Mönchtum und Reformation Luthers: Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters

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Mönchtum und Reformation Luthers: Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters

Table of contents :
Einleitung: Das asketische und monastische Ideal in der alten Kirche • · 13
1. Das Neue Testament 14
2. Die apostolischen Väter . . . 20
3. Marcion 22
4. Das Aufkommen des Begriffs „Mönch" 24
5. Tertullian 25
6. Cyprian 27
7. Clemens von Alexandrien 29
8. Origenes 31
9. Antonius und die Anachorese 33
10. Padiomius 37
11. Basilius 38
I. Hauptteil: Das Mönchsideal des Mittelalters 43
A. Zur Zeit der ausgehenden alten Kirche 43
a) Hieronymus 43
1. Hieronymus als Asket 43
2. Die Definition von „monaduV 44
3. Die Jungfräulichkeit als das Zentrum von Hieronymus' monastisdiem
Ideal 45
4. Jungfräulichkeit und Ehe 48
5. Die Bedeutung der menschlichen Willensfreiheit 52
6. Die Verdienstlichkeit der Jungfräulichkeit 53
7. Das Mönchsgelübde 57
8. Die Gelübde als zweite Taufe 58
9. Zusammenfassung 61
b) Augustin 63
1. Augustin als Mönch 63
2. Das Gemeinschaftsideal 66
3. Taufgelübde und Möndisgelübde 69
4. Die Liebe zu Gott 72
5. Das Demutsideal 73
6. Der Gehorsam '. 74
7. Armut und Askese 75
8. Die Enthaltsamkeit 76
9. Jungfräulichkeit und Ehe 78
10. Die Bedeutung der Gelübde 80
11. Zusammenfassung 84
c) Cassian 86
1. Das asketische Ideal Cassians 86
2. Das Gemeinschaftsideal bei Cassian 87
3. Die persönliche Reinigung 89
4. Die Abrenuntiatio 90
5. Das Vollkommenheitsideal 94
6. Das Demutsideal 96
7. Der Gehorsam 97
8. Die Keuschheit 101
9. Die Sündlosigkeit 102
10. Das Mönchsgelübde 104
11. Zusammenfassung 105
B. In der Zeit der Scholastik 106
a) Anselm von Canterbury 107
1. Anselms asketisches Ideal 107
2. Die Bedeutung des Mönchsgelübdes 108
3. Das Mönchsideal der pseudoanselmschen Schriften 109
b) Bernhard von Clairvaux 116
1. Die Ausschließlichkeit des monastischen Ideals 116
2. Das Vollkommenheitsideal 119
3. Die Gelübde als zweite Taufe 120
4. Das Mönchsleben als Buße 124
5. Die Liebe zu Gott 124
6. Das Demutsideal 126
7. Der Gehorsam 130
8. Das Mönchsgelübdc 132
9. Der Gedanke des steten Fortschreitens 134
10. Jungfräulichkeit und Ehe 136
11. Zusammenfassung 137
c) Wilhelm von St. Thierry 138
d) Gratian 140
e) Hugo von St. Viktor 144
f) Petrus Lombardus 146
g) Thomas von Aquin 150
1. Thomas'asketisches Ideal 150
2. Die Bedeutung der Mönchsgelübde 151
3. Das Vollkommenheitsideal 153
4. Das Mönchtum als der bessere Weg 156
5. Die Gelübde als zweite Taufe 157
6. Anachorese und Klostermönchtum 158
7. Zusammenfassung 159
C. Im Spätmittelalter 160
a) Johann Paltz 160
1. Das monastische Ideal im Spätmittelalter 160
2. Das monastische Ideal bei Paltz 162
3. Die Gelübde als zweite Taufe 167
4. Zusammenfassung 170
5. Das monastische Ideal bei anderen Theologen am Vorabend der Reformation
171
b) Die Kritik am Mönchtum bei John Wyclif 176
1. Das Ideal des Christus humilis als Ausgangspunkt von Wyclifs Kritik
am Mönditum 176
2. Wyclifs Berufung auf die Hl.Sdirift 177
3. Der Gedanke der christlichen Freiheit 183
4. Die Untersdieidung zwischen Geboten und Räten 185
5. Das Vollkommenheitsideal 186
6. Die Kritik an den Gelübden 189
7. Das Gemeinschaftsideal . 190
8. Ehe und Beruf 191
9. Zusammenfassung . . 192
c) Exkurs: Huß' Stellung zum Mönchtum 194
1.Huß und Wyclif 194
2. Die Untersdieidung zwischen Geboten und Räten 195
3. Der besondere Wert der vita contemplativa 196
4. Jungfräulichkeit und Ehe 197
5. Die Gelübde 197
6. Zusammenfassung 199
II. Hauptteil: Luthers Stellung zum Mönditum 201
A. Der Stand der Forschung 201
B. Die Randbemerkungen zu Augustin und Petrus Lombardus
(1509—1510) 213
1. Luthers Verteidigung der Echtheit der Augustinerregel 213
2. Die concupiscentia 215
3. Der Gedanke des steten Fortschreitens 217
4. Hochmut und Demut 218
5. Die Kritik an der Observanz 220
6. Zusammenfassung 225
C. Die erste Psalmenvorlesung (1513—1515) 227
1. Luthers Festhalten am monastisdien Ideal 228
2. Der Gehorsam , . 231
3. Concupiscentia und Enthaltsamkeit 235
4. Das Gemeinsdiaftsideal 238
5. Die Umformung des überkommenen monastisdien Ideals 240
6. Die Heiligen 247
7. Taufgelübde und Mönchsgelübde 249
8. Das Demutsideal 254
9. Das Vollkommenheitsideal 258
10. Der Gedanke des Fortschreitens 260
11. Die Untersdieidung zwischen Geboten und Räten 265
12. Die Kritik an der Observanz 267
13. Vergleich zwischen Luthers Stellung zum Mönchtum und dem überkommenen
monastisdien Ideal 272
D. Die Römerbriefvorlesung (1515—1516) 278
1. Luthers Festhalten am monastischen Ideal 278
2. Das Vollkommenheitsideal 281
3. Der Gedanke des Fortschreitens 284
4. Concupiscentia und Enthaltsamkeit 288
5. Die Kritik an der Observanz und am Mönditum 294
6. Das Demutsideal 301
7. Das Mönditum im Lichte der Dialektik von Gesetz und Freiheit. . . 302
8. Zusammenfassung und Vergleich mit der ersten Psalmenvorlesung . . 309
E. Die Galaterbriefvorlesung (1516—1517) 311
1. Luthers Festhalten am monastischen Ideal 311
2. Die Kritik am Heilsegoismus der Mönche 314
3. Vergleich der Kritik am Mönchtum in der Galaterbriefvorlesung mit
der Kritik in den früheren Vorlesungen 316
F. Exkurs: Die Richtervorlesung 317
G. Die Zeit von 1517—1519 325
1. Luthers Festhalten am monastischen Ideal 325
2. Das Vollkommenheitsideal 330
3. Die christliche Freiheit als Motiv für den Klostereintritt und als Ziel
des Mönchslebens 331
4. Taufe und Gelübde 332
5. Das Gemeinschaftsideal 335
6. Die Kritik am Mönchtum 337
7. Das Mönchtum als eine Einrichtung menschlichen Rechtes 342
H. Die Zeit von 1520 bis zum Frühjahr 1521 344
1. Operationes in Psalmos (zu Ps. 11—22) 344
2. Confitendi ratio 346
3. Ein Sermon von dem Neuen Testament 347
4. An den christlichen Adel deutscher Nation 349
5. De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium 350
6. Die Schriften vom Herbst 1520 bis zum Frühjahr 1521 355
I. Themata de votis (1521) 356
K. De votis monasticis iudicium (1521) 363
Zusammenfassung 370

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BERNHARD LOHSE

Mönchtum und Reformation Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters

GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECHT · 1963

Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Band 12

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1963 — Printed in Germany Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen 8016

Vorwort Luther war Mönch in der katholischen Kirche, als er zu seiner reformatorischen Auffassung von der Gerechtigkeit Gottes und der Rechtfertigung des Menschen gelangte. Schon aus diesem Grunde kommt der Frage, wie sich Luthers Stellung zum monastischen Ideal des Mittelalters entwickelt hat, besondere Bedeutung zu. Die Tatsache, daß das Mönditum das letzte große römische Bollwerk war, gegen das Luther seinen reformatorischen Angriff richtete, erhöht das Gewicht dieser Frage. Da von der bisherigen Lutherforschung die Entwicklung von Luthers Stellung zum monastischen Ideal so gut wie gar nicht näher gewürdigt ist, mag eine Untersuchung über dieses Problem nicht überflüssig sein. Um die Entwicklung von Luthers Stellung zum Mönchtum ins rechte Licht zu rücken, war es nötig, auf das monastische Ideal des Mittelalters in großen Zügen einzugehen. Dabei sollte nicht eine Geschichte des Mönchtums, auch Vielmehr ist die Auswahl der hier behandelten Mönchstheologen des Mittelnidit eine umfassende Geschichte des monastisdien Ideals gegeben werden, alters im wesentlichen unter dem Gesichtspunkt getroffen worden, die profilierteren theologischen Anschauungen über das monastische Ideal als Gegenüber für die Theologie des jungen Luther zu umreißen. Dabei war es nicht nötig, auf Männer wie Benedikt von Nursia oder Franz von Assisi und viele andere einzugehen, weil sie in theologischer Hinsicht zum monastischen Ideal nichts grundlegend Neues beigetragen haben dürften, so groß ihre Bedeutung für die Ordensgeschichte und die Verwirklichung des monastischen Ideals auch sein mag. Bei der Ausarbeitung des Teiles über das monastische Ideal des Mittelalters stellte sich heraus, wieviel auf diesem Gebiet noch zu tun ist. An Darstellungen der Ordensgesdiichte und auch zahlreicher Seiten des monastischen Ideals in bestimmten Epochen besteht kein Mangel. Doch gibt es, wenn ich recht sehe, bis heute keine befriedigende Schilderung der Geschichte des monastischen Ideals als solchen, in welcher die Wandlungen und Fortbildungen der Anschauung über die Bedeutung und den Wert des Mönchtums näher gewürdigt wird. In dieser Hinsicht können weder die Arbeit von O.Zöckler, Askese und Mönditum, 2 Bände, 2. Aufl. 1897, noch die von H.B.Workman, The Evolution of the Monastic Ideal from the Earliest Times down to the Coming of the Friars — a second chapter in the history of Christian renunciation, 2. Aufl. 1927, noch die von K.E.Kirk, The Vision of God — the Christian Doctrine of the Summum Bonum, 2. Aufl. 1950, genügen. Was Zöckler betrifft, so behandelt er faktisch weitgehend die Ge-

Vorwort

6

schichte des abendländischen Mönchtums, nicht diejenige des monastischen Ideals. In nicht wenigen Einzelheiten weist seine Arbeit schwerwiegende Mängel auf, vor allem in dem die Reformation behandelnden Abschnitt. Workman hingegen hat die These vertreten, daß der Ursprung des monastischen Ideals außerhalb der Kirche liege — eine Ansicht, die sich heute wohl kaum noch halten ließe. Zudem übergeht Workman etwa einen Mann wie Augustin fast ganz, der doch in einer Darstellung der Geschichte des monastischen Ideals unbedingt hätte gewürdigt werden müssen. Faktisch ist Workmans Darstellung über weite Strecken hin eine Geschichte des Mönchtums anstatt einer Schilderung des monastischen Ideals. Kirk schließlich hat zwar eine glänzende Würdigung der Idee der Visio Dei gegeben. Er meint, in ihr die Wurzel und das Ziel der Askese wie des Mönchtums sehen zu können. Aber diese These dürfte viel zu einseitig sein, um den mannigfaltigen Ausprägungen des monastischen Ideals auch nur von Ferne gerecht zu werden. So ergab sich die Notwendigkeit, das monastische Ideal des Mittelalters in dem hier beabsichtigten Sinne von den Quellen her zu erarbeiten. Eine Geschichte des Mönchsideals im Mittelalter ist damit keineswegs vorweggenommen. Hier konnten vielmehr nur eine Reihe mehr oder weniger ausführlicher Skizzen gegeben werden. Was die Entwicklung von Luthers Stellung zum Mönchtum betrifft, so fehlt es hier ebenfalls fast ganz an Vorarbeiten. Die einschlägige Literatur wird unten zu Beginn des zweiten Hauptteils kurz gewürdigt. Die übrige Literatur zur Theologie des jungen Luther ist insoweit erwähnt worden, als sie für die Frage des Mönchtums von Bedeutung ist. Schließlich mögen die folgenden Untersuchungen audi einen Beitrag zur Lösung der Frage liefern, wann Luther zu seiner reformatorisdien Erkenntnis gelangt ist. Die gegenwärtige Debatte über dieses Problem und die Fülle der verschiedenen Meinungen (s. jüngst A. Peters und R. Prenter) sind nicht immer ermutigend. Um bei der verworrenen Diskussion über die Anfänge der Theologie Luthers weiterzukommen, mag es nützlich sein, statt der etwas strapazierten Frage der iustitia Dei und der iustificatio beim jungen Luther ein anderes bedeutsames Problem zu untersuchen, bei dem vielleicht eher eine gewisse Einmütigkeit in der Forschung zu erreichen ist. Gleichwohl scheint es, daß sich, wenn die Ergebnisse dieser Arbeit im wesentlichen richtig sind, bedeutsame Folgerungen auch für die Frage nach dem Zeitpunkt der reformatorischen Erkenntnis Luthers ergeben. Anders als durch detaillierte Untersuchungen dürfte jedenfalls hinsichtlich des Problems der Initia theologiae Lutheri gegenwärtig nicht weiterzukommen sein. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die für die Drucklegung dieser Untersuchung einen erheblichen Zusdiuß gewährt hat, sei auch an dieser Stelle dafür gedankt. Hamburg, im Mai 1962

Bernhard Lohse

Inhalt Einleitung: Das asketische und monastische Ideal in der alten Kirche • · 1. Das Neue Testament 2. Die apostolischen Väter . . . 3. Marcion 4. Das Aufkommen des Begriffs „Mönch" 5. Tertullian 6. Cyprian 7. Clemens von Alexandrien 8. Origenes 9. Antonius und die Anachorese 10. Padiomius 11. Basilius

I. Hauptteil:

Das Mönchsideal des Mittelalters

A. Zur Zeit der ausgehenden alten Kirche a) Hieronymus 1. Hieronymus als Asket 2. Die Definition von „monaduV 3. Die Jungfräulichkeit als das Zentrum von Hieronymus' monastisdiem Ideal 4. Jungfräulichkeit und Ehe 5. Die Bedeutung der menschlichen Willensfreiheit 6. Die Verdienstlichkeit der Jungfräulichkeit 7. Das Mönchsgelübde 8. Die Gelübde als zweite Taufe 9. Zusammenfassung

b) Augustin 1. Augustin als Mönch 2. Das Gemeinschaftsideal 3. Taufgelübde und Möndisgelübde 4. Die Liebe zu Gott 5. Das Demutsideal 6. Der Gehorsam '. 7. Armut und Askese 8. Die Enthaltsamkeit 9. Jungfräulichkeit und Ehe 10. Die Bedeutung der Gelübde 11. Zusammenfassung

c) Cassian 1. Das asketische Ideal Cassians 2. Das Gemeinschaftsideal bei Cassian

13 14 20 22 24 25 27 29 31 33 37 38

43 43 43 43 44 45 48 52 53 57 58 61

63 63 66 69 72 73 74 75 76 78 80 84

86 86 87

8

Inhalt 3. Die persönliche Reinigung 4. Die Abrenuntiatio 5. Das Vollkommenheitsideal 6. Das Demutsideal 7. Der Gehorsam 8. Die Keuschheit 9. Die Sündlosigkeit 10. Das Mönchsgelübde 11. Zusammenfassung

B. In der Zeit der Scholastik a) Anselm von Canterbury 1. Anselms asketisches Ideal 2. Die Bedeutung des Mönchsgelübdes 3. Das Mönchsideal der pseudoanselmschen Schriften

b) Bernhard von Clairvaux 1. Die Ausschließlichkeit des monastischen Ideals 2. Das Vollkommenheitsideal 3. Die Gelübde als zweite Taufe 4. Das Mönchsleben als Buße 5. Die Liebe zu Gott 6. Das Demutsideal 7. Der Gehorsam 8. Das Mönchsgelübdc 9. Der Gedanke des steten Fortschreitens 10. Jungfräulichkeit und Ehe 11. Zusammenfassung

89 90 94 96 97 101 102 104 105

106 107 107 108 109

116 116 119 120 124 124 126 130 132 134 136 137

c) Wilhelm von St. Thierry d) Gratian

138 140

e) Hugo von St. Viktor f) Petrus Lombardus

144 146

g) Thomas von Aquin

150

1. Thomas'asketisches Ideal 2. Die Bedeutung der Mönchsgelübde 3. Das Vollkommenheitsideal 4. Das Mönchtum als der bessere Weg 5. Die Gelübde als zweite Taufe 6. Anachorese und Klostermönchtum 7. Zusammenfassung

150 151 153 156 157 158 159

C. Im Spätmittelalter

160

a) Johann Paltz

160

1. 2. 3. 4. 5.

Das monastische Ideal im Spätmittelalter Das monastische Ideal bei Paltz Die Gelübde als zweite Taufe Zusammenfassung Das monastische Ideal bei anderen Theologen am Vorabend der Reformation

160 162 167 170 171

Inhalt b) Die Kritik am Mönchtum

9

bei John Wyclif

176

1. Das Ideal des Christus humilis als Ausgangspunkt von Wyclifs Kritik am Mönditum 2. Wyclifs Berufung auf die Hl.Sdirift 3. Der Gedanke der christlichen Freiheit 4. Die Untersdieidung zwischen Geboten und Räten 5. Das Vollkommenheitsideal 6. Die Kritik an den Gelübden 7. Das Gemeinschaftsideal . 8. Ehe und Beruf 9. Zusammenfassung . .

176 177 183 185 186 189 190 191 192

c) E x k u r s : Huß'

Stellung

zum Mönchtum

1.Huß und Wyclif 2. Die Untersdieidung zwischen Geboten und Räten 3. Der besondere Wert der vita contemplativa 4. Jungfräulichkeit und Ehe 5. Die Gelübde 6. Zusammenfassung

II. Hauptteil: Luthers Stellung zum Mönditum A. Der Stand der Forschung

194 194 195 196 197 197 199

201 201

B. Die Randbemerkungen zu Augustin und Petrus Lombardus (1509—1510) 213 1. Luthers Verteidigung der Echtheit der Augustinerregel 2. Die concupiscentia 3. Der Gedanke des steten Fortschreitens 4. Hochmut und Demut 5. Die Kritik an der Observanz 6. Zusammenfassung

C. Die erste Psalmenvorlesung (1513—1515) 1. Luthers Festhalten am monastisdien Ideal 2. Der Gehorsam , . 3. Concupiscentia und Enthaltsamkeit 4. Das Gemeinsdiaftsideal 5. Die Umformung des überkommenen monastisdien Ideals 6. Die Heiligen 7. Taufgelübde und Mönchsgelübde 8. Das Demutsideal 9. Das Vollkommenheitsideal 10. Der Gedanke des Fortschreitens 11. Die Untersdieidung zwischen Geboten und Räten 12. Die Kritik an der Observanz 13. Vergleich zwischen Luthers Stellung zum Mönchtum und dem überkommenen monastisdien Ideal

213 215 217 218 220 225

227 228 231 235 238 240 247 249 254 258 260 265 267 272

10

Inhalt

D. Die Römerbriefvorlesung (1515—1516) 1. Luthers Festhalten am monastischen Ideal 2. Das Vollkommenheitsideal 3. Der Gedanke des Fortschreitens 4. Concupiscentia und Enthaltsamkeit 5. Die Kritik an der Observanz und am Mönditum 6. Das Demutsideal 7. Das Mönditum im Lichte der Dialektik von Gesetz und Freiheit. . 8. Zusammenfassung und Vergleich mit der ersten Psalmenvorlesung .

278

. .

E. Die Galaterbriefvorlesung (1516—1517) 1. Luthers Festhalten am monastischen Ideal 2. Die Kritik am Heilsegoismus der Mönche 3. Vergleich der Kritik am Mönchtum in der Galaterbriefvorlesung mit der Kritik in den früheren Vorlesungen

278 281 284 288 294 301 302 309

311 311 314 316

F. Exkurs: Die Richtervorlesung

317

G. Die Zeit von 1517—1519

325

1. Luthers Festhalten am monastischen Ideal 2. Das Vollkommenheitsideal 3. Die christliche Freiheit als Motiv für den Klostereintritt und als Ziel des Mönchslebens 4. Taufe und Gelübde 5. Das Gemeinschaftsideal 6. Die Kritik am Mönchtum 7. Das Mönchtum als eine Einrichtung menschlichen Rechtes

H . Die Zeit von 1520 bis zum Frühjahr 1521 1. Operationes in Psalmos (zu Ps. 11—22) 2. Confitendi ratio 3. Ein Sermon von dem Neuen Testament 4. An den christlichen Adel deutscher Nation 5. De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium 6. Die Schriften vom Herbst 1520 bis zum Frühjahr 1521

I. Themata de votis (1521) K. De votis monasticis iudicium (1521) Zusammenfassung

325 330 331 332 335 337 342

344 344 346 347 349 350 355

356 363 370

Abkürzungsverzeichnis ARG ChH

= Archiv für Reformationsgeschichte = Church History

CSCO

= Corpus Scriptorum Christianorum Orientalium

DThC

= Dictionnaire de Theologie Catholique

Ev.Th.

= Evangelische Theologie

GGA JEH LJB

= Göttingische Gelehrte Anzeigen = The Journal of Ecclesiastical History = Luther-Jahrbuch

NAG PW

= Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen = Pauly-Wissowa, Real-Encyclopädie der klassischen Altertumswissenschaft

RAC RE

= Reallexikon für Antike und Christentum = Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl.

RHE RGG ThLZ ThZ WA ZKG ZkTh ZSTh

= = = = = = = =

ZThK

= Zeitschrift für Theologie und Kirche

Revue d'Histoire Ecclesiastique Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl. Theologische Literaturzeitung Theologische Zeitschrift Luthers Werke, Weimarer Ausgabe Zeitschrift für Kirchengeschichte Zeitschrift für katholische Theologie Zeitschrift f ü r systematische Theologie

Einleitung Das asketische und monastische Ideal in der alten Kirche Das christliche Mönchtum ist im Verlaufe einer Entwicklung entstanden, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt. Zwar ist es üblich, die Geschichte des Mönchtums mit Antonius beginnen zu lassen, der in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts als junger Mann unter dem Eindruck des Evangeliums vom reichen Jüngling die ägyptische Wüste aufsuchte, um dort in der Einsamkeit zu leben. Tatsächlich bezeichnet dieser Schritt des Antonius auch einen neuen Einschnitt in der Geschichte der christlichen Askese und des Mönchtums, insofern Antonius sich von dem Leben in der Welt und in der Gemeinschaft mit anderen Menschen ganz zurückzog. Allein, seine Lebensweise war doch von derjenigen des späteren Mönchtums, vor allem im Abendland, recht verschieden. Die von dem späteren Mönchtum geforderte stabilitas loci ist Antonius noch ganz unbekannt gewesen. Auch hören wir nichts von einem eigentlichen Mönchsgelübde bei A n t o n i u s A u f der anderen Seite stellte sein Entschluß doch nicht ein völliges Novum dar. Schon vorher hatte es zahlreidie christliche Asketen und auch Eremiten gegeben, die die Trennung von der Welt in geringerem oder stärkerem Maße vollzogen hatten: die altchristliche Askese ist der Wurzelboden des christlichen Mönchtums. Sie ist auch für die Entwicklung des monastischen Ideals von großer Bedeutung gewesen. Unter Askese verstehen wir dabei den Verzicht auf bestimmte Grundtendenzen oder Daseinsformen menschlichen Lebens, zu dem Zweck, entweder bestimmte religiöse Ziele überhaupt erst zu verwirklidien oder doch eine höhere Form religiösen Lebens zu erreichen. 1 H.M.Biedermann, Die Regel des Pachomius und die evangelischen Räte, in: Ostkirchliche Studien 9, I960, S. 241 if., macht mit Recht darauf aufmerksam, welche Wandlung das Verständnis des Monitums und der evangelischen Räte durchgemacht hat. Für das heutige Empfinden seien „Mönchtum bzw. Ordensstand und ,evangelische Räte' . . . zwei untrennbar miteinander verbundene Begriffe des geistlichen Lebens. Dabei verstehen wir unter letzteren nicht die Wegweisungen allgemein, wie sie uns überall im Evangelium gegeben werden, sondern die drei Ordensgelübde der freiwilligen Armut, der ehelosen Keuschheit und des vollkommenen Gehorsams, wie sie heute in der Regel von den Ordensleuten der katholischen Kirche abgelegt werden." Diese Vorstellung habe sich jedoch erst seit dem 13. Jahrhundert unter dem Einfluß der Bettelorden herausgebildet. Erstmalig in der Franziskanerregel seien die drei Gelübde als „Gesetz" enthalten (S.241). Freilich, in einem allgemeineren Sinne sind bereits im 4. Jahrhundert die Gelübde als ewige Verpflichtung verstanden worden. Und auch in kirchenrechtlicher Hinsicht hat schon damals, jedenfalls in verschiedenen Gegenden, ihre absolute Verbindlichkeit festgestanden.

