Erkenntnistheorie und Glaube: Karl Heims Theorie der Glaubensgewißheit vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit dem philosophischen Ansatz Edmund Husserls [Reprint 2010 ed.] 3110139162, 9783110139167, 9783110864601

Originally presented as the author's thesis (doctoral)--Universit'at Mainz, 1991.

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German Pages 348 Year 1994

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Erkenntnistheorie und Glaube: Karl Heims Theorie der Glaubensgewißheit vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit dem philosophischen Ansatz Edmund Husserls [Reprint 2010 ed.]
 3110139162, 9783110139167, 9783110864601

Table of contents :
0. Einleitung
0.1. Zur Eigenart der Theologie Karl Heims, eine Problem¬skizze zum Thema
0.2. Zum methodischen Vorgehen, Aufbau und Inhalt der Arbeit
1. Die erkenntnistheoretische Entwicklung des Gewißheitsproblems im Frühwerk Karl Heims (1902-1923)
1.1. Darstellung der erkenntnistheoretischen Grundposition in ”Psychologismus oder Antipsychologismus”
1.2. Kritik der Leistungsfähigkeit des erkenntnistheoreti¬schen Ansatzes Heims in ”Psychologismus oder Anti¬psychologismus”
1.3. Heims erkenntnistheoretische Grundposition in der Gewißheitsschrift
2. Husserls ”Logische Untersuchungen”, die Grundlektüre für Heims Logikauseinandersetzung
2.2. Abgrenzung der Untersuchung
2.3. Husserls Bewußtseinsverständnis in den ”Logischen Untersuchungen”
3. Heims Husserlrezeption
3.1. Die nur eingeschränkte Bedeutung Husserls für den Denkweg Karl Heims
3.2. Der philosophiegeschichtliche Hintergrund von Heims Husserlrezeption
3.3. Zusammenfassender Vergleich der erkenntnistheoreti¬schen Positionen Heims und Husserls nach ”Psycholo¬gismus oder Antipsychologismus” und den ”Logischen Untersuchungen”
3.4. Heims Husserlrezeption in ”Glaubensgewißheit3” — Bekräftigung und Profilierung aller bisherigen Ergeb¬nisse
4. Der Grundlegungscharakter des Frühwerks von Karl Heim für sein Hauptwerk ”Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart”
Literaturverzeichnis
Sach- und Personenverzeichnis

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ELISABETH GRÄB-SCHMIDT

E R K E N N T N I S T H E O R I E UND GLAUBE KARL HEIMS THEORIE DER GLAUBENSGEWISSHEIT VOR DEM HINTERGRUND SEINER AUSEINANDERSETZUNG MIT DEM PHILOSOPHISCHEN ANSATZ EDMUND HUSSERLS

WALTER DE GRUYTER · B E R L I N · NEW YORK 1994

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — C

- Einheitsaufnahme

Gräb-Schmidt, Elisabeth: Erkenntnistheorie und Glaube : Karl Heims Theorie der Glaubensgewissheit vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit dem philosophischen Ansatz Edmund Husserls / Elisabeth Gräb-Schmidt. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1993 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 58) Zugl.: Mainz, Univ., Diss., 1991 ISBN 3-11-013916-2 NE: GT

© Copyright 1993 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz und Bauer, Berlin

Vorwort Karl Heims theologisches Werk gilt als beispielhaft für die theologische Fragestellung zumindest der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts: Es ist die Frage nach der Einheit der Wirklichkeit des Denkens, die Naturwissenschaft und Glaube nicht in diastatischer Unvereinbarkeit belassen will. Nicht zu Unrecht gilt Heim in der Ökumene, insbesondere in den USA, somit auch als bedeutender Theologe des 20. Jahrhunderts. Um so verwunderlicher ist es, daß Karl Heim diese Anerkennung in der deutschen, akademischen Theologie nicht widerfährt. Ein Grund dafür mag in der Präsentation liegen, in der Heim seine theologischen Resultate veröffentlicht hat. Sie lassen nicht ohne weiteres erkennen, daß sie denselben erkenntnistheoretischen und fundamentaltheologischen Fragestellungen entspringen, wie sie in den Hauptlinien der theologischen Diskussion der Jahrhundertwende gestellt wurde. Dies ist aber der Fall. Das wird deutlich, wenn wir den Denkweg des jungen Karl Heim verfolgen. Seine Frühschriften sind durchweg als Vorarbeit und Voraussetzung für das Hauptwerk und dessen Verständnis anzusehen. Auch das Hauptwerk erweist sich als kontinuierliche Fortführung der Beantwortung seiner ursprünglichen Lebens- und Glaubensfrage, nämlich der Frage, wie der Konflikt zwischen Denken und Glauben logisch beschrieben und somit die Einheit der Wirklichkeit, der Denken und Glauben gleichermaßen zugehören muß, gewahrt werden kann. Diese Frage war der Impuls für Heims ganzes Schaffen, angefangen von seinen Erstschriften "Psychologismus oder Antipsychologismus" und "Das Weltbild der Zukunft" bis hin zu seinem Hauptwerk "Der

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Vorwort

evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart". Mit dieser Frage bewegt Heim sich aber ganz auf dem Boden der zeitgenössischen Philosophie. Es geht im Kern um nichts anderes, als um eine Kritik des allseits dominierenden Kantischen Erfahrungsbegriffs. Heims bekannten Fragen und Ausführungen über das Verhältnis von Glaube und Naturwissenschaft liegt somit ein genuin erkenntnistheoretisches Interesse zugrunde, das sich, ganz zeitgemäß, aus der Orientierung am Kantischen Erfahrungsbegriffs ergibt. Es geht ihm darum, dem erkenntnistheoretisch begründeten Ausschließlichkeitsanspruch der wissenschaftlichen Welterkenntnis entgegenzutreten. Mit dieser Fragestellung erweist sich Heim als exemplarischer Vertreter der Theologiegeschichte unseres Jahrhunderts. Die vorliegende Arbeit möchte die durchgehende erkenntnistheoretische Orientierung von Heims theologischem Interesse nachweisen. Seinen erkenntnistheoretischen Grundansatz hat Heim im kritischen Gespräch mit Positionen der neuzeitlichen europäischen Philosophie gewonnen. Das zeigen gerade Heims erste Schriften, die verschollene Dissertation über die Erkenntnisprinzipien bei Hobbes, sowie "Psychologismus oder Antipsychologismus". Die Rekonstruktion seiner eigenen erkenntnistheoretischen Position ist daher methodisch aus dieser Auseinandersetztung mit anderen Positionen zu gewinnen. Hier legt sich die Position E. Husserls nahe. Einmal weil Heim sich gerade mit ihm im Anfang auseinandergesetzt hat, zum ändern da Husserls Werk ein sachlich klärendes Licht auf Heims eigene Position, ihr spezifisches Profil aber auch ihre Schwächen wirft. Vorliegende Arbeit ist im WS 90/91 der Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation vorgelegt worden. Die Anregung zur Beschäftigung mit dem Thema gab mir Herr Pro-

Vorwort

fessor Dr. Eilert Herms. Ich bin ihm für die hilfreiche Anleitung und das offene Gespräch, mit dem er meine Arbeit begleitet hat, zu großem Dank verpflichtet. Zu danken habe ich auch Herrn Professor Dr. Friedrich Beißer für die freundliche Bereitschaft, mit der er das Korreferat übernommen hat. Ebenfalls danken möchte ich allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Doktorandenkolloquiums, denen ich meine Arbeit in ihrem Entstehungsprozeß vortragen durfte. Für das Korrekturlesen danke ich Frau Christine Streck. Mein Dank gilt schließlich allen, die die Veröffentlichung dieser Arbeit unterstützt haben: den Herausgebern dieser Reihe, insbesondere Herrn Professor Dr. W. Härle, und dem Verlagshaus Walter de Gruyter für die Übernahme der Arbeit in sein Programm, sowie der Badischen Landeskirche und der Karl-HeimGesellschaft für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Nicht zuletzt gilt mein Dank meinen Eltern und meinem Mann, ohne deren Unterstützung mir die Durchführung dieser Arbeit kaum möglich gewesen wäre. Thoiry, im September 1993

Elisabeth Gräb-Schmidt

Inhaltsverzeichnis 0. Einleitung 0.1. Zur Eigenart der Theologie Karl Heims, eine Problemskizze zum Thema 0.2. Zum methodischen Vorgehen, Aufbau und Inhalt der Arbeit

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1. Die erkenntnistheoretische Entwicklung des Gewißheitsproblems im Frühwerk Karl Heims (1902-1923)

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1.1. 1.1.1. 1.1.2.

1.1.2.1. 1.1.2.2. 1.1.2.3. 1.1.3. 1.2.

1.3.

Darstellung der erkenntnistheoretischen Grundposition in "Psychologismus oder Antipsychologismus" Kurze Entfaltung der Zielrichtung von "Glaubensgewißheit", 1. Auf! Die Schrift "Psychologismus oder Antipsychologismus" als erkenntnistheoretische Grundlegung für die Schrift "Glaubensgewißheit" Heims Entfaltung der Grundformel Die gedanklichen Voraussetzungen für die Entfaltung der Grundformel Der Grundlegungscharakter der Psychologismusschrift (Zusammenfassung) Ergebnis Kritik der Leistungsfähigkeit des erkenntnistheoretischen Ansatzes Heims in "Psychologismus oder Antipsychologismus" Heims erkenntnistheoretische Grundposition in der Gewißheitsschrift

2. Husserls "Logische Untersuchungen", die Grundlektüre für Heims Logikauseinandersetzung 2.2. 2.2.1. 2.2.1.

Abgrenzung der Untersuchung Husserls Logikverständnis in den "Logischen Untersuchungen" Zur Problemstellung der "Logischen Untersuchungen"

l l

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34 35 57 67 72

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Inhaltsverzeichnis

2.2.2. 2.2.2.1. 2.2.2.2. 2.2.3. 2.3. 2.3.1.

2.3.2.

Husserls Exposition zur Idee der reinen Logik Husserls Wissenschaftsverständnis Der Charakter des Transzendentalen in Husserls Wissenschaftsverständnis Zusamenfassung der Idee und Aufgabe der reinen Logik Husserls Bewußtseinsverständnis in den "Logischen Untersuchungen" Die Konvergenz der Klärung logischer und erkenntnistheoretischer Fragen als Motiv für die Entwicklung von Erkenntnistheorie als Gegenstandstheorie Husserls Erkenntnistheorie als Gegenstandstheorie . .

3. Heims Husserlrezeption 3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3. 3.1.4. 3.1.5. 3.1.6. 3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.3.

3.4.

Die nur eingeschränkte Bedeutung Husserls für den Denkweg Karl Heims Heims Selbständigkeit in bezug auf seine Husserlrezeption Untertitel, Aufbau und Ergebnis der Husserlschrift . . Einordnung und Gedankengut der Schrift "Das Weltbild der Zukunft" Heims philosophiegeschichtliche Einordnung Husserls in seiner Einleitung zu "Glaube und Denken" Die Leitgedanken von Heims Husserlkritik Verständnisprobleme Heims bei der Husserlrezeption . Der philosophiegeschichtliche Hintergrund von Heims Husserlrezeption Marksteine in der Theorie Heims Überlegungen zum Hintergrund von Heims Konzeption Zusammenfassender Vergleich der erkenntnistheoretischen Positionen Heims und Husserls nach "Psychologismus oder Antipsychologismus" und den "Logischen Untersuchungen" Heims Husserlrezeption in "Glaubensgewißheit3" — Bekräftigung und Profilierung aller bisherigen Ergebnisse

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Inhaltsverzeichnis

XI

4. Der Grundlegungscharakter des Frühwerks von Karl Heim für sein Hauptwerk "Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart"

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Literaturverzeichnis

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Sach- und Personenverzeichnis

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0.

Einleitung

0.1.

Zur Eigenart der Theologie Karl Heims, eine Problemskizze zum Thema Karl Heim (1874-1958) war ein Theologe, der wie kein anderer das Gespräch1 zwischen Theologie und Naturwissenschaften gesucht hat.2 Dialog mit den Naturwissenschaften - insbesondere mit der Physik - heißt für Heim nicht eine einfache Übertragung biblischer Aussagen oder dogmatischer Loci auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse. In dieser Weise gehen in der Regel fundamentalistisch-pietistische Kreise vor, unter denen nun allerdings gerade Heim viele Anhänger gefunden hat. Es heißt auch nicht, ein Gesprächsforum von Theologen und Naturwissenschaftlern auf moralischer Ebene herzustellen, zum Zwecke, sich gegenseitiges Versagen in der Vergangenheit einzugestehen, mit der Zuversicht, künftig besser aufeinander zu hören und gemeinsam Verantwortung zu übernehmen (so in: Zusammenarbeit zur Bewältigung der Überlebenskrise, s. G. Altner, Naturwissenschaft und Theologie Konfliktpartner im Angesicht des Todes, "Theologie, Was ist das?", hg. von G. Picht, 449-466). Für Heim bedeutet der Dialog mit den Naturwissenschaften etwas ganz anderes, nämlich den eigenen Glauben angesichts des Phänomens der durch die Naturwissenschaft geprägten Weltanschauung intellektuell, das heißt mit intersubjektiv anerkannten Kategorien, vertreten zu können. Mit anderen Worten, Heims Theologieprogramm fordert zunächst nicht eine Gesprächsbereitschaft aus missionarischen oder ethischen Gründen, sondern eine Erkenntnistheorie, die dem Dialog von Theologie und Naturwissenschaft, Glaube und Denken gewachsen ist Erst dann kommen missionarische oder ethische Gründe zum Zuge. Weder zu seinen Lebzeiten noch in der Gegenwart wurde und wird das Werk Karl Heims in der ihm gebührenden Weise zur Kenntnis genommen. Befremdlich ist dies vor allen Dingen da, wo das Thema Naturwissenschaft und Glaube explizit Diskussionsgegenstand ist. So hat ein dem Thema Naturwissenschaft und Theo-

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Einleitung

Dieses Interesse läßt ihn theologiegeschichtlich derjenigen protestantischen Denktradition zuordnen, die dann unter Einfluß der "dialektischen Theologie" jäh abgebrochen wurde. Jener Denktradition ging es unter anderem darum, die Glaubensposition intellektuell einsehbar zu machen. Sie wollte sich nicht damit begnügen, den Glauben als "Numinosum"3 für sich sein zu lassen oder dessen "qualitativen Unterschied"4 zu aller Verstandeswirklichkeit festzustellen. Dieser mit der "dialektischen Theologie" begonnene Bruch der deutschen protestantischen Theologie mit der philosophischen Denktradition, ist wohl ein Grund für das weithin bis heute herrschende Desinteresse seitens der Theologen am theologischen Lebenswerk Karl Heims. Ein

logie gewidmeter Band (6), 1974 aus der Reihe Grenzgespräche, hg. von HansGeorg Geyer u.a., es nicht für nötig oder ratsam befunden, in ihren vielfältigen Beiträgen, einen solchen von Karl Heim wiederzugeben. Wenigstens hat die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (Fest) der Theologie Karl Heims einen Band reserviert: H. Timm, Glaube und Naturwissenschaft in der Theologie Karl Heims, Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft, hg. von Günter Howe, Bd. 23,1968. Der Begriff des Numinosen spielt in der Religionswissenschaft seit dem Erscheinen von R. Ottos "Das Heilige" (1917) eine zentrale Rolle. Otto versteht darunter ein "übernatürliches Wesen noch ohne genaue Vorstellung", das heißt unabhängig vom Verständnis einer bestimmten Religion. Das Numinose ist ein anderer Name für das "Heilige" als der Kategorie des Religiösen. R. Otto, "Das Heilige" (1917), 26, München 1946, S.6. In Anlehnung an Kierkegaard übernimmt Karl Barth diesen Begriff zur Beschreibung seines theologischen Systems im Vorwort zur 2. Auflage des "Römerbriefs": "Wenn ich ein 'System1 habe, so besteht es darin, daß ich das, was Kiergegaard den 'unendlichen qualitativen Unterschied' von Zeit und Ewigkeit genannt hat, möglichst beharrlich im Auge behalte. 'Gott ist im Himmel und du auf Erden'." 12., unveränd. Abdr. d. neuen Bearb. von 1922,1978, .

Eigenart der Theologie Karl Heims

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anderer Grund mag in dessen scheinbar naivem Versuch liegen, den Naturwissenschaften ein Fragerecht in Bezug auf Glaubensaussagen einzuräumen. Weiterhin führte die Art der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften, insbesondere die scheinbar apodiktische Behauptung des Glaubensanspruchs und dessen direkte In-Bezugsetzung zu naturwissenschaftlichen Aussagen, zu einer weitgehend pietistischen Vereinnahmung. Damit haben wir noch einen weiteren Grund, der das Mißtrauen seitens der akademischen Theologie gegenüber Heim hervorgerufen hat. Der Dialog von Theologie mit der geistigen Umwelt hat seinen dogmatischen Ort in der Apologetik. Auch Heim selbst stellt sich in die Tradition apologetischer Theologie, aber einer qualifiziert neu verstandenen5. Diese wird zum Kernstück innerhalb der Theologie Karl Heims6. Die neue Qualifizierung ergibt sich durch den Stellenwert der Erkenntnistheorie für den Glauben. Heim geht nicht vom Glauben als

Schon in "Das Weltbild der Zukunft" (i.flgd. bei den Textangaben zitiert mit W) wendet er sich gegen die herkömmlichen An von Apologetik, die auf zwei Arten reduziert werden kann, eine "tautologische "und eine "empiristische" (W, 275). Dieser Überblick über die Methoden der traditionellen Apologetik führt ihn in W zu dem Schluß, daß das ganze Unternehmen der Apologetik verfehlt sei. Später entwickelt Heim dann sein eigenes Programm einer "neuen Apologetik": "Die Aufgabe der Apologetik in der Gegenwart", 1915, "Glaube und Leben", 1926, (i.flgd. bei den Textangaben zitiert mit GuL), 157-180. Heim sieht seine Aufgabe darin, die Theologie aus ihrer bescheideneren Rolle einer "SpezialWissenschaft", herauszuholen. ("Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart", ll, 16. Dieses sechsbändige Hauptwerk Heims wird im folgenden bei den Textangaben zitiert unter Nennung der Ziffer des jeweiligen Bandes, mit Angabe der jeweiligen Auflage) Konsequenterweise ist ihm daran gelegen, "jedem akademisch Gebildeten verständlich zu sein" [W, 6] und "keine Dogmatik im Sinne der theologischen Fachwissenschaft" zu schreiben [IIl, 6],

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Einleitung

unhinterfragbarcm Datum aus. Es ist der Glaube selbst, der sich vor dem Denken verantworten muß und zwar in radikaler Weise. Die erkenntnistheoretische Frage wird bei Heim zur Gewissensfrage. Zulässig und sinnvoll ist dies, weil der Glaube bei Heim den Charakter einer Erkenntnisweise erhält und als solcher in die erkenntnistheoretische Diskussion miteinbezogen wird. Es geht ihm somit bei seiner Behauptung der erkenntnistheoretischen Qualität des Glaubens nicht um eine Nivellierung des sogenannten Spezifikums des Glaubens gegenüber dem Denken, sondern um eine Erweiterung der erkenntnistheoretischen Problematik im Hinblick auf Erfassung aller Bewußtseinsgegebenheiten. Apologetik im traditionellen Sinne ist in der christlichen Theologie eine Abgrenzung nach außen -sei es eine Abgrenzung gegen das Heidentum oder gegen den Säkularismus- mit der Überzeugung des Wahrheitsbesitzes und mit missionarischem Anspruch. Karl Heim geht nun auch vom Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens aus, aber dieser muß nicht nur gegen außen verteidigt, sondern zunächst einmal vor dem eigenen Intellekt als denkmöglich ausgewiesen werden. Dies scheint für Heim nämlich angesichts herrschender erkenntnistheoretischer Voraussetzungen zum unüberwindbaren Hindernis heranzuwachsen. Herrschende Erkenntnistheorie ist für Heim diejenige der Tradition Kants. Unter deren erkenntnistheoretischen Bedingungen wird der Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens sogar zu einer intellektuellen "Anfechtung"7. Kompromißlos stellt sich für Heim daher die Alterna-

Heini drückt dies in seinem Vorwort zur 1. Aufl der "Glaubensgewißheit" (i.flgd. bei den Textangaben zitiert mit GG) so aus: "Manche werden ... einwenden, es seien erkenntnistheoretisch-philosophische Fragen mit sittlich religiösen vermengt. Allein es gibt nun einmal Menschen, für die religiöse und verstandesmäßige Nöte nicht auseinanderfallen .... Das sittliche Gewissen

Eigenart der Theologie Karl Heims

S

tive: Entweder die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen sind falsch oder der christliche Glaube ist eine Illusion8. Damit ist nun aber deutlich, daß Heim nicht nur den Glauben an der Erkenntnistheorie messen will, sondern, daß auch die Erkenntnistheorie einer Prüfung unterzogen werden soll. Denn, wird die gestellte Alternative zugunsten des Glaubens entschieden, dann kann der Anspruch des Glaubens nicht ohne Einfluß auf erkenntnistheoretische Bestimmungen bleiben. Und dieses Moment bezeichnet recht eigentlich das Neue an Heims Apologetik: Nicht die Prüfung des Glaubensanspruchs am Maßstab des Denkens - diese Prüfung war seit jeher Gegenstand der Apologetik - , sondern umgekehrt, die Prüfung erkenntnistheoretischer Entscheidungen an den Aussagen des Glaubens. Der Wahrheitsanspruch des Glaubens soll Anlaß für die Überprüfung erkenntnistheoretischer Weichenstellungen sein. Das Neue bei diesem Verständnis von Apologetik ist also, daß das Gegenüber der Mission zunächst nicht fremdes Denken, sondern in erster Linie das Verhältnis des Glaubens zum eigenen Denken ist. Wie sich Glauben und Denken zueinander verhalten, ist zunächst noch offen. Es ist dies für beide Seiten eine Frage, die nicht von vornherein entschieden ist. Daran zeigt sich, daß sich das Verständnis von Apologetik qualitativ verändert hat. Von ihrem herkömmlichen absoluten, schiedsrichterlichen Standort, wird sie in die Relationalität erkenntnistheoretischer Reflexion einbezogen. Die Qualifikation von Apologetik erfolgt also kraft erkenntnistheoretischer Besinnung, und dies in doppelter Weise: Einmal wird Apologetik überhaupt für erkennt-

solcher Menschen kommt nicht zur Ruhe, solange nicht das intellektuelle Gewissen zur Ruhe gekommen ist" 8

W, 255.

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Einleitung

nistheoretische Unterscheidungen zugelassen. Sie hat also nicht mehr den Sinn von Selbstabgrenzung und Selbstbehauptung9, sondern den Sinn von Selbstbefragung und Selbstverantwortung. Sodann wird nun durch erkenntnistheoretische Einordnung der Glaube hinsichtlich seines Wesens differenziert und damit die Zielrichtung von Apologetik profiliert. Heim meint also mit "neuer Apologetik" alles andere als das, was in einschlägigen Lexika darunter verstanden wird. Dort wird Apologetik nur noch in den Rahmen hermeneutischer und missionarischer Verkündigung eingeordnet10. Eine so verstandene Apologetik verdient ihren Namen nicht mehr, denn Apologetik fordert eine Konfrontation von Glauben und Denken. Sie erübrigt sich bei Akzeptation von deren gegenseitiger Unabhängigkeit und Sonderung. Aus der Eigenart von Heims Apologetik ergibt sich zugleich die Konsequenz seines theologischen Ansatzes11. Glaube und Denken gehören in sich gegenseitig bedingender Weise zusammen. Dem Glauben kommt allerdings zu, das Kriterium der Wahrheit des Denkens bestimmen zu können. Damit ist der Glaube sowohl Motiv für die Entwicklung einer Erkenntnistheorie als auch Kriterium für deren Richtigkeit Die erkenntnistheoretische Qualifizierung von Apologetik stellt also nicht den Glauben unter den Herrschaftsbereich der Philosophie. Diese bleibt auch in Heims Konzeption "ancilla theologiae", allerdings unter Bewahrung ihrer denkkritischen Funktion. Ein "sacrificium intellectus" muß ausge-

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Vgl. W, 242; 275ff. Vgl. W. Lohff, Art.t'Apologetik', in LTHK, 2. Aufl. Bd.l, 729 In den Titeln seiner verschiedenen Werke vor allem in seinem Hauptwerk: "Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart" kommt dieses theologische Programm zum Ausdruck.

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schlössen bleiben. Das allerdings beinhaltet für Heim, daß sich eine Anfechtung des Glaubens nicht an logischen Unvereinbarkeiten entzünden darf. So vermag der Eindruck entstehen, Heim stelle das Denken zum Richter über den Glauben. Aber dieser Eindruck täuscht. Das erweist sich an Heims Motivation, die ihn zu erkenntnistheoretischen Untersuchungen führt. Diese ist nämlich Apologetik, wobei Apologetik zugleich Ausdruck seiner gesamten Theologie ist. Apologetik wird dabei verstanden als aus intellektueller Anfechtung herausgeborenes Suchen nach einer "Weltformel" am Leitfaden der "Christuswirklichkeit"12. Die Motivierung der Fragestellung einerseits und deren Zielrichtung andererseits gehören scheinbar unterschiedlichen Domänen an. Die Motivierung der Fragestellung liegt im Wahrheitsanspruch der Christuswirklichkeit. Das Ziel soll die Entwicklung einer Erkenntnistheorie sein, die diesen Wahrheitsanspruch zur Geltung bringen kann. Dieses scheinbare Verwischen der Grenze zwischen Erkenntnistheorie und Glaube ist mE der Grund dafür, daß nicht nur die Theologie im universitären Bereich13, sondern auch die Institutionen und Gruppen, die sich heute das Thema Naturwissenschaft und Theologie explizit zum Untersuchungsgegenstand machen, so wenig Notiz von Karl Heim nehmen.

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Nach eigenem Zeugnis hat sich Heims Leben selbst in dieser Spannung gehalten, die sein theologisches Denken immer wieder in Bewegung gesetzt hat. Er beschreibt das anschaulich in seiner Einführung zu dem Aufsatzband "Glaube und Leben", 13ff. (i.flgd. bei den Textangaben zitiert mit GuL). Weder die Tradition der liberalen noch die der - zu Heims Zeit neu aufkommenden - dialektischen Theologie können Heims Anliegen akzeptieren, weil sie beide, wenn auch in unterschiedlicher Weise, eine Selbstbegrenzung der Dogmatik aufgrund der Besonderheit ihres Gebietes gutheißen. Diese ist es, die Heim bei beiden Richtungen gleichermaßen kritisiert [GG3,45,47].

