalen Gemeinschaft eine viel bescheidenere Stellung ein. Die Anfänge liegen im Kriegsrecht, wo zwischen dem „ius in bello“ und “ius ad bellum“ unterschieden wurde. Der Genfer Jurist Jean Pictet, treibende Kraft beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz für die Entwicklung des humanitären Völkerrechts, wurde nicht müde, die zähmende, gewaltlimitierende Kraft des humanitären Völkerrechts hervorzuheben. Krönung der Bestrebungen zur Verrechtlichung des „law of war“ bildete, beginnend mit dem Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg (1945) und fortgesetzt seit den 1990er-Jahren in verschiedenen Ad-hoc-Tribunalen, 1998 die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs zur Ahndung von schweren internationalen Verbrechen. UNO-Generalsekretär Kofi Annan verglich anlässich der Eröffnung der Römer Konferenz zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes die Bedeutung dieser Konferenz mit derjenigen von San Francisco zur Schaffung der Vereinten Nationen. Die internationale Strafgerichtsbarkeit bildete vielleicht den spektakulärsten, heute allerdings in hohem Masse gefährdeten Fall eines Triumphs für das „Rule of Law“-Prinzip im Völkerrecht. Insgesamt soll nicht übersehen werden, dass es die Generalversammlung der UNO vor wenigen Jahren unternommen hat, die Bedeutung des Konzepts in seiner ganzen Breite aufzurollen und ins öffentliche Bewusstsein zu tragen. Mit einer Resolution vom 24. September 2012 nahm die Generalversammlung ein Dokument an mit dem Titel „A common platform: Declaration of the high-level meeting of the General Assembly on the rule of law at the national and international levels“. Diese Resolution wies etwa die folgenden Inhalte auf: 11. We recognize the importance of national ownership in rule of law activities, strengthening justice and security institutions that are accessible and responsive to 13

Morgan, Edmund S.: Benjamin Franklin, New Haven/London 2003, p. 49.

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the needs and rights of all individuals and which build trust and promote social cohesion and economic prosperity. 12. We reaffirm the principle of good governance and commit to an effective, just, non-discriminatory and equitable delivery of public services pertaining to the rule of law and ensuring that there is no discrimination in the administration of justice. 13. We are convinced that the independence of the judicial system, together with its impartiality and integrity, is an essential prerequisite for upholding the rule of law and ensuring that there is no discrimination in the administration of justice. 14. We emphasize the right of equal access to justice for all, including members of vulnerable groups, and the importance of awareness-raising concerning legal rights, and in this regard we commit to taking all necessary steps to provide fair, transparent, effective, non-discriminatory and accountable services that promote access to justice for all, including legal aid. 18. We emphasize the importance of the rule of law as one of the key elements of conflict prevention, peacekeeping, conflict resolution and peacebuilding, stress that justice, including transitional justice, is a fundamental building block of substainable peace in conflict and post-conflict situations, and stress the need for the international community, including the United Nations, to assist and support such countries, upon their request, as they may face special challenges during their transition. 20. We stress that greater compliance with international humanitarian law is an indispensable prerequisite for improving the situation of victims of armed conflict, and we reaffirm the obligation of all States and all parties to armed conflict to respect and ensure for international humanitarian law in all circumstances, and also stress the need for wide dissemination and full implementation of international humanitarian law at the national level. 22. We commit to ensuring that impunity is not tolerated for genocide, war crimes and crimes against humanity or for violations of international humanitarian law and gross violations of human rights law, and that such violations are properly investigated and appropriately sanctioned, including by bringing the perpetrators of any crimes to justice, through national mechanisms or, where appropriate, regional or international mechanisms, in accordance with international law, and for this purpose we encourage States to strengthen national judicial systems and institutions.

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23. We recognize the role of the International Criminal Court in a multilateral system that aims to end impunity and establish the rule of law, and in this respect we welcome the States that have become parties to the Rome Statute of the International Criminal Court, and call upon all States that are not yet parties to the Statute to consider ratifying or acceding to it, and emphasize the importance of cooperation with the Court. Es liegt hiermit vielleicht das umfassendste „Inventar“ dessen vor, was heute unter „Rule of Law“ verstanden wird. Es soll aber nicht übersehen werden, dass – obwohl traditionsreich – das Konzept gerade im internationalen Bereich der strukturellen Fortentwicklung und Vertiefung bedarf. So fordert der italienische Jurist Gianluigi Palombella in einem grundlegenden Aufsatz für die Zukunft „‚another‘ international law, one that preserves, through jus cogens and erga omnes norms, those aims and values placed beyond the equal and sovereign ineffability of States“.14 Wegweisend sind auch moderne Ansätze zu einem „konstitutionellen“ Völkerrechtsverständnis.

Und heute? Blick auf die Entwicklungstendenzen vom „Plateau“ zwischen den Systemen In this world, the passage of time brings increasing order. Order is the law of nature, the universal trend, the cosmic direction. If time is an arrow, that arrow points toward order.15

Am denkwürdigen 9. November 2016, als Donald Trump ins Weisse Haus gewählt wurde, berief sich Hillary Clinton in ihrer Concession Speech auf „Rule of Law“ als Identitätselement ihres Staatsverständnisses und als Kern des gelebten amerikanischen Patriotismus. Präsident Obama tat wenige Stunden später bei seinem Auftritt im Rose Garden des Weissen Hauses dasselbe. Im Vereinigten Königsreich wurde am 23. Juni 2016 in einer Volksabstimmung der Austritt aus der Europäischen Union (Brexit) beschlossen. Am 3. November 2016 hatte, im Fall R. (Miller) v. Secretary of State for Exiting the European Union der „High 14 15

Palombella, Gianluigi: The Rule of Law at Home and Abroad, in: Hague Journal on the Rule of Law 8/1 (2016), p.13. Lightman, Alan: Einstein’s Dreams, New York 1993, p. 47.

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Court of Justice“16 entschieden, dass eine Austrittserklärung aus der Europäischen Union verfassungsrechtlich von der britischen Regierung nicht ohne Zustimmung des Parlaments abgegeben werden darf; die Verfassung verbiete es der Regierung, der Europäischen Union eine solche Erklärung „by exercise of the Crown’s prerogative powers and without reference to Parliament“ zu notifizieren. Der Ausdruck „Rule of Law“ wurde in der Begründung des Entscheids nicht ausdrücklich verwendet; implizit stand er aber doch im Zentrum, indem sich das Gericht auf Sir Edward Coke berief, der – historisch zwischen Magna Carta und Thomas Paine stehend – in England als Wegbereiter der „judicial review“ genannt wurde. Das Gericht zitierte in Paragraph 27 das Diktum Coke’s: „The King has no prerogative, but that which the law of the land allows him.“ Und die Richter kamen im vorliegenden Fall zum Schluss: „The Crown there has no prerogative power to effect a withdrawal from the relevant treaties by giving notice under Article 50 of the treaty of the European Union.“ Die Financial Times kommentierte am folgenden Tag: „Big business, the Bank of England and the prime minister all have felt the white-hot anger of populist Britain in the debate over Brexit. Yesterday, the High Court was the lastest branch of the British establishment to be dragged before the mob.“ Ein Sprecher der Premierministerin befürchtete: „But the furore – and calls from some Brexit campaigners for people to ‚take to the streets‘ – suggested that the vitriol and bile from a polarising referendum campaign were still washing over Britain more than four months later.“17 Gegen den Entscheid des High Court ist Berufung beim britischen Supreme Court eingelegt worden, dessen Urteil im Dezember 2017 zu erwarten ist. Die Hoffnung ist, dass „Rule of Law“ – nun in der Krise erprobt – zu neuer Stärke gelangt. „Rule of Law“ also hat – oder hatte? – in der angelsächsischen Welt einen guten Klang. Aber nicht nur hier. Vergegenwärtigen wir uns nochmals, was mit „Rule of Law“ gemeint ist: Lon L. Fuller, ein bedeutender Gelehrter der Harvard School, schrieb: Whatever the substantive purposes of a legal system, certain procedural purposes must be honored for a system to qualify as a system of law rather than as a mere regime of arbitrary and patternless exercises of state power. These purposes require that at least statutes (and other forms of made law, as appropriate): 1 must be suffieciently general (i.e., there must be rules); 2 must be publicly promulgated; 3 must be sufficiently prospective; 4 must be clear and intelligible; 16 17

The High Court of Justice Queen’s Bench Division Divisional Court, (20 16) EWHC 2768 /Admin. Financial Times, 5. November/6. November 2016, p. 4.

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5 must be free of contradictions; 6 must be sufficiently constant through time so that people can order their relations accordingly; 7 must not require the impossible; and 8 must be administered in a way sufficiently congruent with their wording so people can abide by them.18 Wie vorgängig erörtert, hatte die „Rule of Law“-Idee seit Fullers Schriften aber neue Dimensionen erlangt. Sie hat sich aus der Beschränkung auf den staatsrechtlichen Bereich gelöst und sich zum überstaatlichen Bereich geöffnet. Sie hat einen „cross order“-Charakter angenommen. Begriffe wie „Rechtsstaat“, „Etat de droit“ oder „Stato di Diritto“ sind – da auf den Staat fixiert – zu eng geworden und nur noch beschränkt in der Lage, die moderne Logik und den Wandel der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erfassen. „Rule of Law“ schafft neue Bezugs- und Verbindungspunkte zwischen den Systemen. Auch hat das „Rule of Law“-Konzept, innerstaatlich und staatsübergreifend, eine neue, verfassungsrechtliche Dimension gewonnen. Diese enthält gemeinsame Perspektiven der Regelungssysteme und sichert Zusammenhalt und Kohärenz. In diesem Essay sind Wissenschafter und Bürger eingeladen worden, sich vermehrt mit den Grundlagen rechtlichen Denkens zu befassen. Das „Rule of Law“-Konzept wurde zur Diskussion gestellt. Verschiedene Aspekte dieses schillernden Begriffs wurden erörtert. Abschliessend sollen zwei aktuelle Gefährdungen des Prinzips hervorgehoben werden. Zwischen diesen Extremen sollen diejenigen, die an der „Rule of Law“Idee weiterarbeiten, in Zukunft wie zwischen Skylla und Charybdis navigieren. Die besonderen Gefährdungen, denen „Rule of Law“ heute ausgesetzt ist, sind gegensätzlicher Natur. Die zwei Gefahren sind – wie ich meine – ein weltweit überhandnehmender Populismus einerseits und ein exzessiver rechtlicher Formalismus andererseits. Die eine Gefahr präsentiert sich in den verschiedenen Formen des modernen Populismus, wie er in vielen modernen Demokratien sein Unwesen treibt. Paine’s Prognose „The mind once enlightened cannot become dark“19 hat sich nicht bewahrheitet. Gerade unter dem Einfluss moderner Massenmedien, vor allem auch der „social media“, drohen in verunsicherten Gesellschaften irrationale, aggressive Bewegungen mit Wucht und Willkür launenhaft die Rationalität rechtsstaatlicher Systeme, so wie sie in den acht Kriterien von Fuller und in diesem Text dargelegt wurden, zum Einstürzen zu 18 19

Vgl. Summers, Robert S.: Lon L. Fuller, Stanford 1984, p. 28. Summers, Fuller, p. xvi.

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bringen. Die soeben zitierten Kommentare zum Entscheid des „High Court“ von England und Wales deuten an, wie weit diese gefährliche Entwicklung selbst im Stammland der „Rule of Law“-Doktrin bereits fortgeschritten ist. Auf der anderen Seite des Spektrums ist zunehmend ein gewisser Übereifer von Gerichten und Gesetzgebern wie auch in der Rechtswissenschaft festzustellen, sowohl innerstaatlich wie auch staatsübergreifend. So sind Rechtssprache und Begriffsbildungen häufig überkomplex, fragmentiert und oft kaum mehr verstehbar geworden und die Rechtswege sind selbst für Juristen oft kaum mehr überblickbar, es sei denn, dass diese einem kleinen Zirkel von Spezialisten angehören.20 So bemerkte ein deutscher Beobachter, man könne etwa „in Sachen Grundrechtsschutz vielleicht auch zu viel des Guten tun, und dann wird bekanntlich selbst aus Wohltat Plage“.21 Die Frage wird aufgeworfen, ob Richter, statt „Hüter“ des Rechts zu sein, zu dessen „Herren“ geworden sind,22 und der (deutschen) Staatsrechtslehre wird vorgeworfen, zu einem „Verfassungsgerichtspositivismus“23 zu neigen. Gesamthaft zeigt sich, wie prekär und schutzbedürftig die Herrschaft des Rechts, verstanden als ein das öffentliche Bewusstsein steuerndes Konzept, schon immer war und noch immer ist. Die rechtsstaatlichen Krisen in Ungarn, Polen und der Türkei stellen wohl nur die Spitze des Eisberges in Europa dar. „Rule of Law“ bedarf des Schutzes, vor allem aber nicht ausschliesslich durch unabhängige und unparteiische Institutionen der Justiz. Die „Dritte Gewalt“ ist der schwächste und besonders schutzwürdige Zweig in den komplexen Gefügen von „checks and balances“. Welche Wege sind zu gehen? Zwei Hinweise aus der amerikanischen Rechtskultur und -tradition scheinen angezeigt. Walt Whitman prägte die Formel eines „Arbiter of the Diverse“24 , die auch etwa auf die Rolle des internationalen Richters angewandt werden könnte und ihn vor Anmassungen, Selbstüberschätzung, mangelnder Rücksichtnahme auf Rechtstraditionen in den Staaten bewahren soll. Woodrow Wilson – dies der 20

21 22 23 24

Zu den Gefahren der Verselbständigung und Dominanz von Begriffen vgl. etwa Oehlinger, Theo: Die Rolle des Richters im postmodernen Verfassungsgefüge, in: Biaggini, Giovanni/ Diggelmann, Oliver/Kaufmann Christine (Hg.): Polis und Kosmopolis – Festschrift für Daniel Thürer, Zürich/Baden-Baden 2015, S. 565– 574; zu den Komplexitäten des Asylrechts vgl. Hailbronner, Kay: Gerechtigkeit bei der Aufnahme von Flüchtlingen im Europäischen Asylsystem, in: Biaggini/Diggelmannn/Kaufmann (Hg.), Polis, S. 211–223. Hillgruber, Christian: Gouvernement des juges – Fluch oder Segen? – eine Einführung, in: Hillgruber, Christian (Hg.): Gouvernement des juges – Fluch oder Segen, Paderborn 2014, S. 18. Vgl. etwa Depenheuer, Otto: Grenzenlos gefährlich – Selbstermächtigungen des Bundesverfassungsgerichts, in: Hillgruber (Hg.), Gouvernement, S. 84. Vgl. Depenheuer, Selbstermächtigungen, S. 106. Vgl. Nussbaum, Martha C.: Poetic Justice – The Literary Imagination and Public Life, Boston/Mass 1995, p. 79.

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zweite Richtpunkt – hob seinerzeit in einer Rede vor der American Bar Association die „staatsmännische“ Rolle des Juristen hervor: The country must find lawyers of the right sort and of the old spirit to advise it, or it must stumble through a very chaos of blind experiment. It never needed lawyers who are also statesmen more than it needs them now.25

In der Tat kann der „Rule of Law“-Idee nur Nachachtung verschafft werden, wenn sie von souveränen Richtern und in einer souveränen, klaren und plastischen, aufs Wesentliche bezogenen, überzeugenden Sprache ausgeformt wird, die von Bürgerinnen und Bürgern verstanden wird. „Rule of Law“ nimmt damit in den Staaten und jenseits der Staaten seine eigengesetzliche, Prinzipien von Menschenrechten und Demokratie ergänzende und sich mit diesen Prinzipien überschneidende Ordnungs- und Werteposition ein.

25

Wilson, Woodrow: The Lawyer and the Community, in: North American Review 1910, p. 610.

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At the beginning of 1953, Hannah Arendt wrote in a diary of thoughts (Denktagebuch) she kept from 1950 to 1973: “In this realm of plurality which is the political realm, one has to ask all the old questions – what is love, what is friendship, what is solitude, what is acting, thinking, etc., but not the one question of philosophy: Who is Man, nor the Was kann ich wissen, was darf ich hoffen, was soll ich tun?”1 In that one single sentence, Arendt has defined herself, as she would continue to do for the rest of her life, not as a philosopher but as a political thinker, distancing herself from the haughtiness and futility of so-called pure philosophy and its contemplative withdrawnness from the world, also asserting her separateness from the metaphysics of her mentor, Martin Heidegger. I shall return to it briefly at the close of the present discussion; let me just mention here that, in this sense, the themes brought up by Arendt, interconnected and mutually-enabling – or excluding – are critical to her thought, her work, her place and own positioning in the world and to her perception of the world. By perception of the world, I mean the way she understood and experienced the man-made world as a public realm in which people act and things become a shared, common domain, public affairs are deliberated, and politics evolves freely; the world as a human artifact, which comes into being in the in-between, which relates people to one another and also separates them, and where freedom can grow and thrive. In this paper I would dwell on two of the themes particularly, referred to by Arendt, friendship and loneliness, especially within their political context and as they emerge in her writings, among others in the least expected place – her 1951 book The Origins of Totalitarianism. The Origins of Totalitarianism, to be sure, is neither about friendship, nor is it about loneliness. And yet I would argue that these two terms and her discussion thereon can be perceived as a sort of subtext of that book, as a counter-narrative to totalitarianism, the destruction of which Arendt sought to bring about or contribute to with her writing.2 In the book, Arendt only rarely uses the term friendship, but, whenever she does, it is with such intensity and passion, that one cannot but wonder what had she meant to convey by using this term. Towards the end of the ninth 1 2

Arendt, Hannah: Denktagebuch, 1950–1973, Cahier XIII, January 1953 (2), p. 323. I use the French edition, Journal de Pensée, Seuil, Paris 2005. The passage is reproduced there in its original English. Arendt, Hannah: Totalitarianism, Meridian, New York 1958.

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chapter, which deals with the collapse of the European order in the interwar period, with the millions who from one day to another lost their country, citizenship, legal personality and thereby exposed the abstractness and political vacuity of the concept of human rights, Arendt writes, “The human being who has lost his place in a community, his political status in the struggle of his time, and the legal personality […], is left with those qualities which usually can become articulate only in the sphere of private life and must remain unqualified, mere existence in all matters of public concern. This mere existence, that is, all that which is mysteriously given us by birth and which includes the shape of our bodies and the talents of our minds, can be adequately dealt with only by the unpredictable hazards of friendship and sympathy, or by the great and incalculable grace of love, which says with Augustine, ‘Volo ut sis (I want you to be),’ without being able to give any particular reason for such supreme and unsurpassable affirmation.”3 Namely, I want you to be the way you really are, not to own you, not to dominate you, not to use you, just you to be, singular and equal. In the final pages of the book, Arendt revisits, briefly, the redeeming grace of friendship. This time, the context is that of loneliness, but the terms remain the same. “In solitude […], I am ‘by myself,’ together with my self, and therefore two-in-one, whereas in loneliness I am actually one, deserted by all others. […] this dialogue of the two-in-one does not lose contact with the world of my fellowmen because they are represented in the self with whom I lead the dialogue of thought […]. This two-inone needs the others in order to become one again […] and it is the great saving grace of companionship for solitary men, that it makes them ‘whole’ again [...] and restores the identity which makes them speak with the single voice of one unexchangeable person […].”4 Thus, through the experience of thinking with oneself and with others, Arendt’s thoroughly autonomous and unmistaken voice has formed and crystallized. However, such statements about the force of friendship, presented within the context of a political, conceptual and philosophical treatise, cannot fully reveal their underlying concrete living experience. Indeed, Arendt’s theoretical and conceptual deliberations have always relied on her own and others’ life experiences, those which are fit for being put into a story. This was in line with her principled objection to the tradition of the political philosophy that has withdrawn itself from concrete existential experience and, one would say, from the world’s nuisances and “noises”. “No philosophy, no analysis, no aphorism, be it ever so profound, can compare in intensity and 3 4

Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism, San Diego/New York/London 1976 (first published in 1951), p. 447. Arendt, Origins, p. 697.

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richness of meaning with a properly narrated story,” she said in 1958.5 In this sense, although intrinsically a discreet person, there is always a sort of confessional dimension, albeit indirect and rather veiled, to her theoretical deliberations from which we can learn a great deal about her. Thus talking about what is given to us by birth she meant not only the shape of our bodies, the color of our skin or the measure of our talents, but also the fact of our origin, gender, and our primary, familial and communal belongings. Controversial as it may be, this is how she perceived her Jewishness, namely, as a fact of birth, an indisputable and unchangeable belonging that one has to live and accept with gratitude. That is why she kept her Jewish surname after marrying her non-Jewish husband, Heinrich Blücher, and explained that she did it as an act of affirming her Jewishness. In her address on accepting the Lessing Prize of the Free City of Hamburg in 1958, she said that for years she considered the only adequate answer to the question “who are you? to be: A Jew.”6 And in her famous 1963 letter to Gershom Scholem, who, following the publication of her book on the Eichmann trial, had reprimanded her for not loving the Jewish people, she wrote, “to be a Jew belongs for me to the indisputable facts of my life, and I have never had the wish to change or disclaim facts of this kind. There is such a thing as a basic gratitude for everything that is as it is; for what has been given and not made, for what is physei and not nomō.”7 I consider further the matter of Arendt’s Jewishness, because as a German-born Jewess, she was one of the millions of refugees who in the interwar period lost their homeland, their home, their basic rights and their sense of belonging in the world, and like them she felt forsaken and betrayed, an experience she would never forget. In a television conversation held in 1964 in Germany, following the publication of her Eichmann in Jerusalem, she spoke about the collapse of her familiar world, the abyss opened from one day to another under her own feet and those of other Jews and non-Jews, with the Nazi rise to power, and about the betrayal of German intellectuals, among them close friends, who hurried to align with the new regime and its Gleichschaltung (Co-ordination). “The problem, the personal problem, was not what our enemies did but what our friends did. In the wave of Gleichschaltung, which was relatively voluntary – in any case, not yet under the pressure of terror – it was as if an empty space 5 6 7

Arendt, Hannah: On Humanity in Dark Times. Thougths about Lessing, in: Arendt, Hannah: Men in Dark Times, Harmondsworth 1973, p. 29 Arendt, Humanity, p. 29. Arendt, Hannah: A Letter to Gershom Scholem, in: Kohn, Jerome/Feldman, Ron H. (Eds.): Hannah Arendt. The Jewish Writings, New York 2007, p. 466.

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formed around one.”8 On the other hand, in the same conversation she also mentioned the Gestapo officer who arrested her for Jewish-Zionist activity, interrogated her for eight days and then had her released in an unexpected and unforgettable gesture of human compassion and solidarity.9 It is in 1930’ Paris, of all places, as a rightless, persecuted and destitute refugee on the run that she experienced some of the most beautiful and rewarding years of her life, having discovered there the grace of friendship and love. She lived among refugees, exiles like herself, such as Walter Benjamin and her future husband, Heinrich Blücher, experienced precariousness and hardship, but at the same time enjoyed the kind of friendship and solidarity binding fellow survivors. Only such a powerful personal experience could have produced that extremely rare aforementioned sentence about the redeeming force of friendship and the incalculable grace of love, particularly in dark times. And only the weight of a collapsing world around one, of the betrayal of one’s peers, colleagues, even relatives, and the breaking of age-old, unwritten promises, persecution and isolation, can endow these concepts with their full meaning in their dual role, as major elements in Arendt’s thought and as mediating a personal biography as well as a portrait of a whole generation of displaced and persecuted persons. With a keen eye for distinctions, Arendt deconstructs, catalogs, analyzes, and redefines them. As we have seen, she distinguishes between the term “loneliness” and terms such as “isolation”, “abandonment” and “dissociation” and hones their meaning within the framework of her work. Concepts such as “falling,” “throwness,” “lostness,” “estrangement,” “alienation,” “uprootedness,” “displacement,” and “loneliness” were used by existentialist philosophy to define the human existential, emotional and cognitive condition in the modern, secular and industrialized era. However, rather than the metaphysical aspect of this experience, what preoccupies Arendt – who was raised on the German version of that same philosophy – is its moral, political and cultural aspect, in the context of the modern malaise and the feeling of superfluousness which, according to her, is the curse of modern masses. And this aspect stands at the core of her books The Origins of Totalitarianism, and later The Human Condition, where she points to the fact that existential and cognitive loneliness is fertile ground for totalitarianism. Modernization renders people prone to fall into a state of loneliness and existential anxiety and hence also into totalitarianism with its ever-lurking dangers, even, 8 9

Arendt, Hannah: What Remains? The Language Remains: A Conversation with Guenter Gaus, in Kohn, Jerome (Ed.): Hannah Arendt. Essays in Understanding 1930–1954, New York 1994, p. 10. Arendt, What Remains? pp. 5–6.

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one might add, in so-called democratic societies nowadays. This basic experience of the masses in modern times plays different roles in different stages of the development of totalitarianism. First, totalitarian movements recruit their believers from among the displaced and uprooted in society. Having lost their material (unemployment), societal and communal as well as cognitive and emotional moorings, the déclassés of all classes in bourgeois society, Arendt maintains, become in their precariousness an easy prey to totalitarian ideologies and to the falsehood of the fictitious worlds they fabricate. Believing in nothing, they can be swept to believe in just anything, says Arendt. “Totalitarian movements are mass organizations of atomized, isolated individuals.”10 These individuals are deprived of a place in the world, a place recognized and guaranteed by others. In contrast with other sorts of political movements or parties, “their [totalitarian] most conspicuous external characteristic is their demand for total, unrestricted, and unalterable loyalty of the individual member […]. Such loyalty can be expected only from the completely isolated human being who, without other social ties to family, friends, comrades, or even mere acquaintances, derives his sense of having a place in the world only from his belonging to a movement, his membership in a party.”11 Once their rule is established, totalitarian movements transform isolation into a major instrument of domination. Despotic and dictatorial regimes, both past and contemporary, sever political contacts between people and render the subjects incapable of acting, yet leave them some free space in the private sphere and allow them to maintain certain non-political communal, familial and cultural relations. Along with them, subjects are also allowed, to some degree, to exercise their capacities to experience, to create and to think. Totalitarian regimes by contrast, Arendt holds, are never satisfied with ruling through external means, namely, the state and its apparatus of control and violence. Instead, it undermines the very sense of security and familiarity of its subjects’ lifeworlds (Lebenswelten). And destroying all social and familial relations along with the private space as a whole, it takes one more, fundamental, step that totally isolates the totalitarian subject thus transforming totalitarianism into a completely new phenomenon. The insulation and the breaking down of all human bonds wrought by totalitarianism in ever expanding circles, from the closest to the more distant acquaintances are means of dominating and terrorizing people from inside. “Totalitarian domination as a form of government is new in that it is not content with isolation in the political realm but it destroys private life altogether. It bases itself on loneliness, on 10 11

Arendt, Origins, p. 696. Arendt, Origins, pp. 497–498.

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the experience of not belonging to the world at all, which is among the most radical and desperate experiences of man.”12 Loneliness is a core experience of humanness, Arendt adds. Total domination impairs one’s very capacity to constitute one’s subjectivity. Crashed by ceaseless terror and subjected to radical falsification of reality and linguistic manipulation, the totalitarian individual is robbed of his subjectivity. He is a “nobody,” deprived of any free association and human partnership. “What makes loneliness so unbearable is the loss of one’s own self which can be realized in solitude, but confirmed in its identity only by the trusting and trustworthy company of my equals. In this situation, man loses trust in himself as the partner of his thoughts and the elementary confidence in the world […] Self and world, capacity for thought and experience are lost at the same time.”13 This state of affairs is achieved through terrorization, consistent assault on the social texture, and by undermining the possibility of maintaining human relations, even the most intimate ones. All are suspects. Everybody is suspicious of everybody, incited against everybody, from casual acquaintances and colleagues to close friends and family members. Once a person becomes suspect, which might happen at any moment, his entire environment becomes “contaminated” and disintegrating. Thus is created an atomized, dystopian society, broken to the last chased human atom within it. * Arendt did not consider herself a mentor or a moralist, neither a giver of lessons or guidelines for thinking. Nor did she ever aspire to surround herself with a cast of believers and followers. Her whole work, she argued, was meant to help her understand. As far as she was concerned, thought, be it as venerated as it may, was to be challenged and questioned every day, not only by oneself but with and by the arrival of newcomers thus new thinking people into the world. She herself never tired of challenging others with her own thoughts. Like Socrates before her, who, put on trial by his fellow Athenians, said, “so long as I draw breath and have my faculties, I shall never stop practicing philosophy and exhorting you,”14 and like another “teacher” of hers, Ephraim Gotthold Lessing (1729–1781), who said that rather than giving answers, he wanted to scatter confusing, fermenting ideas (fermenta cognitionis), Arendt believed in experimental, tentative thinking, an open, and ever changing project, through conversing with the thoughts of others and creating the Kantian “enlarged mentality.” 12 Arendt, Origins, p. 475. 13 Arendt, Origins, p. 477. 14 Plato: The Apology, in: Cohen, Mitchell/Fermon, Nicole (Eds.): Princeton Readings in Political Thought, Princeton 1996, p. 30.

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Such thinking between one and oneself and between one and the world, achieved by a constant dialogue among equals, diverse and singular as they might be, with no coercion neither manipulation, constitutes an open and hospitable world for its inhabitants. If a political, thinking, active society of citizens, who are not afraid of their government, employers, colleagues, or friends, is engaged in a continuous discourse made of polyphony of ideas and views displayed by independently thinking people, then friendship, in its classical, political sense, is both an ontological and epistemological antithesis to loneliness, to the human desolation, and the masses “lost” in their solitude and total helplessness. It thus may serve as a political-cultural antidote to and barrier against totalitarian tendencies and their post-totalitarian manifestations and demagogic leaders with their scare politics and hate-mongering which, once bereft of those desolate, forsaken masses, lose ground. Lessing, the German Enlightenment intellectual, was the ultimate friend, and his close – and certainly not obvious for its time – friendship with Moses Mendelssohn may attest to that. For Arendt, the wisdom of the protagonist of Lessing’s play Nathan the Wise, who was modeled on Mendelssohn, as his own wisdom, lied in his readiness to sacrifice truth, in which absoluteness he never believed anyway, to friendship. Lessing’s always independent, critical and polemical thinking, which for him was “another mode of moving in the world in freedom,”15 represented his always taking sides for the world’s sake, and by so doing he also saved himself. In her Lessing Prize acceptance speech, Arendt said that it was in his dialogue with other thinking and autonomous people like him that he found a way to escape solitude and forge friendship. And since thinking of this kind requires not only intelligence and profundity, but most of all courage – friendship is a precondition for its very existence. Such thinking does not subjugate itself to results nor does it look for truth, because every truth, which is the result of a thought process, puts an end to the free movement of thought.16 This is why he preferred friendship between two human beings to any absolute and unequivocal truth, doctrine, or creed. Highly polemical, he could not bear loneliness, but abhorred even more excessive fraternal intimacy that obliterates all distinctions and distances. Thus, while “concerned solely with humanizing the world by incessant and continual discourse about its affairs and the things in it [,] he wanted to be the friend of many men, but no man’s brother.”17 Unlike love – another concept fathomed and analyzed by Arendt – which is “world15 16 17

Arendt, Humanity, p. 16. Arendt, Humanity, pp. 16–17. Arendt, Humanity, pp. 37–38.

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less,” or unworldly, namely, taking refuge from the world, friendship and companionship not only belong to the world and transpire in it, but also constitute a world, and the experience of being-in-the-world (worldliness), together, in the plural and the open. Friendship preserves and cherishes plurality, diversity, the differences between people and the in-between them that make a world. Friendship also changes the world, in the sense that people, together and individually, act in it fearlessly and freely, and their action depends on seeing and being seen, on accepting and being recognized and accepted by others. Changing the world means making and leaving behind even the most modest things in it, be it an artifact, work of art, a sound, words put in some new order never tried before, speech, text, which have produced some movement, a new experience or insight. Mutual openness and trust toward one another in the public space are, for Arendt, preconditions to “humanity” in every sense of that term. Political friendship is the basis for world-changing common actions and for the creation of a public sphere, a polis, or the republic. “Friendship is essentially a republican virtue,” she said.18 And the dialogue of the mind both internal and external “requires that the partners [to the dialogue] be friends. The validity of the Socratic propositions depends upon the kind of man who utters them and the kind of man to whom they are addressed.”19 The ancients, Arendt goes on arguing, not only thought that friends are conditio sine qua non to human life and that life bereft of friends is not worthy of its name, but also acknowledged its profound political meaning. For Aristotle, philia, friendship among citizens, was a prerequisite for the well-being and proper management of the City. The essence of friendship lied for the Greeks, in dialoging and discourse. They believed that only constant, sustained discussion between people could bring about a body politic, a citizenry. It is through public discourse that the political significance of friendship and the humanness peculiar to it is manifested.20 Such a discourse (in contrast to the intimate talk of people about themselves), imbued as it may be with the pleasure in friends’ presence, Arendt says, deals with the common world, which literally stays “inhuman” unless it is spoken and discussed by humans. A world becomes humane not only because it is man-made, or because a human voice resonates in it, but particularly when it becomes a subject of human discourse. “We humanize what is going on in the world and in ourselves only by speaking of it, and in the course of speaking of it we learn to be human. The Greeks called this humanness which is achieved in the discourse of friendship, philanthropia, ‘love of man,’ since it manifests 18 19 20

Arendt, Denktagebuch, Cahier I (10), July 1950, p. 25. Arendt, Hannah: Civil Disobedience, in: Arendt, Hannah: Crises of the Republic, San Diego (no year), p. 63. Arendt, Humanity, p. 32.

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itself in a readiness to share the world with other men.”21 It should be noted here that for Arendt the worst crime possible was the unwillingness of people to share the world with others, thus compromising irreparably its humanness, its plurality. And because Eichmann supported and carried out a policy of not wanting to share the earth with the Jewish people and the people of other nations, he must hang, she wrote at the end of her report on his trial. “This is the reason, and the only reason.”22 Arendt differentiates between voluntary political friendship among citizens and the predetermined brotherhood characteristic particularly of persecuted communities, ethnic, national, or religious. She advocates a sober, rational and somewhat distant kind of friendship, her way to imagine political relations, partnership in the public sphere. For this reason, people who did not know her, especially from among her coreligionists, condemned her for being a cold, heartless, self-hating woman, and a nasty Jewess. “Something much more fundamental than freedom and justice, which are rights of citizens, is at stake when belonging to the community into which one is born is no longer a matter of course and not belonging no longer a matter of choice,” she wrote.23 (my emphasis, IZ). Suspicious of prescriptive, automatic solidarity by virtue of national belonging, fanatic ideological loyalty, or party politics, she guarded her independence throughout her life, never joining an organization or a political party, and keeping safe distance from all-embracing grand ideologies. Accusing her for lacking the elusive “something” called “love of the Jewish people,” Gershom Scholem demonstrated to what extent his understanding of and familiarity with her writing since her doctoral dissertation on Saint Augustine’s concept of love were wanting. In her eyes, love of collectives and love in politics altogether were not only oximorons, but also represented a clear danger, a source of self-righteousness and aggrandizing cults, deceptive notions of the self, and a sense of both victimhood and choseness, going hand in hand with worldlessness, retreat from reality and auto-purging from any foreign elements or “threats.” In that kind of solidarity Arendt detected a moral anaesthetizing dimension, preventing the recognition of the other, his existence, story, vision, suffering, and hope for equal rights. In its form as national fanaticism it attempts to restore the lost warmth of religious bond and practices while mobilizing its upholders for an everlasting, Manichean struggle. And in its form as ideological solidarity, it eliminates spontaneity, unpredictability, and the unknown, by providing a tightly-knit cohesive and all-encompassing theory of reality and a foretold narrative of the future. 21 22 23

Arendt, Humanity, p. 32. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem, New York 1994 (first published in 1963), p. 279. Arendt, Origins, p. 296.

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Solidarity of “pariah” ostracized groups, on the other hand, offers an irresistible togetherness or particularly intense companionship unparalleled in the modern era. Pariah groups produce a “warmth of human relationship [… that is] an almost physical phenomenon,” she claims. The warmth of human relationship, a trait of persecuted people, “can breed a kindliness and sheer goodness of which human beings are otherwise scarcely capable. Frequently it is also the source of vitality, a joy in the simple fact of being alive, rather suggesting that life comes fully into its own […] only among the insulted and injured.”24 However, the price of such an overly close, non-civil, fraternal humanity, particularly when real or imagined state of pariahdom lasts for many years is, as said, closing of the ranks, withdrawal from the complex reality and adhering to a homogeneous, one dimensional and unanimous unity, together with apolitical refusal of dissenting voices, perceived as traitorous and an existential menace. “Wordlessness, alas, is always a form of barbarism,” she said. 25 The kind of civil friendship was to be “distinguished from intimacy,” she would write to her close friend, writer Mary McCarthy.26 Intimate experiences were neither alien nor randomly to her, just the contrary. Yet the graces and chagrins of intimacy, that this discreet woman considered to be a universal experience, common to all, deserved silence, rather than public chatting about, unless one wove them into an ingeniously narrated story, she said. Displays of intimacy in public, spoken or written, seemed to her not only vulgar, but also detrimental to the interspaces between men and to the conditions in which free and autonomous thinking can thrive. She would apply this rule to herself as well as to others, even the dead. In the preface to her book on Rahel Varnhagen, whom she described as “my closest friend, though she has been dead for some hundred years,”27 Arendt wrote that she “deliberately avoided that modern form of indiscretion in which the writer attempts to penetrate his subject’s tricks and aspires to know more than the subject knew about himself or was willing to reveal.”28 Speaking at Arendt’s grave, Mary McCarthy, in her turn, pointed out her friend’s respect, and yearn for privacy and separateness, of others’ and her own. It is for a good reason that of her two living teachers, Martin Heidegger and Karl Jaspers, the deep friendship, as distinguished from intimacy, between her and the latter has profoundly affected her and lasted for years. He is the one, who serves her as a 24 Arendt, Humanity, p. 21. 25 Arendt, Humanity, pp. 20–21. 26 Brightman, Carol (Ed.): Between Friends. The Correspondence of Hannah Arendt and Mary McCarthy 1949–1975, New York 1995, p. 232. 27 Young-Bruehl, Elisabeth: Hannah Arendt. For Love of the World, New Haven/London 1982, p. 56. 28 Arendt, Hannah: Rahel Varnhagen. Life of a Jewess, Baltimore 2000, p. 83.