14

Das Neue Testament

1. Die altchristliche Askese geht in ihren Anfängen bis in das Neue Testament selbst zurück. Ein in gewisser Weise „asketisches" Moment hat der christlichen Verkündigung seit eh und je angehaftet. Hier liegt sogar ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Alten Testament und dem Judentum auf der einen und dem Christentum auf der anderen Seite. Dem Alten Testament und dem Judentum liegt die Askese im Grunde ganz fern. Das zeigt sich schon daran, daß die hebräische Sprache gar keine besondere Terminologie für das Asketische ausgebildet hat 2 . Wo im Alten Bunde asketische Handlungen begegnen, da sind sie stets durch diesen oder jenen besonderen Grund veranlaßt, nirgends aber Folge einer leibfeindlichen Haltung als solcher. Niemals war die Askese in irgendeinem Sinne Selbstzweck. Freilich ist diese Haltung nicht von allen Richtungen der jüdischen Religion zur Zeit Jesu beibehalten worden. Insbesondere bei den Essenern und der Sekte von Qumran begegnen asketische Momente. Sie haben ihren Grund allerdings wohl nicht in einer neuen Beurteilung des Leibes und der Leiblichkeit. Vielmehr dürfte es sich um Heiligkeitsaskese handeln, die für die besondere Zeit des Kampfes in der Heilszeit gefordert ist. Die Mitglieder der Gemeinde von Qumran unterzogen sich den Forderungen der priesterlichen Reinheit, um sich für die eschatologische Auseinandersetzung zu wappnen. Dabei läßt sich eine strenge Gesetzlichkeit beobachten. Was die Beziehungen zwischen Qumran und dem Neuen Testament hinsichtlich der Askese betrifft, so sind die Dinge bis heute nicht wirklich geklärt. Möglicherweise hat Johannes der Täufer ursprünglich der Sekte von Qumran angehört; aber sicher ist das nicht. Die Evangelien berichten, daß Johannes der Täufer mit Kamelhaaren und einem ledernen Gürtel bekleidet war und daß er Heusdirecken und wilden Honig aß (Mk. 1,6). Jesus selbst sagt von ihm: „Johannes ist gekommen, aß nicht und trank nicht" (Mt. 11,18). Es hat nicht den Anschein, daß die asketische Lebensweise des Täufers eschatologisch begründet war, d. h. daß sie mit seiner Verkündigung von dem nahe bevorstehenden Ende und Gericht in Zusammenhang stand. Vielmehr war sie wohl wie bei den Essenern Heiligkeitsaskese 3 . Darüber hinaus dürfte sie vor allem einfach mit seiner Bußpredigt zusammenhängen und Ausdruck seines prophetischen Bewußtseins sein. Wie auch immer die Beziehungen zwischen Qumran und der Urgemeinde gewesen sein mögen, soviel dürfte feststehen, daß Jesus selbst eine ganz andere Haltung gegenüber der Askese einnahm als Johannes der Täufer und auch als die Gemeinde von Qumran. Im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu stand die Botschaft von der hereinbrechenden Gottesherrsdhaft. Jesus selbst hat anscheinend nicht asketisch4 2

Siehe H.Bardtke, Art. Askese, II. In Israel, in: RGG 1, 3. Aufl. 1957, Sp.640. K.G.Kuhn, Art. Askese, IV. Im Urchristentum, in: RGG 1, 3. Aufl. 1957, Sp.642f. Zur Frage der Askese bei Jesus und im Neuen Testament siehe H. Strathmann, Geschichte der frühchristlichen Askese, Bd. 1, 1914; ders., Art. Askese II (diristlidi), in: RAC 3

4

Das Neue Testament

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gelebt. Darauf weist einmal das Wort Mt. 11,18f.: „Johannes ist gekommen, aß nicht und trank nicht; so sagen sie: er hat den Teufel. Des Menschen Sohn ist gekommen, ißt und trinkt; so sagen sie: siehe, wie ist der Mensch ein Fresser und ein Weinsäufer, der Zöllner und Sünder Geselle!" Sodann aber bezeugt audi die Perikope Mk. 2,18-22 Jesu unasketische Lebensweise. Hier antwortet Jesus auf die Frage der Johannesjünger und der Pharisäer, warum seine eigenen Jünger nicht fasten: „Wie können die Hochzeitsleute fasten, dieweil der Bräutigam bei ihnen ist? . . . Es wird aber die Zeit kommen, daß der Bräutigam von ihnen genommen wird; dann werden sie fasten." Es mag durchaus sein, daß der zweite Teil dieses Logion (Vers 19 b und 20) eine sekundäre Weiterbildung ist und die Perikope in ihrer heutigen Form auf ein Streitgespräch der Urgemeinde mit den Juden zurückgeht 5 . Das Herrenwort in Vers 19 a dürfte jedoch auf jeden Fall ursprünglich sein. Jesu unasketischer Lebenswandel erregte bei den Juden Anstoß. Dabei hat Jesus jede Polemik gegen das Fasten oder die Askese als solche durchaus ferngelegen. Daß Jesus das jüdische Fasten nicht grundsätzlich ablehnte, zeigt sich deutlich in der Bergpredigt (Mt. 6,16-18). Vielmehr war sein Umgang mit den „Zöllnern und Sündern", der bis zur Tischgemeinschaft ging, Zeichen der Heilszeit und der vergebenden Liebe Gottes, die gerade den Sünder sucht". Freilich weist Jesu Verkündigung audi Züge auf, die in späterer Zeit oft als asketisch angesehen worden sind. Hier sind einmal die scharfen Worte gegen den Reichtum zu nennen, die den Menschen davor warnen, sein Herz an irdische Güter zu hängen 7 . Sodann ist seit eh und je die Perikope vom reichen Jüngling für das Mönchtum von besonderer Bedeutung gewesen (Mk. 10,17-31 par.). Jesu Wort: „Gehe hin, verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und 1, 1950, Sp.758ff.; K.Müller, Die Forderung der Ehelosigkeit für alle Getauften in der alten Kirche (1927), in: Aus der akademischen Arbeit — Vorträge und Aufsätze, 1930, S . 6 3 f f . ; H.Preisker, Christentum und Ehe in den ersten drei Jahrhunderten, 1927; G . D e l ling, Paulus' Stellung zu Frau und Ehe, 1931; K. Heussi, Der Ursprung des Mönchtums, 1936, S. 15 ff.; H . v. Campenhausen, Die Askese im Urchristentum (1949), in: Tradition und Leben, Kräfte der Kirchengeschichte — Aufsätze und Vorträge, I960, S. 114 ff.; ders., Die Jungfrauengeburt in der Theologie der alten Kirche, in: Kerygma und Dogma 8, 1962, S. 1 ff.; H.Chadwick, Art. Enkrateia, in: R A C 5, 1960, Sp. 343ff.; J.Leipoldt, Die Frau in der antiken Welt und im Urchristentum, 1962. 5 So R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, 4. Aufl. 1958, S. 17 f. 6 Vgl. dazu etwa Mt. 9,10par.; Mt. 11,19par.; Lk. 7,36-50 u.ö. 7 Siehe hierzu insbesondere die Bergpredigt, vor allem Mt. 6,19-21 par. Die lukanische Feldrede Lk. 6,20-26 weist gegenüber den Seligpreisungen bei Mt. 5,3-11 charakteristische Verschärfungen auf, die in „ebionitischer" Richtung gehen und den Reichtum schlechthin als unvereinbar mit der Nachfolge bezeichnen; siehe besonders Lk. 6,24: „Weh euch Reichen! denn ihr habt euren Trost dahin!" Aber auch Stellen wie Mk. 10,25 par. und Lk. 16,19-31 stellen den Gegensatz zwischen der Gottesherrschaft und irdischem Reichtum scharf heraus. D i e Frage, ob es sich dabei um essenisch-asketische Züge handelt, wie K. G. Kuhn meint (ebd. Sp. 643), kann hier außer Betracht bleiben.

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D as N e u e Te stam e n t

komm, folge mir nach!" (Mk. 10,21) w ird von Matth äus in der schärferen Formulierung überliefert: „W illst du vollkommen sein . . . " (Mt. 19,21). Selbst w enn, w ie es w ahrscheinlich ist, der Hinw eis auf die „Vollkommenheit" nicht ursprünglich ist 8 , so fordert Jesus doch mit dieser Be rufun g etw as Besonderes, nämlich den Verzicht auf das Leben in der W elt. D aß das Leben als Jünger in der N ach folge mit dem Leben in der W elt nicht vereinbar w ar, geht audi aus dem Gespräch Jesu mit den Jüngern hervor, das auf die Begegnung mit dem reichen Jüngling folgte. Als Jesus gesagt hatte, daß es leichter ist, daß ein Kame l durch ein N ade lö h r geht, als daß ein Reicher in das Reich Gottes gelangt, fragt Petrus: „Siehe, w ir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt: w as w ird uns d af ü r?"9 N ach Mk. 10,29 antw ortete Jesus darauf: „W ahrlich, ich sage euch, niemand h at H aus oder Brüder oder Schw estern oder Mutter oder Vater oder Kinder oder Äcker um meinetw illen und des Evangeliums w illen verlassen, der es nicht hundertfältig (w ieder) e m pfän gt."1 0 Ist hier noch an das gedacht, w as Jesus von den ihm nachfolgenden Jün gern in besonderer W eise fordert und zugleich ihnen verheiß t, so gibt es doch andere W orte Jesu, die den Verzicht in schlechthin radikaler W eise verlangen. D as gilt insbesondere von Mt. 19,12: „Es gibt Eunuchen, die v o m Mutterleib so geboren sind, und es gibt Eunuchen, die von Menschen zu Eunuchen gemacht sind, und es gibt Eunuchen, die sich selbst zu Eunuchen gemacht haben um des Himmelreiches w illen." N ach dem Bericht des Matthäus, der allein dieses W ort überliefert, stellt dieses Logion die An tw ort auf eine Frage der Jün ge r dar, ob es denn ratsam sei, überhaupt zu heiraten. Es ist nicht unmöglich, daß auch dieses W ort an sich an die unmittelbare Jüngerschar gerichtet ist. Doch deutet nichts in dem Ko n te xt auf eine derartige Einschränkung hin. Andererseits zeigt die verhüllende Redew eise, deren sich Jesus an dieser Stelle bedient, daß es sich hier auch nicht um eine für jedermann gültige Forderung handelt. Vielmehr dürfte der Sinn dieses Logion sein, daß gegebenenfalls um der Erlangung des Himmelreiches w illen auch der Verzicht auf die Ehe notw endig ist. Selbst dieses hohe Opfe r kann gefordert w erden oder geboten sein. Über die Umstände, unter denen Ehe8 Es ist bezeichnend, daß dieses He rre n w o rt in der Geschichte des Mönchtums fast immer in der bei Matth äus überlieferten Fo rm v o n Be de utun g gew orden ist; denn nur hier findet sich der Hin w e is auf eine besondere Vollkomme n h e it gegenüber dem Le be n in der W elt, die w eder in der markinischen noch in der lukan isdie n Fo rm (Mk. 1 0 , 2 1 / Lk. 1 8 ,2 2 ) begegnet.

• So nach Mt. 1 9 ,2 7 . N ac h M k . 1 0 ,2 8 un d Lk . 1 8 ,2 8 h at Pe trus die Frage „W as w ird uns d af ü r?" nicht gestellt. Sie schw ingt aber auch bei Markus un d Lu kas in den W orten des Pe trus deutlich im U n te rto n mit. 1 0 In den ältesten Han dsch rifte n w ird das Ve rlasse n der Frau n idit e rw äh n t. D o di ko m m t dem keine besondere Be de utun g zu, vielmehr de n kt Je sus sicher auch an die Frau . Siehe K. Mü l l e r, o p.c i t., S. 6 3 . D as w ird be stätigt durch Lk . 1 4 ,2 6 , w o Je sus sagt : „W enn je m an d zu mir ko m m t un d haß t nicht V ate r un d Mutte r und Frau und Ki n de r und Brüde r un d Schw estern, ja sein eigenes Le be n , so kan n er nicht mein Jün ge r sein."

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losigkeit vonnöten ist, sagt der Abschnitt bei Matthäus nichts. Aber es ist bedeutsam, daß dieses Logion damit redinet, daß das Himmelreich den Verzidit auf die Ehe gegebenenfalls einschließt und daß diese Forderung nicht auf die Jünger beschränkt zu sein braucht, sondern sich an alle richten kann. Demnach lassen sich bei den Worten Jesu, die den Verzidit auf das Weltleben zum Inhalt haben, zwei Gruppen unterscheiden. Die eine Gruppe von Logien wendet sich in besonderer Weise an die Jünger und verlangt von ihnen die Nachfolge in einem ganz radikalen Sinne. Die andere Gruppe von Herrenworten wendet sich an alle, die von der eschatologischen Freudenbotschaft getroffen werden, und macht ihnen, falls es nötig ist, den Verzicht auf die Familie und ein Leben in der Welt zur Pflicht. Allerdings gilt für beide Gruppen von Logien wie auch für die gesamte Verkündigung Jesu, daß es nicht um eine Askese im eigentlichen Sinne geht, die aus einer leibfeindlichen Haltung resultiert und daher grundsätzlich zu verstehen ist, sondern gegebenenfalls um den freiwilligen Verzicht, weil der Eingang in die Gottesherrschaft den Vorrang vor allen weltlichen Pflichten und Bindungen hat. Die Gesinnung und die Bereitschaft, die Jesus fordert, dürfte am besten umschrieben sein durch die paulinisdie Formel vom „Haben, als hätte man nicht" (1. Kor. 7,29-31). Freilich hat sich die Einstellung der Christen gegenüber den Fragen der Askese bald nach Jesu Kreuzigung und Auferstehung geändert. Auf der einen Seite hören wir 1. Kor. 9,5, daß Petrus und die anderen Apostel verheiratet sind und ihre Frauen auf ihre Missionsreisen mitnehmen. Die Zeit des Wanderapostolats, wie er während der Erdentage Jesu geübt worden war, wurde demnach als beendet angesehen und schien audi für die Missionsreisen der Apostel keine verpflichtende Gültigkeit mehr zu haben. Jedenfalls betrachteten es die Apostel als ihr gutes Recht, ihre Frauen bei sich zu haben. Zeigt sich hier ein Zurückbleiben hinter den radikalen Forderungen Jesu gegenüber seiner Jüngerschar, so sehen wir auf der anderen Seite eine gewisse Verschärfung hinsichtlich asketischer Anschauungen. Die Perikope Mk. 2,18-22 dient jetzt dazu, die Wiederaufnahme der jüdischen Fastenpraxis durch die palästinische Urgemeinde zu begründen. Aus der Didache (8,1) erfahren wir, daß — jedenfalls in dem Bereich, für den die Didache geschrieben ist, d. h. Ostsyrien 11 — die jüdischen Fasttage Montag und Donnerstag bei den Christen auf die Tage Mittwoch und Freitag verlegt worden sind. Auch hinsichtlich der Stellung zum Besitz mag eine gewisse Veränderung vor sich gegangen sein. Nach dem Bericht der Apostelgeschichte (2,44; 4,32-35) hat es in der Urgemeinde im wesentlichen keinen Privatbesitz mehr gegeben. Nun handelt es sich hier sicherlich um ein Ideal, das Lukas von dem urchristlichen Liebeskommunismus zeichnet, wobei er auch an manche philosophischen Gedanken anknüpft 12 . Aber es scheint doch so zu sein, 11

Siehe dazu A. Adam, Erwägungen zur Herkunft der Didache, in: ZKG 68,1957, S. 1 ff. " Siehe dazu E.Haenchen, Die Apostelgeschichte, 12. Aufl. 1959, S. 187ff.

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daß es in der Urgemeinde gewisse asketische Strömungen gegeben hat. Die Tatsache, daß Lukas von verschiedenen Fällen zu berichten weiß, in denen Gemeindeglieder auf ihren Besitz verzichtet haben (Act. 4,36—5,11), dürfte darauf hinweisen. Aber auch der Bericht des Hegesipp über die asketische Lebensweise des Jakobus spricht dafür. Dort heißt es, „daß Jakobus von Mutterleib an heilig war, weder Wein noch berauschende Getränke trank und auch kein Fleisch aß; ein Schermesser berührte niemals seinen Kopf, er salbte sich nicht mit ö l und nahm auch kein Bad" 13 . Mag dieser Bericht auch sicher übertrieben sein, so dürfte doch sein Kern auf guter Uberlieferung beruhen und zumindest das Vorhandensein asketischer Strömungen in der Urgemeinde bestätigen. Dabei dürfte es so gewesen sein, daß sich die asketische Bewegung im Laufe der Zeit verstärkt hat. Das ergibt sich zumindest aus einem Vergleich der Fastenperikope Mk. 2,18 ff. mit dem Bericht über Jakobus: dort ist von einer Askese im eigentlichen Sinne noch nicht die Rede, wohl aber hier bei Jakobus. Während wir in der Apostelgeschichte über geschlechtliche Askese in der Urgemeinde nichts hören u , haben im Bereich der hellenistischen christlichen Gemeinden alsbald auch in dieser Hinsicht asketische Strömungen eingesetzt. Das zeigt sich vor allem in den paulinischen Gemeinden und bei Paulus selbst. In l . K o r . 7 setzt sich Paulus mit einer leib- und ehefeindlichen Richtung auseinander. Dabei erweist sich, daß Paulus selbst nicht ganz frei von einer ehefeindlichen Tendenz ist. Zwar erkennt er die Ehe als Gottes Stiftung durchaus an und lehnt unter Berufung auf ein Herrenwort die Ehescheidung ab (1. Kor. 7,10 f.). Auf der anderen Seite aber steht doch Paulus den asketischen Kreisen seiner korinthischen Gemeinde selbst recht nahe. Er beginnt seine Ausführungen über die Frage der Ehe mit der Feststellung: „Es ist gut für den Mann, keine Frau zu berühren" (l.Kor.7,1). Und in den folgenden Ausführungen begegnet immer wieder sein Wunsch, den Menschen doch, wenn möglich, von der Bindung an die Ehe zu befreien. Dabei hat er durchaus nicht die Auflösung schon bestehender Ehen im Auge, wie er audi nicht geschlechtliche Askese innerhalb der Ehen verlangt. Wohl aber ist es im Grunde doch besser, wenn man nicht heiratet. Paulus weiß sehr gut, daß dieser Verzicht nicht von jedem verlangt werden kann. Nicht alle haben das Charisma, ehelos bleiben zu können, und darum hütet Paulus sich, aus seiner Ansicht ein Gesetz zu machen. Vielmehr steht die Ehe 13 Euseb, h. e. 2,23,5. Siehe dazu wie auch zu den anderen Traditionen über Jakobus B.Lohse, Das Passafest der Quartadecimaner, 1953, S.67f., 106—110; ferner J.Danielou, Theologie du Judeo-Christianisme, 1958, S.426. Beachtlich ist allerdings, daß Hegesipp nicht sagt, daß Jakobus ehelos gelebt habe. 14 Als einziger Beleg käme hierfür allenfalls Act. 21,9 in Frage, wo Lukas von den vier jungfräulichen Töchtern des Philippus berichtet, die die Gabe der Prophetie hatten. Aber man müßte dann schon einen Zusammenhang zwischen ihrer Jungfräulidikeit und ihrer prophetischen Gabe annehmen. Davon steht jedoch, genau genommen, nichts im Text. Im übrigen gehört Philippus zu den Hellenisten und nicht eigentlich zur Urgemeinde.

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des Christen im Zeichen der christlichen Freiheit, so daß die Meinung ist: „Die da Frauen haben, daß sie seien, als hätten sie keine" ( l . K o r . 7,29). Mag die Reserve des Paulus gegenüber der Ehe zum Teil in einer gewissen asketischen Haltung begründet sein, so ist sie doch zugleich und audi in stärkerem Maße aus der Naherwartung heraus zu verstehen, und zwar im Sinne einer Interimsethik: „Die Zeit ist kurz" ( l . K o r . 7 , 2 9 ) . Auf Grund dieser Naherwartung ist eigentlich kein Raum mehr für die Ehe; denn „der Unverheiratete sorgt sich um die Dinge des Herrn, wie er dem Herrn gefalle; der Verheiratete aber sorgt sich um die Dinge der Welt, wie er der Frau gefalle" ( l . K o r . 7 , 3 2 f . ) . Das σώμα gehört aber in jedem Fall dem Herrn, ob der Mensch nun verheiratet ist oder nicht. Nur wer der Dirne anhängt, verliert die Gemeinschaft mit dem Herrn. Aber eine abgestufte Ethik liegt Paulus fern. So wenig Paulus grundsätzlich der geschlechtlichen Askese das Wort redet, so sehr läßt sich doch bei ihm eine gewisse Akzentverschiebung gegenüber der Verkündigung Jesu in Richtung auf eine stärkere Betonung der Askese beobachten. Diese Veränderung sollte sich in der Folgezeit in verstärktem Maße fortsetzen. Im ausgehenden ersten und dann vor allem im zweiten Jahrhundert lassen sich allenthalben in der christlichen Kirche asketische Strömungen feststellen. Innerhalb des Neuen Testaments findet sich eine derartige Tendenz möglicherweise in der Johannesapokalypse. In Apc. 14, 1-5 sieht der Seher das Lamm auf dem Berg Zion stehen, umgeben von den 144000, die ein neues Lied singen und von denen es dann heißt: „Diese sind es, die sich mit Weibern nicht befleckt haben; denn sie sind jungfräulich." Wahrscheinlich ist dieser Satz jedoch nicht wörtlich zu verstehen, d.h. im Sinne einer geschlechtlidien Askese, obwohl es möglich ist, daß hier ein Gedanke jüdisch-apokalyptischer Tradition zugrunde liegt, wonach wie in Qumran nur ehelos lebende Männer zum Israel der Endzeit gehören können 15 . Vielmehr ergibt sich aus dem weiteren Zusammenhang, in welchem dieser Satz in der Apokalypse steht, daß der Seher an das ganze Gottesvolk der Heilszeit denkt, das nicht vor dem Tier aus dem Abgrund niedergefallen ist (Kap. 13). Dementsprediend sind offenbar „Jungfräulichkeit" und „Unzucht" wie bei den alttestamentlichen Propheten bildlich zu verstehen: sie bezeichnen die Treue gegenüber Gott oder den Abfall vom Glauben. Mit anderen Worten: die 144 000 sind ein bildlicher Ausdruck für die Kirclie, die ihrem himmlischen Herrn treu bleibt. Diese Auffassung der Stelle Apc. 14, 1-5 wird bestätigt durch eine Reihe von anderen Aussagen der Apokalypse, in denen scheinbar zwar auch die Rede von geschlechtlichen Sünden ist, jedoch ein übertragenes Verständnis sich bei näherer Betrachtung nahelegt 1β . Siehe E.Lohse, Die Offenbarung des Johannes, 1960, S. 76. " A p c . 2 , 1 4 . 2 0 - 2 3 ; 3 , 1 8 ; 17,2; 1 8 , 3 . 9 ; 19,2. Siehe audi die Erörterung dieser Stellen bei H. v. Campenhausen, op. cit. (1960), S. 150—152. 15

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D i e apostolischen Väter

Immerhin muß doch das Gebiet, in welchem die Apokalypse entstanden ist, nämlich aller Wahrscheinlichkeit nach Kleinasien, sich bald asketischen Tendenzen in stärkerem Maße geöffnet haben. Es ist vielleicht nicht zufällig, daß ein Mann von so radikalen asketisdien Anschauungen wie Marcion aus Kleinasien stammt und dort auch zunächst für seine Ideen geworben hat und daß in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts der Montanismus mit seiner rigorosen Ethik ebenfalls in demselben Gebiet entstanden ist und fürs erste auch auf die Asia beschränkt blieb. Freilich zeigt andererseits die Abwehr, mit der die Mehrzahl der Bischöfe Kleinasiens sowohl Marcion als auch dem Montanismus begegneten, daß die radikalen asketischen Tendenzen nur von einer Minderheit innerhalb der Kirche vertreten wurden. Allerdings dürfte es doch eine solche, nicht unbeträchtliche Minderheit gegeben haben, der dann natürlich auch Aussagen wie Apc. 14,1-5 sehr willkommen waren. Auf der anderen Seite ist es aber wichtig, daß die Askese hier nicht höher bewertet wird als das Leben in anderen christlichen Ständen. 2. In anderen Gebieten scheint jedoch die Entwicklung um die Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert schon weiter fortgeschritten zu sein als in Kleinasien. Ignatius schreibt in seinem Brief an Polykarp (5,2): „Wenn jemand zur Ehre des Fleisches des Herrn in Keuschheit zu bleiben vermag, so soll er es ohne Selbstruhm tun. Falls er sich rühmt, ist er verloren, und falls er für mehr angesehen wird als der Bischof, ist er dem Verderben verfallen." Zwar wird hier vor einer Selbstüberhebung des Asketen gewarnt. Aber ein Zweifaches ist doch wichtig: Einmal „ist hier nicht der allgemeine Gedanke ausgesprochen, daß die Keuschheit seiner Gläubigen dem Herrn selbst zu Ehren gereicht..., sondern der speziellere, daß geschlechtliche Enthaltsamkeit eine Verherrlichung des Χρίστος  κατά  σάρκα,  der  gleichfalls  die  Ehe  mied,  bedeutet" 17 .  Es  handelt  sich  also  um  eine  besondere  Nachfolge  gegenüber dem irdischen Jesus, die der Asket auf sich nimmt 18 . Sodann verdient Beachtung, daß das Verbot dieser möglichen Selbstüberhebung der Asketen die Sicherung der bischöflichen Autorität im Auge hat, die nicht etwa durch Asketen in Frage gestellt werden soll 19 . Eine Höherbewertung der asketisdien Lebensweise gegenüber dem Wandel der übrigen Gemeindeglieder ist dadurch keineswegs ausgeschlossen, wenn sie freilich auch nicht 17 W.Bauer, Die Briefe des Ignatius von Antiochia und der Polykarpbrief, in: Handbuch zum N T , Ergänzungsband 2, 1920, S.278. 18 H . v. Campenhausen, op. cit., S. 155, Anm.219, sagt unter Verweis auf diese Stelle, daß das Gelübde erstmalig bei Ignatius begegnet. Von einem Gelübde steht aber an dieser Stelle nichts. Die ersten kirchlichen Theologen, die ein Gelübde erwähnen, sind vielmehr Tertullian und Clemens. Siehe G. Grützmacher, Art.Mönchtum, in: RE 13, 3.Aufl. 1903, S.216, 20 ff., der allerdings nur Tertullian nennt; aber die Erwähnung von Gelübden bei Clemens ist ungefähr gleichzeitig, siehe u. S. 24, Anm. 28. 19 An dieser Auffassung der Stelle möchte ich mit J. A. Fisdier, Die apostolischen Väter, 1956, S.221, festhalten, trotz der Einwände von A.d'Aläs, Recherdies de Science Religieuse 25, 1935, S.489ff., dem H . v.Campenhausen, op.cit., S.149 Anm. 192, zustimmt.