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Einleitung

Ein Blick auf die aktuelle Diskussion soll zeigen, daß eine Erinnerungen an Karl Heims theologisches Programm sich angesichts dieser Situation nicht erübrigt: Im wesentlichen lassen sich zwei Motivationsrichtungen der aktuellen Diskussion unterscheiden: 1. Eine ethisch-soziale Motivation, die der durch Naturwissenschaft und Technik hervorgerufenen Überlebenskrise der Natur und des Menschen Einhalt gebieten will14. Hier soll ein "gemeinsames Krisenverhängnis" und die damit verbundene "gemeinsame Betroffenheit" zum Anlaß des Dialogs werden15. Neu an diesem Ansatz des Dialogs ist gegenüber denjenigen um die Jahrhundertwende und Anfang unseres Jahrhunderts, als der Siegeszug der Naturwissenschaften noch ungebrochen in vollster Blüte stand, daß die Theologie aus einer Verteidigungs- in eine Frageposition gewechselt hat. Aber nicht nur die Theologie. Negative Folgen der Technik haben auch die Selbstsicherheit der Naturwissenschaften erschüttert und auf Seiten der Naturwissenschaftler eine Fragebereitschaft wachgerufen. 2. Eine fundamentalistische Ausrichtung, die weiterhin meint in einer einfachen Gegenüberstellung biblischer Aussagen bzw. dogmatischer Loci mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, den Wahrheitsansruch christlicher Lehre aufrechterhalten zu können16. Diese Position hat zwar nicht denjenigen Vorzug der ersten Position, daß sie bereit wäre, eigene theologische Positionen zur Kontroverse freizugeben, hat aber der ersten

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Vgl. G. Altner: Naturwissenschaft und Theologie, in: "Theologie was ist das?", hg. von G. Picht, 1974, 449- 466. Ebd., 452. Gerade in diesem Kreis erfreut sich eine Heimrezeption außerordentlicher Beliebtheit, s. Karl-Heim-Gesellschaft, ABC-Verlag, Verlag Aussaat.

Eigenart der Theologie Karl Heims

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Position das voraus, daß sie auf jeden Fall an eigener Wahrheitserkenntnis festhalten will. Meint die zweite Position, dogmatische Reflexion überspringen zu können, so ist es die Haltung der ersten, die Dogmatik zunächst einmal ganz außer acht zu lassen. In großzügiger Weise wird alles unter den Begriff Humanität subsumiert, der als Begriff gleichzeitig eine willkommene, neutrale Verständigungsbasis mit dem Gegenüber liefert. Beide Positionen bleiben hinter Heims Intention zurück. Obwohl mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen ist, ist diese immer noch zu anspruchsvoll. Anspruchsvoll ist Heims Intention durch die Ernsthaftigkeit, mit der er dem Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens begegnet. Heim will den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens nicht nur behaupten (Pos. 2), er will ihn aber auch nicht relativieren und im interdisziplinären Gespräch Offenheit mit Orientierungslosigkeit gleichsetzen (Pos. 1). Es geht ihm vielmehr um ein Neudurchdenken dieses Anspruches angesichts der Gesamtheit wissenschaftlicher Erkenntnis. Da er den Herrschaftsanspruch Gottes in Bezug auf Wirklichkeit und Wahrheit im Glauben begreift, ist für ihn ein schiedlich-friedliches Nebeneinander von Theologie und den übrigen Wissenschaften vor Gott und dem wahrheitssuchenden Menschen nicht zu verantworten. Dasselbe gilt dann aber auch für die Nivellierung der Wahrheitsfrage (Pos.l) und der Verstehensfrage (Pos.2). Beide müssen weiterhin gestellt werden und übereinkommen können. Angesichts dieser problematischen Situation für den einen göttlichen Wahrheitsanspruch im Gegenüber einer Pluralität von wissenschaftlichen Wahrheiten wird damit für Heim die Klärung erkenntnistheoretischer Fundamente Aufgabe der Verantwortung gegenüber dem Glauben.

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Einleitung

In der als Apologetik verstandenen Theologie Karl Heims dürfen wir also nicht nur implizit eine sein Denken leitende Erkenntnistheorie vermuten, sondern Entwurf und Ausarbeitung einer Erkenntnistheorie wird hier zum genuin theologischen Anliegen. Als erste Besonderheit der apologetischen Theologie Karl Heims kann somit genannt werden, daß Erkenntnistheorie als deren systematisches Zentrum begriffen wird. Insofern stellt sich die vorliegende Arbeit nicht den - bei Karl Heims Werk naheliegenden - Titel "Glaube und Naturwissenschaft in der Theologie Karl Heims" sondern "Erkenntnistheorie und Glaube in der Theologie Karl Heims". Dies hat nicht nur den Vorzug Mißverständnisse bezüglich des Inhalts zu vermeiden17, sondern dieses Thema erfaßt auch das systematische Zentrum des Denkens Karl Heims, für das dann allerdings die Naturwissenschaften - respektive die Physik - das Entwicklungsmotiv bilden. Damit ist die zweite Besonderheit von Karl Heims theologischen Denken angesprochen. Nicht nur, daß die Erkenntnistheorie den Stellenwert eines Prüfsteins für die Aufrichtigkeit des Glaubens bekommt, vielmehr wird nun auch noch der Naturwissenschaft die Funktion eines Leitfadens für die Entwicklung einer dem Glauben standhaltenden Erkenntnistheorie eingeräumt. Diese Rolle der Naturwissenschaften im Denkprozeß eines Theologen ist wohl einmalig und verdankt sich sicherlich zu einem Teil der historischen Situation - das Auftauchen der Grundlagenkrise in der Physik18- zum ändern Teil der Struktur von Karl

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Gedacht ist an die o. erwähnten Abhandlungen unter diesem Titel und die Gesprächskreise, die sich zu diesem Thema bilden. Die Grundlagenkrise führte zu einem Umbruch der Selbsteinschätzung der Physik: Von der klassischen Physik, die im Glauben an ihre eigene Vollendbarkeit und Vollendung nach Form und Inhalt einer dogmenbildenden Theologie glich,

Eigenart der Theologie Karl Heims

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Heims Frömmigkeit. Die Grundlagenkrise der Naturwissenschaften ließ nicht nur eine neue Selbst- und Fremdeinschätzung der Physik zu, sondern Heim sah in der damit verbundenen Erschütterung des Weltbildes der klassischen Physik eine Offenbarung der Wahrheit selbst, der einen Wirklichkeit, die überall gleichermaßen zum Ziel kommen will19. Gerade die pietistische Ausrichtung seiner Frömmigkeit aber, die in so merkwürdiger Spannung zu seinem erkenntnistheoretischen Interesse steht, ist es, die ihn unvoreingenommen die Physik als Abbild von auch theologisch relevanter Wahrheitsbekundung auffassen lassen konnte. Seine Frömmigkeit will keine Erkenntnis von Gnaden des menschlichen Subjekts gestatten. Erkenntnis hat Offenbarungscharakter.

Dementspre-

chend wirkt nach seinem Wirklichkeitsverständnis in der Welt vom Anorganischen zum Organischen das gleiche Grundprinzip des Seins, das es nicht erlaubt, dem "Erkenntnisapparat" des Menschen eine Sonderstellung einzuräumen. Damit erklärt sich auch die Skrupellosigkeit, mit der Heim in naiv-direkter Weise auf einer Ebene Natur- und Geisteswissenschaften miteinander kommunizieren lassen will. Das allem Sein zugrundeliegenden "Grundprinzip", das Heim postuliert und aufgefunden

zur modernen Physik unseres Jahrhunderts, deren experimentelle Erfahrungen den Vollendbarkeitsanspruch der klassischen Physik erschütterten. Damit mußte sie den Rückzug einer Selbstentdogmatisierung antreten. Zur Bedeutung der Grundlagenkrise der Naturwissenschaft für die Theologie Heims s. Timm, bes. S.50-72. Im Vorwort zu W redet Heim von einem "Ziel" des "modernen Denkens", dem alle Wissenschaften gleichermaßen zustreben. Die höchste Stufe zu diesem Ziel nehmen die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ein, vgl. die Einschätzung der Philosophie von R. Avenarius, dessen naturwissenschaftliche Philosophie Heim fortführen will.

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Einleitung

zu haben meint, befreite ihn von der gesamten subjektivitätstheoretischen Problematik der Subjekt-Objektbeziehung, die für weniger unvoreingenommene Geisteswissenschaftler ein unüberwindbares Hemmnis der Verständigungsmöglichkeit von Geistes- und Naturwissenschaften bildete20. Welcher erkenntnistheoretische Ertrag ergibt sich aus dieser erkenntnistheoretischen "Naivität" für die Behauptung des christlichen Wahrheitsanspruchs? Zur Beantwortung dieser Frage soll die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten.

0.2. Zum methodischen Vorgehen, Aufbau und Inhalt der Arbeit Die für unsere Arbeit grundlegende Feststellung betrifft die Eigenart des apologetischen Interesses der Theologie Karl Heims. Was beim ersten Bück auf Heims Theologie als eine direkte Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften anmutet, erweist sich tieferliegend als eine philosophisch-erkenntnistheoretische Problemstellung. Genau diese erkenntnistheoretische Problemstellung, die im Kern alles Denken Heims bestimmt, erschwert den Zugang zu Heims Theologie, schützt sie aber auch vor leichtfertig einseitiger Vereinnahmung. Voraussetzung zum Verständnis von Heims Theologie ist es daher, seine erkenntnistheoreti-

Auf die Auseinandersetzung Karl Heims mit den Naturwissenschaften und sein frühes Verstehen des Umbruchs des Weltbilds der klassischen Physik werden wir im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht eingehen können. Zur Übersicht sei verwiesen auf die Monographie von H. Timm, "Naturwissenschaft und Glaube in der Theologie Karl Heims", 1968; zur Information bei Heim selbst auf "Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart", insbesondere Bd. IV, V, wie auch die einschlägigen Aufsätze in "Glaube und Leben", 1926.

Zum methodischen Vorgehen, Aufbau und Inhalt der Arbeit

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sehe Position in ihrer Genese zu verfolgen und in ihrem erkenntnistheoretischen Wert zu überprüfen. Heims erstes ausgearbeitetes Ergebnis seiner erkenntnistheoretischen Position haben wir in seiner Gewißheitsschrift21, die er in drei veränderten Auflagen herausgebracht hat. In dieser Schrift will er die Denkmöglichkeit des Glaubens demonstrieren. Dieser Begriff drückt sein apologetisches Programm aus. Er will die intellektuelle Hemmschwelle abbauen, die angesichts herrschender erkenntnistheoretischer Positionen für eine Begegnung mit der religiösen Wirklichkeit besteht. Heim wehrt sich entschieden, die Alternative Erkenntnistheorie oder religiöse Wirklichkeit zur GlaubensAnfechtung zu stilisieren. Diese Alternative gehöre noch nicht in einen "heiligen" Bereich, sondern unterliege dem ganz "profanen" Gebiet der Logik und sei durch diese gegebenenfalls aufzulösen. Damit hat Heim die nötige Gebietsabgrenzung zwischen Glauben und Denken getroffen. Demnach darf der Glaube nicht erkenntnistheoretische Einwände als irrelevant erklären für Fragen, die die religiöse Wirklichkeit betreffen, bzw. die Zuständigkeit der Erkenntnistheorie anzweifeln. Das Gewißheitsproblem läßt sich nicht durch religiöse Worte oder Gefühle erledigen. Der Gewißheitsmaßstab untersteht dem logischen Gerichtshof. Ist das einmal anerkannt, dann wird die oben aufgestellte Alternative aber nicht mehr nur für den Wahrheitsanspruch des Glaubens, sondern auf der ändern Seite auch für die Position der Erkenntnistheorie virulent. Erweist sich nämlich der Gewißheitsmaßstab des Glaubens als logisch unanfechtbar, dann müssen sich auch die herrschenden erkenntnistheoretischen Positionen der Prüfung unterziehen lassen. Sie müssen 21

"Glaubensgewißheit, Eine Untersuchung über die Lebensfrage der Religion", l .3. Auflage, 1916-1923.

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Einleitung

sich daraufhin prüfen lassen, ob sie der logischen Unanfechtbarkeit des Gewißheitsanspruchs des Glaubens Rechnung tragen, ob ihre Voraussetzungen in der für diese Aufgabe benötigten Formalität logisch formuliert werden können oder nicht. Die Zuständigkeitserklärung der Logik für die Beurteilung des Gewißheitsanspruchs des Glaubens spitzt sich daher zu. Im Blick auf eine Erkenntnistheorie, die den Wahrheitsanspruch des Glaubens nicht als Denkmöglichkeit zulassen will, stellt sich nämlich die Frage, ob entweder die herrschenden erkenntnistheoretischen Positionen falsch bzw. nicht ausreichend sind, oder ob der Anspruch auf Gewißheit Dlusion ist, sei es die des Glaubens oder - und das ist Heims Spitzensatz - jeder Gewißheit. Heim geht in seiner Schrift von vornherein davon aus, daß die Frage nach der ersten Seite der Alternative entschieden werden muß. Er begründet diese Entscheidung mit dem Argument, daß der Anspruch auf Gewißheit eine "geistige Realität" ist, die wir vorfinden. Die herrschende, an Kant orientierte Erkenntnistheorie muß somit auf alle Fälle einer weiteren Kritik unterworfen werden. Der erkenntnistheoretische Kritizimus ist bei Kant schon bis dahin vorgestoßen, daß Raum und Zeit nicht mehr einer äußeren objektiven Wirklichkeit entsprechen, sondern subjektive Anschauungsformen sind. Dieser richtige Ansatz muß nun aber weitergeführt werden, um den letzten "mythologischen Rest" aus der Erkenntnistheorie auszustoßen, nämlich die Vorstellung eines Ichs, das einer äußeren Wirklichkeit gegenübersteht. Der Kritizismus Kants muß - mit den Worten Heims - auf das "Ich-Ding-Schema" angewendet werden. Erst dann ist die erkenntnistheoretische Reflexion zu ihrem Ende geführt. Es darf keine Subjekt-Objekt-Trennung mehr geben, die eine absolute, das heißt allein dem Subjekt sich verdankende Erkenntnis ermöglicht. Dies ist nach Heim dann erreicht, wenn das Ver-

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lS

hältnis von Ich und Gegenstand ebenfalls, wie Raum und Zeit, als Anschauungsform aufgezeigt worden ist. Mit dieser "dritten Anschauungsform" wäre dann die prinzipielle Relativität jeglicher Erkenntnis offenbart. Die Gewißheitsfrage hat sich also, wie Heim es behauptet hat, auf das gesamte Gebiet des Erkennens ausgeweitet. Die Frage nach der Möglichkeit religiöser Gewißheit hat sich nun erweitert und verschärft zu der Frage nach der Möglichkeit von Gewißheit überhaupt. Der Unterschied zwischen "Welterkennen" und "religiöser Gewißheit" wäre damit kein prinzipieller mehr. Gleichzeitig qualifiziert sich Heims Frage nach der Glaubensgewißheit als eine, die jeden angeht, sogar den Skeptiker. Denn hat sich die Frage nach Glaubensgewißheit zur Frage nach Gewißheit von Erkenntnis überhaupt entwickelt, so drängt sich auch die nächste Frage auf, die Frage, ob die durch erkenntnistheoretische Reflexion gewonnene Darstellung der Verhältnisse des "Weltinhalts11 die einzige ist. Wäre das der Fall, dann ist jegliche Gewißheit ausgeschlossen. Damit wäre aber die Skepsis ad absurdum geführt22. Die skeptische Position wäre keine Weltanschauung mehr, denn sie wäre die einzig mögliche Beschreibung der Wirklichkeit, als solche also nicht mehr Skepsis. Oder, so ist die Frage, gibt es neben der erkenntnistheoretischen Darstellung der Wirklichkeit noch eine andere Ordnung, die durch erkenntnistheoretische Reflexion nicht erfaßt werden kann? Heim will die Frage bejahen. Allerdings steht für ihn fest, daß diese Antwort nicht

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Nach Friedrich Traub ist für Heim "die intellektuelle Skepsis eo ipso Sünde. Es ist ihm das wie eine Art Axiom" ("Über Karl Heims Art der Glaubensbegründung" in "Theologische Studien und Kritiken", Jg.1917, 188), zitiert bei H. Timm, a.a.O., 45, Anm.16.

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Einleitung

mehr durch Denken, sondern nur im unmittelbaren Erleben gegeben werden kann.. In seiner Gewißheitsschrift will Heim demnach zweierlei zeigen: 1. Die Gewißheitsfrage ist eine logische Frage. Die Notwendigkeit der Frage nach der Möglichkeit von Gewißheit besteht für jedes Denken aufgrund von erkenntnistheoretischen Überlegungen. Das Gebiet des Glaubens hat hier keine prinzipielle Sonderstellung. 2. Die Wirklichkeit jeglicher Gewißheit kann durch das Denken nicht begründet und geschaffen werden. Sie gehört nicht mehr in den Bereich erkenntnistheoretischer Entscheidungen. Heim unterstellt sie dem erkenntnispraktischen Bereich des Erlebens. Bei der Untersuchung der Genese von Heims Position zeigt sich, daß Heim sich in prinzipiellen Punkten Husserl als erkenntnistheoretischen Gesprächspartner wählt, ganz explizit in seiner ersten veröffentlichten Schrift "Psychologismus oder Antipsychologismus", versteckter, aber nicht weniger grundlegend in "Glaubensgewißheit"3. Von daher läßt sich Heims Denkweg nicht ohne Erfassung von Husserls Einfluß rekonstruieren. Eine Analyse des Husserleinflusses soll daher in unserer Untersuchung das spezifische Profil der Position Heims herausarbeiten helfen. In der Gegenüberstellung mit Husserl werden aber auch die Schwächen von Heims Position sichtbar. Heim will jede erkenntnistheoretische Begründung von Wahrheitsansprüchen bzw. jede erkenntnistheoretische Legitimation von Gewißheit diskreditieren. Husserls Erkenntnistheorie aber als universale Wahrheitstheorie scheint Heims erkenntnistheoretische Kritik an jedem theoretischem Wahrheitsanspruch als kurzsichtig aufzudecken. Nicht von ungefähr will Heim daher wohl Husserl23 eine exponierte Gegenposition zuschreiben. 23

So in der dritten Auflage der Gewißheitsschrift (GG3).

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Aus "Psychologismus oder Antipsychologismus" können wir herauslesen, daß Heim Erkenntnistheorie auf der Grundlage einer transzendentalen Fragestellung als illegitimes Unternehmen problematisiert. Gerade in diesem transzendentalen Sinne betreibt aber Husserl Erkenntnistheorie schlechthin. Zwar mag auf den ersten Blick Husserls These von der Gegenstandsorientiertheit des Bewußtseins gegen eine transzendentale Grundlegung seiner Erkenntnistheorie sprechen. Aber diese ermöglicht es ihm gerade - wie wir es bei keiner anderen erkenntnistheoretischen Konzeption finden - die Legitimität des Subjekts, seine eigenen Erkenntnisbedingungen zu reflektieren, Erkenntnistheorie selbst zum Gegenstand zu machen, zu begründen. Sie ist somit Transzendentalphilosophie par excellence. Die in Husserls Gegenstandstheorie implizierte Subjektsthematik, die die Erkenntnistheorie selbst zum Gegenstand werden läßt, macht in strengem Sinne eine solche überhaupt erst möglich. Die Subjektsthematik aber ist es, die Heim unter allen Umständen ablehnt. Diese Ablehnung scheint Heim in die Nähe des reinen Positivismus zu bringen. Wie wir aber sehen werden, läßt sich Heims erkenntnistheoretische Grundlage nicht auf naiven Positivismus reduzieren. Der Grund für Heim, die subjektive Bewußtseinsseite zu eliminieren, ist ein anderer. Dieser Grund ist zugleich derjenige, warum er letztlich dennoch der Position Husserls näher steht, als allen positivistischen, z. B. derjenigen von Mach und Avenarius. Dieser Grund ist, daß er mit seiner Erkenntnistheorie ein theologisches Motiv verbindet, mithin die Frage der Wahrheitserkenntnis. Die Frage nach Wahrheitserkenntnis ist aber eben auch das Anliegen Husserls, an dem dieser seine Gegenstandstheorie orientiert Husserl will die Wahrheitsfrage wieder im Gebiet der Erkenntnistheorie etablieren. Die Frage nach Wahrheitserkenntnis ist das Verbin-

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Einleitung

dende von Heim und Husserl im Gegenüber zu den Positivisten. Allerdings besteht dann der Unterschied zwischen Heim und Husserl in der Art und Weise, wie der eine und der andere die Möglichkeit der Frage nach Wahrheitserkenntnis begründet. Unsere Vermutung, daß Heims Reduktion des Bewußtseins, auf eine quasi subjektslose Repräsentation von Gegenständlichkeit, ein theologisches Motiv zugrundeliegt, zieht allerdings eine schwerwiegende weitere Frage nach sich: Ist Heim unter diesen Umständen wirklich denkoffen? Oder resultiert diese Offenheit von vornherein nur aus einer fixierten Glaubenshaltung? Will Heim wirklich denken oder will er von Anfang an den Glauben als denkmöglich beweisen? Auf diese Frage werden wir erst am Ende unserer Untersuchung der Heimschen Position der Glaubensgewißheit eine Antwort suchen können. Eine Konzentration auf das Frühwerk wird die Genese seiner erkenntnistheoretischen Position in ausreichender Weise zur Darstellung bringen können, da diese in ihren grundlegenden Aspekten bis zum Abschluß der verschiedenen Auflagen der "Glaubensgewißheit" Gestalt angenommen hat. Die Ausführung seines Hauptwerkes: "Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart, Grundzüge einer christlichen Lebensanschauung", hat zwar weiterhin das ursprüngliche Thema der Kommunikation von Glaube und Denken, ist aber nur eine weitere, differenziertere Explikation der bis zur "Glaubensgewißheit" gewonnenen grundlegenden erkenntnistheoretischen Position und ein Aufbauen der Argumentation auf deren Fundamenten. Wir beschränken uns daher auf die frühen Schriften24. 24

Und zwar aus dem Zeitraum von 1902-1926: "Psychologismus und Antipsychologismus", 1902, "Das Weltbild der Zukunft", 1904, "Das Gewißheitsproblem in der systematischen Theologie bis zu Schleiermacher", 1911, "Glaubensge-

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Angesichts der Verwicklung der erkenntnistheoretischen Probleme Heims mit der Husserlschen Problemstellung und -lösung wird die vorliegende Arbeit daher zum großen Teil auch eine Darstellung von Husserl wie auch von Heims Husserlrezeption liefern müssen. Denn ohne die Auseinandersetzung mit Husserl läßt sich Leistung und Wert von Heims erkenntnistheoretischer Konzeption kaum einschätzen.

Es legt sich daher folgende Gliederung nahe: In einem ersten Kapitel beschäftigt sich meine Arbeit mit der Entwicklung von Heims erkenntnistheoretischen Grundlagen in ihrer Anfangsphase (1902-1923) unter dem Gesichtspunkt seiner eigenen Fragestellung: Erkenntnistheorie angesichts des Glaubens, in Heims Formulierung: "Die Denkmöglichkeit des Glaubens". Die erste uns zugängliche Schrift25 ist die Auseinandersetzung mit Husserls Logikverständnis (1902) mit dem Titel: "Psychologismus oder Antipsychologismus". Es geht hier um die Frage der Begründung der Logik, ob metaphysisch, psychologistisch, oder -so Husserl wie Heim formalistisch. Dem Untertitel gemäß versteht Heim diese Schrift als

wißheit", in 3 Auflagen von 1916-1923, "Glaube und Leben. Gesammelte Aufsätze und Vorträge", 1926," Glaube und Denken" (Lflgd bei den Textangaben zitiert mit 1,1. Aufl. bzw. 3. Aufl.), 1. Bd. des Hauptwerkes "Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart", 1. Aufl. 1931; 3. völlig veränd. Aufl. 1934, und - als ausnahmsweise späte Schrift - seine Autobiographie "Ich gedenke der vorigen Zeiten" (i.flgd. bei den Textangaben zitiert mit "Ich gedenke..."), 1957. Heims Dissertation ist leider verschollen. Bekannt ist allerdings ihr Titel. Demnach hat auch sie schon Erkenntnistheorie zum Thema gehabt: Die Grundprinzipien der Erkenntnistheorie und Logik bei Hobbes.

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Einleitung

Entwurf einer erkenntnistheoretischen Fundamentierung der Energetik26. Die nächste Schrift "Das Weltbild der Zukunft" ist eine Auseinandersetzung zwischen Philosophie, Naturwissenschaft und Theologie. In großem Wurf und allgemeinwissenschaftlichem Stil rechnet Heim hier mit der Philosophiegeschichte und den philosophischen Versuchen der Theologie seiner Zeit ab und stellt daneben seinen erkenntnistheoretischen Entwurf als einzig möglichen Ausweg. Ziel seiner erkenntnistheoretischen Bemühungen wird es sein - und das wohl von Anfang an, dies zumindest ist die These dieser Arbeit - die Glaubensgewißheit in ihr Recht zu setzen. In drei Auflagen ist die gleichnamige Schrift von 1916-1923 erschienen. Dazwischen liegt eine Schrift, die sich mit der Beschäftigung dieses Problems innerhalb der Geschichte der Theologie befaßt. "Das Gewißheitsproblem in der systematischen Theologie bis Schleiermacher. 1911" Mit dieser Schaffensphase von 1902-1923 werden wir uns im folgenden befassen und zwar unter Heims eigener Fragestellung: Wie ist eine erkenntnistheoretische Begründung von Glaubensgewißheit möglich? Heims erste veröffentlichte Schrift ist "Psychologismus oder Antipsychologismus". Sie ist im wesenüichen eine Auseinandersetzung mit Husserl. Wenn wir Heims Position in ihrer Genese verfolgen wollen, müssen wir daher immer auch nach dem Einfluß Husserls fragen. Wir

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Der Untertitel verweist auf die Beschäftigung mit Ostwalds Naturphilosophie, die sich gegen das atomistisch-mechanistische Weltbild wendet. Überhaupt ist der Kampf gegen dieses Weltbild ein Anlaß für Heims erkenntnistheoretische Überlegungen. Er prägt auch im Übrigen das ganze Zeitbewußtsein, das durch den Umbruch des Weltbildes der klassischen Physik gekennzeichnet ist.