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model of being-in and committed to the world, in his thought, humanitas, and unique capacity for friendship. In her Lessing address, the closest thing to a systematic and coherent treatise on political friendship, and political resistance, the traits of Jaspers and his philosophy of dialogue and communication become visible, like in an old painting, through the intricate, astute portrait she draws in homage to the author of “the classical drama of friendship” Nathan the Wise. All that she said about Lessing applied perfectly to Jaspers except, perhaps, the dramatist’s inclination for quarrelsome intellectual fencing. The two, Heidegger and Jaspers, differed from one another in almost every aspect. For Heidegger, thinking was a performance of one individual in his self-chosen solitude, and he deemed himself as its messenger, not to say missionary, in both thought and life. In contrast, thinking for Jaspers was a kind of practice between men, and solitude an unwelcome visit to be resisted and “protested” against. Unlike the “pure” withdrawn philosopher, who philosophizes on the essence of Man and world in a safe distance from them, Jaspers moved his thought, modern, palpable and communicative, in full light, at the heart of the City. This thought, so linked to the world and to other people thus “bound to be political,”29 guided Jaspers to always make the right judgments and choices. Heidegger, on the other hand, “stumbled” into politics the worst, criminal way possible, paving with his ideas the road toward Nazism, for himself and others, and justifying post factum that fatal misjudgment.30 Last but not least, while Jaspers was the perfect friend and interlocutor, candid, attentive, absolutely trusting and trustworthy, Heidegger, submerged in his solipsistic death-thought and self-indulging cult of a genius, was an abuser, blind to his fellowmen, impervious to others’ thoughts and voices.31 The 1926–1969 correspondence between Arendt and Jaspers, attesting to the compelling friendship between the two, is rich in reflections on philosophy and politics, theory and practice, thinking and action, and the relation between them. It is as well replete with remarks, some quite ferocious, regarding the personality and thought flaws of the philosopher from Todtnauberg. “Thoughtless,” “lacking character,” “dishonest,” and “potential murderer,” are some of the terms addressed at Heidegger. Both Jaspers and Arendt knew all too well that thinking and thinker are fatefully insepara29 30 31

Arendt, Hannah: Karl Jaspers: A Laudatio, in: Arendt, Men, p. 82. Jaspers to Arendt, Correspondence, Letter 393, March 9, 1966, p. 629. Arendt, Hannah: Heidegger the Fox, originally written in her Denktagebuch, July 1953 (7), and reproduced in: Arendt: Essays, pp. 361–362. As regards Hannah Arendt, Heidegger never acknowledged nor commented her books or essays.

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ble. Just one example in an Arendt letter from September 1949: “What you [Jaspers] call impurity I would call lack of character – but in the sense that he literally has none […] He probably thought he could buy himself loose from the world this way [by crawling back into his kind of a mouse hole] at the lowest possible price, fast talk himself out of everything unpleasant, and do nothing but philosophize. And then, of course, this whole intricate and childish dishonesty has quickly crept into his philosophizing.”32 I would go further to suggest that even in her essay “Heidegger at Eighty,” considered by her critics as an apology for and whitewashing of Heidegger’s criminal adhesion to the Nazi creed and politics – and for my part, better had it not been written and published in the first place – there may lie another meaning altogether. Albeit in a convoluted or not fully in a conscious manner, doesn’t she actually echo, by comparing Heidegger to Thales, the ancient philosopher who, being so absorbed gazing at the heavens and stars stumbled into a deep well,33 the characterizations she had attributed just a few years earlier to Eichmann and his likes, such as worldlessness, thoughtlessness, remoteness from reality, and moral unaccountability? In the Postscript to her book on the Eichmann trial, she would write that “such remoteness from reality and such thoughtlessness can wreak more havoc than all the evil instincts taken together which, perhaps, are inherent in man.”34 Karl Jaspers, to be sure, or Hannah Arendt, for that matter, would never have stumbled into that kind of moral abyss.

32 33 34

Arendt to Jaspers, Correspondence, Letter 92, September 29, 1949, p. 142. Arendt, Hannah: Heidegger at Eighty, in: The New York Review of Books, October 21, 1971. Arendt, Eichmann, p. 288.

DRAUSSEN VOR DER TÜR Von Migration, Emigration, Flucht und der Ohnmacht der globalisierten Gesellschaft. Eine Anthropologie des Versagens Yves Kugelmann

Draussen stehen Menschen und klopfen an Europas Türe. Sie stehen draussen vor der Tür auf der Flucht vor Armut, Krieg, Not, vor dem drohenden Winter und Ende jeder Perspektive. Draussen vor der Tür Europas bleiben sie stehen, werden herum- und weitergereicht, während sie im Libanon, in Jordanien, Saudi-Arabien oder der Türkei seit Jahren millionenfach hereingelassen worden sind. Jedes Attentat von Extremisten stellt das Recht auf Asyl abseits von Gesetzen wieder und wieder zur Disposition und verringert den gesellschaftlichen Konsens. „Draussen vor der Tür“ steht für jene, die in die vermeintliche, inzwischen so fremde Heimat zurückgekommen sind in Wolfgang Borcherts zeitgebundenem und zeitlosen Stück. „Draussen vor der Tür“ stand in diesen Jahren für ungeahntes menschliches Drama und steht es auch heute wieder. „Draussen vor der Tür“ knüpft auch an die jüdische Emigrations- und Fluchtsituation an. Damals, als Migration nicht minder grausame Gründe hatte und dennoch 80 Jahre später nicht als globale Lehre und Lösung zu einer Konsequenz werden konnte. Die Würde des Menschen ist antastbar geworden. Menschen auf der Flucht werden stigmatisiert. Menschen in Not werden rechenschaftspflichtig. Menschen ohne Hab und Gut werden klassifiziert durch Menschen mit Hab, Gut, Sicherheit und Freiheit. Menschen in Kaffeehäusern hinter Zeitungen, Menschen in geheizten Wohnzimmern vor Fernsehgeräten und ihre Politiker in Parlamentssälen fallen nicht auf die Knie angesichts der Schicksale jener Menschen, die vor Konflikten, Kriegen, Bedrohung, in Ungewissheit und Fremde ziehen – eine Flucht, die Erstere als Gesellschaft, Wirtschaft, Nation durchaus mitverantworten. Menschen in Not werden stigmatisiert, kriminalisiert, selektiert, kategorisiert, klassifiziert und ökonomisiert. Menschen in Not, auf der Flucht in die vermeintliche Freiheit jener Länder, die sie doch über Jahrhunderte kolonialisierten. Jene Länder, die heute wiederum jene Menschen dominieren wollen, die jene von Europa immer proklamierte Freiheit suchen auf der Flucht vor den Waffen, die hier in Europa produziert und gehandelt werden.

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Ära der Migration Hunderttausende von Europäern wanderten im 19. Jahrhundert aus. Armut, Hoffnungslosigkeit, Konflikte trieben sie in die Emigration nach Nord- und Südamerika. Es war oft ein tragischer Abschied von der Heimat. Die Not zwang sie zu Fahrten in das Ungewisse. Ein Jahrhundert, eine Ära der Migration, die schon lange nicht mehr im Bewusstsein, schon gar nicht im Gedächtnis Europas ist und die Amerika mit gross machte. Im Nachwort zu Edmondo de Amicis Auswanderungschronik „Auf dem Meer“ von 1884 schreibt der italienische Schriftsteller Erri de Luca: „Die Auswanderer von heute zahlen den höchsten Preis für den Transport mit dem schlechtesten Schifffahrtsdienst der Menschheitsgeschichte. Schlechter sogar als der auf den Sklavenschiffen aus Afrika, denn die Schwarzen mussten heil und gesund ankommen, damit man sie verkaufen konnte. Sie wurden bei Lieferung bezahlt. Die von heute dagegen sind eine Ware, deren Ankunft nicht interessiert. Sie zahlen im Voraus und wenn sie zu Tausenden ertrinken, fragt niemand nach der Lieferung. Ein Menschenkörper ist heute am Mittelmeer das einträglichste aller Frachtgüter: Er zahlt viel, braucht keine Verpackung, nimmt wenig Platz ein, kann zusammengedrängt, ins Meer geworfen und überall entladen werden.“ Die Not der Menschen von heute ist die gleiche wie jene von damals – gerade auch dort, wo die Ursachen andere sind. Was damals Auswanderung hiess, verkommt heute im Diskurs zur ausgrenzenden und oft herabwürdigenden Beschuldigung von Menschen, die durch ihre Not klassiert werden in Flüchtlinge, Migranten, Asylanten, Wirtschaftsflüchtlinge. Bedroht an Leib und Seele durch Kriege oder Armut, machen sie sich auf in Länder, die nicht nur ständig eine ausgrenzende Werteskala als Massstab an die Welt anlegen, sondern kausal mitverantwortlich sind für die Bedrohungen, vor denen jene Menschen unter Lebensgefahr übers Meer flüchten, die da nun anklopfen: Jahrhundertelanger Kolonialismus, Ausbeutung, die Destabilisierung von Nordafrika und Nahost und die Tatsache, dass viele Menschen vor Waffen flüchten, die westliche Absender tragen, werden unausgesprochen hingenommen.

Die humane Entscheidung Gleichzeitig sucht die viel zu spät aufgenommene politische Debatte in Europa eine Herausforderung zu lösen, die letztlich nicht lösbar, sondern nur durch die schlichte Tat zu erfüllen ist: Menschen ohne Wenn und Aber, ohne Sanktionen, Konditionen

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oder Erpressungsversuche in Not- und Hilfsprogrammen aufzunehmen. Ohne Demagogie, ohne Polemik und ohne dass Menschen in Not in der Öffentlichkeit vorgeführt und zum Unterhaltungsprogramm, zum Zeitvertrieb einer einstigen Spassgesellschaft gemacht werden. Weil das Primat der Zeit und Situation keine andere humane Entscheidung, sondern nur den kategorischen Imperativ zulässt, der verhindern kann, dass Menschen, Kinder, Frauen, Männer täglich missbraucht werden oder sterben. Wer hierfür wohlmeinend an die Erfahrungen aus dem Holocaust, die geschlossenen Grenzen von einst in Europa, der Schweiz, den USA oder gar Palästina erinnert sowie die moralische und belastete Vergangenheit des Kontinents geradezu im Sinne eines historischen Ablasshandels als erstes und letztes Argument ins Feld führt, verkennt schlichtweg die geltenden, verbrieften und ratifizierten Verfassungen, internationalen Abkommen und Menschen-, Völkerrechts- oder Genfer Konventionen. Europa muss sich längst nicht mehr auf seine Schuld von einst, sondern kann sich auf die proklamierten Gesetze und Werte von heute berufen, um Menschen in Not bedingungslos aufzunehmen und nicht erneut schuldig zu werden. Die tödliche Erfahrung des 20. Jahrhunderts, die Geschichte der totalitären Barbarei und das Bekenntnis zum Frieden auf einem Kontinent, von dem Massenmord und Weltherrschaft ausgegangen sind, haben zu Konstitutionen geführt, die Debatten wie jene in Ungarn, Dänemark oder im Schweizer Parlament mit der Forderung der rechtspopulistischen, vermeintlich schweizerischen Volkspartei (SVP) nach einem sofortigen Moratorium für Asylanträge in den Wind schlagen müssen. Und dies einzig mit dem Hinweis auf das formulierte Recht und nicht auf schiefe moralische Reflexe.

Vorzeichen für politische Lösungen Das Schicksal entscheidet darüber, wer Flüchtling ist und wer nicht. Es ist schlicht ein Privileg, kein Flüchtling sein zu müssen, aber nicht kausales Resultat eigenen Handelns. Wer verschont ist von Krieg, Armut und Flucht, hat in der Regel nichts dafür getan. Denn es liegt in der Macht anderer Dynamiken des Weltgeschehens oder ökologischer Systeme. Demut, Bescheidenheit und Respekt sollten darum einem in den letzten Monaten um sich greifenden Diskurs der Arroganz entgegengehalten werden, der Menschen bereits in Worten ausgrenzt, bevor sie neu errichtete Grenzzäune, faschistoide Regierungen oder deren Behörden zu sehen bekommen. Immerhin artikuliert sich zunehmend auch wieder eine funktionierende Zivilgesellschaft. Unabhängig von der Verantwortung für politische Lösungen müssen daher die Vorzeichen die-

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ser Debatte grundlegend geändert und die Primate der Aufklärung zur Maxime jeden Handelns angeführt werden können. Geschieht dies nicht, dann werden die verkündeten Werte Europas Lügen gestraft. „Dieses Buch verzichtet auf die ‚objektiven‘ Leser, die mit einem billigen und sauren Wohlwollen von den schwankenden Türmen westlicher Zivilisation auf den Nahen Osten herabschielen und auf seine Bewohner; aus purer Humanität die mangelhafte Kanalisation bedauern und aus Furcht vor Ansteckung arme Immigranten in Baracken einsperren, wo die Lösung eines sozialen Problems dem Massentod überlassen bleibt. Dieses Buch will nicht von jenen gelesen werden, die ihre eigenen, durch einen Zufall der Baracke entronnenen Väter und Urväter verleugneten. Dieses Buch ist nicht für Leser geschrieben, die es dem Autor übelnehmen, dass er den Gegenstand seiner Darstellung mit Liebe behandelt statt mit ‚wissenschaftlicher Sachlichkeit‘, die man auch Langeweile nennt“, schrieb Joseph Roth 1927 im Vorwort zu seiner epochalen Schrift „Juden auf Wanderschaft“ und prangerte darin die Ausgrenzung von Ostdurch Westjuden argumentativ auf so frappante Art und Weise an, dass das Buch heute weit über die jüdische Gemeinschaft von damals Gültigkeit für den „Migrationsdiskurs“ generell hat. Die Würde des Menschen ist antastbar geworden – in einer Gemeinschaft, die doch so lange und mit so viel Selbstsicherheit das Gegenteil proklamierte und nun doch Menschen in Not nicht auf Augenhöhe begegnen kann. Die Würde des Menschen ist antastbar geworden, wenn nicht bedingungslos Notprogramme umgesetzt und schlicht Menschenleben oder Menschen vor Armut gerettet werden. Gerade dort, wo Menschen Opfer von Konflikten und Armut sind, die kausal vom Westen nicht abzutrennen sind. Die Würde des Menschen ist antastbar geworden, wenn Europa die Situation hat aussitzen wollen in Furcht davor, der eigene Wohlstand könnte gefährdet sein, obwohl dieser doch erst durch die kolonial- und machtpolitische Vergangenheit begründet ist und ohne Zuwanderung auch unmöglich wäre. Die Würde des Menschen ist antastbar geworden, wenn Menschen wieder selektiert und kategorisiert werden. Die Würde des Menschen ist antastbar geworden, wenn unteilbare Rechte auf einmal geteilt werden und nicht mehr für alle gelten. Die Würde des Menschen ist antastbar geworden, wenn Menschen in Not sich auf die humanitären Proklamationen aus guten Zeiten berufen und diese nun naiverweise einfordern wollen. Die Würde des Menschen ist antastbar geworden, obwohl europäische Verfassungen das Gegenteil als präpositive Adverbiale dem Kontinent voranstellen.

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Stimme erheben Aleppo ging danieder vor unseren Augen. Ohne Protest. Ohne Intervention. Ohne Sanktion. Wo sind die nationalen, internationalen Aufrufe und Hilfsprogramme, wo die Sammlungen für Menschen in Not, wo die aufklärenden Veranstaltungen und Diskussionen über die Situation der Zeit? Wo sind die Reaktionen auf faschistoide Regierungen, Debatten und Politikervoten, wo sind die Reaktionen etwa auf die Abweisung von Flüchtlingen durch die israelische und sich stets als jüdisch bezeichnende Regierung? Wo ist diese wichtige zivilisatorische Stimme, wenn die so fragile Würde der Menschen so antastbar geworden ist? Draussen vor der Tür sind die vermeintlich anderen. Und so schreibt Borchert im Stück „Draussen vor der Tür“ treffend für unsere heutige Situation: „Wir sind eine Generation ohne Heimkehr, denn wir haben nichts, zu dem wir heimkehren könnten, und wir haben keinen, bei dem unser Herz aufgehoben wäre – so sind wir eine Generation ohne Abschied geworden und ohne Heimkehr. Aber wir sind eine Generation der Ankunft. Vielleicht sind wir eine neue Generation voller Ankunft auf einem neuen Stern, in einem neuen Leben. Voller Ankunft unter einer neuen Sonne, zu neuen Herzen. Vielleicht sind wir voller Ankunft zu einem neuen Lieben, zu einem neuen Lachen, zu einem neuen Gott. Wir sind eine Generation ohne Abschied, aber wir wissen, dass alle Ankunft uns gehört.“ Alles anders gleich.

FREIHEIT IN WEST-PAPUA Ein Reisebericht Heinzpeter Znoj

1. Treibholz Jayapura, Anfang September 2016 Wir verbringen auf Einladung der Universitas Cenderawasih einen Teil unseres Forschungssemesters in der Provinz Papua, einer von zwei Provinzen im westlichen, indonesischen Teil der Insel Papua.1 Acht Jahre zuvor hatten wir West-Papua ein erstes Mal besucht. Neben der einmaligen kulturellen Vielfalt in diesem Teil Melanesiens ist es auch die Tragödie einer Bevölkerung, deren Selbstbestimmung den geostrategischen Interessen des Westens im Kalten Krieg geopfert wurde, die uns dazu bewegt, hierher zu reisen und darüber zu berichten. Hier sind wir täglich mit der Frage konfrontiert, wie es den Einheimischen möglich ist, trotz wachsender politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hegemonie der indonesischen Besatzer und Siedler in scheinbar ungebrochener Zuversicht Freiheit und Würde für sich zu reklamieren. Die möglichen Antworten darauf führen uns immer tiefer in die Absurditäten des unbekanntesten imperialistischen Unternehmens der Gegenwart. An einem der ersten Tage in Jayapura fahren wir zur G-Base, einem der Strände am Stadtrand. Vom Hotel in der ruhigen Seitenstrasse gehen wir zum Taxistand. Im Lärm und den Abgasen des dichten Verkehrs sitzen Papua-Frauen hinter kleinen Tischen, auf denen sie Betelnüsse zum Verkauf aufgereiht haben. Wir zwängen uns in einen Minibus und fahren durch Abepura, vorbei an einem Militärstützpunkt, an einer katholischen Hochschule und einem protestantischen Seminar, am alten Campus der Universität Cenderawasih, an einem kleineren Militärposten, an Kirchen, Moscheen, Supermärkten, Karaokebars und der Basis der für ihre Brutalität berüchtigten mobilen Einsatzpolizei BRIMOB, über bewaldete Hügel mit Blick auf den Pazifik, bis zu einem 1

Der Plural schliesst meine Ehefrau Kathrin Oester ein. Ich danke ihr für Anregungen und Kritik beim Schreiben dieses Beitrags. Ich danke auch Cyprianus Dale für die Vermittlung zahlreicher Kontakte in West-Papua.

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Busbahnhof, wo wir in ein noch kleineres Fahrzeug umsteigen. Wir fahren an weiteren Militärstützpunkten vorbei, durchqueren das Stadtzentrum mit seinen Hotel-Hochhäusern und seiner Mall und kommen in einen Stadtteil einheimischer Fischer. Farbig bemalte Auslegerboote liegen zu Hunderten in einer Bucht. Der Strasse entlang erkennen wir die Läden von Händlern aus Sulawesi, die sich immer zahlreicher in diesem früheren Papua-Fischerdorf ansiedeln. Das Taxi hält auf einer Anhöhe neben einer Polizeikaserne, wo gerade eine Einheit zum Appell antritt. Wir steigen aus und gehen zum Strand hinunter. Aus Treibholz und Palmwedeln haben Einheimische Unterstände gebaut, von denen aus der Blick über die Weiten des Pazifiks geht. Ein Einbaum fährt parallel zum Strand nach Osten. Weiter draussen fährt ein Frachtschiff in Richtung Westen – wohl nach Surabaya, dem wichtigsten Exporthafen Indonesiens. Der Name G-Base erinnert an den hiesigen Brückenkopf in der Papua-Kampagne General MacArthurs 1943-44, die das Ende der kurzen japanischen Herrschaft über den Westpazifik, Ost- und Südostasien einleitete. Den Strand entlanggehend fallen uns die grossen Mengen angeschwemmten Treibholzes auf. Es sind Baumstrünke und ganze Stämme in verschiedenen Farben, von beige über rötlich schimmernd bis fast schwarz. Wir erkennen verkohlte Stellen, Einschnitte von Motorsägen an den Stämmen und abgesägte Blattwurzeln. Offenbar wurde das Holz von Flüssen aus dem Hinterland angeschwemmt, wo die artenreichen Tieflandwälder gerodet werden. Das indonesische Militär lässt den Wald im Grenzgebiet zu Papua-Neuguinea unter dem Vorwand roden, die separatistische OPM, die „Organisation für die Befreiung Papuas“ dadurch besser kontrollieren zu können. Der Holzverkauf deckt einen Grossteil des Budgets der stationierten Einheiten Papuas und lässt ihre Generäle zu grossem Reichtum kommen.2 Seit den 1980er-Jahren werden auf dem abgeholzten Land Palmölplantagen angelegt. Die einheimischen Arso haben mit dem Verschwinden der ursprünglichen Wälder mit ihren Sagopalmenbeständen und zahllosen Fruchtbäumen ihren traditionellen Lebensunterhalt verloren. Anfangs flüchteten sie in immer neue Rückzugsgebiete, bis auch diese zu Palmölplantagen wurden. Heute leben die entwurzelten Einheimischen an den Rändern von Migrantensiedlungen von den Almosen der Regierung oder lassen sich als Hilfstruppen des Militärs anstellen, um Jagd auf die wenigen verbliebenen bewaffneten Separatisten zu machen. Die Arbeit auf den Plantagen verrichten Einwanderer aus Java, Flores und Sulawesi.

2

Zur institutionellen Korruption des indonesischen Militärs vgl. Znoj, Heinzpeter: Deep Corruption in Indonesia – Discourses, Practices, Histories, in: Nuijten, Monique/Anders, Gerhard (Eds.): Corruption and States of Illegality, Burlington 2007, pp. 53–74.

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Ähnliches spielt sich heute auch in anderen Teilen Papuas ab. So wird bei Merauke der Wald im Gebiet der einheimischen Marind gerodet. Auf einer Fläche von 1,2 Millionen Hektar (mehr als ein Viertel der Schweiz) entsteht seit 2010 ein riesiger Plantagenkomplex.3 Allein der Verkauf des Holzes trägt den beteiligten Firmen 13 Milliarden US-Dollar ein. Das gegenwärtige Land-Grabbing ist die jüngste einer Serie von imperialistischen Interventionen in West-Papua. Deutschland, Grossbritannien und die Niederlande hatten sich die Insel Papua im 19. Jahrhundert aufgeteilt.4 Die Westhälfte wurde in Niederländisch-Indien eingegliedert. Als die Niederlande 1950 Indonesien in die Unabhängigkeit entliessen, behielten sie West-Papua als letzten Teil ihrer ostindischen Kolonie. Bald wurden sie aber im Zuge der weltweiten Entkolonialisierung gezwungen, die Unabhängigkeit West-Papuas in die Wege zu leiten. Indonesien erhob jedoch als Nachfolgestaat Niederländisch-Indiens Anspruch auf das Territorium und schickte 1961 Truppen vor die Küsten Papuas. Auf Druck der USA entschied die UNO, die Verwaltung des Territoriums ab 1963 vorläufig Indonesien zu überlassen und die einheimische Bevölkerung 1969 in einem Referendum über die Unabhängigkeit respektive die Eingliederung in Indonesien entscheiden zu lassen. Indonesien begann sofort eine brutale Herrschaft über West-Papua mit dem Ziel, die Unabhängigkeitsbewegung noch vor dem Referendum auszuschalten. Rund tausend Stammesführer als Repräsentanten der gesamten Bevölkerung stimmten schliesslich unter massiven Drohungen des Militärs gegen die Unabhängigkeit.5 Seither ist es wiederholt zu Phasen extremer staatlicher Gewalt gegen die Einheimischen gekommen. So wurden 1977 tausende von aufständischen Dorfbewohnern im Baliemtal beim Abwurf von Napalmbomben getötet. Und im Jahr 2000 schoss das Militär in mehreren Städten auf friedlich für die Unabhängigkeit demonstrierende Papuas und tötete dabei hunderte Menschen.6 Den USA war bewusst, dass sie mit ihrer Parteinahme für Indonesien die einheimischen Papuas ihres Rechts auf Selbstbestimmung beraubten. In Anbetracht der drohenden Möglichkeit, Indonesien an den kommunistischen Block zu verlieren, versuchten sie jedoch alles, das Land dem Westen gegenüber günstig zu stimmen. 3

4 5 6

Ginting, Longgena/Oliver Pye: Resisting agribusiness development. The Merauke Integrated Food and Energy Estate in West Papua, Indonesia in: ASEAS – Austrian Journal of South-East Asian Studies (2013), pp. 160– 182. Im folgenden nach: Rutherford, Danilyn: Laughing at Leviathan. Sovereignty and Audience in West Papua, Chicago 2012. Webster, David: Self-Determination Abandoned. The Road to the New York Agreement on West New Guinea (Papua), 1960–62, in: Indonesia 95 (April 2013), pp. 9–24. Elmslie, Jim/Webb-Gannon, Camellia: A Slow Motion Genocide. Indonesian Rule in West Papua, in: Griffith Journal of Law and Human Dignity 1/2 (2013), pp. 142–165.

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Präsident John F. Kennedys CIA-Berater Robert Komer tat die Papuas 1962 als winzige indigene Bevölkerung, verstreut über 1000 Meilen Kannibalenland ab, um die man kein Aufhebens machen solle.7

2. Eine Kirchenspaltung und neue religiöse Allianzen Mitte September 2016 In einem Fischrestaurant am Ufer des Sentani-Sees nahe Jayapura treffen wir Benny Giay, den Vorsitzenden der Synode der presbyterianischen Kirche KINGMI di tanah Papua, einer Abspaltung der indonesischen Kirche KIMI.8 Mit über einer halben Million Mitgliedern ist sie heute die grösste West-Papuas. Benny Giay gilt als intellektuelle Integrationsfigur für die verschiedenen Bewegungen, die auf friedlichem Weg weitgehende Autonomie innerhalb Indonesiens bzw. die Unabhängigkeit anstreben. Der leise sprechende Mann mit listigem Blick fordert uns immer wieder zum Lachen heraus. Was er zu berichten hat, gibt dafür wenig Anlass. Ausführlich erzählt er, wie sein Freund Theys Eluay, der charismatische Anführer des kurzen „Papua-Frühlings“ zur friedlichen Erlangung der Unabhängigkeit am 10.11.2001 von Truppen der militärischen Sondereinheit Kopassus in Jayapura entführt, gefoltert und getötet wurde. Die enttäuschten Hoffnungen von damals und die Art, wie das Autonomie-Statut für West-Papua umgesetzt wurde, haben ihn ernüchtert. Eine rasche Unabhängigkeit ohne solide Schulbildung einer Mehrheit der Papuas würde keine Freiheit, sondern nur eine andere korrupte Herrschaft bedeuten. Er verweist dabei auf die Zielstrebigkeit, mit der sich die meisten einheimischen Provinzgouverneure und Distriktchefs an den reichlich fliessenden Mitteln der Zentralregierung bereichern. Benny Giay ist dennoch optimistisch, weil auch nach dem Ende des „Papua-Frühlings“ eine breite zivilgesellschaftliche und kulturelle Bewegung besteht, in der sich eine in ganz West-Papua empfundene nationale Identität ausdrückt. Dazu gehört ein papuanischer Lebensstil, der zum Beispiel das Grüssen mit elaboriertem Handschlag und Präferenzen in Musik, Kleidung, Haartracht, Sprache und Religion umfasst.

7 8

Banivanua-Mar, Tracey: A thousand miles of cannibal lands: imagining away genocide in the re-colonization of West Papua, in: Journal of Genocide Research 10/4 (2008), pp. 583–602. Kemah Injil Gereja Masehi di Indonesia di tanah bzw. Gereja Kemah Injil Indonesia.

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Dieses moderne, posttraditionalistische west-papuanische Selbstbewusstsein zeigte sich zuerst in den 1970er-Jahren in der Reaktion der städtischen Jugend auf die Absicht der Suharto-Regierung, die papuanischen Kulturen indonesischen Standards anzugleichen. Die Jugend in den Städten trat diesem indonesischen Kulturimperialismus mit der Aneignung des auch in Papua-Neuguinea populären Papua-Reggae entgegen. Mit politischen und messianischen Texten leisteten seine Exponenten – wie der 1984 von Sicherheitskräften ermordete Arnold Ap9 – dem Suharto-Regime Widerstand. Auf Tonbandkassetten zirkulierend wurde diese Musik zum Medium der Verbreitung einer heute in ganz West-Papua gesprochenen Variante des Indonesischen, der „Bahasa Papua“. Seit den 2000er-Jahren ist Papua-Hip-Hop unter den papuanischen Jugendlichen populär geworden.10 Musik als Ausdrucksmittel dieses spezifisch papuanischen Selbstbewusstseins erreichte in den 1990er-Jahren auch die Kirchen, in denen Kirchenlieder in Papua-Sprachen und mit traditionellen papuanischen Melodien aufkamen. Es ist dieses geteilte kulturelle Selbstbewusstsein der einheimischen Bevölkerung, welches am Ursprung der Loslösung der KINGMI von der indonesischen KIMI im Jahre 2006 steht, von der uns Benny Giay an jenem Abend ausführlich erzählt. Viele von ihnen fühlten sich durch den neokolonialen Paternalismus der amerikanischen Christian and Missionary Alliance sowie durch die Kirchenführung der KIMI in Jakarta und ihr nicht-papuanisches Führungspersonal bevormundet und diskriminiert. Mit der Zeit begann sich das papuanische Selbstbewusstsein auch in theologischer Hinsicht zu äussern. Während der politischen Mobilisierung um das Jahr 2000 kritisierten Papuas die fundamentalistische Haltung der indonesischen KIMI und ihrer amerikanischen Mutterkirche, welche die politisch motivierte Zusammenarbeit mit anderen Kirchen in Papua hintertrieben. Seit der Abspaltung revidiert die Kirchenführung nun auch ihre Haltung gegenüber einem Teil der zuvor unterdrückten lokalen Glaubensvorstellungen. Die meisten Papuas sind Christen. Neben der katholischen Kirche gibt es eine kaum zu überblickende Anzahl an protestantischen Denominationen. Trotz dieser Vielfalt ist das Christentum integraler Bestandteil eines entstehenden westpapuanischen-Nationalismus. Dieser richtet sich explizit gegen die Muslime unter den Einwanderern. 9 10

Kirksey, Eben: Freedom in Entangled Worlds. West Papua and the Architecture of Global Power, Durham 2012. Richards, Sarah: Hip Hop in Manokwari. Pleasures, Contestations and the Changing Face of Papuanness, in: Slama, Martin/Munro, Jenny (Eds.): From ‘Stone Age’ to ‘Real Time’. Exploring Papuan temporalities, mobilities and religiosities, Canberra 2015, pp.145–168.

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So wollte eine starke soziale Bewegung in Manokwari Anfang der 2000er-Jahre die Bibel als Gesetz für alle Bewohner der Stadt einführen und den Bau von Moscheen verbieten.11 Ein Verfassungsentwurf für ein unabhängiges Papua, der während des zweiten Papua-Kongresses nach dem Sturz Suhartos 1999 diskutiert worden war, sah nichts weniger als einen christlichen Gottesstaat vor.12 Im Zeichen des Christentums kommt es auch zu einer gewissen Solidarisierung zwischen christlichen Migranten und Papuas. So trafen wir Christen und Christinnen aus Flores, Sulawesi und Java, die mit der Absicht nach Papua ausgewandert sind, sich für die Schulbildung und die Rechte der Papuas einzusetzen. Die kleine Minderheit muslimischer Papuas wird dagegen tendenziell von der Mitgliedschaft in der vorgestellten Papua-Nation ausgeschlossen. Überraschenderweise ist in den letzten Jahren der Davidstern zum Symbol dieses christlich geprägten Nationalismus geworden. Im Hochland sahen wir zahlreiche Häuser, die damit geschmückt sind. Das Symbol taucht auch auf traditionellen Tragetaschen und, in Kombination mit dem lateinischen oder hebräischen Schriftzug „Israel“, als Aufkleber auf Autos auf. In Jayapura fragte ich eine junge Frau, die selbstgeknüpfte Tragetaschen verkaufte, was der Davidstern auf einer davon bedeute. Statt einer Antwort drehte sie die Tasche um und das Morgenstern-Wappen des unabhängigen West-Papua kam zum Vorschein. Der sechseckige Davidstern tritt also als Chiffre an die Stelle der verbotenen Flagge mit dem fünfstrahligen Morgenstern. In der Literatur wird aber auch auf eine tiefergehende Identifikation Papuas mit Israel hingewiesen.13 Papua wird in Predigten immer wieder als gelobtes Land bezeichnet, und Papuas weisen auf die gemeinsame Bedrohung West-Papuas und Israels durch muslimische Nachbarn hin. Es gibt Gerüchte einer geheimen Unterstützung ihres Unabhängigkeitskampfes durch den Mossad. Pilgerreisen nach Israel durch vermögende Papuas werden zahlreicher. In Israel nahm die Öffentlichkeit 2007 erstaunt die Spende von einem Kilogramm Gold zur Kenntnis, welche eine Pilgergruppe aus West-Papua dem Direktor des Jerusalemer Tempelinstituts zur Herstellung ritueller Gefässe für den Dritten Tempel überreichte.14 11 12 13 14

Warta, Christian: Not to Be Neglected: The Religious Landscape in West Papua (Transitional Justice Working Paper Series), Oxford 2010. Timmer, Jaap: The Threefold Logic of Papua-Melanesia. Constitution-writing in the Margins of the Indonesian Nation-State, Oceania 83/3 (2013), pp. 158–174. Myrttinen, Henri: Under Two Flags: Encounters with Israel, Mereka and the Promised Land in Tanah Papua, in: Slama/Munro (Eds.), Stone, pp. 125–144. HaLevi, Ezra: ‘West Papua Delegation Donates Gold For Holy Temple’, Arutz Sheva 2007, http://www.israelnationalnews.com/News/News.aspx/123837 (01.11.2016).

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3. Das grosse Schweinefest der Autonomie Ende September 2016 Wir fliegen ins zentrale Hochland nach Wamena, dem Hauptort des Baliemtals. Wamena ist mit etwas über 30'000 Einwohnern heute die grösste Stadt der Welt, die nur mit dem Flugzeug erreichbar ist. In den frühesten Berichten spiegelt sich das Erstaunen der Kolonisatoren über die weite, dicht besiedelte und intensiv bewirtschaftete Hochebene. Auch wir sind beeindruckt, als sich nach dem Anflug zwischen kahlen Berggipfeln unter uns das weite Tal mit dem mäandrierenden Baliem öffnet. Tiefer sinkend sehen wir die charakteristischen hochgewölbten Gartenbeete, auf denen Süsskartoffeln und Taros angepflanzt werden. Labyrintartig überzieht ihr Muster Teile der Ebene. Anders als bei unserem ersten Besuch vor acht Jahren liegt in der Nähe Wamenas ungewöhnlich viel Gartenland brach. Das Hochland Papuas ist eines der wenigen unabhängigen Ursprungsgebiete der Landwirtschaft. Hier domestizierten Papuas vor etwa 6000 bis 8000 Jahren Taro, Yams, Zuckerrohr und Bananen.15 Ihre Landwirtschaft ist älter als die Europas und älter als die Indonesiens. Anders als in den anderen Zentren der Pflanzendomestikation kam es aber hier nie zu einer Staatenbildung. Die Beziehungen zwischen den Dörfern wurden bis zu Beginn der 1960er-Jahre durch kleinräumige Allianzen und Stammeskriege reguliert. Bei unserem Besuch im Jahr 2008 hatten wir einen alten Mann, Hapukoro, interviewt, der in seiner Jugend an solchen Stammeskriegen teilgenommen hatte. Auf die Frage, ob er sich ein Leben wie zu jener Zeit zurückwünsche oder ob er das heutige Leben unter indonesischer Herrschaft vorziehe, sagte er bestimmt, heute sei es weitaus besser. Früher hätten sie ihr ganzes Leben eingeschlossen in ihr kleines Territorium verbracht, hätten dauernd Angst vor Überfällen gehabt und nichts von der Welt gewusst – nichts von der Küste, vom Meer und anderen Menschen. Heute könne man sicher leben, sei frei, bis zum Meer zu reisen und hätte abwechslungsreiches Essen wie Reis, Huhn und viele neue Gemüse. Nikodemus Lokobal, ein Kultur- und Bildungsaktivist, der ethnographische Werke und Unterrichtsbücher für Primarschulen geschrieben hat, die lokales Wissen des Baliemtals vermitteln, verteidigt die positiven Werte, die den Stammeskriegen zugrunde gelegen hätten. Er sieht in den Stammeskriegen ein Ritual, das das Gleichgewicht 15 Denham, Tim: Envisaging Early Agriculture in the Highlands of New Guinea – Landscapes, Plants and Practices. World Archaeology 37/2 (2005), pp. 290–306.