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unbedingt impliziert ist 20 . Auf jeden Fall setzt Ignatius an dieser Stelle das Vorhandensein christlicher Asketen deutlich voraus 21 . In Ostsyrien dürfte zur gleichen Zeit, zu der Ignatius schrieb, die Entwicklung noch stärker fortgeschritten sein als in Westsyrien. Wahrscheinlich setzt die Didache bereits das Institut geistlicher Ehen voraus, wenn diese wohl auch nur bei „Propheten" begegnen und die Gemeinden ausdrücklich vor dem Versuch einer unüberlegten Nachahmung gewarnt werden (Kap. 11,II) 2 2 . In späterer Zeit findet sich in Ostsyrien, wohl unter dem Einfluß marcionitischer, valentinianischer und enkratitischer Richtungen, eine besonders radikale Auffassung, die jedem Getauften die Ehelosigkeit zur Pflicht machte 23 . Freilich hat sich dort diese Praxis auf die Dauer nicht halten können und ist daher in späterer Zeit auf einen engeren Kreis beschränkt worden 24 . In anderen Teilen der Kirche zeigt sich nicht die gleiche Radikalität wie in Ostsyrien, jedenfalls nicht innerhalb der orthodoxen Kreise. Immerhin erfreute sich auch in der Großkirche die Askese im zweiten Jahrhundert einer zunehmenden Wertschätzung. Dabei wird der Akzent allenthalben in wachsendem Maße auf die geschlechtliche Askese gelegt. Für Rom etwa bezeugt der 1. Clemensbrief, daß es dort Asketen gab. Es heißt Kap. 38,2: „Wer heilig ist im Fleisch, soll sich nicht rühmen, in der Erkenntnis, daß es ein anderer ist, der ihm die (Gabe der) Enthaltsamkeit verleiht." Diese Mahnung erscheint sehr viel vorsichtiger und besonnener als die ähnlich lautende Warnung des Ignatius vor Selbstüberhebung. Es fehlt bei Clemens die besondere Herausstellung der bischöflichen Autorität. Audi von einer Nachahmung des irdischen Jesus ist nicht die Rede. Statt dessen wird der Asket darauf hingewiesen, daß der Herr es ist, der ihm die Gabe der Enthaltsamkeit verliehen hat. Eine eigentlich asketische Tendenz liegt dabei Clemens durchaus fern. Doch ist auch in Rom die Entwicklung schnell weitergegangen. Das zeigt sich schon bei Hermas, und zwar an zwei Punkten. Einmal verrät Hermas eine gewisse Abneigung gegen eine zweite Ehe nach dem Tode des ersten Ehegatten. Dabei ist wichtig, daß Hermas als Grund für seine Reserve gegenüber einer zweiten Ehe den besonderen Lohn angibt, den sich der auf die 20 Anders H. v. Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten, 1953, S. 110 Anm.4, der diesen Satz „als ein Verbot des öffentlichen Rühmens für den Asketen" versteht. 21 Vgl. audi Smyrn. 13,1. 22 Siehe zu diesen Fragen den Aufsatz von A.Adam, zit. o. S. 17, Anm. 11. 23 Siehe die Arbeiten von A. Vööbus, Celibacy, A Requirement for Admission to Baptism in the Early Syrian Churdi, 1951; ders., History of Asceticism in the Syrian Orient, A Contribution to the History of Culture in the Near East I: the Origin of Asceticism, Early Monasticism in Persia, in: CSCO 184, Subsidia 14, 1958; II: Early Monasticism in Mesopotamia and Syria, in: CSCO 197, Subsidia 17, 1960. Siehe dazu A.Adam, GGA 213, 1959, S. 127 ff. 24 A. Vööbus, The Institution of the Benai Qeiama and Benat Qeiama in the Ancient Syrian Church, in: ChH 30, 1961, S. 19ff.

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Marcion

zweite Ehe Verziditende erwirbt. Zwar sagt Hermas in Übereinstimmung mit Paulus, daß, wer sich wieder verheiratet, nicht sündigt; „aber wenn jemand (in dieser Lage) ledig bleibt, erwirbt er sich beim Herrn noch höhere Ehre und großen Ruhm" (Mand.4,4,2). Noch stärker zeigt sich bei Hermas eine asketische Tendenz darin, daß er auch den Verheirateten die Enthaltsamkeit empfiehlt und zu einer geistlichen Ehe rät (Vis. 2 , 2 , 3 ; Sim. 9, 1 0 , 6 — 1 1 , 8 ) . Wenig später begegnet in Rom audi bei Justin eine asketische Denkweise. Apol. 1 , 2 9 , 1 heißt es, daß die Christen entweder verheiratet sind, um Kinder zu zeugen, oder daß sie ehelos sind. An anderer Stelle (Apol. 1 , 1 5 , 4 ff.) befaßt Justin sich mit der Frage einer zweiten Ehe. Nachdem er das Wort über die Eunuchen (Mt. 19,12) zitiert hat, fährt er fort: „Nach dem Urteil unseres Lehrers sind sowohl diejenigen, die eine vom menschlichen Gesetz erlaubte zweite Ehe (seil, nach dem Tode des ersten Ehegatten) schließen, Sünder als auch diejenigen, welche ein Weib ansehen, um es zu begehren . . . Und viele Männer und Frauen, die von Jugend auf Christen waren, bleiben noch mit sechzig und mit siebzig Jahren rein." Es ist nicht ganz sicher, aber doch sehr wahrscheinlich, daß Justin bei den „Reinen" hier an Ehelose denkt 25 . Dann aber haben wir auch hier wieder einen Hinweis auf die christlichen Asketen. Darüber hinaus geht Justin insofern weiter als Hermas, als Justin die zweite Ehe für sündig erklärt. 3. Einen großen Aufschwung erfuhr das asketische Ideal im zweiten Jahrhundert durch die verschiedenen häretischen Bewegungen, insbesondere die Gnosis und die Kirche Marcions. Zwar haben nicht alle gnostischen Sekten die Ehe verworfen. Gruppen wie die Karpokratianer traten für eine völlig libertinistische Haltung in sexuellen Fragen ein. Andere wie etwa die Basiiidianer dürften sich im Grunde von der Einstellung der Großkirche gegenüber der Ehe nicht allzusehr unterschieden haben; die Ehe wurde hier nicht verworfen, andererseits aber doch deutlich gegenüber der Keuschheit abgewertet. Doch lehnten eben andere gnostische Gruppen und Marcion die Ehe schlechthin ab 2β . Das gilt insbesondere auch von den Satornilianern und Valentinianern. 2 5  άφθοροι könnte natürlich auch bedeuten, daß die Betreffenden ihrem Ehegatten treu und insofern rein geblieben sind. Allein, der vorangehende Hinweis auf Mt. 1 9 , 1 2 legt dodi die Vermutung nahe, daß Justin hier an Ehelose denkt. Zudem würde er die eheliche Treue mancher (!) Christen sdiwerlich als etwas Außergewöhnliches betont haben. So faßt die Stelle auch C. J . Cadoux, The E a r l y Church and the World, 2. Aufl. 1955, S . 2 8 2 Anm. 8, auf. 2 8 Dabei ist wichtig, daß die Grenzen zwischen gnostischen und kirchlichen Gemeinschaften und Anschauungen oftmals durchaus fließend gewesen sind, zumindest, was die Haltung gegenüber der Askese betrifft. Das geht etwa aus dem 2. Clem. hervor, der wohl kurz vor 150 in Korinth entstanden sein dürfte (siehe dazu B. Altaner, Patrologie, 5. Aufl. 1958, S. 82 f.). Hier wird Kap. 1 2 , 2 , wenn auch ohne namentliche Erwähnung, das Ägypterevangelium zitiert: „Als der H e r r von jemandem gefragt wurde, wann sein Reich kommen werde, sagte er: .Wenn die Zwei eins sein werden, das Äußere und das Innere, und das

Marc i o n

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A m nachhaltigsten hat jedoch Marcion sein asketisches Ideal propagiert. Er hat in seiner Kirche den Grun dsatz eingeführt, daß jeder Ge taufte sich zur Ehelosigkeit verpflichten muß . Verheiratete muß ten, w enn sie getauft w erden w ollten, völlige Enthaltsamkeit in der Eh e geloben. Alles, w as mit der Geschlechtlichkeit zu tun hat, galt ihm als sündhaft. W er sich nicht zur Ehelosigkeit entschließ en kann, förde rt nur das W erk des gerechten W eltschöpfers und hindert damit das Erlösungsw erk des fremden Gottes. D arum muß der w ahre Christ sich von der W elt und ihrem Go tt ganz lossagen und vollkommen asketisch leben. D as schließ t auch eine strenge Askese hinsichtlich der N ah run g ein. Es ist keine Frage, daß Marcion mit diesen radikalen Forderungen, die er bei seinen Anhängern rigoros in die Tat umsetzte, in der Groß kirche auf scharfe Ablehnung stieß . Zu keiner Zeit h at die Groß kirche, von gelegentlichen Auß enseitern abgesehen, Marcions Anschauungen über die Eh e geteilt. U n d doch dürfte kein Zw eifel bestehen, daß Marcions Beispiel auf manche Kreise in der Groß kirche nachhaltigen Eindruck gemacht hat. Sein Einfluß auf die w eitere Entw icklung der christlichen Askese besteht zunächst in dem Vorbild, das er selbst gab und das in der Groß kirche ja auch ohne die bei den Marcioniten vorhandene Ausschließ lichkeit des asketischen Ideals verw irklicht w erden konnte. Läß t sich in dieser Hinsicht Marcions Einfluß auf die Groß kirche auch nicht unmittelbar nachw eisen, so können w ir hinsichtlich einer bestimmten Sitte eine Übernahme marcionitisdier Praxis durch die Groß kirche mit Sicherheit behaupten, nämlich hinsichtlich des Gelübdes. Marcion ist der erste gew esen, der von seinen Anhängern ein besonderes Gelübde verlangte, eben das der Ehelosigkeit 2 7 . Je de n falls w issen w ir nicht davon, daß w oanders schon vorher ein Gelübde verlangt w orden oder üblich Män n lidie mit dem W eiblichen, w eder Männliches noch W e iblich e s.'" In der folge n de n Exe ge se dieses A graph o n s läß t „Cl e m e n s" keinen Zw e ife l daran , daß dieses W o rt im Sinne völlige r geschlechtlicher Aske se zu verstehen ist. D e r Unterschied z ur christlichen Gn osis ist hier lediglich der, daß „Cl e m e n s" die Eh e losigke it seiner Ge me in de nicht zur Pflidit macht, son de rn um freie Ü be rn ah m e dieses Ide als w irbt. Siehe im übrigen zum Verh ältnis zw ischen Gro ß kirdie un d Gn osis W . Bau e r, Re ditgläubigke it und Ke tz e re i im ältesten Ch riste n tum, 1934. 27 D aß Marc i o n die Able istun g eines solchen Ge lübde s ve rlan gte , geht schon aus den allgemeinen Berichten Te rtullian s über die marcion itisdie Tau f prax i s h e rv o r: adv . Marc . 1, 2 9 , 1 non tingitur apud ilium caro , nisi v irgo , nisi v i dua, nisi caelebs, nisi div o rtio baptism a m e rcata, quasi non e tiam spadon ibus ex nuptiis n ata. 4 , 1 1 , 8 n uptias non coniungit, coniunctas non adm ittit, neminem tingit n isi caelibem aut spado n e m , morti aut re pudio baptisma se rv at. Es w i rd aber audi ausdrücklich e rw äh n t 4 , 3 4 , 5 quo m o do tu (Marcion ist an geredet) n uptias dirimis, nec coniungens m are m et fe m in am nec alibi coniunctos ad sacramen tum baptism atis et e udiaristiae admitte n s, nisi inter se con iurave rin t adv e rsus fruc tum n uptiarum , ut adv e rsus ipsum creatorem? V gl. audi die Belege bei Clemens Ale xan drin us, Stro m . 3 , 4 , 2 5 , 1 ; 3 , 3 , 1 2 , 2 , w o v o n einerzwtsnmlifedbaR   ά ν τίτα ξ ις   π ρύς   τόν  δημ ιουργών  bzw .  einem  ά ν τιτά σ σ εσ θα ι  τω  π ο ιητη  die  Re de  ist,  w as  ebenfalls  ein Ge l übde einschließ t. Siehe auch A . v . H arn ac k , Marc io n — D as Ev an ge l i um v o m fre m de n Go t t , N e udruc k I9 6 0 , S. 148, 277 * f. H arn ac k geht jedoch auf die Frage eines Ge lübde s bei dien Marcion ite n nicht ein.

Das Aufkommen des Begriffs „Mönch"

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gewesen wäre 28 . Es bewährt sich eben audi hier wieder die schon oft beobachtete Regel, daß die Kirche bei aller Verwerfung häretischer oder sdiismatischer Gruppen sich doch nidit selten von ihnen nachhaltig hat beeinflussen lassen. Der tiefere Grund dafür liegt in der manchmal vorhandenen verborgenen Verwandtschaft zwischen Großkirche und Häresie. In diesem Falle hat Marcion in einer radikalisierten Form nur vorweggenommen, was später die Kirche in maßvollerer Weise für einen begrenzten Kreis von Männern und Frauen zum Gesetz erhob — was den verpflichtenden Charakter des Gelübdes betrifft, jedoch mit dem gleichen Nachdruck. 4. In der Auseinandersetzung mit den verschiedenen häretischen Gemeinschaften bildete sich in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts die altkatholische Kirche heraus. Dieser Prozeß ist auch für die Geschichte des asketischen Ideals von Bedeutung gewesen, insofern die Asketen nun einen mehr oder weniger fest umrissenen Platz in der Kirche erhielten. Dabei gewann das asketische Ideal selbst an Schärfe und Profil. Es ist wohl nicht zufällig, daß sich unter den Lugdunensischen Märtyrern (177/178) ein gewisser Alkibiades befand, über den Euseb berichtet, daß er ein äußerst strenges Leben führte und schon vor seiner Gefangennahme nur Brot und Wasser zu sich nahm. Freilich ist es bezeichnend, daß, als Alkibiades diese Lebensweise audi im Kerker fortsetzen wollte, ein Mitgefangener namens Attalus auf Grund einer Offenbarung sagte, Alkibiades tue nicht recht daran, auf die Gaben Gottes zu verzichten; dadurch werde den anderen Anstoß gegeben. Alkibiades änderte daraufhin seine Lebensweise29. Diese Geschichte zeigt, daß das Vordringen des asketischen Ideals gelegentlich auf Widerspruch stieß. Andererseits geht um die gleiche Zeit Athenagoras in seinem Lobpreis der Askese weiter als Frühere (ebenfalls um 177), wenn er in seiner Supplicatio 33,1 äußert: „Man kann bei uns viele Männer und Frauen finden, die alt werden, ohne zu heiraten, in der Hoffnung, in engerer Gemeinschaft mit Gott zu sein." 30 Hier ist den Asketen nicht nur in allgemeiner Weise ein besonderer Lohn in Aussicht gestellt, sondern speziell auch eine größere Nähe zu Gott. Bei einer solchen Einstellung gegenüber der Askese ist es selbstverständlich, daß diejenigen, die auf das Leben in der Welt verzichten, auch in der Kirche bzw. in ihrer Gemeinde einen besonderen Platz einnehmen. Die Asketen beginnen, die Pneumatiker abzulösen. Es verwundert nicht, daß 28

Die einzige Stelle, die hier allenfalls in Betracht kommen könnte, ist das Agraphon bei Clemens, Strom. 3,15,97,4 „Der Verheiratete verstoße nicht (seine Frau), und der Unverheiratete heirate nicht." Dazu gibt Clemens die Auslegung, daß derjenige, der mit dem Vorsatz der Ehelosigkeit erklärt hat, nidit heiraten zu wollen, ehelos bleiben soll (ό  κατά  πρόθεσιν  εΰνουχίας  όμολογήσας  μή  γημοα,  άγαμος  διαμενέτω).  Aber  das  Agraphon  selbst enthält keinerlei Andeutung eines Gelübdes. So wird man — unabhängig von der Frage des Alters dieses Herrenwortes — das Gelübde hier nur in der Auslegung des Clemens finden, der freilidi sidier die ihm geläufige Praxis seiner Kirdie im Auge hat. 2 » Euseb. h.e. 5,3,2 f. 30 Die letzten Worte lauten im Griechischen:  έλπίδι  τοϋ  μάλλον  συνέσεσθαι  τω  θεω. 

Tertullian

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um diese Zeit audi erstmalig das Wort „Mönch" auftritt, nämlich in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments durch Symmachus. In Ps. 67 (68),7 übersetzt Symmachus das hebräische CTfT mit  μοναχοί 31 .  Sym­ machus  war  selbst  Judenchrist.  Und  so  haben  wir  in  dieser  Ubersetzung  einen  wichtigen  Hinweis  auf  die  auch  sonst für die Judenchristen bezeugte Askese32. 5. Wie stark die asketische Bewegung manche Kreise der Gemeinden erfaßte, geht aus den Schriften Tertullians hervor. In seiner katholischen Zeit bezeugt Tertullian wiederholt das Vorhandensein von Asketen. So heißt es Apol.9,19, daß manche Christen die Gefahr geschlechtlicher Verirrung durch jungfräuliche Enthaltsamkeit sicherer „als wir anderen" von sich fernhalten. Freilich steht bei Tertullian nicht sowohl das Ideal einer höheren Vollkommenheit im Mittelpunkt als vielmehr der Gedanke der von allen geforderten strengen Zucht. Es gibt viele, wie er sagt, die sich der Ehelosigkeit weihen, indem sie um des Reiches Gottes willen dem starken und an sich auch erlaubten Triebe freiwillig entsagen 33 . In der Forderung, daß alle sich der strengen Disziplin unterwerfen, gleicht Tertullian seinem bitter bekämpften Gegner Marcion. An manchen Stellen hat Tertullian sogar eine besondere Wertung des Verzichtes auf die Ehe gegeben. Zwar kann er die Meinung aussprechen, daß die Ehelosigkeit weiter nichts als eine bestimmte Tat ist, zu der man gegebenenfalls um des Himmelreiches willen bereit sein muß 34 . Aber diese „evangelische" Einstellung hat er keineswegs überall bewährt. Vielmehr hat er als erster Theologe deutlich zwischen den für alle gültigen Geboten und den freiwillig zu befolgenden evangelischen Räten unterschieden. Diese Unterscheidung begegnet schon in seiner katholischen Zeit. Ad uxor. 2,1 schreibt er, daß Paulus den Witwen und audi den Ehelosen den Rat gibt, sich nicht zu verheiraten, und spricht davon, daß die Enthaltsamkeit der Witwen 31 Siehe K. Heussi, Der Ursprung des Mönditums, 1936, S.54; im übrigen zur Geschichte des Wortes „Mönch" A. Adam, Grundbegriffe des Mönditums in sprachlidier Sicht, in: ZKG 65, 1953/54, S. 209 ff. Audi im Thomasevangelium Spruch 16 und 75 begegnet μοναχός.  Siehe  dazu  E.Haenchen,  Die  Botschaft  des  Thomasevangeliums,  1961,  S. 58 f.  Sollte  der  Begriff  μοναχός  vielleidit  zuerst  im  Bereich  der  christlichen  Gnosis  seinen  tech­ nischen,  auf  die  Asketen  bezogenen  Sinn  erhalten  haben?  Dann wäre nicht nur das Gelübde, sondern auch die Redeweise von „Mönchen" der christlichen Gnosis zu verdanken. Allein, wegen der komplizierten Datierungs- und Überlieferungsverhältnisse beim Thomasevangelium sind sichere Schlüsse wohl noch nicht möglich. 32 Siehe J.Daniilou, Theologie du Judio-Christianisme, 1958, S. 426—432. Dani&ou weist mit Recht auf die Beziehungen hin, die zwischen der judenchristlichen Askese und der Sekte von Qumran bestehen. 33 De cultu fem. 2,9,7 Non enim et multi ita faciunt et se spadonatui obsignant, propter regnum dei tam fortem et utique permissam voluntatem sponte ponentes. Siehe audi ad uxor. 1,6,2 Quot enim sunt, qui statim a lavacro carnem suam obsignant? Zu Tertullians Auffassung über Ehe und Virginität siehe Th. Brandt, Tertullians Ethik, 1928, S. 191 ff. 34 Siehe das Zitat aus De cultu fem. 2,9,7, zitiert vorige Anm.

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Tertullian

„größeren Nutzen" bringt 85 . In seiner montanistischen Zeit geht Tertullian wiederholt auf die Frage der Wiederverheiratung nach dem Tode des ersten Ehegatten ein und betont die klare Weisung des Hl. Geistes, von einer neuen Ehe abzusehen 38 . Wenn Paulus auch eine zweite Ehe nicht verboten habe, so sei das doch ein bloß menschlicher Rat gewesen, und die eigene Meinung des Paulus lehne unzweideutig eine Wiederverheiratung ab (1.Kor.7,25ff.) 3 7 . Ja, für den Montanisten Tertullian ist die Ehe nur etwas Geduldetes, das keinen anderen Zweck hat, als schlimmeres Unglück zu verhüten. Der eigentliche Wille Gottes aber ist unzweifelhaft die Ehelosigkeit. Wer auf die Ehe überhaupt verzichtet, der erwirbt sich ein besonderes Verdienst. Die Ehelosigkeit ist in jedem Falle das Bessere, von Gott eigentlich Gewollte. Diese Auffassung muß in Karthago bereits entweder schon zu Tertullians Zeit verbreitet gewesen sein oder sich sehr schnell durchgesetzt haben. Sie begegnet bei Cyprian ebenfalls als fester Grundsatz 38 . Man wird vielleicht in der Vermutung nicht fehlgehen, daß der Montanismus in Karthago vor allem in den Kreisen der dort schon vorhandenen Asketen Anhänger fand 3 9 . Freilich hat der Ubertritt zum Montanismus bei Tertullian keine grundlegende Änderung seiner asketischen Anschauungen herbeigeführt. Diese sind von ihm in seiner montanistischen Zeit lediglich an einigen Stellen etwas verschärft worden. Aber seine eigentliche Einstellung zur Askese ist doch im Grunde die gleiche geblieben40. Nicht unwichtig ist, daß Tertullian sowohl in seiner katholischen als audi in seiner montanistischen Zeit eine Art Gelübde kennt, das derjenige, der ehelos bleiben will, ableistet 41 . Das Gelübde dürfte demnach bereits in der Zeit vor Tertullian bei den nordafrikanisdien Asketen in Übung gewesen sein. Da Clemens von Alexandrien etwa um die gleiche Zeit ebenfalls die Einrichtung eines Gelübdes kennt, können wir daraus schließen, daß das Gelübde in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts innerhalb der Großkirche aufgekommen 35 A d uxor. 2 , 1 , 2 Quod si integre sapis, certe scis istud servandum dum tibi esse, quod sit utilius. Vgl. Adv. Marc. 2 , 1 7 , 3 . 311 Audi schon in seiner katholisdien Zeit hatte Tertullian von einer zweiten Ehe abgeraten, dodi noch nicht mit dem gleichen Nachdruck wie in seiner montanistischen Zeit. 37 De exhort, cast. 4,1—6. Vgl. auch de monogamia 11,1—3; de pudicitia 16,13ff. 38 Cyprian, de habitu virginum 23 nec hoc iubet Dominus (seil, die Ehelosigkeit) sed hortatur, nec iugum necessitatis inponit, quando maneat voluntatis arbitrium liberum . . . carnis desideria castrantes maioris gratiae praemium in caelestibus obtinetis. 39 Diese Vermutung spricht K. Heussi, op. cit., S.40, aus. Allerdings haben wir hierfür keinen unmittelbaren Beleg. Auf jeden Fall darf die Bedeutung der Buße und der Kirchenzucht für das Aufkommen des Montanismus in Karthago nicht unterschätzt werden. 40 Vgl. P. Keseling, Art. Askese II (christlich), in: R A C 1, 1950, Sp.771. 41 Für seine katholische Zeit sei auf ad uxor. 1, 6, 2 verwiesen (zit. o. S. 25 Anm. 33), w o das „obsignant" auf eine Art Gelübde hinweist. Aus seiner montanistischen Zeit sei de virginibus vel. 10,3 genannt, w o Tertullian mit Bezug auf den Entschluß zur Enthaltsamkeit von einem „ex consensu" spricht. Besonders deutlich ist dann de virginibus vel. 11,4 ipsum continentiae votum; 14,2 prolatae enim (seil, virgines) in medium et publicato bono suo elatae et fratribus omni honore et caritate et operatione cumulatae.