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wollen uns daher in einem zweiten Kapitel dem philosophischen Ansatz Husserls in seinen "Logischen Untersuchungen" zuwenden. Soweit es zum Verständnis von Husserl, wie auch von Heims Kritik an Husserl, nötig ist, wird auch auf Husserls "Ideen...", so wie sie Heim thematisiert hat, vorausgeblickt werden. Erst auf diesem Hintergrund werden wir die Husserlrezeption beurteilen können, die für Heims eigene Entwicklung grundlegend gewesen zu sein scheint. Dies wird im dritten Kapitel geschehen. Zur religiös-theologischen Motivation Heims, die in tragender Weise als Motor seiner erkenntnistheoretischen Untersuchungen ausgemacht wird, wird das vierte und letzte Kapitel Stellung nehmen. Hier soll Heims apologetisches Interesse, in dem seine unbestechliche Frömmigkeit mit einer nicht minder unbestechlichen Logik eine eigentümliche Verbindung eingeht, auf seine Relevanz für ein qualifiziertes Verständnis von Theologie untersucht werden. Nach Heim wird sich zeigen lassen müssen: Theologie hat es nicht mit einer "Hinterwelt" zu tun, sondern mit dem Verstehen der einen, ganzen Wirklichkeit. Sie kann nicht etwas zur Weltanschauung sekundär Hinzukommendes sein - ob gedanklich erfaßbar oder nicht - sondern muß die Qualität einer Fundamentierung von Weltanschauung besitzen27. Inwieweit Heim dies innerhalb seines eigenen Werks zu zeigen gelungen ist, soll im letzten Kapitel ausblicksweise anhand der Frage des Eingangs der erkenntnistheoretischen Überlegungen des Frühwerks in sein Hauptwerk "Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart" untersucht werden.

27

Es muß sich aber andererseits auch zeigen lassen, daß Theologie nicht in Weltanschaung aufgehen darf und hier strebt, wie wir sehen werden, das im Frühwerk noch ungelöste Problem im Spätwerk einer Lösung zu.

1.

Die erkenntnistheoretische Entwicklung des Gewißheitsproblems im Frühwerk Karl Heims (1902-1923)

Karl Heims Theologie haben wir in der Einleitung als Apologetik in einem qualifiziert neu verstandenen Sinn bezeichnet Die Behauptung einer neuen Qualifikation von Apologetik meint die enge Verschränkung von Glaubensproblematik mit Erkenntnistheorie in der Theologie Karl Heims. Keiner Seite, weder dem Glauben noch der Erkenntnistheorie, ist von vornherein Urteilsautorität zuzusprechen. Heim will das Denken - und damit ist auch das denkende Erfassen des Glaubens gemeint - in seiner Struktur verfolgen und daraus das Kritikpotential gegen herrschende, unhinterfragte erkenntnistheoretische Behauptungen einerseits und Ansichten des Glaubens andererseits entwickeln. Erkenntnistheoretisch sieht Heim seine Bemühung als Fortführung des Kritizismus. Theologisch geht es ihm um eine radikale Hinterfragung der Denkvoraussetzungen des Glaubens im Dienste von dessen logischer Legitimierung. Der Glaube soll nicht als unverstehbare Bewußtseinserscheinung hingenommen werden, sondern es soll ihm strukturimmanent im Denken ein Platz zugewiesen werden. Die Logik darf darüber bestimmen, ob der Glaube zu Recht oder zu Unrecht seine Daseinsberechtigung behauptet. Mit dieser Ermächtigung der Logik scheint Heims Interesse primär nicht theologisch, sondern philosophisch motiviert zu sein, wenn anders der Leitfaden der Untersuchung Heims nicht eine herrschende Glaubensüberzeugung oder Weltansicht, sondern eben die Logik sein soll. Dieser vermeintliche Vorrang der Philosophie gegenüber dem Glauben wird aber dadurch relativiert, daß nicht schon eine Logik in ihrer Gültigkeit vorausgesetzt wird. Vielmehr wird deren neue Fundamentierung er-

Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

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strebt, zu der der Glaube seinerseits faktisch Anlaß wird. So ergibt sich bei Heim aus der Verschränkung theologischer und philosophischer Interessen das Ziel, einen Formalismus der Logik zu entwickeln, der neben deren Anspruch auf universale Gültigkeit zugleich eine Beschränkung zum Ausdruck bringt, nämlich die Beschränkung der Logik auf reine Formalität Damit schafft er Raum für inhaltliche Offenheit. Eine formalistisch begründete Logik kann zweierlei einsichtig machen: zum einen fordert ihr universaler Geltungsanspruch in formaler Hinsicht auch den Glauben heraus, seine Gewißheitsansprüche am Maßstab der Logik zu messen, zum ändern verweist aber die Beschränkung des universalen Geltungsanspruch auf den formalen Charakter der Logik auf die Grenzen ihres Geltungsbereichs. Die universale Geltung bezieht sich nur auf die Formalität der Logik, alle inhaltlichen Aussagen als solche sind der Kritik durch Logik enthoben. Mit dem Formalitätsprinzip der Logik meint Heim zweierlei gleichzeitig zu erreichen. Beides zielt auf Rehabilitierung des Glaubens, erfordert aber erkenntnistheoretische Reflexion. Einmal will Heim mit dem Formalitätsprinzip den Anspruch des Glaubens logisch legitimieren. Dann will es ihn aber auch vor unqualifizierter Kritik schützen. Für ersteres unterzieht er die herkömmliche Erkenntnistheorie einer Kritik, indem er die Logik fundamentalisiert Dies geschieht in der Schrift "Psychologismus oder Antipsychologismus" (1.1). Für letzteres muß er den Glauben erkenntnistheoretisch einordnen. Diese erkenntnistheoretische Einordnung des Glaubens macht zugleich die Kompetenzgrenze von Erkenntnistheorie deutlich, indem der Glaube dort darauf hinweist, daß seine Fragen das Erkenntnispotential einer jeden Theorie übersteigen. Dies geschieht in den Folgeschriften "Das Weltbild der Zukunft" und insbesondere in "Glaubensgewißheit" in ihren drei Auflagen (1.2).

24

Die Entwicklung des Gewißheitsproblems Durch die religiös-theologische Motivation der Zielrichtung der neuen

Fundamentierung der Logik schwindet unter der Hand die Vorrangstellung philosophisch-erkenntnistheoretischer Reflexion. Die erkenntnistheoretische Exklusion von Wahrheitserkenntnis und damit des Ausschlusses des Gewißheitsanspuches des Glaubens von theoretischer Falsifizierbarkeit, spricht implizit dem Glauben eine höhere, weitsichtigere Form der Erkenntnisgewinnung zu als dem theoretischen Denken. Die gegenseitige Verschränkung von Erkenntnistheorie und Glauben, macht es von daher schwierig, das Primärinteresse Heims eindeutig zu identifizieren. Wir werden abschließend die Frage bedenken müssen, ob es Heim wirklich in erster Linie allein um die Offenheit und Redlichkeit des Denkens geht, oder ob ihm von vornherein der Glaube als Urteilsinstanz für alle Erkenntnis feststeht und ob er so nicht von vornherein eine zum Glauben passende Erkenntnistheorie entwicklen will.

l .1.

Darstellung der erkenntnistheoretischen Grundposition in "Psychologismus oder Antipsychologismus"

Die apologetische Richtung von Karl Heims Theologie zeigt sich auf den ersten Blick nicht nur am Thema der Gewißheitsschrift selbst, sondern vor allem daran, daß dieser eine erkenntnistheoretisch-logische Untersuchung vorausgeht, die sich als Grundlegung von "Glaubensgewißheit" erweist und eigentlich Voraussetzung zu deren Verständnis ist. Diese erkenntnistheoretisch-logische Untersuchung bietet die Schrift "Psychologismus oder Antipsychologismus". Um die Kontinuität von Karl Heims gedanklichem Schaffen aufzeigen zu können, muß somit der Zusammenhang der Schriften "Psychologismus oder Antipsychologismus" und "Glaubensgewißheit" deutlich

Erkenntnistheoretischen Grundposition

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gemacht werden. Es muß deutlich werden, inwiefern schon hinter der erkenntnistheoretisch-logischen Schrift das Interesse an der Begründung der Denkmöglichkeit des Glaubens stand. Um diesen Zusammenhang zu erkennen, soll vor der Darstellung von "Psychologismus oder Antipsychologismus" die Zielrichtung von "Glaubensgewißheit" entfaltet werden. Nur so wird Grundlegung und Kontinuität innerhalb der Schriften deutlich. Wir werden zunächst die Zielrichtung der Gewißheitsschrift entfalten (1.1.1), um anschaulich zu machen, inwiefern die Grundlegung in "Psychologismus oder Antipsychologismus" schon durch das Interesse der "Glaubensgewißheit" bestimmt ist. (1.1.2). 7.7.7.

Kurze Entfaltung der Zielrichtung von "Glaubensgewißheit", l.Aufl. Heims gesamtes schriftliches Lebenswerk bemüht sich um die Begründung der Denkmöglichkeit von Glaubensgewißheit. Der erste ausgearbeitete Niederschlag seiner diesbezüglichen Gedanken findet sich in der gleichnamigen Schrift, die er in drei veränderten Auflagen herausgebracht hat. Für unseren Zweck einer Darstellung der Zielrichtung der Gewißheitsschrift, genügt es hier, die erste Auflage zu Rate zu ziehen, in der Heims Zielrichtung in aller Urspünglichkeit begegnet. Nach Heim ist die Begründung der Möglichkeit von Glaubensgewißheit ein Problem seit Augustin. Der Gewißheitsmaßstab der aristotelischen Logik läßt sich nämlich mit dem Anspruch der Glaubensgewißheit nicht vereinbaren. So gab es denn auch innerhalb der Theologiegeschichte verschiedene Lösungsversuche, die aber alle daran krankten, für die Glaubensgewißheit vom logischen Gewißheitsmaßstab Ausnah-

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Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

men zu bewilligen.28 Heim dagegen will der Glaubensgewißheit zu ihrem logischen Recht verhelfen. Damit muß dem logischen Gewißheitsmaßstab innerhalb der Beschreibung der Glaubensgewißheit ein Ort zugewiesen werden. Erweist sich dies nicht als möglich, wird sich der Glaube nie von den Vorwürfen der Phantasie, Illusion oder Halluzination befreien können. Der Glaube und seine Gewißheit muß seitens des logischen Gewißheitsmaßstabes zumindest als denkmöglich betrachtet werden können, sonst kann die intellektuelle Anfechtung für ihn ein unüberwindbares Hindernis sein. Um welche Schwierigkeiten geht es?29 Die Logik läßt sich nach Heim auf den Satz des Widerspruchs reduzieren. Der Anspruch des logischen Gewißheitsmaßstabes ist somit die Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch. "Es ist unmöglich, daß dasselbe demselben in derselben Beziehung zukomme und nicht zukomme". Der Satz vom Widerspruch besitzt Unwidersprechlichkeit, unmittelbare Einsichtigkeit und Allgemeingültigkeit. Diese Merkmale eignen dem Gewißheitsanpruch des Glaubens jedoch nicht. Das erste Charakteristikum, die Unwidersprechlichkeit, will der Glaube in keiner Weise für sich in Anspruch nehmen. Er ist vielmehr kontingent Er läßt die Denkmöglichkeit eines ändern offen. Das zweite Charakteristikum, die unmittelbare Einsichtigkeit, fordert er zwar für sich ein, bringt ihn aber bei einem gleichzeitigen Anspruch auf Ewigkeit wiederum in Gegensatz zu dem Gewißheitsmaßstab der Logik, denn diese bindet die Unmittelbarkeit an den Jetztpunkt der Zeit. Ebenso verhält es sich mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Der Glaube fordert zwar Allgemeingültigkeit, diese läßt sich logisch wiederum nicht mit dem Wesen der Kontingenz vereinbaren. 28 29

Vgl. i.flgd. GG1, 22ff. Vgl. ebd., 37ff.

Erkenntnistheoretischen Grundposition

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Heim versucht nun, eine Beseitigung des Gegensatzes zwischen den beiden Gewißheitsansprüchen herbeizuführen, indem er beide auf implizite Mängel hin untersucht.30 Er geht dabei ihren Voraussetzungen nach und stellt fest, daß in beiden Formulierungen des Gewißheitsmaßstabes, sowohl auf logischer, wie auf religiöser Seite, drei unbewiesene Voraussetzungen mitaufgenommen wurden: das Datum eines Subjekts, eines Ortes, eines Zeitpunktes. Eine Lösung des Widerstreites zwischen beiden Gewißheitsansprüchen sucht er, indem er diesen auf die Bestimmung der Existenzweise dieser drei vorausgesetzten Data zurückführt, nämlich auf die Bestimmung dieser Existenzweise durch: Exklusivität der verschiedenen Subjekte, Orte und Zeitpunkte, also der Exklusivität von Verschiedenheit und Identität Religiöse Gewißheit ist aber nur möglich, wenn diese exklusiven Verhältnisse durchbrochen werden können.31 Die apostolischen Aussagen des Neuen Testamentes behaupten nun diese Möglichkeit der Durchbrechung der exklusiven Verhältnisse. Kraft des Heiligen Geistes soll eine Durchbrechung der exklusiven Verhältnisse stattfinden.32 Es stellt sich somit die Frage, ob die Exklusivität denknotwendig ist, bzw. ob sie zu der vom Satz des Widerspruchs geforderten Denknotwendigkeit hinzugehören. Diese Frage läßt sich stellen, weil die logische Gewißheitsregel die exklusiven Verhältnisse nur als unbewiesene Vorausetzung enthält, "als Lehnsatz, der aus einer ändern Quelle geschöpft ist"33. Die religiöse Gewißheit hängt also daran, ob es gelingt, den Identitäts-

30

31 32 33

Vgl. ebd., 40f. Vgl. ebd., 42-45. Vgl. ebd., 45. Ebd., 47.

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Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

satz ohne die Aufnahme der exklusiven Verhältnisse aufrecht zu erhalten. Wir können Heims Aufgabe daher so zusammenfassen: Es geht ihm um den Nachweis der logischen Möglichkeit der Glaubensgewißheit. Dies erfordert, den Satz des Widerspruchs in seiner Allgemeingültigkeit zu präsentieren, unter Ausschluß der in ihm implizierten Voraussetzungen.34 Dieser Nachweis gelingt Heim in der 1. Auflage seiner Gewißheitsschrift mittels der Unterscheidung von "empirischer Notwendigkeit" und "Denknotwendigkeit".35 Der Satz des Widerspruchs beansprucht Denknotwendigkeit. Die im Satz des Widerspruchs implizierten Voraussetzungen, das exklusive Verhältnis zwischen Subjekten, Raum- und Zeitpunkten, dagegen sind in sich widerspruchsvoll sind und daher nicht denknotwendig. Sie können also nicht die vom Gewißheitsmaßstab geforderte absolute Gültigkeit für sich beanspruchen. Mithin sind die exklusiven Verhältnisse von Subjekt, Raum und Zeit nicht denknotwendig, sondern nur empirisch notwendig.36

34

35

36

Vgl. ebd., 48. Die folgenden Ausführungen über die Problematik der Gewißheitsschrift sind vorläufig und dienen allein dazu, die in der Frage der Vereinbarkeit des Gewißheitsanspruchs des Glaubens implizierten Problemzusammenhang als denjenigen zu skizzieren, deren Untersuchung schon Heims erste Schrift "Psychologismus oder Antipsychologismus" (i.flgd. bei den Textangaben zitiert mit PA) gewidmet ist Sie dienen also dazu, auf die Kontinuität des Schaffens von Karl Heim hinzuweisen und damit ein Verständnis seiner Gedankengänge vorzubereiten. Ausführlicher wird auf die Gewißheitsschrift in allen ihren drei Auflagen im Abschnitt 1.3 eingegangen. Vgl. ebd., 51.

Erkenntnistheoretischen Grundposition

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Ist aber demnach die Erfahrungswirklichkeit widersprüchlich, so ist es das Denken selber, als an sich Widerspruchslosigkeit fordernd, das uns zwingt, hinter diese exklusive Wirklichkeitsordnung zurückzugehen.37 Somit kommt die Forderung des Denkens mit der Behauptung der Glaubensgewißheit überein. Der Glaube behauptet, daß es eine widerspruchlose Wirklichkeitsordnung tatsächlich gibt und daß die Erfahrungswirklichkeit nichts als eine Verschleierung der wahren Wirklichkeit ist. Sind nun die im Satz des Widerspruchs vorausgesetzten Erfahrungsformen in sich widersprüchlich, handelt es sich bei der Exklusivität der Erfahrungsformen also nur um eine empirische Notwendigkeit, die als widersprüchliche nicht denknotwendig sein kann, dann kann dem Gegensatz zwischen dem logischen Gewißheitsanspruch mit dem Gewißheitsanspruch des Glaubens nur ein empirisch zufälliger Charakter zukommen. Damit ist der Gewißheitsanspruch des Glaubens logisch betrachtet zwar nicht denknotwendig, aber wenigstens denkmöglich geworden.38 Fazit: Das Problem, die Gültigkeit des Identitätssatzes unabhängig von seinen terminologisch implizierten Voraussetzungen nachzuweisen, ist gelöst worden. Die als Lehnsatz enthaltenen Voraussetzungen können nur empirische Notwendigkeit beanspruchen. Sie gehören nicht zum logischen Gewißheitsmaßstab, der Denknotwendigkeit fordert, hinzu. Diese Reduktion des Satzes des Widerspruchs auf einen von den exklusiven Wirklichkeitsverhältnissen befreiten Kern hat allerdings die Konsequenz, daß der Satz des Widerspruchs selbst in Widerspruch mit seiner eigenen Forderung auf absolute Gültigkeit tritt. Der Satz des Widerspruchs wird von den exklusiven Erfahrungsformen gelöst, um Den37

VgLebd.

38

VgLebd., 113-120.

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Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

knotwendigkeit zu behaupten. Gelöst von den Erfahrungsformen wird der Satz des Widerspruchs formelhaft. Damit - durch diese Formelhaftigkeit - wird gleichzeitig die Denknotwendigkeit des Satzes des Widerspruchs relativiert. Denn mit der Loslösung von den exklusiven Erfahrungsformen wurde der Identitätssatz gleichsam von jeglichem Inhalt gelöst. Er kann die absolute Gültigkeit dann also nicht mehr für sich selbst beanspruchen, weil er in der reduzierten Form nur noch Ausdruck von Relativität ist Er wird Ausdruck der Relativität des Denkens. Damit steht er aber in Widerspruch zu seinem absoluten Gewißheitsanspruch. Da der Anspruch auf "Denknotwendigkeit" aber absolute Gültigkeit/ordert, bekommt der Satz des Widerspruchs dann in seiner Formalität für das Denken Verweisungscharakter*9. Heim erwähnt es nicht, aber es ist deutlich, daß dieser Verweisungscharakter des auf Formalität reduzierten Satzes des Widerspruchs implizit ein positives Argument für die "Denkmöglichkeit des Glaubens" ist. Heim selbst argumentiert explizit nur in negativer Weise, nämlich derart, daß die "Denkmöglichkeit" nicht ausgeschlossen werden kann. Er hebt auf die in der reduzierten Formel aufgezeigte Relativität allen Denkens ab. Den offensichtlich in seiner Konzeption gegebenen Verweisungscharakter des Denkens selbst auf eine andere widerspruchsfreie Wirklichkeit, wertet er leider nicht argumentativ aus. In Heims Untersuchung des Identitätssatzes müssen wir nach alledem drei Schritte unterscheiden:

39

Vgl. ebd., 118: "Nur das Gesetz der Denknotwendigkeit zwingt uns, in einer unsichtbaren Ordnung der Dinge Fuß zu fassen, die jenseits des Widerstreits liegt,...".

Erkenntnistheoretischen Grundposition

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1. Der Satz des Widerspruchs wird von den exklusiven Erfahrungsformen gelöst, um Denknotwendigkeit zu behaupten, die die innere Widersprüchlichkeit der exklusiven Erfahrungsformen nicht zugelassen hat. 2. Gleichzeitig wird die Denknotwendigkeit hinsichtlich ihres Geltungsbereichs relativiert, indem der Satz des Widerspruchs auf seine Formelhaftigkeit reduziert wird. Diese Formelhaftigkeit entsteht dadurch, daß er im Zuge der Lösung von den exklusiven Erfahrungsformen von jegüchem Inhalt isoliert wird. 3. In seinem Geltungsanspruch ist der Satz des Widerspruchs nun relativ, das heißt relational bezogen. Der Anspruch auf "Denknotwendigkeit", den er zum Ausdruck bringen will, fordert aber absolute Gültigkeit. Damit erhält der Satz des Widerspruchs an ihm selber Verweisungscharakter auf eine andere Wirklichkeitsordnung. Die Denkmöglichkeit von Glaubensgewißheit fordert nach Heims Konzeption die Relativität allen denkenden Erkennens. Diese Relativität ist ihm dadurch gewährleistet, daß er den Erkenntnismaßstab des Denkens, die Gesetze der Logik auf einen formelhaften Kern des Satzes vom Widerspruch reduziert. Mit dieser Grundformel kann er die Relativität bzw. den relationalen Charakter allen Denkens aufweisen und damit die prinzipielle Gleichberechtigung aller inhaltlichen Behauptungen. Eben diese, für die Begründung von der "Denkmöglichkeit" des Glaubens unentbehrliche Grundformel, entwickelt Heim aber in "Pychologismus oder Antipsychologismus". In dieser Schrift richtet er sich gegen alle absoluten Data40, die herkömmlicherweise entstanden waren, einmal verursacht durch die Annahme eines bewußtseinsjenseitigen Gebiets, dann durch Verdinglichungen aufgrund von Psychologisierung, etwa in Form des Subjekts. Überall dort war empirische Notwendigkeit mit Denknot40

Dazu gehören Subjekt, Raum und Zeit.

32

Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

wendigkeit verwechselt worden, bzw. es war nicht getrennt worden zwischen unbewiesenen Voraussetzungen, die als Lehnsatz im Satz des Widerspruchs vorausgesetzt sind, und dem formelhaften Kern des Satzes selbst.41 Daher gilt in der Tat: Die Psychologismusschrift bietet die Grundlegung für die Gewißheitsschrift. Es besteht eine direkte Kontinuität zwischen beiden bezüglich ihrer erkenntnistheoretischen Überlegungen. Heim will in "Psychologismus oder Antipsychologismus" die Grundformel entfalten, die der an Anschauungsformen gebundenen Erkenntnis zugrundeliegt. Mit zwei Argumenten liefert diese Grundformel Heim die Basis für die Begründung der "Denkmöglichkeit" des Glaubens. Einmal sagt das Wesen dieser Grundformel prinzipielle Relativität von Erkenntnis aus, zum ändern wird der Widerspruch, in den der Gewißheitsanspruch des Identitätssatzes zu demjenigen des Glaubens tritt, auf die ak-

41

Daß es Heim in "Pychologismus oder Antipsychologismus" um dieses Problem geht, werden wir an seiner Husserlkritik sehen. Er kritisiert alles, was ihm darauf hinzuweisen scheint, daß auch Husserl die, im Satz des Widerspruch lehnweise enthaltenen, unbewiesenen Voraussetzungen unbesehen übernimmt, das heißt Subjekt, Zeit, Raum als absolute Data vorausgesetzt sein läßt. Dies zeigt sich in der Kritik der Husserlschen Ich-Konzeption bzw. der Konzeption einer "Leistung" des Subjekts. Es zeigt sich in seiner Kritik von Husserls Operieren mit dem Begriff der Bewußtseinstranszendenz, der seiner Meinung nach zu den logisch nicht zu rechtfertigenden Gebilden, wie einem Ding an sich und Ich an sich führt. Husserl gehört damit für Heim zu der kritisierten erkenntnistheoretischen Tradition, auch wenn dieser selbst aus dieser auszubrechen behauptet. Denn nach Heim gilt auch für Husserl, was er dieser Tradition insgesamt vorwirft: Die exklusiven Verhältnisse, genommen als absolute Data, setzen Atomismus und Bewußtseinsjenseitigkeit als zwei Seiten einer Medaille aus sich heraus. Beide verkennen die prinzipielle Relationalität des Bewußtseins und damit nach Heim des Gegebenen überhaupt.

Erkenntnistheoretischen Grundposition

33

zidentell dem Identitätssatz anhaftenden empirischen Voraussetzungen zurückgeführt. Mit dieser, auf ihren formelhaften, relationalen Kern reduzierten, Grundformel wird auch die "Gewißheit" des Glaubens als eine solche "denkmöglich.", die nicht abweicht vom Gewißheitsanspruch der Logik. Mit diesem erkenntnistheoretischen Reduktionsverfahren wird Heim aber unter der Hand noch ein weiteres Argument für die Denkmöglichkeit der Glaubensgewißheit zugespielt. Die Reduktion auf seinen rein formalen, empirieunabhängigen Kern bedeutet für den Identitätssatz wesenhafte Relationalität Damit kann er aber die vom Gewißheitsanspruch des Denkens geforderte absolute Erkenntnis nicht mehr liefern. Der Gewißheitsanspruch des Identitätssatzes kann also durch sich selber nicht mehr eingelöst werden. Er zerbricht an den eigenen Forderungen nach Absolutheit. Mit dieser defizitären Erkenntniskompetenz entfällt selbstverständlich das Recht, dem Gewißheitsanspruch des Glaubens zu widersprechen. Die in der formelhaften Relationalität wurzelnde Relativität offenbart demnach auch die Inkompetenz des Denkens überhaupt. Trotzdem soll aber der logische Gewißheitsmaßstab nicht seiner Ungültigkeit überführt werden. Heim will ja die Denkmöglichkeit des Glaubens begründen, das heißt, er will sich den Maßstäben des Denkens unterwerfen. Die Gültigkeit des Gewißheitsmaßstabes des Denkens soll aber gerade im Verweis auf die Grenzen von dessen Einlösbarkeit aufgezeigt werden. Die bestehen nun genau darin, daß der Identitätssatz absolute Allgemeingültigkeit zwar zurecht beansprucht, aber rein formal, nie im Hinblick auf eine Verbindung mit einem Inhalt. Er kann sich dieser absoluten Gültigkeit also auch nie selber vergewissern. Der Identitätssatz selbst ist reine Formalität, als solcher hat er absolute Gültigkeit, ist aber durch sein relationales Wesen relativ. Alle inhaltlichen Bestimmungen

34

Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

unterliegen immer schon empirischen Bedingungen, enthalten in sich also nicht die für die Absolutheit geforderte Notwendigkeit Wir wollen im folgenden zeigen, wie Heim seine Grundformel entwickelt Wir werden sehen, daß sie eine prinzipielle Widersprüchlichkeit der Erfahrungswirklichkeit aufdeckt. Die Empirie zeigt sich als prinzipiell antinomisch. Diese Antinomie liefert Heim das erkenntnistheoretische Argument für die Begründung der Denkmöglichkeit des Glaubens, das allerdings negativer Natur ist. Der Anspruch der logischen Gewißheitsregel - wie er im Satz des Widerspruchs formuliert ist - wäre damit nicht erst für den Glauben, sondern für alle Empirie uneinlösbar. Die Einordnung des Glaubens in eine allen Weltanschauungen analoge Positionalität ist somit auf negative Weise ein Argument für seine Denkmöglichkeit. Denn angesichts der Widersprüchlichkeit der Empirie, stehen jegliche Behauptungen einer widerspruchslosen Einheit vor demselben Legitimierungsproblem. Der Glaube hat darin keine Sonderstellung.