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zwischen den verfeindeten Nachbarn aufrechterhalten habe. Der Krieg sei ein Tanz gewesen, bei dem gesungen und gejohlt worden sei. Niemals sei es um die Eroberung von Territorium oder die Vernichtung von Feinden gegangen. Auch er spricht aus eigener Erfahrung: 1969 wurde er, elfjährig, bei einem der letzten Stammeskriege von einem Pfeil getroffen. Er hatte zusammen mit anderen Kindern zwischen den Linien der Krieger Pfeile aufgesammelt. Lachend zeigt er uns die Narbe. An einem der folgenden Tage fahren wir nach Kusiala zu alten Bekannten. Unterwegs irritieren uns die abschätzigen Bemerkungen unseres javanischen Fahrers Pak Toni über die einheimischen Dani. Sie seien nicht in der Lage, ein Geschäft zu führen. Wir würden selbst sehen, dass es in Wamena kein einziges einheimisches Restaurant gibt. Die Papuas könnten eben nicht kochen. Selbst die hohen einheimischen Beamten und Politiker würden Fahrern mit geraden Haaren – indonesischen Zuwanderern – den Vorzug geben, weil die Papuas oft betrunken seien. Er selbst sei nach West-Papua ausgewandert, weil hier die Verdienstmöglichkeiten viel besser seien als auf Java. Aber er fürchte sich vor der Gewaltbereitschaft der Papuas. Wie fast alle Einwanderer hält Pak Toni die Einheimischen für rückständig und primitiv. Sie müssten von Indonesiern mühsam in die moderne Welt eingeführt werden. Im Vorüberfahren deutet er auf ein Feld voller Unkraut. Hier habe die Regierung vor ein paar Jahren vergeblich versucht, den Papuas den Nassreisanbau beizubringen. Die Gärten zählen für ihn nicht. Dort wachsen nur Süsskartoffeln und Taros – in den Augen eines Javaners minderwertige Nahrungsmittel. In Kusiala begrüsst uns Oka Dugum, der älteste von drei Brüdern. Wir werden in die Hütte einer seiner beiden Frauen geführt, wo wir die nächsten beiden Tage verbringen. Die Brüder Oka, Herman und Johannes Dugum haben ihre Kindheit auf der Flucht im Wald verbracht, nachdem die indonesische Luftwaffe 1977 ihr Dorf bombardiert hatte. Sie sind alle überzeugte Separatisten. Johannes sagt, West-Papua und Papua-Neuguinea sollten einen gemeinsamen Staat bilden. Schliesslich seien sie auf beiden Seiten der Grenze schwarz und hätten krauses Haar. Herman hat 15 Jahre lang ohne Lohn die Kinder seines Dorfes unterrichtet, weil die indonesischen Lehrer kaum je in der Schule aufgetaucht sind. Wir erfahren, dass Okas Sohn vor wenigen Tagen geheiratet hat. Seine Freundin war schwanger geworden und er musste sein Studium aufgeben. Der Brautpreis habe 15 Schweine und neun Millionen Rupien (ca. 700 CHF) betragen. Das grosse Gesprächsthema unseres Besuchs steht fest, als Oka erzählt, dass sein jüngerer Bruder Herman daran sei, die Schweine und das Geld für eine Busszahlung wegen eines tödlichen Verkehrsunfalls aufzutreiben, den einer seiner Verwandten eine Woche zuvor

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verursacht hat. Die Familie des Opfers hat eine Busse von 100 Schweinen (mittelgrosse Schweine kosten heute umgerechnet rund 2'000 Franken) und 200 Millionen Rupien (ca. 15'000 CHF) festgelegt und eine Frist von einem Monat für die Bezahlung gesetzt. Später erfahren wir, dass sich die Opferseite letztlich mit 36 Schweinen zufriedengab. Die für indonesische Verhältnisse immer noch gigantische Summe von insgesamt rund 100'000 Franken konnte nur aufgetrieben werden, weil sich die gesamte patrilaterale Verwandtschaft und Freunde des Verursachers solidarisch an der Bezahlung beteiligten. Umgekehrt erwarteten alle patrilateralen Verwandten und Freunde des Opfers eine persönliche Genugtuung. Die Busszahlungen sind Transaktionen zwischen Gruppen, nicht zwischen Individuen. Solange die Busse nicht bezahlt ist, besteht die Gefahr einer Eskalation zur blutigen Fehde oder zum Stammeskrieg. In weiteren Gesprächen stellt sich bald heraus, dass es bei Buss- und Brautgeldzahlungen in den letzten zehn bis 15 Jahren zu einer Inflation gekommen ist. Früher wurden bei solchen Gelegenheiten höchstens etwa vier oder fünf Schweine bezahlt und sogleich in einem gemeinsamen Festmahl gegessen. Heute wechseln auch lebende Schweine den Besitzer, und Geldzahlungen haben die Bezahlung mit Steinbeilen abgelöst, die früher zwischen den Clans zirkulierten. Als auslösendes Moment dieser Entwicklung nennen alle Informanten das Autonomiestatut von 2001. Damals stiegen Papuas in die hohen Ämter der Lokalregierungen auf und erhielten Zugang zu umfangreichen Mitteln. Seither veranstalten sie bei vielen Gelegenheiten grosse Schweinefeste, um ihr Prestige und ihre Anhängerschaft zu steigern. Sie unterstützen auch Verwandte bei Buss- und Brautgeldzahlungen. Diese sind so ein Mittel geworden, die Beamten und Politiker zu zwingen, von ihrem Reichtum abzugeben. Interessanterweise werden bei den häufigen Schweinefesten immer mehr Schweine geschlachtet, obwohl im gesamten Baliemtal im Vergleich zu früher weniger Süsskartoffeln produziert werden und deshalb auch weniger Schweine gehalten werden können, die wie die Menschen hauptsächlich Süsskartoffeln konsumieren. Der Rückgang der Süsskartoffeln ist darauf zurückzuführen, dass sich vor allem im Umkreis von Städten immer mehr Einheimische von Nahrungsmittelspenden und Geld der Regierung ernähren und in der Folge die traditionellen Meister der Gärten immer weniger die erforderliche Autorität aufbringen, um die Männer ihres Dorfes zum Bau von Zäunen rund um das gemeinsame Gartenland zu verpflichten. An die Stelle einheimischer Schweine treten deshalb immer häufiger importierte Tiere aus Australien, die mit dem Flugzeug von Jayapura nach Wamena eingeflogen werden. Pak Toni hat recht mit seiner Behauptung, dass die Einheimischen kein Geschäft führen können. Aber nicht, weil sie nicht wüssten, wie das anzustellen wäre, sondern

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weil sie gezwungen sind, ihre Güter und ihr Geld in soziale Beziehungen zu investieren – sei es in Form von Schweinefesten oder der Unterstützung von Verwandten und Freunden. Zu ökonomischem Kapital wird das Geld, das die Autonomiebehörde an die Einheimischen verteilt, erst in den Händen der Einwanderer, die den Einheimischen ihre Waren und Dienstleistungen verkaufen. Paradoxerweise führt so das Geld, das die Autonomiebehörde für die Förderung der Einheimischen einsetzt, zwar zu einer weitreichenden Solidarisierung unter Papuas und damit zu sozialer Sicherheit in einer spezifisch papuanischen Ökonomie, aber gleichzeitig auch zu ihrer Marginalisierung im kapitalistischen System, und indirekt zu weiterer Immigration und zum Aufstieg einer ökonomisch dominanten Schicht von Zuwanderern.

4. Stammeskunst für Regierungsbeamte Anfang Oktober 2016 Gleich zu Beginn unseres Aufenthaltes in Abepura waren wir ins ethnographische Museum der Cenderawasih-Universität gegangen. Dort ist ein Teil der Asmat-Schnitzereien ausgestellt, die der junge amerikanische Anthropologe Michael Rockefeller 1961 im südlichen Tiefland gesammelt hat. Der andere Teil gehört zur Dauerausstellung im Metropolitan-Museum in New York. Rockefeller, der Sohn des damaligen Gouverneurs von New York war 1961 im Asmat-Gebiet verschollen. Die niederländisch-neuguineische Polizei erklärte offiziell, er sei ertrunken, doch halten sich bis heute Gerüchte, er sei von den damals noch kannibalischen Asmat getötet und gegessen worden. Der tragische Vorfall spielte sich auf dem Höhepunkt des Konflikts zwischen Indonesien, den USA und den Niederlanden um die Zukunft West-Papuas ab. Die oben zitierte Bemerkung des CIA-Beraters Komer über Papua als Kannibalenland spielt auf den Vorfall an. Vor diesem Hintergrund demonstrierte Indonesien nach der Machtübernahme 1963 seinen „zivilisierenden“ Einfluss zunächst vor allem an den Asmat. Die Regierung verbot kurzerhand die fälschlich als Vorbereitung zur Kopfjagd angesehenen Tänze und Schnitzereien und liess die Männerhäuser verbrennen. Erst 1970 erwirkte der Bischof von Agats die Aufhebung des Verbots. Seit 1981 wird, unterstützt von der katholischen Kirche, jährlich das Asmat-Festival durchgeführt, bei dem die besten Schnitzereien und Flechtarbeiten versteigert werden. Wir reisen über Timika nach Agats, dem Hauptort des Asmat-Gebiets. Vom Flugzeug aus sehen wir den über hunderte Quadradkilometer im Flussbett des Ajkwa ver-

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teilten giftigen Abraum der grössten Gold- und Kupfermine der Welt. Freeport McMoran, die Besitzerin der Mine, ist der grösste Steuerzahler Indonesiens, und seit der Autonomie West-Papuas finanziert die Firma indirekt die damit verbundenen Ausgaben der Zentralregierung. Freeport finanziert mit Millionenzahlungen an das Militär auch die Bekämpfung der OPM, der „Organisation für die Befreiung Papuas“, mit. Um die einträgliche Bedrohungskulisse aufrechtzuerhalten versorgt das Militär seinerseits die Separatisten heimlich mit Waffen.16 Die Entdeckung der Gold- und Kupferlagerstätte 1938 hat West-Papuas Geschichte mitbestimmt. Beim Entscheid der Niederlande, West-Papua als Kolonie zu behalten und im Konflikt von 1961/62 war es auch um die Kontrolle dieser unermesslichen Ressource gegangen. Das Gebiet der Asmat liegt nur eine halbe Stunde Flug mit einer Propellermaschine von Timika entfernt. Der sonst sehr diplomatische Bischof von Agats, dessen Gast wir sind, erklärt bestimmt, dass er nichts mit Freeport zu tun haben will und das Angebot der Firma, das Asmat-Festival zu unterstützen ausgeschlagen habe. Da wir einige Tage vor Beginn des Festivals angekommen sind, besuchen wir mit einem Motorboot die bekannte Kirche von Sawa Erma etwa 50 Kilometer flussaufwärts von Agats. Hier findet ein besonders konsequentes Projekt der Inkulturation statt. Der seit über 30 Jahren amtierende Gemeindepfarrer Vince Cole hat gemeinsam mit den Einheimischen die gesamte Liturgie der Kosmologie der Asmat angepasst. Die Taufen finden wie ein Initiationsritual im Wald statt, und die Messe liest er in einer wie ein lokales Männerhaus gestalteten Kirche. Diese ist reich beschnitzt und enthält Malereien auf Rindenbast. In einer Szene sind Joseph beim Schnitzen, Maria beim Flechten und das Jesuskind beim Jagen mit Pfeil und Bogen dargestellt. Ein grosses Kruzifix zeigt Jesus völlig nackt und mit anliegenden Armen – weil die Asmat ihre Figuren aufgrund animistischer Vorstellungen immer aus einem Stück schnitzen. Die ausgebreiteten Arme des Gekreuzigten hätten angefügt werden müssen. Eine Statue der Muttergottes trägt das Jesuskind nach Asmat-Art huckepack. Es heisst, dass der päpstliche Nuntius bei einem Besuch der Kirche vor einigen Jahren anhaltend den Kopf geschüttelt habe. Beim Festival treten Tanzgruppen aus verschiedenen Dörfern auf. Manche lösen mit ihren monotonen aber intensiven Trommelrhythmen und den präzisen Tanzschritten Begeisterung im einheimischen Publikum aus. Am zweiten Tag finden die traditionelle Kanu-Wettfahrt und die Flecht- und Schnitzdemonstration statt. Die hundertfünfzig eingeladenen Schnitzer demonstrieren ihr Können zu wehmütig klingenden Gesängen. Man erklärt uns, dass mit dem Gesang die Seelen der Ahnen in die 16

Gespräch mit Pater Frans Lishout, Wamena, 23.09.2016.

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Figuren gerufen werden. Am Abend beginnt die Versteigerung von etwa 200 Schnitzereien und Flechtarbeiten. Sie zieht sich über drei Tage hin. Um Enttäuschungen und Missgunst unter den Schnitzern zu vermeiden, ist die Versteigerung über die Jahre immer neuen Regulierungen unterworfen worden. Alle Zweige der Verwaltung erhalten ein Budget von umgerechnet einigen tausend Franken zum Kauf von Schnitzereien. Dadurch stiegen in den letzten Jahren die Preise stark an und die Touristen sind in der Folge selten geworden. Der Bischof sagt bedauernd, dass das Festival nun von Regierungsbeamten monopolisiert werde, die wenig Sachverstand mitbringen. Bei der Versteigerung wird viel gelacht. Die Beamten necken sich gegenseitig, indem sie die Preise in die Höhe treiben. Zwischendurch lachen sie auch über die Motive. Ein General lässt sich nicht lumpen und ersteigert die Figur eines Kriegsführers für den festgelegten Höchstbetrag von ca. 1.500 Franken. Die Schnitzer und die Flechterinnen präsentieren ihre Werke vor den Honoratioren mit versteinerten Minen. Ungerührt nehmen sie den erzielten Preis zur Kenntnis. Es ist nicht zu erkennen, ob sie enttäuscht oder zufrieden sind. Die Motive sind zum grössten Teil sakral – Ahnenfiguren und Darstellungen mythischer Tiere dominieren. Es gibt aber auch erzählerische Darstellungen des traditionellen Alltagslebens in elaborierten, durchbrochenen Schnitzereien. Dazu kommen christliche Darstellungen wie Kruzifixe als Flechtwerk oder gemalt auf Rindenbast. Auf grosses Interesse stiessen bei den Staatsbeamten auch Darstellungen des Garuda, des indonesischen Wappenvogels. Aber es gibt keine Werke, welche die gegenwärtige Bedrohung der Asmat spiegeln würden. Weder wird die Abholzung thematisiert, noch werden die Einwanderer dargestellt, welche auch hier immer zahlreicher werden und die Wirtschaft dominieren. Auch das Militär und die Polizei, welche die Festgemeinde unter strikte Aufsicht gestellt haben, und welche die Asmat auch in ihren weitverstreuten Dörfern unter Kontrolle halten, sind kein Gegenstand künstlerischer Reflexion.17 Noch gibt es unter den Schnitzereien kraftvolle Werke, die das ganze Publikum in ihren Bann ziehen. Doch versteigert werden auch Schnitzereien, die in ihrer Gefälligkeit und technischen Perfektion folkloristische Merkmale aufweisen. Ein chinesischstämmiger Pharmazie-Unternehmer und Kunstsammler, der angereist ist, um Medikamente zur Eindämmung einer Lepra-Epidemie im Hinterland von Agats zu spenden, äussert den Plan, die Schnitzereien besser dem indonesischen Kunstmarkt anpassen zu lassen.

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Bolton, Lissant: Framing the Art of West Papua: An Introduction. The Asia Pacific Journal of Anthropology 12/4 (2011), pp. 317–326.

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Am Tag nach dem Festival sehen wir Dutzende Familien, welche am Pier auf ein Schiff zurück in ihr Dorf warten. Sie haben mit dem Erlös aus der Versteigerung Einkäufe gemacht. Das Festival ist einer der vielen festlichen Anlässe, an denen die lokalen Potentaten die Gelder für die Förderung der regionalen Autonomie unter die Leute bringen. Das Geld bleibt in Agats, und es zieht immer neue Migranten an, die damit Geschäfte machen.

5. Ein verspäteter Nationalismus? Mitte November 2016 Wir verlassen West-Papua. Zu Beginn waren wir ergriffen gewesen von der ungebrochenen Hoffnung unserer Gesprächspartner auf eine selbstbestimmte Zukunft der Papuas. Mit der Zeit erschien uns diese Hoffnung immer illusionärer. Die ungerührte, fast feierliche Gewissheit vieler Papuas, eines Tages die verhassten Besatzer loszuwerden, schien uns in Anbetracht ihrer realen Marginalisierung, des Verlustes ihres Landes und der verzweifelten gesundheitlichen Lage – in mehreren Regionen West-Papuas beträgt die Infektionsrate mit HIV 20 Prozent – eine millenaristische Heilserwartung zu sein. Wir fragen uns, wohin der auf christlicher und rassischer Selbstidentifikation begründete Nationalismus führt. Wir sind Migranten der dritten und vierten Generation begegnet, die niemals ausserhalb Papuas waren, den Papua-Dialekt des Indonesischen sprechen und Papuas als Freunde haben, aber nicht zur vorgestellten Papua-Nation gehören, weil sie gerade Haare und die falsche Religion haben. Das geteilte Gefühl, zur Papua-Nation zu gehören ist den Papuas vorbehalten. Es speist sich aus der Begeisterung darüber, die ethnischen Grenzen zwischen den 250 Sprachgruppen, zwischen Hochland- und Küstenbewohnern, zwischen ehemaligen Feinden in der gemeinsamen Abwehr der indonesischen Herrschaft überwunden zu haben. Die einheimischen Staatsbeamten, und selbst die Gouverneure und Distriktsverwalter, die dem indonesischen Staat Loyalität geschworen haben, teilen dieses Gefühl und diese Begeisterung, und sie versprechen ihren Anhängern heimlich, wenn sie unter sich sind und keine „Indonesier“ zuhören, dass die Freiheit kommen werde. Vorläufig beschränkt sich aber die internationale Unterstützung einer westpapuanischen Selbstbestimmung auf kritische Voten melanesischer Kleinstaaten gegenüber

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der indonesischen Regierung zur Menschenrechtslage in West-Papua. Nur ein Staat, Vanuatu, tritt offiziell für die Unabhängigkeit West-Papuas ein. Dennoch hoffen in West-Papua viele, dass die UNO aufgrund des wachsenden Drucks der melanesischen Staaten und von global tätigen Nichtregierungsorganisationen die Illegitimität des „Act of free choice“ von 1969 anerkennen wird. Damit soll ein Prozess in Gang gesetzt werden, der schliesslich zur Unabhängigkeit führt. Falls dies gelingt, werden die Papuas vor der Herausforderung stehen, sich jene multikulturelle Gesellschaft zu eigen zu machen, die ihnen die Niederlande, Indonesien und die Kräfte der Globalisierung längst aufgezwungen haben. Mitte Oktober schickt uns Benny Giay die Nachricht, er müsse dringend zu einer Konferenz der pazifischen Kirchen in Papua-Neuguinea. Nach seiner Rückkehr teilt er uns mit, dass seine Kirche nun offiziell Mitglied der Pazifikregion des Weltkirchenrats sei. Die Brücken nach Indonesien hat er abgebrochen.

HINTER DEN BILDERN Algorithmen – die unsichtbare Macht in unseren Köpfen Daniel Kunzelmann

„The invisible is there without being an object.“ (Maurice Merleau-Ponty)1

Am Anfang steht der Verdacht. All die polarisierenden Schlagzeilen, all die datengeladenen Infographiken, all die wütenden Ästhetisierungen des Protestes, je mehr wir uns diesem bildgewaltigen Geschrei sozialer Medien zuwenden, es (berechtigter- und sinnvollerweise) analysieren und kritisieren, desto mehr laufen wir Gefahr, den vielleicht wesentlichen Aspekt der Digitalisierung zu übersehen: die stille Logik der Algorithmen, die unsere Bilderwelten auf den Displays überhaupt erst zusammenrechnet. Einstiegspunkt für diesen Beitrag ist eine chinesische Legende, die Jacques Piccard während der Auftaktveranstaltung der Ringvorlesung „An den Grenzen“ im Herbstsemester 2013 an der Universität Basel gewohnt unterhaltsam vortrug – eine Einladung, Grenzen zu überschreiten, um sie zu verstehen: Während dreißig Jahren schob ein Mann eine mit Sand beladene Karre über die Grenze am Zollhaus von Tijuna. Nichts war wertloser als Sand, der auf beiden Seiten in Hülle und Fülle vorhanden war. Der Zöllner stach stets in den Haufen hinein, konnte aber im Sand keine Schmuggelware entdecken. Er blieb trotzdem misstrauisch und war überzeugt, es mit einem Schmuggler zu tun zu haben. Als beide alt wurden und den Ruhestand erreichten, fragte der Zöllner den Händler, was er denn die ganze Zeit über die Grenze gebracht habe. „Schubkarren! Ich habe Schubkarren gestoßen, das war doch ersichtlich.“2

1 2

Merleau-Ponty, Maurice: The Visible and the Invisible, Evanston 1986, p. 229. Picard, Jacques: Aufrichten, Verneinen, Träumen, Übersetzen, in: Picard, Jacques/Chakkalakal, Silvy/Andris, Silke (Hg.): Grenzen aus kulturwissenschaftlichen Perspektiven, Berlin 2016, S. 15–42, hier S. 25; zitiert aus: Boyarin, Daniel: Border Lines. The Partition of Judaeo-Christianity, Philadelphia 2006, pp. 1–33, here p. 1. [Hervorhebung dk]

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Diese Geschichte soll den kulturanthropologischen Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren lenken. Sie lässt sich als Metapher auf die Digitalisierung des Politischen übertragen: Wenn wir auf unsere Interfaces starren, übersehen wir das Vehikel, das uns, vor unseren Augen, eine Ladung Sand nach der anderen vor die Füße kippt. In unserer „bildgesättigten Gesellschaft“3 geht die Dominanz des Visuellen dabei weit über die sozialen Medien hinaus, sie ist vielmehr integraler Bestandteil unserer Kultur, die ihrem Wesen nach visuell ist – wie es Nicholas Mirzoeff bereits vor knapp 20 Jahren treffend beschreibt: You can buy a photograph of your house taken from an orbiting satellite or have your internal organs magnetically imaged. If that special moment didn’t come out quite right in your photography, you can digitally manipulate it on your computer. At New York’s Empire State Building, the queues are longer for the virtual reality New York Ride than for the lifts to the observation platforms. Alternatively, you could save yourself the trouble by catching the entire New York skyline, rendered in attractive pastel colours, at the New York resort in Las Vegas. […] This is visual culture. It is not just a part of your everyday life, it is your everyday life.4

Aber warum übt das Visuelle eigentlich so eine große Faszination auf bzw. Macht über uns aus? Um diese Frage zu beantworten, lohnt sich ein kurzer Blick auf den Siegeszug des Sichtbarmachens, der seinerseits eng verbunden ist mit der Erfolgsgeschichte der modernen (Natur-)Wissenschaften. Deren „konzeptuelle und wahrnehmungstechnische Revolution“ begann mit der Aufklärung und fand in der Postmoderne ihren bisher vorläufigen Höhepunkt.5 Die Kulturtechnik der Visualisierung, d.h. „das Sichtbarmachen von Dingen, die nicht aus sich selbst heraus ‚sehbar‘ sind“, ist heute im wahrsten Sinne des Wortes allgegenwärtig.6 Etwas visualisieren war (und ist!) keineswegs eine rein technische Angelegenheit, sondern hat durch und durch politische Implikationen. So hatte z.B. das von Hand durchgeführte wissenschaftliche Zeichnen von Mikroben, die unter dem Mikroskop im 19. Jahrhundert erstmals sehbar geworden waren, für die Formierung der Medizin als soziales, erzieherisches und damit

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Cartwright, Lisa/Sturken, Marita: Practices of Looking. An introduction to visual culture, London 2009, p. 10. Mirzoeff, Nicholas: What is visual culture?, in: Mirzoeff, Nicholas (Ed.): The visual culture reader, London 1998, pp. 3–13, here p. 3. [Hervorhebung dk] Die Kunsthistorikerin Barbara Stafford hat diesen Siegeszug des Bildes historisch nachgezeichnet. Vgl. Stafford, Barbara Maria: Good looking. Essays on the virtue of images, Cambridge 1997, p. 21. Mirzoeff, Culture, p. 6.

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auch politisches Feld eine maßgebliche Bedeutung.7 Wie Michel Foucault dies etwa für die Impfkampagnen im Frankreich des 18. Jahrhunderts aufgezeigt hat,8 bringt das Sichtbarmachen eines gesundheitlichen Risikos immer auch eine Kontrolle der Bevölkerung mit sich, z.B. über neue Hygieneregeln, neue Studieninhalte und neue Kategorisierungen von „schmutzigen“ und „sauberen“ Menschen. Visualisierungen müssen also als Regierungstechniken verstanden werden. Etwas Sichtbarmachen hilft allerdings nicht nur dabei, soziale Wirklichkeit zu produzieren, es emotionalisiert diese auch. Im genannten Beispiel ist es das Unsichtbare, das plötzlich sehbar, konkret und anschaulich wird: „Sieh her, es gibt sie: Mikroben, die lautlos töten! (Vielleicht ja auch dich).“ Die „Bilder in unseren Köpfen“, die solche Repräsentationen von der Welt „da draußen“ generieren,9 sorgen dafür, dass Angst kein abstraktes Risiko bleibt, sondern als authentisches Gefühl spürbar wird. Für einen Moment lässt uns das Visuelle auf zauberhafte Weise fühlen, was wir sehen, wie es David Freedberg ausdrückt.10 Für das Feld des Politischen ist hierbei entscheidend, dass die „sinnliche Unmittelbarkeit“11 visueller Repräsentationen einen emotionalen Handlungsimpuls im Rezipierenden erzeugt, der in Zeiten sozial-vernetzter Medien seinen massenhaften Ausdruck finden kann. Dieser Kampf der Bilder ist in vollem Gange.

„Sehen heißt glauben“: Bild-Repräsentation-Wirklichkeit „Ceci n’est pas une pipe.“ „Dies ist keine Pfeife.“ Die Wörter sind Teil des 1929 entstandenen Ölbildes „La trahison des images“ von René Magritte. Auf dem gemeinsamen, gelben Hintergrund findet sich über den Wörtern ein Abbild einer Pfeife. Der Zusammenhang scheint offensichtlich und ist doch alles andere als selbstverständlich: Ein Bild ist nicht dasselbe wie der abgebildete Gegenstand.12 Obwohl Visualisierungen – Zeichnungen, Gemälde, Graphiken, etc. – lediglich repräsentieren, existiert der positivistische Mythos, dass gerade das Medium Foto so etwas wie einen „wahren“ Zugang 7

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Picard, Jacques: Reden über Blondinen, Farben und Rassen. Kulturelle Herstellung sozialer Ungleichheit und Inszenierung kolonialer Körpermythen, in: Mäder, Ueli/Goetschel, Laurent/Mugier, Simon (Hg.): Soziale Ungleichheit und Konflikte, Basel 2012, S. 67–102, hier S. 84–85. Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (Bd. 1.), Frankfurt a. M. 2004, S. 87–103. Lippmann, Walter: Public Opinion, New York 1922, pp. 3–35. Freedberg, David: The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response, Chicago 1989, p. 433. Mirzoeff, Culture, p. 9. Stellvertretend für die Interpretationen des Kunstwerkes vgl. Foucault, Michel: Dies ist keine Pfeife, München 1974.

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zur Realität bietet bzw. der Fotoapparat diese technisch einwandfrei „spiegeln“ kann.13 Dass das, was ein Foto repräsentiert, uns häufig als etwas erscheint, was tatsächlich so ist, hängt damit zusammen, dass visuelle Repräsentationsformen einerseits denotativ wirken, d.h. sie erbringen einen dokumentarischen Nachweis der Existenz, und andererseits konnotativ funktionieren, d.h. sie transportieren ein Set an kulturellen Regeln und Konventionen, die auf etwas verweisen, das selbst nicht unmittelbar auf dem Foto ist.14 Es ist diese zweite, symbolische Eigenschaft des Visuellen, die mächtige, politische Wirkungen entfalten kann. Anhand der spezifischen Kulturtechnik der Karte lässt sich dieser Zusammenhang paradigmatisch veranschaulichen.15 Die Anordnung der graphischen Elemente z.B. einer Straßenkarte – Punkte, Linien, Symbole, Farben, Wörter, etc. – sowie deren Relationen zueinander, dienen nicht nur der technischen Navigation im physischen Raum, sie erzählen auch einen Plot: die „Geschichte“ davon, dass das Territorium, das sie zeigen, auch genau so existiert. Auf diese Weise produzieren Karten, was sie „nur“ zu repräsentieren vorgeben. Dabei ist die „Wirklichkeit“ keineswegs so stabil wie es ihre Visualisierung erscheinen lässt. So kann die Krim auf Straßenkarten gleichzeitig „russisch“ und „ukrainisch“ sein – je nachdem in welche Karte man schaut. Sichtbarmachen bedeutet folglich immer auch „ein politisches Argumente-machen“.16 Die bisherigen Beispiele zeigen bereits, dass „Sichtbarkeit“ über das Visuelle hinausgeht. Nicholas Mirzoeff beschreibt dies konzeptionell als „visuality“. Sehen als soziale Kategorie meint hier – im Anschluss an Michel Foucault – „a discursive practice for rendering and regulating the real that has material effects“: [I]t classifies by naming, categorizing, and defining […] [, it] separates the groups so classified as a means of social organization […] [, and] it makes this separated classification seem right and hence aesthetic [–] the aesthetics of the proper, of duty, of what is felt to be right and hence pleasing, ultimately even beautiful. 17 13 14 15

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Cartwright/Sturken, Practices, pp. 16–21. Barthes, Roland: Rhetoric of the image, in: Heath, Stephen (Ed.): Image – Music – Text, New York 1977, pp. 32–51. Zum folgenden Zusammenhang siehe einführend: Dietzsch, Ina/ Kunzelmann, Daniel: Kartieren und rechnende Räume. Zur Digitalisierung einer Kulturtechnik, in: Koch, Gertraud (Hg.): Digitalisierung. Theorien und Konzepte für die empirische Kulturforschung, Konstanz 2016, S. 283–309. Wood, Denis/Fels, John/Krygier, John: Rethinking the Power of Maps, New York 2010, pp. 42–44. Mirzoeff, Nicholas: The Right to Look, in: Critical Inquiry 37/3 (2011), pp. 473–496, here p. 476 [Hervorhebung dk]. Er diskutiert in dem lesenswerten und eindeutig politischen Text drei historische „complexes of visuality“: den „plantation complex“ während der Sklaverei mit der symbolischen Überwachungsfigur des „overseer“ (1660–1865), den „imperial complex“ mit der Figur des „missionary“ (1857–1947) sowie den „military complex“, Letzterer symbolisch repräsentiert durch den „counterinsurgent“ (1945–present).

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Politische Macht wiederum lässt sich vor diesem Hintergrund als das „selektive Aktivieren von Un/Sichtbarkeiten“ verstehen.18 Benedict Anderson zeigt in „Die Erfindung der Nation“, welche zentrale Rolle Klassifizierung, Separierung und Ästhetisierung etwa nach dem Ende des Kolonialismus bei der Schaffung nationaler Gemeinschaften in Südostasien spielten. Besonders aufschlussreich hierfür sind seine Kapitel über die Landkarte, das Museum und den Zensus.19 Die über diese Medien(-räume) transportierten Bilder dienten als sinnstiftende, koloniale Herrschaftsinstrumente, die In- und Exklusionen zu nationalen Gemeinschaften ästhetisch festlegten. Solche visuellen Brandings des Nationalismus sowie deren Allgegenwärtigkeit auf profanen Dingen wie Postkarten oder Briefmarken, die Benedict Anderson ebenfalls anspricht, weisen auf das Spannungsverhältnis zwischen der Repräsentation auf einem Medium und den schon vor unserem Blick auf diese Visualisierungen existierenden Bildern in unseren Köpfen hin. Als Betrachtende sind wir in einem ständigen symbolischen Vermittlungsund Aneignungsprozess, stets bestrebt, diese beiden Ebenen in einen sinnvollen Einklang zueinanderzubringen: What is alien will be rejected, what is different will fall upon unseeing eyes. We do not see what our eyes are not accustomed to take into account. Sometimes consciously, more often without knowing it, we are impressed by those facts which fit our philosophy.20

Ohne dass hier auf das Kernkonzept des Vermittlungsprozesses wie ihn Walter Lippmann beschreibt näher eingegangen werden kann – für ihn sind es „Stereotypen“, die die Vermittlung sozialer Wirklichkeit in den Individuen ermöglichen21 –, soll es vielmehr um die Frage gehen, was es ist, das eine Sichtbarmachung als „wahr“ erscheinen lässt. Wann wird Sehen tatsächlich Glauben? Die Antwort von Walter Lippmann ist so intuitiv wie überzeugend, und sie wird über die ethnographische Vignette eines jungen Mädchens erzählt, das urplötzlich in tiefe Trauer verfällt, weil es einen Riss in der Fensterscheibe entdeckt:

18 19 20 21

Mirzoeff, Right, p. 339. [Hervorhebung dk] Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a. M. 2005, S. 163–187. Lippmann, Opinion, p. 119, p. 159. [Hervorhebung dk] Lippmann, Opinion, pp. 79–159. Neben Walter Lippmann hat auch Stuart Hall gezeigt, dass das „Kodieren/ Dekodieren“ von Medieninhalten durch die Rezipierenden keine rein passive Tätigkeit darstellt. Vgl. Hall, Stuart: Encoding/decoding, in: Hall, Stuart et al. (Eds.): Culture, Media, Language, London 1980, pp. 128– 138.

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I have seen a young girl, brought up in a Pennsylvania mining town, plunged suddenly from entire cheerfulness into a paroxysm of grief when a gust of wind cracked the kitchen window-pane. For hours she was inconsolable, and to me incomprehensible. But when she was able to talk, it transpired that if a windowpane broke it meant that a close relative had died. She was, therefore, mourning for her father, who had frightened her into running away from home. The father was, of course, quite thoroughly alive as a telegraphic inquiry soon proved. But until the telegram came, the cracked glass was an authentic message to that girl. Why it was authentic only a prolonged investigation by a skilled psychiatrist could show. But even the most casual observer could see that the girl, enormously upset by her family troubles, had hallucinated a complete fiction out of one external fact, a remembered superstition, and a turmoil of remorse, and fear and love for her father.22

Der Inhalt einer Nachricht wird dann in den Rang des Wirklichen erhoben, wenn der Nachrichtenüberbringende – also das Medium (!) – als authentisch einschätzt wird, ganz egal ob es sich bei dem Medium um ein modernes Kommunikationsmittel oder um die materielle Offenbarung einer höheren Macht handelt. Was in einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit als authentisch gelten kann, hängt wiederum mit dem zusammen, was Jacques Rancière als „le partage du sensible“ beschreibt: als die Distribution des Wahrnehmbaren.23 Diese Verteilung indiziert die Kategorien, über die überhaupt visualisiert und wahrgenommen werden kann.24 „Politiken der Ästhetik“ aus dieser Perspektive verstanden meint: … a delimitation of spaces and times, of the visible and the invisible, of speech and noise, that simultaneously determines the place and the stakes of politics as a form of experience. Politics revolves around what is seen and what can be said about it, around who has the ability to see and the talent to speak, around the properties of spaces and the possibilities of time.25

In einer hypermedialen Welt, in der „Fakten“ politisch an Bedeutung verlieren und soziale Medien zunehmend zur Spielwiese für Populisten, Rassisten und Sexisten aller Couleur werden, sollte das bisher Gesagte aufhorchen lassen. Erstens funktioniert das Visuelle v.a. auf der emotionalen Ebene, zweitens sorgt nicht der Inhalt einer Nachricht für deren Glaubwürdigkeit, sondern wer diesen Inhalt als „authentisch“ überbringt, 22 23 24 25

Lippmann, Opinion, pp. 13–14. [Hervorhebung dk] Rancière, Jacques: The Politics of Aesthetics. The Distribution of the Sensible, London 2004. Rancière, Politics, pp. 12–13. Rancière, Politics, p. 13. [Hervorhebung dk]

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und drittens ist entscheidend, nach welcher politischen Grammatik diese Distribution des Ästhetischen zuallererst erfolgen kann und darf. Das mediale Vehikel wiederum, das uns heute allzu oft präsentiert, was wir als wichtig empfinden sollen, dieser Nachrichtenüberbringer ist eben nicht das Interface, sondern der Algorithmus, der die Unendlichkeit medialer Ereignisse – all die emotionalisierenden Bilder (und Texte) der sozialen Medien – individuell auf selbiges rechnet. Und es ist auch nicht mein „Freund“, der z.B. die Glaubwürdigkeit einer Nachricht auf Facebook garantiert, sondern es ist der Algorithmus dieses Unternehmens, der einer konkreten Person zunächst den Status „Freund“ zuweist und dessen Nachricht in der Folge als für mich „wichtig“ und damit letztlich als „authentisch“ sichtbar rechnet, während er gleichzeitig andere (potentielle) „Freunde“ und deren Nachrichten als „unwichtig“ erklärt und somit unsichtbar belässt. All die Elemente, die im vorherigen längeren Zitat kursiv gesetzt wurden, sind durch den Algorithmus als Gatekeeper (vor-)programmiert.26 Er indiziert, er sanktioniert, er motiviert, er bestimmt, wer sieht und wer nicht gesehen wird, wer etwas sagen kann oder zum Schweigen verdammt ist – all dies automatisch, unnachgiebig, ungesehen. Nur: Was ist ein Algorithmus eigentlich?