Cyprian

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sein muß. Tatsächlich lag es ja auch nahe, wenn die Asketen eine Art Stand in den Gemeinden bildeten, für diesen Stand eine kirchliche Approbation zu verlangen; diese konnte aber naturgemäß nur in einer Art Gelübde bestehen, das der Betreffende, der ehelos leben wollte, zu leisten hatte. 6. Freilich wird man sich hüten müssen, in dem Gelübde bereits zu dieser Zeit eine nach jeder Richtung festgelegte Institution zu sehen, die den Asketen unbedingt und zeitlebens verpflichtet. Daß dies noch nicht der Fall war, zeigt sich wenig später in Nordafrika bei Cyprian. Selbstverständlich kennt auch Cyprian den Stand der Asketen. Es ist sogar so, daß der Asket nunmehr seinen festen Platz neben dem Märtyrer hat: in der glänzenden Schar der Streiter Christi, die in der Stunde der Verfolgung ihren Glauben nicht verleugnet haben, sondern fest geblieben sind, ziehen auch Frauen mit, die nicht nur die Welt, sondern auch ihr Geschlecht überwunden haben; ja, es kommen auch, mit doppeltem Kriegsruhm bedeckt, Jungfrauen und Kinder, die an erworbener Tugend ihren Jahren weit voraus sind 42 . Nach Cyprian nimmt der Asket sogar im Himmel einen besonderen Rang ein. Nicht nur die Patriarchen und eine stattliche Schar von Verwandten, die uns ins Paradies vorangegangen sind, warten auf uns, besorgt um unser Heil, vielmehr schaut auch der ruhmreiche Chor der Apostel, die Schar der jubelnden Propheten, die große Menge der Märtyrer und auch die Zahl der triumphierenden Jungfrauen, die die Begehrlichkeit des Fleisches und des Leibes durch die Kraft der Entsagung überwunden haben, unserem Kampfe zu. Auf Erden hat der Asket seinen Vorrang also nicht weniger als im Himmel! Damit hat sich Cyprian über den Wert der Askese schärfer als sein „Meister" Tertullian ausgesprochen43. Wichtig ist bei alledem, daß Cyprian unter Askese vornehmlich den Verzicht auf die Ehe versteht. Was den Reichtum oder auch nur überhaupt irdischen Besitz betrifft, ist Cyprian keineswegs asketisch44. Vielmehr gab es in seiner Kirche Jungfrauen, die zwar auf die Ehe verzichtet, darum aber doch nicht ihr irdisches Hab und Gut aufgegeben hatten 45 : die Frage der Askese ist in der alten Kirche allgemein zuerst an der Stellung zur Ehe aufgebrochen, während man hinsichtlich des Besitzes erst viel später Entsagung übte. Was das Gelübde betrifft, so findet sich in Cyprians Testimoniensammlung 3,30 das Wort: „Was einer Gott gelobt hat, muß er schnell einlösen." 48 Cyprian dürfte bei diesem Wort vielleicht nicht ausschließlich, aber doch sicher audi an das Gelübde der Ehelosigkeit gedacht haben. Damit ist Cyprian der erste Theologe, der das Psalmwort „Vovete et reddite" (Ps.76, 12) auf das Gelübde, der Welt zu entsagen, bezogen hat — jenes Psalmwort, das in der späteren Geschichte des monastischen Ideals eine so große Rolle 42

43 De lapsis 2. De mortalitate 26. De dom. or. 20 empfiehlt Cyprian freilich den selbstgewählten Verzicht auf den irdischen Besitz. 45 49 De habitu virg. 7. Quod quid Deo voverit cito reddendum. 44

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Cyprian

spielen sollte. Das Wichtige ist dabei die Anwendung von Rechtskategorien auf das durch ein Gelübde zum Ausdruck Gebrachte: es muß auf jeden Fall Gott wirklich „geopfert" werden, und — so darf man vielleicht Cyprians Meinung ergänzen — die Kirche hat über der Ausführung zu wachen. Freilich hat Cyprian darum im Einzelfall die Frage des Gelübdes durchaus nicht engherzig und gesetzlich behandelt. Das zeigt sich in seinem Brief an Pomponius, in dem er sich gegen die Unsitte der geistlichen Ehen ausspricht, aber auch auf verschiedene Fragen des Standes der Jungfrauen eingeht. Cyprian stellt da zunächst den Grundsatz auf, daß diejenigen, die sich in treuem Glauben Christus geweiht haben, ohne Gelegenheit zu irgendwelcher üblen Nachrede zu geben, in Zucht und Keuschheit verharren und so tapfer und standhaft den Lohn der Jungfräulichkeit erwarten sollen47. Die Jungfrau ist sogar die Braut Christi, und Christus wird, wenn die ihm geweihte und für seine Heiligkeit bestimmte Jungfrau sich einem anderen Manne hingibt, nicht minder ergrimmen als der Ehemann über die Untreue seiner Frau 48 . Wenn eine geweihte Jungfrau, die in einer geistlichen Ehe lebt, sich zu einer fleischlichen Vereinigung mit ihrem Manne hat hinreißen lassen, so hat sie nicht ihrem Gatten, sondern Christus selbst die Treue gebrochen49. Allerdings ist das nun doch nicht alles, was Cyprian über das Gelübde zu sagen hat. Vielmehr, falls eine Jungfrau, die sich rein gehalten hat, nicht im Stande der Ehelosigkeit ausharren kann, so soll sie lieber heiraten, als daß sie durch ihre Sünden dem ewigen Feuer verfällt 50 . Cyprian scheint hier die Anweisung des Paulus 1. Kor. 7,36 im Auge zu haben. Sie ist es, die ihn davor bewahrt, in jedem Falle unnachgiebig auf der Erfüllung des Gelübdes zu bestehen, sondern ihm vielmehr eine gewisse Freiheit gibt, das, was an sich und grundsätzlich verlangt werden muß, mit Rücksicht auf die Schwachheit der Menschen und aus Liebe zu ermäßigen. Freilich ist die Entwicklung zu einer Verfestigung des Asketenstandes und insbesondere des Gelübdes im Abendland sehr schnell fortgeschritten. Das geht hervor aus dem can. 13 der Synode zu Elvira in Spanien (306), der Jungfrauen, die ihr Gelübde der Ehelosigkeit brechen, mit lebenslänglicher Exkommunikation bedroht 51 . Wir wissen nicht, ob diese Regelung damals auch schon in anderen Gebieten außerhalb Spaniens Eingang gefunden hat. Es wäre durchaus denkbar, daß etwa in Afrika noch einige Zeit hindurch die freiere Praxis Cyprians in Geltung gestanden hat. Aber die Entwicklung ging auch dort in die gleiche Richtung. So ist im Westen, noch ehe es ein eigentliches Mönchtum gab, der zeitlebens verpflichtende Charakter der Gelübde kirchenrechtlich festgestellt und sanktioniert worden. 48 " Ep. 4,2. Ep. 4,3. 60 » Ep.4,4. Ep.4,2. 51 Synode zu Elvira can. 13 Virgines, quae se Deo dicaverunt, si pactum perdiderint virginitatis atque eidem libidini servierint non intellegentes, quid amiserint, placuit nec in finem eis dandam esse communionem.

Clemens

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7. Während im Westen in der Zeit von Tertullian und Cyprian die Asketen ein besonderer, festgefügter Stand werden, wird zur gleichen Zeit von den alexandrinischen Theologen das asketische Ideal in anderer Weise weiterentwickelt: der Asket ist der wahre Gnostiker, der frei von der Welt lebt. Bekanntlich hat Clemens von Alexandrien die Unterscheidung der häretischen Gnostiker zwischen Pistikern und Gnostikern verkirchlicht. Dem einfachen Gläubigen spricht er durchaus nicht das Christsein ab. Audi der Pistiker wird durch die Taufe erleuchtet, wird durch die Erleuchtung vom Herrn an Kindes Statt angenommen, wird durch die Sohnschaft vollendet und durch die Vollendung unsterblich gemacht52. Freilich kann er die Vollkommenheit nicht schon hier auf Erden erlangen. Vielmehr liegt sie für ihn erst in der Auferstehung der Gläubigen. Doch ist er bereits aus der Finsternis zum Licht fortgeschritten 53 . Dagegen kann der Gnostiker schon hier auf Erden vollkommen werden, ja er wird bereits in seinem irdischen Leben „Gott" 5 4 . Diese Vollkommenheit besteht vor allem in der Apatheia, d.h. in der völligen Freiheit von den Affekten 55 . So kann der Gnostiker auf Erden eine höhere Stufe als der Pistiker erreichen, ohne daß darum ein Gegensatz zwischen beiden Gruppen besteht oder der Gnostiker etwa auf den Pistiker herabschauen dürfte 5 e . Aus dem vollkommeneren Leben des Gnostikers folgt nun aber nach Clemens durchaus nicht, daß er unbedingt ehelos sein muß. Zwar weiß Clemens von manchen Gläubigen zu berichten, die wegen der Verheißung oder aus Furcht vor Gott enthaltsam leben 57 . Und er weist darauf hin, daß eine derartige Enthaltsamkeit wenigstens die Grundlage der Erkenntnis und der Zugang zu etwas Besserem sowie der Ausgangspunkt für die Vollkommenheit ist 58 . Aber für den Vollkommenen, den Gnostiker, hat das Ideal der  έγκράτεια  noch  einen  anderen  Sinn  als  den äußerlichen des Verzichtes auf dieses oder jenes. Für ihn heißt Enthaltsamkeit vielmehr, daß er über das Gute Herr geworden ist und sich die herrlichen Güter des Wissens zum beständigen Besitz erworben hat, mit deren Hilfe er die tugendhaften Taten als Früchte hervorbringt 59 . Auf diese, über das Irdische erhabene Haltung kommt dem Gnostiker alles an. Demgegenüber ist Essen und Trinken und auch das Heiraten nicht die Hauptsache im Leben, sondern nur etwas Notwendiges, das, wenn es in der rechten Weise geschieht, seine Vollkommenheit durchaus nicht beeinträchtigt. Der Gnostiker kann, von Freud und Leid nicht beeinflußt, Kinder zeugen und sich in der Fürsorge für sie be52

5 Paed. 1,6,26,1—3. » Paed. 1,6,28,3. Strom. 4,23,149,8 τούτω  δυνατόν  τφ  τρόπω  τδν  γνωστικόν  ήδη  γενέσθαι  θεόν.  55   Strom.  6,9,74,1.  5 ®  Strom.7,12,69,If.  sagt  Clemens ausdrücklich, daß der Gnostiker den Pistiker nicht verachtet, da dieser nadi dem göttlichen Gesetz sein Bruder von dem gleichen Vater und der gleichen Mutter ist. 58 " Strom. 7,12,69,8. Strom. 7,12,70,1. 59 Strom. 7,12,70,4. 84

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Clemens

währen, ohne darum von seiner Liebe zu Gott abgebracht oder nur in ihr gehindert zu werden. Dahingegen bleiben dem, der keine Familie hat, manche irdischen Sorgen erspart. Und doch steht der Ehelose hinter dem Verheirateten zurück, da dieser durch seine Sorge für die Familie jenem überlegen ist 60 . Die rechte Enthaltsamkeit bedeutet darum, daß man frei von Begierden ist, auch in der eigenen Ehe, und ganz im Stil des philosophischen Weisen lebt e i . Demnach begegnet uns bei Clemens ein Ideal, das nicht in dem gleichen Sinne asketisch zu nennen ist wie das eines Tertullian oder Cyprian. Es geht Clemens nicht sowohl um die Leistung eines besonderen, eigentlich nicht geforderten, sondern nur empfohlenen Werkes, als vielmehr um völlige Freiheit von der Weltverhaftung. Insofern tritt auch Clemens für ein besonderes Vollkommenheitsideal ein. Nur ist dieses nicht mit Gedanken über Leistung und Lohn verbunden, die der Askese immer irgendwie den Charakter des Werkes verleihen. Vielmehr trägt die Vollkommenheit, die er propagiert, ihren Lohn in sich selbst, und zugleich ermöglicht sie auch einen ganz neuen Dienst an der Welt, wobei der Vollkommene seine Freiheit von allem Welthaften unter Beweis stellt. Gewiß ist das Ideal des Clemens weithin auch das mancher Philosophen gewesen. Und doch fällt bei ihm, zieht man zum Vergleich Tertullian und Cyprian heran, der in gewisser Hinsicht „evangelische" Charakter seines Vollkommenheitsideals auf. In ähnlich freier Weise hat sich Clemens auch über Fragen des Reichtums und der irdischen Nahrung ausgesprochen. Audi hier hat er nicht eine besondere Leistung im Auge, die der Gnostiker aufzubringen hätte. Vielmehr steht das Verhalten des Gnostikers zu Nahrung und Reichtum im Zeichen seiner Freiheit von der Welt. Fleisch- und Weingenuß ist nicht verboten und audi nicht sündhaft, jedenfalls dann nicht, wenn man diese Speisen mit Maßen zu sich nimmt und sich gleichzeitig innerlich frei von ihnen hält. Jedoch ist es unverständig, nach den Genüssen, die die hohe Lehre bereitet, irdische Speisen zu bestaunen oder sich gar mit den Augen an sie zu hängen 62 . Freilidi ist Clemens, was die Enthaltung von bestimmten Speisen betrifft, möglicherweise asketischer gewesen als hinsiditlich der Ehe. Clemens vertritt die gnostische These, daß Christus nur scheinbar einen Leib gehabt habe und daß er auch nur gegessen habe, um den Doketismus zu widerlegen 63 . Die Enthaltung von Wein und Fleisch dürfte daher doch sein eigentliches Ideal gewesen sein. Der Vollkommene bittet darum, daß er die ihm bestimmte Zeit im Fleische als Gnostiker leben möge, nämlich frei von der Knechtschaft des Fleisches. Im Grunde achtet er alles gering, was zum Aufbau und zur Ernährung des Fleisdies gehört 64 . Daher soll der Gnostiker seinem Leibe nur soviel an Nahrung geben, wie nötig ist, um ihn vor Auflösung zu bewahren 65 . «» Strom. 7,12,70,6—8. 82 Paed. 2,1,11,1 f. M Strom. 7,12,79,3.6.

41 63 M

Strom. 3,7,57,1—58,2. Strom. 6,9,71,1 f. Strom. 6,9,75,3.

31

Origenes

Auch hinsichtlich des Reichtums hat Clemens sich manchmal schärfer, manchmal zurückhaltender ausgesprochen. In demPaedagogos kann er sagen, daß Reichtum und Besitz im Grunde allen gemeinsam sind und daß die Reichen nicht mehr als andere für sich in Anspruch nehmen sollenββ. Ja, er warnt davor, sich irdischen Reichtum zu suchen. Vielmehr gilt es, sich im Himmel Schätze zu sammeln. Wenn man seinen irdischen Besitz hingibt, so wird man einen unvergänglichen Schatz im Himmel finden67. Hingegen hat Clemens in seiner an reiche Gemeindeglieder gerichteten Schrift „Welcher Reiche wird gerettet werden?" sich weniger asketisch ausgesprochen. Nicht der Reichtum als solcher, sondern nur sein Mißbrauch ist Sünde. Die Worte des Neuen Testaments, die vor den Gefahren des Reichtums warnen, meinen nicht so sehr den Besitz als solchen als vielmehr die Krankheiten und Leidenschaften der Seele. So gestattet der Herr auch einen maßvollen Gebrauch der irdischen Güter, wobei auf das nicht zum Lebensunterhalt Notwendige Verzicht zu leisten ist 68 . 8. Außer Clemens von Alexandrien ist aber auch Origenes von dem größten Einfluß auf die Geschichte der Askese und des monastischen Ideals gewesen. In seiner Theologie wie in dem Leben, das er führte, findet sich eigentlich schon alles, was für das spätere Mönchtum charakteristisch war. Dabei ist es von besonderer Bedeutung, daß Origenes durch seine eigene, streng asketische Lebensweise, welche diejenige seines Lehrers an Härte übertraf, all denen, die sich für das asketische Ideal begeistern ließen, ein leuchtendes Vorbild gab. Euseb hat in seiner Kirchengeschichte ein eindrückliches Bild von dem entsagungsvollen Leben dieses großen Gelehrten gezeichnet. Nachdem Origenes als Jüngling auf Grund seines buchstäblichen Verständnisses von Mt. 19,12 sich selbst entmannt hatte 69 , hat er auch später sich ständig einer strengen Askese unterzogen. In jeder Hinsicht führte er das Leben eines „Philosophen", wobei er jegliche Lockung zu Begierden von sich fernhielt. Tag für Tag nahm er die nicht geringen Beschwernisse der „Askese" auf sich, des Nachts widmete er die meiste Zeit dem Studium der göttlichen Schriften. Er führte ein möglichst entsagungsvolles Leben, bald durch Fastenübungen, bald durch Beschränkung des Schlafes, für welchen er sich nicht in ein Bett, sondern auf die bloße Erde legte. Vor allem aber meinte er, die evangelischen Worte des Erlösers buchstäblich erfüllen zu müssen, daß man nicht zwei Röcke und keine Schuhe besitzen und sich nicht um die Zukunft ängstigen solle. Selbst in seinem Alter ertrug er die Kälte und Blöße und gelangte bis zum Gipfel der Besitzlosigkeit. Wollten ihm andere etwas schenken, da sie sahen, welche Mühen ihm der Unterricht bereitete, so wies er es zurück. Mehrere Jahre ging er barfuß, ohne je einen Schuh zu tragen, und verzichtete auch viele Jahre hindurch auf den Genuß von Wein und anderen, nicht un'· Paed. 2,12,120,3. Quis dives salvetur 16,1.

,s

87 89

Paed. 3,6,34,3. Euseb, h.e.6,8,2.

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Origenes 

bedingt  lebensnotwendigen  Speisen.  Mit  diesem  ganz  philosophischen  Leben  gewann  er  viele,  die  ihm  nacheiferten 70 .  Allein,  Origenes  hat  nicht  nur  selbst  das  Leben  eines  Asketen  geführt  und  schon  dadurch  viel  für  die  Propagierung  des  asketischen  Ideals  getan.  Vielmehr  hat  er  auch  in  seinen  Schriften  die Askese häufig  gepriesen.  Wie  seinem  Lehrer  Clemens,  so  gilt  auch  ihm  die  Jungfräulichkeit  gegenüber  der  Ehe  als  etwas Höheres 71 . Dabei weist Origenes darauf hin, daß die Christen, die sich zur Ehelosigkeit entschließen, nicht künstlicher Mittel bedürfen, um den Trieb zu zügeln, sondern allein durch den göttlichen Logos von allen bösen Begierden befreit werden, so daß sie der Gottheit ihre Gebete darbringen können. Ja, die christlichen Asketen unterziehen sich ihren besonderen Übungen auch gar nicht um menschlicher Ehren willen oder für Lohn und Geld, auch nicht für eitlen Ruhm, sondern um Gottes willen: sie haben sich entschieden, Gott in ihrer Erkenntnis zu behalten, und so werden sie von Gott in erprobtem Geiste bewahrt, so daß sie „tun, was sich gebührt" (vgl. Rom. 1,28 f.), erfüllt von jeglicher Gerechtigkeit und Güte 72 . In ähnlicher Weise wie Clemens und in einem sehr bemerkenswerten Unterschied von Tertullian und Cyprian wehrt Origenes damit jeden Lohngedanken ab. So gewiß der Asket die Forderungen des Evangeliums in einem höheren Maße verwirklicht als die anderen Christen, so begründet das doch noch nicht eine besondere Verdienstlichkeit oder eine höhere Vollkommenheit im Sinne einer doppelten Ethik. Andererseits ist es keine Frage, daß der Asket auf dem Wege der Nachfolge gleichsam weiter fortgeschritten ist als der Weltchrist. Aber daraus lassen sich keine besonderen Ansprüche oder Belohnungen herleiten, auf die der Asket hoffen könnte. Von großer Bedeutung ist es nun, daß Origenes eine Verbindung zwischen Askese und Mystik geschaffen hat, wobei Mystik hier in dem weiteren Sinne der Gottinnigkeit verstanden ist. Die Askese ist die Vorbereitung auf den Empfang höherer göttlicher Gnaden 73 ; sie verhilft zur rechten Gnosis; sie überwindet die Leidenschaften und ermöglicht so das Schauen des Ewigen. Dabei hat Origenes nicht wie die späteren östlichen Theoretiker der Askese und Mystik eine vollkommene Weltentrücktheit im Auge. Er vergißt durch7 0 Euseb, h. e. 6 , 3 , 7 . 9 — 1 3 . M. Hornschuh, Das Leben des Origenes und die Entstehung der alexandrinischen Schule, in: Z K G 71, 1960, S. 1 ff., 193 ff., hat den Bericht Eusebs über die Anfänge der Kirche in Alexandrien (h. e. 6) einer sehr kritischen Prüfung unterzogen. Immerhin hält selbst Hornschuh es für möglich, daß Origenes tatsächlich so gelebt hat, wie Euseb es schildert (S. 12). Tatsächlich besteht — gleich, wie man sonst die Zuverlässigkeit von Eusebs Bericht in h. e. 6 beurteilen mag — kein Anlaß, hier an der Glaubwürdigkeit Eusebs zu zweifeln. 7 1 C.Cels. 1 , 2 6 (Ende): manche Christen haben aus Liebe zu einer ganz außerordentlichen Reinheit und, um der Gottheit in reinerer Weise zu dienen, auf die Ehe verzichtet. ™ C.Cels.7,48. 7 3 W.Völker, Das Vollkommenheitsideal des Origenes, 1931, S . 4 5 ; siehe audi J . D a n i e lou, Origen (engl. Übers.), 1955, S. 293 ff. über „Origen's Theology of the Spiritual Life".

Antonius

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aus nicht, daß der Kampf gegen die Begierden, ja auch der gegen die Dämonen, nidit aufhört, solange dieses Leben währt. So führt das asketische Ideal bei Origenes keineswegs zu einer quietistischen Mystik, vielmehr befähigt es den Menschen zu dem allen Christen aufgetragenen Kampf gegen das Böse. Origenes fordert darum gerade nicht, wie die späteren Verfechter des monastischen Ideals, die äußere Trennung von der Welt. Wohl soll der Christ sich von der Welt scheiden, aber durch seine Taten, nicht durch äußere Absonderung 74 . Zudem weiß Origenes, daß audi der Asket keine wirkliche Vollkommenheit erreicht. Vielmehr ist sein Leben getragen von einer ständigen Bußstimmung. Auch durch diesen Gedanken unterscheidet sich Origenes von den zeitgenössischen abendländischen Theologen. Es ist mit das Tiefste, was Origenes dem späteren Mönchtum vornehmlich des Ostens gegeben hat. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß Origenes auch Gelübde kennt. Er hat sich darüber schon in seinem Werk „Über das Gebet" ausgesprochen. Gleich zu Beginn dieser Schrift hebt er hervor, daß das Wort ευχή verschiedene Bedeutungen hat. Es bezeichnet nicht nur das Gebet, sondern auch das Gelübde, mit welchem jemand verspricht, er werde dieses oder jenes tun; in beiden Bedeutungen begegne das Wort in der Bibel75. Das Gelübde ist für ihn etwas, was der Mensch aus freien Stücken Gott leisten kann 76 . Es gibt verschiedene Gelübde. Man kann äußerliche Dinge geloben. Man kann das Nasiräatsgelübde ablegen, wie es im Alten Testament bezeugt ist. Weiter gibt es Gelübde, durch die man sich einer besonderen Verpflichtung unterzieht: „Wenn wir Gott unsere Gerechtigkeit darbringen, werden wir die Gerechtigkeit Gottes empfangen." Das vollkommenste Gelübde ist dasjenige, durch das man sich selbst Gott darbringt und so in die Nachfolge Christi eintritt 77 . So kann man sich auch zu einem Leben besonderer Askese verpflichten. Freilich kennt Origenes noch nicht ein öffentliches Gelübde, das in einem rechtlichen Sinne den, der es ablegt, bindet 78 . Aber es ist kein Zweifel, daß seine Ausführungen über die Gelübde weiterführen als das, was sich bei früheren Kirchenvätern hierüber findet. 9. Die Aussagen des Origenes über das asketische Leben umfassen im Grunde alles, was dem späteren Mönchtum von wesentlicher Bedeutung war. Nur eines fehlte ihm noch in seinem eigenen Leben wie auch in seinen asketischen Äußerungen, nämlich die äußere Trennung von der Welt, sei es nun in der Form der Anachorese, sei es in der Gestalt des Klosterlebens. Zweifellos bedeutet die Entstehung des Eremitentums und der Klostergemeinschaft eine neue Epoche in der Geschichte des Mönchtums. Allein, hinsichtlich des monastischen Ideals gilt das doch nicht im gleichen Maße: hier wurde weit74

75 W. Völker, op. cit., S. 56 Anm. 1. De orat. 1,3,2—4,2. Horn, in Num. 24,2 Votum . . . est cum aliquid de nostris offerimus Deo. 77 Ebd. Vgl. Horn, in Num. 24,2 f.; ferner P. Sejourne, Art. Voeu, in: DThC 15, 2, 1950, 3182 ff., bes. 3190. n

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3

Siehe St. Sdiiwietz, Das morgenländische Mönchtum, Bd. 1, 1904, S. 18 f.

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Lohse, Mönchtum

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Antonius

hin nur in die Tat umgesetzt, was als Forderung und als Leitbild bereits in der Mitte des dritten Jahrhunderts in der christlichen Theologie begegnet. Immerhin wird man auch betreffs des monastischen Ideals insofern eine Veränderung feststellen müssen, als es den ersten Mönchen nicht sowohl um ein „philosophisches" Leben ging als vielmehr um die Nachfolge Jesu. Aber das hindert nicht, daß die eigentlichen asketischen Forderungen des späteren Mönchtums fast alle schon bei Origenes da sind. Der Schritt von der Befolgung des asketischen Ideals, wie Clemens und Origenes es verkündeten, zur völligen Trennung von der Welt wird nicht sehr lange nach dem Tode des Origenes vollzogen worden sein. Es ist nicht bekannt, wer als erster in die Einsamkeit der Wüste gegangen ist. Die Uberlieferung hat Antonius als den Vater der Mönche bezeichnet. Aber es ist doch in den Apophthegmata Patrum, der ältesten Überlieferung über Antonius, deutlich, daß Antonius selber schon zu anderen Mönchsvätern zurückblickt und daß er keinesfalls als der Begründer der Anachorese gelten kann 7 9 . Allein, Antonius ist für uns doch die erste greifbare Gestalt dieser Mönchsväter. Zudem muß ihm in der Geschichte der ägyptischen Anachorese ein ganz überragender Platz auch nach dem Urteil seiner Zeitgenossen zugekommen sein; denn sonst wäre die Überlieferung über ihn schwerlich so viel reicher als über die anderen Väter. Antonius darf daher wohl als derjenige angesehen werden, der der Anachorese festere Form gegeben hat. D a es nun in unserem Zusammenhang nicht um die Geschichte des Mönchtums als solche geht, sondern um die Ausprägung des monastischen Ideals, ist neben den Apophthegmata Patrum auch die historisch weniger zuverlässige Vita Antonii des Athanasius heranzuziehen; denn sie ist es vornehmlich gewesen, die auf die spätere Entwicklung des monastischen Ideals von Einfluß gewesen ist. Bei dem geschichtlichen Antonius war für seinen Entschluß, Mönch zu werden, nicht das asketische Ideal im allgemeinen bestimmend. Auch die Vorstellung eines von der Welt unbeschwerten Lebens hat ihm ganz ferngelegen. Weiter findet sich bei ihm auch nichts von irgendwelchen Gedanken über den höheren Wert, den das Leben in der Wüste gegenüber dem Leben in der Welt hat. Im Mittelpunkt seines Lebens wie auch seines monastischen Ideals — falls dieses Wort hier überhaupt angebracht ist — stand nur das eine: Wie werde ich selig, und wie überwinde ich die Versuchungen? Deshalb 79 Siehe H.Dörries, Die Vita Antonii als Gesdiichtsquelle, in: N A G 1949, Nr. 14, S.376. Die Arbeit von Dörries ist, was das Verhältnis der Apophthegmata Patrum zur Vita Antonii des Athanasius betrifft, grundlegend und hat die älteren Untersuchungen überholt, insbesondere auch die von K. Heussi, Der Ursprung des Mönchtums, 1936, der noch versucht hatte, aus der Vita Antonii einen geschichtlichen Kern herauszuschälen, ohne den größeren Wert der Apophthegmen zu beachten. Dörries ist dagegen von den Apophthegmen ausgegangen und hat das höhere Alter ihrer Uberlieferung erwiesen. Darum ist freilich die Vita Antonii nicht einfach historisch wertlos. Aber sie darf nicht der Ausgangspunkt für eine Untersuchung über die Gestalt des Antonius sein.