1.1.2.

Die Schrift "Psychologismus oder Antipsychologismus" als erkenntnistheoretische Grundlegung für die Schrift "Glaubensgewißheit"

Die Behauptung, daß der erkenntnistheoretischen Position der Psychologismusschrift ein Grundlegungscharakter für die Gewißheitsschrift zukomme, setzt voraus, daß jene Frühschrift implizite Gedanken im Hinblick auf Heims erkenntnistheoretisches Ziel enthält Der Darstellung (1.1.2.1) von Heims Position in jener Frühschrift, muß daher eine Untersuchung über die impliziten gedanklichen Voraussetzungen (1.1.2.2) dieser Position folgen.

Erkenntnistheoretischen Grundposition

35

1.1.2.1. Heims Entfaltung der Grundformel a. Methodische Einführung des Grundbegriffs42 Heim führt sein logisch-erkenntnistheoretisches Programm in Abgrenzung gegen Husserl ein. Er begrüßt Husserls Anliegen, die Logik formalistisch zu begründen, kritisiert aber dessen Durchführung. Die Kritik an Husserls vermeintlichem Festhalten an traditionellen erkenntnistheoretischen Vorstellungen, bildet den Hintergrund Heims für die Entfaltung seiner eigenen Position. Der Formalismus der Logik, so wie Husserl ihn anstrebt, soll die Logik von allem Psychologismus und aller Metaphysik befreien. Heim zufolge verfallt Husserl aber selbst immer wieder in traditionelle psychologistische oder metaphysische Positionen. Heim will seine Position daher grundsätzlich anders fundamentieren. Radikal kritisiert er, indem er nicht die traditionellen erkenntnistheoretischen Antworten, sondern die erkenntnistheoretische Fragestellung überhaupt für verfehlt betrachtet: "Die Hauptfrage, welche die Erkenntnistheorie zu beantworten hat, ist nicht die Frage, ob etwas, das jenseits des Bewußtseins liegt, das also nie zum Bewußtsein kommt, existiert, oder nicht existiert, oder ob es zweifelhaft ist, ob es existiert oder nicht existiert. Ehe an die Beantwortung dieser Frage herangegangen werden kann, muß die Vorfrage beantwortet werden, ob diese Fragestellung überhaupt Sinn hat, ob es logisch möglich ist, so zu fragen."43 Was Heim an der herkömmlichen erkenntnistheoretischen Fragestellung kritisiert, ist, daß diese nach einer Begründung des Bewußtseins fragt. Mit der Verneinung dieser Möglichkeit will er Erkenntnistheorie in ein neues theoretisches Stadium eintreten lassen.

42 43

Vgl. i.flgd. PA, 60-69. PA, 61.

36

Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

Nach Heim soll Erkenntnistheorie nicht hinter das Bewußtsein zurückfragen, sondern nur das Bewußtsein als solches, in seiner logischen Funktionsweise, untersuchen. Das Ergebnis dieser Untersuchung liefert ihm eine Definition des Bewußtseins, die das Bewußtsein reduziert auf eine "undefinierbare Beziehung eines undefinierbaren Subjekts auf ein undefinierbares Objekt"44 und zur "absoluten Undefinierbarkeit des Begriffs Bewußtsein und Bewußtseinsinhalt"45 führt. Die traditionellen erkenntnistheoretischen Fragen nach Wesen, Entstehung und Ermöglichungsgrund des Bewußtsein erweisen sich, bei Zugrundelegung dieser Bewußtseinskonzeption, nach Heim als sinnlos. "Es ist nach alledem nicht ein Mangel an Denkfähigkeit oder eine Schranke unserer Erkenntnis, wenn wir hinter das Bewußtsein nicht erklärend zurückgehen, vielmehr ist jeder Versuch, dahinter zurückgehen zu wollen, jeder Gedanke daran ein Mangel an Denkfähigkeit und eine Beschränktheit der Erkenntnis."46 b. Entfaltung des Grundbegriffs47 Indem es keine Bewußtseinsjenseitigkeit gibt, ist das Bewußtsein kein Forschungsgegenstand. So könnte man die Kritik Heims an der traditionellen Erkenntnistheorie zusammenfassen. Trotzdem ist aber Heims Bewußtseinsanalyse nichts anderes als "Erforschung" des Bewußtseins. Allerdings Erforschung nicht im Sinne von Hinterfragung, sondern von Aufdeckung und Beschreibung seiner Funktionsweise. Die Festeilung, das Bewußtsein sei kein Gegenstand, meint also bei Heim nicht nur, daß dieses keinen Dingcharakter hat 44 45 46

47

PA, 62. PA, 64. PA, 68. Vgl. Lflgd. PA, 69-73.

Erkenntnistheoretischen Grundposition

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etwa in dem Sinne, daß es auf das (menschliche) Gehirn lokalisiert werden könnte - ; es meint ebenfalls nicht nur, daß es aus transzendentalen Gründen nicht vergegenständlicht werden könnte, weil dies seinem Charakter, der Grund aller Gegenständlichkeit zu sein, widerspräche. Das meint es alles auch, aber zunächst meint Heim es rein in logisch-funktionaler Hinsicht. Die Analyse der Funktionsweise des Bewußtseins macht ihm deutlich, daß es prinzipiell unmöglich ist, sich in irgendeiner Weise zum Beobachter von Bewußtsein zu machen, weil am Bewußtsein alles, nicht nur das Subjekt und das Objekt, sondern auch die Beziehung zwischen beiden, der Verbalbegriff, undefinierbar ist. Prinzipielle Undefinierbarkeit ist somit quasi die Definition des Bewußtseins. Heim hypostasiert aber diese Undefinierbarkeit nicht zum transzendentalen Grund, sondern er läßt sie schlicht das formale Prinzip sein, das die Struktur unserer Wirklichkeit bildet. Die Undefinierbarkeit wird in ihrer logischen Konsequenz präsentiert. Das Bewußtsein wird aller inhaltlichen Prädikate entledigt und in seinem allein formalen Aussagewert belassen. Heims Quintessenz der Kritik an der traditionellen Erkenntnistheorie ist damit eine Verzichtsforderung. Das Bewußtsein als solches bleibt unserer Erkenntnis unzugänglich. Wahrnehmbar bleibt allein seine formale Struktur der undefinierbaren Beziehung eines undefinierbaren Subjekts auf ein undefinierbares Objekt. In dieser Definition des Bewußtseins als seine prinzipielle Undefinierbarkeit, gründen alle Bestimmungen von Heims "neuer" Erkenntnistheorie. Wenn er davon ausgeht, daß alles undefinierbar ist, Subjekt, Objekt und verbale Beziehung, dann ist auch jeder Bewußtseinsinhalt undefinierbar, sowie auch die Beziehung zwischen diesen Inhalten. Mit der Undefinierbarkeit von sowohl Bewußtseinsinhalt als auch Bewußt-

38

Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

seinsrelation haben wir die Grundlage von Heims Position: die nur relative Unterscheidung von Inhalt und Relation.48 Die relative Beziehung zwischen Inhalt und Relation ist der Kern für Heims Grundformel und damit Vorschlag zur Darstellung eines Strukturprinzips von Wirklichkeit: "Jeder Inhalt ist eine Relation relativ zu den Inhalten betrachtet, deren Beziehung aufeinander er in sich darstellt. Und jede Relation ist ein Inhalt relativ zu den nächst höheren Relationen, in denen sie selbst wieder zu anderen Inhalten bzw. Relationen steht. Inhalt ist Relation auf einer relativ einfacheren Stufe. Relation ist Inhalt auf einer relativ komplizierteren Stufe."49 Inhalt und Relation sind also begrifflich dasselbe. Sie unterscheiden sich nur relativ. Relation kann Inhalt werden und Inhalt wieder Teil einer höheren Relation oder in niederere Relation aufgelöst werden. Damit ist also auch der Relationsbegriff undefinierbar. Er kann also nur "Einen absolut undefinierbaren Sinn haben"50. Mit der Undefinierbarkeit der Relation, also der nur "Einen Relation", hat Heim die Grundlage geschaffen für seine Einsicht, "daß alles Erken-

4

4

8

Nach der Unterscheidung der Inhalte muß nach Heim in einem bestimmten Sinne gefragt werden. Nach seinem Ansatz der undefinierbaren Beziehung eines undefinierbaren Subjekts auf ein undefinierbares Objekt erweist es sich als unmöglich Inhalt und Relation, die beide nicht ohne einander sein können, als zwei gesonderte Bewußtseinserscheinungen einander gegenüberzustellen und einen spezifischen Unterschied auszumachen. Läßt sich aber kein spezifischer Unterschied zwischen Inhalt und Relation feststellen, dann können sich die beiden Begriffe nur relativ unterscheiden. Inhalte können sich daher nie als solche, sondern immer nur im Hinblick auf ihre relationale Verfaßtheit unterscheiden. (PA, 71).

9

PA, 71. Ebd.

50

Erkenntnistheoretischen Grundposition

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nen nicht ein Erkennen von absoluten Gegebenheiten, sondern stets nur ein Erkennen von Relationen ist"51. Durch die Undefinierbarkeit des Relationsbegriffs und der Identität von Inhalt und Relation ist die prinzipielle Relationalität alles Gegebenen gesichert. Damit hat Heim die Voraussetzung für die formalistische Widerlegung metaphysischer oder psychologistischer Begründung der Logik, denn diese beziehen sich beide letztlich auf absolut Gegebenes. c. Konsequenz des Grundbegriffs: der Formalismus der Logik In der Grundformel der begrifflichen Identität von Inhalt und Relation und der darin begründeten Undefinierbarkeit des Relationsbegriff liegt Heims Auffassung unserer mir formalen theoretischen Erkenntnis beschlossen. Diese Formalität erstreckt sich auf die logischen Grundprinzipien und die allgemeinen Begriffe. Sie kommen nicht hinter die Grundformel zurück. Da es nur "Eine" Grundrelation gibt, erweist sich die Vorstellung als Illusion, die sich von der Ineinanderauflösung der allgemeinen Begiffe einen Zugewinn an sachhaltiger Erkenntnis verspricht.52 Die allgemeinen Begriffe können sich nicht gegenseitig erklären. Als ihr Gemeinsames kann nur das unerklärliche Urdatum der undefinierbaren Grundrelation festgestellt werden. Alle Begriffsreduktionen sind ein

51

PA, VI, Hier nennt Heim Hobbes als denjenigen, der zuerst diese entscheidene Einsicht geäußert hat, die dann bis hin zu J.St. Mill in verschiedenen Ausformungen wiederholt wurde, und jetzt mit der "Erschütterung des atomistischen Weltgebäudes" erneut Bedeutung erlangt

52

"Hat man diese Sachlage einmal durchschaut, so ist man ein für allemal darüber hinaus, nach alter Weise irgend einen dieser allgemeinsten Begriffe seinem Denken zugrundezulegen und es dann als ein neuentdecktes philosophisches System anzusehen, wenn sich alle ändern Begriffe in diesen einen Begriff auflösen lassen" (PA, 72).

40

Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

Hin-und Herbewegen auf dem Grund eines unerklärbaren Urdatums.53 Sie liefern keinen Zugewinn an sachhaltiger Erkenntnis. Wir wollen eine solche Begriffsreduktion auf die Grundformel an einem Beispiel, dem Begriff der Unterscheidung54, veranschaulichen. Die Reduktion des Unterscheidungsbegriffs auf die Grundrelation, zeigt die ganze Besonderheit seines erkenntnistheoretischen Ansatzes, der von der formelhaften Relationalität aller Inhalte ausgeht Mit seinem Verständnis von Unterscheidung meint Heim das erkenntnistheoretische Fundament für Hobbes und gegen die aristotelische Auffassung der Unterschiedenheit von Bewußtseinsinhalten liefern zu können.55 Danach ist die Unterscheidung von Inhalten nicht etwas, was das Bewußtsein vorfindet, sondern sie wird allererst durch das Bewußtsein konstituiert.56 Von der Voraussetzung der begrifflichen Identität von Inhalt und Relation ist das auch nicht schwer zu begründen. Sie sind nicht ohne einander und unterscheiden sich nur relativ voneinander. 5

3

54 55 56

Heim nennt drei Kritierien, die infolgedessen für die allgemeinen Begriffe gelten müssen: 1. Sie müssen ineinander ausdrückbar sein, das heißt durch einander definierbar sein. 2. Das muß ausschließlich gelten, das heißt jeder dieser Begriffe kann nur durch einen dieser ändern allgemeinen Begriffe definiert werden. 3. Jeder dieser Begriffe muß ein relatives Verhältnis enthalten oder in einem solchen relativen Verhältnis zu einem ändern Begriff stehen. Heim zeigt dies an folgenden allgemeinen Begriffen: Unterscheidung; Zahl; Wirklichkeit und Möglichkeit; Zeit und Raum; die Inhalte der sogenannten inneren Wahrnehmung; die Pluralität der Ich; Wille und Energie; Konstanz der Energie, Materie und Schnelligkeit, Intensität, Naturgesetz und an den Grundprinzipien der reinen Logik. Vgl. i.flgd. PA, 73-75. Vgl. PA, 73f. Vgl. PA, 73.

Erkenntnistheoretischen Gnindposition

41

Durch Relation kommt Inhalt zustande, während andererseits Inhalte eine Relation enthalten und in Relationen stehen. Die Unterscheidungsrelation ist also die undefinierbare Grundrelation. Sie verdeutlicht im Kern deren Wesen, indem sie ausdrückt, daß durch die Relation Inhalte voneinander unterschieden werden, die vor der Unterscheidung nicht da waren. Dies ist aber nichts anderes, als die Umschreibung des antinomischen Charakters der Grundrelation. Wir haben im vorigen Paragraphen über die Zielrichtung der Gewißheitsschrift das Zerbrechen des Gewißheitsmaßstabes des Satzes des Widerspruchs an der Wirklichkeit hervorgehoben. Wenn wir es genau betrachten, wird hier nun noch einmal von einer ändern Seite deutlich, warum der Gewißheitsmaßstab der Logik, der Satz des Widerspruchs, an der empirischen Wirklichkeit zerbricht. Es liegt am Charakter des Satzes selbst. Er drückt nämlich genau so, wie jene, nichts anderes als Antinomie aus. Die Grundfomel soll sowohl die Struktur des Bewußtseins als auch die Struktur der Wirklichkeit aufzeigen. Diese Grundformel hat aber antinomischen Charakter. Dieser erstreckt sich damit sowohl auf das Bewußtsein als auch auf die Wirklichkeit. Die Logik bzw. der Satz des Widerspruchs kann also gar keine Antinomie auflösen, weil sie selbst nichts anderes ist, als die Beschreibung einer antinomischen Struktur. Die Antinomie besteht aber absolut gesehen, das heißt von außen betrachtet und nicht innerhalb des antinomischen Strukturschemas von Inhalt und Relation selbst Das hat das Beispiel des Strukturschemas der Unterscheidung veranschaulichen können. Innerhalb der Unterscheidungsrelation finden wir die Unterscheidung zweier Inhalte vor. Zwei Inhalte werden durch die Unterscheidungsrelation voneinander unterschieden. Absolut betrachtet bzw. von einem Standpunkt außerhalb der Unterscheidung selbst, wird dieser Unter-

42

Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

scheidungsakt zur Antinomie, daß die Unterscheidungsrelation Inhalte voneinander unterscheidet die vorher identisch und ununterschieden waren. Die Logik, die nach Heim nichts anderes beschreibt, als das, was in der Grundformel zum Ausdruck kommt, nämlich die Beziehung Relation-Inhalt, kann also aus der Antinomie gar nicht herauskommen. Sie ist eine Beschreibung der Grundformel, die in ihren noch so vielfachen schematischen Potenzierungen nicht aus dem antinomischen Grundschema herauskommt. Werden Logik und Wirklichkeit auf die eine Grundrelation reduziert, lassen sich weitere Schlüsse über die Wirklichkeitsverhältnisse ziehen: Das Reduziertwerden auf die Grundformel läßt die Wirklichkeit nicht nur in Antinomie verharren. Es macht auch eine weitere Behauptung Heims plausibel, nämlich die Behauptung, daß sich die Wirklichkeit mathematisieren lasse.57 Das sich aus der Grundformel entwickelnde antinomi-

57

Für diese Mathematisierung entwickelt Heim im Fortgang seiner Schrift ein Schema, in dessen Raster sich die Grundformen unserer Erfahrungswirklichkeit eintragen lassen, nämlich die Anschauungsformen Raum und Zeit wie auch die Ich-Anschauung (PA, 77-115). Das mathematische Schema entwickelt er, indem er den Begriff der Zahl mit dem Unterscheidunsbegriff zusammenbringt und in die Beziehung von Unterscheidung und Mehrheit (Zahl), das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit einträgt (PA, 75-77). Durch Unterscheidung kommt Mehrheit zustande. Diese Mehrheit kann aber selbst wieder Unterscheidungsglied werden. Aus dieser Voraussetzung läßt sich ein progressiv wie regressiv auflösbares Schema von Unterscheidungsfunktionen aufbauen, je nach Auffassung der Unterscheidung als Einheit oder Vielheit (PA, 74f.). Wendet man nun das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit auf diese Schema an, dann kann man sagen: Jede Unterscheidung ist zu sich selbst Wirklichkeit, relativ zu einer höheren Unterscheidungsrelation aber bloß Möglichkeit, indem sie dort zum Unterscheidungsglied wird (PA, 750· Im pro-

Erkenntnistheoretischen Grundposition

43

sehe Schema brachte diese Behauptung schon implizit zum Ausdruck. Die Mathematisierbarkeit läßt sich nach Heim am Verhältnis von Naturgesetz und logischem Gesetz ablesen. Heim sieht den Formalismus der Logik dann zum Ziel gekommen, wenn das Grundprinzip der Logik mit dem der Naturwissenschaft zusammenfallt.58 Das ist aber nur ein anderer Ausdruck für die Mathematisierung der Wirklichkeitsverhältnisse, denn das Naturgesetz ist ja nichts anderes als die Anwendung der Mathematik auf Erfahrung. Ein Anfang für die "logische" Mathematisierung bietet Heims Grundschema,

58

gressiven Aufbau ist also das, was auf einer Stufe als Unterscheidung Wirklichkeit war, auf einer höheren Stufe als Unterscheidungsglied Wirklichkeit, als Unterscheidung bloße Möglichkeit. In regressiver Auflösung wird aus einem wirklichen Unterscheidungsglied, die Unterscheidung Wirklichkeit, die es zu diesem Inhalt machte. In der regressiven Auflösung gibt es also zwei Möglichkeiten der Auflösung. Da es die Auflösung der Unterscheidungsglieder ist, kann immer entweder das eine oder das andere Glied in die sie konstituierende Unterscheidung aufgelöst werden. Damit entsteht nach Heim ein dritter Sinn von Möglichkeit eines Inhalts, indem nicht nur entweder seine Eigenschaft als Unterscheidung oder seine Eigenschaft als Unterscheidungsglied, sondern sowohl die eine als auch die andere Eigenschaft Möglichkeit sein kann. Innerhalb einer regressiven Auflösung ist also immer entweder 1. eine Gegebenheit als Unterscheidung wirklich, 2. eine Mehrheit von Gegebenheiten als Unterscheidungsglieder wirklich oder 3. eine Mehrheit von Gegebenheiten in beiden Beziehungen bloß möglich. Dieser dritte Sinn von Möglichkeit ist verantwortlich für die Möglichkeit anderer Stufenfolgen, in welche die zugrundeliegende Unterscheidung ebensogut hätte aufgelöst werden können. (PA, 76f.) Der dritte Sinn von Möglichkeit eröffnet nun eine Sphäre von prinzipiell unbekannten, aber denkmöglichen Möglichkeiten. Wir werden auf dessen Bedeutung beim Problem der Begründung der Glaubensgewißheit zurückkommen. Vgl. PA, 159.

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Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

in das die ganze Erfahrungswirklichkeit, die Anschauungsformen Raum und Zeit, aufgelöst werden können sollen.59 Dann wäre alles, was un59

Die Aufeinanderbezogenheit von Inhalt und Zeit liefert den Ansatzpunkt, die Zeit in ein Schema der Unterscheidungen einzubauen (PA, 77-100). Inhalt und Zeit sind nicht ohne einander. Da sich zwischen beiden Begriffen keine spezifische Unterscheidung finden läßt, bleibt nur übrig, daß sie identisch sind (PA, 77f.). Die Zeit ist in ihrem Verhältnis des Vorher und Nachher eine Anwendung desselben einen Grundverhältnisses. Der Jetztpunkt ist die Unterscheidung, der Zukunft und Vergangenheit als Unterscheidungsglieder auseinandertreten läßt. Die Zeit veranschaulicht damit aufs Klarste die Antinomie der Grundrelation, indem im Jetztpunkt Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig sind und durch diesen erst geschieden werden (PA, 79). Damit müßte auf die Zeitrelation ebenso das zwischen Relationen und Relationsglieder progressive und regressive Schema anwendbar sein (PA, 80f.). Mit Zeit und Raum ist unsere Erfahrungswirklichkeit angesprochen. Für Heim stellt sich damit die Frage der Quantifizierbarkeit der Stufen- und Gliederzahl der Relationsmöglichkeiten, weil ohne Grenze für unser Bewußtsein Erfahrung nicht Zustandekommen kann. Das Tonerlebnis als Beispiel für die Zeitrelation und das Farben- und Richtungserlebnis als Beispiel für die Raumrelation liefern ihm zwei- und dreifache Relationsstufen und -glieder (PA, 81f.). Für die Zeit ergibt sowohl die Stufen- als auch die Giederzahl eine Zweiheit, beim Raum beläuft sich die Gliederzahl auf drei, die Stufenzahl dagegen ebenfalls auf zwei (PA, 82). Indem Heim die Tiefendimension als das Ineinanderverwobensein von Raumlinie und Zeitstrecke aufweist, bestätigt er, daß die Annahme einer zweifachen und dreifachen Unterscheidungsmöglichkeit ausreicht, um unsere empirische Raumanschauung daraus zu entwickeln (PA, 90). So kommt die Tiefendimension, also das räumliche Sehen, durch die Rückverwandlung einer Raumlinie in eine gleichwertige, gleiche Stufenfolgen besitzende, Zeitstrecke zustande. Aus einer gerichteten Linie, die durch dreifache Unterscheidungsglieder zustandekommt, wird, indem diese sich in zweifache Glieder verwandeln - was eine Zeitstrecke bedeutet - räumlich gesehen ein Punkt. Das bedeutet, daß Distanz nur auf indirektem Wege zum Bewußtsein kommt, indem die räumliche Distanz an der zeitlichen Distanz bemessen wird. (PA, 90f.) Der Zusammenhang von räumlichem

Erkenntnistheoretischen Grundposition

45

sere räumlich-zeiüiche Empfindungswelt ausmacht, als eine Summe verschiedener Komplikationen einer zweifachen und dreifachen Urunterscheidung auszumachen. Nach Heim bestünde damit also Hoffnung auf die Aussicht, daß beim Fortschreiten der Wissenschaft, alle Unterschiede im Gebiet der Sinnenwelt sich mathematisch ausdrücken lassen werden. Das Neue an Heims Konzeption des Zusammenfallens von Naturwissenschaft und Logik betrifft zunächst weniger die Rolle des Naturgesetzes als diejenige der Logik. Das Naturgesetz soll eher beispielhaft für die Bedeutung des logischen Gesetzes sein. Nachdem das Naturgesetz Ausdruck der Mathematisierung der Wirklichkeit war, soll dies nach Heim nun auch vom logischen Gesetz gelten. Die Logik soll also insofern dem Status der Naturwissenschaft gleich sein, indem auch sie die Mathematisierung der Wirklichkeit beschreibt. Neu ist daran weniger die erstrebte Affinität der Logik zur Mathematik als die Anforderung an die Logik, entsprechend dem Naturgesetz die Wirklichkeit zu beschreiben. Diese Forderung hat zum Hintergrund die schon erwähnte Heimsche Identifizierung von Bewußtsein und Wirklichkeit. Mit jener Identifizierung von Bewußtsein und Wirklichkeit gewinnt Heims Logikkonzeption eine ungewöhnliche Brisanz auch für die Rolle des Naturgesetzes. Heim rechnet damit nämlich auch die Grundbegriffe der Naturwissenschaft unter die allgemeinen Begriffe. Im Naturgesetz wird demnach das formuliert, was für das Zustandekommen von aller Wirklichkeit gilt, daß sie sich aus einem mathematisierbar relationalen

Bild und zeitlich verlaufenden Empfindungsgruppen hat sich nach Heim durch lange Gewohnheit so eng verbunden, daß wir sie nur mit Mühe voneinander losgelöst denken können (PA, 90).