Die unsichtbare Distribution des Sichtbaren „Ein Algorithmus ist ein Verfahren, das in einer endlichen Anzahl von elementaren Operationsschritten, deren Abfolge im Voraus in einer endlich langen Beschreibung eindeutig festgelegt ist, die Lösung eines (mathematischen) Problems erlaubt.“27 Ein Algorithmus bezieht sich also auf ein Problem, für das konkrete Handlungsschritte definiert werden, die dann so lange durchgeführt werden, bis man eine eindeutige Lösung sichtbar in den Händen hält: z.B. auf dem Bildschirm eines Smartphones. Der eigentliche Weg zu dieser Lösung – Operationsschritt um Operationsschritt –, d.h. die Logik des Algorithmus, verschwindet im materiellen Resultat, sofern diese Logik überhaupt jemals öffentlich bekannt war. Denn abgesehen von den mathematischen Hürden, die heutige komplexe Algorithmen von globalen Unternehmen wie Google, Twitter oder Facebook so schwer verstehbar machen, müssen ihre regelgeleiteten Rechenverfahren als „Geschäftsgeheimnisse“ zwangsläufig im Verborgenen 26 27

Zur Figur des Gatekeeper vgl. Tufekci, Zeynep: Algorithmic harms beyond Facebook and Google. Emergent challenges of computational agency, in: Colorado Technology Law Journal 13 (2015), pp. 203–218. Heintz, Bettina: Die Herrschaft der Regel: zur Grundlagengeschichte des Computers, Frankfurt a. M. 1993, S. 72. [Hervorhebung dk]

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bleiben, da mit ihnen ökonomische Gewinne erzielt werden sollen: „Algorithms serve discrete ends [and] render their creators invisible.“28 Die Glaubwürdigkeit dieser Algorithmen lebt dabei von einem beinahe unerschütterlichen Glauben der Nutzer_ innen an die Unabhängigkeit ihrer Verfahren. Sie umgibt eine fast schon geheimnisvolle Aura szientistischer Objektivität: „a technologically-inflected promise of mechanical neutrality. Whatever choices are made are presented both as distant from the intervention of human hands, and as submerged inside of the cold workings of the machine.“29 Nehmen wir den „News Feed“-Algorithmus von Facebook: „EdgeRank“. Dieser Algorithmus legt fest, welche Neuigkeiten User_innen vom sozialen Medium angeboten bekommen. Das technische Problem, das der Algorithmus für das Unternehmen dabei löst, ist die Reduktion der fast unendlichen Anzahl an potentiellen Neuigkeiten seiner Milliarden Nutzer_innen auf die begrenzte, visuelle Fläche eines einzigen Displays. Basierend u.a. auf dem eigenen Netzwerk an „Freunden“, sowie der persönlichen Verhaltenshistorie in Bezug auf dieses Netzwerk, errechnet EdgeRank jedem und jeder User_in automatisch einen individuellen Vorschlag darüber, was ihn oder sie interessieren könnte: das „Wichtigste“ gut sichtbar nach oben, das „Unwichtige“ nahezu unsichtbar nach (ganz) unten.30 Gleichzeitig interagieren die menschlichen User_innen mit dem Algorithmus, denn jede einzelne ihrer Aktionen, d.h. jeder Kommentar oder jede Annahme einer Freundschaftsanfrage, landet als Datum – als ein nun „Gegebenes“ – ebenfalls automatisch in den Datenbanken des Unternehmens. Diese Daten und Metadaten wirken sich wiederum auf die zukünftigen Angebote durch EdgeRank aus: Problem-Operation-Lösung – Loop.31 Die Kriterien für „Wichtigkeit“ und „Relevanz“ selbst, d.h. „the choices behind what makes it into an index in the first place, [and] what is excluded“, bleiben dabei nicht 28

29 30

31

Turner, Fred: The World Outside and the Pictures in Our Networks, in: Gillespie, Tarleton/Bockowski, Pablo/ Foot, Kirsten (Eds.): Media Technologies. Essays on Communication, Materiality, and Society, Cambridge 2014, pp. 251–260, here p. 253. [Hervorhebung dk] Gillespie, Tarleton: The Relevance of Algorithms, in: Gillespie/Bockowski/Foot (Eds.), Media, pp. 167–194, here p. 181. [Hervorhebung dk] An dieser Stelle kann nicht näher auf die Funktionsweise von EdgeRank eingegangen werden. Mit Blick auf den Beitrag ist aber interessant, dass z.B. visuelle Inhalte auf eine bessere „Score“ kommen und so eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, auch gelesen zu werden. Für einen Überblick zum „News Feed“-Algorithmus vgl.: Kunzelmann, Daniel: Die stille Politik der Algorithmen. Das Beispiel Facebook, in: Kuckuck. Notizen zur Alltagskultur 2 (2015), S. 30–35, hier S. 32. Zum Zusammenhang von Datenbanken und Algorithmen vgl. Manovich, Lev: Database as symbolic form, in: Convergence: The International Journal of Research into New Media Technologies 5/2 (1999), pp. 80–99. Natürlich werden solche Daten auch ausgewertet, um gezielt Werbung zu schalten. Facebook selbst erklärt (potentiellen Kunden) ausgesprochen anschaulich wie zielgenaue Werbemaßnahmen mit Hilfe von Userdaten möglich sind. Vgl. https://www.facebook.com/business/learn/facebook-ads-basics/ (02.12.2016).

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nur für die Nutzer_innen im Dunkeln, diese „patterns of inclusion“ sind auch alles andere als voraussetzungslos oder unparteiisch: „[E]valuations performed by algorithms always depend on inscribed assumptions about what matters, and how what matters can be identified.“32 Was das konkret bedeutet führt Tarleton Gillespie an anderer Stelle mit Verweis auf den sogenannten #amazonfail aus dem Jahr 2009 an „[when] more than fifty-seven thousand gay-friendly books disappeared in an instant from Amazon’s sales lists, because they had been accidentally categorized as ‘adult’“.33 Die Literatur einer ganzen Community verschwand dabei nicht einfach magisch, sie wurde vom Algorithmus automatisch als nicht „konform“ indiziert und aussortiert. Dessen Distribution des Wahrnehmbaren ist also bei weitem kein rein epistemologisches Problem, sondern in erster Linie ein demokratiepraktisches, denn jede politische Grammatik der Un/Sichtbarkeit tangiert immer auch das, was wir „Öffentlichkeit“ nennen. Nach welchen Maßstäben soll die Logik des Algorithmus z.B. „Unwahrheit“ gewichten? Nehmen wir das Beispiel vom 08. November 2016: Entgegen fast allen Prognosen der etablierten Medien sowie der Meinungsforschungsinstitute gewann Donald Trump die Präsidentschaftswahlen in den USA. Im Anschluss daran wurde Facebook vorgeworfen, es hätte Falschmeldungen im Wahlkampf nicht als solche kenntlich gemacht bzw. diese nicht gefiltert und so letztlich dafür gesorgt, dass massenhaft über das soziale Medium geteilte Lügen, Hoaxes und Halbwahrheiten den Ausgang der Wahl beeinflussen konnten.34 Die Algorithmen, so lässt sich der Vorwurf herunterbrechen, haben die amerikanische Öffentlichkeit manipuliert. Marc Zuckerberg, der Gründer des Unternehmens, sah sich zu einer Klarstellung genötigt und spielte den Ball an die Nutzer_innen zurück: „The power of Facebook is that you control what you see by who you choose to connect with.“35 Die Logik des Firmengründers: Nicht der Algorithmus verbreitet Unwahrheiten, sondern diejenigen, die mit Menschen „befreundet“ sind, die solche Falschmeldungen zuallererst ins Netzwerk einspeisen. Als Nutzer_in steht man also selbst in der Verantwortung, solche schädlichen Entwicklungen zu stoppen. Doch diese Argumentation greift zu kurz. Zum einen negiert sie vollständig den weitgehend autonomen Handlungsspielraum von Algorithmen wie EdgeRank. Zum anderen ignoriert sie ein wesentliches 32 Gillespie, Relevance, p. 168, p. 177. [Hervorhebung dk] 33 Gillespie, Relevance, p. 171. [Hervorhebung dk] 34 Für weitere empirische Beispiele zum problematischen Verhältnis von Algorithmen und Öffentlichkeit vgl. Tufekci, Harms, pp. 213–216. 35 https://www.facebook.com/zuck/posts/10103253901916271?comment_id=10103253917135771 (02.12.2016) [Hervorhebung dk]; Marc Zuckerbergs komplettes Statement findet sich hier: https://www.facebook.com/ zuck/posts/10103253901916271 (02.12.2016).

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Element demokratischer Praxis, das auch für eine Technologie gilt: das Prinzip der Verantwortlichkeit. Der Algorithmus arbeitet eben nicht nur rein mathematisch, sondern seine Rechenleistungen verantworten auch eine spezifische Art demokratischer Öffentlichkeit, die sich nicht einfach auf die Verhaltensweisen der Nutzer_ innen reduzieren lässt. Im Gegenteil, in einem während der US-Kongresswahlen 2010 durchgeführten, sozialen Experiment hat Facebook selbst nahegelegt, dass ein einziges technisches Feature in einer einzigen Nachricht, die über die Algorithmen in dem sozialen Netzwerk verbreitet wurde, diese Wahl u.U. entschieden haben könnte.36 Ein Algorithmus spiegelt Nutzungsverhalten nicht, er (co-)produziert es, indem Nutzer_innen z.B. emotionale Belohnungen erfahren, wenn sie eine „Nachricht“ verbreiten. Es ist das positive Gefühl, das entsteht, wenn ein geteilter Inhalt sozialen Anklang im eigenen Netzwerk findet. Gleichzeitig erschafft die Agency der digitalen Technologie einen Makroeffekt – auch darauf verweist die eben zitierte Studie –, der ohne sie nicht entstehen könnte: die „soziale Ansteckung“ im Netzwerk, bei der das Sichtbarwerden einer Präferenz (oder politischen Tendenz) diese exponentiell verstärkt.37 Als Operationskette ließe sich der Effekt wie folgt beschreiben: (visueller) Inhalt  Gefühl  (unmittelbarer) Impuls  Teilen  authentische Weitervermittlung durch den Algorithmus an das entsprechende Netzwerk  neuer Loop. Und je dominanter ein Inhalt wird, desto mehr Netzwerke erreicht er und desto höher wird seine soziale Ansteckungsrate. Der Algorithmus rechnet die Operationskette stur durch und der symbolische Inhalt bekommt ein technologisches Eigenleben. Dabei ist weder die Art der Öffentlichkeit, die dadurch entsteht, „neutral“, noch ist das Rechenverfahren, das dem Algorithmus zu Grunde liegt, „apolitisch“. Vielmehr ist das kalte Kalkül der Maschine durch und durch ideologisch: „[And] there is one game in town: a positivistic dominant of reductive, systemic efficiency and expediency.“38 Letztlich offenbart sich damit im Algorithmus – zumindest in seinen heutigen Formen – jene Ideologie, die der israelische Historiker Yuval Noah Harari als „Dataismus“ bezeichnet und die immer weitere Bereiche unseres mensch36

Fowler, James et al.: A 61-million-person experiment in social influence and political mobilization, in: Nature 489 (2012), pp. 295–298. Für eine kurze und kritische Zusammenfassung siehe z.B. hier: http://blogs.discovermagazine.com/ notrocketscience/2012/09/12/a-61-million-person-experiment-on-facebook-shows-how-ads-and-friends-affect-our-voting-behaviour/ (02.12.2016). 37 Für eine historische Übersicht zum Begriff der „social contagion“ vgl. Marsden, Paul: Memetics and social contagion. Two sides of the same coin?, in: Journal of Memetics 2/2 (1998), http://cfpm.org/jom-emit/1998/ vol2/marsden_p.html (02.12.2016). 38 Galloway, Alexander: Are some things unrepresentable?, in: Theory, Culture & Society 28/7-8 (2011), pp. 85–102, here p. 90.

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lichen Alltags zu dominieren und zu ökonomisieren droht: der Glaube an die gottgleiche Allmacht der Daten.39

Die Sichtbarmachung des Unsichtbaren Algorithmen wie EdgeRank errechnen aus unseren Daten eine Präferenz des für uns Wichtigen und Relevanten, d.h. des für uns politisch und sozial Un/Sichtbaren. Obwohl sie über die sozialen Medien, in denen sie operieren, zunehmend eine Schlüsselrolle im politischen Diskurs einnehmen, sind sie in den Kultur- und Sozialwissenschaften selbst bisher noch weitgehend unerforscht. Eine der Hauptkritikpunkte, die Vertreter_innen der transdisziplinären „Critical Algorithmic Studies“40 an eine Vielzahl gerade auch empirischer Studien zur Digitalisierung richten, ist, dass diese den Fokus zu sehr auf (visuelle) Repräsentationen und das Symbolische legen. Dies basiere u. a. auf der Annahme, dass es die „Bits“ seien, d.h. die Informationsgehalte sowie deren beliebige Programmierbar-, Kopierbar und Veränderbarkeit, die als Grundprinzipien des Digitalen fungieren. Diese Einschätzung wiederum führe allzu oft zu einem zu positiven oder gar utopischen Bild der kulturellen Aneignungsprozesse des bzw. im Digitalen: „[Yet,] algorithms are the building blocks of the new media-technologie order. Not bits—algorithms.“41 Daher brauche es eine Perspektivverschiebung. Man solle weiterhin das Symbolische analysieren, aber es in Bezug setzen zu dessen materiellen Distributionsbedingungen: [We] need to explore the ways in which databases create pictures of our worlds and circulate them among themselves. To the extent that digital communications shape our possibilities for political action (think voting, or your credit score, or the mailing lists you are and are not on), their ability to generate pictures of the world and act on the basis of those pictures – without any direct input from us and often without our knowledge – ought to terrify us. In the mass media era, representations drew their power from their visibility. But in the digital era, representations of the world live in databases too, invisible to most human beings, though transparent to algorithms.42

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Harari, Yuval Noah: Homo Deus. A Brief History of Tomorrow, New York 2017, pp. 372–402. Für eine hochwertige, kuratierte Lektüreliste vgl. https://socialmediacollective.org/reading-lists/critical-algorithm-studies/ (02.12.2016). Turner, World, p. 252. Turner, World, pp. 253–254. [Hervorhebung dk]

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Was hier gefordert wird, ist eine neue Sichtbarmachung des Unsichtbaren. Wenn digitale Medien, wie Fred Turner überzeugend argumentiert, unsere Bilder der Wirklichkeit formen, indem sie uns in interaktive Beziehungen mit unseren Devices und über diese letztlich mit zahlreichen Institutionen, Weltanschauungen, Stereotypen und Ethiken verwickeln, dann müssen wir dringend die politische Grammatik dieser Medien verstehen, „by seeking out the ideals they encode and the communities that benefit from those ideas […] [, and by] pointing to the people and processes that disappear when we think of technology as a special category of being, outside nature and beyond politics“.43 In dem Moment, in dem ich als Betrachter_in ein soziales Medium wie z.B. Facebook zu meinem vorrangigen Informationsmedium mache, programmiert der Algorithmus meine persönlich-individuelle Mikroöffentlichkeit: die kommunikative und informationelle Basis für meine Entscheidungen als Bürger_in. Welche Folgen haben die so entstehenden fragmentierten Timelines auf unsere Demokratie, wenn die Inhalte, über die hier kategorisiert, separiert und ästhetisiert wird, auf einer zutiefst emotionalen Ebene wirken?44 Welche Auswirkungen haben algorithmisierte Mikro-Öffentlichkeiten auf den gesellschaftlichen Pluralismus und populistische Tendenzen? Noch herrscht relative Stille. Es wird Zeit, dass wir die Algorithmen verhören. Hinter die Bilder!

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Turner, World, p. 253, p. 259. Mit „fragmentierten Timelines“ ist die Tatsache gemeint, dass für jeden Nutzer und jede Nutzerin von sozialen Medien wie z.B. Facebook ein individueller Inhalt auf den Bildschirm gerechnet wird. Man nutzt das ­gleiche Medium, ohne dasselbe zu lesen. Solche „fragmentierten Timelines“ sind in gewisser Weise der Gegensatz des klassischen „Leitmediums“, das für eine große Zahl von Leser_innen stets dieselben Medieninhalte lieferte.

DER FALL WILKOMIRSKI ALS HERAUSFORDERUNG FÜR DIE ORAL HISTORY Gregor Spuhler

Ende der 1990er-Jahre, als die Wiedergutmachung der vom nationalsozialistischen Deutschland begangenen Verbrechen nach einer ersten Phase der Aufarbeitung in der Nachkriegszeit international nochmals auf die politische Agenda kam und auch die Schweiz eine Kommission zur Untersuchung ihrer Geschichte im Zweiten Weltkrieg einsetzte, ereignete sich ein Skandal, der inzwischen weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Der im Kanton Thurgau lebende Klarinettist Binjamin Wilkomirski hatte 1995 unter dem Titel „Bruchstücke“ im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp die Erinnerungen an seine Kindheit publiziert und in fragmentarischen, aber eindrücklichen Erinnerungsbildern geschildert, wie er zwei Konzentrationslager überlebt hatte und nach dem Krieg als Waisenkind in die Schweiz geschmuggelt worden war.1 In den folgenden zwei Jahren fanden das Buch, das in neun Sprachen übersetzt wurde, und sein Verfasser in der Öffentlichkeit grosse Beachtung. Erst als im Sommer 1998 in der Weltwoche ein Aufsehen erregender Artikel des Schriftstellers Daniel Ganzfried erschienen war,2 wurde öffentlich darüber diskutiert, was Insider schon länger vermutet hatten: Der vermeintliche Holocaust-Überlebende Wilkomirski war in Biel unter dem Namen Bruno Grosjean unehelich geboren und später vom kinderlosen Ehepaar Dössekker im Kanton Zürich adoptiert worden. Die Identität als Überlebender des Holocaust hatte er sich in einem jahrelangen – von Stefan Mächler im Jahr 2000 minutiös nachgezeichneten – Prozess angeeignet, ohne die in seinem Buch geschilderte Verfolgung und Misshandlung durch die Nationalsozialisten und ihre Handlanger je selbst erlebt zu haben.3 Der Fall ist in vielerlei Hinsicht interessant: Aus psychologischer Sicht steht die Identitätsproblematik eines Adoptierten im Vordergrund, der als Kind wiederholt Beziehungsabbrüche erlebt und die individuellen Traumata seiner Kindheit – mit der Unterstützung von Psychologen – mit dem kollektiven Trauma der europäischen Juden verbundne hatte. In kulturkritischer Perspektive kann der mediale Erfolg des

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Wilkomirski, Binjamin: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948, Frankfurt a.M. 1995. Ganzfried, Daniel: Die geliehene Holocaust-Biographie, in: Die Weltwoche, Nr. 35, 27.08.1998, S. 45. Mächler, Stefan: Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie, Zürich 2000.

Der Fall Wilkomirski als Herausforderung für die Oral History

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Buches (ein kommerzieller Erfolg war das Buch allerdings nicht4), das trotz Warnungen publiziert wurde, als ein Exempel für die Mechanismen der „Holocaustindustrie“5 der 1990er-Jahre verstanden werden. Für mich als Historiker, der sich seit langem mit Oral History beschäftigt, ist der Fall Wilkomirski zu einer Art pièce de résistance geworden. Als Leiter des Archivs für Zeitgeschichte der ETH Zürich, das in der Zeit von 2005 bis 2012 insgesamt 27 Begegnungen zwischen Holocaustüberlebenden und Schulklassen ermöglichte, habe ich den Fall in universitären Lehrveranstaltungen in den letzten Jahren mehrfach präsentiert und mit Studierenden intensiv diskutiert. Dabei standen jeweils drei Fragen im Zentrum: Was heisst „Nachfragen“ in einem biographischen Interview, in dem es um traumatische Erlebnisse geht? Hätten die Interviews mit Wilkomirski6 immanent – also ohne die Berücksichtigung von zeitgenössischen Quellen, von weiteren Zeitzeugeninterviews und von einschlägiger Fachliteratur – als Fiktion entlarvt werden können? Und was verstehen wir eigentlich unter Authentizität von Zeitzeugnissen? Diesen drei Fragekomplexen möchte ich im Folgenden nachgehen.

Die Scheu vor kritischen Fragen und die Vorannahme der Ehrlichkeit Am 24. Mai 1997 hatte der Journalist Ernst Buchmüller, damals Moderator beim Schweizer Radio DRS 3, Binjamin Wilkomirski in der Sendung Focus zu Gast. Eine Stunde lang unterhielten sich die beiden über Wilkomirskis Buch, seine Kindheit und sein heutiges Leben als Musiker – hin und wieder unterbrochen durch Musik, die der Studiogast vorgängig ausgewählt hatte. Ich hörte die Sendung mit Interesse und nahm sie sogar auf, 7 denn ich hatte das bewegende Buch kurz zuvor gelesen – ohne irgendeinen Verdacht, dass daran etwas Unwahres sein könnte. Nach zehn Minuten sagte Wilkomirski mit osteuropäisch anmutendem Akzent, dass es kaum erklärbar sei, weshalb er überlebt habe. Jeder Holocaustüberlebende sei angesichts der Vernichtungspolitik sozusagen eine Ausnahme, und das Überleben sei zumeist das Resultat so 4 5 6

7

Mächler, Fall, S. 133. Vgl. die kontrovers diskutierte Publikation von Finkelstein, Norman: Die Holocaustindustrie. Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird, München 2001. Neben zahlreichen Interviews in den Medien wurde Wilkomirski auch im Rahmen einschlägiger Interview­ projekte mit Holocaustüberlebenden befragt, so am 20.03.1997 für die Survivors of the Shoah, Visual History Foundation (Shoah Foundation), und am 26.09.1997 vom United States Holocaust Memorial Museum. Vgl. dazu auch die umfangreiche Forschungsdokumentation von Stefan Mächler im Archiv für Zeitgeschichte (AfZ) der ETH Zürich unter der Signatur AfZ FD Stefan Mächler. AfZ FD Stefan Mächler / 56.

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unglaublicher Zufälle gewesen, dass viele darüber lieber schweigen und sagen würden: „Das glaubt mir ja keiner“. Der Moderator nahm dieses Stichwort auf und kam auf die ihm offenbar bereits bekannten Zweifel an der Echtheit des Buches zu sprechen. Buchmüller: „Ich meine, das gab’s ja bei Ihnen auch. Ich glaube, es gab sogar Leute, die sich dagegen gewehrt haben, dass dieses Buch überhaupt veröffentlicht werden soll und es gab durchaus auch die Diskussion: ‚Der hat das alles erfunden.‘ Das ist – äh – eine große Ohrfeige an Menschen wie Sie?“ Wilkomirski: „(2 sec. Pause, Seufzer) Ja, was soll man dazu sagen. (8 sec. Pause, tiefes Einatmen). Es ist klar, es gibt immer Leute, die wollen nur das Normale akzeptieren und alles andere wird beiseite geschoben (2 sec. Pause) und verneint. Ich meine, damit muss man leben.“ Buchmüller: „Mhm.“

Darauf wechselte der Moderator das Thema, und man wird ihm nachträglich wohl kaum zum Vorwurf machen wollen, dass er nicht weiter insistierte. Er hatte ja auch keine andere Wahl, ist ein Radiogespräch doch weder ein Verhör noch ein Oral-History-Interview. Für eine Publikumssendung am Samstagnachmittag war das Gespräch mit einem Holocaustüberlebenden, der sehr zerbrechlich wirkte, wenn er von seiner Kindheit sprach, ohnehin bereits eine Gratwanderung. Die Echtheit seiner Biographie in Frage zu stellen, wäre nicht nur pietätlos, sondern auch eine erneute Verletzung gewesen. Das empfand auch ich als damaliger Radiohörer so, und sämtliche Studierende, denen ich nachträglich Ausschnitte aus Interviews mit Wilkomirski vorspielte, sahen keinen Anlass, am Wahrheitsgehalt seines Berichts zu zweifeln. Einzige Ausnahme war eine Studentin an der Universität Fribourg: Dass ein Kind sich an Erlebnisse im Alter von drei oder vier Jahren in dieser Art erinnere, sei unmöglich, und wer als unter Zehnjähriger in die Schweiz komme und dann in einer Schweizerdeutsch sprechenden Familie aufwachse, behalte keinen osteuropäischen Akzent. Ihre spontane Infragestellung löste Abwehrreaktionen der Mitstudierenden aus, die den kritischen Blick auf die Schilderung eines solch tragischen Schicksals als unangebracht einschätzten.8 Die Reaktion der Studierenden offenbart ebenso wie das Radiointerview zwei Dinge, die für die Praxis der Oral History charakteristisch sind: Erstens unterstellen wir als InterviewerInnen unserem Gegenüber – nicht naiv, sondern vielmehr im Wissen um die quellenkritischen Probleme von Erinnerungsinterviews – grundsätzlich Ehrlichkeit. Dass vieles vergessen und manches beschönigt wird, wissen wir also. Dass 8

Workshop vom 13.11.2009 in der Lehrveranstaltung von Prof. Dr. Catherine Bosshart.

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aber grosse Teile der Biographie schlicht erfunden sind: davon gehen wir nicht aus. Zweitens scheuen wir – im Interesse einer angenehmen, die Erinnerungsarbeit fördernden Gesprächsatmosphäre – kritische Nachfragen. Buchmüllers Interview ist dafür symptomatisch. Er fragt Wilkomirski nicht, ob seine Erzählungen wahr sind. In seiner Frage: „Das ist – äh – eine große Ohrfeige an Menschen wie Sie?“ verbindet sich die implizite Vorannahme der Ehrlichkeit mit der moralischen Desavouierung allfälliger Zweifler, so dass Wilkomirski dem Interviewer nur noch zustimmen muss. Die Scheu der Interviewenden vor Nachfragen dürfte zunehmen, je traumatischer die geschilderten Erlebnisse sind und je zerbrechlicher die interviewte Person wirkt. Dies war bei Wilkomirski besonders ausgeprägt; schon viele Jahre bevor er seine Erinnerungen niederschrieb, litt er an seiner Vergangenheit, was sich in vielfältigen Symptomen zeigte.9 Die langen Pausen, das tiefe Atmen, die Nervosität in den Interviews fielen auch anderen auf, zum Beispiel der Psychologin Karin Merzbacher, die damals zahlreiche Holocaustüberlebende in der Schweiz für die Shoah Foundation interviewte. Sie schöpfte bei Wilkomirski zwar keinen Verdacht, wie sie mir später erzählte, doch war er der Einzige, bei dem sie die psychologische Beratung, welche die Foundation für InterviewerInnen anbot, in Anspruch nahm. Nach dem Vorgespräch habe sie nämlich befürchtet, dass Wilkomirski im Interview zusammenbrechen könnte. Es ist also paradox: Wilkomirski litt unter seiner imaginierten Vergangenheit im Konzentrationslager mehr als jene, die tatsächlich dort gewesen waren. Dabei bediente er unsere Alltagstheorien über Wahrheit und Lüge: Als Holocaustüberlebender gehörte er zu einer Personengruppe, der von vornherein hohe Glaubwürdigkeit zugebilligt wird, und sein offensichtliches Leiden wurde als deutliches Indiz, das Geschilderte selbst erlebt zu haben, interpretiert.10 Auch in der Kontaktstelle für Holocaustüberlebende in der Schweiz, wo Wilkomirski damals andere Überlebende traf, schöpfte niemand Verdacht, wie sich Gabor Hirsch als Gründer der Kontaktstelle erinnert: Die individuellen Schicksale seien eben sehr verschieden, und Wilkomirski habe viele Details über seine Verfolgung gewusst.11 Auch unter den Fachleuten gab es kaum Zweifler – Ausnahmen waren die Historiker Raul Hilberg und Yehuda Bauer. Auch der Literaturwis9 Mächler, Fall, S. 99–101. 10 Schmid, Jeannette: Lügen im Alltag. Zustandekommen und Bewertung kommunikativer Täuschungen, Münster 2000. Schmid konzeptualisiert Glaubhaftigkeit als Resultat einer kommunikativen Interaktion und untersucht die Korrelation zwischen Merkmalen, welche die Glaubhaftigkeit erhöhen, und Merkmalen, die geeignet sind, Lüge und Wahrheit voneinander zu unterscheiden. Eines der wenigen Merkmale, bei denen Glaubhaftigkeit und Lügendetektion stark korrelieren, ist die Plausibilität der Erzählung. Emotionalität oder Intimität verstärken im Gespräch zwar den Eindruck von Glaubhaftigkeit, taugen aber nicht zur Unterscheidung von Lüge und Wahrheit. Vgl. dazu S. 133–156. 11 Interview von Sabina Bossert und Gregor Spuhler mit Gabor Hirsch, 13.10.2016 (zugänglich im AfZ).

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senschaftler Lawrence Langer, der Hunderte von Zeitzeugeninterviews untersucht hatte, wandte kritisch ein, dass niemand, der als kleines Kind den Holocaust überlebt habe, so lebendige Erinnerungsbilder wie Wilkomirski präsentieren könne. Die geschilderten Episoden hätten eindringliche Wirkung als imaginierte Erfahrung, aber nicht als reale Erinnerung.12

Können Zeitzeugenaussagen immanent validiert werden? Die Zweifel Hilbergs, Bauers und Langers stützten sich auf profundes Wissen und jahrzehntelange Erfahrung. Was und wie Wilkomirski erzählte, passte nicht zu dem, was sie bereits wussten. Hätten aber auch weniger ausgewiesene Experten die Möglichkeit gehabt, die Glaubhaftigkeit von Wilkomirskis Erzählungen immanent, nur aufgrund seiner eigenen Aussagen, zu überprüfen? Historikerinnen und Historiker sind eher gewohnt, die Faktizität einer biographischen Erzählung unter Zuhilfenahme externer Quellen zu prüfen. Allerdings werden Zeitzeugnisse oftmals gerade dann interessant und als historische Quelle hinzugezogen, wenn zum geschilderten Sachverhalt keine schriftlichen Dokumente vorliegen. Dann muss die Glaubhaftigkeit der geschilderten Erlebnisse beurteilt werden. Statt sich auf Alltagswissen und Intuition zu verlassen, ist ein Blick auf andere Disziplinen hilfreich, die – wie die Erzählforschung, die juristische Vernehmungslehre und die Aussagepsychologie – reflektiertes Wissen aufgebaut haben. Besonders in juristischen Verfahren zu sexuellem Missbrauch, wo es sich oft um lange zurückliegende Ereignisse handelt und die Aussagen der Parteien meistens die einzigen Beweismittel sind, ist die qualifizierte Begutachtung der Glaubhaftigkeit von zentraler Bedeutung, zumal Fehlbeschuldigungen mit einem Anteil zwischen fünf und 15 Prozent keineswegs selten sind.13 Historikerinnen und Historiker müssen zwar keine Urteile fällen. Sie haben es jedoch – etwa mit der historischen Untersuchung der zwangsweisen administrativen „Versorgungen“, der Fremdplatzierung von Kindern oder des sexuellen Missbrauchs in der Kirche – vermehrt mit der historischen Aufarbeitung von gravierenden Ereignissen zu tun, die Jahre oder gar Jahrzehnte zurückliegen und im sozialen Nahbereich stattfanden. Zeitgenössische schriftliche Quellen liegen dazu selten vor, so dass sie vermehrt gezwungen sind, vertiefte Überlegungen zur Glaubhaftigkeit der Berichte anzustellen. 12 Vgl. dazu Mächler, Fall, S. 150, S. 156, S. 172–173. 13 Kröber, Hans-Ludwig: Die schrittweise interaktive Entstehung einer Fehlbeschuldigung sexuellen Missbrauchs, in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, 7/4 (2013), S. 240–249.

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Der Erzählforscher Fritz Schütze verwies bereits in den 1980er-Jahren auf die Existenz sogenannter Zugzwänge des Erzählens. So gerät, wer eine selbst erlebte Episode erzählt, in die folgenden drei Zwänge: Er muss seine Geschichte auf Nachfrage hinreichend detaillieren (Detaillierungszwang), inhaltlich auf den wesentlichen „Punkt“ bringen (Kondensierungszwang) und zu einem Ende führen können (Gestaltschliessungszwang). Dabei handelt es sich nicht um Zwänge in einem normativen Sinn, sondern um Zwänge, die sich aus der formalen Gestalt sogenannter Stegreiferzählungen ergeben. Falls man sich ihnen zu entziehen versucht, indem eine begonnene Geschichte plötzlich abgebrochen oder auf Nachfrage keine erklärenden Zusatzinformationen angegeben werden, so ist eine genauere Nachprüfung angezeigt. Schützes Zugzwänge ermöglichen es, die Plausibilität von Erzählungen zu überprüfen, doch ist ihr Geltungsbereich auf die mehr oder weniger spontane Erzählung räumlich-zeitlich begrenzter Erlebnisse beschränkt. Episoden, die schon so oft erzählt wurden, dass sie zu stabilen Geschichten geronnen sind, können damit ebenso wenig validiert werden wie die Aufzählung biographischer Stationen.14 Anders als uns TV-Krimis glauben machen, geht die juristische Vernehmungslehre davon aus, dass die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von mündlichen Aussagen ganz entscheidend davon abhängt, dass die befragte Person im ersten Schritt ungestört, selbst gesteuert und ausführlich über die zur Diskussion stehenden Ereignisse berichtet. Ähnlich wie im Oral-History-Interview ist von der vernehmenden Person eine freundliche und empathische Haltung gefordert; sie soll nicht unterbrechen, sondern aktiv zuhören und mit offenen Verständnisfragen zu einer möglichst ausführlichen Erzählung anregen. Die klare Trennung von eigenständigem Bericht und darauffolgendem konfrontativem Verhör ist geradezu essentiell, denn der Bericht ist „das zentrale Erkenntnismittel für die Tatsachenfeststellung. Die Mittel der inhaltsorientierten Glaubhaftigkeitsanalyse versagen weitgehend, und die Glaubhaftigkeit einer Aussage ist damit regelmässig nicht zu beurteilen, wenn die Auskunftsperson nicht als Erstes einen ungestörten Bericht abliefert. Ist der Bericht zu knapp, muss man der Auskunftsperson sagen, welche Teile der Aussage man genauer geschildert haben will.“15 Die inhaltsorientierte Glaubhaftigkeitsanalyse ist denn auch das einzige Verfahren, das aus Sicht der Aussagepsychologie zuverlässige Beurteilungen des Wirklichkeitsgehalts von mündlichen Berichten erlaubt. Verhaltensorientierte Ansätze, die auf kör14 Schütze, Fritz: Narrative Repräsentation kollektiver Schicksalsbetroffenheit, in: Lämmert, Eberhard (Hg.): Erzählforschung, Stuttgart 1982, S. 568–589. 15 Bender, Rolf/Nack, Armin/Treuer, Wolf-Dieter: Tatsachenfeststellung vor Gericht, München 2014, S. 221– 222.