Antonius

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dient seine asketische Lebensweise vor allem dem Kampf gegen die Sünde. Vor ihr gilt es sich zu hüten, womöglich schon die Gelegenheit zur sündhaften Tat ganz zu vermeiden. Zugleich aber ist das Leben des Antonius ein Leben der Buße. Nichts lag ihm ferner als der Gedanke an die eigene höhere Vollkommenheit, die er etwa errungen hätte. Er wußte sich als Sünder, und darum war er frei von allem Hochmut. Daß es für Antonius bei seinem Mönchsleben vor allem um die Vermeidung der Versuchungen ging, kommt sehr schön in dem Apophthegma 11 zum Ausdruck: Wüste und Zelle schützen vor drei Versuchungen, der des Hörens, der des Redens, der des Sehens80. Man wird sicher nicht fehlgehen, wenn man in dem hier angegebenen Motiv zugleich den Grund für das Aufkommen der Anachorese überhaupt sieht 81 . Jedenfalls reicht es vollkommen zur Erklärung der Entstehung des Mönchtums aus, ohne daß man auf die Annahme außerchristlicher Einflüsse angewiesen ist. Der Entschluß, den Versuchungen aus dem Wege zu gehen, besagt nun aber bei Antonius keineswegs, daß er sich den Anfechtungen enthoben dünkte. Mag ihm das vielleicht anfangs als Ziel vorgeschwebt haben, so hat doch der stete Kampf gegen die Begierden und die Dämonen ihn sehr schnell eines anderen belehrt. Der Asket ist keineswegs frei von Versuchungen. Die Apotaxis führt nicht in einen vor Anfechtungen bewahrten Raum. Erst recht ist die Askese nicht Selbstzweck. Sie dient aber auch nicht dazu, höhere Gaben zu erlangen, etwa die der Prophetie 82 . Vielmehr ist die Askese nur Mittel im Kampf gegen die eigenen Versuchungen. Antonius hat sich darum sowohl vor Verachtung wie auch vor Überschätzung der Askese gehütet. Daß er mit dieser Anschauung nicht überall auf Verständnis stieß, geht aus Apophthegma 13 hervor: es gab in der Wüste Mönche, die in ihren asketischen Forderungen und Leistungen weitergingen als Antonius. Demgegenüber rät Antonius zum Maßhalten bei der Askese. Entscheidend ist vielmehr die Standhaftigkeit sowie die Härte gegen sich selbst83. Antonius war weit davon entfernt, in dem eigenen Weg auch den allen anderen gewiesenen Weg zu sehen: das engelgleiche Leben ist nicht an die Wüste gebunden 84 . 80

H. Dörries, op. cit., S. 366. C.Donahue, The  'Αγάπη  of  the  Hermits  of  Scete,  in:  Studia  Monastica,  ed.  G.  M.  Colombds,  Bd.l,  1  (Montserrat),  1959,  S.(97ff.)  97  sagt:  "The  monastic  ideal  of  Antony  and  the  thousands  who  strove  to  imitate  his  manner  of  life  was  the  quest  of  God  in  perfect  solitude."  Das  ist  jedoch  eine  viel  zu  allgemeine  Feststellung,  als daß man damit schon das Besondere des Entschlusses des Antonius, Mönch zu werden, bezeichnet hätte. Siehe im übrigen U. Heinemann, Die Motive für die Entstehung des Mönchtums nach dem Selbstverständnis der ersten Mönche, Diss. Theol. München 1954 (Maschinenschrift), die freilich die Motive, aus denen heraus das Mönchtum entstand, reichlich schematisch aufzählt, ohne die historische Entwicklung hinreichend zu berücksichtigen. 82 Athanasius, Vita Ant. 34. Diese Notiz dürfte sicher ursprünglich sein und der Sache nach auf Antonius selbst zurückgehen. 83 Vgl. auch Apophthegma 15. 84 Apophthegma 24; vgl. H. Dörries, op. cit., S. 369. 81

3*

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Antonius

So frei Antonius gegenüber manchen asketischen Forderungen war, so stand ihm andererseits doch völlig fest, daß bei dem Kampf gegen die Sünde und die Versuchungen eines von besonderer Bedeutung ist, nämlich die Tötung des Eigenwillens und der Gehorsam gegen den „Vater". Man soll seiner Askese nicht selbst das Maß setzen, sonst stellen sich leicht Willkür und Selbstvertrauen ein. Vielmehr soll man auf den Rat des Vaters hören 85 . Nach Apophthegma 38 sollen sogar die Schritte in der Zelle und die Tropfen des Wassers, die der Mönch trinkt, von dem Vater bestimmt werden; sonst kann der junge Mönch leicht zu Fall kommen. Wird der Gehorsam geübt, so bleibt er freilich nicht ohne Frucht. In Apophthegma 36 heißt es, daß Gehorsam, verbunden mit Enthaltsamkeit, wilde Tiere unterwirft. Es braucht nicht erst betont zu werden, daß Antonius bei aller Freiheit, die er im gegebenen Falle bewährte, einem äußerst strengen asketischen Ideal huldigte 86 . Dafür ist sein eigenes Leben Zeuge, aber auch manche seiner Worte. Aber es ist doch wichtig, daß er die mönchischen Tugenden übte und pflegte, ohne darum diese Lebensweise in rechtliche Bande zu zwängen, und daß er zudem von dem Gedanken einer besonderen, nur dem Mönch erreichbaren Vollkommenheit weit entfernt war. Wir hören nichts von Gelübden. Der Entschluß, Mönch zu werden, genügte vollauf. Andererseits stand es jedem frei, das Leben in der Wüste wieder zu verlassen, wenn er sich dazu nicht als fähig erwies. Antonius hat dadurch sein Mönchsideal in einer Weise verwirklicht, welche die besten Gedanken der griechischen Theologen aufnahm und in die Tat umsetzte. Ein recht anders geartetes Mönchsideal als die Apophthegmata Patrum zeichnet die Vita Antonii des Athanasius. Hier sind es nicht die Versuchungen, vor denen Antonius in die Wüste flieht, um ihnen zu entrinnen. Vielmehr entscheidet er sich aus freien Stücken, Jesu Wort an den reichen Jüngling buchstäblich zu erfüllen. Es ist bedeutsam, daß nicht in den Apophthegmen, wohl aber in der Vita Antonii jenes Herrenwort in der Fassung des Matthäus „Willst du vollkommen sein . . . " begegnet87. Von nun an gehört die Vorstellung, daß der Mönch im Unterschied von den anderen Christen den vollkommeneren Weg beschreitet, zum monastischen Ideal hinzu. Mag Athanasius dabei noch nicht an einen „vollkommeneren Stand" denken, so ist doch die Umwandlung des älteren monastischen Ideals bedeutsam genug. K.Holl hat dieses neue Ideal treffend skizziert: „Nicht eine Reihe von einzelnen Tugenden und Kraftleistungen wird hier verlangt, sondern die  άρετή,  die  Reinigung  des  Herzens,  die  Heiligung  der  ganzen Persönlichkeit. Von diesem Gesichtspunkt aus tritt aber auch die Askese, die der Mönch auf sich nimmt, in eine neue Beleuchtung: sie hat nicht Selbstwert, sondern ist nur Mittel zum Zweck; sie dient dazu, den Menschen frei zu machen. Vollends die Hingabe der Güter, die äußere Loslösung hat nur die Bedeutung, daß die 85 8e

Apophthegma 37. Vgl. Apophthegma 20.

87

Athanasius, Vita Ant. 2.

Pachomius

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Bedingungen für die Erreichung der Vollkommenheit hergestellt werden." 88 Der Mönch lebt bereits in einem besonderen Stande, dem Himmel näher als der Erde 89 . Athanasius hat dieses Mönchsideal in der Vita Antonii eingehend entfaltet. Antonius ist der Heros, der alle Versuchungen tapfer überwindet, der den Kampf mit den Dämonen geradezu sucht und auch vor dem Teufel nicht zurückschreckt. Von der Buße redet der Antonius der Vita Antonii nicht. Er ist im Grunde schon über sie hinaus. Statt dessen hat er bereits die vollkommene Tugend erworben. Worauf es ankommt, ist, daß er in dieser Tugend verharrt und nicht wieder zurückfällt 90 . Ja, der Antonius des Athanasius ist ein großer Redner, der ausführlich über den Wert und den Sinn der Askese belehrt, der mit heidnischen Philosophen disputiert und sie durch seine Argumente beeindruckt, der gegen die Häresie Stellung nimmt und ein eifriger Vorkämpfer der athanasianischen Orthodoxie ist. In all dem konnte der Antonius der Vita Antonii sicherlich nicht das Leitbild aller Mönche sein. Dazu hat gerade Athanasius das Einmalige und Unwiederholbare seines Mönchshelden zu deutlich herausgestellt. Aber das Ideal des vollkommenen Christen, der sich zwar in keiner Weise über die anderen Christen erhebt, aber doch die Anfechtungen, von denen sie getroffen werden, weit hinter sich zurückläßt, ist doch von Athanasius dem monastischen Ideal hinzugefügt worden. 10. Neben der Anachorese entstand im 4. Jahrhundert das Klostermönchtum, das auf Pachomius zurückgeht. Was das monastische Ideal betrifft, so besteht zwischen Antonius und Pachomius an sich kein großer Unterschied, so daß K.Holl sogar die Frage stellen konnte, „ob Pachomius in der Auffassung des Ideals (seil, vom Mönchtum) einen Fortschritt bedeutet" 91 . Was den Anachoreten wichtig war, das begegnet auch bei Pachomius, die Absonderung von der Welt nicht minder als die Askese. Auch was die Bedeutung des Gehorsams für den Mönch betrifft, ging Pachomius nicht einfach neue Wege. Schon die Väter der Wüste hatten auf die Notwendigkeit des Gehorsams hingewiesen und den einzelnen an einen Mönchsvater gebunden. Gleichwohl hat doch Pachomius das monastische Ideal um einen entscheidenden Zug bereichert, nämlich den des gemeinsamen Lebens. Zugleich hat er in richtiger Erkenntnis der praktischen Notwendigkeiten auch für den gemeinsamen Unterhalt Vorsorge getroffen, indem er die von ihm gegründeten Klöster eine kleine Wirtschaft betreiben ließ. Vor allem aber hat Pachomius durch seine Mönchsregel den Klostergemeinschaften eine feste Form gegeben. Die komplizierten Fragen der Überlieferung der padiomianischen Mönchs88 K.Holl, Enthusiasmus und Bußgewalt beim griechischen Mönchtum. Eine Studie zu Symeon dem neuen Theologen, 1898, S. 146. 8 ' Vgl. Th. Camelot, Les Traitis 'De Virginitate' au IVe Sifccle, in: Mystique et Continence, Travaux scientifiques du Vile Congres International d'Avon, 1952, S. (273 ff.) 285. M 81 Athanasius, Vita Ant. 20. K. Holl, op. cit., S. 155 f.

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Basilius

regel können und sollen hier nicht erörtert werden 92. Was die Entwicklung des monastischen Ideals betrifft, genügt hier der Hinweis, daß Pachomius als erster die Notwendigkeit sowie die Bedeutung einer festen Mönchsregel erkannt hat. Seine Regel hat nicht nur in vielen Einzelheiten spätere Mönchsregeln beeinflußt. Wichtiger noch ist, daß von nun an weithin das Vorhandensein einer Mönchsregel als für das Mönchtum konstitutiv angesehen wurde. Das gilt nicht minder für den griechischen Osten als für den lateinischen Westen. Basilius fußt hier genauso wie Augustin letztlich auf Pachomius. Pachomius kennt selbstverständlich audi die Einrichtung des Gelübdes 93 . Aber Pachomius ist doch an einem wichtigen Punkte über Frühere hinausgegangen. Es hat den Anschein, daß er nicht nur seinen Klöstern durch Regel und Gelübde eine feste Ordnung gegeben hat, sondern daß er auch eine ganz bestimmte theologische Wertung der Mönchsprofeß vorgenommen hat. In den Padiomiuserzählungen begegnet der Gedanke, daß dieProfeß des Mönchs eine zweite Taufe oder eine (erneute) Besiegelung ist 94 . Es steht nicht fest, ob diese Anschauung wirklich auf Pachomius selbst zurückgeht oder erst später aufgekommen ist. Wie dem audi sein mag, es dürfte nicht zufällig sein, daß in demselben Kreise, in dem das Mönchtum zuerst seine klösterliche Form erhalten hat, auch diese neue theologische Wertung vorgenommen worden ist, die den Eintritt ins Kloster der Bekehrung zum christlichen Glauben gleichstellt. 11. Bei Pachomius ist das Verhältnis zwischen den älteren Formen des Eremitentums und der Anachorese auf der einen Seite und der Klostergemeinschaft auf der anderen noch nicht wirklich geklärt. Es finden sich bei Pachomius lediglich Ansätze zu einer Kritik des anachoretischen Ideals. Beide Formen des Mönchtums bestanden aber doch nebeneinander her und haben sich in Ägypten noch lange Zeit hindurch gehalten. In dieser Hinsicht erfuhr das monastische Ideal eine Weiterentwicklung erst durch Basilius den Großen. 92 Siehe dazu Lit. bei B. Altaner, Patrologie, 5. Aufl. 1958, S.234. Zum pachomianisdien Mönchsideal siehe vor allem H.Bacht, Vom gemeinsamen Leben. Die Bedeutung des pachomianisdien Mönchsideals, in: Mönchtum in der Entscheidung, 1952, S.91 ff.; ders., Mönchtum und Kirche — Eine Studie zur Spiritualität des Pachomius; in: Sentire Ecclesiam, Festsdirift H.Rahner, ed. ^ Ο α ι ή έ ΐ ο υ und H . V o r g r i m k r , 1961, S. 113ff. M Siehe dazu die Katechese, CSCO SS Coptici 24 (übers, von L.Th.Lefort), p. 17,6ff.; 21,23ff.; ferner die Erörterungen bei C.Capelle, Le Voeu d'Ob&ssance des Origines au X l l e Sikle, 1959, S.34ff. 94 Siehe die Belege bei M. Rothenhäusler, Die Anfänge der klösterlichen Profeß, in: Benediktinisdie Monatsdirift 4, 1922, S. (21 ff.) 28. Zu den Wurzeln dieser Vorstellung, die in der Gleidisetzung von Buße und zweiter Taufe liegen, siehe H.Koll, op. cit., S.207; ders., Die Geschichte des Worts Beruf, in: Gesammelte Aufsätze zur Kirdiengesdiichte, Bd.3, 1928, S.(189ff.) 192. — H.Bacht, op.cit. (1961), S.124f., bestreitet, daß bei Pachomius schon der Gedanke der zweiten Taufe begegnet. Vgl. audi H.Bacht, Pakh6me et ses disciples, in: Theologie de la Vie monastique, Theologie Bd. 49, 1961, S. 39 ff.

Basilius

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Ihm gebührt nicht nur das Verdienst, das Mönchtum allenthalben propagiert zu haben. Darüber hinaus hat er, bei aller Verehrung, die er den Einsiedlern der ägyptischen Wüste entgegenbrachte, dodi die Gefahren des Einsiedlertums gesehen und sie in seiner eigenen Klostergründung zu vermeiden gesucht. Schließlich sind seine Regeln von dem nachhaltigsten Einfluß auf das gesamte spätere griechische Mönchtum gewesen; aber auch ins Abendland haben sie hineingewirkt. Was das Mönchsideal als solches betrifft, so unterscheidet sich Basilius an sich nicht allzusehr von den älteren Mönchsvätern Ägyptens. Askese, Tötung des Eigenwillens und Gehorsam sind auch ihm die Mönchstugenden. Aber Basilius hat doch dem Mönchsideal eine schärfere Fassung gegeben und darüber hinaus Neues hinzugefügt. Bei Basilius begegnet an zentraler Stelle der schon von Clemens undOrigenes mit Bezug auf denGnostiker ausgesprochene Gedanke, daß es für den Mönch vor allem um die Liebe zu Gott geht. Wohl weiß Basilius, daß die Liebe zu Gott nicht gelehrt werden kann. Aber er hat es doch seinen Mönchen eingeschärft, daß Gottesfurcht und Gottesliebe beständig in ihrer Seele zu sein haben wie ein unauslöschliches Siegel 95 . Neben der Liebe zu Gott ging es Basilius in seinem Kloster aber auch um die Liebe zum Nächsten. Ohne Nächstenliebe kann das monastische Ideal nicht verwirklicht werden. Der Mensch, der ohnehin auf die Gemeinschaft angelegt ist, braucht auch im Kloster den Bruder, an den er mit seinem Liebesdienst gewiesen ist und der ihm mit brüderlichem Rat hilft. Kein einzelner kann alle Charismen haben. Vielmehr sind die Charismen dazu gegeben, daß sie im Verein miteinander wirken, ja, der Einsiedler kann sogar sein eigenes Charisma, das er hat, nicht genießen, da er es gleichsam vergräbt und andere nicht daran teilhaben läßt e e . So wird die Gemeinschaft der Mönche bei Basilius aus dem mehr oder weniger lockeren Zusammenleben, wie es in Ägypten herrschte, zu einer wirklichen Gemeinde. Das Kloster ist sogar das wahre Abbild der Urgemeinde. In ihm wird der urchristliche Liebeskommunismus neu verwirklicht. Aber auch noch in einer anderen Hinsicht hat Basilius den Gemeinschaftsgedanken in das monastische Ideal hineingenommen: der einzelne braucht auch die Kontrolle seiner Mitbrüder. Diese Kontrolle wird in der Beichte ausgeübt. Es ist nicht mehr so, daß der Mönch den Vater um Rat angeht. Vielmehr bedarf es eines wirklichen Uberführens und zugleich auch vorbeugender Ratschläge, um den einzelnen in seinem geistlichen Leben zu leiten. Zwar ist es Basilius mit diesen tiefen Gedanken nicht gelungen, das Einsiedlertum allenthalben durch das Klostermönchtum abzulösen. Aber Basilius hat doch das monastische Ideal um wesentliche Züge bereichert. Auch hinsichtlich des Gelübdes hat sich Basilius deutlicher und ausführlicher als frühere Theologen und Mönchsväter ausgesprochen. Aufschluß95

Basilius, Regula fus. tract. 2; 5.

86

Ebd. 7.

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Basilius

reich ist hier vor allem sein Brief Nr. 199 an Amphilochius über verschiedene kirchliche Canones. Wir erfahren hier sowohl etwas über die damalige Praxis in Kleinasien als auch über die eigenen Gedanken des Basilius. Zum erstenmal begegnen hier öffentliche Gelübde, die nicht mehr nur privat geleistet werden und insofern auch frei sind, sondern eine Art Rechtsakt vor der Kirche darstellen. Allerdings kennt Basilius derartige Gelübde nur bei Jungfrauen, nicht aber bei Männern. Entsprechend dem öffentlichen Charakter des Gelübdes wird nun eine Jungfrau, die ihr Gelübde bricht und den Begierden des Fleisches nachgibt, mit Kirchenzuchtsmaßnahmen belangt. Nach dem Brauch der kappadokischen Kirche wird ihr eine einjährige Bußpflicht auferlegt, analog der Regelung für die zweimal Verheirateten 97 . Was Männer betrifft, so befolgt man zur Zeit des Basilius die Praxis, daß sie stillschweigend die Ehelosigkeit erwählen, jedoch dabei kein öffentliches Gelübde ablegen. Freilich schlägt Basilius vor, daß auch sie ein förmliches Gelübde, wie die Jungfrauen, leisten sollen, damit man sie, falls sie ihr Gelübde brechen, entsprechend bestrafen kann 98 . Gelübde hingegen, die von Angehörigen einer Sekte geleistet werden, gelten in den Augen der Kirche nicht als verpflichtend, weshalb auch bei einem Konvertiten gegebenenfalls Ubertretungen eines solchen Gelübdes nicht geahndet werden Demnach wird man bei Basilius wohl von ewig bindenden Gelübden sprechen können, auch wenn noch für lange Zeit die genaue Fixierung der Gelübde auf die drei Räte der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams fehlen sollte. Wahrscheinlich geht dieser neue Charakter der Gelübde auf Basilius selbst zurück 10°. Die Regelung, die man einige Jahrzehnte zuvor in Spanien auf der Synode zu Elvira getroffen hatte, beginnt, sich allenthalben durchzusetzen. Damit ist nun aber ein wesentliches, neues Moment in das Mönchtum hineingekommen, das nicht mehr wie manche früheren Weiterbildungen des monastischen Ideals lediglich eine Ergänzung darstellte, sondern das das Mönchtum als solches in seinem Wesen verändern mußte. Askese und Mönchtum hatten bis dahin als ein freier Stand gegolten. In der Ehelosigkeit hatte man wohl ein erstrebenswertes Ziel gesehen, aber zugleich doch auch etwas Besonderes, ein Charisma, das nur wenigen gegeben ist und das sich jeden97

Basilius, ep. 199, Can. 18; vgl. schon die Synode zu Ancyra (314), Can. 19. 99 Basilius, ep. 199, Can. 19. Basilius, ep. 199, Can. 20. Ausführlich hat sich mit der Frage des Gelübdes bei Basilius W. K. Lowther Clarke, St. Basil the Great — A Study in Monasticism, 1913, befaßt; siehe vor allem seine Additional Note Α über Permanent Vows S. 107—109. S. 109 schreibt er: "I infer therefore that the new principle introduced by Basil was the irrevocable nature of the profession, at least in the case of virgins. Whether or not the vow was of sudi a character that to violate it incurred the guilt of perjury is a minor question; it contained all the essentials of the vow as unterstood in later times. The practice of permanent vows may therefore be traced back to Basil." Siehe ferner auch Μ. Rothenhäusler, Der hl. Basilius der Große und die klösterliche Profeß, in: Benediktinische Monatschrift 4, 1922, S.280ff.; L.Visdier, Basilius d.Gr., 1953. 98

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falls nicht durch kirchenrechtliche Maßnahmen zu einer Institution machen läßt. Bei allen manchmal einseitigen Äußerungen über den Wert der Askese hatten sich doch Theologen wie Tertullian oder Cyprian vor dieser Folgerung gescheut. In der griechischen Kirche hatte man zudem stets besonderen Wert auf die Freiheit und die Freiwilligkeit gelegt, mit der sich jemand asketischen Werken hingibt. Das galt audi noch für die Anfänge des eigentlichen Mönchtums in Ägypten. Indem das Gelübde, das man von der Kirche Marcions übernommen hatte, nun zu einer festen, kirchenrechtlich verpflichtenden Einrichtung wird, wird das Charisma zu etwas Verfügbarem, das im Grunde allen offensteht, wofür man lediglich besondere Leistungen vorweisen muß. Das aber bedingt, daß die christliche Ethik in eine höhere und eine niedere Stufe gespalten wird. Im Grunde ist nur der Mönch der wahre Christ 101 und nur das Kloster die wahre Gemeinde, die dem Ideal der Urgemeinde entspricht. Es kann daher nicht verwundern, daß auch für Basilius der Eintritt in diese vollkommene Gemeinschaft der Taufe vergleichbar ist: der Mönch erhält ein unauslöschliches „Siegel", das ihn von dem Weltchristen unterscheidet, so wie das Siegel der Taufe Christen von Nichtchristen trennt 102 . Während der Mönch sich zur vollkommenen Nachfolge entschließt, gehen die Christen, die in der Welt bleiben, den Weg des Kompromisses. Sie machen von den radikalen Forderungen des Glaubens, die die Mönche erfüllen, Abstriche und gelten darum als weniger vollkommen. Man wird sich bei der Einführung der öffentlichen Gelübde schwerlich über diese Konsequenzen im klaren gewesen sein. Auch muß man sagen, daß bei Basilius diese Folgerungen, die die Umformung des Mönchtums zu einer festen Institution mit sich bringen mußte, weitgehend entschärft sind, insofern Basilius nicht sowohl in den Kategorien von Leistung und Lohn denkt, als vielmehr in denen des Weges, den der Mönch beschreitet, und des steten Fortschreitens. Basilius ist hier den Gedanken treu geblieben, die seit Irenäus und Origenes das Wesen des griechischen Christentums ausmachen103. Audi ist bezeichnend, daß er nicht eigentlich in der Profeß als solcher das zweite Siegel sieht, das der Mönch empfängt, sondern in der stets neu geübten έννοια τοϋ θ-εοϋ 104. Im Abendland hingegen, wo die Begriffe 101

Basilius, Regula fusius tract. 17. Regula fusius tract. 5,2. 103 Für die Zeit des Basilius hat das in vortrefflicher Weise H . Langerbeck mit Bezug auf Gregor von Nyssa dargetan: Zur Interpretation Gregors von Nyssa, in: ThLZ 82, 1957, Sp. 81 ff. D a ß freilich auch im Osten die Vorstellung von einem besonderen Lohn für die Leistung der Askese nicht fehlt, zeigt etwa Methodius von Olympus in seinem Convivium, bes. 7, 3. 104 Basilius, Regula fusius tract. 5,2. — Später zeigt sich übrigens im Osten bei Chrysostomus eine reservierte Haltung gegenüber dem Mönchtum. Vgl. I.-M.Leroux,Monachisme et Communauti Chr^tienne d'apres S. Jean Chrysostome, in: Theologie de la Vie Monastique, 1961, S. 143 ff. 102

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des Verdienstes und des Lohnes seit je eine wesentlich größere Rolle spielten als im Osten, mußte diese Umwandlung des Mönchtums zu einer viel akuteren Gefahr führen. Zwar hat es dort noch längere Zeit gedauert, bis die Kirche überall den audi rechtlich verpflichtenden Charakter der Gelübde feststellte; manche Theologen wie etwa Cassian rechnen noch durchaus mit der Möglichkeit, daß jemand aus seinem Kloster wieder austritt. Aber es ist doch nicht zufällig, daß in späteren Jahrhunderten die Kritik am Mönditum und an der doppelten Ethik im Abendland eine sehr viel schärfere Form annahm als im Morgenland.