46

Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

Geschehen zusammensetzt. Das Verhältnis von Naturgesetz und Wirklichkeit erfährt demnach bei Heim eine enge Beziehung. Wird dem Bewußtsein nicht mehr eine Metaebene zur Wirklichkeit zuerkannt, sondern wird beides auf ein gleiches Grundprinzip zurückgeführt, das Kern der Logik ist, dann wird aus einer bedingten Wirklichkeitserkenntnis des Naturgesetzes eine unbedingte. Die Unbedingtheit betrifft die Beschreibung der empirischen Wirklichkeitsverhältnisse. Die Mathematiserung der Wirklichkeit ermöglicht, unter der Voraussetzung der Identität von Bewußtsein, Logik und Wirklichkeit, nicht nur eine ausgegrenzte Wirklichkeitserkenntnis durch das Naturgesetz, die nur unter Abstraktionsbedingungen funktioniert, sondern das in diesem Rahmen der Identität von Bewußtsein, Logik und Wirklichkeit erweiterte Naturgesetz würde die grenzenlose Erkennbarkeit empirischer Wirklichkeit insofern garantieren, als die Mathematisierung der Wirklichkeit als die adäquate Wirklichkeitsbeschreibung manifestiert wäre. Die Mathematisierung wäre nichts anderes als die Erhebung der Wirklichkeitsstruktur, indem das Bewußtsein in seiner Relationalität als mit dieser identifiziert wird. Wenn das Bewußtsein in seiner Relationalität mit der Wirklichkeit identisch ist, und die Mathematisierung diese Identität veranschaulicht, was kann dann das Bewußtsein unter diesen Bedingungen erkennen? Das Naturgesetz drückt bekanntlich inhaltliche Erkenntnis aus. Es beschreibt Empirie in der Form mathematischer Formeln. Der Logik als dem Strukturprinzip der Wirklichkeit käme somit die Funktionsbeschreibung der mathematischen Formeln zu. Naturgesetz und Logik verhielten sich also wie Inhalt und Form. Der Relationalität des Bewußtseins, die die Beschreibung dieses formalen Strukturprinzips ist, käme dann nur Erkenntnis im Sinne der Mathematik, also rein formal zu. Wird so Bewußtseinserkenntnis mit mathematischer Erkenntnis identifiziert, dann

Erkenntnistheoretischen Grundposition

47

ist ihr rein formaler Charakter erwiesen. Die Relativierung von Inhaltserkenntnis ist damit zum Prinzip erhoben, indem alle Inhalte in Formeln, das heißt in Relationen eingebettet sind. Der Erweis der Logik als mathematische Strukturierung empirischer Wirklichkeit wäre damit die negative Grundlage für die Denkmöglichkeit des Glaubens. Denn innerhalb der empirischen Wirklichkeit treten inhaltliche bzw. absolute Behauptungen auf, die aber samt und sonders innerhalb einer mathematisch-strukturierten Wirklichkeit keinen Begründungsrückhalt haben können und daher auf eine andere Ordnung verweisen. Die Logik als mathematisches Strukturprinzip sowohl empirischer Wirklichkeit wie der des Bewußtseins, führt mit ihrer Relationalität der Inhalte somit zur Erschütterung eines "objektiven" bzw. "intersubjektiven" Gewißheitsmaßstabes. Das kann veranschaulicht werden an der Verwobenheit der relationalen Anschauungsformen Raum und Zeit mit bestimmten inhaltlichen Festlegungen.60 Die Relationalität der Anschauungsformen Raum und Zeit führt zu der nur relativen Unterschiedenheit von innerer und äußerer Wahrnehmung61, wie auch zur Relativierung der Ich-Vorstellung62, weil sie als Inhalte durch eine endliche Festlegung der prinzipiell unendlichen Relationalität der Anschauungsformen Zustandekommen. So handelt es sich dann bei innerer und äußerer Wahrnehmung nur um verschiedene Inhaltsordnungen des Bewußtseins.63 Was Realität ist, läßt sich nur durch lineare Zeitvorstellung fest-

60

Vgl. PA, 77-100.

61

Vgl. ebd., 100-107. Vgl. ebd., 107-115. Vgl. ebd., lOlf.

62 63

48

Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

legen.64 Nach Heims Ansatz ist aber auch die Linearität der Zeit, also das Verhältnis von Vorher und Nachher, nur relativ. Zeitlicher Unterschied kommt nur durch inhaltlichen Unterschied zustande. Zeitliche Identität ist inhaltliche Identität und umgekehrt.65 Das bedeutet aber nichts anderes als einen nur relativen Unterschied von "Illusion" und sogenannter "Realität". Was das eine oder andere ist, bestimmt die Festlegung der linearen Zeitordnung.66 Dasgleiche, was die Linearität der Zeit bedeutet für den Unterschied von innerer und äußerer Wahrnehmung, von Imagination und Empfindung, von Illusion und Realität, bedeutet nach Heim ein bestimmt orientiertes Raumbewußtsein für die empirische Ich-Vorstellung.67 Auf der Relativierung der Ich-Vorstellung liegt das Schwergewicht von Heims Argumentation.68 Sie ist Voraussetzung für die Identifizierung von Bewußtsein und Wirklichkeit und damit deren Mathematisierbarkeit. Die Relativierung der empirischen Wirklichkeit durch Mathematisierung er64

65 66

67

Vgl. ebd., 106. Vgl. ebd., 77ff. Vgl. ebd., 106f. Vgl. ebd., 107-114. Wie nun zwischen Imagination und Empfindung nur eine relativer Unterschied besteht, so besteht nach Heim ein ebenso relativer Unterschied zwischen dem Sich-Hineindenken in ein anderes Personbewußtsein und dem Erleben des eigenen persönlichen Bewußtseins. Die empirische Ich-Vorstellung ergäbe sich damit aus einer Summe verschiedener möglicher raum-zeitlicher Inhaltsordnungen. Denn auch für die Vorstellung einer Pluralität von Ich zeigt sich die in der Grundrelation enthaltene Antinomie. Um mehrere Ich zu unterscheiden, müssen sie in einem Bewußtsein vereinigt sein, damit die Unterscheidung Zustandekommen kann. Aber gerade in diesem Akt treten sie als

68

Mehrheit auseinander (vgl. ebd., 114f.). Wie wir noch sehen werden, erhebt Heim seine Relativierung der Ich-Vorstellung zum wichtigsten kritischen Argument gegen die Tradition.

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öffnet die Möglichkeit, verschiedene Wirklichkeitsordnungen gelten zu lassen, was so unterschiedliche Richtungen meinen kann, wie einmal die des Glaubens, ein ander mal die der Naturwissenschaft Wenden wir uns nun unter dem Gesichtspunkt der Aufhebung einer "objektiven" Realität noch einmal der Aussagekraft des Naturgesetzes zu, da dies bei Heim exemplarisch für Wirklichkeitserkenntnis stehen soll. Das Naturgesetz ist die Erforschung des Verhältnisses von Ursache und Wirkung. Da, wie Heim festgestellt hat, inhaltliche und zeitliche Identität zusammenfallen, sind alle Inhalte an Zeit gebunden. Das bedeutet, daß das Naturgesetz nur in Bezug auf eine bestimmte Zeitordnung gelten kann. Es kann also nicht gleiche Inhalte zu verschiedenen Zeiten geben, sondern, tritt eine zeitliche Unterscheidung ein, muß derselbe Inhalt verschiedene Relationen eingegangen sein, ist also nicht mehr er selbst.69 Diese Bindung der Inhalte an die Zeit ergibt dann für ein bestimmtes Zeitsystem eine bestimmte Aufeinanderfolge der Glieder einer Kausation. "Ein gesetzmäßiger Zusammenhang zwischen Ereignissen oder ein Verhältnis von Ursache und Wirkung, ist somit die eine undefinierbare Grundrelation, sofern dieselbe zwischen zwei Unterscheidungsgliedem besteht, die innerhalb eines bestimmten Zeitsystems möglicher Inhaltsordnungen nur in möglicher Relation zueinander vorkom69

Daraus entwickelt Heim eine Deutung des Gesetzes der Konstanz der Energie, wie der Konstanz der Materie (ebd., 122ff.). Innerhalb seines Systems ist dann eine Vennehrung oder Verminderung der Energiequantität durch den Zeitforschritt undenkbar. Denn die Einheit der Unterscheidungsstufe, die die einzige Quantitätseinheit ist, ist eben zugleich die Zeitstufe. Das Bewußtsein des Zeitfortschritts konstituiert sich nur durch den Umsatz von je einer Stufe in eine andere (ebd., 1240- Das ist das Gesetz der Konstanz der Energie, wobei das Gesetz der Konstanz der Materie ein Spezialfall dieses Gesetzes ist, indem es für solche Zeitpunkte gilt, die zugleich Raumpunkte sind (ebd., 126).

50

Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

men können."70 Damit ist auch der Rahmen der Gültigkeit eines Naturgesetzes abgesteckt. Jeder bestimmte Inhalt eines Naturgesetzes "gilt nur relativ zu einer bestimmten Gesamtordnung. Relativ zu dieser Ordnung kann die Befolgung der Gesetze als notwendig, das Gegenteil davon als unmöglich bezeichnet werden"71. Dies gilt aber nur relativ zu der empirischen Ordnung. Logisch, also nicht inhaltlich sondern relational, betrachtet, das heißt nach Maßgabe des progressiven und regressiven Schemas von Relationen und Relationsglieder, ist ein Abweichen von den Gesetzen sehr wohl vorstellbar. Hier "liegt alsoNeine unendliche Summe von Möglichkeitsgebieten, welche total andere Gesamtordnungen des Inhalts repräsentieren, den unser jetziges Bewußtsein in der einen uns bekannten Gesamtordnung zusammenfaßt"72. Da das Naturgesetz also - wie alle Gesetze - immer nur im Hinblick auf eine Gesamtordnung formuliert werden kann, bleibt alle Erkenntnis im Konditionalen verhaftet. Es ist von daher unmöglich ein inhaltlich bestimmtes Gesetz für immer gültig zu formulieren, wohl aber, die in der Grundrelation enthaltene Form möglicher Gesetzmäßigkeit73 Die Erschütterung objektiver bzw. intersubjektiver Erkenntnis bezieht sich also nur auf bestimmte inhaltliche Aussagen. Objektiv dagegen bleibt die formale Tatsache, daß inhaltliche Erkenntnis relativ ist. Diese Aussage ist allgemeingültig.74

70

EM., 132.

71

Ebd., 133. Ebd., 133. VgLebd. Hier verwickelt sich Heim jedoch schon in einen seiner Widersprüche, indem doch auch diese Behauptung der Objektivität der Relativität inhaltlicher Erkenntnis eine inhaltliche Behauptung und somit relativ ist.

72

73 74

Erkenntnistheoretischen Grundposition

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Wie läßt sich unter diesem Gesichtspunkt das Verhältnis von Naturgesetz und logischem Gesetz beschreiben? Inwiefern ist der Erkenntniswert des Naturgesetzes beispielhaft für alle Erkenntnis? Heim hat dies nicht eigens ausgeführt, aber es läßt sich erschließen: Das Naturgesetz behauptet inhaltliche Erkenntnis. Indem Heim auch das Naturgesetz auf die Grundrelation zurückfuhrt, wird dessen inhaltliche Erkenntnis in seiner Relativität festgehalten.75 Relativität gehört demnach zur naturwissenschaftlichen, empirisch-inhaltlichen Erkenntnis hinzu.76 Die Beispielhaftigkeit erweist sich demnach darin, daß das Naturgesetz als solches die Relativität empirisch-inhaltlicher Erkenntnis exemplifiziert. Was bedeutet das für das logische Gesetz, das ja als Exemplar formaler Erkenntnis gelten kann? Das logische Gesetz behauptet formale Erkennntis. Aber die relationale Beziehung von Inhalt und Relation gilt natürlich nicht nur für den Inhalt, sondern auch für die Relation, also die Form. Wir können somit das logische Gesetz als die Kehrseite des Naturgesetzes bezeichnen. Ihre erkenntnistheoretische Gleichstellung läßt sich an ihrem gleichen Verhältnis zu wahr und falsch ablesen. Die Identität von Logik und Bewußtsein ist die Quintessenz von Heims Erkenntnistheorie.77 Diese aber ist nichts anderes, als daß es Erkenntnis im eigentlichen Sinne nicht geben kann. Ist nämlich das Prinzip der Abstraktion, der Identitätssatz bzw. der Satz des Widerspruchs, zum Grundprinzip des Bewußtseins überhaupt erhoben, dann ergibt sich daraus die Konsequenz, daß es keine Übertretung des logischen Gesetzes gibt. Das Bewußtsein hat immer recht. Es macht nichts anderes, als daß 75 7

6

77

Vgl. i.flgd. ebd., 132f. Das hat Heim demnach vor Einstein für die Naturwissenschaft entdeckt Vgl. ebd., 146.

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Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

es Inhalte unterscheidet.78 Logische Fehler können aber trotzdem auftreten. Aber nun nicht durch "falsches" Denken, sondern immer nur im Verhältnis zu einer festgelegten empirischen Ordnung.79 Solche Ordnung ist nach Heim z. B. die Sprache. Sie ist bei ihm nichts anderes als eine empirisch festgestellte Terminologie.80 Zu einer solchen empirisch festgestellten Ordnung gehört auch die Zeitordnung.81 Übertreten werden kann nur ein empirisches Gesetz, das heißt ein Gesetz, das fest verknüpft ist mit einem empirischen Inhalt, kein logisches Gesetz, das heißt kein von Inhalten gelöstes, auf den Satz des Widerspruchs reduzierbares Gesetz. "Wahr" und "falsch" gibt es dann für die Logik nur relativ zu einem empirischen Datum.82 Naturgesetz und logisches Gesetz kommen also damit überein, daß wahr und falsch Begriffe werden, die sich nur auf die Bezogenheit zu bestimmten empirischen Inhalten, also auf die Bezogenheit innerhalb eines Beziehungsgefüges anwenden lassen. Das heißt, daß sie Verhältnischarakter haben. Dadurch verlieren sie aber ihre eigentliche Bedeutung, Erkenntnisvvtfr/ zu bezeichnen. Wahrheitserkenntnis und damit Erkenntnis in eigentlichem Sinne hat Heim also für die Logik ausgeschlossen. Auch die Logik kann also nicht begründend über das Verhältnis von Relation und Inhalt hinausgelangen. Ihr gebührt in Bezug auf Erkenntnis keine Sonderstellung.83 Nichts anderes soll der Formalismus der Logik 78 79

80 81 82

83

Vgl. ebd., 147. Vgl. ebd., Vgl. ebd., 147-153. Vgl. ebd., 150ff. Vgl. ebd., 153. Heim entmythologisiert die Logik dann auch radikal, indem er die logische Begriffsbildung stmktural mit der sinnlichen Empfindung parallelisiert. Die logischen Gesetze enthalten nach Heim nichts, was nicht schon in der rohesten

Erkenntnistheoretischen Grundposition

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zur Fundierung einer Erkenntnistheorie beitragen. Die ganze Logik läßt sich auf die Grundrelation zurückführen84, die selbst kein Erfahrungsi'nhalt sein kann. Die Grundrelation ist auch noch kein Gesetz, da Gesetze durch ihre Konditionalität immer schon gewissen Inhaltsordnungen unterliegen. Die Grundrelation ist aber gerade das, was alle Inhalte erst ermöglicht.85 Ob sie selbst zum Inhalt weiden kann, ist für unser Bewußtsein eine nicht zu beantwortende Frage. Denn als Grundrelation unterscheidet sie sich von allen übrigen Relationen, die bei Heim sämtlich durch Relativität gekennzeichnet sind86 dadurch, daß sie selbst nie Inhalt werden kann.87

84 85

86 87

Empfindung enthalten ist, nämlich die Unterscheidung eines Identischen von einem mit ihm Nichtidentischen. Beide lassen sich auf die Grundrelation der Unterscheidung zurückführen. Indem Raum und Zeit und damit die Sinnesempfindung auf die Unterscheidungsrelation zurückgeführt werden, enthält die roheste Empfindung schon das, was die Begriffsbildung ausmacht, nämlich das Prinzip der Abstraktion, die Unterscheidung eines Identischen von einem Nichtidentischen (Vgl. ebd., 134). Nach Heim kann auch nur noch ein relativer Unterschied bestehen zwischen sogenannten "Bewußtseinsfunktionen", und dem sogenannten "bewußtlosen" Naturgeschehen. Er zeigt dies anhand der Relativierung des Unterschieds von Energie und Wille. So unterscheiden sich nach Heim das, was man im menschlichen Leben Wille nennt und das, was man in Bezug auf das Naturgeschehen Energie nennt nur durch die Anwendung. "Gewisse Funktionen des menschlichen Organismus, als bloße Möglichkeit betrachtet, nennt man Wille. Prozesse, die außerhalb dieses bestimmt abgegrenzten Gebiets liegen, als bloße Möglichkeiten betrachtet, nennt man Energie" (Vgl. ebd., 118). Vgl. ebd., 135. Vgl. ebd., 136, 154. Was Inhalt ist, kann Relation werden, und was Relation Inhalt (Vgl. ebd., 71). Vgl. ebd., 136.

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Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

Mit der Mathematisierung der Wirklichkeitsverhältnisse wäre aber Heims Ziel erreicht: der Auf weis der Relationalität und damit der Relativität aller Bewußtseinsinhalte. Nichts anderes soll bei ihm der Formalismus der Logik leisten.88 Hier läßt sich schon erkennen, daß mit der Mathematisierbarkeit unserer Erfahrungswirklichkeit der Formalismus der Logik auch ein offenes Gebiet für eine unsere Erfahrung übersteigende Wirklichkeit als Möglichkeit liefert, die dann auch eine Begründung der Glaubensgewißheit möglich macht. Nämlich, die logisch auszuweisende Relativität der Inhalte wird von der Erfahrungswirklichkeit als unzureichend regisitriert. Sie bekundet dies in allen weltanschaulichen Behauptungen, die sämtlich Inhalte verabsolutieren wollen. Heims Logikkonzeption hat damit ein Dilemma sowohl auf Seiten des Denkens als auch auf Seiten der Erfahrung offengelegt. Das Denken will Einheit, absolute Gewißheit. Dieser Anspruch kommt im Satz des Widerspruchs, dem Grundprinzip der Logik, zum Ausdruck. Eine Analyse dieses Satzes, so wie Heim sie in der Gewißheitsschrift unternommen hat, hat nun allerdings gezeigt, daß der Satz des Widerspruchs, entkleidet von seinen unbewiesenen empirischen Voraussetzungen, gar nicht in der Lage ist, endgültige Aussagen zu machen aufgrund seines formelhaft-relationalen Charakters. Er kann gar keine inhaltlichen Aussagen treffen, also auch keine Behauptungen über Wirklichkeit oder Möglichkeit absoluter Gewißheit Die Erfahrung auf der ändern Seite wird durch die Logik ihres antinomischen Charakters überführt. Die Reflexion der Erfahrungswirklichkeit legt deren prinzipielle Widersprüchlichkeit offen. Gleichzeitig finden sich aber absolute Behauptungen als empirische Realität 88

Vgl. ebd., 154.

Erkenntnistheoretischen Grundposition

SS

Es läßt sich also feststellen, daß sowohl das Denken in seinem Anspruch als auch die Erfahrung in ihrer Behauptung, Absolutheitsforderungen stellen. Eine Analyse aber beider Seiten läßt, logisch gesehen, für keine der beiden Seiten die Verifizierung dieser Forderungen zu. Innerhalb der Logik bleiben Denken und Erfahrung an die antinomische Wirklichkeit gebunden. Die Realität der Forderung weist damit über den Raum des logisch Nachweisbaren hinaus. Das gilt wie für den Glauben ebenso für jede Weltanschaung und, verfahren wir mit Heims Analyse stringent, sogar, wie wir gesehen haben, für den Satz des Widerspruchs selbst. Auf diesen Verweisungscharakter des Satzes des Widerspruchs selbst werden wir im Rahmen der Darstellung des Gewißheitsproblems noch eingehen. d. Ergebnis Wie reiht sich Heim von daher in die erkenntnistheoretische Tradition ein? Im Ganzen betrachtet, hat Heim sein erkenntnistheoretisches Vorgehen als Versuch einer Weiterführung des Kantschen Kritizismus gesehen.89 Dies zeigt sich in der Psychologismusschrift im Hinblick auf folgende fünf Punkte: 1. Die Entmythologisierung der "Vermögen". Indem schon räumliche und zeitliche Sinnesempfindungen durch die Unterscheidungsrelation - also die Unterscheidung von Identischem und Nichtidentischem - strukturiert sind, kann das Abstraktionsprinzip nicht mehr auf ein besonderes Vermögen (Verstandesleistung) zurückgeführt werden, sondern ist Grundprinzip des Bewußtseins überhaupt. 2. Die Aufdeckung der Antinomie als Grundcharakter der Wirklichkeit. 89

S. schon PA, 159, W 238, des weiteren in GuL, "Ich gedenke...", 96 und vor allem GG3, 2.+3. Kapitel.

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Die Entwicklung des Gewißheitsproblems Es ist nicht ein Mangel an Vernunft, wenn die Antinomie, die in der

Grundrelation enthalten ist, nicht aufgelöst werden kann, es ist dies nicht eine Antinomie der Vernunft, sondern die prinzipielle antinomische Beschaffenheit der Präsentation von Wirklichkeit. 3. Das Aufbrechen der subjektivistischen Verengung des apriorischen Prinzips. Heims apriorisches Prinzip ist die abstrahierende Relation, die aller Wirklichkeit zugrundeliegt. Diese läßt Subjekt und Objekt relativ ineinander übergehen, indem sie bei jeder Unterscheidung Relation und Inhalt relativ ineinander übergehen lassen kann. 4. Der Formalismus der Logik. Mit dem Formalismus der Logik wird jeder metaphysischen Ausweitung und psychologistischen Verengung der Erkenntnis Einhalt geboten. 5. Die Aufhebung einer transzendentalen Fragestellung durch das Resultat der prinzipiellen Relativität von Erkenntnis. Die Frage nach dem Ermöglichungsgrund von Erkenntnis wird durch deren prinzipielle Relativität, wie sie im Formalismus der Logik angelegt ist, ad absurdum geführt. Aber: In allen fünf Punkten ließe sich auch anstelle einer Weiterführung ebenso gut eine Verabschiedung des Kritizismus sehen. Das Genuine der erkenntnistheoretischen Überlegungen Heims, die Mathematisierbarkeit der Wirklichkeitsverhältnisse und die darin implizierte absolute Relativierung theoretischer Erkenntnis, bescheinigen Heim sogar eher eine solche Verabschiedung des Kritizismus.

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1.1.22. Die gedanklichen Voraussetzungen für die Entfaltung der Grundformel Heims erkenntnistheoretische Hypothese ist also die Mathematisierbarkeit der Wirklichkeit. Mittels des Grundprinzips der Unterscheidung soll sich die Wirklichkeit auf mathematisch formulierbare Kompositionen und Dissolutionen zurückführen lassen, indem jeder mögliche Erfahrungsinhalt eine mathematisch bestimmte Anwendung des Grundprinzips sei. Im folgenden soll diese Hypothese im Hinblick auf die sie voraussetzenden Aspekte untersucht werden: Zunächst, indem die in der Hypothese enthaltenen impliziten Kritikpunkte traditioneller erkenntnistheoretischer Vorgaben herausgestellt werden. Sodann, indem wir fragen, welche Überlegungen als Motivation90 für die Kritik und Neugestaltung der Erkenntnistheorie gedient haben können, und welcher Methode sich Heim dabei bedient Mit dieser Untersuchung fällt die Entscheidung darüber, inwiefern wir schon für die ersten Anfange von Heims Denken ein Interesse an der Begründung der Möglichkeit von Glaubensgewißheit annehmen dürfen. Die kritisierten erkenntnistheoretischen Voraussetzungen lassen sich in vier Punkten zusammenfassen. Indem "Psychologismus oder Antipsychologismus" das Grundprinzip des Bewußtseins als eine undefinierbare Beziehung eines undefinierbaren Subjekts auf ein undefinierbares Objekt darstellt, ergibt sich dar-

90

Grundlage dafür biete die Schrift "Das Weltbild der Zukunft" (i.flgd. im Text zitiert mit "Weltbild", mit W nur bei Textbeleg in den Anm.), in der Heim, seiner Autobiographie zufolge, seinen ersten Entwurf einer Gesamtanschauung entwickelt hatte: "...diese Jugendschrift [hat] auch für mein späteres Forschen und Denken eine grundlegende Bedeutung behalten." Vgl. "Ich gedenke...", 96.

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Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

aus als Hauptkritikpunkt aller Erkenntnistheorie: die Verabsolutierung der Trennung von Subjekt und Objekt. Als Ursache für diese Trennung nennt Heim in seiner Schrift "Weltbild" die Ich-Introjektion. Sie erzeugt durch Perspektive eines Subjekts eine Weltdublette, die einen absoluten Unterschied zwischen Subjekt und Objekt begründet.91 Aus dieser Kritik einer "Subjektsperspektive" folgt zweitens eine weitere Kritik traditionell etablierter, erkenntnistheoretischer Unterscheidung, nämlich die Kritik einer absoluten Unterscheidung von passiver Sinnlichkeit und aktiver Verstandestätigkeit.91 Bei Heim unterscheiden sich beide nur relativ, indem er beiden dasselbe Grundprinzip zugrundelegt. Damit ergibt sich drittens eine Kritik der Ich-Vorstellung als zusammenfassende Apperzeptionsfunktion. Indem es weder eine absolute Unterscheidung von Subjekt und Objekt, noch von Sinnlichkeit und Verstand geben kann, muß auch die Ich-Vorstellung enthypostasiert werden, indem es für ein Ich gar keine besondere Ausübungsfunktion mehr gäbe. Das Leugnen exklusiver Verstandesfunktionen im menschlichen Gehirn, legt einen vierten Kritikpunkt nahe, nämlich die Kritik an der Hypostasierung der Kausalitätsvorstellung. Kausalität ist nach Heim nichts anderes, als die Anwendung des Grundprinzips und gilt gleichermaßen für "natürliche Vorgänge" wie für sogenannte Vorgänge im Gehirn. Das Grundprinzip wird auf inhaltliche Festlegungen angewandt, die sich aber selbst wieder dem Grundprinzip verdanken. Kein Bewußtsein kann je "hinter" die Kausalität schauen. Es gibt hier kein dahinter. Kausalität ist nichts weiter als "die Ordnung, nach welcher der so entstehende Wirk91

Vgl. W, 215, 234ff., 256ff.

92

Vgl. W, 220.