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perliche Reaktionen wie Nervosität oder Schwitzen, auf Veränderungen des Blickkontakts, emotionale Ausbrüche und anderes mehr achten, liefern dagegen keine zuverlässigen Hinweise. Im Alltagsverständnis gelten solche Verhaltensveränderungen zwar oft als Indizien, sie korrelieren aber nicht mit Wahrheit oder Lüge, da sie verschiedene Ursachen haben können. So wissen wir bis heute nicht, ob Wilkomirskis Nervosität durch die Beschäftigung mit den Traumata seiner imaginierten Vergangenheit hervorgerufen wurde oder durch die Angst, in einem der Interviews entlarvt zu werden. Die inhaltliche Analyse der Qualität eines Berichts geht von der nach dem forensischen Psychologen Udo Undeutsch benannten „Undeutsch-Hypothese“ aus, nach der es für die meisten Menschen einfacher ist, die Wahrheit zu sagen, als eine Lügengeschichte überzeugend zu erzählen. Wer beim Selbsterlebten bleibt, kann Details schildern, sich in Einzelheiten verlieren, in der Erzählung zeitliche Sprünge machen oder Vergessenes später hinzufügen: Wenn man die einzelnen Elemente, die beim ersten Zuhören vielleicht unverständlich sind und widersprüchlich scheinen, im Nachhinein analysiert, wird sich eine plausible und weitgehend widerspruchsfreie Geschichte ergeben. Wer hingegen eine plausible Lügengeschichte erzählen will, kommt schnell an kognitive Grenzen. Er oder sie ist kaum in der Lage, den Überblick über eine komplexe Geschichte zu bewahren und alle Elemente in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Die Erzählung bleibt deshalb vergleichsweise arm an Details, orientiert sich an der Chronologie und verwendet kognitive Schemata sowie stereotype Vorstellungen. Ausgehend von dieser Beobachtung hat die Aussagepsychologie eine Reihe sogenannter Realkennzeichen postuliert, anhand derer – nicht im Sinne einer objektiv gültigen Checkliste, sondern immer nur unter Berücksichtigung des individuellen Falls – beurteilt werden kann, ob das Geschilderte selbst erlebt oder erfunden wurde. Neben den Realkennzeichen werden zwei weitere Verfahren zur Validierung vorgeschlagen. So ist zu prüfen, ob es innerhalb eines Berichts markante Veränderungen der Erzählweise gibt, wobei man davon ausgeht, dass erfundene Teile der Geschichte eine geringere Aussagequalität aufweisen (intraindividueller Strukturvergleich). Falls von der Person mehrere Berichte vorliegen, ist es zudem sinnvoll zu prüfen, ob sich die Aussagen widersprechen (Konstanzanalyse). Dabei wird zwischen Elementen unterschieden, die sich oftmals verändern (können) und solchen, die als essentiell gelten und deren Veränderung Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Erzählung wecken. Während die inhaltsorientierte Glaubhaftigkeitsanalyse „gewöhnliche“ Lügen, Falsch­aussagen und Irrtümer aufdecken kann, versagt sie im Fall sogenannter sugge-

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rierter Erinnerungen hingegen weitgehend. Letztere entstehen in einem längeren Prozess, zumeist als Folge eines Zusammenspiels von äusseren Einflüssen und der intensiven Beschäftigung mit sich selbst. Da suggerierte Erinnerungen oft erzählt, bearbeitet und mit zusätzlichem Wissen angereichert wurden, ist ihre Aussagequalität in puncto Detailreichtum, zeitlicher Konsistenz und anderer Realkennzeichen nicht mehr von erlebnisbasierten Erinnerungen unterscheidbar. Suggerierte Erinnerungen lassen sich nur erkennen, wenn retrospektiv untersucht wird, unter welchen Bedingungen die Aussage zustande kam und wie sie sich im Laufe der Zeit entwickelte. Wilkomirskis Erinnerungen waren ein klarer Fall von suggerierten bzw. sogenannten Pseudo-Erinnerungen – eine immanente, nur auf seiner Erzählung beruhende Glaubhaftigkeitsanalyse hätte also kaum den Nachweis ermöglicht, dass seine Geschichte nicht auf eigenem Erleben beruht.

Authentisch oder erfunden? Unmittelbar nachdem Daniel Ganzfried mit seinem Artikel in der Weltwoche die öffentliche Debatte über Wilkomirskis Buch losgetreten hatte, entgegnete der Chefredakteur des Israelitischen Wochenblatts: „Die Frage, ob eines der erfolgreichsten Bücher, das in den letzten Jahren in der Schweiz geschrieben worden ist, authentisch oder erfunden ist, ist meiner Meinung nach in diesem Fall nicht vordergründig relevant.“16 Entscheidend sei vielmehr, dass die von Wilkomirski geschilderte Biographie im Zweiten Weltkrieg tausendfach stattgefunden habe. Wer das Buch nun als Fiktion „enthülle“, diene letztlich den Absichten der Holocaustleugner. Mit dieser Haltung stand die Zeitung keineswegs allein, auch wenn es im lauten Chor der Entrüstung über Ganzfried durchaus differenziertere Stimmen gab.17 Die Relativierung des Anspruchs auf Authentizität passte im Übrigen gut zum damaligen Diskussionsstand in der Oral History. So publizierte Ulrike Jureit 1997 in Werkstatt Geschichte einen seither oft zitierten Aufsatz, in dem sie am Beispiel der Erinnerungen des Holocaustüberlebenden Hans Wassermann darlegte, dass es keinen Gegensatz zwischen authentischer und konstruierter Erinnerung gebe.18 Vielmehr seien Erinnerungen immer Konstruktionen, die sich im Laufe der Zeit verändern könnten, was Jureit anhand zeitlich weit aus16 Bollag, Peter: Unnötige Debatte, in: Israelitisches Wochenblatt, Nr. 36, 04.09.1998, S. 3. 17 Mächler, Fall, S. 143–159. 18 Jureit, Ulrike: Authentische und konstruierte Erinnerung – Methodische Überlegungen zu biographischen Sinnkonstruktionen, in: Werkstatt Geschichte 18 (1997), S. 91–101.

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einanderliegender Schriftdokumente und Interviews von Wassermann überzeugend demonstrierte. Erinnerungen werden umgearbeitet, ausgeschmückt und im Laufe der Jahre verbinden sich Selbst-Erlebtes und Hinzu-Gelerntes zu einer Einheit, deren Auflösung – etwa mit Verfahren, die sich an der Textexegese orientieren – zwar möglich, in der Praxis aber schwierig ist. Auf der Strecke blieb bei diesen wichtigen Hinweisen zur Konstruktivität von Erinnerungen aber die Frage der Authentizität. So hatte Wassermann, der sich mit seiner Vergangenheit wiederholt beschäftigt hatte, den Ort seiner Gefangenschaft irgendwann fälschlicherweise vom Konzentrationslager Majdanek ins Vernichtungslager Treblinka verlegt. Ob er diese gravierende Veränderung – der Ort des hunderttausendfachen und auch des potentiellen eigenen Todes ist für die meisten Verfolgten kein erzählerisches Element, sondern eine zentrale Frage, in der Konstanz erwartet wird – bewusst und auf Grund bestimmter Informationen vorgenommen hatte, erfahren wir nicht. Vielmehr wird die Veränderung mit einer stringenten Argumentation rein psychologisch gedeutet. In Wassermanns biographischer Sinnkonstruktion liege deshalb eine „persönlich-authentische, aber eben nicht im klassischen Sinne faktengetreue Wahrheit“.19 Aufgabe der Interviewenden sei es, die biographische Konstruktion zu untersuchen und dabei ihren authentischen Kern offenzulegen. Jureit, die Wassermanns Geschichte kenntnisreich in den historischen Kontext einbettete, plädierte damit keineswegs für eine Aufhebung der Grenze zwischen Fiktion und historischer Faktizität. Dennoch wird der Begriff der Authentizität in ihrer Argumentation vollkommen subjektiviert: Eine Lebensgeschichte ist dann authentisch, wenn die erzählende Person davon überzeugt ist, dass ihre Erzählung der Wahrheit entspricht. Die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit des Individuums – im vorliegenden Fall entzieht es sich unserer Kenntnis, ob Wilkomirski bewusst log oder an seine Imagination glaubte – ist jedoch nur eine Dimension von Authentizität. Ebenso entscheidend ist, ob das, was als eigenes Leben erzählt wird, auch selbst erlebt wurde. Der authentische Kern eines biographischen Interviews ist in einem solchen Verständnis nicht nur eine biographische Konstruktion, die für das jeweilige Individuum Sinn macht, sondern auch die Tatsache, dass die Erzählung auf eigenen – mit den historischen Fakten vereinbaren – Erlebnissen und Wahrnehmungen basiert.

19

Jureit, Erinnerung, S. 97.

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Lehren für die Oral History Der Fall Wilkomirski fordert dazu heraus, über methodische Fragen der Oral History nachzudenken. Von der Aufrichtigkeit der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen auszugehen, ist zwar grundsätzlich richtig, macht es aber keineswegs überflüssig, mit Empathie so lange offene Verständnisfragen zu stellen, bis eine dichte und nachvollziehbare Erzählung jener Ereignisse vorliegt, die fürs Erkenntnisinteresse bedeutungsvoll sind. Auch Emotionen, Tränen und Nervosität der Interviewten sollten davon nicht abhalten, und sie sind keinesfalls verlässliche Indikatoren dafür, dass die Schilderungen der Wahrheit entsprechen – ebenso wenig, wie umgekehrt Nüchternheit und Teilnahmslosigkeit als Zeichen von Unglaubhaftigkeit interpretiert werden dürfen. Nur die ausführliche Erzählung ermöglicht, reflektierte Einschätzungen der Glaubhaftigkeit der geschilderten Ereignisse vorzunehmen – sofern es sich nicht um suggerierte Erinnerungen handelt. Solche Einschätzungen sind dann nötig, wenn erstens ausser der Zeitzeugenschaft keine externen Quellen zur Validierung der Aussagen vorliegen und die lebensgeschichtliche Erzählung zweitens nicht nur als individualpsychologische Sinnkonstruktion oder Teil kollektiver Erzählmuster untersucht wird, sondern Aufschluss über vergangene Wirklichkeit geben soll. Werden Zeitzeugnisse als Quellen historischer Erkenntnis verstanden, so liegt ihr authentischer Kern nicht nur darin, dass die berichtende Person aufrichtig ist und ihre Erzählung als biographisch sinnvolle Konst­ ruktion erscheint. Er liegt vielmehr ebenso in der Tatsache begründet, dass die Erzählung über vergangene Ereignisse auf eigenem Erleben basiert und mit den historischen Fakten vereinbar ist.

FAKT IST … POST-TRUTH-POLITICS UND DIE GESCHICHTSWISSENSCHAFT Jakob Tanner

Von „Truthiness“ zu „Trumpiness“ Katastrophen sind kontingent und brechen mit einem lauten Knall herein. Viele Entwicklungen kommen allerdings auf leisen Sohlen daher. Schon seit Beginn der 1990erJahre, gehäuft ab 2004, war von einer Wende hin zu einer post-truth-politics die Rede. 2005 hatte die American Dialect Society „Truthiness“ zum „Wort des Jahres“ erkürt.1 Die Wortschöpfung stammt vom Late show-Comedian Stephen Colbert, der damit das Gefühl beschreibt, dass etwas wahr ist, auch wenn es durch keine Fakten gestützt wird. „Truthiness“ fungiert als „emotionales Megaphon“ für jene Wähler, die Bauchgefühlen mehr trauen als faktenbasiertem Argumentieren. Es handle sich – so Colbert – um eine eigensüchtige Haltung; in der Formulierung „ich fühle, dass es wahr ist“ liege der Akzent auf dem „ich“. Das durch seine Gefühle getragene „Ich“ misstraut dem im Faktischen begründeten Realitätsprinzip, das es mit den „Eliten“ oder elitärerer Technokratie gleichsetzt. Es artikuliert seine Wünsche in der Rebellion gegen eine institutionell verfestigte Wirklichkeit. Dieser Trend wurde beobachtet, analysiert, gefördert oder bekämpft. Am 8. November 2016 hat er sich mit der Wahl von Donald Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika personifiziert. Es gibt die Meinung, dass dies nicht viel zu bedeuten habe, weil eine Demokratie steten Wandel vorsieht und weil Intrigen, Lügen, Täuschung und Verführung zum politischen Normalbetrieb auch in demokratischen Gesellschaften gehören. Anstatt das Bild einer anbrechenden Ära der post factual-politics heraufzubeschwören, sei es angemessener, von business as usual unter leicht veränderten Bedingungen zu sprechen. Hier wird die gegenläufige These vertreten. Der Umgang mit Fakten und die Funktion des Lügens haben sich in der Politik in einer Weise verändert, die sich nicht mehr 1

Truthiness Voted 2005 Word of the Year by American Dialect Society, 06.01.2006, http://www.americandialect.org/Words_of_the_Year_2005.pdf (25.01.2017). Das Wort wurde zwar im 19. Jahrhundert schon verwendet, verschwand dann aber aus dem Sprachgebrauch.

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mittels Fortschreibung älterer Beobachtungen fassen lässt. Trump ist nur die Spitze eines Eisbergs. Denn inzwischen wirken neue politische Subjektivierungsweisen mit Big Data, Mikrotargeting, World Wide Web und sozialen Medien in einer Weise zusammen, welche die Aufmerksamkeitsökonomie und die Resonanzbedingungen in der politischen Öffentlichkeit verändert und einer generellen Transformation von Tatsachen in Meinungen Vorschub geleistet hat.2 Dass ein neuer Aggregatzustand des Politischen im Entstehen begriffen ist, lässt sich gerade in Demokratien, in welchen die Medien die Rolle einer „vierten Gewalt“ spielen müssen, feststellen. Hier zeigen sich Krisenphänomene, die unter dem Stichwort „Postdemokratie“ subsummiert werden.3 Die Fähigkeit von Bewegungen und populistischen Politikern, mit vorsätzlichen Regelverstössen, extremen Statements, Skandalen und Lügen überproportionale Medienaufmerksamkeit zu generieren sowie Abstimmungs- und Wahlkämpfe in eine unterhaltende Mischung von Catch-as-catch-can und Spektakel zu verwandeln, sind Symptome für tieferliegende Veränderungen, die starken Führungskräften und autoritären Regierungsformen Auftrieb verleihen und die nationalistische Abschottung und fremdenfeindliche, rassistische sowie sexistische Tendenzen verstärken. In einer solchen Umgebung wird die regulative Idee einer faktenbasierten Politik ausgehebelt. In Grossbritannien mobilisierten im Frühjahr 2016 die Brexit-Anhänger breitenwirksam mit nachweislich falschen Behauptungen. Unter diesem Eindruck wählte das „Oxford English Dictionary“ die Charakterisierung „post-truth“ zum Wort des Jahres 2016. Die im selben Jahr in Fahrt kommende Trump-Kampagne in den USA überbot das britische Beispiel noch. Das weithin anerkannte Fact-checking-Projekt „PolitiFact“ (Slogan: Sorting out the truth in politics) hat für Trump folgende Werte berechnet: über die Hälfte seiner Aussagen sind entweder komplett falsch oder flagrant gelogen; ein weiteres Drittel ist mehrheitlich oder halb falsch, nur zwölf Prozent sind grössenteils und vier Prozent ohne Abstriche wahr.4 2016 kreierte Stephen Colbert den neuen Begriff „Trumpiness“. Damit bezeichnet er eine Steigerungsform von „Truthiness“. Gegenüber der an den persönlichen Triumph Trumps angelehnten Bezeichnung „Trumpism“5 hat dieser Vorschlag drei Vorteile. Erstens richtet er die Aufmerksamkeit auf die emotionale Befindlichkeit der 2

3 4 5

Vgl. dazu: Lepore, Jill: After the Fact. In the history of truth, a new chapter begins, in: The New Yorker, 21.03.2016, http://www.newyorker.com/magazine/2016/03/21/the-internet-of-us-and-the-end-of-facts (25.01.2017). Crouch, Colin: Postdemokratie, Berlin 2008. http://www.politifact.com/personalities/donald-trump/ (25.01.2017). Vgl. Tarnoff, Ben: The Triumph of Trumpism, in: The Guardian, 09.11.2016, https://www.theguardian.com/ us-news/2016/nov/09/us-election-political-movement-trumpism (25.01.2017).

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Wählerinnen und Wähler, die Trump offensichtlich nie wörtlich, sondern einfach ernst nehmen (während die wichtigsten Medien das Gegenteil taten). „Many Trump supporters don’t believe his wildest promises – and they don’t care“, fasste die Washington Post die Ergebnisse einer Umfrage zusammen.6 „Trumpiness“ steht zweitens für äusserst resonanzfähige politische Framings. Trumps handfeste Metaphern sind von schlagender Überzeugungskraft, weil sie eine Von-Herz-zu-Herz-Frequenz stimulieren und sich im Übrigen über faktengehärtete Evidenz hinwegsetzen. Wurden Trumps Widersprüche, Lügen, seine sexistischen und rassistischen Sprüche, seine rhetorischen Gewaltausfälle oder ehrenrührige Angriffe kritisiert, so konterte er mit der Bemerkung, das sei Elitengeschwätz und weit weg von den Gefühlsvibrationen der „echten Amerikaner“. Dies förderte drittens eine Verkehrung des Wahrheitsbegriffs. Wenn die etablierte Berichterstattung generell als „Lügenpresse“ wahrgenommen wird, so gehört das Vertrauen dem, was nicht gedruckt oder worüber ablehnend berichtet wird. Verschwörungstheorien, Verdächtigungen und Intellektuellenverachtung steigen zum neuen Goldstandard für die „Wahrheit des Volkes“ auf.

Doppeldenk, Paranoia, Lügen, Factoids, Humbug, Bullshit: Versuche über politische (Selbst-)Täuschung Das Neue, das sich in der Gegenwart zeigt, knüpft an eine ganze Gemengelage von Traditionen und Analysen an. Dass Politik auch immer im Bannkreis von Lüge, Demagogie, Desinformation und Verschwörungstheorien stattfindet, ist eine alte Erfahrung und Befürchtung – nicht nur in den USA. Historisch sind diese Phänomene eng mit dem Aufstieg der Demokratie verbunden, die überhaupt erst einen Raum für öffentliche politische Auseinandersetzungen öffnete. In dieser Arena wurde immerzu auf allen Registern gespielt. Die jüngste Geschichte dieser Konflikte begann mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes erstarkte die parlamentarische Demokratie in fast allen Ländern Westeuropas. Der Kalte Krieg beförderte den Aufstieg von Totalitarismustheorien, welche die stalinistische Sowjetunion und den Ostblock anprangerten. 1949 erschien der dystopische Roman „1984“ in dem George Orwell einen totalitären Überwachungsstaat schildert, der durch eine 6

Washington Post, 07.06.2016, https://www.washingtonpost.com/politics/many-trump-supporters-dont-believe-his-wildest-promises--and-they-dont-care/2016/06/06/05005210-28c4-11e6-b989-4e5479715b54_story.html?utm_term=.91f0f507b35e (25.01.2017).

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vom „Grossen Bruder“ geführte Parteielite kontrolliert wird. Der permanente Ausnahmezustand erlaubt die effiziente Zusammenarbeit von Gedankenpolizei und Gehirnwäsche. Das „Ministerium der Liebe“ ist für Folter zuständig, das „Wahrheitsministerium“ systematisiert mit „Doppeldenk“ und „Neusprech“ die politische Lüge. Insbesondere wird das Geschichtsbild laufend der herrschenden Parteilinie angepasst, nach dem Motto: „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft: wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.“7 Mit der Normalisierung des Kalten Krieges und der Entspannungspolitik im Gefolge der Kuba-Krise von 1962 verlagerte sich das Sensorium weg von grossen Dystopien hin zu Echtzeit-Gefahren einer demokratischen Politik. Mitte der 1960er-Jahre publizierte der Historiker Richard J. Hofstadter einen Essay über den „paranoiden Stil in der amerikanischen Politik“.8 Darin befasst er sich mit der Frage, wie Konspirationstheorien, Verfolgungsangst und pauschale Verdächtigungen eine solch zentrale Bedeutung erlangen konnten. Die Gründe dafür ortete er im Vorherrschen diffuser Ängste, die mehr mit inneren Verunsicherungen und imaginären Feindbildern als mit der militärischen Bedrohungslage des Kalten Krieges zu tun hatten. 1967 publizierte Hannah Arendt einen Aufsatz über „Wahrheit und Politik“. Einleitend führte sie aus, niemand habe je bezweifelt, dass es „um die Wahrheit in der Politik schlecht bestellt“ sei, wobei sich „der verzweifelte Hang zur Täuschung und Unwahrheit“ keineswegs nur auf Regierungen und Politiker beziehe: „Dass Menschen Tatsachen, die ihnen wohl bekannt sind, nicht zur Kenntnis nehmen, wenn sie ihrem Vorteil oder Gefallen widersprechen, ist ein so allgemeines Phänomen, dass man wohl auf den Gedanken kommen kann, dass es vielleicht im Wesen der menschlichen Angelegenheiten, der politischen wie der vorpolitischen, liegt, mit der Wahrheit auf Kriegsfuss zu stehen.“9 Im Jahr 1971 doppelte sie mit „Die Lüge in der Politik“ nach. In diesen „Überlegungen zu den Pentagon-Papieren“ (die im selben Jahr teilveröffentlicht wurden), wies sie erneut darauf hin, dass Wahrhaftigkeit noch nie eine „politische Tugend“ war und dass „gezielte Irreführung und blanke Lügen als legitime Mittel zur Erreichung politischer Zwecke“ seit „den Anfängen der überlieferten Geschichte“ bekannt seien. Dabei gehe es nicht um eine „passive Anfälligkeit für Irrtümer, Illusionen, Gedächtnisfehler“, sondern um die „aktive, aggressive Fähigkeit zu lügen“: „Um 7 8 9

Orwell, George: 1984. Ein utopischer Roman, London 1949. Hofstadter, Richard J.: The paranoid style in American politics and other essays, New York 1965. Arendt, Hannah: Wahrheit und Politik, in: Arendt, Hannah: Wahrheit und Lüge in der Politik, München 2013 [1967], S. 44, S. 47, S. 56. Arendt baut ihre Argumentation auf der Unterscheidung von Vernunft- und Tatsachenwahrheiten auf; auch wenn dies kritisiert werden kann, bleiben die Schlussfolgerungen des Essays aktuell.

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Raum für neues Handeln zu gewinnen, muss etwas, das vorher da war, beseitigt oder zerstört werden; der vorherige Zustand der Dinge wird verändert“. Der Vietnam-Krieg der USA wird so zum Paradigma für das „bewusste Leugnen von Tatsachen“, für die „Fähigkeit zu lügen“ und für „das Vermögen, die Wirklichkeit zu verändern“.10 Niedrigschwelliger, stärker an der Zirkulation von auch harmlosen Unwahrheiten in der medialen Öffentlichkeit, bewegte sich 1973 der Schriftsteller Norman Mailer mit dem Begriff „Factoid“. Mailer bezeichnete damit ein aufgrund des im Druck Erscheinens als Sachverhalt akzeptiertes, empirisch jedoch nicht fundiertes oder widerlegtes Statement.11 In der Ausbreitung solcher „factoider“ Behauptungen sah er ein Irritationspotenzial, dessen Drehmoment nicht mehr wie bei Hofstadter aus einer pathologischen Psyche („Paranoia“), sondern aus der kommerzgetriebenen Verwertungslogik des Mediensystems resultiert. Massenmedien brauchen permanent neuen Stoff, sie vernutzen täglich Informationen, deren Faktenbasis nicht geprüft ist, weil sich diese Verifikationsarbeit schlicht nicht lohnt. Gewinnbringend ist es hingegen, Nachrichten dauernd zu recyclen, wofür das gleichzeitige Schrumpfen der Halbwertszeit des Newsgehalts und des öffentlichen Gedächtnisses die Voraussetzung schafft. In den 1980er-Jahren wurde der Problemkomplex unter den Stichworten „Humbug“ und „Bullshit“ verhandelt. Der Metapherntheoretiker Max Black veröffentlichte 1983 einen Text „The Prevalence of Humbug“, in der er die populäre, nahe an der Lüge liegende „deceptive misrepresentation“ denunzierte.12 Auf Black nahm 1986 der Philosoph Harry G. Frankfurt in seiner Abhandlung „On Bullshit“ Bezug. Dem Bullshit sind Menschen deshalb ausgeliefert, weil sie glauben, ihn erkennen zu können (was jedoch nicht der Fall ist). Bullshiter setzen auf Selbstdarstellung und Überreden; was sie erzählen, ist nicht unbedingt falsch, sondern irreführend: Sie täuschen ihr Publikum in ihrem Vorhaben. Im Unterschied zum Lügner, der die Wahrheit verdreht, legt sich Bullshit-Rhetorik gar nicht länger mit der Wahrheitsfrage an, sondern achtet ausschliesslich auf den (politischen) Mitnahmeeffekt rhetorischer Figuren, die unabhängig von ihrem Tatsachengehalt die Problemwahrnehmung vernebeln und die Aufmerksamkeit in die gewünschte Richtung lenken.13 10 11

12 13

Arendt, Hannah: Die Lüge in der Politik, in: Arendt, Wahrheit und Lüge, S. 8–9; vgl. auch von Matt, Peter: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist, München 2009 [1971]. Der Begriff entstammt der Biographie über Marilyn Monroe. In verschiedenen Abwandlungen (Factlet, 1980 eingeführt von William Safire, Trivia, etc.) wurde die abwertende Konnotation von Factoid gemildert. Factlets meint mehr interessante Nebensächlichkeit und schliesst auch frei zirkulierende Geschichten, insbesondere „urban legends“ mit ein. Black, Max: The Prevalence of Humbug and other essays, Ithaca 1983, http://www.ditext.com/black/humbug. html (25.01.2017). https://www.stoa.org.uk/topics/bullshit/pdf/on-bullshit.pdf (25.01.2017). Harry Frankfurt, On Bullshit,

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Auf dasselbe Phänomen bezieht sich die Wortschöpfung „Mathiness“, die als Abwandlung von „Truthiness“ auf schlechte Gewohnheiten in der Wissenschaft zielt. 2015 vom Ökonomen Paul M. Rohmer geprägt, bezeichnet sie die missbräuchliche Verwendung mathematischer Formeln in wirtschaftswissenschaftlichen Studien. Dekorative Gleichungssysteme können, so das Argument, unabhängig von ihrer formalen Richtigkeit dem Zweck dienen, ideologische Präferenz zu kaschieren und analytische Prämissen auf trügerische Weise zu plausibilisieren. Im Gefolge der Finanzmarktkrise von 2007/08 machte Paul Krugmann „Mathiness“ für den lamentablen Zustand der ökonomischen Theorie verantwortlich; das Herumzimmern an immer komplexeren formalen Modellen habe den Blick auf die relevanten Problemstellungen verbaut.14 „Mathiness“ bezeichnet den paradoxen Sachverhalt, dass es gerade die Wahrheit der Mathematik ist, die ein falsches Bewusstsein erzeugt. In anderen Bereichen verschränkt sich die Verwirrung mit dem Bedürfnis nach Unterhaltung. Als mit dem Internet und den neuen sozialen Medien das Bedürfnis nach Infotainment stieg, nahm in einigen Formaten eine bunte Mischung von Urban legends, Gerüchten, Factlets und Trivia überhand, mit den absurd-hyperbolischen Chuck Norris-facts als Kulminationspunkt.15 Gleichzeitig verhärteten sich transnationale Propagandakriege zwischen Weltmächten, die mit Desinformationskampagnen und neuen Kombinationen von Wahrheit und Lüge auf die öffentliche Meinung einwirken. In diesem komplexen Kräfteparallelogramm zeichnet sich als Hauptvektor die „gefühlte Wirklichkeit“ ab. Deren politische Mobilisierungskraft ist enorm, gleichzeitig ist klar, dass stilbildende und richtungsweisende persönliche Affekte und Emotionen nicht einfach den „unverfälschten“ Empfindungen „einfacher Leute“ entspringen, sondern in gesellschaftlichen Gefühlsregimes geprägt, in medialen Echokammern formatiert und durch Machtstrategien gezielt instrumentalisiert werden. Die Politik ist inzwischen stark in diesen Sog geraten. Nicht mehr Wissen ist Macht, sondern die Fähigkeit, sich spielend über Fakten hinwegzusetzen.

14 15

“What bullshit essentially misrepresents is neither the state of affairs to which it refers nor the beliefs of the speaker concerning that state of affairs. Those are what lies misrepresent, by virtue of being false. Since bullshit need not be false, it differs from lies in its misrepresentational intent. The bullshitter may not deceive us, or even intend to do so, either about the facts or about what he takes the facts to be. What he does necessarily attempt to deceive us about is his enterprise. His only indispensably distinctive characteristic is that in a certain way he misrepresents what he is up to.” Krugman, Paul: The Case of the Missing Minsky, in: The New York Times, 01.06.2005, http://krugman.blogs. nytimes.com/2015/06/01/the-case-of-the-missing-minsky/?_r=0 (22.02.2017). https://web.archive.org/web/20110708152307/http://www.chucknorris.com/html/events.aspx?type=3 (25.01.2017).

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Fakten und Gefühle in der Aufklärung Die Geschichtswissenschaft wurde und wird durch diese Entwicklungen in vielfältiger Weise herausgefordert. Ihre eigene Geschichte war immer auch eine facettenreiche Auseinandersetzung um die Frage, was Fakten in Verbindung und in Abgrenzung zu Fiktionen sind.16 Der Aufstieg der Tatsache zur privilegierten Einheit des Wissens in der Moderne verlief vielfach gebrochen; erst im 18. Jahrhundert verfestigten sich die epistemologischen Bedingungen, die den Durchbruch der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ermöglichten.17 Die moderne Geschichtsschreibung und der Roman entstanden damals gleichzeitig und in enger Wechselwirkung. Berühmte Autoren (wie Fielding, Defoe, Wollstonecraft) waren in beiden Sparten zugleich tätig. Der Begriff „Geschichtswissenschaft“ wurde 1761 geprägt, zu einem Zeitpunkt, in dem sich das Lesen von Romanen bereits grosser Beliebtheit erfreute und die Obrigkeiten beunruhigte. Henry Fielding, der Verfasser der sechsbändigen „History of Tom Jones, a Foundling“,18 unterschied zwischen Geschichten, die auf Fakten basieren (und die mit der Evidenz der Dokumente arbeiten) und Geschichten, die Fiktionen nutzen (deren Wahrheit aus der menschlichen Natur herrührt). Ausgehend von dieser Unterscheidung wurde der Wahrheitsgehalt von Romanen höher eingeschätzt als jener von Geschichtsbüchern. Denn in belletristischen Darstellungen kamen handelnde, denkende und fühlende Menschen vor, während die Geschichtsschreibung auf Abstraktionen aufbaute. Besonders eindrücklich formulierte dies William Godwin (1756-1836) in seiner Abhandlung „Of History and Romance“ aus dem Jahre 1797.19 Er unterschied zwischen einer Geschichte der Menschheit (d.h. der Gesellschaft oder einer Nation) auf der einen Seite und der Geschichte von Individuen auf der anderen. Das Verfassen der Geschichte einer Nation sei deshalb undankbar, weil hier von den Leidenschaften und Besonderheiten der Individuen abstrahiert werden muss. Das Resultat sei trockene und kalte Wissenschaft. Godwin stellt fest, dass Menschen abstrakte Begriffe nicht mögen. Kommt hinzu, dass die Verfahren der Geschichtsschreibung unklar sind: „Nothing is more uncertain, more contradictory, more unsatisfactory than the evi16 Burrow, John W.: A history of histories: epics, chronicles, romances and inquiries from Herodotus and Thucydides to the twentieth century, London 2007; Vgl. auch Lepore, Jill: Just the Facts, Ma’am. Fake memoirs, factual fictions, and the history of history. A Critic at Large, in: The New Yorker, 24.03.2008, http:// www.newyorker.com/magazine/2008/03/24/just-the-facts-maam (25.01.2017). 17 Poovey, Mary: A history of the modern fact. Problems of knowledge in the sciences of wealth and society, Chicago 1998. 18 Fielding, Henry: The history of Tom Jones, a foundling, Ware 1992 [erstmals London 1749]. 19 Godwin, William: Of History and Romance, o.O. 1797, http://www.english.upenn.edu/~mgamer/Etexts/godwin.history.html (22.02.2017).

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dence of facts.“ Deshalb müsse ein abwägendes Urteil zum Schluss kommen: „Dismiss me from the falsehood and impossibility of history, and deliver me over to the reality of romance.“20 Fiktion ist aus dieser Sicht deshalb wirklicher und wahrer als faktenbasierte Geschichte, weil sie sich mit einfachen Leuten und mit der Binnensicht, dem Selbstverständnis, den Wünschen und Hoffnungen, den Ängsten und Befürchtungen, den Handlungszwängen sowie existenziellen Dilemmata von Menschen befassen kann. Eine solche „fictive history“ (nicht zu verwechseln mit einer „historical fiction“) hatte auch geschlechterpolitische Implikationen. Anders als in Geschichtsbüchern spielen in den Romanen Frauen eine wichtige Rolle. Autorinnen wie Jane Austen kritisierten den patriarchalen Bias der Geschichtsschreibung und stellten ihr Beschreibungsformen entgegen, welche auf der „Wahrheit der menschlichen Natur“ basierten. Männer waren gerade deshalb der Meinung, Frauen sollten sich mehr mit Geschichte befassen, derweil die Romane nur ihre Phantasie vergiften würden. Andere Autoren relativierten den Unterschied. David Hume erklärte, ein geglücktes Geschichtsbuch liesse sich ebenso als Roman lesen. Einer interessierten Leserin, die sich für Fiktionen interessierte, empfahl er eine seiner historischen Studien – als die Frau das herausfand, protestierte sie. Insgesamt lief die „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“ in der Aufklärung stark über Textsorten und Literaturgenres. Geschichtsbücher wurden von Männern für Männer verfasst (und sollten zugleich auch Frauen über evidenzbasierte, empirisch abgestützte „Wahrheiten“ aufklären), während Romane häufig von Frauen für Frauen geschrieben wurden und zu zeigen versuchten, dass die Wirklichkeit der menschlichen Existenz nur durch die Vorstellungskraft eines literarischen Subjekts geschildert werden könne.

Aufstieg und Kritik des „Faktums“ im 19. Jahrhundert Die Verbindung von Fakten und Wahrheit konkretisierte sich im ausgehenden 18. Jahrhundert auch in Machtprojekten. Die Vereinigten Staaten von Amerika verstanden sich als empirisches Projekt, das der Arroganz der britischen Kolonialherrschaft mit Tatsachenwahrheiten begegnen wollte. Das war die Argumentationsstrategie Alexander Hamiltons in den (1787/88 veröffentlichten) Federalist Papers.21 Bereits die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 machte den Versuch die 20 21

Godwin, History. Lepore, Facts.