I. Hauptteil Das Mönchsideal des Mittelalters A. Z U R Z E I T D E R A U S G E H E N D E N A L T E N a)

KIRCHE

Hieronymus1

1. In der Geschichte des Mönchtums und des monastischen Ideals kommt Hieronymus eine einzigartige Bedeutung zu. Hieronymus, der selbst aus dem Abendland kam, sich jedoch als Mönch und Einsiedler im Morgenland niederließ, hat wie kein anderer die mönchische Lebensweise des Ostens dem Westen vermittelt und nahegebracht. Kein zweiter hat es auch so wie Hieronymus verstanden, für das monastische Ideal zu werben. Er, der gern als der gelehrteste Kirchenvater bezeichnet wird, den das Abendland in der Zeit der alten Kirche hervorgebracht hat, und der das Griechische und Hebräische nicht minder als das Lateinische beherrschte, ist der erste eigentliche Theologe des Mönchtums im lateinischen Sprachbereich geworden, der, über Frühere hinausgehend, sich auch in theologischer Hinsicht mit den Fragen des Mönchtums befaßt hat, um auf diese Weise das monastische Ideal fester zu formen. Wenn man auch Hieronymus wohl in dogmatisch-theologischer Hinsicht keine besondere Selbständigkeit und Unabhängigkeit zuerkennen 1

Lit. zum monastisdien Ideal des Hieronymus: außer den großen Biographien von G.Grützmacher, Hieronymus. Eine biographische Studie zur alten Kirchengeschichte, in: Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche 6, 3; 10, 1; 10, 2, 3 Bde., 1901—1908, F. Cavallera, Saint Jerome, sa vie et son ceuvre, in: Spicilegium Sacrum Lovaniense, Etudes et Documents Fase. 1 und 2, 2 Bde., 1922, und J. Steinmann, Hieronymus, 1961, vor allem die folgenden Aufsätze bzw. Beiträge: H.Lietzmann, Art.Hieronymus, in: PW 8, 2, 1913, Sp. 1565 ff.; E.Bickel, Das asketische Ideal bei Ambrosius, Hieronymus und Augustin — eine kulturgeschichtliche Studie, in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum 19, 1916, S.437ff.; Dem hl. Hieronymus — Festschrift zur 1500.Wiederkehr seines Todestages (30. IX. 420), im Anschluß an die Benediktinische Monatschrift, hrsg. von der Erzabtei Beuron, 1920; W. W. D. Gardiner, St. Jerome's Letters on the Monastic Life, in: The Expository Times 43, 1931/1932, S.25ff.; P. Antin, Le Monachisme selon Saint Jerome, in: Melanges Ben^dictins, Abbaye S. Wandrille, 1947, S.69ff.; ders., Saint Jerome, in: Theologie de la Vie monastique, 1961, S. 191 ff. (die Zitate im folgenden beziehen sich auf den ausführlichen Aufsatz von 1947); Ch.-H. Nodet, Position de Saint Jerome en face des probtemes sexuels, in: Mystique et Continence, Travaux scientifiques du V l l e Congres International d'Avon, 1952, S. 308 ff.; C.Capelle, Le Vceu d'Obeissance des Origines au X l l e Siecle, 1959, S. 49ff.; G. M. Colombas, El concepto de monje y vida monastica hasta fines del siglo V, in: Studia Monastica, ed. G.M.Colombas, B d . l , 2, 1959, S.257ff.

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kann, so muß man sagen, daß er, was das asketische und monastisdie Ideal betrifft, eigene Wege gegangen ist. Ja, bei all seiner Sorge, nur die orthodoxe Lehre der Kirche zu vertreten, hat er sich doch nicht gescheut, in seinen Äußerungen über den Wert des monastischen Lebens im Vergleich mit dem Leben in der Welt alle Vorsicht fallenzulassen und sich in Gegensatz zu vielen anderen Lehrern der Kirche zu begeben. Nirgends begegnet man dem echten Hieronymus so offen wie in seinem Lobpreis der Jungfräulichkeit und der Askese. Nicht zu Unrecht hat man geradezu von einem „Evangelium der Askese" gesprochen, das zu verkündigen Hieronymus als seine Aufgabe ansah 2 . Wie sehr Hieronymus die Askese am Herzen lag, kann man schon an seinem eigenen Leben ermessen. Nicht genug, daß er für sich selbst das asketische Leben erwählte und dieses auch noch über den Dienst in der Kirche stellte, indem er die Presbyterweihe nur widerwillig annahm und auch nur unter der Bedingung, daß er fernerhin als Asket leben dürfe. Vielmehr hat Hieronymus die Askese in einem ganz ausschließlichen Sinne betrieben. In seinem Mönchsleben sah er so sehr den ihm persönlich gewiesenen Weg, daß er keinen Anstand nahm, zu sagen, für ihn selbst sei die Seligkeit nur im Mönchsstande zu erlangen; der Weg als Weltchrist führe für ihn nicht dorthin. Als Weltchristen würde der Herr ihn nicht mehr annehmen, vielmehr würde er ihn, wollte er in die Welt zurückkehren, verwerfen. Der Grund dafür sei, daß man von dem einmal gefaßten Vorsatz nicht mehr zurück könne: wer Mönch geworden ist, hat sich vor Gott gebunden und kann aus dieser Bindung nicht mehr heraus, sondern kann nur innerhalb ihrer das Heil gewinnen oder verlieren 8 . 2. Erst recht aber zeigt sich die hohe Einschätzung der Askese in Hieronymus' Propaganda für das Leben als Mönch. Der Mönch ist der Einsiedler und zugleich der aus der Menge Hervorragende. In diesem Sinne wird man wohl die berühmte Definition des Hieronymus zu verstehen haben, daß monachus mit solus identisch zu setzen sei4. Bei der „Menge" (turba) hat man hier offenbar nidit nur an die große Zahl derer zu denken, die nicht Mönche sind, sondern beinahe an die „Masse". Denn in dem gleichen Zusammenhang, in dem Hieronymus seine Definition von monachus gibt, stellt er sich selbst die Frage, ob denn die anderen, die in den Städten wohnen, etwa keine 2

G. Grützmacher, Hieronymus, Bd. 1, 1901, S. 2. ® Anecd. Mareds. III 2, 1897, p. 404, 16 ff. Ego qui monachus sum, qui desivi esse saecularis et factus sum monachus, aut monachus salvor, aut aliter non salvor. Non est aliquid medium. Si voluero dimittere vitam monachi et sequi saecularem, non habebit me Dominus quasi saecularem, sed quasi praevaricatorem. Non ergo nobis licet dimittere quod habemus in proposito. 4 Ep. 14,6 interpretare (Heliodorus ist angeredet) vocabulum monachi, hoc est nomen tuum: quid facis in turba, qui solus es? Vgl. ep.58,5 sin . . . cupis esse, quod diceris, monachus, id est solus, quid facis in urbibus, quae utique non sunt solorum habitacula, sed multorum?

Die Definition von „monachus"

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Christen seien. Zwar warnt Hieronymus bei der Beantwortung dieser Frage davor, sich mit den anderen zu vergleichen. Aber er zitiert dann doch Jesu Wort an den reichen Jüngling in der Fassung des Matthäus „Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe alles, was du hast, und folge mir nach" und erinnert den Adressaten daran, daß er gelobt hat, vollkommen zu sein 5 . Der Mönch steht also als derjenige, der in besonderer Weise die Vollkommenheit anstrebt, ja sie in gewisser Weise schon hat, den anderen Christen gegenüber. Dieses Gelübde der Vollkommenheit beinhaltet des näheren, daß der Mönch sich bestimmte biblische Gestalten zum Vorbild nimmt und ihnen nacheifert, ja sie nachahmt. Hier werden verschiedene Männer als Leitbild angeführt. Hieronymus verweist etwa auf Abraham, der von Gott den Befehl erhielt, aus seinem Lande und von seiner Verwandtschaft in das verheißene Land zu ziehen und sich dadurch von dem Weltgetriebe freizumachen®. Weiter sieht Hieronymus in Johannes dem Täufer ein Vorbild für den Mönch: er hat sich von den Menschen zurückgezogen, um in der Wüste nur mehr mit den Engeln zu verkehren 7 . Ja, in gewisser Hinsicht ist Johannes der Täufer sogar der Begründer des Mönchtums und selbst der erste Mönch gewesen8. So geht es auch für den Mönch darum, die Menschen zu verachten, die Engel zu suchen und Christus in der Einsamkeit, fern von den Städten, zu finden9. Oder Hieronymus kann sagen, daß der Mönch danach strebt, das apostolische Leben nachzuahmen. Wie anders sollte man aber die Apostel nachahmen können als dadurch, daß man tut, was sie getan haben? So gilt es für den Mönch, die Werke der Apostel zu tun. Sonst kann er kein wahrer Nachahmer der Apostel sein10. 3. Es nimmt nicht Wunder, daß Hieronymus von derartigen Gedanken aus bestimmte Aspekte des Lebens der ersten Christen in den Mittelpunkt 5

Ebd. (ep. 14,6). • E p . 4 6 , 2 ; vgl. ep.71,2. Siehe zu diesem Gedanken bei anderen Mönchsvätern K . H o l l , Die Geschichte des Worts Beruf, in: Gesammelte Aufsätze zur Kirdiengeschichte, Bd. 3, 1928, S. 192 Anm.5. 7 Anecd. Mareds. III 2, 1897, p.386, 20ff. Dort heißt es mit Bezug auf Johannes den Täufer: Quia nuntiaturus erat Christum, statim in heremo nutritur, statim ibi crescit: non vult cum hominibus conversari, in heremo cum angelis philosophatur. Siehe dazu G. M. Colombas, op. cit., S.310. 8 Ebd. p . 3 8 7 , I f f . Considerate, monadii, dignitatem vestram. Iohannes prineeps nostri est dogmatis, ipse monachus. p.387, 16 ff. U t doceam dogmatis nostri prineipem esse Baptistam Iohannem. Felices sunt qui imitantur Iohannem, a quo maior inter natos mulierum non fuit. Expectabat Christum, noverat esse venturum, oculi eius nihil aliud dedignabantur aspicere. 8 Ebd. p. 321, 2 ff. Felix ista conversatio, despicere homines, angelos quaerere: urbes deserere, et in solitudine invenire Christum. 10 Ebd. p. 375,8 f. monachus enim apostolicam vitam desiderat imitari. Z. 15 f. Monadii apostolorum imitatores sunt: non ergo possumus eos imitari, nisi fecerimus, quod fecerunt et apostoli.

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rückt und in ihnen das eigentliche monastische Ideal erblickt. So kann Hieronymus in der Gemeinschaft, die die Urgemeinde nach dem Bericht der Apostelgeschichte übte, das Vorbild für das Mönchsleben sehen: die ersten Christen waren ein Herz und eine Seele, und eben darum geht es auch in den Klöstern 11 . Dom Antin hat daraus den Schluß gezogen, daß die Gemeinschaft für Hieronymus den eigentlichen Wert des Mönchtums ausmache und in ihr daher sein monastisches Ideal zu erblicken sei12. Allein, gegen eine solche Auffassung erheben sich Bedenken. Zunächst muß man gerade bei einem Manne wie Hieronymus damit rechnen, daß er auf Grund seiner Bildung und seiner Belesenheit Gedanken übernimmt, die schon von anderen vor ihm vertreten sind, die sich zweifellos gut zu seinem eigenen Leitbild fügen, die nun aber doch nicht bei ihm selbst wirklich im Zentrum stehen. Der Gedanke der Gemeinschaft war ja vor Hieronymus von Basilius propagiert worden. Von ihm wird Hieronymus daher dieses Ideal übernommen haben. Aber damit ist nun noch keineswegs gesagt, daß auch für Hieronymus selber die communio der Urgemeinde Vorbild für das Mönchtum ist. Sodann aber scheint Hieronymus' Auffassung über das Verhältnis zwischen dem Einsiedlertum und dem Klosterleben die Ansicht auszuschließen, daß Hieronymus in der communio der Urgemeinde das Vorbild für das Mönchtum gesehen hat. Zwar wird des öfteren behauptet, daß Hieronymus eindeutig das Könobitentum dem Eremitentum vorgezogen habe 13 . Aber diese Ansicht ließe sich allenfalls nur mit erheblichen Einschränkungen halten. Es ist gewiß keine Frage, daß Hieronymus vor den Gefahren des Eremitentums warnen kann. Sie bestehen für ihn darin, daß man eigener Willkür ausgesetzt ist. Männer, die vom Verkehr mit anderen Menschen losgelöst sind, geben leicht unsauberen und gottlosen Gedanken Raum, so daß sie voll Hochmut und Selbstüberhebung andere, insbesondere Geistliche oder Mönche, herabsetzen. Was Frauen betrifft, so läßt ihr unbeständiges und veränderliches Wesen ein einsames Leben nicht zu; sie würden sonst nur zu schnell der Schlechtigkeit verfallen. Vor allem hat auch die von Einsiedlern gern geübte, übertriebene Askese ihre besonderen Gefahren 14 . Oder Hieronymus kann darauf hinweisen, daß man nicht sich selbst lehren soll, sondern sich besser einem Führer unterordnet, der vor Irrtum bewahren kann 15 . Aber 11 Ebd. p. 246,3 if. „Ecce quam bonum et quam iocundum, habitare fratres in unum." Proprie psalmus iste coenobiis et monasteriis convenit. Licet enim de ecclesiis intelligatur, sed ibi propositi diversitate videtur non esse tanta concordia. Ebd. p. 246,13 ff. Verweis auf Act. 4,32. 12 13 Antin, op.cit., S.79f. So audi C.Capelle, op.cit., S.51. 14 Ep. 130,17. 15 Ep. 125,9 Primumque tractandum est, utrum solus an cum aliis in monasterio vivere debeas (Rusticus ist angeredet), mihi placet, ut habeas sanctorum contubernium nec ipse te doceas et absque doctore ingrediaris viam, quam numquam ingressus es, statimque in partem tibi alteram declinandum sit et errori pateas plusque aut minus ambules, quam necesse est, ut currens lasseris moram faciens obdormias.

Die Jungfräulichkeit

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zwei Beobachtungen schränken doch diese Bevorzugung der vita communis nach dem Urteil des Hieronymus ganz erheblich ein. Einmal verwahrt sich Hieronymus selbst dagegen, daß er das Eremitentum irgendwie gegenüber dem Könobitentum zurücksetzen wolle. Im Gegenteil, er spricht den Wunsch aus, daß aus der Schule der Klöster solche Kämpfer hervorgehen, die sich durdi die besonders strengen Anforderungen des Einsiedlerlebens nicht schrecken lassen, die vielmehr sich selbst als die Niedrigsten dünken, um so die Ersten von allen zu werden 16 . Demnach ist also für Hieronymus das Kloster wohl der normale Weg, den der Mönch gehen soll, und in jedem Falle audi der Beginn des asketischen Lebens. Aber höher steht nach seiner Meinung doch der Einsiedler, der die Hilfen des Klosters hinter sich lassen kann. Daneben aber zeigt sich die besondere Stellung des Hieronymus zu dem Verhältnis von Eremitentum und Könobitentum erst dann in ihrem wahren Licht, wenn man sie mit derjenigen des Basilius vergleicht. Was Hieronymus von Basilius übernimmt, ist lediglich die Sorge vor den Bedrohungen und Gefahren, denen der Einsiedler ausgesetzt ist. Aber das Positive, das Basilius über den Vorzug des Klosterlebens zu sagen wußte, nämlich die abbildliche Verwirklichung des Urbildes der ersten Gemeinde sowie das gemeinschaftliche Zusammenwirken der einem jeden verliehenen Charismen, sucht man bei Hieronymus vergeblich. Weiter begegnen bei Hieronymus neben dem Gedanken der Gemeinschaft auch andere Vorstellungen, die bestimmte Aspekte des Mönchslebens als zentral hinstellen. So kann Hieronymus etwa sagen, daß es für den Mönch entscheidend auf den Gehorsam ankommt 17 . Oder Hieronymus preist die Demut als das vor allem zu Erstrebende. Sie ist daher auch für den Mönch von grundlegender Bedeutung 18 . Aber audi diese Gedanken stehen doch offenbar nicht ausschließlich im Mittelpunkt von Hieronymus' Mönchsideal. Näher kommt man dem eigentlichen Anliegen des hieronymianischen Mönchsideals erst, wenn man seine grundsätzlichen Aussagen über die Notwendigkeit und die Bedeutung des Verzichtes, der Askese in einem ganz allgemeinen Sinne ins Auge faßt. Hieronymus hat mit scharfem Ohr die Herrenworte über den Verzicht gehört. Die Freiheit, in die der Herr den Christen beruft, ist eine schlechthin umfassende. Sie schließt vor allem den Verzicht auf das, was einem an sich lieb ist und was einen gerade dadurch an die Welt bindet, ein. Dieser radikalen Forderung gilt es mit tapferem Herzen zu entsprechen 18

Ep. 125,9. Ep.22,35 mit Bezug auf die Coenobitae: prima apud eos confoederatio est oboedire maioribus et, quidquid iusserint, facere. Freilich wird man auch diesen Gedanken nicht ausschließlich im Mittelpunkt des monastisdien Ideals des Hieronymus sehen dürfen, wie Antin es tun möchte. Es ist überhaupt der Mangel der Arbeit von Antin, daß sie Hieronymus zu sehr Benedikt angleidit. Die besonderen Konturen der Möndisauffassung des Hieronymus gehen dabei verloren. 18 Ep. 22,27 ne satis religiosa velis videri nec plus humilis, quam necesse est, ne gloriam fugiendo quaeras . . . mirum in modum laus, dum vitatur, adpetitur. 17

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und nicht ängstlich dem, was man aufgibt, nachzutrauern 19 . Anders kann man von der Sünde nicht frei werden. Hieronymus hat gewußt, was das gerade für ihn bedeutet, nämlich den Verzicht auf die Ehe. Zugleich aber hat Hieronymus in dieser radikalen Forderung des Herrn auch eine Chance, ja die einzige, gesehen, der Schuldverflechtung zu entrinnen. Der Weg, der sich im Mönchtum anbietet, ist für ihn nichts anderes als Gnade, sagt doch die Schrift, daß Gott den Hoffärtigen widersteht, aber den Demütigen Gnade schenkt"0. Der Weg zum Himmel führt nach Hieronymus nur über die streng geübte Askese21. Freilich hat Hieronymus diese Gedanken mit den alten Vorstellungen des Abendlandes über Leistung und Lohn verbunden: erst so erhalten seine Ausführungen über das Ideal der Jungfräulichkeit ihr scharfes Profil. Es mag dabei durchaus sein, daß Hieronymus' eigene Natur mit ihren besonderen Anlagen hier mit von großer Bedeutung gewesen ist 22 . Uns interessiert hier jedoch allein die theologische Beurteilung der Ehe wie der Jungfräulichkeit, die Hieronymus gegeben hat. Hieronymus hat sich in zahlreichen Schriften und Briefen über dieses Thema ausgesprochen, und es wird schwerlich übertrieben sein, wenn man in der Überwindung des geschlechtlichen Triebes das eigentliche monastische Ideal des Hieronymus sieht. 4. Hieronymus hat sich bemüht, bei seiner Vorliebe für das Ideal der Jungfräulichkeit die Ehe nicht ganz abzuwerten. Allein, positive Äußerungen über die Ehe findet man nur äußerst selten, und auch dann ist es wenig genug, was Hieronymus zu sagen weiß. In seiner Schrift gegen Jovinianus gesteht er zu, daß diejenigen, die sich nicht enthalten können, heiraten mögen; anderenfalls stürzen sie23. Aber im gleichen Atemzuge hebt er hervor, daß das selbstverständlich nur für denjenigen gilt, der sich nicht dem Mönchsstande verpflichtet hat: wer sein Gelübde bricht und heiratet, zieht sich die Verdammnis zu 24 . Immerhin, auch Hieronymus weiß, daß nach der Bibel die Ehe eine Gabe Gottes ist. Aber auch diese Erkenntnis kann er nicht aussprechen, ohne sofort hinzuzufügen, daß zwischen der einen und der 19 Ep. 14,5 f. „omnis", inquit dominus, „qui non renuntiaverit cunctis1, quae possidet, non potest meus esse discipulus" (Lk. 14,33). Cur timido animo Christianus es? 20 Ep. 130,12. 21 Ep. 130,15 haec (seil, die Ratschläge des Hieronymus für das asketische Leben) observans (angeredet ist Demetrias) et te ipsam salvabis et alias et eris magistra sanetae conversationis multarumque castitatem lucrum tuum facies. 22 Ch.-H. Nodiet hat diese Fragen in seiner o. S. 43 Anm. 1 genannten Untersuchung behandelt. Er spricht S. 342 von einer „position si anormale de Saint j£rome devant la sexualite . . . on peut inferer non seulement que la sexualite de Saint Jeröme n'est pas normale, niais encore que son aggressivit£ est mal sublimie". 23 Adv. Jov. 1,13. 24 Ebd. (vorher: eine virgo darf heiraten, sie sündigt nicht). N o n ilia virgo, quae se semel Dei cultui dedieavit: harum enim si qua nupserit, habebit damnationem, quia primam fidem irritam fecit . . . Virgines enim, quae post consecrationem nupserint, non tarn adultcrae sunt, quam incestae.

Jungfräulichkeit und Ehe

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anderen Gabe ein erheblicher Unterschied besteht 25 . Diese Art zu argumentieren ist typisch für Hieronymus: er bringt es einfach nicht über sich, an irgendeiner Stelle in seinen Schriften ein rundes und glattes Ja zur Ehe als einer Stiftung Gottes zu sagen; wenn er sich doch einmal dazu verstehen muß, weil er dazu durch die Aussagen der Bibel einfach gezwungen wird, fügt er sofort ein „Aber" hinzu, um das Eingeständnis soweit als möglich zurückzunehmen. Ähnlich steht es auch, wenn Hieronymus äußert, daß es Sache der Häretiker sei, die Ehe zu verdammen, daß die Kirche dagegen die Ehe nicht verdammt, sondern sie sich „unterwirft"; denn audi hier kann er es nicht unterlassen, hinzuzusetzen, daß man das eben in dem Sinne zu verstehen habe, daß Gott manche Gefäße zur Ehre, manche hingegen zur Unehre geschaffen habe. Das, worauf es Hieronymus ankommt, ist auf jeden Fall, daß man sich selbst reinigt 26 . Jovinianus, der nicht in gleicher Weise wie Hieronymus die Jungfräulichkeit über die Ehe stellt, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, der „Epikur der Christen" zu sein27. Freilich weiß Hieronymus, daß Heiraten immer noch besser ist als Brunst leiden (l.Kor. 7,9) 28 . Gewiß, Eheleute werden nach Hieronymus nicht schlechthin verworfen. Aber es ist doch nicht nur so, daß sie die Zweiten und die Jungfräulichen die Ersten sind. Vielmehr ist die Ehe als solche stets das Böse und die Jungfräulichkeit das Gute 29 . Oder, wie Hieronymus auch sagen kann, ohne dodi von seiner Verwerfung der Ehe etwas zurückzunehmen, Ehe und Jungfräulichkeit verhalten sich zueinander wie Nicht-Sündigen und GutesTun 30 . Gilt dies für die Ehe ganz allgemein, so ist Hieronymus erst recht kritisch gegenüber einer zweiten Ehe nach dem Tode des ersten Ehegatten. Zwar weiß Hieronymus sehr wohl, daß das Neue Testament den Witwen die Wiederverheiratung nicht verbietet. Aber es ist doch immer noch besser, nur 25 Adv.Jov. 1,8 Concedo et nuptias esse Dei donum, sed inter donum et donum magna diversitas est. 20 Adv. Jov. 1,40 cum haereticorum sit damnare coniugia, et Dei spernere conditionem, quidquid de laude dixerit nuptiarum, libenter audimus. Ecclesia enim matrimonii non damnat, sed subiicit; nec abiicit, sed dispensat: sciens, ut supra diximus, in domo magna non solum esse vasa aurea et argentea, sed et lignea et fictilia; et alia esse in honorem, alia in contumeliam: et quicumque se mundaverit, eum futurum esse vas honorabile, et necessarium in omne opus bonum praeparatum. 27 Adv. Jov. 1,1. 28 Adv. Jov. 1,9. Hieronymus gibt hier folgende charakteristische Abwandlung von Jesu Wort in der Bergpredigt (Mt. 5,29): melius est unum oculum habere, quam nullum: melius est uno inniti pede, et alteram partem corporis baculo sustentare, quam fractis cruribus repere. Daß man „mit beiden Augen" ins Himmelreich kommen könnte, sdieint Hieronymus offensichtlich unvorstellbar. 29 Ep.22,19 Dicat aliquis: „et audes nuptiis detrahere, quae a domino benedictae sunt?" non est detrahere nuptiis, cum illis virginitas antefertur. nemo malum bono conparat. glorientur et nuptae, cum a virginibus sunt secundae. 30 Adv. Jov. 1,13 Tantum est igitur inter nuptias et virginitatem, quantum inter non peccare, et bene facere; immo, ut levius dicam, quantum inter bonum et melius.