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lichkeitsverlauf seine eigenen Inhalte nach dem Prinzip der Identifikation des Identischen zusammenfaßt"93. Sie hat also nichts mit einer Berechenbarkeit des Weltlaufs zu tun. Da die Kritikpunkte zwei bis vier aus dem ersten Punkt der Kritik der Ich-Introjektion und der daraus folgenden Weltdublette folgen, werden wir nun auf diesen ersten Kritikpunkt näher eingehen, Die Motivation von Heims Überlegungen erfahren wir von ihm selbst, wie schon gesagt, aus der Schrift "Das Weltbild der Zukunft". Hier formuliert Heim die Alternative: "Entweder jene erkenntnistheoretischen Voraussetzungen sind richtig; dann haben die Glaubenssätze nur den Wert vager Hypothesen, und die Behauptung ihrer Gewißheit ist Wahnsinn, den man versuchen muß, mit allen Mitteln zu heilen. Oder der Anspruch auf religiöse Gewißheit hat ein Recht; dann sind die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen falsch, die ihn widerlegen"94. Diese Alternative nennt Heim als Anlaß, sich in die "Grundverhältnisse der Wirklichkeit"95 zu vertiefen. Seine methodische Verfahrensweise dabei ist die Überprüfung seiner eigenen erkenntnistheoretischen Überlegungen an der Philosophiegeschichte.96 Allein die geschichtliche Untersuchung gibt ihm nämlich schon Aufschluß über die Fragwürdigkeit aller bisherigen erkenntnistheoretischen Bemühungen. So zeigt ihm die Geschichte der Philosophie, daß die Philosophie in Bezug auf die Wahrheitsfrage um keinen Schritt vorankommt. Die Antwortversuche der abendländischen Philosophie pendeln immer wieder zwischen zwei extremen Positionen hin 93

W, 262f.

94

W, 255. W, 256. Vgl. W, 194-239.

95

96

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Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

und her. Als Erkenntnisprinzip gilt entweder Einheit oder Vielheit, Subjekt oder Objekt, Verstand oder Erfahrung. Durch Vergleich mit anderen (östlichen) Weltanschauungen macht Heim die Entdeckung, daß jede Weltanschauung jeweils durch anders bestimmte, festgelegte Unterscheidungen geprägt wird.97 Jedes philosophische System beruht demnach auf einer Gemeinschaft von Unterscheidungen. Es besteht also die Möglichkeit, ein solches System festliegender Unterscheidungen infragezustellen. Heim entdeckt die theoretische Gleichberechtigung der verschiedenen Denkstrukturen quer durch die Kulturen einerseits bei Einseitigkeit der jeweiligen Welterklärungsmodelle innerhalb einer Kultur andererseits, z. B. unserer abendländischen Denkgeschichte. Diese Einseitigkeit nun basiert auf den jeweils geltenden, festliegenden Unterscheidungen. Ist daher jedes Welterklärungsmodell kulturell bedingt, wird jeder Streit über kulturell verschiedene Modelle ad absurdum geführt, da die jeweiligen Modelle sich intellektuell ausschließen. Heims eigenständige erkenntnistheoretische Untersuchung gilt von daher dem Prinzip der Unterscheidung.98 Indem er so das Wesen der Unterscheidung befragt, kann er die Grundpfeiler herkömmlicher erkenntnistheoretischer Unterscheidung infragestellen. Er geht hinter deren - unhinterfragt vorausgesetzten - Unterscheidungen zurück. Die philosophiegeschichtliche Untersuchung wird also durch Heims eigene logisch-analytische Konzeption gestützt, indem es ihm gelingt, den Fehler bisheriger erkennntistheoretischer Modelle auf ein Prinzip zu reduzieren. Nun kann er mit der Philosophie im Ganzen abrechnen.99 97

Vgl. i.flgd. W, 14f.

98

Vgl. Heims Grundrelation (PA, 69-74).

99

Vgl. i.flgd. W, 207-224.

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Alles in allem werden die erkenntnistheoretischen Fundamente der abendländischen Philosophie als zu leicht befunden: Von der in extremen Unterscheidungspositionen konzipierten Philosophie ist nach alledem keine Antwort auf die Frage nach Wirklichkeitserkenntnis zu erwarten. Die Wirklichkeit zeigt nämlich, daß beide Extreme, zwischen denen die Philosophie innerhalb der Geschichte hin- und herschwankt, auf ihre Weise Recht haben. Ein außenstehender Beobachter wäre angesichts dieser Bestandsaufnahme rettungslos dem Skeptizismus preisgegeben. Aufgrund dieser Bilanz ergibt sich für Heim eine ganz neue Fragestellung. Seine philosophiegeschichtliche Untersuchung hat gezeigt, daß die Frage nach einer neuen Fundamentierung der Erkenntnistheorie nicht abwegig oder gar wunschgeleitet ist, sondern sich von der Situationsbeschreibung der Philosophie selbst nahelegt. Heims neue Frage ist nicht transzendental die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis. Er fragt nicht, was kann ich erkennen oder wie ist es möglich, daß ich erkenne. Vielmehr fragt er, wie sich das Wirklichkeitsgeschehen bekundet.100 Heim will analysieren, was die Konstituenten dessen sind, was wir Wirklichkeit nennen. Die erkenntnistheoretische Frage, ob es möglich ist, daß wir Wirklichkeit erkennen, will er gar nicht zulassen. Denn, indem er das Prinzip der Unterscheidung als Grundprinzip nicht nur des Bewußtseins, sondern auch der Wirklichkeit101 feststellt, macht er die Entdeckung, daß das, was sich bisher Erkenntnistheorie, Philosophie nannte und in Extrempositionen auseinanderfiel, immer ein Ausweichen vor dem Wahrnehmen der Wirklichkeit war. Die Wirklichkeit

100

101

Daß es ein Erkennen im erkenntnistheoretischen Sinn bei Heim nicht gibt, haben wir schon festgestellt und werden wir noch weiterhin bei der Behandlung des Gewißheitsproblems erfahren. Vgl.W,32-46.

62

Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

trägt den antinomischen Charakter, daß beide extremen Seiten zusammen die Wirklichkeit ausmachen, während die Philosophie immer jeweils eine der beiden Seiten der Unterscheidung verabsolutierte, und damit Wirklichkeit nicht in Blick kommen konnte.102 Heim beschreibt also Philosophiegeschichte als ein Ausweichen vor dem antinomischen Charakter der Wirklichkeit Beide erkenntnistheoretischen Seiten, die man in den jeweiligen Modellen für unvereinbar hielt, gehören zusammen und zwar in ihrer Unvereinbarkeit. Die Antinomie, die in diesem Zusammensein besteht, macht den Charakter von Wirklichkeit aus. Erkenntnistheorie war demzufolge immer das Bestreben, dieser Antinomie auszuweichen, weil diese dem Einheitsstreben, d. h. dem Bestreben des Denkens das Ganze zu erfassen, widerstrebte. Mit Hilfe seines Grundprinzips führt Heim also die Philosophie zurück auf ein Ausweichen des Denkens vor der Wirklichkeit Er kritisiert an der traditionellen Erkenntnistheorie, daß sie den antinomischen Charakter der Wirklichkeit immer versucht hat aufzulösen. Sie sah entweder im Objekt oder im Subjekt den Ursprung der Erkenntnis. Den Auflösungsversuchen der antinomischen Wirklichkeit verdankte Philosophie geradezu ihre Existenz, indem sie in der Einheitserkenntnis ihr Ziel sah.103 Der Ursprung der Philosophie ist damit ein Beispiel für die "Erstarrung des Grundverhältnisses104".

102 103

Vgl. W, 231.

Der "Kompensationsprozeß ist - die Geschichte der Philosophie" (W, 206). ° Vgl. W, 206. "Grundverhältnis" ist ein anderer Ausdruck Heims für die Grundrelation (Vgl. W, 221). Mit "Erstarrung des Grundverhältnisses" meint Heim, daß Unterscheidung und Einheit, Relation und Inhalt, nicht als lebendiges Verhältnis gesehen, sondern auseinanderdividiert werden (Vgl., W, 205). Der Grund dafür liegt in der Struktur des Denkens selbst Es ist auf Einheitserkenntnis (Vgl.,

1 4

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Mit dieser Einsicht in die erkenntnistheoretische Denkbewegung meint Heim, die Wurzel des Mißlingens sämtlicher Erkenntnisversuche abendländischer Philosophie gefunden zu haben. Das Denken ist auf Einheit, also auf das Absolute, gerichtet Die Antinomie der Wirklichkeit läßt aber diese nicht aus einer Relativität herauskommen. Die abendländische Erkenntnistheorie löste das Problem durch Einführen einer Weltdublette.105 Dadurch kann die erstrebte Einheit entweder in eine transzendentale Hinterwelt oder in eine introjezierte Innenwelt gelegt werden. Es findet also einmal eine metaphysische, das andere mal eine psychologistische Hypostasierung statt.106 Die Antinomie wird erträglich gemacht, indem man die zwei Glieder derselben auf zwei Welten107 verteilt, indem man zur ersten Welt eine zweite hinzuerfindet. Erkenntnistheorie muß dann als der Versuch diskreditiert werden, das verständlich machen zu wollen, was nicht zu verstehen ist. Die so als Scheinunternehmen verstandene Erkenntnistheorie ist nach Heim verursacht durch die Ich-Introjektion. Mit ihr beginnt die logische Illegitimität erkenntnistheoretischer Begründungsversuche. Sie ist logisch nicht legitim, weil auch sie ein Auflösungsversuch der Antinomie zwischen Absolutheit und Relativität ist. Der Auflösungsversuch betrifft hier die Bewußtseinsstruktur selbst, indem sie das Ich zur absoluten Bewußtseinsentität stilisiert.

W, 201) gerichtet, kann aber die Antinomie von Einheit und Unterscheidung nicht in eine höhere Einheit auflösen. 105 Vgl. W, 206. 106 vgl. W, 215-238. Hier werden offensichtlich die Auseinandersetzungsmomente des Psychologismusstreites aufgenommen. 107 Subjekt - Objekt; Verstand - Sinnlichkeit; Objekt - Ding an sich; Ich - NichtIch; etc.

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Die Entwicklung des Gewißheitsproblems Die Ich-Intrqjektion hat sich Heim demnach als der Beginn philoso-

phischer Fehlentwicklung gezeigt. Genau auf die Ich-Introjektion will Heim nun den Konflikt zwischen traditioneller Erkenntnistheorie und dem Glauben zurückführen.108 Sie ist es, was der Denkmöglichkeit des Glaubens ein unüberbrückbares Hindernis in den Weg legt. Sie will rationalisieren, wo es nur Faktizität gibt. Sie will den unberechenbaren Entscheidungen der Wirklichkeit entgehen. Sie bietet dem Menschen die scheinbare Möglichkeit, dem faktischen Sachverhalt auszuweichen, daß er sich entscheiden muß, für die Wahl seiner Entscheidung aber keine theoretischen Gründe angeben kann. Faktisch besteht jedoch die Absolutheit des Wählenmüssens. Heim hat herausgearbeitet, daß die Wirklichkeit sich in fortlaufenden Entscheidungen vollzieht, und zwar bei der Relativität der Werte der verschiedenen Möglichkeiten. Jede Entscheidung beruht auf der Zufälligkeit einer inhaltlichen Begegnung, die rational genausogut durch eine andere hätte ersetzt werden können. Mit dieser seiner Konzeption von Bewußtseinsstruktur will Heim den Erkenntnisanspruch der Religion als "erkenntnistheoretischen" Lösungsversuch den Lösungen traditioneller Erkenntnistheorie gegenüberstellen.109 Aber mit dieser gleichwertigen Gegenüberstellung bleibt Heim eigentlich hinter seiner eigenen erkenntnistheoretischen Entdeckung zurück. Denn Heims Theorie läuft letztlich darauf hinaus, den Lösungsversuch der Religion als leistungskräftiger zu erweisen. Denn vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus betrachtet, behauptet die Religion das als Wirklichkeit, was wirklich ist: Die irrationale Hervorhebung einer Entscheidung. Sie tut dies erkenntnistheoretisch insofern legitim, als 108 Vgl. PA, 256ff. 109

Vgl. W, 256.

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sie gar nicht beansprucht, diese Entscheidung rational begründen zu können. Eine Erkenntnistheorie, wie Heim sie im Auge hat, hätte genau diesem realistischen Sachverhalt Rechnung zu tragen. Damit hat sich ein enger Zusammenhang von "Weltbild" und "Psychologismus oder Antipsychologismus" hergestellt, derart daß die Ursprünglichkeit der Gedanken in "Weltbild" erwiesen ist Die im "Weltbild" geforderte "Analyse der Grundverhältnisse der Wirklichkeit", findet sich, wie wir gezeigt haben, schon vor "Weltbild" in "Psychologismus oder Antipsychologismus". Man darf also mit gutem Grund voraussetzen, daß Heims Analyse in "Psychologismus oder Antipsychologismus" auch schon durch die im "Weltbild" formulierte Alternative motiviert war. Der Ausgangspunkt ist dort allerdings nicht das Verhältnis von Bewußtsein und Wirklichkeit, wie im "Weltbild", sondern - veranlaßt durch die Husserlsche Logikfrage - das Verhältnis von Bewußtsein und Logik. Die Klärung dieses Verhältnisses ist aber eine direkte Vorbereitung zur Klärung jenes Verhältnisses. Heim äußert in "Weltbild", daß das System festliegender Unterscheidungen in ihrer Unerkanntheit, durch das die Philosophiegeschichte sich bestimmt zeigt, die Wurzel des Übels erkenntnistheoretischer Stagnation110 ist. Die von daher gefragte Untersuchung des Wesens der Unterscheidung, finden wir nun schon in "Psychologismus oder Antipsychologismus", also vor seiner Beschreibung der Denkgeschichte in "Weltbild". Von daher läßt sich vermuten, daß Heims Motivation, die in "Weltbild" explizit formuliert ist, schon für die Zeit der Abfassung von "Psychologismus oder Antipsychologismus" im Kern bestand. "Weltbild" beschreibt, daß das Ausweichen vor der Antinomie der Wirklichkeit zur "Ich-Introjektion" und zur "Weltdublette" führt, die 110

Vgl. W, 17.

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Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

entweder in metaphysischen oder psychologistischen Hypostasierungen überwunden werden will. Der Kritik dieses Fehlers metaphysischer oder psychologistischer Hypostasierungen ist nun die ganze Schrift "Psychologismus oder Antipsychologismus" gewidmet. Dieselbe Antinomie, die im "Weltbild" in die Wirklichkeit gelegt wird, finden wir in "Psychologismus oder Antipsychologismus" im Bewußtsein. Dabei nimmt für unser Erkennen das Bewußtsein dieselbe Stellung ein, wie die Wirklichkeit. Wie wir nicht hinter die Wirklichkeit zurückfragen können, so auch nicht hinter das Bewußtsein. Es ist logisch nicht möglich, das Bewußtsein zu isolieren. Als vornehmlicher Kritikgegenstand Heims an traditioneller Erkenntnistheorie hatte sich in "Weltbild" die Ich-Introjektion herausgestellt. Eine Kritik der Ich-Introjektion durchzieht aber schon die Kritik an Husserls Ich-Vorstellung111, wie auch die Präsentation seiner eigenen Gedanken in "Psychologismus oder Antipsychologismus"112 . Nach allem ist daher das Interesse einer erkenntnistheoretischen Begründung der Glaubensgewißheit schon vor "Weltbild" auch für "Psychologismus oder Antipsychologismus" anzunehmen.113 Man kann dieser Schrift also mit Recht Grundlegungscharakter für die Gewißheitsschrift zuerkennen. 111

112

113

Dies zeigt sich in der Kritik gegenüber Husserl, daß dieser zu dessen erster erkenntnistheoretischen Linie, die das Ich richtig als reale Erlebniskomplexion faßt, eine zweite beibehalte, die das Ich hypostasiere (Vgl. PA, 5). Vgl. PA, Kap.6, Die Pluralitat der Ich, 107-115. Hier führt er diejenige IchVorstellung, die eine Bewußtseinslokalisierung im Gehirn impliziert, auf eine Mythologisierung räumlicher Inhaltskomplexe, den Körpern, zurück. Dies gilt vor allem auch darum, weil dieses kompakte Werk "Weltbild", das den ganzen Ansatz Heimschen Gedankenguts enthält, schon in so kurzem Abstand (2 Jahre) auf "Psychologismus oder Antipsychologismus" folgt.

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/./ .23. Der Grundlegungscharakter der Psychologismusschrift (Zusammenfassung) Wir haben aufgezeigt, daß für die wesentlichen Überlegungen in "Psychologismus oder Antipsychologismus" schon die Gedanken zur Begründung einer Denkmöglichkeit der Glaubensgewißheit leitend waren. Nun wollen wir quasi die Probe machen und umgekehrt, für die Denkmöglichkeit der Glaubensgewißheit, die Überlegungen in "Psychologismus oder Antipsychologismus" als Voraussetzung aufweisen. Dies läßt sich an folgenden Punkten festmachen: 1. Für die Denkmöglichkeit der Glaubensgewißheit ist es nach Heim Voraussetzung, daß deren Verhältnis zum logischen Gewißheitsanspruch geklärt ist. Der Glaube muß vom logischen Gewißheitsanspruch aus als denkmöglich betrachtet werden. Das Thema der Schrift "Psychologismus oder Antipsychologismus" ist die Klärung des Wesens der Logik. Sie gehört somit von ihrem Gebiet her zur Grundvoraussetzung der Arbeit am Problem der Glaubensgewißheit. 2. Das Grundprinzip der Logik, so wie es im Satz vom Widerspruch formuliert ist, ist mit der Glaubensgewißheit unvereinbar. Da der Satz vom Widerspruch aber immer gilt, wählt Heim den einzigen Ausweg für eine mögliche Vereinbarkeit. Er geht auf dessen Voraussetzungen zurück. Diese Voraussetzungen sind: Subjekt, Ort, Zeit. Nur wenn die vom Satz des Widerspruchs als unbewiesen übernommene exklusive Existenzweise dieser drei Anschauungs-bzw. Erfahrungsformen114 als Ursache für den Widerstreit ausgemacht werden kann, wenn also der

!4 Indem Heim auch das Ich als Anschauungsform ausweist, zieht er es offensichtlich vor, anstelle von Anschauungs- von Erfahrungsformen zu reden, da jener Begriff im Gegensatz zu diesem eine absolute Subjekt-Objekt-Trennung voraussetzt.

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Satz des Widerspruchs ohne Rekurs auf die Erfahrungsformen formuliert werden kann, ist Glaubensgewißheit möglich. Der Untersuchung dieser, im Satz des Widerspruchs enthaltenen, lehnweise übernommenen, Voraussetzungen, widmet sich aber die Schrift "Psychologismus oder Antipsychologismus". Heim führt hier, wie wir gesehen haben, die drei Erfahrungsformen auf das eine Grundprinzip zurück, das seinerseits Kern der Formulierung des Satzes vom Widerspruch ist. Das Problem der Unvereinbarkeit der beiden Gewißheitsmaßstäbe war damit auf die Existenzweise der Erfahrungsformen zurückgeführt. Angesichts deren Reduktion auf ein Grundprinzips kann also die Exklusivität der Erfahrungsformen durchbrochen werden, indem dann auch diese in der Relativität von Inhalt und Relation gründen, das heißt Inhalt und Relation immer ineinander überführt werden können. Es läßt sich alles in Relationen auflösen. So werden auch Subjekt und Objekt relativ und damit die Durchbrechung der Exklusivität zwischen Ich und Du, Ich und Gott denkmöglich. Denn wenn Objektsein immer nur relativ ist, gibt es nicht prinzipiell den Ändern, sondern nur innerhalb einer bestimmten Erfahrungsordnung, die aber in einer anderen Ordnung wieder aufgehoben werden kann. Die Exklusivität der Erfahrungsformen wurde als das Haupthindernis für die Denkmöglichkeit der Glaubengewißheit gezeigt. Dieses wird durch die Reduktion des Satzes vom Widerspruch auf das Grundprinzip der einen Grundrelation und damit der Bindung der Exklusivität an die bestimmten Erfahrungsformen ausgeräumt. 3. Durch die Verflechtung des logischen Grundprinzips mit den Anschauungs- bzw. Erfahrungformen, muß zwischen empirischer Notwendigkeit und Denknotwendigkeit unterschieden werden. Nur wenn die in den Anschauungsformen begründeten Gewißheitsforderungen als nur

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empirisch notwendig ausgewiesen werden können, ist Glaubensgewißheit möglich. Auch die Unterscheidung von empirischer Notwendigkeit und Denknotwendigkeit wird in "Psychologismus oder Antipsychologismus" vorbereitet. Wie wir ausgeführt haben, macht Heim dort deutlich, daß alles, was wir "logische Fehler" nennen, nicht eine Übertretung denknotwendiger Gesetze ist, sondern nur die Übertretung einer empirischen Vereinbarung, in deren Beziehung das logische Gesetz steht. Solche empirische Ordnung ist etwa eine festgesetzte Terminologie oder auch eine bestimmte Zeitordnung. Das bedeutet, die in der Formulierung des Satzes vom Widerspruch enthaltene Voraussetzung seiner eigenen Gebundenheit an Subjekt, Raum und Zeit, wird von Heim in die Empirie gelegt. Demnach darf alles, was sich diesen Verhältnissen fügen muß, nur empirische Notwendigkeit beanspruchen. Also auch "logische Fehler" gehören unter den Maßstab empirischer Notwendigkeit, da von ihnen nur die Rede sein kann, wenn die Gebundenheit des Gesetzes an eine bestimmte empirische Ordnung durchbrochen wird. Das bedeutet aber, daß der Begriff "logischer Fehler" selbst einen Widerspruch enhält, indem es keine Übertretung des logischen Gesetzes als solchem geben kann. Das Denken ist eine Funktion des Bewußtseins, ein Ausdruck der Tatsächlichkeit, jenseits von wahr und falsch. Nur im Verhältnis zur Empirie treten diese Kategorien auf. Empirie beruht aber auf jeweiligen Standpunkten bzw. allgemeinen Vereinbarungen. Alle Erkenntnis von wahr und falsch verlegt Heim damit ins Empirische, eine überempirische Wahrheit ist dem Zugang, der Logik verschlossen. Empirische Notwendigkeit ist also nicht "weniger" als Denknotwendigkeit. Sie ist genauso an das Grundprinzip gebunden, dem alles Den-

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ken mit Notwendigkeit folgt. Aber der Ausdruck besagt, daß wir inhaltliche Erkenntnis immer nur auf empirischer Ebene - also in relationalen Beziehungen - und nie auf absolute Weise haben können. Jedwedes Beziehungsgeflecht, in welchem sich uns ein Inhalt präsentiert, kann für uns immer nur empirisch notwendig, nie denknotwendig gegeben sein. Die Denknotwendigkeit läßt sich aussagen nur im Hinblick auf die formale Struktur, in der sich alle Bewußtseinstätigkeit immer schon vollzieht. Sie bezeichnet dann einzig und allein, daß das Denken nach dem Grundprinzip, der Unterscheidungsrelation, verlaufen muß, also nach dem Satz des Widerspruchs, in Absehung seiner vorausgesetzten, aus der Empirie entlehnten Data. Heim gewinnt damit eine Position, die inhaltliche Glaubensaussagen nicht in Widerstreit mit dem, die Denknotwendigkeit fordernden, logischen Gewißheitsmaßstab treten lassen. Seine Grundlegung dafür ist die Mathematisierung der Wirklichkeit, die prinzipiell im Satz des Widerspruchs aufgehenden Wirklichkeitsverhältnisse. 4. Die Möglichkeit von Glaubensgewißheit scheitert an einer Erkenntnistheorie, die den Anspruch des logischen Gewißheitsmaßstabes für das Denken einlösen will. Heim hat nun aber in "Psychologismus oder Antipsychologismus" die Verhaftung des logischen Gewißheitsmaßstabes in prinzipieller Relationalität und damit die Uneinlösbarkeit seines Gewißheitsanspruchs für das Denken, das eben selbst in die Relationalität eingeschlossen ist, erwiesen. Ausdruck für die Eingeschlossenheit in Relationalität ist die Mathematisierbarkeit der Wirklichkeit ebenso wie des Bewußtseins. Damit ist wenigstens ein Ausschluß der Glaubensgewißheit durch Erkenntnistheorie verhindert. Die Eingeschlossenheit in die Relationalität des Bewußtseins legt die Beschränkung unserer Erkenntnismöglichkeit offen. Das eine Urdatum

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der Grundrelation weist daraufhin, daß alle Erfahrung eine bestimmte Festlegung ist, ihre Erkenntnis also keinen allgemeinen Wert beanspruchen kann. Allgemeines wiederum, kann nicht als Inhalt Erkenntnis werden. Es kann damit innerhalb der Erfahrungsformen keine sachhaltige Erkenntnis in allgemeinem Sinne geben, sondern diese ist immer nur Verschiebung von einem Erfahrungsgebiet auf das andere. Das Denken als Vollzug der Grundrelation kann also keine inhaltliche Erkenntnis hervorbringen. 5. Nicht zuletzt erweisen sich die Argumente der Husserlkritik als Voraussetzung für die Begründung von Glaubensgewißheit. Die Kritik der metaphysischen und psychologischen Hypostasierung der Logik ist Voraussetzung der Abkoppelung der Logik von der Möglichkeit der Wahrheitserkenntnis in metaphysischem, überempirischem Sinne. Heim setzt dieser hypostasierten Logik eine Logik entgegen, die zwar das Grundprinzip des Bewußtseins zum Ausdruck bringt, aber nicht über diesen Darstellungscharakter hinausgelangen kann in eine Begründungsfunktion. Damit wird nun aber die Antinomie der Wirklichkeit, die das Denken immer bestrebt ist aufzulösen, aus ihrer Vorläufigkeit - indem man sie z. B. auf eine Insuffizienz des Bewußtseins zurückführen wollte115 - in logische Endgültigkeit überführt. In das Bestreben, aus dieser Endgültigkeit der Antinomie der Wirklichkeit auszubrechen, das allem Denken eigen ist, reiht sich daher, nach Heim, das Bemühen der Religion als ein nun gleichberechtigter Versuch unter ändern116 ein.

115

116

Etwa, indem man sich ein vollkommenes, göttliches Bewußtsein, als diesen Schwierigkeiten enthoben, vorstellt. Zu denken ist an das Streben nach Einheit nur philosophisch begründeter Weltanschauungen.

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Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

1.1.3.