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„absolute Tyrannei“ Grossbritanniens mittels Tatsachen zu beweisen: „To prove this, let Facts be submitted to a candid world.“22 Im 19. Jahrhundert wurde die Faktenbasierung von Beweisen über das ganze Spektrum der sich ausdifferenzierenden wissenschaftlichen Disziplinen hinweg radikalisiert.23 Die Naturwissenschaften etablierten ein neues, mechanisches Objektivitätsideal. „Lasst die Natur für sich selbst sprechen“ wurde zum Losungswort einer in ihrem Selbstverständnis nicht intervenierenden Forschung.24 Im Übergang zum 20. Jahrhundert war die „Moralisierung der Objektivität“ beherrschend geworden. Subjektivität wurde als gefährlich angesehen; es galt, sie mittels Technologie zu kontrollieren, d. h. den Abbildungsvorgang automatischen Methoden zu überantworten. Ein guter Wissenschaftler hatte gegen die inneren Versuchungen ungezügelter Interpretation anzukämpfen, sich in Selbstbeherrschung zu üben und in wissenschaftlichen Aufzeichnungsprozessen Askese zu praktizieren. „Die Objektivität des neunzehnten Jahrhunderts erstrebte die Selbstdisziplin von Heiligen“, schreiben Lorraine Daston und Peter Galison in einer wissenschaftshistorischen Studie.25 Damals geriet auch die Geschichtswissenschaft in den Sog eines neuen Faktenglaubens und begann einem methodisch regulierten Objektivitätsideal zu huldigen. Die Dichotomie zwischen Wahrheit und Erfindung vertiefte sich. Mit dem Ziehen einer Trennlinie zwischen faktenbasierter Geschichtsschreibung und fiktionaler Literatur wurde es möglich, klar zwischen wissenschaftlicher Wahrheit und phantastischer Einbildung zu unterscheiden. Der Historismus erhob Quellenkritik und ein methodisch-disziplinäres Regelwerk zu funktionalen Äquivalenten der „mechanischen Reproduktion“26 in den Naturwissenschaften. Das historische Verstehen sollte nicht mehr durch blühende Fantasie des Autors korrumpiert werden. Leopold von Ranke sprach – mit religiös-pantheistischem Hintergrund – von der Notwendigkeit einer „Selbstauslöschung“ des erkennenden Subjekts, das, gleich einer Fotokamera oder einer Registriermaschine, unverstellt, ohne begriffliche Vermittlung, wirklich teilhaben kann am Leben der anderen.27 Auf diese Weise sollten die Dinge so dargestellt 22 Amerikanische Unabhängigkeitserklärung, https://www.archives.gov/founding-docs (25.01.2017). 23 Poovey, Mary: A history of the modern fact, Chicago 1998 behandelt insbesondere die faktenbasierte Wissensproduktion in der Politischen Ökonomie und der Statistik bis in die 1830er-Jahre. Vgl. Kapitel 5 bis 7, S. 214–328. 24 Daston, Lorraine/Galison, Peter: Das Bild der Objektivität, in: Geimer, Peter (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a. M. 2002, S. 29–99, hier S. 30. 25 Daston/Galison, Bild, S. 32. 26 Daston/Galison, Bild, S. 57. 27 Zu Ranke vgl. Iggers, Georg G.: The Intellectual Foundations of Nine-teenth-Century ‘Scientific’ History: The German Model, in: Macintyre, Stuart et al. (Eds.): The Oxford History of Historical Writing (Volume 4: 1800–

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werden können, „wie sie wirklich gewesen sind“. Jahrzehnte später wies Hans-Georg Gadamer darauf hin, dass dieses Postulat einer „Selbstauslöschung“ auf die „Ausweitung des Selbst zu einem inneren Universum“ hinauslaufe.28 Der Historismus, der im ausgehenden 19. Jahrhundert aufblühte, fand allerdings schon damals seine Kritiker. Wilhelm Dilthey und Johann Gustav Droysen widersprachen Ranke. Der französische Historiker Jules Michelet (1798–1874) hatte schon früher ein anderes Verfahren praktiziert. Er bewegte sich methodisch durchaus auf der Höhe seiner Zeit und nahm den Ruf ad fontes ernst, ohne jedoch auf die zentrale Rolle der Imagination zu verzichten. In seiner „Histoire de France“ aus dem Jahre 1856 erklärte er, seine Geschichtsschreibung ergreife „offen Partei für das Recht und die Wahrheit“. Diese Parteilichkeit verband er mit einer Absage an das „verhängnisvolle Opium der Geschichtsphilosophie“. Er habe vielmehr „diesem Jahrhundert ins Gesicht gesehen“ und „einen wahrheitsgetreuen Eindruck von seiner Physiognomie gegeben.“29 Er verstand sich als „Historiker mit einer glücklichen Einbildungskraft“ und glaubte an die Auferstehung der Toten durch ihre Einverleibung ins geschriebene Werk. Das versetzte ihn oft in einen interpretatorischen Taumel, den er in einer eindrücklichen Metapher zusammenfasste: „Ich habe zu viel schwarzes Blut der Toten getrunken.“30 Georges Duby sollte das ein gutes Jahrhundert später „Ergüsse seiner Libido“ nennen und Michelets interpretatorische „Generosität“ als Ausdruck eines „verschlossenen, im Grund etwas knauserigen Menschen“ sowie eines „geizigen Mannes“ deuten.31 Ähnlich können auch die nationalistischen Aspirationen Gustav Droysens (1808– 1884), des Begründers der „Historik“32, charakterisiert werden. Hier zeigt sich die Wechselwirkung einer Politisierung und einer Professionalisierung der Geschichte besonders eindrücklich. Droysen war anerkannter Pionier der Hellenismus-Forschung gleichzeitig Historiograph des Aufstiegs Preussens zur Weltmacht. Als glühendem Borussianisten ging es ihm um die wissenschaftliche Legitimation der Kriegsund Aussenpolitik des preussischen Staates. Unparteilichkeit erschien ihm als Übel. Er 1945), pp. 42–44. Siehe auch die Interpretation von Kracauer, Siegfried: Geschichte – vor den letzten Dingen, Frankfurt a. M. 2009 (Werke Bd. 4 [erstmals 1969]), S. 93. 28 Gadamer, Hans Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990, S. 215. Gadamer kritisierte insbesondere die psychologische Lesart von Ranke, wie sie Dilthey vornahm. Siehe dazu: Bube, Tobias: Zwischen Kultur- und Sozialphilosophie. Wirkungsgeschichtliche Studien zu Wilhelm Dilthey, Würzburg 2007, S. 85. 29 Barthes, Roland: Michelet, Frankfurt a. M. 1980, S. 121–123. 30 Diese Fremdcharakterisierung gab er in einem Brief wieder. Vgl. Barthes, Michelet, S. 121, S. 45. 31 Duby, Georges/Lardreau, Guy: Geschichte und Geschichtswissenschaft. Dialoge, Frankfurt a. M. 1982, S. 89. 32 Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik, Leipzig 1868.

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pflegte eine geradezu aggressive Polemik gegen akademische Leisetreterei und „feige Intelligenz“ von „objektiven“ oder „ausgewogenen“ Historikerkollegen.33 Diese parteiliche politische Haltung verband Droysen mit der Kritik eines unreflektierten Faktenglaubens. Er war zwar – im Unterschied etwa zu Godwin – der Meinung, die Geschichtsschreibung unterscheide sich von einer Fabel. Doch er lehnte ein verdinglichtes Vergangenheitsdenken ab. Die „Beobachtung der Gegenwart“ lehre uns, so schreibt er im „Grundriss der Historik“, „wie jede Thatsache von andern Gesichtspunkten aus anders aufgefasst, erzählt, in Zusammenhang gestellt wird, wie jede Handlung — im privaten Leben nicht minder wie im öffentlichen — die verschiedenartigsten Deutungen erfährt“.34 Droysen plädiert für eine Heuristik, die er – in Anlehnung an Niebuhr – als „Bergmannskunst“, als „die Arbeit unter der Erde“ bezeichnet, gelte es doch, den „Stoff zur historischen Arbeit (…) zu finden und ans Licht zu holen“.35 In der ersten der drei Abhandlungen, die Teil des „Grundrisses der Historik“ sind und die mit „Die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft“ übertitelt ist, befasst sich Droysen mit T. H. Buckle, dem Verfasser einer „History of England“ (1858).36 Buckle beklagte, dass die Geschichtsschreibung „die reiche und immer wachsende ‚Masse von Thatsachen‘“ kaum benutzt habe. Diesem Tatsachenglauben stellt Droysen die Einsicht entgegen, dass „nicht eben ein hoher Grad von Scharfsinn dazu (gehöre), einzusehen, dass die menschlichen Handlungen, in dem Moment, da sie geschahen, (…) am allerwenigsten die Absicht (…) hatten, geschichtliche Thatsachen zu sein.“37 Es seien „nicht die Vergangenheiten, nicht das unabsehbare Durcheinander von ‚Thatsachen‘, das sie erfüllte“, wie sie „uns als Material der Forschung vorliegen“, sondern diese Tatsachen seien „vielmehr mit dem Moment, dem sie angehörten, für immer vergangen“. Deshalb könnten wir „menschlicher Weise ja nur die Gegenwart, das Hier und Jetzt haben, freilich mit dem Triebe und der Fähigkeit, diesen ephemeren Punkt lernend, erkennend, wollend unermesslich zu entwickeln“. So könnten „für immer vergangene Gegenwarten, die hinter uns liegen“, wiedererweckt, in unserem Geiste vergegenwärtigt und „nach menschlicher Art“ verewigt werden.38

33 34 35 36 37 38

Vgl. dazu Nippel, Wilfried: Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München 2008. Droysen, Grundriss, S. 5. Droysen, Grundriss, S. 13. Droysen, Grundriss, S. 41–62. Droysen, Grundriss, S. 49, S. 51. Alle Zitate: Droysen, Grundriss, S. 49.

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Kämpfe um den „Tempel der Fakten“ in der Nachkriegszeit Nach den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert musste sich die Geschichtsschreibung in der Nachkriegszeit neu erfinden. Die Staatsvergötterung und die ideologische Fixierung des Historismus auf die Nation wurden in Frage gestellt. Es formierte sich eine Sozialgeschichte, die gegen Historismus, klassische Hermeneutik und historische Verstehenslehre antrat. Angesagt waren seit den 1960er-Jahren interdisziplinäre Erklärungsmodelle, welche die Geschichtsschreibung in eine „historische Sozialwissenschaft“ transformieren konnten. Diese fokussierte auf gesellschaftliche Strukturen und Prozesse und sah in quantifizierenden Methoden den Königsweg zu einer neuen Geschichtsschreibung. Mit der Quantifizierung bekam ein neuer, von seiner historischen Aufladung befreiter Tatsachenbegriff Auftrieb. Es ging um serielle Quellen, um aus massenhaften Dokumenten gewonnene Indikatoren, um Zeitreihen, mit denen sich Wachstumsprozesse und Konjunkturzyklen nachzeichnen liessen sowie um synchrone Strukturdaten, die einen objektiven Einblick in die verschiedenen Aspekte sozialer Ungleichheit zu geben versprachen. Es gab allerdings auch Historiker, die aus politikgeschichtlicher Perspektive gegen den „Tatsachenkult“ anschrieben. So bezeichnete der britische Historiker Edward Hallett Carr in seiner Abhandlung „Was ist Geschichte?“ das 19. Jahrhundert als „das grosse Zeitalter der Tatsachen“ und stellte fest: „Der Glaube an einen festen Kern historischer Fakten, die objektiv und unabhängig von der Interpretation des Historikers bestehen, ist ein lächerlicher, aber nur schwer zu beseitigender Trugschluss.“39 Die magischen Worte Rankes, Historiker hätten das Vergangene so darzustellen, „wie es eigentlich gewesen“, erschienen aus dieser Perspektive als Absage an „die ermüdende Verpflichtung selbständigen Denkens“.40 Mit seiner Diagnose verband Carr eine scharfe Kritik am Quellenverständnis: „Der fetischistische Glaube, mit dem das 19. Jahrhundert an den Fakten hing, fand in einer blinden Anbetung der Dokumente seine Ergänzung und Rechtfertigung. Die Dokumente waren die Bundeslade im Tempel der Fakten. (Sie) verbürgten die Wahrheit.“41 Carr wollte nun durchaus nicht weg von Fakten; nur können diese nicht einfach den Vorrang beanspruchen, weil sie nur in ihrem Gebrauch durch den Historiker, d.h. im „unendlichen Dialog zwischen Gegenwart und Vergangenheit“ Gültigkeit haben. Nach Carr muss sich in der „Beziehung zwischen dem Historiker und den Fakten“ ein „Gleichgewicht von Geben und Neh39 40 41

Carr, Edward Hallett: Was ist Geschichte?, Stuttgart 1981, S. 8, S. 12. Das Buch erschien erstmals 1961. Carr, Geschichte, S. 9. Carr, Geschichte, S. 16.

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men“ einspielen; so können „in einem kontinuierlichen Prozess die Fakten seiner Interpretation und seine Interpretation den Fakten angepasst“ werden. So wird die Geschichte als „ein in ständiger Bewegung begriffener Prozess“ gesehen, „in dem der Historiker sich fortbewegt“.42 Carr steht für die Ambivalenz der Faktenkritik in der Geschichtswissenschaft. Zum einen arbeitet er die Unhaltbarkeit eines substantialistischen Faktenbegriffs heraus. Zum andern vertritt er eine realistische Position der internationalen Politik, die er mit seinem Werk „The Twenty Years’ Crisis“ mitbegründete.43 Er neigte zu einer Essentialisierung des Konzepts der Nation. Damit lief eine Geringschätzung von Völkerrecht, internationalen Einrichtungen und letztlich auch Menschenrechten einher, in denen er einen blossen Paravent für Machtstrategien und Privilegiensicherung durch starke Staaten sah. Internationale Bestrebungen, wie sie etwa Norman Angell vertrat, erschienen ihm als leere Träume und schlechte Utopien, der Völkerbund war in seinen Augen eine missratene Konstruktion, welche die Machtspiele zwischen den Grossmächten nur schlecht überdecken konnte. So unterstützte er 1938 die Appeasement-Politik, verteidigte ein Jahr darauf den Hitler-Stalin-Pakt und sah in Führerpersönlichkeiten wie Hitler und Stalin Vertreter jenes machtgestützten Realitätsprinzips, das die Prämisse für historische Studien zu sein hatte.44 Die gegenwartsbezogene Plastizität der Fakten erweist sich für Carr auch nach 1945 als Methode, Geschichtsschreibung für sein nationalistisches Weltbild zu instrumentalisieren und jene Argumente, die schon in der Zwischenkriegszeit für den Aufbau einer zwischenstaatlichen Kooperation und einer internationalen Sicherheitsarchitektur sprachen, schlechtzureden.45 Diese Form der Parteilichkeit war schlecht geeignet, die erkenntnistheoretischen Implikationen der Faktenkritik zuzuspitzen. Dies blieb anderen Wissenschaftsdisziplinen und transdisziplinären Querdenkern vorbehalten. Entscheidende Impulse lieferte 1967 Roland Barthes. Für ihn war die Verwissenschaftlichung der Geschichte nichts anderes als eine semiologische Verschiebung. In „Le discours de l’histoire“ von 1967 unternahm er einen epistemologischen Angriff auf die Faktenbastionen des 19.

42 Carr, Geschichte, S. 29–30. 43 Carr, Edward Hallett: The Twenty Years’ Crisis: 1919–1939. An Introduction to the Study of International Relations, London 1939. 44 McGlinchey, Stephen: E. H. Carr and The Failure of the League of Nations, in: e-international relations, 08.11.2010, http://www.e-ir.info/2010/09/08/e-h-carr-and-the-failure-of-the-league-of-nations-a-historicaloverview/ (25.01.2017). 45 Tooze, Adam J.: The deluge. The Great War and the remaking of global order 1916–1931, London 2014.

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Jahrhunderts.46 Er bezeichnete die „objektive Geschichtsschreibung“ als einen „Effekt des Realen“, der durch die Kurzschliessung von Referent und Signifikant produziert wird. Damit erscheint aber das Signifikat als unvermittelte Vorstellung des Realen. Die historische Erzählung kann so vorgeben, dem wirklichen Verlauf der Dinge, den res gestae, zu folgen. Mit der Unterdrückung des Signifikats im Bezeichnungsprozess stellt sich die Illusion ein, Geschichte lasse sich „direkt“ aus dem Geschehen heraus, d.h. ausschliesslich faktengesteuert erzählen. Barthes nimmt allerdings keine schroffen Gegenüberstellungen von Faktum und Fiktion oder von Wissenschaft und Ideologie vor, sondern will zwischen emanzipativen und repressiven, zwischen progressiven und reaktionären Ideologien unterscheiden. Barthes Überlegungen wurden in den ausgehenden 1960er-Jahren vielfach aufgegriffen und variiert. Sie stellten eine ontologische Differenz zwischen belletristischen und historischen Texten, zwischen Roman und Geschichtsschreibung in Frage und bereiteten das Terrain für jene Debatten vor, die alsbald von der Kultur- und Alltagsgeschichte angeregt wurden47 oder unter den kontroversen Labels „Postmoderne“ bzw. „Poststrukturalismus“ geführt werden sollten.48

Rückkehr des Erzählens und „wohltemperierter Nominalismus“ Theoretisch als eher harmlos erwies sich der Appell zur Revitalisierung des Erzählens in der Geschichte, wie ihn Ende der 1970er-Jahre Lawrence Stone ertönen liess.49 Stone beklagte den Verlust an narrativer Raffinesse in einer empirisch ausufernden, statistisch fundierten Sozialgeschichte, die sich mit ihrem Interesse an grossen Strukturen und Prozessen vom Selbstverständnis von Akteuren und handelnden Menschen weit entfernt habe. Er forderte die Rückkehr deskriptiver Darstellungsformen, in denen kohärente Geschichten erzählt und ein Blick auf die Binnensicht der am histo46 Barthes, Roland: Le discours de l’histoire, in: Information sur les sciences sociales 4/1967, pp. 65–75; Vgl. dazu Jaeger, Stephan: Historiographisch-literarische Interferenzen. Möglichkeiten und Grenzen des Diskursbegriffs, in: Fulda, Daniel/Tschopp, Silvia Serena (Hg.): Literatur und Geschichte: ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Berlin 2002, S. 61–85. 47 Medick, Hans: Die sogenannte ,Laichinger Hungerchronik‘. Ein Beispiel für die ,Fiktion des Faktischen‘ und die Überprüfbarkeit in der Darstellung von Geschichte, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 44/2 (1994), S. 105–119. 48 Siehe z.B. Chandler, James/Davidson, Arnold I./Harootunian, Harry (Eds.): Questions of Evidence. Proof, Practice, and Persuasion across the Disciplines, Chicago/London 1991. 49 Stone, Lawrence L.: The Revival of Narrative. Reflections on a New Old History, in: Past and Present 85 (Nov. 1979), pp. 3–24.

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rischen Geschehen Beteiligten offeriert werden: „More and more of the ‚new historians‘ are now trying to discover what was going on inside people’s heads in the past, and what it was like to live in the past, questions which inevitably lead back to the use of narrative.“50 Komplexer argumentierten zur gleichen Zeit Vertreter der zweiten und dritten Generation der französischen Annales. Besonders prägnant formulierte Georges Duby (1919–1996), der die Geschichte des Mittelalters revolutionierte, die neuen Anliegen. In einem Dialog mit dem Philosophen Guy Lardreau, der 1980 veröffentlicht wurde, insistiert Duby auf der „unvermeidlichen Subjektivität des historischen Diskurses“ und fasst seine theoretische Überzeugung von der Narrativität der Geschichte in eine poetische Sprache: Er sei überzeugt, „dass dieser Diskurs das Produkt eines Traumes ist, aber eines Traumes, der nicht vollkommen frei ist, da die grossen Bilderschleier, aus denen er zusammengesetzt ist, ja unbedingt an Nägeln befestigt werden müssen“.51 Diese „Nägel“ würden sich aus den Spuren der Vergangenheit ergeben, deren vollständige Rekonstruktion nicht möglich sei, die jedoch einen zwingenden Einfluss auf die Geschichtsschreibung hätten. Dabei gehe es weniger um „Wirklichkeit“ als um „Wahrhaftigkeit“, um das Eingeständnis nämlich, dass, obwohl „n Diskurse“ möglich sind, nicht jeder „x-beliebige Diskurs über Vergangenes“ gültig sei.52 Geschichtsschreibung sei nicht realistisch, sondern nominalistisch, allerdings mit einer spezifischen Beschränkung: „Irgendwo muss die Regression ein Ende finden, und eine Positivität auftauchen, die diesem Taumel Einhalt gebietet – so nominalistisch meine Vorgangsweise auch erscheinen mag, werde ich doch zumindest zugestehen müssen, dass die Worte, die ich analysiere, nicht einfach von mir erschaffene Worte sind, sondern zu ihrer Zeit wirklich gesprochen wurden.“53 Duby nennt das einen „wohltemperierten Nominalismus“ und spricht von einem „kontrollierten Traum“.54 Auf die Spitze getrieben wurde die Kritik an einer faktenbasierten Geschichtsschreibung vom Literaturwissenschaftler Hayden White. Seine grundlegenden Werke über „Tropics of Discourse“ und „Metahistory“ waren bereits 1973 bzw. 1978 erschienen, durchliefen allerdings erst in den 1980er-Jahren einen Rezeptionsschub mit globalen Auswirkungen. In seiner „Tropologie der Geschichte“ betonte White, dass die Erzählung „nicht nur eine neutrale diskursive Form ist“, die von Historiker/inne/n zur 50 51 52 53 54

Stone, Revival, p. 13. Duby/Lardreau, Geschichte, S. 44. Duby/Lardreau, Geschichte, S. 41. Duby/Lardreau, Geschichte, S. 15–16. Duby/Lardreau, Geschichte, S. 37.

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darstellerischen Organisation von Forschungsergebnissen angewandt wird, „sondern vielmehr ontologische und epistemologische Wahlmöglichkeiten mit eindeutig ideologischen und sogar spezifisch politischen Implikationen nach sich zieht“.55 Historiker/innen müssen Geschichten erzählen, sie können dem Zwang zum Plot nicht entgehen und dieses Emplotment lädt ihre Darstellung mit einem Sinn auf, der auf die dargestellten historischen Ereignisse und Prozesse durchschlägt. Es ist das Narrativ, das der Darstellung selektiv ausgewählter, unvollständiger, widersprüchlicher realer Ereignisse „eine trügerische Kohärenz verleiht und sie mit einem Sinn befrachtet, der eher zum Traumdenken als zum wachen Denken gehört“.56 Ebenso wie Roland Barthes und andere unterlief White die Dichotomie, wonach Schriftsteller in ihren Erzählungen alles erfinden, „während Historiker nichts erfinden“ – abgesehen von „gewissen rhetorischen Ornamenten oder poetischen Effekten“, die aber nur dazu dienen sollen, das Interesse an der Geschichte wachzuhalten. Dennoch setzt er ein Geschichtswerk nicht mit einem Roman gleich. Der Unterschied ergibt sich aber nicht aus der Machart des Diskurses, sondern aus der Haltung. Historiker/innen werden durch ein „Begehren nach dem Wirklichen“ geleitet.57 Auch wenn sie sich den Tücken darstellerischer Konventionen und des Emplotment nicht entziehen können, verfolgen sie doch ein anderes Ziel als ein Romancier: „Die Historie gehört somit zur Kategorie dessen, was man ‚den Diskurs des Realen‘ im Gegensatz zum ‚Diskurs des Imaginären‘ (…) nennen könnte“. Es gilt deutlich zu machen, „dass uns die Anziehungskraft des historischen Diskurses dann verständlich wird, wenn wir erkennen, in welchem Masse er das Reale begehrenswert, es zum Objekt der Begierde macht, dadurch, dass er den als real repräsentierten Ereignissen die formale Kohärenz von Geschichten auferlegt.“ Weil aus dieser Perspektive ein Plot als „Störfaktor“ auftreten würde, muss er „als in den Ereignissen ‚vorgefunden‘ präsentiert werden“.58 White löste mit seiner postmodernen, poststrukturalistischen Erzähltheorie starke Widerstände in der historischen Fachdiszplin aus, wo das methodische Handwerk und die Faktenbasis der Geschichtsschreibung bedroht schienen.59 White kultivierte indessen keinen postmodernen Beliebigkeitszauber, sondern machte einen ernsthaf55 Hier wird ein späteres Werk von Hayden White zitiert: White, Hayden: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1990, S. 7. 56 White, Bedeutung. 57 White, Bedeutung, S. 21. 58 White, Bedeutung, S. 34. 59 Vgl. Evans, Richard J.: In defense of history, New York 1997. Neben Evans zu erwähnen sind: Donald Kagan, Sir Geoffrey Elton, Gordon Wood. Diese Auseinandersetzungen werden zusammengefasst in: Goertz, Hans-Jürgen: Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart 2001.

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ten Vorschlag, wie Historiker/innen mit dem Problem der Darstellungsform und der Offenheit der Interpretation umgehen könnten. Anlässlich einer denkwürdigen Tagung „Nazism and the ‚Final Solution‘: Probing the Limits of Representation“, die im April 1990 an der University of California in Los Angeles stattfand, kam es zu einer Klarstellung zwischen dem Veranstalter Saul Friedländer und Hayden White, der deutlich machte, dass er mit seiner Kritik an einer „realistischen“ Geschichtsschreibung keineswegs die Faktizität des Holocaust in Frage stellen, sondern das Problem von dessen Interpretation aufwerfen wolle. In der Folge kam es zu einer „Annäherung von Holocaust-Geschichtsschreibung und postmoderner Geschichtstheorie“, wie Wulf Kansteiner im Juni 2011 an der Follow-up-Konferenz „Den Holocaust erzählen? Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität“ in Jena festhielt. Es sei – so seine These – gerade Saul Friedländer, der mit seiner 2007 publizierten epochalen Studie über die Juden im „Dritten Reich“ (The Years of Extermination) eine überzeugende praktische Antwort auf das Darstellungsproblem gefunden habe.60

Die „Tatsachenwahrheit“ in der Politik und die „polemischen Fakten“ der Geschichtsschreibung Im Unterschied zur Geschichtswissenschaft hat die Politik sich in den vergangenen Jahren von überzeugenden praktischen Antworten auf das Problem der Tatsachen immer weiter entfernt. Um diesen Vorgang zu analysieren, drängt sich nochmals ein Rückgriff auf Hannah Arendt auf. Sie formulierte in den ausgehenden 1960er-Jahren ein Technokratie-Demokratie-Dilemma, das darin besteht, dass demokratische Konfliktaustragung auf die „Integrität der Tatbestände“, auf einen „auf korrekter Information beruhenden Meinungsaustausch“ angewiesen ist.61 Es zeigt sich hier ein Dilemma: Eine Demokratie ist schlecht kompatibel mit dem Demobilisierungspotenzial technokratischen Wissens und gleichzeitig gibt es offensichtlich Tatsachenwahrheiten, über die sich auch eine demokratische Politik nicht hinwegsetzen kann oder sollte. Zwar gilt, dass „vom Standpunkt der Politik aus gesehen“ die „Wahrheit despotisch“ ist 60 Friedländer, Saul (Ed.): Probing the Limits of Representation. Nazism and the ‘Final Solution’, Cambridge/ Massachusetts 1992. Vgl. dazu den Bericht von Thomas Köhler zur Tagung „Den Holocaust erzählen? Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität“ (09.–11.06.2011) am Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-3961 (25.01.2017). 61 Arendt, Wahrheit, S. 57–58, S. 61.

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– weswegen die „philosophische Wahrheit“, zu der ein Mensch als „denkendes Wesen“ gelangen kann, „unpolitisch“ sein muss.62 Politiker neigen indessen dazu, ihnen missliebige, ihren Interessen zuwiderlaufende Tatsachenwahrheiten dadurch zu diskreditieren, dass sie auch diese als schiere „Ansichtssache“ ausgeben und damit den Unterschied von Fakten und Meinungen unterlaufen. Wenn Fakten die Politik nicht ausschalten sollen, Politik umgekehrt aber auf Fakten angewiesen ist, so müssen Letztere als regulierende Kraft fungieren, um eine Spannung auszugleichen. Die Vermittlung von politischem Handeln und dem „Zwingenden der Wahrheit“ kann dadurch erreicht werden, dass Tatsachenwahrheiten der „Meinungsbildung den Gegenstand vor(geben) und (…) sie in Schranken (halten)“.63 Tatsachenwahrheiten und insbesondere historische Tatsachen sind aus Arendts Sicht besonders gefährdet angesichts politischer Lügen und ideologischer Verdrängungen. Deren Verteidigung kann indessen, wie gezeigt, nicht bei einem unreflektierten Faktenglauben ansetzen, der das „Postfaktische“ entweder als lügnerische Politik oder aber als postmoderne Hybris bzw. poststrukturalistische Wirklichkeitsvolatilität identifiziert. Das Problem steckt im „Faktum“, im „Gemachten“, das die „Tat-Sachen“ prägt, selbst. Dies betrifft insbesondere die professionelle Geschichtsschreibung, die durch eine politische Instrumentalisierung der Vergangenheit herausgefordert wird. Sie tut in dieser Situation gut daran, an ihre besten theoretischen Traditionen anzuknüpfen. Ganz so wie das Jacques Le Goff im Vorwort zu Marc Blochs „Apologie der Geschichtswissenschaft“ macht, wenn er schreibt, für Bloch müsse sich der Historiker bewusst werden, „dass historische Tatsachen kein ‚positives‘ Faktum sind, sondern das Ergebnis seiner eigenen, aktiven Konstruktion, die aus einer Quelle überhaupt erst ein Dokument macht, und dann dieses Dokument, diese historische Tatsache, als Problem konstituiert“.64 Marc Bloch selbst schrieb metaphorisch, die „Zeit der Geschichtswissenschaft“ sei „das Plasma, in dem die Phänomene schwimmen, der Ort ihrer Verstehbarkeit“.65 Geschichtswissenschaft sei „noch sehr jung als rationale, analytische Unternehmung“66 und als solche müsse ihr „schon der Gedanke, die Vergangenheit als solche könne Gegenstand einer Wissenschaft sein, absurd“ erscheinen.67 Es sind die Histori62 63 64 65 66 67

Arendt, Wahrheit, S. 61, S. 68. Arendt, Wahrheit, S. 65, S. 63. Bloch, Marc: Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers, Stuttgart 2002. Vorwort Jacques Le Goff, S. XVII. Das Vorwort erschien erstmals 1993 in der 3. Ausgabe der „Apologie“. Bloch, Apologie, S. 32. Bloch, Apologie, S. 15. Bloch, Apologie, S. 27.

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Jakob Tanner

kerinnen und Historiker, die – handwerklich professionell – die Vielfalt der Dokumente als Spuren der Vergangenheit untersuchen und aus ihnen die relevanten Fakten „produzieren, um sie dann in eine narrative Ordnung“ zu bringen. Das „Gemachte“ an diesen Fakten widerspricht keineswegs ihrer Wahrheit. Dies aus zwei Gründen: Erstens ist Vergangenheit „definitionsgemäss etwas Vorgegebenes“; und auch wenn sich das Wissen darüber dauernd verändert, kann dieses „nicht mehr verändert werden“.68 Das heisst auch, dass Quellen in historischen Interpretationen ein Vetorecht haben und dass wahre Tatsachen polemisch sind, weil sie die schönsten Theorien über den Haufen werfen können.69 Zweitens sind Tatsachen relational. Als Bewusstseins-Tatsachen können sie besser verstanden werden, „wenn man andere, ähnlich geartete Tatsachen bereits verstanden hat“. Weil „alle menschlichen Phänomene vor allem durch Ketten ähnlicher Phänomene bestimmt werden“, kann es gelingen, „sie nach bestimmten Gesichtspunkten zu klassifizieren“, um so „die entscheidenden Kraftlinien freizulegen“.70 Die Sicherung historischer Tatsachen besteht für Marc Bloch weniger im Festhalten an Aussagen denn im professionellen Praktizieren eines „Handwerks“: Es sind die wissenschaftlichen Verfahren, die Tatsachen zu dem machen, was sie sind. Der effizienteste Angriff auf die Fakten besteht in der Delegitimierung der institutionellen Mechanismen und wissenschaftlichen Kooperationsformen, in denen sie überhaupt erst entstehen können. Hier stossen wir auf die Gründe eines inzwischen grassierenden Antiintellektualismus und einer Forschungseinrichtungen generell gefährdenden Wissenschaftsfeindlichkeit. Das, was heute neu ist und unter dem Schlagwort „postfaktische Politik“ diskutiert wird, betrifft deshalb weniger den Status von Erfahrungstatsachen und wissenschaftlichen Fakten als den Zustand der Demokratie insgesamt. Hannah Arendt konstatierte im Übergang von den 1960er- zu den 1970er-Jahren eine neue Qualität der Täuschung. Wenn die image-maker nicht mehr lügen können, ohne sich selbst zu belügen, dann wird die politische Zielprojektion zur Fata Morgana und die ganze Politik gerät in eine prekäre Schlaufe der Selbsttäuschung. Allerdings treten gerade „betrogene Betrüger“ besonders irritationsresistent und selbstsicher auf und erzeugen so paradoxerweise eine Aura der Glaubwürdigkeit. Diese Fähigkeit wiederum, einen „Anschein von Wahrhaftigkeit zu erwecken“, lässt das Gewebe von selbsttäuschenden Lügen immer 68 69

70

Bloch, Apologie, S. 66–67. Dies nach einer Formulierung von Guy Lardreau, der dies in Analogie setzt zu den „polemischen Tatsachen“, von denen Gaston Bachelard in Bezug auf die Naturwissenschaften sprach, in: Duby/Lardreau, Geschichte, S. 40. Bloch, Apologie, S. 163.

Fakt ist … Post-truth-politics und die Geschichtswissenschaft

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dichter werden. Es beginnt dann eine Zeit, in der „die modernen Lügen sich nicht mit Einzelheiten zufriedengeben, sondern den Gesamtzusammenhang, in dem die Tatsachen erscheinen, umlügen und so einen neuen Wirklichkeitszusammenhang bieten“.71 Arendt bezeichnet diesen Umschlag vom Lügen und Betrügen als einer politischen Taktik, die zu jedem Wahrheitsregime gehört, ja die Suche nach Wahrheit überhaupt erst ermöglicht, in eine „organisierte Manipulation von Tatbeständen“ als „das Entscheidende“.72 In diesem kritischen Moment wird mit Möglichkeit des Unterscheidens von Wahrheit und Unwahrheit selbst unterminiert, es tritt eine „Entwirklichung“73 ein, die den politischen Orientierungssinn vernichtet. Dies mit dem Resultat, dass „Propagandafiktionen“ zu herrschen beginnen, in denen „jedes Faktum voll erklärt“ ist.74 Diese Analyse, die Hannah Arendt vor einem halben Jahrhundert vorlegte, war ebenso hellsichtig wie antizipativ. Kann es sein, dass Arendt damals einen Umschlagspunkt beschrieben hat, der sich erst heute, unter neuen medialen und technischen Bedingungen, in seiner ganzen Wucht bemerkbar macht? Arendt weist durchaus auf die Bedeutung der „Techniken der Massenmedien“ für die Täuschungsszenarien des image-making hin.75 Die digitale Medienrevolution setzte allerdings erst später ein. World Wide Web, Big Data und Social Media haben im beginnenden 21. Jahrhundert einen neuen Möglichkeitsraum für Meinungsfeldzüge und Propagandafiktionen geöffnet. Dabei geht es nicht primär um die Verdrängung und Verdrehung von „Fakten“, sondern um die symbolische Ordnung der Gesellschaft und die Ausgestaltung einer demokratischen Kultur. Faktenbasierte Kampagnen ohne starke Botschaften bleiben unter „post-truth“-Bedingungen blass, ja neigen dazu, im Gestus empörter Zurückweisung die Argumente der Gegenseite in Zirkulation zu halten und zu reifizieren. Donald Trumps Motto „Make America Great Again“ ist eine grosse Saga von Aufstieg, Niedergang und Wiederaufstieg. Sie lässt sich faktisch nicht falsifizieren. Es kann nur konstatiert werden, dass hier ein altes Erzählmuster mobilisiert wird, das einen Ausgrenzungsnationalismus mit einem heroischen Bild der Vergangenheit verbindet.76 Es handelt sich um ein Framing, das die Wahrnehmung der Gegenwart und 71 72 73 74 75 76

Arendt, Wahrheit, S. 78. Arendt, Wahrheit, S. 45, S. 79–80, S. 83–84. Arendt, Lüge, S. 21. Arendt, Wahrheit, S. 84. Arendt, Wahrheit, S. 76. Zwischen solchen Narrativen, welche eine gute alte Zeit wiederherstellen wollen und Verschwörungstheorien gibt es eine enge Verbindung. Vgl. dazu Tanner, Jakob: The Conspiracy of the Invisible Hand. Anonymous Market Mechanisms and Dark Powers, in: New German Critique 103 (Winter 2008), pp. 51–64.

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Jakob Tanner

die Aufgaben der Zukunft über eine nostalgische Imagination der Vergangenheit strukturieren. Dieses Phänomen reicht weit über die USA hinaus und ist gegenwärtig auch in Europa und weiteren Erdregionen in verschiedensten Schattierungen zu beobachten. „Make us great again“ ist der privilegierte Plot von Despotie, Autoritarismus und xenophobem Nationalismus, sowie von Führern, die hinter jedem Einspruch ein Komplott wittern. Um das Phantasma einer einst grossen und homogenen Nation zu dekonstruieren sowie nationalistische Machtprojekte zu kritisieren, muss die Geschichtswissenschaft in erster Linie an ihrem professionellen methodischen Rüstzeug und an ihrem methodologischen Regelwerk festhalten. Gemeinsam mit andern Wissenschaftsdisziplinen – bis hin zur interdisziplinären Klimaforschung – hat sie darauf hinzuweisen, dass ihre Fakten auf disziplinär etablierten, intersubjektiv überprüfbaren Forschungspraktiken beruhen. So wird auch erkennbar, dass der Angriff auf die Fakten auch immer einer auf die Wissenschaft und deren Finanzierung ist. Darüber hinaus gilt es, die Einsicht in den Zusammenhang von wissenschaftlicher Interpretation und politischer Intervention zu schärfen. Historikerinnen und Historiker müssen sich in der Ökonomie medialer Aufmerksamkeit mit originellen Analysen und fesselnden Narrativen positionieren, auch mit solchen über Mythen und Fiktionen, deren konstruktive und destruktive Wirkungskräfte in spannende Erzählungen integriert werden können. Damit dies gelingt, benötigt die Geschichtswissenschaft insbesondere ein verstärktes Sensorium für genau jene Fragen, welche die theoretische Kritik des unreflektierten Faktenglaubens seit dem 18. Jahrhundert aufgeworfen hat.



SHIFTING IMAGINARY Shabih Zaidi 2016

VON FEUER UND WASSER – UND DEM VERSPRECHEN, SCHMUGGLER ZU WERDEN Ein Portrait (basierend auf einem Interview in Basel am 22.09.2016)

Véronique Hilfiker

Manche träumen mit vier davon, Lokführer zu werden. Ich wollte Feuerwehrhauptmann werden. Von meinem Kinderzimmer aus konnte ich sehen, wie die Feuerwehr zu Einsätzen fuhr. Das faszinierte: Wasser und Feuer. Ein Feuer löschen, ein Feuer anfachen, im übertragenen wie im konkreten Sinn, dann zur Ruhe bringen und Distanz gewinnen. Feuerwehrhauptmann indes bin ich nicht geworden. Von der Mutter her komme ich aus einer wohlhabenden Bauern- und Bäckersfamilie, wo gutes Handwerk und solider Geschäftssinn das Leben prägten. Sie war die Matriarchin der Familie. Bei ihr haben wir uns immer Rat geholt; und er kam stets in präziser, knapper, in wenigen Worten alles wieder in den Senkel stellender und handfester Form. Mein Vater war ein intellektueller und weitreichender Geist, dem Abenteuer und guten Leben nicht abgeneigt. Seine Familie stieg als migrierende Schrotthändler auf, heute würde man etwas vornehmer „Ökorecycler“ sagen. Er war der erste Akademiker der Familie. Eigentlich wollte er Rabbiner werden; sein Vorbild, ein Rabbiner, riet ihm jedoch von diesem so brotlosen Beruf ab. So wurde er Arzt, hat sich aber lebenslang in Philosophie, Kulturgeschichte und Psychologie ergangen.