4 8016 Lohse, Mönchtum

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einen Ehegatten gehabt zu haben, als sich zweien oder gar dreien „preisgegeben" zu haben. In dem Ausdruck, den Hieronymus hier für „preisgeben" gebraucht (prostituere), offenbart sich seine tiefe Abneigung gegen die Ehe und auch gegen alles Geschlechtliche31. Die Ehe ist für ihn im Grunde nichts anderes als eine Form von Prostitution. Jovinianus hat dieser ganz unchristlichen Ehe- und Leibfeindlichkeit mit gutem Recht entgegengehalten, daß nach dem Neuen Testament durch die Taufe der Unterschied zwischen Jungfrauen und Witwen aufgehoben wird. Allein, auch hier weiß Hieronymus eine Antwort: sollte das stimmen, dann würde ja auch die Dirne mit den Jungfrauen auf einer Stufe stehen; das aber kann für ihn überhaupt nicht in Frage kommen. Der christliche Glaube steht keinesfalls im Widerspruch zur menschlichen Wertskala. Im Gegenteil, er bestätigt sie auf einer höheren Ebene 32 . Die einzige Rechtfertigung, die es für die Ehe nach dem Urteil des Hieronymus geben kann, ist, daß ja auch die Verwirklichung des Ideals der Jungfräulichkeit insofern auf die Ehe angewiesen ist, als aus ihr die Menschen hervorgehen. Gäbe es keine Ehe, so wäre auch niemand da, der die Jungfräulichkeit anstreben könnte. Für die Ehe als solche besagt aber diese Ansicht des Hieronymus weiter nichts als dieses, daß sie nur den einzigen Sinn hat, sich selbst aufzuheben und durch das höhere Ideal der Jungfräulichkeit überwunden zu werden 33 . Es sind viele Gründe, die Hieronymus für sein Urteil über die Ehe anführt. Zunächst weist er darauf hin, daß schon die Heiden die Tugend der Wollust vorgezogen haben; auch bei ihnen stand das Ideal der Virginitas in hohen Ehren 34 . Sodann äußert Hieronymus häufig, daß der Ehemann im Grunde weiter nichts sei als der Sklave seiner Frau 35 . Es ist eine große Last, verheiratet zu sein36. Die Ehe bedeutet Knechtschaft, die Jungfräulichkeit dagegen Freiheit. Christus hat uns zur Freiheit berufen. Darum muß, wer es irgend kann, d. h. wer nicht durch eine schon bestehende Ehe gebunden ist, seine Freiheit bejahen und sie auf keinen Fall preisgeben 37 . Der Ehelose kann 31 Adv. Jov. 1,14 (seil. Paulus) concedit viduis secunda matrimonia. Melius est enim licet alterum et tertium, unum virum nosse, quam plurimos: id est, tolerabilius est uni homini prostitutam esse, quam multis. 32 Adv. Jov. 1,33 Si enim inter virginem et viduam baptizatas nihil interest, quia baptisma novum hominem facit, eadem conditione et scorta atque prostibula si fuerint baptizatae, virginibus aequabuntur. 33 Ep. 22,20 laudo nuptias, laudo coniugium, sed quia mihi virgines generant: lego de spinis rosas. 34 35 Adv. Jov. 1,4. Ep.145. 36 Comm. in Ev. sec. Matth. 19,10 grave pondus uxorum est, si excepta causa fornicationis, eas dimittere non licet. 37 Adv. Jov. 1,11 (Paulus:) „Servus vocatus es, non sit tibi curae; sed et si potes liber fieri, magis utere." Etiam si habes, inquit, uxorem et illi alligatus es, et solvis debitum, et non habes tui corporis potestatem; atque (ut manifestius loquar) servus uxoris es, noli propter hoc habere tristitiam, nec de amissa virginitate suspires. Sed etiam si potes causas

Jun gfräul i di ke i t und Eh e

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sich seiner Unabhängigkeit freuen, der Verheiratete dagegen ist immer irgendw elchen Bindungen unterw orfen, die ihn daran hindern, sich Gott hinzugeben 88 . Allein, das alles ist noch nicht der tiefste und letzte Grund, aus dem Hierony mus die Jungfräulichkeit empfiehlt. Dieser besteht vielmehr darin, daß die Geschlechtlichkeit der Sitz der Sünde, ja in gew isser W eise sogar die Sünde schlechthin ist. Sie macht die Stärke des Teufels aus 3 9 . Diese Auffassun g w ird von Hieronymus aber nicht nur nach der negativen Seite, eben der Gefäh rdung durch die Sünde, sondern auch nach der positiven hin entfaltet, nämlich dem, w as dem Christen aufgetragen ist. Ein Christ soll beten, und zw ar allezeit. D as Gebet aber verträgt sich nicht mit einem Leben in der Ehe. Vielmehr fordert das Gebet die Keuschheit des ganzen Menschen im Sinne der Jungfräulichkeit 4 0 . Hieronymus w eiß , daß man gegen diese Anschauung darauf hinw eisen kann, daß ja manche Priester verheiratet sind. Aber es ist nach seiner Ansicht eben gerade die N o t der Kirche, daß es noch verheiratete Priester gibt. W ie soll, w enn an sich schon jeder Laie zur Ehelosigkeit verpflichtet ist, ein verheirateter Priester die Pflichten seines Amtes, nämlich die Darbringung des Opfe rs für die Gemeinde, erfüllen können? D as ganze Streben des Hieronymus geht aus diesem Grunde dahin, daß es nur noch ehelose Priester gibt 4 1 . Hieronymus stützt seine Anschauung über Jungfräulichkeit und Ehe noch durch ein w eiteres Argument. Im Paradies w ar der Mensch an sich jungfräulich. Von einer Ehe kann man bei A dam und Ev a vor dem Fall nach Hieronymus nicht sprechen. Erst die Tatsache, daß A dam und Ev a sich aus Scham voreinander verhüllten, bezeichnet den Beginn der Ehe. W er sich nun zu einem Leben der Ehelosigkeit entschließ t, der kehrt in das verlorene Paradies zurück 4 2 . Dieser Gedanke w ird von Hieronymus gelegentlich auch in der aliquas invenire dissidii, ut libertate pudicitiae pe rfruaris, noli salutem tuam cum alterius in te rim quaerere. 3 8 Ep. 1 2 3 ,4 . 3 9 Ep. 2 2 , 1 1 omnis igitur adve rsus v iro s diaboli virtus in lumbis est, omnis in umbilico co n tra fe m in as fo rtitudo . Ein e w ie geringe, gan z am eigenen Ego ismus orientierte A u f fassun g v o n der Eh e Hie ro n y m us h at, o ffe n bart sich in fo lge n de m Sat z A d v . Jo v . 1 , 3 6 : quid mihi nocebit, si cum uxo re mea alius concubuerit? 4 0 A d v . Jo v . 1 , 7 Ju be t idem apostolus in alio loco ( l . Th e ss. 5 ,1 7 ), ut semper oremus. Si semper o ran dum est, n um quam ergo coniugio serviendum, quo n iam quotiescumque uxo ri de bitum re ddo , orare non possum. Ebd. quam diu impleo mariti o fficium, non impleo continentis. Vgl. ep. 2 2 , 2 2 . 4 1 A d v . Jo v . 1 ,3 4 Si laicus et quicumque fidelis orare non potest, nisi care at o ffi c i o coniugali, sace rdoti, cui semper pro po pul o o ife re n da sunt sacrificia, semper o ran dum est. Si semper o ran dum est, e rgo semper care n dum matrimon io. Ebd. Eligun tur mariti in sacerdotium, non n e go ; quia non sunt tanti virgines, quan ti necessarii sunt sacerdotes. V gl . A d v . Vigil. 2. 4 2 Ep. 2 2 , 1 9 Ev a in paradi so v i rgo f u i t ; po st pellicias tunicas initium sumpsit n uptiarum. tua (Eustochium ist angeredet) regio paradisus. se rv a, quo d n ata es, et die : „revertere, an im a mea, in requiem tuam ." et ut scias virgin itate m esse n aturae , n uptias po st de lictum: v i rgo nascitur caro de nuptiis in frue tu reddens, quo d in radice pe rdide rat.

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Hieronymus

Weise modifiziert, daß er die Adam-Christus-Parallele von Rom. 5 dahin erklärt, daß der erste Adam verheiratet, der letzte dagegen unverheiratet ist 43 . Hier liegt der Grund für die exegetische Auffassung des Hieronymus, die freilich schon in älterer Zeit vertreten worden war, daß Maria auch nach der Geburt Jesu stets jungfräulich gelebt hat. Hieronymus behauptet zwar, seine Auslegung sei nur aus der Lektüre der Schrift selbst gewonnen 44 . Aber die Schärfe, mit der er die Ansicht des Helvidius ablehnt, Maria und Joseph hätten nach Jesu Geburt eine fleischliche Ehe geführt, ist verdächtig: Helvidius greift damit „das Heiligtum des Hl. Geistes" an 45 . Hieronymus argumentiert seinerseits, daß die Schrift nichts von einer Ehe zwischen Maria und Joseph berichtet, wobei er die Aussagen des Neuen Testaments über Jesu Brüder und Schwestern geflissentlich ignoriert oder umdeutet 4e . Trotz Hieronymus' Versicherung, daß er mit dieser Auslegung nicht die Ehe als solche angreifen wolle 47 , dürfte doch eben dies seine eigentliche Absicht sein. Denn es ist für den Mann auf jeden Fall gut, wie Hieronymus betont, keine Frau zu berühren 48 . Und auch der Frau kann im Grunde kein größerer Dienst erwiesen werden, als wenn der Mann, selbst in einer Ehe, auf den Umgang mit ihr ganz verzichtet 49 . Für den Mönch jedenfalls ist das Gebotene nicht nur der Verzicht auf die Ehe, sondern sogar die Verachtung der Ehe 50 . Indem er das tut, erhebt er sich über die Niederungen des irdischen Lebens und führt schon hier auf Erden das engelgleiche Leben*1. 5. Man macht sich die Bedeutung des Mönchsideals des Hieronymus freilich erst dann ganz klar, wenn man auch seine Auffassung über die menschliche Willensfreiheit hinzunimmt. Zwar hat Hieronymus im pelagianischen Streit sich beeilt, sich auf die Seite der Rechtgläubigkeit zu stellen. Aber im Grunde besteht zwischen der Theologie des Pelagius und der des Hieronymus kein allzu großer Unterschied. Das gilt auf jeden Fall für die Auffassung vom menschlichen Willen. Hieronymus hebt wiederholt, und zwar gerade im Zusammenhang mit Ausführungen über Ehe und Jungfräulichkeit, hervor, daß Gott den Menschen mit einem freien Willen ausgestattet hat. Dieser freie Wille ist uns dazu gegeben, daß wir nicht mit Gewalt zu den 43

Adv. Jov. 1,15 Primus Adam monogamus: secundus agamus. De perpetua virginitate b. Mariae adv. Helvidium 2. 45 Ebd. 16 Tu (Helvidius ist angeredet) vero templum Dominici corporis succendisti, tu contaminasti sanctuarium Spiritus Sancti . . . Consecutus es, quod volebas, nobilis es factus in scelere. Siehe im übrigen hierzu J.Niessen, Die Mariologie des hl. Hieronymus — ihre Quellen und ihre Kritik, 1913. 4e Ebd. 19 Natum Deum esse de Virgine credimus, quia legimus. Mariam nupsisse post partum, non credimus, quia non legimus. Nec hoc ideo dicimus, quo nuptias condemnemus, ipsa quippe virginitas fructus est nuptiarum: sed quod nobis de sanctis viris temere aestimare nihil liceat. 47 48 Siehe die vorige Anm. Adv. Jov. 1,7. 48 Adv. Jov. 1,7 Si abstinemus nos a coitu, honorem tribuimus uxoribus: si non abstinemus, perspicuum est honori contrariam esse contumeliam. 51 »» Vita Maldii 6. Ep. 108,23. 44

Die Willensfreiheit

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Tugenden oder den Lastern gezogen werden, sondern in Freiheit zwischen ihnen wählen und uns selber für das Gute entscheiden. Anderenfalls könnte Gott uns ja auch keine Belohnung in Aussicht stellen 52 . Das gilt insbesondere von der Wahl zwischen Ehe und Jungfräulichkeit. So sehr die Ehe das zu meidende Übel und die Jungfräulichkeit das zu erwählende Gute ist, so darf doch niemand zu seinem Heil gezwungen werden. Vielmehr wird dem Menschen die freie Wahl angeboten. Dabei ist die Ehelosigkeit durchaus nicht der Natur entgegengesetzt. Wie sollte es sein können, daß man zu dem Leben der Engel gezwungen werden müßte? Vielmehr hat an sich jeder die Möglichkeit, das Ideal der Jungfräulichkeit zu verwirklichen, wenn er es nur genügend will und sich auch entsprechend anstrengt 53 . 6. Es nimmt nicht Wunder, daß Hieronymus in dem gleichen Maße, wie er den freien Willen des Menschen hervorhebt, audi den Verdienstcharakter des guten Werkes betont. Hieronymus nimmt es dem Jovinian besonders übel, daß er der Jungfräulichkeit keinen eigenen Lohn zugestehen wollte 54 . Dagegen räumt Hieronymus durchaus ein, daß es auch nach seiner Meinung Verheiratete und Witwen gibt, die selig werden 55 . Aber das bedingt doch nicht, daß vor Gott alle Christen das gleiche Verdienst haben. Hieronymus lehnt auch ausdrücklich die Auffassung ab, als erhielten alle, die ihre Taufe bewahrt haben, im Himmelreich die gleiche Belohnung 56 . Eine solche Ansicht würde der Propagierung des monastisdien Ideals, wie Hieronymus sie übt, die entscheidende Zugkraft rauben. Sie kann darum für ihn nicht in Frage kommen. Die steten Warnungen vor der Ehe überhaupt oder zumindest vor einer zweiten Ehe haben in der besonderen Wert- und Verdienstskala des Hieronymus ihren Grund. Die Witwenschaft gilt gegenüber der Ehelosigkeit lediglich als der zweite Grad der Keuschheit57. Ähnlich hat man es zu verstehen, wenn der Jungfräulichkeit ein besonderes „Lob" zuerteilt wird 58 , oder wenn Hieronymus äußert, daß eine Wiederverheiratung 81 Adv.Jov. 2,3 liberi arbitrii nos condidit Deus, nec ad virtutes, nec ad vitia necessitate trahimur. Alioquin ubi necessitas, nec corona est. " Ep.22,20 quare ergo non habet (seil. Paulus) domini de virginitate praeeeptum? quia maioris est mercis, quod non cogitur et offertur, quia, si fuisset virginitas imperata, nuptiae videbantur ablatae et durissimum erat contra naturam cogere angelorumque vitam ab hominibus extorquere et id quodam modo damnare, quod conditum est. M Adv. Jov. 1,4 Nam qui aequalia omnium asserit merita, tam virginitati facit iniuriam, dum eam nuptiis comparat, quam et nuptiis, sie eas licitas asserens, ut secunda et tertia matrimonia. 95 De perp. virg. b. Mariae 21 Non negamus viduas, non negamus maritatas, sanetas mulieres inveniri. 59 Adv. Jov. 1,3 (seil. Jovindanus) dicit, virgines, viduas et maritatas, quae semel in Christo lotae sunt, si non discrepent caeteris operibus, eiusdem esse meriti . . . Quartum quod et extremum, esse omnium qui suum baptisma servaverint, unam in regno coelorum remunerationem. 57 58 Ep. 22,15. Ep. 123,8.

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Hierony mus

„erträglicher" ist als Hurerei 5 9 . Die Skala reicht von der Unzucht über die Wiederverheiratung, die einfache Ehe bis hin zur Jungfräulichkeit. Dabei ist jedoch die entscheidende Differenzierung zwischen dem Stande der Jungfräulichkeit und allen anderen Stufen zu sehen. Dem ehelosen Leben steht auf der anderen Seite jegliche Form von geschlechtlichem Leben gegenüber, und die Unterschiede innerhalb desselben sind für Hieronymus offenbar nicht so wesentlich wie die Alternative zwischen dem Weltleben und der Ehelosigkeit*10. Die verschiedenen Belohnungen, die den Menschen jeweils in Aussicht gestellt sind, fand Hieronymus vor allem in dem Gleichnis vom Acker bezeichnet: die hundertfältige Frucht bedeutet die Krone der Jungfräulichkeit, sie hat den ersten Platz inne; die sechzigfältige Frucht meint die Witwenschaft, und die dreißigfältige Frucht steht für den Ehebund. Hieronymus merkt selber, daß für die zum zweiten Male Verheirateten kein Platz übrigzubleiben scheint. Seine Auskunft ist die, daß sie in der Tat bei der Verteilung der Belohnungen nichts zu suchen haben 61 . Für die ungeheure Willkür dieser Exegese, die wesentlichen Anliegen des Neuen Testaments Hohn spricht, hat Hieronymus nicht das geringste Gespür gehabt. Ihm stand es einfach fest, daß die Ehelosigkeit den höheren Lohn bekommt, wobei er sich weder über die Berechtigung dieses spezifischen Lohngedankens noch auch über die seiner Wertskala Rechenschaft ablegte. Die Verheirateten und Witwen haben es eben hinzunehmen, daß es so ist 62 . Offenbar hat Hieronymus es nicht für möglich gehalten, ohne die Aussicht auf diese besondere Belohnung die Last der Jungfräulichkeit auf sich zu nehmen; denn nur durch den Lohn wird die Aufgabe leichter, zumal wir eben vor dem Ehestande als vor einem Übel gewarnt werden 63 . Auch bei Hieronymus findet sich der Gedanke, daß die geweihte Jungfrau die Braut Christi ist. Hieronymus hat diese Vorstellung gelegentlich mit dem Lohngedanken verbunden, freilich nicht, ohne sich dabei eine grobe M Ep. 123,4 multo tolerabilius est digamum esse quam scortum, secundum habere virum quam plures adulteros. 8 0 Ep. 5 4 ,4 nimmt Hie rony mus keinen An stan d, eine W itw e v o r einer W iederverheiratung mit folgenden W orten zu w arn e n : quid vis rursus ingerere, quod tibi noxium fuit? „canis revertens ad vomitum et sus ad volutabrum l uti" ( 2 . Pe t r. 2 , 2 2 ) . 6 1 Ep. 123,8 centenarius (seil, fruetus) pro virginitatis corona primum gradum teneat, sexagenarius pro labore v iduarum in secundo sit numero, tricenarius foe de ra nuptiarum ipsa digitorum coniunctione testetur, digamia in quo erit numero? immo e xtra numerum. certe in bona terra non oritur, sed in vepribus et in spinetis vulpium, quae He ro di inpiissimo conparantur, ut in eo se putet laudabilem, si scortis melior sit. e s A dv . Jo v . 1,33 N o n nego beatas esse viduas, quae ita post baptismum manserint; nec illarum detraho merito, quae cum viris in castitate pe rduran t; sed sicuti hae maioris apud D e um praemii sunt, quam n uptae coniugal·' officio servientes, ita et ipsae aequo animo patiantur virginitatem sibi prae fe rri. 8 3 Ep. 123,6 quam e duabus eligimus voluntatem? quo d magis vult (seil. Paulus) et quo d per se bonum est (seil, die W itw enschaft), an quod mali conparatione fit levius et quo dam mo do nec bonum est, quia prae fe rtur malo (seil, eine zw eite Ehe)?

Die Verdienstlidikeit dier Jungfräuliidikeit

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Geschmacklosigkeit zu leisten. Der Mutter der Eustochium, Paula, die über den Entschluß ihrer Tochter, ein Leben der Ehelosigkeit zu führen, nicht beglückt war, sucht er die Zustimmung zu dem Weg der Tochter abzugewinnen. Nachdem er mit beredten Worten betont hat, daß die Tochter nicht die Gattin eines Soldaten, sondern die eines Königs werden wollte und darum das jungfräuliche Leben erwählt hat, weist er Paula darauf hin, daß dieser Entschluß auch für sie als die Mutter eine große Verbesserung gebracht hat: sie ist durch das jungfräuliche Leben der Tochter selbst „Gottes Schwiegermutter" geworden, und das bedeutet für sie eine große „Wohltat" 64 . Freilich hat sich Hieronymus eine solche grobe Entgleisung nur dieses eine Mal gestattet. Nach all diesen Beobachtungen kann es schwerlich als eine Ubertreibung angesehen werden, wenn man den Mittelpunkt des hieronymianischen Mönchsideals in der geschlechtlichen Askese findet. Um sie ging es Hieronymus vor allem. In ihr sah er die Aufgabe, die im Grunde jedem Christen gestellt ist, während die Ehe nur eine Konzession an die Schwachheit der Menschen ist. In der Tötung des Fleisches und der Überwindung des geschlechtlichen Triebes besteht die Askese85. Freilich heißt das nun durchaus nicht, daß Hieronymus für die Askese in sonstiger Hinsicht keinen Blick gehabt hätte. Er hat gelegentlich sogar vor einer Uberschätzung der Jungfräulichkeit gewarnt, wenn man sich nämlich seiner Leistung auf diesem Gebiete überhebt. Vielmehr werden wir auch für jedes unnütze Wort Rechenschaft abzulegen haben ββ . Auch sonst hat Hieronymus die Möndie vor falscher Sicherheit gewarnt 67 . Der Mönch kann nur zu leicht fallen, ist doch selbst der Apostel Judas gefallen 88 . Wenn ein Mönch hochmütig ist, so wäre es besser, er hätte geheiratet ββ . Hieronymus hat also durchaus um die besonderen Gefahren gewußt, denen der Mönch ausgesetzt ist. Um ihnen zu entgehen, kommt es für den Mönch vor allem auf den Gehorsam an, durch den er zur Demut geführt wird 70 . Auch das Fasten hat große Bedeutung; es 64 Ep.22,20 quid invides, mater (angeredet ist Paula, die Mutter der Eustodiium), filiae? tuo lacte nutrita est, tuis educta visceribus in tuo adolevit sinu, tu illam sedula pietate servasti: indignaris, quod noluit militis uxor esse, sed regis? grande tibi beneficium praestitit: socrus dei esse coepisti. " Darauf hat audi Ε. Bickel, op. cit., S. 460, hingewiesen und in dieser Ausprägung der „mortifikatorischen Askese" eine Eigenart der abendländischen Askese gefunden, während das Morgenland die Askese umfassender verstanden habe. " Ep. 14,9 nec sibi quisquam de corporis tantum mundi castitate supplaudat, cum omne verbum otiosum, quodcumque locuti fuerint homines, reddituri sint pro eo rationem in die iudicii (Mt. 12,36). • 7 Anecd. Mareds. III 2, 1897, p. 224,25 non ergo putent monadii se debere esse securos. 118 Ebd. p. 189,28 f. Si apostolus cecidit (seil. Judas), facilius monadius potest cadere. ·· Ebd. p. 400,13 f. monadius si superbus est, multo melius ei erat, si uxorem duceret. 70 Ebd. p. 398,10 Nihil sic Deo placet quomodo oboedientia.

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Hieronymus

macht den Mönch stärker 71 . Hieronymus hat auch solchen Mönchen Mut zu machen verstanden, die wegen der eigenen Schwachheit und angesichts der Größe der übernommenen Aufgabe zaghaft sind: sie sollen nicht auf die Menge der Sünden blicken, sondern auf den Wandel und die geringe Zahl der Heiligen. Die Größe der Aufgabe und die Gefahren auf dem Wege, das Ziel zu erlangen, sind es, die nach seiner Meinung den Schwachen stärken können, bei seinem Kampfe nicht nachzulassen72. Auch was den weltlichen Besitz angeht, hat Hieronymus häufig auf den Wert des Verzichtes hingewiesen. Der Mensch verliert nichts, wenn er sein Hab und Gut aufgibt, um Mönch zu werden 73 . Auch das wird man sagen müssen, daß Hieronymus öfter betont, daß der Mönch nicht zurückschauen soll auf das, was er erreicht hat, sondern vielmehr nach vorn auf die vor ihm liegenden Aufgaben. Mit dem Entschluß, Mönch zu werden, ist noch keineswegs alles getan. Man hat lediglich begonnen, ein neues Leben zu führen. Aber dieses neue Leben gleicht einem Weg, der zu beschreiten ist. Gewiß, es ist der königliche Weg, und der Mönch ist, jedenfalls zunächst, noch nicht am Ziel 74 . Aber dieses Leben kann doch auch als das vollkommene Leben bezeichnet werden 75 . So sehr der Mönch in seinem Leben noch nicht das Ende, die völlige Vollkommenheit, erreicht hat, so hat doch sein Aufstieg begonnen. Dieser Aufstieg wird durch zunehmende Askese erzielt. Sie befähigt den Menschen, seinen Leib völlig in die Gewalt zu bekommen und so eine höhere Stufe der Enthaltsamkeit zu erklimmen 76 . Das Ziel ist auf jeden Fall die Krone der Gerechtigkeit. Dieses Wort aus 2. Tim. 4,7 f. bezieht Hieronymus auf den Mönch; er ist es, der den Lauf vollendet und den Glauben bewahrt, darum wird ihn der Herr belohnen 77 . Allein, diese hohen Stufen sind doch nicht unbedingt erst im Jenseits erreichbar. Schon hier auf Erden kann der Mönch ganz außerordentliche Gaben durch seine Askese erlangen, die ihn weit über alle anderen Menschen emporheben. Der Mönch ist für Hieronymus gleichsam die „Zither Got71

Ebd. p. 193,25 f. quando ieiunat monachus, fortior fit ieiunio. Ebd. p. 287,3 ff. monachus non debet aspicere ad multitudinem peccatorum, sed ad conversationem et paucitatem sanctorum. Vgl. ep. 125,14 pax quaerenda, ut bella fugiamus. nec sufficit earn quaerere, nisi inventam fugientemque omni studio persequamur, quae exsuperat omnem sensum, in qua habitatio dei est dicente propheta: „Et factus est in pace locus eius" (Ps.75 [76] ,3). 73 Vgl. z.B. ep. 125,15; 130,14. 74 Ep. 125,20. 75 Ep. 24,1 Asellae nostrae vita breviter explicanda est, cui quaeso ne hanc epistolam legas — gravatur quippe laudibus suis —, sed his potius, quae adolescentulae sunt, legere dignare, ut ad exemplum eius se instituentes conversationem illius perfectae vitae normam arbitrentur. 7 ' Vita Hilarionis 10 quia longum est per diversa tempora carptim ascensum eius edicere, comprehendam breviter ante lectoris oculos, Vitam eius pariter exponens, et deinceps ad narrandi ordinem regrediar. Vgl. Kap. 11. 77 Ep. 22,40. 72

Das Mönchsgelübde

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tes" 78 . Tatsächlich kann der Mönch, wenn er die imitatio fleißig geübt hat, auch Wunder tun, wobei er jedoch das Beispiel des Herrn genau nachzuahmen hat. So berichtet Hieronymus es jedenfalls von Hilarion. Zu ihm wurde einmal eine Frau geführt, die seit zehn Jahren bereits blind war. Als man Hilarion erzählte, daß sie ihr ganzes Vermögen ausgegeben habe, um von Ärzten geheilt zu werden, daß aber alles vergeblich gewesen sei, erteilt er ihr zuerst eine Belehrung, daß sie von Jesus schon längst gesund gemacht worden wäre, wenn sie nur ihr Vermögen den Armen gegeben hätte. Doch läßt er es mit der Propagierung des monastischen Ideals nicht bewenden, sondern, von ihrem Schreien zu Mitleid gerührt, befeuchtet er ihre Augen mit Speichel. Kaum hat er das Beispiel des Heilands nachgeahmt, da hat auch schon dieselbe Wunderkraft, die einst durch Christus tätig war, die Heilung bewirkt 79 . 7. Freilich, Hieronymus hat in dem Mönchtum doch nicht nur den königlichen Weg gesehen, der bereits auf Erden, jedenfalls bei manchen Asketen, zu ganz außergewöhnlichen Leistungen führt, die den Wundern des Herrn gleichkommen. Er hat daneben doch auch dem Mönchtum als solchem, genauer dem Gelübde, einen Eigenwert zugeschrieben. Um dieses darzutun, muß zunächst in Kürze die Ansicht des Hieronymus über das Gelübde als solches geschildert werden, die die Voraussetzung für die von ihm vertretene Auffassung des Mönchtums als einer zweiten Taufe bildet. Zwar findet sich bei Hieronymus keine einheitliche Terminologie für das Mönchsgelübde. Auch hinsichtlich der äußeren Form, in der ein Gelübde zu leisten ist, ist noch vieles offen 80 . Aber sowohl die Tatsache des Gelübdes als auch sein verbindlicher Charakter stehen für Hieronymus fraglos fest. Hieronymus erinnert etwa einen gewissen Rusticus daran, daß er zusammen mit seiner Frau Artemia das Gelübde ehelicher Enthaltsamkeit geleistet hat. Zudem habe er, als Artemia in das heilige Land reiste, versprochen, selber nachzukommen. Nun müsse er, so mahnt Hieronymus, auch sein Versprechen erfüllen; er ist vor Gott dazu gehalten 81 . Gewiß, hier werden keine kirchenzuchtlichen Maßnahmen angedroht, die im Falle einer Verweigerung den 78

Anecd. Mareds. III 2, 1897, p. 180,29. Man fühlt sich hier unwillkürlich an Montanus erinnert, der auf Grund einer Offenbarung gesagt hatte: „Siehe, der Mensch ist wie eine Leier, und ich fliege herzu wie ein Plektron" (spricht der Geist). ™ Vita Hilarionis 15 . . . statimque Salvatoris exemplum virtus eadem prosecuta est. 80 C.Capelle, op.cit., S.49—51, hat sehr stark betont, daß Hieronymus noch kein eigentliches Gehorsamsgelübde kennt, wie er überhaupt noch keine ganz eindeutigen Vorstellungen über die Profeß habe. Terminologisch gesehen, ist das zweifellos richtig. Auch wird einem Forscher, der wie die Verf. vom Kirchenrecht herkommt, die Sache leicht in diesem Licht erscheinen können. Aber das hindert doch nicht, daß der Sache nach das Gelübde audi schon bei einem Mann wie Hieronymus voll und ganz da ist, wenn auch die kirchenrechtliche Form erst später geschaffen wurde. 81 Ep. 122,4 redde igitur, quod praesente domino spopondisti.