Ergebnis

Wir haben die These vertreten, daß Heim schon in "Psychologismus oder Antipsychologismus" die Grundlegung der Erkenntnistheorie entfaltet, die die Glaubensgewißheit als denkmöglich gelten läßt. Sowohl die Darlegung seiner eigenen erkenntnistheoretischen Position, als auch schon die Argumente in der Auseinandersetzung mit Busserls Logikkonzeption117, wie wir noch sehen werden, lassen sich als Vorbereitung zur Klärung des Gewißheitsproblems aufzeigen. Unter dieser Voraussetzung soll zum Schluß noch einmal die Absicht des Gedankengangs von "Psychologismus oder Antipsychologismus" hervorgehoben werden. Der Formalismus der Logik soll der Klärung des Wesens der Erkenntnis dienen. Heims Kennzeichen für den Formalismus der Logik ist, daß das Grundprinzip der reinen Logik und das der Naturwissenschaft, sich in einem Punkte schneiden. Das hat die Möglichkeit der Mathematisierbarkeit der Wirklichkeitsverhältnisse zur Folge. Heim führt seine Position in Abgrenzung gegen Husserl vor. Wie Husserl will auch Heim, daß die Logik frei ist von Psychologismus und Metaphysik. Im Unterschied zu Husserl ist aber für Heim die Logik nicht ein Reich der Wahrheit, dem wir mit unserer Bewußtseinstätigkeit zum Ausdruck verhelfen können, sondern sie ist Strukturprinzip des Bewußtseins, völlig ohne Bezug zu wahr und falsch. Als solches ist sie zugleich Strukturprinzip unserer Wirklichkeit, weil das Bewußtsein mit der Wirklichkeit identisch ist. Im Bewußtsein kommt nur das zum Ausdruck, was Wirklichkeit ist. Es ist keine Entität, die ein Jenseits seiner gestattet. Alles ist Bewußtseinsinhalt. Der Formalismus bedeutet dem-

117

Dies werden wir im Kapitel "Heims Husserlrezeption"(3.) sehen.

Erkenntnistheoretischen Grundposition

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nach, daß sich Bewußtsein und sonstige Wirklichkeit nicht trennen las-

sen. Daß Bewußtsein und Wirklichkeit sich nicht trennen lassen, erscheint als nichts Neues, sondern ist Behauptung auch des Kantschen Kritizismus. Kant läßt die Wirklichkeit als durch die Anschauungsformen Raum und Zeit für unser Bewußtsein ins Ich gelangen. Dem Ich der Apperzeption kommt dabei strukturierender Charakter zu. In diesem Sinne ist bei Heim die Untrennbarkeit von Bewußtsein und Wirklichkeit aber nicht gemeint. Sie ist ursprünglicher. Außer dem Bewußtsein gibt es gar keine andere Wirklichkeit, eben auch kein transzendentales Ich. Das Ich selbst ist Erfahrungsform. Die Bewußtseinstotalität läßt keine Wirklichkeit als absolutes Gegenüber zu. Die Untrennbarkeit von Bewußtsein und Wirklichkeit darf also auch nicht idealistisch interpretiert werden, als Hervorgehen der als Objekt verstandenen Wirklichkeit aus dem als Subjekt verstandenen Bewußtsein. In Heims Konzeption gibt es in diesem Sinne kein Subjekt und Objekt Vielmehr sind Subjekt und Objekt, wie wir gesehen haben, relative Begriffe. Sie nehmen diese Funktion immer in einer bestimmten Hinsicht ein, während sie in anderer Hinsicht ihre Rollen vertauschen können. Die Art des Abweichens von Kritizismus und Idealismus kann verdeutlicht werden an Heims Empirieverständnis und an seinem Verständnis des Verhältnisses von Empirie und Bewußtsein.118 Da bei Heim Bewußtsein und Wirklichkeit identisch ist, müßte man eigentlich davon ausgehen können, daß auch die Empirie ganz auf das Bewußtsein zurückzuführen wäre. Für Heim ist nun aber Empirie etwas, deren Struktur nicht allein durch das Strukturprinzip des Bewußtseins zum Ausdruck zu bringen ist. Damit scheint er zunächst dem Kantischen 118

Das ist das vorzügliche Thema von "Weltbild", vgl. i.flgd. W, 18ff., bes. 20ff.

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Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

Kritzismus näher als dem Idealismus zu stehen. Der Kritizismus unterscheidet von der bewußtseinsgeleiteten Erscheinung ein Ding an sich, das nicht mittels Bewußtsein erkannt werden kann. Beim Kritizismus ist nun allerdings gerade die bewußtseinsgeleitete Erscheinung "Empirie", während es bei Heim gerade die Empirie ist, die sich nicht umfassend durch das Strukturprinzip des Bewußtseins zum Ausdruck bringen läßt. Das Strukturprinzip des Bewußtseins ist, wie wir gesehen haben, Relationalität. Empirie bedeutet aber eine bestimmte Festlegung der Relation.119 Es ist für sie also eine Zusatzbestimmung erforderlich, die die Relation bestimmt. Das Strukturprinzip in seiner Relationalität vermag nicht die inhaltlichen Festlegungen, die die Empirie konstituieren, aus sich heraus zu begründen. Empirie kommt dadurch zustande, daß bestimmte Festlegungen getroffen werden, Inhalte durch Unterscheidungen. Darin herrscht zwar das Strukturprinzip des Bewußtseins. Dieses kann aber nur die Form, daß Inhalte durch Unterscheidung Zustandekommen, beschreiben. Die Festlegung bestimmter Inhalte läßt sich nicht mehr auf das Bewußtsein zurückführen. Mit diesem Sachverhalt ist darauf hingewiesen, daß die Relationalität, über die wir bei unseren Begründungen nicht hinauskommen, nicht genügt, um Empirie, um unsere faktische Wirklichkeit zu erklären. Mit dem Prinzip kann die bestimmte Festlegung nicht erklärt werden. Wohl aber kann nun damit nach unserem Ermessen etwas anderes erklärt wer-

119

"...jeder Zeitpunkt [findet uns] immer nur auf einem Standpunkt vor" (W, 38). "Die Antinomie dieses Verhältnisses ist der unentwirrbare Knoten in dem alle Möglichkeiten ineinander geschlungen sind; die Wirklichkeit ist der Schwerthieb, der ihn zerhaut."(W, 104) (Hervorhebungen. E.G-S.). "Die ganze Wirklichkeit webt sich also aus schöpferischen Entscheidungen zusammen...''^, 105).

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den, nämlich der antinomische Charakter, den Heim herausgearbeitet hat, sei es der Wirklichkeit oder des Bewußtseins. Er hängt genau damit zusammen, daß das Bewußtsein die Festlegungen, die Empirie ausmachen, nicht erklären kann. Die Festlegung als solche nämlich ist es, die antinomischen Charakter bekommt. Denn das Prinzip bringt neben einer Festlegung immer zugleich die Relation zum Ausdruck, die in Beziehung zu weiteren Inhalten steht. Diese Unendlichkeit der Relation evoziert so, angesichts der empirieerzeugenden Festlegungen, notwendig eine Antinomie. Ein Inhalt ist, unter diesen relationalen Bedingungen, zugleich endlich festgelegt und unendlich fortführend. Daraus folgt zweierlei: 1. Da das Strukturprinzip von Bewußtsein und Wirklichkeit, sich mittels unserer Erfahrungsformen nur antinomisch zum Ausdruck bringen läßt - da die Erfahrungsstruktur geradezu in ihrem Wesen Antinomie ist - wird sich jede Begründung, die sich für einen Erfahrungsinhalt zugunsten eines ändern einsetzt, in Widersprüche verwickeln. 2. Da das Bewußtsein die Festlegung bestimmter Inhalte nicht begründen kann, weil es sich in einem jeden solchen Versuch in einen Selbstwiderspruch verwickeln muß, ist jeder Inhalt - also auch der Glaubensinhalt - im Hinblick auf die Einsehbarkeit seiner Wahl gleichberechtigt. Empirie und Bewußtsein sind demnach enger ineinander verwoben, als bei Kant. Das verbindet Heim mit Husserl, was wir noch sehen werden. Auch bei Husserl gibt es kein "Ding an sich". Was zum Vorschein kommt, was Erfahrung ist, ist wirklich das, was es ist Bei Heim, indem die je inhaltliche Begrenzung von Erfahrung in ihrer Relationalität bedacht wird, bei Husserl, indem die intentionale Struktur, durch die Erfahrung bestimmt wird, in ihrem Wesen erfaßt wird.

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Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

Anhand dieser Beschreibung des Empirieverständnisses Heims wird für uns nun auch deutlich, warum und inwiefern das Prinzip der Logik mit dem der Naturwissenschaft zusammenfallen können soll. Dieses Zusammenfallen war ja die Voraussetzung für die These von der Mathematisierbarkeit der Wirklichkeit Das Bewußtsein ist nicht Urheber, sondern nur Ausdrucksform der Wirklichkeit. Die Struktur des Bewußtseins kommt zum Ausdruck im Grundprinzip der Logik, dem Prinzip der Abstraktion. Die Naturwissenschaft erforscht die Empirie. Angesichts des Faktums der Empirie erweist sich nun das Grundprinzip des Bewußtseins bzw. der Logik, als antinomisch. Sollen nun beide Prinzipien sich in einem Punkte schneiden, so muß für die Naturwissenschaft als Wissenschaft, die sich auf Inhalte, also auf die empirischen Festlegungen bezieht, gelten, daß sie den Festlegungscharakter der Inhalte als solchen einbezieht. Sie darf sich also nicht auf Inhalte unter Absehung ihres relationalen Gefüges beziehen. Für die Logik andererseits muß gelten, daß sie sich in Bezug auf Empirie, also angesichts bestimmter Festlegungen, nur antinomisch ausdrücken kann. Eine einheitliche Erfassung und Systematisierung ist nur im Hinblick auf die Relationalität eines Gefüges möglich, also rein formal. Wie müssen sich also von daher die beiden Prinzipien zueinander verhalten? Indem die Naturwissenschaft sich ihres Festlegungscharakters bewußt ist, das heißt ihn miteinbezieht, erkennt sie das Logikprinzip als auch ihr zugrundeliegend an. Denn die Einbeziehung der Festlegung hat das Einbeziehen der Relationalität zur Voraussetzung. Die Logik andererseits muß sich ihre prinzipielle Antinomie angesichts von Inhaltsbestimmungen zugestehen, das heißt, sie muß auf inhaltliche Erkenntnis verzichten. Denn am Erfassenwollen von Inhalten zerbricht sie in Antinomie. Beide Prinzipien fallen also insofern zusam-

Erkenntnistheoretischen Grundposition

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men, indem die Naturwissenschaft die Relationalst der Inhalte anerkennt und somit eine unendliche Gültigkeit für bestimmte Inhalte ausschließt, und indem die Logik ihre unendliche Gültigkeit auf den Relativitätscharakter aller Inhalte beschränkt, und gewärtigt, daß sie deren zeitlich-inhaltlichen Wert nicht bestimmen kann. Um das Verhältnis beider noch einmal formelhaft knapp zu veranschaulichen, könnte man sagen: Logik und Naturwissenschaft verhalten sich selbst im Hinblick auf das Strukturprinzip des Bewußtseins wie Relation und Inhalt. Alles Denken bleibt in diese Ebene der Relationalität eingeschlossen und kann sie nicht begründend hinterfragen.

12.

Kritik der Leistungsfähigkeit des erkenntnistheoretischen Ansatzes Heims in "Psychologismus oder Antipsychologismus"

Die Darstellung von Heims erkenntnistheoretischer Grundposition (1.1), hat trotz der überraschenden und bemerkenwerten Reduktionen und Unterscheidungen, die Heim auf erkenntnistheoretischem Gebiet vorgenommen hat, eine erkenntnistheoretisch unbefriedigende Lösung geliefert. Das betrifft nicht nur die Beantwortung der Frage des Gewißheitsproblems, sondern auch die Funktionsbeschreibung von Erkenntnistheorie selbst. Bevor wir daher die Gewißheitsproblematik darstellen, wie sie in "Glaubensgewißheit" entfaltet wird, soll dieses Unbehagen thematisiert und nach den erkenntnistheoretischen Hintergründen gefragt werden. Das Unbehagen entsteht einmal dadurch, daß Heim dem Illusionsvorwurf des Glaubens nur negativ zu begegnen vermag. Heims Argumente sind darauf gerichtet, den Glauben als gleichberechtigte Position neben allen ändern Weltanschauungen auszuweisen, aber diese Argu-

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Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

mente sind alle negativer Natur. Es wird nur darauf geachtet, zu zeigen, daß keine Weltanschauung begründet werden kann. Die Argumentationsbasis hierfür liefert Heims Empirieverständnis. Die Begründung der Denkmöglichkeit des Glaubens ruht nämlich auf einer erkenntnistheoretischen Nivellierung von Erfahrung. Indem Erfahrung sich bestimmter, festgesetzter Inhaltssetzungen verdankt, hat sie bei der prinzipiellen Relationalität des Bewußtseins nach Heim keinen Anspruch auf erkenntnistheoretische Geltung, außer eben dieser, erkenntnistheoretische Negativität bescheinigt zu bekommen. Erkenntnistheoretische Geltung kann nur haben, was selbst relational ist bzw. was seine Bezogenheit ausdrückt. Genau das tut aber Empirie nicht, sie ist wesentlich aus bestimmten, festgesetzten Inhalten zusammengesetzt. Jeglicher Ausdruck einer solchen, auf festgesetzte Inhalte bezogenen Relationalität, wäre immer schon Reflexion der Empirie. Zum ändern entsteht das Unbehagen dadurch, daß Heim eigentlich seiner eigenen Aufgabenstellung nicht gerecht wird, nämlich der Aufgabe der Vereinbarung von Denken und Glauben. Denn diese Vereinbarung hat als ihr Bewährungsfeld die Empirie. Heim geht schließlich von der Erfahrung aus, daß es Glauben gibt, der mit herrschenden erkenntnistheoretischen Voraussetzungen in Widerspruch gerät. Empirie müßte daher in eine Theorie der Vereinbarkeit beider Denkfiguren miteinbezogen werden. Daß dies nicht geschieht, ist umso bedauernswerter, da es nicht nur an sich selber bezüglich Heims Theoriekonzeption unbefriedigend ist, sondern weil es auch praktische Konsequenzen zeitigt. Denn die Aporie Heims bezüglich des Stellenwerts von Erfahrung für sein eigenes erkenntnistheoretisches Programm, die seiner Theorie in ihrem Kern Schaden zufügt, hat zudem einer fundamentalistischen Vereinnahmung der Theologie Heims Vorschub geleistet. Die erkenntnistheoreti-

Kritik der Leistungsfähigkeit

79

sehe Nivellierung von Erfahrung evoziert nämlich eine totale Beliebigkeit von Behauptungsansprüchen. Wir fragen zunächst nach den erkenntnistheoretischen Gründen120, die Heim zur rein erfahrungsnegativen Argumentation hinsichtlich der Verteidigung des Glaubens veranlassen und erst daran anschließend nach dem Motiv, das aller Vermutung nach religiöser Natur ist Es sind wohl im wesentlichen zwei erkenntnistheoretische Gründe: die schon genannte - letztlich dogmatische121 - Ausschaltung von Empirie aus der Erkenntistheorie und zum ändern der Verzicht

aufReflexivität

des Bewußtseins. Auch dieser erweist sich als dogmatisch. Beide haben bei Heim vermutlich ein theologisches Motiv. Die dogmatische Ausschaltung der erkenntnistheoretischen Relevanz von Empirie läßt sich verfolgen anhand Heims Kritik an der traditionellen Erkenntnistheorie. 120

121

Eigentlich erwartet man das Wort "Grundlage", aber bei Heim verdanken sich die Grundlagen als solche schon bestimmten Gründen, indem er die Absicht zu diesen Grundlagen hat. Diese Absicht wiederum ist theologisch bzw. durch Frömmmigkeit motiviert. Der Begriff "dogmatisch", wie er hier im Anschluß an den in der philosophischen Disziplin eingebürgerten Wortgebrauch aufgenommen wird, soll nicht verwendet werden, ohne einem gewissen Unmutsgefühl Ausdruck zu geben. Es handelt sich dabei nämlich um geradezu eine Umkehrung der traditionell-theologischen Bedeutung des Dogmenbegriffs. Während hier das Dogma das ist, dessen Bedeutungsgehalt gerade zur Disposition steht, wird jene in der Philosphie eingebürgerte Verwendung von "dogmatisch" im Sinne von "als unbegründet und unhinterfragbar vorausgesetzt" benutzt In Ermangelung eines gleichbedeutenden prägnanten Ausdrucks, der - wenn auch nun eben in herkömmlich falschen Sinne - ebenso unmißverständlich wäre, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich dem eingebürgerten Gebrauch anzuschließen, bis sich ein treffender, nichtdiskreditierender Begriff einfindet.

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Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

Ein Ziel traditioneller Erkenntnistheorie ist es, die Bedingung von Erfahrung aufzuklären bzw. die Frage zu beantworten, wie Erkenntnis unter der Bedingung von Erfahrung möglich ist. Heims Bewußtseinsanalyse hat nun aber zum Ergebnis der prinzipiellen Beliebigkeit jeglicher Bestimmtheit von Erfahrung geführt.122 Mit diesem Ergebnis will er ein Ausgehen vom Datum der Erfahrung und damit die bisherige diesbezügliche Fragestellung der Erkenntnistheorie123 ad absurdum führen. Obwohl die Charakterisierung von Erfahrung Resultat aus Heims Bewußtseinsanalyse ist, ist hinter deren Bewertung für die Erkenntnis, nämlich die Erfahrung aus diesem Gebiet auszuschließen, deutlich ein dogmatischer Charakter zu entnehmen. Diese Vermutung bestätigt sich in seiner Gewißheitsschrift, indem er dort allein die Unterscheidung von empirisch notwendig und denknotwendig als Wertung benutzt. Diese Unterscheidung dient Heim als Argument dafür, daß der Glaube dem logischen Gewißheitsmaßstab - dem denknotwendigen Satz des Widerspruchs - nicht widerspricht, weil der Widerspruch nur empirisch notwendig sei. Damit hat er aber in diese - scheinbar voraussetzungslose Unterscheidung, schon die eigene Wertung von Erfahrung eingetragen, nämlich irrelevant für die Theorie zu sein. Nur so kann ihm allein die Unterscheidung und Zuweisung bestimmter Daten124 unter die unter122

123

124

Die prinzipielle Beliebigkeit jeglicher Bestimmtheit von Erfahrung resultiert aus der Reduktion des Bewußtseinsgeschehens auf ein Grundprinzip, das eine nur relative Unterscheidung von Subjekt und Objekt zuläßt. Bei der Einordnung und Qualifizierung von Erkenntnistheorie, müssen wir das gespaltene Verhältnis Heims zur Erkenntnistheorie im Auge behalten. Wie wir schon deutlich gemacht haben, will Heim Erkenntnistheorie mit erkenntnistheoretischen Mitteln diskreditieren. Daß er hierbei in eine Aporie gerät, wird beim Problem des Verzichts auf Reflexivität deutlich, wie wir noch sehen werden. Diese Daten wären Subjekt, Raum und Zeit als Anschauungsformen.

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schiedenen Kategorien von empirisch notwendig und denknotwendig als Argument genügen. Er ist also von vornherein davon ausgegangen, daß die Bezugnahme zur Empirie Fehlentwicklungen von Erkenntnis anbahnt. Mit der Ausschaltung von Empirie nimmt Heim somit eine Reduktion vor, die die Erfahrung nicht nur als Erkenntnisquelle, sondern auch als unhintergehbares Datum ausschaltet. Unhintergehbar bleibt für ihn nur das Grundprinzip. Dieses Reduktionsverfahren birgt aber zwei Fehler in sich, einen logischen und einen erkenntnistheoretischen. Logisch inkorrekt ist, daß Heim erkenntnistheoretische Entscheidungen trifft unter Absehung erkenntnistheoretischer Bedingungen. Er will aus erkenntnistheoretischen Gründen das Gebiet der Erfahrung aus der Erkenntnis ausklammern, die Erkenntnistheorie fragt aber unter anderem auch gerade danach, wie Erkenntnis unter der Bedingung von Erfahrung möglich ist. Wenn Heim meint, erkenntnistheoretisch die Beliebigkeit von Erfahrung feststellen zu können, muß diese daher, eben auch gerade in ihrer Beliebigkeit, einbezogen werden. Der zweite, erkenntnistheoretische, Fehler ist zugleich der zweite Grund seiner nur erkenntnisnegativen Argumentation, der Verzicht auf Reflexivität. Auch dieser Verzicht ist dogmatischen Ursprungs. Er spricht darin seine Kritik an der "Subjektintrojektion" der herkömmlichen Philosophie aus. Indem Heim somit nicht nur die erkenntnistheoretische Relevanz von Erfahrung ausschaltet, sondern zusätzlich die in der transzendentalen Fragestellung angelegte Reflexivität, indem er also so den erkenntnistheoretischen Boden ganz und gar verläßt, kommt er in die Aporie, seine eigenen Überlegungen nicht mehr theoretisch ein-

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Die Entwicklung des Gewißheitsproblems

schließen zu können. So demonstriert er ungewollt die Auswirkungen eines Verzichts auf Reflexivität an seiner eigenen Theorie.125 Mit diesem Verzicht gibt Heim alle Kontrollmöglichkeit erkenntnistheoretischer Bedingungen auf. Heim sieht nicht, daß die Behauptung der Unmöglichkeit, sein eigenes Denken reflektieren zu können, in jeder Hinsicht gar nicht anders als in einen Dogmatismus führen kann. Sein Empirieverständnis war davon schon Zeuge. Das alles ist verwunderlich angesichts seines Anspruchs, den Dogmatismus zu überwinden. Heims Dogmatismus, sowohl in der Nivellierung von Erfahrung, als auch im Verzicht auf Reflexivität, der eigentlich nicht zu seiner erkenntnistheoretischen Intention paßt, einem allem zugrundeliegenden Grundprinzip auf die Spur zu kommen, läßt ein Motiv vermuten, das sich nicht Bewußtseinsanalysen und erkenntnistheoretische Reflexionen allein zum Ziel gesetzt hat. Man darf wohl nicht zu unrecht hinter der erkenntnistheoretischen Ausschaltung von Erfahrung und dem Verzicht auf Reflexivität ein religiös-theologisches Motiv bei Heim annehmen. Das religiös-theologische Moment, das hinter dem Ausschluß der Reflexivität steht, ist, die erkenntnistheoretische Geschlossenheit von Subjektivität zu durchbrechen, um die vom Glauben behauptete Möglichkeit der Durchbrechung der exklusiven Verhältnisse von Subjekten bewahrheiten zu können. Das religiös-theologische Moment, das hinter der Erfahrungsnivellierung steht, ist also, die prinzipielle Relativierung von Erfahrung zu si-

125

Im nächsten Kapitel wird die Auswirkung dieser Aporie aufgezeigt werden, indem wir sehen, daß Heim seine erkenntnistheoretischen Ergebnisse nicht logisch konsequent einordnen kann. Der Verzicht auf Reflexivität läßt ihn nicht seine Parallelität mit Husserls Bewußtseinskonzeption entdecken, vielmehr kritisiert er bei Husserl genau das seinen eigenen Ergebnissen Entsprechende.

Kritik der Leistungsfähigkeit

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ehern, die den Illusionsvorwurf dem Glauben gegenüber relativiert. Wir erinnern uns daran, daß Heim die Denkmöglichkeit des Glaubens dadurch begründen will, daß alle inhaltlichen Behauptungen, also die des Glaubens so gut wie die irgendwelcher Weltanschauungen, vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus als Illusion betrachtet werden müssen. Heim versucht den Glauben mit dem - allerdings unbefriedigenden - Mittel ins Recht zu setzen, daß er den Illusionsvorwurf zurückgibt: Theoretisch kann keine Weltanschauung den Illusionsvorwurf zurückweisen. Zum Verständnis von Heims prinzipieller Erfahrungskritik, müssen wir uns über den philosophischen Hintergrund, an dem Heim sich orientiert, klarwerden. Er übernimmt nämlich den Erfahrungsbegriff einer bestimmten erkenntnistheoretischen Tradition, um mit diesem Begriff, den er kritiklos übernimmt, Erfahrungsbezug von Erkenntnis zu kritisieren. Heim sah sich in der Tradition des Kantianismus. Kant etablierte einen Bereich sicherer Erkenntnis, nämlich derjenigen Erkenntnis, die sich auf Erfahrung bezieht. Im materialistischen Weltbild des Empirismus verabsolutierte sich dieser Bereich, löste sich von der Reflexion seiner Begrenzung und wurde so eine Gefahr für die Denkmöglichkeit des Glaubens. Der Kampf Heims gegen irgendwelche sichere Erkenntnis, die in seiner Relativierung aller Inhalte zum Ausdruck kommen soll, resultiert mit Sicherheit aus der Gegnerschaft dieses Weltbildes.126 Der radikale Angriff Heims gilt diesem Weltbild. Sein Ziel wäre erreicht, wenn es ihm gelänge, jeder "sicheren" Erkenntnis den Boden zu entziehen. In diesem Dienst steht die erkenntnistheoretische Nivellierung der Erfahrung.