Ethnopraktische Lehr- und Wanderjahre Lange habe ich hin und her überlegt, ob ich eine Schreinerlehre machen solle – um mich dann doch fürs Wirtschaftsgymnasium zu entscheiden. Ich ging in Olten aufs Gymnasium. Olten war damals der perfekte Ort für einen jungen Menschen, der Bewegung suchte. Dort spielten in den 1970er-Jahren sämtliche Rock- und Popgruppen, die durch die Schweiz zogen; die Stadt liegt zentral zwischen Zürich, Bern, Basel

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und Luzern. Ich schwänzte die Schule, um die Gründung der Gruppe Olten1 mitzuerleben. Das Kulturelle war für mich auch immer das Politische. Letztlich hat mich dies wohl zum Phil. I-Studium geführt. Ich war kein fleissiger Student – das konnte man sich damals, weit vor Bologna, leisten. Ich hatte viele Interessen und ging meinen Leidenschaften nach: der Musik, der Poesie und dem Theater. Mit der Gruppe Mime Berne, später mit unserem eigenen Duo, Mymä Brattig, reisten wir auf Tourneen quer durch Europa, traten bei Fringe Festivals2, bei Sommerspielen, auf Kleinkunstbühnen auf. Es war eine Möglichkeit zu reisen und Kontakte zu knüpfen; es war die Exploration der europäischen Kultur in einer Zeit, als Interrail aufkam, als die europäische Jugend, deren Väter in Weltkriegen noch aufeinander geschossen und sich umgebracht hatten, quer durch Europa hin und her reiste. Zum ersten Mal wurden Grenzen, innerlich und äusserlich, überwunden. 1989, mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, wurde diese – keinesfalls selbstverständliche – Friedenszeit nochmals beschleunigt, vielleicht zu rasant, zu expansiv, um stabil und nachhaltig zu sein. Mein Studium war eine Art Lebenspraxis der europäischen und aussereuropäischen Ethnologie, ohne akademische oder wissenschaftliche Absichten, ein essayistischer Lebensstil. Das akademische Studium empfand ich als eher einengend. Ich studierte Geschichte, Kunstgeschichte, Literatur und besuchte gleichzeitig Öko­ nomie- und Ethnologie-Vorlesungen. Der Blick in die Geschichte, besonders in die ­Ideen- und Alltagsgeschichte, verankerte mich in der Tiefe. Ich wollte wissen, was, warum und wie gewesen war. Nicht zuletzt, weil ich aus einer jüdischen Familie stamme, an deren Kultur das 20. Jahrhundert Spuren hinterlassen hat, wenn man an die Weltkriege, den Holocaust, die Gründung des Staates Israel denkt: eine Mischung aus Umbruch, Ohnmacht und radikaler Vision. Danach machte ich die Ausbildung zum Gymnasiallehrer und unterrichtete, um Geld zu verdienen – mit 26 wurde ich ausserordentlich glücklicher Vater einer wunderbaren Tochter: Rachel. Als Eltern

1

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Die „Gruppe Olten“ war eine in Biel von aus dem Schweizerischen Schriftstellerverein (SSV) ausgetretenen Mitgliedern – unter anderen auch Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch – gegründete Vereinigung Schweizer Autoren (1971 bis 2002). Grund waren antiintellektuelle und antikommunistische Tendenzen des SSV sowie der Wunsch nach einem politischen Engagement im Sinne eines demokratischen Sozialismus. Erste Zusammenkünfte fanden in Olten (Kanton Solothurn) statt – was zur Namensgebung beitrug. 2002 haben sich beide Verbände aufgelöst, um 2003 die Vereinigung „Autorinnen und Autoren der Schweiz (AdS)“ zu gründen. Fringe Festivals entstanden in den 1950er-Jahren als inoffizielle Programme zu konventionellen Theaterfestivals. Das Edinburg Fringe Festival war das erste seiner Art und fand bereits 1947 zeitgleich mit dem Edinburgh Festival (ebenfalls seit 1947) statt. Heute ist das Edinburgh Festival Fringe das weltweit grösste Kulturfestival.

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teilten Katharina3 und ich uns die Aufgaben – in einer Zeit, als es noch keine Kinderhorte gab und Frauen vermeintlich ins Haus und Männer zur Arbeit gehörten. Mit andern Eltern stellten wir einen freien Kindergarten auf die Beine und versuchten uns in – für damalige Zeiten – alternativen Lebensformen, dies ich nicht missen möchte. Mein kulturelles Interesse blieb ungebrochen. Ein Jugendfreund, Bernhard Schaer, ergriff die Initiative und wir organisierten ohne einen Rappen in der Tasche in den frühen 1980ern ein fünftägiges Festival in Interlaken, dem wir den Titel Planetarisches Festival der Kulturen, Wissenschaften und Religionen gaben. Der Dalai Lama trat auf – zum ersten Mal in der Schweiz. 1300 Teilnehmende erschienen – eine Art Rainbow Woodstock der Schweiz, mit japanischen Butho-Tänzern, afrikanischen Musikern, indischen Buddhisten, Medizinern unterschiedlichster Praxen – eine kunterbunte Schar. Die Begegnung, unter anderen, mit einem alten Kabbalisten und einer jungen Rabbinerin führte mich nach New Mexico in eine Mischung aus alternativer jüdischer und schamanischer wie künstlerischer Atmosphäre sowie nach New York in eine höchst kreative jüdische Szene. Mein Verhältnis zur Anthropologie war also ziemlich praktisch, sehr facettenreich, immer inspirierend und mich zur Reflexion zwingend – eine erfahrungsorientierte Suchbewegung auf globalem Niveau.

Prägende Lehrer Heribert Raab, Kirchenhistoriker an der Universität Freiburg, ein liberaler Katholik mit etwas steifen Manieren prägte mich durch seine präzise Art und Weise, Dinge zu benennen. Ebenso Beatrix Mesmer, meine Doktormutter an der Universität Bern, die mit sehr skeptisch distanziertem Blick höflich, aber punktgenau spotten konnte. So lernte ich zu beobachten, wie Menschen manchmal das Gegenteil von dem erreichen, was sie eigentlich intendieren. Hermann Levin-Goldschmidt, ein frei schaffender Philosoph in Zürich, brachte mir das Handwerk des Denkens bei, also scharf denkend Unterschiede zu machen. Unvergesslich waren die Vorlesungen von Emanuel Levinas in Freiburg, dem Phänomenologen aus Frankreich, ein grosser Geist. So auch Georg Steiner in Genf. Ein Segen die Gastprofessuren an der Universität Bern, Zwi Werblowski und Zalman Schachter. Auch ausserhalb der Universität fand ich gute Lehrer, unter anderen einen Schamanen, einen Trickster: Man musste immer aufpassen, von ihm 3

Katharina Picard, Körperwahrnehmungs- und Bewegungstherapeutin, Erwachsenenbildnerin HF.

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nicht in die verkehrte Richtung gelenkt zu werden; das war seine Lehrmethode, die einen wachsam hielt. Selbst über Feuer zu gehen, nicht nur metaphorisch, sondern real, lernte ich. Wirklich gute Lehrer sind im alltäglichen Leben Tyrannen, die kleinen noch mehr als die grösseren. Von solchen gewiss unangenehmen Erfahrungen lernt man, autonom zu handeln, so dass sie ins Leere laufen und einen schliesslich weiterbringen. Des Weiteren hat mir auch die tibetische Meditation eine neue Welt eröffnet, indem ich intensiv gelernt habe, ein anderes Wahrnehmungsspektrum zu erfahren. Und die erste Lehrerin! Sie hatte bemerkt, dass ihr Erstklässler ein unverbesserlicher Träumer war und hat mir immer auch Raum gelassen, ein wenig zu träumen. Rückblickend ein fundamental wichtiges Lebensmoment. Als ich einmal – im Alter von 40 – in Olten war, schaute ich spontan im alten Schulhaus vorbei, ob das Fräulein Aerni auch noch da sei. Und tatsächlich! Das gleiche Zimmer. Ich klopfte an, ein Kind öffnete mir die Tür. Sie sass vorn am Pult, blickte auf, drei Sekunden, vier, fünf Sekunden Stille, und dann: „Ah lueged do, de Schaggeli!“ Das war ein rührendes Erlebnis. Es war ein grosses Glück, diese zwei Jahre bei ihr verbracht zu haben.

Lektüren Im Gymnasium war ich stets in Opposition zu den Anhängern von Max Frisch, der mir mit seiner „Identitätsduselei“ noch heute auf die Nerven geht. Für mich hatte und hat Friedrich Dürrenmatt Tiefe, eine theologische Tiefe, nicht im Sinne von fromm, sondern vielmehr in Abgründe blickend. Er sinnierte gleichsam frei über Gott und die Welt! Die Stoffe von Dürrenmatt, sein Vortrag an der ETH über Einstein und die Physik, in welchem er auf Baruch Spinoza Bezug nahm, seine Kriminalnovellen als modernes Gleichnis – das war prägend. Und dann Traurige Tropen von Claude Lévi-Strauss. Meine Reiseerfahrungen erhellten mir, was er beschrieb: eine Welt, die entschwinden könnte, betrachtet aus der privilegierten Position eines reichen Europa, in dem kein Krieg mehr herrscht. Nicht zu vergessen aber das Lokale, die Heimat als Lektüre: die ethnographischen Romane von Kurt Guggenheim, etwa Alles in allem und Das Zusammensetzspiel. Im gleichen Atemzug las ich Isaiah Berlin, der liberalen Universalismus und kulturelle Vielfalt so überzeugend verknüpft hat. Eine wichtige Lektüre waren die Essays von Gershom Scholem über die Kabbalah. Sie handeln vom kühlen Wasser der scholastischen Rationalität und ihrem heimlichen und häretisierenden Gegenüber, dem Glühen einer Mystik, die gängige Gewissheiten unterläuft. Die Kabbalisten entwarfen im 16. Jahrhundert einen eigenmächtigen

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Schöpfungsmythos, Zim-Zum genannt: die Gottheit implodiert, zieht sich in sich zurück, während die Welt, der Kosmos explodiert, sich permanent ausdehnt. Das Bild gleicht der Big Bang-Theorie. Ob diese „Urknall“-Theorie in 100 Jahren noch gültig sein wird, da bin ich mir nicht so sicher. Vielleicht wird sie als eine Art mythische Spekulation religiöser Natur belächelt werden. Manchmal kommt es mir vor, als ob wir Akademikerinnen und Akademiker durch die Welt stolperten wie die Erben des verlorenen Glaubens. Orthodoxe, Kanonverwalter, Häretiker. Furor und Langeweile in einem. Wir stammeln, wie Bertrand Russel sagt, etwas daher über ein Universum, das – ich sage: Dank und Amen! – weiterhin und immer ein Rätsel zu unserer eigenen Beglückung bleiben wird. Walter Benjamins Engel der Geschichte, inspiriert von einem Bild von Paul Klee, steht mit dem Rücken zur Zukunft und blickt zurück in die Vergangenheit: auf eine Landschaft von Trümmern, die der Paradieswind dorthin gefegt hat. Das ist die spinozistische Haltung, diese Mischung aus Numinosität und Skepsis. Dies wurde quasi auch mein innerlicher Karrieretreiber. Wie Dürrenmatt sie in seinen durchaus boshaften Komödien aufnahm und wie sie auch in E. L. Doctorows Roman City of God mit Tiefe, Humor und Ironie wiederkehrt. Dann bewegten und bewegen mich die grossen Romane, Joseph und seine Brüder von Thomas Mann, Die Brüder Karamasow von Dostojewski, Der Prozess von Kafka. Die Mythen und der Rest, der bleibt, faszinieren mich: die griechischen, die biblischen und germanischen Mythen, das Gilgamesch-Epos, indianische Weltschöpfungserklärungen, die Bilder der ganz frühen Menschheitsgeschichte. Heute werden solche Erzählungen auf den individualisierten Glauben reduziert, wonach jeder der Held seiner eigenen Geschichte sei. Das hindert manche nicht daran, sich dies politisch zu Nutze zu machen wie das Beispiel von Hitler, Stalin und anderen zeigt. Mythenkritik – darin liegt die Wichtigkeit dieser Lektüren – muss eine Methode der Gegenwartsforschung bleiben. Die Lektüre der Bibel halte ich übrigens für unabdingbar wichtig, nicht nur, weil ihre Stoffe und Motive unser Kulturerbe über Jahrtausende geprägt haben. Ich lese die Bibel nicht theologisch, sondern anthropologisch. Alles, was den „Glauben“ betrifft, räume ich beiseite. Wir haben es nicht mit einem Buch, vielmehr mit einer textlichen Bricolage aus Büchern zu tun. Die Redaktoren dieses meisterlichen Erzählwerks haben die biblische Feld- und Laborbeschreibung menschlicher Geschichte als kumulierte Kulturerfahrung komponiert. Von der Weltschöpfung, dem Paradiesfall und der Sintflut bis hin zu den Patriarchen und der Ausbildung einer urbanen Kultur, die mit dem Turm von Babel und dann besonders in der Geschichte von Sodom und Gomorrha

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mit einem Blockbuster-Exzess an Gewalt, Sodomie, Prostitution und Frauenraub nochmals drastisch hochgesteigert erscheint. Da spiegelt und verdichtet sich das sozial- und kulturgeschichtliche Drama der Evolution.4

Holz In meiner Lebensmitte, um die 35, meldete sich plötzlich die Schweizerische Ingenieur- und Technikschule für Holzwirtschaft in Biel bei mir. Ein nationaler Politiker aus dem Jura mit einem grossen Sägereibetrieb wollte eine Ingenieurabteilung implementieren. Er suchte initiative und fachlich versierte Leute aus ganz Europa. Ich hatte im Auftrag der Erziehungsdirektion des Kantons Bern Ausbildungskonzepte erarbeitet und so stiess er – zufälligerweise – auf mich. Am Ende des Gesprächs klopfte er mir auf meine Schulter und sagte: „Sie sind ab jetzt bei mir Professor!“ In Biel unterrichtete ich anfänglich Sprache, Kulturgeschichte und Mitarbeiterführung, sehr praxisorientiert. Ingenieure müssen zwar rechnen, planen und dreidimensional denken können und dabei präzise sein; sie müssen aber auch verständliche Berichte schreiben, ein Verkaufsgespräch führen, eine Ahnung von Kulturen und kulturellem Unterscheiden haben, eine Prise Politik, Gesellschaft, Anthropologie und Geschichte geschnuppert haben, um an der Verkaufsfront in Kontakt mit Menschen stehen und die Bedürfnisse des kulturell generierten Marktes in ein Produkt übersetzen zu können. Nun war ich also doch noch beim Holz gelandet! Zum ersten Mal erfuhr ich, wie ein Kreis sich schloss. Meine kulturellen Fähigkeiten konnte ich in der Ingenieurschule gut einsetzen. Ich tat alles dafür, dass die Studierenden als Praktikanten ins Ausland gehen konnten, erst nach Schweden und Deutschland, dann bald nach Kanada, Ma­­ dagaskar, Australien und Brasilien. Das verschaffte uns in Biel viel Wissen, ein Bild vom Stand der Dinge in der Welt – es gab ja damals weder Fax noch Internet! Meine Tournee-Erfahrung, die treibende Neugierde, meine ethnopraktischen Erkundungen waren viel wert, auch angesichts einer damals noch stark von Kartellen bestimmten Branchenstruktur. Nach vier, fünf Jahren wurde ich Leiter dieser Ingenieurschule. Es ging darum, sie als Fachhochschule fit zu machen, das Curriculum zu reformieren, die Globalisierung zu meistern.

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Von Schaik, Carel/Michel, Kai: The Good Book of Human Nature. An Evolutionary Reading of the Bible, New York 2016; Miles, Jack: Gott. Eine Biographie, München 1996.

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Bergier-Kommission Im Kontext der globalen Debatte um Holocaust-Gelder auf Schweizer Banken erhielt meine Dissertation Die Schweiz und die Juden 1933–1945 eine unerwartete politische Wirkung. Innerhalb eines halben Jahres wurde ich aus der Holzingenieurschule herausgerissen und in die Bergier-Kommission versetzt. Das war ziemlich abenteuerlich: Am Morgen um Viertel vor sieben ruft das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten [EDA] an und fragt, ob ich kommende Woche vor dem Bankenausschuss des Repräsentantenhauses in Washington Auskunft geben könne. Und schon sitze ich dort an einem Tisch, vor fünfzehn Kongressmitgliedern, überall Kameras und Fotografen, jedes Wort auf die Goldwaage legend. Eine enorme Anspannung: anstrengend, lehrreich, voller möglicher Fallen. Die Schweiz war in politischer Aufregung, mental knirschend, medial hochgeplustert, ihr Bankgeheimnis festzurrend. Das Feuerwehrbild: exakt dort, wo man am Geheimnis festhielt, die alten Brandgruben nicht ausheben wollte, sprühte der Funke. Ich besann mich darauf, ein geduldiger Wasserträger zu sein. Die Affäre lebte von selbst erzeugten Mythen. Der Vorschlag aus den 1950er-Jahren, das Bankgeheimnis bezüglich Opfergeldern einem gesetzlich unabhängigen Treuhänder zu überantworten, mit welchem alle Akteure im In- und Ausland glaubwürdig eingebunden gewesen wären, wurde damals zugunsten einer „Billiglösung“ abgeschmettert – es blieb der dadurch erzeugte Mythos, es würden Milliarden Franken an Fluchtgeldern von einstigen Opfern und Tätern gelagert. Die Realität sah anders aus. In einer solchen Aufgabe erfährt man permanent Aufmerksamkeit; ist man aber nicht mehr im Amt, wird man gleichsam unsichtbar. Das zu wissen, war von grossem Vorteil: Wie in der Pantomime schlüpft man in eine Rolle, zieht eine Maske an, dann zieht man sie wieder aus. Abgeschminkt, ohne Maske, kennt einen keiner mehr. Man kehrt in die Beobachtung zurück und reflektiert die Wirkung. Zu jener Zeit lernte ich Barbara, meine zweite Frau, kennen; ich nahm sie anfänglich als Kontrast zu mir wahr: Kanadierin, Zürcherin, Politikerin, Naturwissenschaftlerin.5 Sie und meine Schwester6 bewahrten mich vor allerlei Unbill und glitschigen Seiten des zuweilen kafkaesken Felds der Politik, Banken und medialen Skandale jener Tage. Ich habe mich auch stets gefragt, was mache ich eigentlich hier, und wohin will ich danach gehen? An die Holz­ ingenieurschule wollte und konnte ich nicht zurück. Ein neuer Anfang stand an, wie so oft … 5 6

Prof. Dr.sc.nat., Dr.h.c. Barbara Haering, Zürich, mit ihrer Tochter Anja Binder.. Gabrielle Rosenstein-Picard, Zürich.

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Akademie Manchmal schlägt das Universum zu, ein Momentum Magie: Ich gehe durch den Bahnhof Zürich, da klopft mir ein kleiner Herr mit dickem Bauch und Brille auf die Schulter und sagt etwas schelmisch: „Sie sind doch der Herr Picard?“ Das Gesicht kam mir bekannt vor. „Mein Name ist Weiss, Branco Weiss. Darf ich Sie zum Mittagessen einladen?“ und drückte mir sein Kärtchen in die Hand. Er war ein grosser Unternehmer und Investor, ein vielseitig interessierter, gebildeter, eigenwilliger Mensch. Im Verlauf des Gesprächs merkte ich, dass er unglaublich präzise über mich im Bild war. „Hören Sie, Sie werden Professor, was halten Sie davon?“ Und ich habe intuitiv geantwortet: „Ja, das ist eine gute Aussicht, eine kulturell plurale Welt besser zu verstehen!“ Eine kulturell plurale Welt aus dem Blickwinkel wechselseitiger Wirkung von Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft – das entsprach meinem Empfinden, die Wirkungen eines Wandels zu begreifen, bei dem selbstverständlich erscheinende Vorgaben und scheinbar als Traditionen Festgefügtes ins Rutschen kamen …! In der öffentlichen Aufgeregtheit zur Zeit der Bergier-Kommission hatte Branco Weiss, selbst Überlebender und Flüchtlingskind aus Zagreb, sich entschieden, für mich etwas einzurichten. Klar war, ich musste und wollte unter die Leute. So kam ich an die Universität Basel und zu meiner von ihm finanzierten Stiftungsprofessur; zuerst bei den Jüdischen Studien und anschliessend bei der Kulturanthropologie. Ich war mit Walter und Nada7 schon früher befreundet und Branco gefiel ausserordentlich, was Walter zu sagen hatte. So schloss sich erneut ein Kreis: Kulturanthropologie, rückbezogen auf die vielen ethnopraktischen Erfahrungen, auf mein Interesse an unterschiedlichen Kulturen. Zudem erhielt das Jüdische jenen anthropologischen Blick, der andernorts so fehlt. Ich bin Branco auch dankbar dafür, dass er mir einen lehrreichen Einblick in seine Unternehmungen und sein globales, weitreichendes Mäzenat gewährte.8

Kulturanthropologie Kulturanthropologie bedeutet für mich mehr als das Interesse am Menschen, an den kulturellen Ausdrucksformen, die er in bestimmten Gesellschaften hervorbringt. Das 7 8

Prof. Dr. Walter Leimgruber, Leiter des Seminars für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel; Prof. Dr. Nada Boškovska, Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich. Dr. Branco Weiss verfügte, dass bei seiner Beerdigung J. Picard in Repräsentanz aller von ihm geförderten Institutionen (ETH, EPFL, Universitäten Basel, Tel Aviv u.a.) die Grabrede halten solle; abgedruckt in: Tachles, 12.11.2010.

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Interesse gilt der kulturellen DNA, den Erzeugungsregeln, die Kultur generieren und selbst stets eminentes Resultat einer kumulierten Entwicklung sind. Wohltuend an der Kulturwissenschaft ist, dass sie Komplexität akzeptiert, dass man durchaus auch mit einem philosophischen Geist, mit wirtschaftsgeschichtlichen Interessen, mit Interessen an Ritualen oder Verwandtschaftsbeziehungen die Vielfalt ihrer Formen versteht. Andererseits bemüht sie sich gerade heute darum, mit präzisen Methoden zu arbeiten. Sie ist gezwungen, sich durch empirische Verfahren zu legitimieren und diese immer wieder zu überdenken. Präzision in der Wahl und Reflektion von Zugängen, von Methoden und Formen, von Weisen der Beschreibung. Kulturanthropologie ist offen und komplex, das soll so bleiben. Auf der anderen Seite ist sie gleichsam talentiert dank einer systemischen Zuspitzung von Methoden, was ebenso wichtig ist: Genau hinschauen, sich überlegen, wie man sich einem Thema, einer Fragestellung nähert. Eine Interpretation ist stets nur eine Deutung; es gäbe aber auch andere, die wiederum neue Aspekte offenbaren würden. Wie kommt es, dass man als Forschender, der sich selbst in Frage stellen muss, so oder anders interpretiert? Welches sind die Prämissen, die man mit den Methoden gewählt hat, um zu spezifischen Deutungen zu kommen? Eine scharf unterscheidende Vernunft und gleichzeitig eine Empirie, die Komplexität ernst nimmt. Anthropologische Weisheit liegt wohl darin, Komplexität und Beliebigkeit nicht zu verwechseln und vor lauter Selbstreflexion nicht zu vergessen, dass man Teil der Gesellschaft und der Geschichte bleibt. Ich fühle mich am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie sehr zuhause. Verschiedene Kreise aus meinem Leben haben sich geschlossen, die Begegnung mit den Leuten hier ist wohltuend fröhlich, offen und transparent. Mit zunehmender Lebenserfahrung rivalisiert man nicht mehr, sondern moderiert Prozesse, bei denen Kooperation, Konkurrenz und Respekt zu integrieren sind.

Das Fach Die Disziplin ging in den letzten vierzig Jahren durch eine schwere Krise, durch einen Selbstfindungsprozess und eine Suchbewegung. Die frühere Volkskunde war eigentlich ein Projekt der bürgerlichen Eliten, die wissen wollten, was „im Volk vor sich geht“. In der Zeit des Nationalsozialismus in Europa geriet auch dieses Fach in Versuchung, sich zu pervertieren oder, im Gegenteil, Resilienz zu entwickeln. Mit der enormen Akzeleration von Wohlstand – seit den 1960ern kann man nahezu kostenlos studieren, der Zugang zu Ressourcen ist viel breiter und mit dem Internet ist Wissen

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überall und jederzeit verfügbar – stand das Fach vor einem Legitimierungsproblem. Es musste sich wandeln, um neue Identität zu gewinnen. Heute ist es im Kern eine empirische Kulturwissenschaft: Offenheit gegenüber kulturellen Prozessen in einem politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Feld, methodische Genauigkeit, ein präzises Bewusstsein von qualitativen Forschungszugängen. Nun muss die europäische Ethnologie noch aus dem rein deutschsprachigen Rahmen hinaus, wirklich europäisch werden, wobei Europa weit reicht. Mir lag viel daran, die ursprünglich informelle Zusammenarbeit von Basel mit München und Murcia, entstanden durch freundschaftliche Beziehungen von Walter, auszuweiten zu einem Doktoratsprogramm, das unter dem Titel Transformations in European Societies zu einem europäischen Unterfangen geworden ist. Die Zusammenarbeit schliesst heute auch Edinburgh, Graz, Kopenhagen, Tel Aviv und Zagreb ein. Wir sind dem Rektorat dankbar, dass dieses Unternehmen finanziell unterstützt wurde. Junge Doktorandinnen und Doktoranden können sich quer durch diesen europäischen Raum ein eigenes Netzwerk aufbauen. Sie bewegen sich darin im Zeichen von Kooperation und Konkurrenz, Freundschaften und Rivalitäten auf transnationalem Niveau. Die Disziplin hat aber Schwächen, wenn sie ihre historische Dimension ignoriert: Wir sind nicht nur Gegenwartsforscher; die Beschäftigung mit der Geschichte und der Vergangenheit ist vielmehr ein notwendiger Reflexionsraum, um die Methodik für die Gegenwartsforschung zu schärfen. Mit einer Metapher meines Lehrers Hermann Levin-Goldschmidt ausgedrückt: Wer weit in die Zukunft springen will, muss einen langen Anlauf nehmen, bis zurück zu den Quellen. Auch der Anthropologe Marcel Hénaff scheut sich nicht, in seinem Buch Der Preis der Wahrheit bei Sokrates anzufangen und bei Levinas aufzuhören,9 um unglaublich präzise und sehr abgeklärt über die Gegenwart reden zu können. Die empirische Kulturwissenschaft muss stets den Vergangenheitsraum miteinbeziehen.

Das Jüdische Das Jüdische ist meine Spezialität, jedoch nicht das gläubige einer orthodoxen oder christologischen Sicht. Am Jüdischen interessiert mich die Transnationalität einer Kultur, die auf 4000 Jahre Interpretationen zurückgreift – und dies in Literatur, Comics, Filmen oder Popsongs einerseits sowie in politischen und alltagskulturellen 9

Hénaff, Marcel: Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt a. M. 2009.

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Deutungen historischer Subjektivierung andererseits. Mich interessiert, wieso die Moderne so jüdisch und das Jüdische so modern geworden sind. Doch ist das Jüdische weit komplexer, weil es eine kumulative kulturelle Evolution repräsentiert. Der Säkularismus entspringt jüdischer Tradition, er ist zutiefst in jüdischen Denk- und Handlungsweisen verankert. In den Midrashim, den rabbinischen Erzählungen, dann bei Maimonides, in der Kabbalah, seit Spinoza, Mendelssohn, Herzl, Einstein, Durkheim und Kafka wird deutlich: der jüdische Säkularismus ist nicht bloss eine Reaktion auf Emanzipation und Moderne, sondern speist sich aus kreativen Kräften innerhalb des Judentums. Diese Quellen sind historisch-anthropologisch als Zeugnis der kulturellen Evolution zu lesen. Gemeinsam mit Idith Zertal begann ich 2011 diese Sicht des Jüdischen in einem Publikationsvorhaben zu fassen. Makers of Jewish Modernity10 hört mit den Coen-Brüdern, den Filmemachern, und Judith Butler, der feministischen Philosophin, auf. Die Vielschichtigkeit dieser kulturelle Moderne im Jüdischen ist mit einer etwas anarchischen Republik des Geistes und des Schicksals vergleichbar – wir machen mit unseren 44 Portraits auch deutlich, dass sich deren jüdische Beheimatung weder national noch religiös noch sonstwie dogmatisch engführen lässt. Dass wir mit unserem Projekt den „National Jewish Book Award 2016“ der Vereinigten Staaten in der Kategorie Anthologie erhielten, ist wunderbar. Es schliesst sich damit für mich ein weiterer Kreis. Orthodoxe, kabbalistische Mystiker, Sinnsucher, Poeten, Songwriter, Protestanten, Atheisten, Säkularisten, Liberale, Sozialisten, Kommunisten: Alle gehen Verbindungen in phänomenologisch spannenden Kombinationen ein, die sich wiederum auf ein fluid erkennbares Jüdisches beziehen. Der Druck kommt auch von aussen, das Jüdische in der Moderne muss erst auch neu erdacht werden, nicht nur sozial, sondern auch philosophisch, politisch, wissenschaftlich. Sigmund Freud, Arnold Schönberg, Mark Rothko, Emmanuel Levinas, Philip Roth: Es ist immer ein Akkommodieren, ein Denken zwischen Being Jewish und Doing Jewish. Alle haben sie „andere“ Heimaten hervorgebracht und ihre eigenen jüdischen Traditionen durch ein Raster hindurch getrieben, um als universal zu gelten und akzeptiert zu werden. Ohne es explizit zu sagen, stehen diese Querdenker und Querdenkerinnen zu dieser Polyvalenz. Ohne sich rechtfertigen zu müssen, aber eben doch im Wissen darum, dass sie ohne das Jüdische nicht dazu gekommen wären zu tun, was sie nun universaliter tun. 10 Picard, Jacques et al. (Hg.): Makers of Jewish Modernity: Thinkers, Artists, Leaders, and the World They Made, Princeton/Oxford 2016. Das Projekt wurde von Basel aus am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie initiiert und koordiniert und mit dem „National Jewish Book Award 2016“ der Kategorie „Anthologies and Collections“ ausgezeichnet.

Von Feuer und Wasser – und dem Versprechen, Schmuggler zu werden

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Blick in die Zukunft Wenn man es wirklich ernst nehmen und wahrnehmen würde, könnte man gerade für gesellschaftliche und wirtschaftliche Krisen einiges aus dem kulturanthropologischen Wissen lernen, denn man kann weder Wirtschaft noch Politik betreiben, ohne den Menschen und seine Kulturen zu kennen. Immer mehr Menschen leben heute enger zusammen, müssen miteinander auskommen, friedlich und sicher gemeinsame Pro­ bleme bewältigen. Das heisst auch: bewusst mit Ritualen oder Symbolen umgehen können, sich selbst und eigene kulturelle Praxen reflektieren, um andere zu verstehen. Es wird eine grosse Herausforderung sein, offene und tolerante Gesellschaften mit neuen Formen von Partizipation zu schaffen. Das können neue Wohnformen oder Städtehabitate sein, aber auch das Erneuern demokratischer Substanz. Um die Auseinandersetzung mit dem Klimawandel werden wir nicht herumkommen. Die Fortschritte der Naturwissenschaften, der Medizin und der Technik werfen völlig neue ethische wie anthropologische Fragen auf, mit denen sich das Fach auseinandersetzen muss. Die Digitalisierung und die Automatisierung stellen die Erwerbsformen und die Umverteilung der Ressourcen zur Diskussion. Man könnte gewiss noch das organisierte Verbrechen und Ähnliches als grosse Herausforderung an die Kulturanthropologen von morgen nennen, doch erscheint mir dies als eine allzu gefährliche Empfehlung. Was können wir Kulturanthropologen dazu beitragen, was können wir nach aussen tragen? Formulieren liesse sich eine Art „Molekulare Anthropologie“, in der die Grenzen von Human-, Geistes-, Naturwissenschaften, Medizin, neuen Technologien sowie wirtschaftlichen Prozessen in der Globalisierung eminent mit alltags- und sozialpolitischen Themen bis hin zu Ritualen der In- und Exklusion verknüpft werden. Wir müssen mit Gelassenheit, aber ebenso mit Bestimmtheit auf diese Herausforderungen zugehen und uns nicht scheuen, grosse Fragen zu stellen und sie im Kleinen, auch scheinbar Irrelevanten aufzusuchen. Wir müssen lernen, Grenzen zu überschreiten zwischen den Disziplinen, aber auch anfangen, Grenzen neu zu ziehen, und zwar Grenzen, die den Fragen und Methoden jeweils angemessen bleiben.11 In diesem Kontext ist meine liebste Figur der Schmuggler, der vermittelt.12 Zur Grenzüberschreitung, fachlich wie topographisch, eignet sich die Europäische Ethnologie bestens, weil sie im 11

12

In diesem Sinne vgl. die 15 Referate gehalten in einer von Jacques Picard initiierten kulturanthropologischen Ringvorlesung „An den Grenzen: Trennlinien, Überschreitungen, Transmissionen“, Universität Basel, Herbstsemester 2013; Picard, Jacques/Chakkalakal, Silvy/Andris, Silke (Hg.): Grenzen aus kulturwissenschaftlichen Perspektiven, Berlin 2016. Picard, Jacques: „Aufrichten, Verneinen, Träumen, Übersetzen. Kultur als Akt und Denkfigur der Unterscheidung und Vernunft“, in: Picard/Chakkalakal/Andris, Grenzen, S. 25–37.

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Sinne eines sozial verantwortlichen Liberalismus auch den Bestand und Wandel der Traditionen wertschätzt. Gerade wenn wir derzeit auf Versuche der Politik blicken, die transnationale Idee und kulturelle Wirklichkeit Europa13 in eine seltsame, von Selbsthass motivierte Dekonstruktion zu treiben, benötigt dies unseren Beitrag!

13

„Wo liegt Europa? Plurale Identitäten, kulturelle Topografien, politische Erschütterungen“, Vorlesung, Universität Basel, Herbstsemester 2016.

SCHRIFTENVERZEICHNIS JACQUES PICARD (bis 2016) zusammengestellt von Nina Wasser

Monographien Gebrochene Zeit. Jüdische Paare im Exil, Zürich 2009. La Suisse et les Juifs 1933–1945: Antisémitisme suisse, défense du judaïsme, politique internationale envers les émigrants et les réfugiés, Lausanne 2000. Die Schweiz und die Juden 1933–1945: Schweizerischer Antisemitismus, jüdische Abwehr und internationale Migrations- und Flüchtlingspolitik, Zürich 1997.

Herausgeberschaften Picard, Jacques; Chakkalakal, Silvy; Andris, Silke (Hg.): Grenzen aus kulturwissenschaftlichen Perspektiven, Berlin 2016. Picard, Jacques; Revel, Jacques; Steinberg, Michael P.; Zertal, Idith (Hg.): Makers of Jewish Modernity. Thinkers, Artists, Leaders, and the World They Made, Princeton 2016. Picard, Jacques; Bloch, René (Hg.): Wie über Wolken: jüdische Lebens- und Denkwelten in Stadt und Region Bern, 1200–2000. (Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz – Schriftenreihe des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds, Bd. 16). Zürich 2014.

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BIBLIOGRAPHIE JACQUES PICARD

Picard, Jacques; Gerson, Daniel (Hg.): Schweizer Judentum im Wandel: Religion und Gemeinschaft zwischen Integration, Selbstbehauptung und Abgrenzung, Zürich 2014. Picard, Jacques; Hurwitz, Peter Joel; Steinberg, Avraham (Hg.): Jewish ethics and the care of end-of-life patients: A collection of rabbinical, bioethical, philosophical, and juristic opinions, Jersey City, N.J. 2006. Picard, Jacques; Hurwitz, Peter Joel; Steinberg, Avraham (Hg.): Jüdische Ethik und Sterbehilfe: eine Sammlung rabbinischer, medizinethischer, philosophischer und juristischer Beiträge, Basel 2006. Unabhängige Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg (Hg.): Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht, Zürich 2002. Picard, Jacques; Wiehn, Erhard R.; Levental, Zdenko (Hg.): Auf glühendem Boden: Ein jüdisches Überlebensschicksal in Jugoslawien 1941–1947 (mit einer Dokumentation), Konstanz 1994.

Reihenherausgeber Reihe „Jüdische Moderne“, Böhlau-Verlag (Köln, Wien, Weimar), herausgegeben von Alfred Bodenheimer, Jacques Picard, Monica Rüthers und Daniel Wildmann, seit 2004, bisher Bände 1–17. Reihe „Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz“, Chronos-Verlag (Zürich), herausgegeben vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (wissenschaftliche Betreuung durch Jacques Picard), seit 1992, bisher Bände 1–17. Reihe „Veröffentlichungen der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg. Studien und Beiträge zur Forschung“, Chronos-Verlag (Zürich), 1999– 2001. 25 Bände.