126 Vgl. Vorwort zu W.

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Die Entwicklung des Gewißheitsproblems Es ist also der erkenntnistheoretische Stellenwert der Erfahrung, so

wie ihn der Kritizismus erhoben hat und wie er dann - ohne transzendentale Rückbindung - im materialistisch-empiristischen Weltbild aufgenommen wurde, den Heim nicht gelten lassen will. Die Möglichkeit intersubjektiver Erkenntnis, nur aufgrund von Erfahrung, ist das, was, nach Heims Meinung, der Denkmöglichkeit des Glauben theoretische Schwierigkeiten bereitet. Heims Erkenntnistheorie will daher von vornherein der Erfahrung einen ändern Stellenwert zukommen lassen. Was man ihm vorwerfen kann, ist, daß er nicht differenziert zwischen Erfahrung und Erfahrungsbegriff. Er geht fraglos von dem kritizistischen Erfahrungsbegriff aus und identifiziert diesen mit Erfahrung überhaupt. Er differenziert nicht Erfahrung und ihren möglichen Stellenwert innerhalb einer Theorie der Erkenntnis, sondern er will mittels des kritizistischen Erfahrungsverständnisses, bei dem Erfahrung sich als unüberbrückbar von einer Wirklichkeit "an sich" unterscheidet, den Erkenntnisbezug von Erfahrung überhaupt infragestellen. Das Stichwort "Empirie" genügt ihm unter dieser Voraussetzung, um dem Verdacht auf "Verschleierung" der Wirklichkeit Ausdruck zu geben. Wir müssen also klar unterscheiden. Heim kritisiert nicht das kritizistische Erfahrungsverständnis. Ganz im Gegenteil. Er übernimmt es und kritisiert auf dem Hintergrund des so übernommenen Erfahrungsverständnis Erfahrung überhaupt. Seine Weiterführung des Kritizismus sieht er also nicht in einer Weiterentwicklung des Erfahrungsverständnisses. Der erkenntnisdefizitäre kritizistische Erfahrungsbegriff ist ihm vielmehr willkommen, weil er damit die so bestimmte Erfahrung in ihrem Geltungswert für Erkenntnis überhaupt diskreditieren kann. Seine "Fortführung" besteht damit in der Verabschiedung der Erfahrung für die Erkenntnis. Insofern kann Heim sich aber gerade nicht mehr in kriti-

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zistischer Tradition sehen, die es sich zum Ausgangspunkt nahm, Erkenntnis unter der Bedingung von Erfahrung zu klären. Diese Problematik der unkritizistischen erkenntnistheoretischen Verabschiedung von Erfahrung bei Beibehaltung eines kritizistisch geprägten Empirieverständnisses ist auch der Grund für das anfangs erwähnte merkwürdig zwiespältige Verhältnis Heims zur Erkenntnistheorie. Wir haben dort gesagt, daß Heim einerseits Erkenntnistheorie selbst betreibt, sie andererseits aber als Fehlentwicklung der Philosophie stigmatisiert. Der Grund hierfür liegt eben darin, daß Heim unter Eindruck des kritizistischen Erfahrungsverständnisses Erfahrung als erkenntnisrelevant verneint, Erfahrung aber gerade zu den Gegenständen gehört, deren Erkenntnisbestimmungen Erkenntnistheorie klären will. Wir können zusammenfassen. Heim geht von einem bestimmten, dem kritizistischen, Erfahrungsbegriff aus und entwertet dabei Erfahrung für die Erkenntnis, ohne diese Entwertung erkenntnistheoretisch zu begründen. Er führt zwar Begründungen für die Relativierung der Erfahrung an, indem er aufzeigt, daß das Geschehen der Inhaltserzeugung, durch deren endliche Festlegung sich Erfahrung bestimmt, unendlich fortläuft. Die Relativität der Erfahrung rechtfertigt jedoch nicht deren erkenntnistheoretische Entwertung. Vielmehr müßte Erfahrung gerade in ihrer Relativität erkenntnistheoretisch einbezogen werden. Die Entwertung erfolgt bei Heim implizit, indem er unter Einwirkung des kritizistischen Erfahrungsbegriffs Empirie als Schein der Wirklichkeit auffaßt. Erkenntnis von Wirklichkeit muß dann die Empirie, die nur deren Schein ist, hinter sich lassen. Man wird Heim in seinem Erfahrungsverständnis Inkonsequenz vorwerfen müssen. Zum einen soll, wie wir erwähnt haben, Erfahrung bestimmte Festlegung relationaler Verhältnisse sein, also zur Wirklichkeit

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hinzugehören. Damit entspricht sie aber nicht mehr dem kritizistischen Erfahrungsverständnis, das Erfahrung als Schein von Wirklichkeit auffaßt Zum ändern geht er aber genau von diesem Erfahrungsbegriff aus, wenn er in seiner Erkenntnistheorie Erfahrung nivelliert. Von dem in der Konsequenz seiner eigenen Theorie liegenden Erfahrungsverständnis der nur je bestimmten Festlegung von Relationen müßte er Erfahrung miteinbeziehen können, ohne sein Programm des Festhaltens an der prinzipiellen Relationalität von Erkenntnis aufgeben zu müssen. Daß Heim hier seine Arbeit nicht stringent weitergeführt hat, kann nur auf seinen religiös-theologischen Anspruch zurückgeführt werden, nämlich denjenigen, der Behauptung Plausibilität zu verschaffen, daß der Glaube prinzipiell Erfahrungserkenntnis überschreiten kann. Diese Möglichkeit des Glaubens will Heim erkenntnistheoretisch einräumen. Unter Aufnahme des kritizistischen Erfahrungsverständnisses muß er dazu Erfahrung überhaupt diskreditieren, denn Erfahrung darf nicht ermächtigt werden, irgendwelche Grenzen von Erkenntnis festzustellen. In der Anwendung seines eigenen Erfahrungsbegriffs hingegen hätte auch die Erfahrung einen erkenntnistheoretischen Ort haben dürfen, ohne eine Gefahr für den Glauben zu bilden. Als Mittel zur Diskreditierung von Erfahrung haben wir Heims Ausschaltung von Reflexivität genannt, in seiner Terminologie die Kritik an Subjektsintrojektion und Weltdublette. Solange es theoretisch Reflexivität von Subjekten gibt, macht es Sinn, den Bereich der Erfahrung - in seinen Grenzen - zu erkennen127. Es ist ja ihr Existenzbereich, zu dem sie sich in Beziehung setzen können und den sie in diesem Rahmen er127

Es wäre dann kein Gegenargument gegen die Bedeutung theoretischer Erkenntnis, wenn von wahr und falsch nur in empirischem Sinne die Rede sein könnte, wie Heim vorgibt. Vgl., PA, 152f.

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kennen können. Ist aber Reflexivität - so bei Heim - ein Trug, dann macht es auch keinen Sinn, irgendeinen Bereich als erkennbare Erfahrungswelt zu untersuchen. Mit der Ausschaltung von Erfahrung, die die Ausschaltung von Reflexivität impliziert, zeigt sich also eine Schwäche Heims in der Durchführung seines eigenen Programms und eine Inkonsequenz bezüglich seiner eigenen Intention. Heims Programm ist es, Denken und Glauben für das Denken zu verbinden. Er will diese Verbindung aber herbeiführen ohne Einbeziehung von Erfahrung, mittels eines abstrakten Strukturprinzips. Mit der Nivellierung von Erfahrung und dem Verzicht auf Subjektivität, die nach ihren Erkenntnisbedingungen fragt, kann eine nachkritische Erkenntnistheorie nicht mehr bestehen wollen. Heim beansprucht in der Hinsicht zu unrecht, ein Vervollkommner des Kritizismus zu sein. Die Ausschaltung von Erfahrung ist also zuerst ein Mangel hinsichtlich erkenntnistheoretischer Bedingungen im allgemeinen, dann aber auch bezüglich seiner Absicht, erkenntnistheoretisch die Denkmöglichkeit von Glauben zu entwickeln. Denn für das Denken lösen kann sich das erkenntnistheoretische Problem gerade nur unter Einbeziehung von Erfahrung. Hier stellt sich nämlich allererst der Konflikt, dessen Lösung Heim herbeiführen wollte, zur Frage nach der Exklusivität von Subjekt, Ort und Zeit, indem es die Erfahrung ist, die Subjekte, Orte, Zeiten impliziert Allererst in diesem Rahmen kommt es überhaupt auch zum Konflikt zwischen naturwissenschaftlichen Ergebnissen und Forderungen des Glaubens, die ein, wenn nicht der Anlaß zu Heims Theorieüberlegungen bilden. Die Gegnerschaft gegen den Empirismus, der das naturwissenschaftliche Weltbild verabsolutierte, hat Heim in die Feindschaft von Empirie überhaupt fallenlassen. Er wurde dazu verführt, den Dogmatis-

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mus der Naturwissenschaften nicht im Hinblick auf ihr insuffizientes Empirieverständnis anzugreifen, um in dieser Richtung das kritizistische Empirieveständnis aus etwaigen Verengungen zu lösen, sondern deren insuffizients Empirieverständnis war ihm willkommen, um sich zu der so verstandenen Empirie selbst in Gegnerschaft zu setzen. Er geht zum Totalangriff über. Dabei gerät er nun auf den Boden reiner Negativität, den er von seinem Konzept der erkenntnistheoretisch fundierten Verbindung von Denken und Glauben nicht gutheißen dürfte. Dies ist vor allem insofern bedauerlich, als er in der konsequenten Weiterentwicklung seines Erfahrungsverständnisses Erfahrung auch für sein erkenntnistheoretisches Programm hätte beibehalten können. Aus dieser Nachlässigkeit erwachsen Heim zwei Fehler. Er scheint nämlich bei seiner erkenntnistheoretischen Strategie zweierlei übersehen zu haben: nicht nur die schon erwähnte Fragestellung der Erkenntnistheorie nach Erkenntnis unter Bedingung von Erfahrung, sondern auch den Erfahrungsbezug seiner Theologie. So kann er es auch mit seinem Theologieverständnis nicht vereinbaren, den Boden der Erfahrung auszuschalten. Davon können wir uns überzeugen mit einem Blick auf Heims Ethikverständnis. In der Ethik muß deutlich werden, welche Rolle der Erfahrung im theologischen Konzept zugebilligt wird. In seiner "christlichen Ethik"128 finden wir die Aussage Heims: "Die Bindung an Gott, das Stehen unter Gottes Wort, läßt sich niemals loslösen von der Bindung an irdische Wirklichkeit. ... Sonst haben wir ein reines Abstraktum. Gott gibt konkrete Befehle in einer geschichtlichen Situation."129 Heim geht also auch 128

129

Karl Heim, "Die christliche Ethik", Tübinger Vorlesungen, nachgeschrieben und ausgearbeitet von Walter Kreuzburg, Tübingen 1955. Karl Heim, "Die christliche Ethik", 83f.

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von einer Empiriegebundenheit der Gotteswirklichkeit aus. Das heißt aber, daß sich im Empirischen veranschaulichen lassen muß, worin die Vereinbarkeit von Denken und Glauben besteht. Diese Veranschaulichung im Empirischen muß/ur das Denken, also mittels erkenntnistheoretischer Überlegungen, geschehen. Nach allem liefert Heims erkenntnistheoretischer Ansatz ein unbefriedigendes Ergebnis hinsichtlich der erkenntnistheoretischen, aber auch der theologischen bzw. ethischen Leistungskraft. Indem Heim dort die erkenntnistheoretische Entscheidung trifft, eine Einbeziehung der Empirie aus den Augen zu lassen, bleibt seine Theorie hinsichtlich des Erkenntniswertes rein im Negativen. Das Unbefriedigende dabei ist nicht nur die Negativität als erkenntnistheoretischer Mangel, sondern vor allem auch deren Konsequenz für die Praxis. Die Negativität bezüglich der Empirie wird nämlich selbst wiederum empirisch relevant. Verbleibt eine Theorie der Begründung der Denkmöglichkeit des Glaubens rein im Negativen, dann kann diese von allen Seiten beliebig vereinnahmt werden. Heim bereitet mit seiner erkenntnistheoretischen Negativität eine Standpunktlosigkeit vor, die kritisches und verantwortungsvolles Denken und Handeln theoretisch unbegründbar macht. Bedauerlich ist dies insbesondere deswegen, weil diese Fehler aus einer Inkonsequenz Heims bezüglich seiner eigenen Theorie erfolgen. Er entwickelt nämlich in seiner Bewußtseinstheorie selbst nicht den Kantischen Erfahrungsbegriff, sondern, wie wir schon gezeigt haben, mußte er Empirie innerhalb seiner eigenen Theorie dezidiert anders verstehen. Trotzdem nimmt er Kants Erfahrungsbegriff auf und baut seine erkenntnistheoretische Argumentationsfigur bezüglich der Nivellierung von Erfahrung auf diesem Kantischen Erfahrungsbegriff auf. Er

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verwendet also diesen Erfahrungsbegriff, der gar nicht zu seiner Theorie paßt, um Erfahrung als solche zu diskreditieren.

13.

Heims erkenntnistheoretische Grundposition in der Gewißheitsschrift Wir haben unser Unbehagen bezüglich Heims Position der Begründung der Denkmöglichkeit des Glaubens, so wie er sie in der Psychologismusschrift und auch noch in der ersten Auflage der Gewißheitsschrift begründet, formuliert. Das Unbehagen entstand an der Negativität der Glaubensbegründung, die für Heim als Argument für die Denkmöglichkeit des Glaubens gelten sollte. Nicht ein positives Aufzeigen der Eigentümlichkeit des Glaubens, sondern allein dessen Einreihung in eine von Heim demonstrierte Beliebigkeit aller Weltanschauungen, sollte das Ziel der Untersuchung sein. Grundpfeiler dieser Beliebigkeitsauffassung war die Nivellierung von Erfahrung. Unsere folgende Darstellung gilt nun den verschiedenen Auflagen von "Glaubensgewißheit". Wir werden ihren Inhalt daraufhin untersuchen, ob Heims Vorgehen bezüglich einer erkenntnistheoretischen Fundamentierung der Denkmöglichkeit des Glaubens weiterhin im Negativen verbleibt und ob die Erfahrung weiterhin aus der Erkenntnis ausgeschieden bleiben soll, die doch wesentlich der Auslöser seiner Fragestellung der Vereinbarkeit von Denken und Glauben ist. Im Verlauf der drei Auflagen von "Glaubensgewißheit" machen wir nun die interessante Entdeckung, daß Heim seine bisherige Argumentationsbasis der Einebnung allen Geschehens in eine nichthinterfragbare, alles beherrschende Relationalität erweitert. Nicht mehr die Relativität scheint als Hauptargument zu gelten, sondern der Hinweis auf eine zweite Dimension. Der eigenwillige Gebrauch des Begriffs Dimension,

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der ja nicht mit dem bildungssprachlichen übereinstimmt - zumindest nicht, wenn man die Numerierung ins Auge faßt - steht trotzdem in enger Beziehung zu dessen Bedeutung in der Mathematik. Er soll auf die Grenze, in der eine Dimension zur nächst höheren steht, verweisen, um die prinzipielle Kommunikationsunfähigkeit zwischen diesen beiden Dimensionen zu demonstrieren130. Als "zweite" Dimension ist sie also in dem Sinn zu verstehen, daß es sich um eine Dimension handelt, die die Erfahrung übersteigt. Der Nachweis dieser Dimension, die widerspruchsfrei sein soll, dient ihm nun in "Glaubensgewißheit", in allen drei Auflagen als einheitliches erkenntnistheoretisches Argument zur Begründung von Glaubensgewißheit. Das Auftreten der zweiten, widerspruchsfreien Dimension in der Argumentationsfigur bedeutet also einen Fortschritt und eine Wendung in Heims Argumentation. Heim selbst betrachtet die Weiterentwicklung wohl nur unter dem Aspekt des Fortschritts. Er sieht, daß mit der zweiten Dimension die Widersprüchlichkeit der Empirie erklärbar wird. Aber ist er sich auch dessen bewußt, daß er mit der "erkenntnistheoretischen" Annahme dieser zweiten Dimension seine Begründungsbasis der Beliebigkeit aller Weltanschauungen verläßt? Ist denn mit der Einbeziehung einer solchen, die Erfahrung übersteigenden Dimension nicht schon das Urteil über diejenigen Weltanschauungen gefällt, die für ein solches Einbeziehen eines so spezifizierten Bereichs keine Vorkehrungen getroffen haben? Ist damit nicht implizit der Weltanschauung des Glaubens ein erkenntnistheoretischer Vorzug zugesprochen? Wenn ja, dann muß dies nicht gegen Heims Position sprechen, auch wenn er selbst diese Konsequenz nicht explizit zieht. Solange er ansonsten auf logisch unanfecht130

Heim verweist des öfteren auf die Erzählung von Edwin A. Abbot, "Flatland, a Romance of many dimensions" ( . . , 1. Aufl. 50ff.; I, 3. Aufl., 59ff.).

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barem Boden bleibt, wäre diese Konsequenz als erkenntnistheoretisches Plus innerhalb Heims Position zu vermerken. Zur Veranschaulichung dieser Fragen wollen wir diese Problematik anhand der drei Auflagen von "Glaubensgewißheit" explizieren. Doch sollte vorweg darauf verwiesen sein, in welche Richtung Heim weitergeht, und daß sich diese Richtung eigentlich von seiner ursprünglichen Haltung der Negativität der Glaubensposition unterscheidet. Inwieweit sich dies auf das Verhältnis Heims zu Empirie und Reflexivität des Bewußtseins auswirkt, wird als Kernfrage unsere Untersuchung lenken. Wir wollen zunächst den Gedankengang und die Zielrichtung der verschiedenen Auflagen skizzieren, bevor wir uns der Analyse der Hauptaussagen zuwenden. Zum Vergleich werden wir diese in einem späteren Kapitel(3.) der als Gegenposition verstandenen Theorie Husserls gegenüberstellen. Das einheitliche erkenntnistheoretische Argument zur Begründung von Glaubensgewißheit in allen drei Auflagen der Gewißheitsschrift ist der Nachweis einer widerspruchsfreien Dimension. Alle Widersprüche der beiden Gewißheitsmaßstäbe, dem des Glaubens wie dem der Logik, sollen auf die Empirie bzw. auf das Verhältnis der Empirie zu einer zweiten Dimension zurückgeführt werden. Zum Nachweis dieser zweiten Dimension dient Heim sowohl die Logik als auch die Empirie. Er argumentiert also von zwei Seiten, indem er erstens die Logik selbst auf ihre Gründung in einer widerspruchsfreien Dimension verweisen läßt und zweitens die antinomische Faktizität der Empirie auf diese andere Dimension zurückführt. Der Verweis beider Seiten, der Logik und der Empirie, auf die zweite Dimension, wird in den aufeinanderfolgenden Auflagen spezifiziert und als erkenntnistheoretisches Argument weiterentwickelt

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In der ersten Auflage liegt das Hauptgewicht auf der ersten Seite, auf der Begründung der Logik in einer zweiten Dimension. Wie wir gesehen haben, will Heim in "Glaubensgewißheit1" die nur empirische Notwendigkeit der Antinomie zwischen Identitätssatz und Glaubensanspruch aufzeigen. Nach dem Identitätssatz ist absolut gewiß nur, was mir hier und jetzt gewiß ist. Ich, Raum und Zeit stehen aber in einem exklusiven Verhältnis zueinander, stehen daher im Gegensatz zum Du-, Ewigkeitsund Allgegegenwartwartsanspruch des Glaubens. Die empirieunabhängige Logik hat sich mit den Erfahrungsformen Ich, Raum und Zeit verbunden. Sie selbst weist aber in ihrem Gewißheitsanspruch über die Dimension der Erfahrung hinaus. In der zweiten Auflage findet das zweite Argument, die empirischen Verweise auf die widerspruchsfreie Dimension, stärkere Aufmerksamkeit. Die Gegenüberstellung des Gewißheitsanspruchs des Glaubens und des Gewißheitsanspruchs der Logik wird von ihrer Gegensätzlichkeit befreit, indem Heim innerhalb der Empirie auf ein Phänomen verweisen kann, das nicht in der nüchternen Beobachtung und Berechnung des logischen Gewißheitsmaßstabes aufgeht: das Vertrauensverhältnis des alltäglichen Lebens.131 Die Parallelität von Vertrauen und Glauben bezüglich der Möglichkeit der Vergewisserung soll für jeden einsichtig machen, daß nicht nur im Glauben als religiösem Faktum, sondern auch schon im alltäglichen Leben immer der Gewißheitsgrad der nüchternen Beobachtung und Berechnung überschritten wird.132 Aber auch das erste Argument wird in der zweiten Auflage in zwei Punkten konkretisiert. Der Verweis der Logik auf eine widerspruchsfreie Dimension wird in den Identitätssatz selbst gelegt durch Einbeziehung 131 132

Vgl. GG2,5-26. Vgl. GG2,1-14.

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des Unmittelbarkeitsgesetzes.133 Der Gewißheitsmaßstab setzt voraus, daß einem bestimmten Subjekt etwas hier und jetzt gewiß ist. Zum ändern werden die irrationalen Setzungen des Ich, Hier und Jetzt als Kategorie aufgefaßt und mit dem Wort Schicksal benannt.134 Mit der Einbeziehung des Unmittelbarkeitsgesetzes hat Heim im Identitätssatz selbst etwas über unser Erkennen Hinausgehendes, denn das Unmittelbare kann nicht vergegenständlicht werden, es kann also auch nicht theoretisch erkannt werden. Der Verweis auf eine zweite Dimension, in der die Widersprüche der exklusiven Gegenständlichkeit aufgehoben sind, ist damit in den Gewißheitsmaßstab der Logik aufgenommen. Die Frage nach der Berechtigung der exklusiven Verhältnisse von Subjekt, Ort und Zeit, ist nun verschärft gestellt. So ist es naheliegend, daß sich gerade hier in Bezug auf die Anschauungsformen, die Abgrenzung gegen Kant findet.135 Heim versteht sich in der kritizistischen Tradition, will aber in Bezug auf die Anschauungsformen über Kant hinausgehen. Nicht nur Raum und Zeit, sondern auch Subjekt und Objekt will er als Anschauungsformen begriffen haben. Auch die Subjekt-Objekt-Unterscheidung soll nur eine Unterscheidung des Bewußtseins sein. Ihre Exklusivität kann also nur empirisch notwendig sein und ihre Aufhebung ist logisch gefordert. Das Subjekt ist also selbst empirisch gebunden und kann keine Funktion im Hinblick auf Empiriebegründung einnehmen. Heim verweist hier auf die irrationale Unverrückbarkeit der empirischen Festlegungen von Subjekt, Ort und Zeit136, die er in der ersten Auflage nur 133

Vgl.GG2,ll-15.

134

Vgl. GG2,173-178. Vgl. GG2,101-103. Vgl. GG2,158-167.

135 136

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angedeutet hat. Im Unterschied zu "Psychologismus oder Antipsychologismus" und "Weltbild" benennt Heim ein "Außerhalb" der Empirie und bezieht es mit ein. Es wird nun in der zweiten Auflage aufgrund seiner Bedeutung für die Klärung des Erkenntnisprozesses, besonders hervorgehoben. Den "irrationalen Festlegungen" wird nämlich kategorialer Charakter zugesprochen, und sie bekommen einen Namen: das Schicksal.137 Die Kategorie des Schicksals steht außerhalb der Erfahrung, auch außerhalb der Grundrelation als deren jeweilige unhintergehbare Bestimmung. Sie ist damit bei Heim als Weiterführung des Kritizismus zu verstehen, indem sie es ihm ermöglicht, nicht mehr ein Subjekt die Unhintergehbarkeit verkörpern zu lassen. Die Subjekt-Objekt-Unterscheidung wird selbst Anschauungsform. So besteht die Weiterführung hinsichtlich des Kritizismus zunächst also darin, die SubjektObjekt-Unterscheidung zu relativieren. Die grundlegende Weiterentwicklung von "Glaubensgewißheit2" gegenüber "Glaubensgewißheit1" ist eine logische Konkretisierung der Lösung des Gewißheitsproblems durch die Verknüpfung des Identitätssatzes mit dem Unmittelbarkeitsgesetz und die Bestimmung des irrationalen Tatsächlichkeitsfaktor - der in der ersten Auflage jeweils in den irrationalen Setzungen des Ich, Hier und Jetzt seinen Ort findet - als Kategorie des Schicksals. Die irrationalen Festlegungen finden ihren Ort innerhalb der Logik. Indem das Schicksal kategorialen Charakter erhält, kommt die empirische mit der logischen Seite zusammen. Die Schicksalserfahrung zählt als Kategorie. Mit der logischen Konkretisierung der in der Empirie aufweisbaren, überempirischen Data wird Heims Zielrichtung deutlich, die in der 3. Auflage zu Ende geführt werden wird. Die

137

Vgl. GG2,178.

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Weiterentwicklung der Logik hat nämlich die Aufgabe, die faktische Relevanz der zweiten Dimension für die Empirie erklärbar zu machen. "Glaubensgewißheit3" schreitet also fort zur Näherbestimmmung der Kategorie "Schicksal". Auch diese dritte Auflage versteht sich als Weiterführung des Kritizismus, diesmal in Hinblick auf das "transzendentale Ich". Die Beschäftigung mit diesem Ich ist ein Aspekt, der sich in der dritten Auflage neu findet.138 In "Glaubensgewißheit2" wollte Heim die Exklusivität der Subjekt-Objekt-Unterscheidung, ebenso wie Raum und Zeit, in der Anschauungsform begründet sehen.139 Sie ist als solche eine Unterscheidung des Bewußtseins. Es ging ihm hier um die Relativierung des Subjekts als Erkenntnisautorität. In "Glaubensgewißheit3" übernimmt Heim nun allerdings eine weitere kritizistische Erkenntnis, die des transzendentalen Apperzeptionspunktes, des erkenntnistheoretischen Ichs. In der Entdeckung dieses Ichs - und nicht in den Anschauungsformen - sieht er jetzt den eigentlichen Fortschritt, die "kopemikanische Wende" des Kantschen Kritizismus gegenüber der traditionellen Erkenntnistheorie, nämlich in der Entdeckung, daß dieses "nichtgegenständliche" Ich wie Heim es nennt, der Ermöglichungsgrund der Erfahrung ist.140 Das scheint zunächst in krassem Widerspruch zu Heims Relativierung des Subjekts in der 2. Auflage von "Glaubensgewißheit" zu stehen. Aber man muß die verschiedene Zielrichtung der Argumentation im Auge behalten. Mit der Kritik subjektsbegründender Erkenntnis in der 2. Auflage, die in einer Relativierung der Subjek-Objektunterscheidung begründet sein sollte, ging es Heim um die Diskreditierung "objektiver", 138

Vgl. GG3,140ff.

139

Vgl. GG3,102ff. Vgl. GG3,146.

140

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intersubjektiv vermittelbarer Erkenntnis. Die Zierichtung war die Einbettung der individuellen Subjekte in ein relationales Wirklichkeitsgeschehen. Die Zielrichtung in "Glaubensgewißheit3" ist nun eine andere. Die für die 2. Auflage geltende Relativierung der Subjekt-Objekt-Unterscheidung bleibt bestehen.141 Das "erkenntnistheoretische Subjekt" in der B.Auflage ist streng zu unterscheiden von demjenigen Subjekt, das sich als Gegenüber zu einem Objekt versteht142 Es ist eine Explikation, die in Bezug zur Sphäre der zweiten Dimension steht, die deren "Berührung" mit der Empirie erklären soll. Das erkenntnistheoretische Ich ist also auf der Ebene des Schicksals anzusiedeln und ist eine logische Konkretisierung des Sachverhalts, wie uns das Schicksal als überempirisch vergegenwärtigt werden kann.143 Mit dem erkenntnistheoretischen Ich bzw. dem nichtgegenständlichen Ich betritt Heim zweifellos das Gebiet der transzendentalen Fragestellung. Transzendentalität war aber gerade das, was Heim der Erkenntnistheorie verwehren will. Die transzendentale Fragestellung gilt ihm als theoretische Unmöglichkeit. Zum Ausdruck kommt diese Haltung implizit in dem krassen Gegenüberstehen von dem als Anschauungsform relativierten Subjekt mit dem erkenntnistheoretischen Ich.144 Mit der Relativierung des aufs Objekt bezogenen Subjekts will Heim prinzipiell gegenständliche Erkenntnis von Erkenntnis im eigentlichen Sinne unterscheiden. Von einer solchen Erkenntnis geht aber die transzendentale Fragestellung aus. Wie kann Heim nun die Frage nach dem erkenntnis-

141

Vgl.GG3,116ff. 142 vgi G