Zeitschriftenaufsätze Judentum im Wandel. Eine Diskurs- und Wissensgemeinschaft, in: Terra Cognita – Schweizer Zeitschrift zu Integration und Migration, 28 (März 2016), S. 16–19. Zur Wiederauffindung des Jüdischen in Volkskunde und empirischer Kulturwissenschaft. In: Schweizer Volkskunde, 104/1 (2014). S. 2–7.

BIBLIOGRAPHIE JACQUES PICARD

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Zur Situation des Schweizer Judentums heute: Neuere Forschungen und das Nationale Forschungsprogramm ‚Religionsgemeinschaften, Staat, Gesellschaft‘, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, 107 (2013), S. 97–113. Madonna im Heiligen Land: Die Lehren der Kabbalah zwischen Geheimnis und Popkultur, in: Kuckuck, 27/1 (2012), S. 12–19. Getilgte Zeichen, gebrochene Mauern, fliehende Buchstaben: Zur ästhetischen Repräsentation der Erinnerung an eine Zeit der Vernichtung, in: Kritische Berichte, 39/2 (2011), S. 23–35. Jerusalem, Babylon und andere Orte der Erinnerung. Über das woher und wohin in der jüdischen Geschichtsschreibung, in: Schweizerische Zeitschrift für Religionsund Kulturgeschichte, 100 (2006), S. 89–104. Zwischen Minoritätenschutz und Menschenrecht. Paul Guggenheims Rechtsverständnis im Wandel, 1918–1950, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts, 4 (2005), S. 111–130 Jüdisches Leben in Basel gestern und heute. Feiern, Ausstellungen und Publikationen rund um das Jubiläum 200 Jahre „Israelitische Gemeinde Basel“, in: Basler Stadtbuch, 126 (2005), S. 245-251. Synagogen – zwischen religiöser Funktion und räumlicher Inszenierung. (mit Epstein, Ron), in: Kunst + Architektur in der Schweiz, 56/5 (2005), S. 6–13. Vorwort, in: Juden in Basel im 19. und 20. Jahrhundert – Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, 104 (2004), S. 5–7. Jüdische Positionen zum kulturellen Pluralismus. Gesellschaftskonzepte, Rechtspolitik und Antisemitismus in historischer Perspektive, in: Studien und Quellen – Zeitschrift des Schweizerischen Bundesarchiv, 29 (2003), S. 71–100. Les Juifs suisses pendant les annés troublées, in: Revue d’histoire de la Shoah, 168 (1998), S. 81–100. „Antisemitismus” erforschen? Über Begriff und Funktion der Judenfeindschaft und die Problematik ihrer Erforschung, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 47/4 (1997), S. 580–607. Die Schweiz und die Vermögen verschwundener Nazi-Opfer. Die Vermögen rassisch, religiös und politisch Verfolgter in der Schweiz und ihre Ablösung von 1946 bis 1973, in: Studien und Quellen – Zeitschrift des Schweizerischen Bundesarchiv, 22 (1996), S. 271–324. Eine Politik der Erinnerung: Anmerkungen zu den schweizerischen Erinnerungsfeierlichkeiten zum Ende des Zweiten Weltkrieges in der Schweiz, in: Traverse – Zeitschrift für Geschichte, 2 (1996), S. 7–17.

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„Anfänge” und „Wirklichkeit” der jüdischen Neuzeit: Spinoza und Baalschem, Cohen und Buber als geschichtliche Pole in der Philosophie von Hermann Levin Goldschmidt, in: Menora – Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte, 6 (1995), S. 93–109. Vom Zagreber zum Zürcher Omanut. Wandel und Exil einer jüdischen Kulturbewegung 1931–1951, in: Exilforschung, 10 (1992), S. 168–185.

Aufsätze in Sammelbänden Trennlinien, Überschreitungen, Verschiebungen. 16 kulturanthropologische Vorlesungen über Grenzen, (mit Chakkalakal, Silvy; Andris, Silke), in: Picard, Jacques; Chakkalakal, Silvy; Andris, Silke (Hg.): Grenzen aus kulturwissenschaftlichen Perspektiven, Berlin 2016, S. 7–14. Aufrichten, Verneinen, Träumen, Übersetzen. Kultur als Akt und Denkfigur der Unterscheidung und Vermittlung, in: Picard, Jacques; Chakkalakal Silvy; Andris, Silke (Hg.): Grenzen aus kulturwissenschaftlichen Perspektiven, Berlin 2016, S. 15–42. Introduction: Thinking Jewish Modernity, (with Revel, Jacques; Steinberg, Michael P.; Zertal, Idith), in: Picard, Jacques; Revel, Jacques; Steinberg, Michael P.; Zertal, Idith (Hg.): Makers of Jewish Modernity. Thinkers, Artists, Leaders, and the World They Made, Princeton 2016, S. 1–15. Horace Kallen (1882–1974): Pragmatic Modernism, in: Picard, Jacques;  Revel, Jacques; Steinberg, Michael P.; Zertal, Idith (Hg.): Makers of Jewish Modernity. Thinkers, Artists, Leaders, and the World They Made, Princeton 2016, S. 220–232. Der Schutz der Minderheiten in historischer Perspektive: Paul Guggenheim und Zaccaria Giacometti, in: Biaggini, Giovanni; Diggelmann, Oliver; Kaufmann, Christine (Hg.): Polis und Kosmopolis. Festschrift für Daniel Thürer, Zürich; Baden-Baden 2015, S. 617–625. Biografie und biografische Methoden, in: Bischoff, Christine; Oehme-Jüngling, Karoline; Leimgruber, Walter (Hg.): Methoden der Kulturanthropologie, Bern 2014, S. 177-194. Konfliktuelle Vielfalt und sekundäre Pluralisierung: Zum Werte- und Traditionswandel im Schweizer Judentum heute, in: Picard, Jacques;  Gerson, Daniel  (Hg.): Schweizer Judentum im Wandel: Religion und Gemeinschaft zwischen Integration, Selbstbehauptung und Abgrenzung, Zürich 2014, S. 11–65.

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Drei Reden in neuer alter Welt: Edgar Lawrence Doctorow, City of God, in: Domhardt, Yvonne; Paul, Kerstin (Hg.): Quelle lebender Bücher: 75 Jahre Bibliothek der Israelitischen Culturgemeinde Zürich, Biel 2014, S. 185–199. A multitude of worlds: Physica Mosaica and David Nieto’s quest for a Jewish natural philosophy, in: Gehring, Ulrike; Weibel, Peter (Hg.): Mapping spaces: networks of knowledge in 17th century landscape painting, Munich 2014, S. 124–129. Judenhut und Alpenparadies – Anlässe, Situierungen und Quellen dieses Buches, (mit Bloch, René), in: Picard, Jacques; Bloch, René (Hg.): Wie über Wolken: jüdische Lebens- und Denkwelten in Stadt und Region Bern, 1200–2000, Zürich 2014, S. 9–18. Auch Auschwitz liegt in der Schweiz: Das Mahnmal auf dem Jüdischen Friedhof Bern, (mit Gehring, Ulrike), in: Picard, Jacques; Bloch, René (Hg.): Wie über Wolken: Jüdische Lebens- und Denkwelten in Stadt und Region Bern, 1200–2000, Zürich 2014, S. 405–412. Reden über Blondinen, Farben und Rassen: Kulturelle Herstellung sozialer Ungleichheit und Inszenierungen kolonialer Körpermythen, in: Mäder, Ueli; Goetschel, Laurent; Mugier, Simon (Hg.): Soziale Ungleichheit und Konflikte, Basel 2012, S. 67–102. Der Ungrund des Widerspruchs: Zur Aktualität von Moses Mendelssohn, in: Bienenstock, Myriam; Bühler, Pierre (Hg.): Religiöse Toleranz heute – und gestern, Freiburg i.Br. 2011, S. 141–161. Harley „Swift Dear“ Reagan: Räder-Handbuch und Zeremonien-Handbuch: Dear Tribe Medicine Society: Interlaken 1983/1984: Quellen, Materialien, (Universität, Volkskundliche Sammlung der Schweiz), Basel 2010. Le Judaïsme en Suisse: Identité religieuse, culturelle et politique, in: Baumann, Martin; Stolz, Jörg (Hg.): La nouvelle Suisse religieuse, Genève 2009, S. 183–198. Aphrodite zu Besuch bei Raban Gamaliel: Über Bildverbot, Kunstproduktion und Körperlichkeit, in: Kampling, Rainer (Hg.): Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel!, (Beiträge zur Geschichte jüdisch-europäischer Kultur. Bd. 5), Frankfurt a.M. 2009, S. 79–98. Auf dem Balkon der Toleranz, in: Bosshardt, Claudia; Jossi, Peter; Plietzsch, Susanne; Rhein, Valérie (Hg.): Den Horizont im Blick: Zehn Jahre OFEK, Berlin 2009, S. 142–145. La Svizzera neutrale, il nazismo e l’eredità della storia. In: Marina Catturazza u.a. (Hg.), Storia della Shoah. La crisi dell’ Europa, lo sterminio degli Ebrei e la memoria del XX secolo. Torino 2008, Bd. 3, S.496–520.

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Skepsis und Numinosität: Imaginationen des „Alten” in der amerikanisch-jüdischen Gegenwart, in: Konradt, Matthias; Schwinges, Rainer (Hg.): Juden in ihrer Umwelt: Akkulturation des Judentums in Antike und Mittelalter, Basel 2008, S. 255–274. Israel in einem Jahrhundert der Ungewissheit. Reflexion über ein komplexes Thema, in: Gesellschaft Schweiz-Israel (Hg.): Dialog, Verständnis, Freundschaft. 50 Jahre Gesellschaft Schweiz-Israel, Zürich 2007, S. 137–152. Israël en un siècle d’incertitude. Réflexions sur un sujet complexe, in: L’Association Suisse-Israël (ed.) : Dialogue, compréhension mutuelle, amitié. L’assocation Suisse-Israël 50 ans, Zürich 2007, S. 153–169. Neutral Switzerland, national socialist past, and the legacy of history, in: Kovács, András; Miller, Michael (Hg.): Jewish studies at the Central European University, (Jewish Studies Project, Bd. 5), Budapest 2006, S. 139–158. Homeland America: Der amerikanisch-jüdische Diasporabegriff zwischen säkularer Pluralisierung und mythischer Überhöhung, in: Eidherr, Armin; Langer, Gerhard; Müller, Armin (Hg.): Diaspora – Exil als Krisenerfahrung: Jüdische Bilanzen und Perspektiven (Zwischenwelt, Bd. 10), Klagenfurt 2006, S. 67–82. Vom Gebrauch der Geschichte: Die UEK im Kontext schweizerischer Vergangenheitspolitik, in: Rosenstein, Gabrielle (Hg.): Jüdische Lebenswelt Schweiz: 100 Jahre Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG), Zürich 2004, S. 391–405. Transition spots: Über das Verhandeln auf beiden Seiten des Bindestrichs und das Beispiel des amerikanisch-jüdischen Pluralismus, in: Huwiler, Elke; Wachter, Nicole (Hg.): Integrationen des Widerläufigen. Ein Streifzug durch geistes- und kulturwissenschaftliche Forschungsfelder. (Kulturwissenschaft, Bd. 3), Münster 2004, S. 257–272. Schweizer und Schweizerinnen angesichts der jüdischen Not: Hilfe, Selbsthilfe und Solidarität entlang der Grenzen, in: Kanyar Becker, Helena (Hg.): Die Humanitäre Schweiz 1933–1945. (Publikationen der Universitätsbibliothek Basel, Nr. 37), Basel 2004, S. 45–54. Profane Zeit, sakrale Zeit, virtuelle Zeit? Über jüdische Kultur in der Moderne, in: Ekkehard, John; Zimmermann, Heidy (Hg.): Jüdische Musik? (Jüdische Moderne, Bd. 1), Köln 2004, S. 339–359. Abdriften ins Milieu. Über Israelaversion, Missionsverluste und Pluralismusfeindlichkeit, in: Elices, Ester; Keller, Stefan (Hg.): Die Kapitalerhöhung, Zürich 2003, S. 57–69. Switzerland, national socialist policy and the legacy of history, in: Ceserani, David; Levine, Paul (Hg.): ‘Bystanders’ to the Holocaust. A Re-Evaluation, London 2002, S. 103–145.

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AUTORINNENVERZEICHNIS

Urs Altermatt war nach einer Dozentur in Bern von 1980 bis 2010 Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg, deren Rektor er war. Gastprofessuren im Ausland, Universitätsrat in Graz 2008–2012. Stiftungsrat Pro Helvetia. Zahlreiche Auszeichnungen, darunter ein Ehrendoktorat. Bücher über das politische System der Schweiz, Bundesrat und Parteien, Schweiz und Europa, Katholizismus, Nationalismus in Europa, Rechtsextremismus, Antisemitismus, Universitäts- und Studentengeschichte. Maoz Azaryahu is head of the Herzl Institute for the Study of Zionism and professor of cultural geography at the University of Haifa in Israel. His research includes the cultural and historical geographies of national myths and public memory in Israel and in Germany, landscapes of popular culture, and the cultural history of places and landscapes in Israel. Angela Bhend hat Kunstgeschichte, Neuere Allgemeine Geschichte und Alte Geschichte in Basel studiert. Seit 2014 ist sie wissenschaftliche Assistentin und Projektmitarbeiterin am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Jüdische Lebenswelten, Wirtschaftsgeschichte und Familienbiographien. David Biale is Emanuel Ringelblum Distinguished Professor of Jewish History at the University of California, Davis. His research is on Jewish intellectual and cultural history and has focused on such themes as power, sexuality, blood, Hasidism and secular thought.  

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René Bloch ist seit 2008 Professor für Judaistik mit Schwerpunkt Antike und Mittelalter an der Universität Bern. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die jüdisch-hellenistische Literatur, antike Mythologien und die Rezeption des antiken Judentums. Forschungsaufenthalte zuletzt an der Columbia University (2012) und an der Harvard University (2017). Mario A. Cavallaro hat Allgemeine Geschichte, Soziologie und Ethnologie an der Universität Basel studiert. Er hat ein Nachdiplomstudium in Konfliktanalyse und Konfliktbewältigung absolviert. Seit 2012 arbeitet er unter der Leitung von Jacques Picard an seinem Dissertationsprojekt zum Mythos Stadt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Konstruktionen kollektiver Identitäten, Prozesse des City-Brandings und City-Marketings sowie Stadtnarrationen im Rahmen von internationalen Grossanlässen. Silvy Chakkalakal ist seit April 2017 Juniorprofessorin am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität zu Berlin. Sie war von 2012 bis 2017 wissenschaftliche Assistentin am Basler Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Zukunfts- und Bildungsforschung, Gender und Cultural Studies, postkoloniale Theorie, Anthropologie der Sinne, Geschichte der Kulturanthropologie sowie Wissenschaftsgeschichte des 18./19. Jahrhunderts. Richard I. Cohen, the academic director of “Daat Hamakom” (an Israel Center of Research Excellence), devoted to the study of cultures of place in the modern Jewish world, was formerly a professor of Jewish History at the Hebrew University of Jerusalem. His research focuses on the history of Jews in western and central Europe and the interrelationship between art and society in the modern period. Ina Dietzsch ist Kulturanthropologin und Soziologin mit historischen Interesse vor allem am 18. und 19. Jahrhundert. Sie ist Privatdozentin und seit 2013 Mitarbeiterin an der Universität Basel. Ihre gegenwärtigen Arbeitsschwerpunkte in Lehre und Forschung sind u.a. Wissenstheorie, Öffentlichkeiten, Urbanität, Migration, Medien und Klimawandel.

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Dan Diner ist Professor für Moderne Geschichte an der Hebräischen Universität zu Jerusalem. Seine Forschungen befassen sich mit Fragen jüdischer Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sowie mit der Gedächtnisgeschichte des Zweiten Weltkrieges aus peripherialer Perspektive. Von 1999 bis 2014 war er Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig. An der Hebräischen Universität leitet er das ERC-Grant Projekt „JudgingHistories. Experience, Judgment, and Represenation of WWII in an Age of Globalization“. Madeleine Dreyfus hat in Zürich Psychologie studiert und später an der Universität Basel im Fachbereich Kulturanthropologie promoviert. Sie arbeitet als Psychoanalytikerin in eigener Praxis und publiziert über jüdische Identitätskonstruktionen im säkularen Umfeld, Antisemitismus und Geschichtsbilder der Schweiz. Sabine Eggmann hat Volkskunde/Europäische Ethnologie in Basel und Marburg studiert. Sie leitet die Geschäfte der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde und lehrt am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel sowie in den Populären Kulturen der Universität Zürich. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Kulturtheorie und des Kulturerbediskurses, der ethnographischen Methodologie sowie der gegenwärtigen Alltagskultur. Ron Epstein-Mil arbeitet seit 1985 als selbstständiger Architekt in Zürich. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte von Synagogenbauten, insbesondere jene der Schweiz, zu welchen er mehrere Publikationen veröffentlicht hat.   Ulrike Gehring ist Professorin für Kunstgeschichte an der Universität Trier. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts sowie der amerikanischen Kunst nach 1945. Im Fokus ihrer bildwissenschaftlichen Publikationen steht das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft, die Ausbildung frühneuzeitlicher Wissensnetzwerke in England und den Niederlanden sowie moderne Bild- und Medientheorien. Daniel Gerson studierte in Basel, Berlin und Paris. 2007-2010 war er Leiter des Forschungsprojektes „Schweizer Judentum im Wandel“ des Nationalen Forschungsprogramms NFP 58 „Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft“. Seit 2011 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Judaistik der Universität Bern tätig. Gerson ist Mitglied der International Holocaust Remembrance

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Alliance (IHRA) und arbeitet zu Themen der modernen jüdischen Geschichte und zum Antisemitismus. Carl Gustafsson is a swedish artist and art teacher. Main subjects are interiors consisting of multiple layers of spatial qualities playing with the ambiguity that will be created. Other subjects are still-lives and portraits. Carl Gustafsson exhibits and teaches regularly in Sweden and internationally. Irene Götz has been working as a full professor in the department of European Ethnology at LMU Munich since 2007. Her main research fields are work ethnography, age studies and new nationalism in Europe. Ina Habermann ist Professorin für Englische Literatur seit der Renaissance an der Universität Basel und Leiterin des Kompetenzzentrums Kulturelle Topographien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Raumstudien, Gender Studies, Shakespeare, Literatur und Film der Zwischenkriegszeit sowie literarische und kulturelle Europadiskurse in Grossbritannien im 20./21. Jahrhundert und literarische Darstellungen von Anderwelten. Annelies Häcki Buhofer ist Sprachwissenschaftlerin und hat Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Universität Zürich studiert.1989–2015 war sie Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Basel. Derzeit ist sie Geschäftsführende Herausgeberin des Jahrbuchs für Phraseologie. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Lexikologie, Lexikographie, Phraseologie, Spracherwerb und Variationslinguistik. Barbara Haering ist Titularprofessorin der Universität Lausanne für Verwaltungswissenschaften sowie Verwaltungsratspräsidentin von econcept AG in Zürich. Sie blickt auf ein langjähriges friedens- und sicherheitspolitisches Engagement zurück und präsidiert das Internationale Genfer Zentrum für Humanitäre Entminung (GICHD). 2015/16 war sie Mitglied des “High Level Panels of Eminent Persons on European Security as a Common Project” der OSZE-Troika. Thomas J. Heid hat Volkskunde/Europäische Ethnologie, Interkulturelle Kommunikation und Soziologie in München studiert. Seit 2014 ist er Doktorand am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel und am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität Mün-

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chen. Der Fokus seiner Forschung liegt auf den Praktiken der Emotionsarbeit im Zusammenwirken mit Ästhetik, räumlicher Architektur und Atmosphäre im Feld der Finanzökonomie. Véronique Hilfiker hat iberoromanische Philologie und französische Sprach- und Literaturwissenschaften an der Universität Basel studiert. Seit 2009 realisiert sie als freie Lektorin Bücher; seit 2011 führt sie die Geschäfte des Seminars für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel. Theres Inauen hat Kulturanthropologie und Kunstgeschichte an der Universität Basel studiert. Seit 2014 ist sie wissenschaftliche Assistentin am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel und forscht zu gegenwärtigen Praktiken der Kulturförderung. Jack Jacobs is a professor of political science at John Jay College and the Graduate Center, City University of New York. His research focuses on the relationships between Jews and the left, on the history of Jewish socialist movements, on the Frankfurt School, and on racism, antisemitism, and ethnic prejudice. Stefan Keller, aufgewachsen im Thurgau, studierte Germanistik, Geschichte und ­Philosophie in Konstanz, Westberlin und Basel. Seit dreissig Jahren Journalist für die Wochenzeitung WOZ in Zürich und andere Medien. Bücher zu sozial- und migra­ tionsgeschichtlichen Themen. Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG und Herausgeber der Zeitschriften Tachles, Aufbau, Revue Juive. Konrad J. Kuhn hat Allgemeine Geschichte, Volkskunde und Schweizergeschichte in Zürich studiert. 2012–2017 war er wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel. Seit 2017 ist er Universitätsassistent (Post-Doc) am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck. Er forscht zur Wissensgeschichte der Volkskunde/Kulturwissenschaft, zur Ritual- und Brauchforschung und zur populären Geschichts- und Erinnerungskultur.

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Daniel Kunzelmann promoviert in Kulturanthropologie und Politische Wissenschaften im Rahmen einer Cotutelle de thèse an der Universität Basel und an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zu seinen Schwerpunkten in Lehre und Forschung gehören die Anthropologie des Politischen, (Soziale) Medienethnographie, Critical Algorithmic Studies, die Anthropologie des Digitalen sowie Wissenschaftsund Erkenntnistheorie. Walter Leimgruber ist Leiter des Seminars für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel. Er hat Geschichte, Geographie und Volkskunde studiert, war Kurator und Projektleiter im Schweizerischen Landesmuseum, Ausstellungsmacher und Journalist. Seine Forschungsschwerpunkte sind Migration und Transkulturalität, visuelle und materielle Kultur, Kulturtheorie und Kulturpolitik. Brigitte Lustenberger studierte Sozial- und Fotogeschichte an der Universität Zürich. Danach etablierte sich als Kunstphotographin und machte einen MFA in Fine Art Photography an der Parsons The New School of Design. Lustenberger setzt sich mit der Historizität der Wahrnehmung, dem Konzept des Blickes, den Auswirkungen der virtuellen Realität auf die visuelle Wahrnehmung und der Vergänglichkeit auseinander. Sie wirkt als freie Lehrbeauftragte und wird von der Galerie Christophe Guye vertreten. Stefanie Mahrer promovierte an der Universität Basel mit einer Arbeit zur Geschichte der jüdischen Uhrmacher im Neuenburger Jura im 19. Jahrhundert. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt als postdoctoral Fellow am Rosenzweig Minerva Research Center an der Hebräischen Universität Jerusalem arbeitet sie heute am Zentrum für Jüdische Studien, wo sie ihre Habilitationsschrift abschliesst. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. die Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz, in Deutschland und in Palästina/Israel im 19. und 20. Jahrhundert, Kultur- und Wissenstransfer, transnationale Netzwerke, Kulturgeschichte der Dinge und die Biographieforschung. Aram Mattioli arbeitet als Professor für Geschichte der Neuesten Zeit (19./ 20. Jahrhundert) an der Universität Luzern. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte Italiens und der USA sowie die Visual History mit Schwerpunkt Film und Kino.

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Johannes Moser ist Lehrstuhlinhaber für Volkskunde/Europäische Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde. Seine Forschungsschwerpunkte sind Stadtanthropologie, Transformationsprozesse in postindustriellen Gesellschaften, Kulturen der Arbeit, Jugendkulturen und Alltagskultur. Er ist Sprecher der DFG-Forschergruppe „Urbane Ethiken“ und des internationalen Promotionsprogramms „Transformations in European Societies“. Linda Martina Mülli has studied Hispanic studies, general history and cultural anthropology in Madrid, Seville, Basel and Vienna. She is a PhD candidate at the Institute of Cultural Anthropology and European Ethnology at the University of Basel. In 2016, she was awarded the Doc.CH grant by the Swiss National Science Foundation. Her main research interests are: organizational anthropology and ethnography of work (cultures), migration and mobility studies, biography studies and elite studies. Klaus Neumann-Braun ist nach Lehr- und Forschungstätigkeiten an den Universitäten Freiburg i. Br., Trier, Frankfurt/Main, Koblenz-Landau und Wien seit 2005 Full Professor für Medienwissenschaft an der Universität Basel. Seine derzeitigen ­ ­Forschungsschwerpunkte sind Medienrezeption und -wirkung, Medienkultur und -bildung, Digitale Medien- und Kommunikationskulturen, Visuelle Soziologie – insbesondere Methoden der Bildanalyse. Niels Jul Nielsen is Associate Professor in Ethnology at the University of Copenhagen. His main research areas are working life and labour market from the industrialization until today, seen in an everyday micro-perspective as well as in a overall systemic and international perspective. Currently he is working with company culture, precarity and migration at the labour market based on contemporary fieldwork in Denmark, Poland and China. Franziska Nyffenegger hat in Zürich Ethnologie, lateinamerikanische Literaturgeschichte und Publizistikwissenschaft studiert. Nach Tätigkeiten im Verlagswesen arbeitet sie heute als Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste sowie freischaffend als Kuratorin und Publizistin. Zu ihrem Interessensgebiet gehören die materielle Kultur, das photographische Bild und die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion.

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Hélène M. Oberlé hat Kulturanthropologie, Politikwissenschaft und Soziologie in Wien, Toronto und Basel studiert. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Biographieforschung, Migration, transnationale Prozesse und Globalisierung. Klaus Plaar absolvierte eine Lehre als Fotograf. Frühes Interesse für Literatur, Philosophie, Geschichte und Religionen. Weiterbildung in den Bereichen Judaistik, Theologie, Kirchengeschichte und Antisemitismusforschung. Publizistische Tätigkeit zu kulturgeschichtlichen Themen. Ab 1. Januar 1992 Redaktor des „Zofinger Tagblatts“. Ab 1995 Leiter der Volkshochschule Zofingen. Seit seiner Pensionierung 2009 hat Klaus Plaar die zweibändige Publikation „Juden, Jesus, Judas“ fertiggestellt. Dan Rabinowitz is Professor of Anthropology at the Department of Sociology and Anthropology at Tel-Aviv University and at Central European University in Budapest. His research areas include ethnicity and nationalism, environmental studies, inequality and climate change. Jacques Revel est directeur d’études à l’Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (Paris) dont il a été le président entre 1995 et 2004. Il a été professeur à New York University entre 2005 et 2015. Historien, ses domaines de recherche et ses publications portent principalement sur l’histoire sociale des pratiques et des productions culturelles européennes ainsi que les transformations contemporaines de la production historique. Juan Ignacio Rico Becerra studierte Geschichte, Krankenpflege und Sozialanthropologie in Murcia. Gegenwärtig arbeitet er als Dozent an der Universidad de Murcia. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Migration, Gesundheitskulturen und die Anthropologie des Körpers.  Johanna Rolshoven arbeitet als Professorin für Kulturanthropologie an der Universität Graz. Mit dem Schwerpunkt Kritische Kulturanalyse ist sie in den Bereichen Stadt-Raum-Kulturforschung, Mobilities, Visual Cultures, Cultural Studies in Architecture unterwegs. Seit langem beschäftigen sie der europäische Faschismus und die Kollateralschäden des postkolonialen Gesellschaftswandels, Wissenschaftsentwicklung im Zeichen des neoliberalen Gesellschaftsumbaus und die Chancen transnationaler Stadtentwicklungen.

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 Khadeeja Haddy Sarr is a PhD Candidate with the Centre for African Studies and the Institute of Cultural Anthropology and European Ethnology department at Basel University, Switzerland. She has comprehensive research experience particularly centring migration matters in Sub-Saharan Africa and Europe. In 2007, she was part of a research group which was awarded the United Nations Volunteer (UNV) award for their extensive work on Youth migration in Sub-Saharan Africa. Her current thesis specifically focuses on skilled migrants from Senegambia and Switzerland, fully funded by the Swiss National Fund (SNF). Klaus Schriewer ist Professor für Sozialanthropologie an der Universidad de Murcia, Spanien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Europa, Kulturtheorie, Arbeitskulturen, Migration, Narratologie und die Beziehung zwischen Mensch und Natur. Noëmi Sibold hat Geschichte, Politologie und Jura in Basel und Bern studiert und zur Geschichte der Basler Juden, 1930er bis 1950er Jahre promoviert. Zur Zeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Direktion der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. Zur ihren Arbeits- und Interessenschwerpunkten zählen Hochschulpolitik, Hochschulentwicklung und akademische Personalentwicklung. Von 2004 bis Ende 2007 war sie für die SP im Parlament von Basel-Stadt und ist aktuell Mitglied der Geschäftsleitung der SP Baselland. Katrin Sontag ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel. Sie forscht im Forschungsschwerpunkt NCCR-On the Move. Zu ihren Forschungsthemen gehören Migration, Mobilität, Entrepreneurship und Biographie. Gregor Spuhler leitet seit 2007 das Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich. Von 1997 bis 2000 war er Projektleiter der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, anschliessend Assistent für Neuere allgemeine Geschichte am Historischen Seminar der Universität Basel. Schwerpunkte seiner Forschung und Lehre sind nationalsozialistische Verfolgung und Wiedergutmachung, Flüchtlingspolitik, Regionalgeschichte und Oral History. Karl Stadler studierte Jura und Philosophie an den Universitäten Fribourg, Bern und Zürich. Er war in Zürich und Uri forensisch als Rechtsanwalt tätig. In Uri hatte er Ämter als Staatsanwalt und Richter inne.

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Jakob Tanner war von 1997 bis 2015 Professor für Geschichte der Neuzeit an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie am Historischen Seminar der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte sind transnationale Geschichte der Schweiz, Wirtschafts- und Finanzgeschichte, Geschichte sozialer Bewegungen, Wissenschafts-, Medizin- und Körpergeschichte. (Mit-) Herausgeber der Zeitschriften Historische Anthropologie und Gesnerus. Swiss Journal for the History of Science and Medicine. Daniel Thürer war von 1983–2010 Professor für Völkerrecht und öffentliches Recht an der Universität Zürich. Er war Mitglied des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg. Er präsidierte die Deutsche Gesellschaft für Internationales Recht. Zurzeit ist er Vorstandsmitglied der Kommission gegen Rassismus und Intoleranz des Europarates und Mitglied des Präsidiums des OSCE Court of Arbitration and Conciliation. Beate Weinhold studierte Europäische Ethnologie/Volkskunde, Ältere Germanistik und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Würzburg. Das derzeitige  Promotionsprojekt untersucht den Umgang monotheistischer Religionen mit nicht mehr benutzten/benutzbaren „heiligen“ Gegenständen. Forschungsschwerpunkt: Genisa-Forschung, materielle / immaterielle Kulturen, historische Kulturanalyse, Geschichtskulturen. Claudia Willms hat Kulturanthropologie, Soziologie und Historische Ethnologie in Frankfurt am Main studiert. Seit 2012 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie an der Goethe-Universität. Im Jahr 2017 hat sie ihre Promotion über Franz Oppenheimer als Cotutelle de thèse in Frankfurt und Basel abgeschlossen. Zu ihren Schwerpunkten in Forschung und Lehre gehören die deutsch-jüdische Geschichte, die Alteritätsforschung sowie die Theorie und Praxis von Subkulturen. Maria Yelenevskaya is a Senior Teaching Fellow in the Department of Humanities and Arts at the Technion-Israel Institute of Technology. Her research is devoted to the use of language in multilingual and multicultural settings, linguo-cultural aspects of computer-mediated communication and humor. She has authored and coauthored over 60 articles and book chapters and three scholarly monographs. Shabih Zaidi did her MA in Anthropology at the Chinese University of Hong Kong and is currently a Cultural Anthropology PhD candidate at the University of Basel.

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Her thesis on Globally Mobile Intellectual Capital focuses on biographies of mobile corporate families. Shabih is also a Coach and an Artist, which is why she chose to paint Shifting Imaginary as her contribution to this commemorative volume. Idith Zertal is an Israeli historian and essayist, who has taught at the University of Basel, at the Interdisciplinary Center Herzliya, and at the Hebrew University of Jerusalem. Professor Zertal has been visiting professor and senior fellow at research institutes in Europe, the United States, and Israel. She is the author of many books and essays. Her book Israel’s Holocaust and the Politics of Nationhood (originally Nation and Death) was published in Hebrew, English, French, German, Italian, Spanish, Catalan, and Polish.

OSKAR DEUTSCH (HG.)

DIE ZUKUNFT EUROPAS UND DAS JUDENTUM IMPULSE ZU EINEM GESELLSCHAFTLICHEN DISKURS

Die Geschichte der Juden in Europa ist gekennzeichnet von deren Bemühungen um Gleichberechtigung, von Restriktion und antisemitischer Gewalt, die letztlich in der Shoah mündete. Heute, am Beginn des 21. Jahrhunderts, blicken viele Juden in Europa angesichts wachsender Terrorgefahr und steigendem Antisemitismus wieder skeptisch in die Zukunft. Das vorliegende Buch ist ein Versuch, die Vision Theodor Herzls aufzugreifen und angesichts des gesellschaftlichen Umbruchs in Europa einen Blick in die Zukunft zu tun. Was bedeutet jüdisches Leben im Europa der Zukunft? Welche Auswirkungen haben Migration und Wandel der religiösen Verhältnisse in Europa? Müssen Juden heute in Europa wieder auf „gepacktem Koffer sitzen“? 2017. 193 S. GB. 135 X 210 MM. | ISBN 978-3-205-20531-9

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EDITH PETSCHNIGG, IRMTRAUD FISCHER (HG.)

DER „JÜDISCH-CHRISTLICHE“ DIALOG VERÄNDERTE DIE THEOLOGIE EIN PARADIGMENWECHSEL AUS EXPERTINNENSICHT

Veränderte der „jüdisch-christliche“ Dialog die Theologie? Die in diesem Band versammelten Beiträge belegen eindeutig einen theologischen Paradigmenwechsel in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Evangelische, katholische und jüdische Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen theologischen Fachrichtungen wie der alt- und neutestamentlichen Bibelwissenschaft, der Liturgiewissenschaft, der feministischen und systematischen Theologie sowie der Judaistik zeichnen den Wandel von antijüdischer Polemik hin zu einem respektvollen Dialog mit dem Judentum facettenreich nach. Der vorliegende Band gibt zudem Einblick in die biografische Entwicklung der involvierten Forschenden und bietet damit ein Stück reflektierter Theologiegeschichte. 2016. 295 S. GB. 155 X 235 MM | ISBN 978-3-205-79671-8

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PETER MELICHAR, ANDREAS RUDIGIER, GERHARD WANNER (HG.)

WANDERUNGEN MIGRATION IN VORARLBERG, LIECHTENSTEIN UND IN DER OSTSCHWEIZ ZWISCHEN 1700 UND 2000

Die Autoren dieses Buches zeigen, welch große Bedeutung Wanderungen aller Art für die Regionen des mittleren Alpenraumes in den letzten 300 Jahren hatten, obwohl gerade hier das Selbstbild einer vermeintlich sesshaften Bevölkerung besonders verfestigt erscheint. Die Vielgestaltigkeit von Migration ist überraschend und keineswegs auf die bekannten Bündner Zuckerbäcker, Montafoner Krauthobler oder italienischen Bauarbeiter beschränkt. Es ist heute nicht mehr die Frage ob, sondern vielmehr in welchem Maß der Blick auf Migrationen unseren Zugang zur Geschichte beeinflusst. Was verändert sich, wenn man erkennt, dass Geschichte nicht nur die »Geschichte von Klassenkämpfen«, sondern auch die »Geschichte von Wanderungen« ist? 2016. 296 S. 61 S/W-ABB. BR. 155 X 235 MM. | ISBN 978-3-205-20412-1

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MARTINA BALEVA (HG.)

VON BASEL NACH BURSA UND ZURÜCK DIE GESCHICHTE EINES FOTOALBUMS VON SÉBAH & JOAILLIER

Die Universitätsbibliothek Basel besitzt ein prachtvolles Fotoalbum mit dem Titel »Vues de Brousse«, das eine hohe Staatsauszeichnung von Sultan Abdülhamid II. erhielt. Es entstand um 1888 im berühmten osmanischen Fotostudio Sébah & Joaillier und enthält knapp einhundert Stadtansichten der ersten osmanischen Hauptstadt Bursa. Die Stadt, in der Nähe von Istanbul gelegen, war seit byzantinischer Zeit ein wichtiger Produzent von Rohseide. Es ist die Seide, die den Faden der Verflechtungsgeschichte zwischen Basel als Zentrum der Seidenbandindustrie und dem osmanischen Bursa aufnehmen lässt. Der vorliegende Band enthält sämtliche Fotos des Albums und beleuchtet seine Geschichte sowie die ökonomischen und kulturellen Austauschbeziehungen zwischen beiden Städten rund um die Seidenproduktion. 2017. 242 S. 130 S/W- UND FARB. ABB. GB. 240 X 200 MM. ISBN 978-3-412-50962-0

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