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Hieronymus

Rusticus treffen. Aber daß das Gelübde vor Gott bindet, darüber besteht nicht der mindeste Zweifel. Oder in seiner Schrift gegen Jovinian führt Hieronymus aus, daß ein Mädchen zwar heiraten darf und dadurch an sich auch nicht sündigt. H a t es aber einmal sich dem Dienste Gottes geweiht, so muß es die Ehelosigkeit auch beibehalten. Bricht es sie, so zieht es sich die Verdammnis zu, weil es „den ersten Glauben gebrochen hat" (1. Tim. 5,12). Dabei weist Hieronymus darauf hin, daß eine eigentliche consecratio der Jungfrau stattfindet. Wird sie ihrem Gelübde untreu, so begeht sie nicht nur Ehebruch, sondern ist als eine incesta anzusehen 82 . 8. Was aber hat Hieronymus gemeint, wenn er gelegentlich das Gelübde einer zweiten Taufe vergleicht83? Um diese Frage beantworten zu können, wird es zunächst gut sein, die verschiedenen Stellen, an denen dieser Vergleich begegnet, sorgfältig zu prüfen. In dem Brief Nr. 39 an Paula, in dem er sie über den frühen Tod ihrer asketisch lebenden Tochter Blesilla zu trösten sucht, sagt Hieronymus von Blesilla: „Jetzt aber hat sie, unter Christi gnädigem Beistande, vor etwa vier Monaten sich gleichsam durch eine zweite Taufe ihres Gelübdes gereinigt und dann so gelebt, daß sie die Welt aufgab und beständig ans Kloster dachte." 84 Hieronymus sagt hier also einmal, daß Blesilla sich „gereinigt" hat, wobei ein terminus technicus der Taufsprache begegnet. Sodann ist wichtig, daß diese Reinigung durch ihr Propositum stattfindet: eben der Entschluß, sich Gott zu weihen und asketisch zu leben, bewirkt die Reinigung. Drittens ist zu bemerken, daß dieses Propositum einer zweiten Taufe verglichen wird. Es geht nidit an, den Vergleich zwischen dem Propositum und der zweiten Taufe auf die Abrenuntiation einzugrenzen. Vielmehr ist audi das Positive hier mit enthalten, die Zusage zu Gott, oder, in der Taufsprache, das Bekenntnis. Verglichen wird also zunächst das, was der Mensch bei der Taufe bzw. bei der Profeß zu tun hat, sodann aber auch die reinigende Wirkung des Aktes, sei es der Taufe, sei es des Gelübdes. Strenggenommen ist jedoch der sakramentale Charakter der Taufe bzw. des Gelübdes nicht in den Vergleich einbezogen, sondern nur der effectus. An einer zweiten Stelle, Brief Nr. 130, sagt Hieronymus zu Demetrias: „Du hast die Welt verlassen und, auf einer zweiten Stufe nach der Taufe angelangt, einen Pakt mit deinem Gegner abgeschlossen, mit den Worten: ,Ich entsage dir, ο Teufel, und deiner Welt wie deiner Pracht und deinen 82 Adv. Jov. 1,13 Die virgo darf nidit heiraten, quae se semel Dei cultui dedicavit: harum enim si qua nupserit, habebit damnationem, quia primam fidem irritam fecit . . . Virgines enim, quae post consecrationem nupserint, non tarn adulterae sunt, quam incestae. 83 Siehe zu diesem Problem in der alten Kirche und im Mittelalter O. Casel, Die Mönchsweihe, in: Jahrbudi für Liturgiewissenschaft 5, 1925, S. 1 ff. 84 Ep. 39,3 nunc vero, cum propitio Christo ante quattuor ferme menses secundo quodam modo se propositi baptismo laverit et ita deinceps vixerit, ut calcato mundo semper monasterium cogitarit.

Die zweite Taufe

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Werken.'" 8 5 Auch hier ist deutlich, was Hieronymus meint. Demetrias hat durdi ihr Gelübde eine zweite Stufe nach der Taufe erreicht, die für sie also einen ähnlichen Einschnitt wie die Taufe selbst bedeutet. Sodann hat sie mit dem Teufel einen Vertrag geschlossen, wobei sie noch einmal die Abrenuntiationsformel der Taufe gesprochen hat. Ist hierbei an sich eben nur die Absage gemeint, die der Täufling zu leisten hat, so schließt doch der Gedanke der „zweiten Stufe" auch das Positive ein, also das Versprechen, asketisch zu leben. E. Dekkers hat in einer Untersuchung über das Problem der zweiten Taufe bei Hieronymus die These vertreten, daß diese Aussagen nicht das volle Gewicht haben, das man ihnen auf den ersten Blick beilegen möchte. Er äußert unter Verweis auf F.J.Dölgers Forschungen86, daß man im vierten Jahrhundert unter der zweiten Taufe die Bluttaufe verstand. Diese Ansicht sei auch für Hieronymus anzunehmen. Zudem hätten die genannten Aussagen über den Wert des Gelübdes eigentlich die erste Taufe im Auge, nämlich im Sinne eines Taufgedächtnisses oder einer Erneuerung der Taufe. Vergleichspunkt sei allenfalls eben nur die Abrenuntiation. Freilich empfindet Dekkers selbst gegenüber der Stelle ep. 130,7 eine gewisse Verlegenheit: hier ist es auch nach seiner Meinung so, daß die Bezugnahme auf die erste Taufe „reste cependant toute superficielle et ext^rieure" 87 . Zwar hat Dekkers mit Recht bei Hieronymus selbst den Vergleich der Bluttaufe mit der zweiten Taufe gefunden. Hieronymus sagt an der Stelle, auf die Dekkers verweist: „Wenn ein Märtyrer aber nach der Taufe in (schwere) Sünde fällt, so wird er trotzdem durch sein Martyrium als durch eine zweite Taufe reingewaschen und geht sicher zum Herrn." 8 8 Allein, an anderer Stelle erhebt Hieronymus nun doch den Mönch auf eine Stufe mit dem Märtyrer: „Wie die Märtyrer den Herrn rein in dem Land der Lebendigen loben, so müssen auch die Mönche, die Tag und Nacht dem Herrn Lob singen, dieselbe Reinheit der Märtyrer haben: denn auch sie sind Märtyrer. Was nämlich die Engel in den Himmeln tun, das tun die Mönche auf Erden." 89 Ähnlich kann Hieronymus auch sonst die Beobachtung der 85 Ep. 130,7 quia saeculum reliquisti et secundo post baptismum gradu inisti pactum cum adversario tuo dicens ei: „renuntio tibi, diabole, et saeculo tuo et pompae tuae et operibus tuis." 86 F.J.Dölger, Antike und Christentum 2, 1930, S. 117 ff. 87 E.Dekkers, Profession — Second Bapteme — Qu'a voulu dire St. J£röme?, in: Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft 77, 1958, S.(91 ff.) 91, 93, 94. 88 Anecd. Mareds. III 2, 1897, p. 218,16 ff. Martyr autem si et post baptisma peccaverit, tarnen secundo baptismate martyrio ablutus, securus vadit ad Dominum. 89 Ebd. p. 298,25 ff. Sicut enim martyres laudant Dominum pure in regione vivorum, ita et monadii, qui die et nocte psallunt Domino, debent eandam puritatem habere martyrum: siquidem et ipsi martyres sunt. Quod enim faciunt angeli in caelis, hoc monachi faciunt in terris.

Hieronymus

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Keuschheit, zu welcher sich der Mönch verpflichtet, als „Martyrium" bezeichnen 90. Weiter ist darauf hinzuweisen, daß nach Hieronymus ja mit dem Entschluß, Mönch bzw. Nonne zu werden, ein völlig neuer Abschnitt in dem Leben eines Menschen beginnt, der ganz anders als alles, was vorher gewesen ist, der vollkommenen Tugend gewidmet ist. Die Profeß begründet also in einem stärkeren Maße als die Taufe ein heiliges Leben 91 . Wohl kann Hieronymus gelegentlich das Taufgedächtnis in den Mittelpunkt rücken. So etwa in Brief Nr. 14, wo er Heliodor ermahnt: „Gedenke an den Tag deines Eintritts in den Soldatendienst, als du mit Christus in der Taufe begraben wurdest und einen heiligen Eid leistetest: um seines Namens willen wolltest du weder Mutter noch Vater schonen. Siehe, der Feind, der in deiner Brust wohnt, sucht, Christus zu töten." 92 Aber für die Heiligung ist doch die Profeß bedeutsamer. Aus den angeführten Belegen ergibt sich, daß es nicht ausreicht, den Vergleich des Mönchsgelübdes mit einer zweiten Taufe lediglich im Sinne des Gedächtnisses an die erste Taufe zu verstehen. Auch geht es nicht an, nur die Abrenuntiation als den Vergleichspunkt zu bezeichnen. Was Hieronymus sagen will, ist sehr viel mehr. Das Mönchsgelübde begründet ein neues Sein, so wie auch die Taufe ein neues Sein schenkt. Aber das Mönch-Sein ist eben mehr als das nur Getauft-Sein. Das Mönch-Sein ist das vollkommenere, mit besonderen Verheißungen und Belohnungen bedachte Leben. Es reinigt den, der sich zu ihm entschließt, „so wie" auch die erste Taufe reinigt. Will man einen Bezug zur ersten Taufe herstellen, so besteht er vor allem in folgendem. An sich sind ja nach Hieronymus alle Christen gehalten, das Leben der Ehelosigkeit zu führen. Die Ehe ist lediglich zugelassen um der Schwachheit des Fleisches willen. Im Grunde geloben ja auch alle in der Taufe, daß sie „auf Vater und Mutter keine Rücksicht mehr nehmen werden" 93 , also die Forderung Jesu, seine Familie und Verwandtschaft zu verlassen, buchstäblich erfüllen wollen. Allein, die meisten fallen dann doch in das Weltleben zurück, welches zwar nicht direkt als Sünde zu bezeichnen ist, welches aber doch das hohe Ziel, das Christus den Getauften gesetzt hat, fast zwangsläufig aus den Augen verliert und auf jeden Fall nur mit einer geringeren Belohnung im Himmel rechnen kann. Der Mönch hingegen rafft sich dazu auf, das, was er in der Taufe versprochen hat, buchstäblich zu erfüllen. Freilich wird man diesen Gedanken, der eine theologisch sehr fragwürdige Verbindung zwi-

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Ep. 130,5 habet et servata pudicitia martyrium suum. " Ep. 130,1. ®2 Ep. 14,2 recordare tirocinii tui diem, quo Christo in baptismate consepultus in sacramenti verba iurasti: pro nomine eius non te matri parciturum esse, non patri. ecce adversarius in pectore tuo Christum conatur occidere. M Siehe vorige Anm.

Zusamme n fassun g

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sehen Taufe und Gelübde herstellt, nur gelegentlich bei Hieronymus finden können. Immerhin fehlt er auch nicht vollkommen 04 . Daß Hieronymus den Vergleich des Mönchsgelübdes mit einer zweiten Taufe wirklich ernst meint, zeigt sich, wenn man die oben gemachten Beobachtungen über das Fleisch im Sinne der Geschlechtlichkeit als den Ort der Sünde sowie über die kaum verhohlene Verwerfung der Ehe hinzunimmt05. Der Teufel greift den Menschen mit Hilfe von dessen Geschlechtlichkeit an; diese macht recht eigentlich die Stärke des Teufels aus. Es wird nicht zufällig sein, daß Hieronymus bei seinem Vergleich des Gelübdes mit der zweiten Taufe die Abrenuntiation nennt: es bedarf wirklich nach Hieronymus einer erneuten und ernster genommenen Absage an den Teufel, als sie bei der ersten Taufe geübt wird. Anders kann der Kampf gegen die Sünde nicht mit Aussicht auf Erfolg aufgenommen werden. Vergegenwärtigt man sich diese Gedanken des Hieronymus, dann wird man den Vergleich des Gelübdes mit der zweiten Taufe schwerlich im Sinne des Gedächtnisses an die erste Taufe verstehen können, es sei denn, man wolle, wie es in Ostsyrien einst üblich war, von allen Getauften die Ehelosigkeit verlangen. 9. Es läßt sich schwerlich ermessen, welch gewaltigen Einfluß Hieronymus mit seinem Mönchsideal auf die spätere Entwicklung des monastischen Ideals wie der Geschichte des Mönchtums überhaupt ausgeübt hat. Zwar ist es keine Frage, daß manche seiner überspannten Vorstellungen, wie etwa die faktische Verwerfung der Ehe, von der Kirche nicht übernommen worden sind oder zumindest auf ein erträgliches Maß zurückgeführt wurden, obwohl bei manchen Vertretern des Mönchtums auch in späterer Zeit eine die Grenzen der offiziellen Kirchenlehre überschreitende Abneigung gegen die Ehe festzustellen ist. Aber sein Ideal der Jungfräulichkeit ist doch von der größten Wirkung gewesen. Er hat dem Abendland die asketischen Vorstellungen des Morgenlandes nahegebracht. Selbst ein Augustin ist an manchen Punkten von Hieronymus' Mönchsideal abhängig, von anderen und Späteren zu schweigen. Hieronymus hat das Hohe Lied der Virginitas gesungen. Damit hat er das asketische Ideal, das im Osten reicher entfaltet worden war, auf den einen, ihm wesentlich erscheinenden Punkt konzentriert. Darüber hinaus aber hat Hieronymus, hier an ältere, im Abendland ausgebildete Vorstellungen anknüpfend, den Lohn- und Verdienstgedanken mit dem Mönchsideal verbunden. Es ist nicht nur so, daß der Mönch das vollkommenere Leben führt oder daß die Klostergemeinschaft das Ideal der Urgemeinde neu aufleben läßt. Vielmehr wird der Paradieseszustand der Jungfräulichkeit von dem Mönch neu verwirklicht. Urzeit und Endzeit, anfängliche Enthaltsamkeit und endzeitliches Sein wie die Engel werden von dem M Vgl. V i ta Hilario n is 14 ad eum (seil, zu Hilario n ) de Sy ria et Ae gy pto confluebant: ita ut multi crederent in Ch ristum, et se mon adios profiterentur. » S. o. S. 5 0 — 5 2 .

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Asketen in den Mühsalen des Erdenlebens zur Einheit zusammengebunden 9β . Und diese Verwirklichung des urzeitlichen und endzeitlichen Idealzustandes ist zugleich identisch mit der vollkommenen Nachfolge Christi. Für diese große Leistung, die der Mönch vollbringt, wird ihm billigerweise audi ein besonderer Lohn im Himmelreich zuteil. Neben diesen Gedanken sind es aber audi die Anschauungen über den freien Willen und das durch ihn zu Vollbringende, die das spätere Mönchtum nachhaltig beeinflußt haben. Ein „Unmöglich" gibt es für den strengen Asketen Hieronymus nicht. Die Ehelosigkeit ist nicht eine besondere Gabe, die dem einen verliehen, dem anderen versagt ist. Sie liegt vielmehr grundsätzlich im Bereich des Möglichen und kann von jedermann frei übernommen werden. Wer sich dazu entschließt, der erst verwirklicht sein Taufversprechen voll und ganz und nimmt den Kampf gegen die Sünde dort auf, wo diese am gefährlichsten ist. Den Schwachen ermutigt Hieronymus zum Kampfe, den Starken warnt er vor Hochmut. So glaubt er, seinem Auftrage gerecht zu werden. Schließlich hat Hieronymus die schon vor ihm gelegentlich vertretene Auffassung über den besonderen Wert des Mönchsgelübdes als einer zweiten Taufe aufgenommen und sie in schärferer Fassung wiedergegeben. Hatte Basilius noch das dem Mönch vorbehaltene neue Siegel in dessen ständigem, ehrfürchtigem Denken an Gott erblickt, so hat Hieronymus die in der abendländischen Theologie schon längst ausgebildeten Rechtskategorien auf das Gelübde angewendet und in diesem selbst die zweite Taufe erblickt. Die Institutionalisierung des Mönchtums, die hinsichtlich seiner äußeren Gestalt schon bei Basilius Platz gegriffen hatte, ist damit von Hieronymus auch auf den inneren Wert desselben übertragen worden. War bislang die Taufe als das Einheitsband aller Christen angesehen worden, so schält sich nunmehr aus der Schar der Getauften ein engerer Kreis von Menschen heraus, die durch ein zweites Siegel geheiligt sind. So sehr Hieronymus auch die Vorstellung vom mönchischen Leben als von einem Wege kennt, so wird doch von ihm der Blick stärker als von Früheren auf das Gelübde als solches gelenkt. Das Gelübde begründet den Unterschied zwischen dem Weltchristen und dem Asketen. Wer das Gelübde geleistet hat, für den gibt es kein Zurück mehr. Gewiß, auch Basilius hatte schon, dem Brauche seiner Kirche folgend, den Bruch des Gelübdes mit Kirchenstrafen bedroht. Aber Hieronymus geht doch weiter: bricht ein Mönch sein Gelübde, so gibt es für ihn nur die Verdammnis; Rückkehr ins Weltleben ist verboten, auf ihr steht ewige Verwerfung. Diese stärkere Anwendung rechtlicher Kategorien bei Hieronymus wandelt nun aber auch das monastische Ideal als solches. Es kommt jetzt nicht mehr so sehr auf die freie Gehorsamstat als Ausdruck des Bußernstes und des Willens zur Umkehr an, als vielmehr auf das Werk als solches. Christus liebt ·· Adv. Jov. 1,16: die Ehe füllt die Erde, die Jungfräulichkeit das Paradies.

Augustin

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die Jungfräulichen mehr als die Verheirateten 97 . Die Leistung, die sich der Mönch abringt — Hieronymus wußte aus eigener Erfahrung, wie schwer sie einem werden kann —, rückt mehr und mehr in den Mittelpunkt und gewinnt einen Eigenwert, den sie bei den Früheren so noch nicht gehabt hatte. Hieronymus hat zwar selbst unter Anfechtungen zu leiden. Aber die Frage, ob sie ihn etwa in seiner behaupteten libertas beeinträchtigen, stellt er sich nicht98. Zugespitzt gesagt, geht es Hieronymus um die Vollkommenheit nicht sowohl im Sinne der Nachfolge, als vielmehr im Sinne der Befreiung des eigenen Selbst von allem Äußeren. b) Augustin99 1. Hieronymus ist nidit der einzige Ahnherr des abendländischen Mönchtums gewesen. Einen mindestens ebenso nachhaltigen Einfluß auf die Ge97 So gibt die Überschrift in der Ausgabe von Migne zu Adv. Jov. 1,12 das von Hieronymus Gemeinte treffend wieder. 98 Ep.22,7; vgl. ep. 125,12. 99 An neuerer Lit. sei genannt: E.Bickel, op.cit., siehe o. S.43 Anm. 1; R.Arbesmann, Augustinus, der Vater des nordafrikanischen Mönchtums, in: St. Augustin — Festgabe der Deutschen Provinz der Augustinereremiten, 1930, S.35 ff.; A. Vermeersdi, Le concept de la vie religieuse dans S.Augustin, in: Gregorianum 11, 1930, S.92ff.; P.Monceaux, Saint Augustin et Saint Antoine — contribution 4 l'histoire du monadiisme, in: Miscellanea Agostiniana, Bd.2 (Rom), 1931, S.61 ff.; Fr.M.Mellet, L'itiniraire et l'idial monastiques de Saint Augustin, 1934; H.-U. v. Balthasar, Die großen Ordensregeln, 1948 (die Beiträge von W. Hümpfner zur Echtheitsfrage der Augustinerregel sowie von A. Zumkeller über den geistigen Gehalt der Augustinerregel, S. 101 ff., 113ff.); A.Zumkeller, Das Mönchtum des hl. Augustinus, in: Cassiciacum Bd. 11, 1950; E. Hendrikx, Augustinus als monnik, in: Augustiniana 3, 1953, S. 341 ff.; A. Zumkeller, Der klösterliche Gehorsam beim hl. Augustinus, in: Augustinus Magister, Bd. 1, 1954, S.265 ff.; T. J. van Bavel, „Ante omnia" et „In Deum" dans la Regula Sancti Augustini, in: Vigiliae Christianae 12, 1958, S. 157ff.; D. Sanchis, Pauvreti monastique et Charite fraternelle chez Saint Augustin. Note sur le Plan de la .Regula', in: Augustiniana 8, 1958, S.5ff.; A.Trape', Ii principio fondamentale della spiritualitä agostiniana e la vita monastica, in: Sanctus Augustinus Vitae Spiritualis Magister, Bd. 1, o . J . (1959), S . I f f . ; L.Cilleruelo, Caratteri del monacato agostiniano, ebd. S.43 ff.; A.Sage, Vie de perfection et conseils i v a i ^ l i q u e s dans les controverses ρ έ ^ ϊ ε η nes, ebd. S. 195ff.; G.M.Colombas, op.cit., siehe o. S.43 Anm. 1; C.Capelle, op.cit., siehe o. S. 43 Anm. 1; O. Schaffner, Christliche Demut — des hl. Augustinus Lehre von der Humilitas, in: Cassiciacum Bd. 17, 1959; A. Wucherer-Huldenfeld, Mönditum und kirchlicher Dienst bei Augustinus nach dem Bilde des Neubekehrten und des Bischofs, in: ZkTh 82, 1960, S. 182ff.; J.Ratzinger, Die Kirche in der Frömmigkeit Augustins, in: Sentire Ecclesiam, Festschrift H.Rahner, ed. J.Daniilou und H . Vorgrimler, 1961,S. 152ff.; M. Verheizen, Saint Augustin, in: Theologie de la Vie monastique, 1961, S.201 ff.

Die umfassendste Arbeit über das Mönchtum bei Augustin stellt die Untersuchung von Zumkeller (1950) dar. Z. zeigt Augustin in seiner gesamten monastischen Wirksamkeit. Darüber hinaus schildert er aber auch in erschöpfender Weise die einzelnen Stadien bei der Verwirklichung von Augustins asketischen Idealen sowie Augustins Mönchsideal im Unterschied zu dem der wichtigsten früheren und zeitgenössischen Mönchstheologen. Z. hat die einschlägigen Aussagen Augustins vollständig herangezogen, dazu dankenswerterweise

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schichte des Mönchtums und des monastischen Ideals hat Augustin ausgeübt. Während Hieronymus der Vermittler zwischen dem Morgenland und dem Abendland war und diesem das asketische Ideal des Ostens nahebrachte, kann Augustin als der eigentliche Vater des abendländischen Mönchtums gelten. Das ist zwar nicht in dem Sinne zu verstehen, als hätte er das Mönchtum, oder auch nur das Könobitentum, im Abendland heimisch gemacht. Augustin ist möglicherweise sogar nicht einmal in Nordafrika der erste gewesen, der das Mönchtum dorthin gebracht hat 10°. Wohl aber hat Augustin durch seine eigenen Klostergründungen in Afrika, durch die Regel, die er ihnen gab, und nicht zuletzt durch seine theologische Würdigung des Mönchtums und die Einordnung desselben in die Gemeinschaft der Kirche das spätere Mönchtum des Abendlandes in ganz unvergleichlicher Weise beeinflußt. Die späteren Erörterungen über das Mönchtum und die Gelübde im Abendland sind eigentlich alle in dieser oder jener Hinsicht von Augustin abhängig, wenn auch daneben der Einfluß des Hieronymus und anderer unverkennbar ist. Wie bedeutsam das Mönchtum in Augustins eigenem Leben gewesen ist, kann man schon daran ersehen, daß Augustin bei seiner Bekehrung nicht nur Christ, sondern zugleich auch Mönch geworden ist. Das ist nicht zufällig so die bedeutendsten von ihnen in Obersetzung mitgeteilt. Ohne Zweifel ist sein Buch das wichtigste über Augustins Mönditum, das es gegenwärtig gibt. Gleichwohl sind doch gegen Z.s Darstellung einige Einwände zu erheben. Was zunächst die Quellenverwertung betrifft, so hat Z. die sog. Augustinerregel ausgiebig herangezogen. Bekanntlich ist ihre Echtheit umstritten. Mit Recht erklärt B. Altaner in seiner Patrologie, 5. Aufl. 1958, S . 3 9 7 : „Die Auseinandersetzungen (seil, über die Echtheit der Augustinerregel) haben bis jetzt noch zu keiner abschließenden Klärung geführt." Man hätte sich hier bei Z. eine größere Vorsicht gewünscht, zumindest eine klare Trennung zwischen unzweifelhaft echten augustinischen Quellen und der Augustinerregel. Ohne Frage wird die Augustinerregel weithin genuine augustinische Gedanken wiedergeben. Aber es wäre doch wohl bei einer kritischeren Quellenverwertung in manchem zu einer etwas anderen Akzentsetzung gekommen. Mit diesem Ersten hängt ein Zweites zusammen. Z. hat mit großem Fleiß die verschiedenen Linien von Augustins Aussagen über das Mönditum nachgezeichnet, so daß der Leser ein übersichtliches Bild erhält, in dem auch nichts fehlt. Allein, er ist in dem Bestreben, nichts auszulassen, soweit gegangen, daß man nicht mehr recht die bestimmenden Konturen vor Augen hat. Wenn Z. das Gemeinschaftsideal im Sinne des Psalmwortes „Siehe, wie fein und lieblich ist's, wenn Brüder in Eintracht beieinander wohnen" (Ps. 133,1) für Augustins monastisches Leitmotiv hält (z. B. S. 122 f.), so bestimmt ihn dabei erklärtermaßen der gleichlautende Satz der zweiten Augustinerregel Kap. 1. Mit besserer Quellengrundlage stellt Z. es als Augustins Mönchsideal hin, das Vorbild der Urgemeinde im Sinne von Act. 4 nachzuahmen. Was aber in gar keiner Weise gebührend gewürdigt wird, das sind Augustins Anschauungen über Ehe und Virginität. Zwar kann Z. seine Auffassung, Augustins Einstellung sei nicht leib- und ehefeindlich gewesen (S. 103), durch einige Sätze aus de bono coniugali stützen. Aber Z. geht dabei doch nicht, wie es nötig gewesen wäre, auf Augustins Auffassung über die Erbsünde, insbesondere die concupiscentia, ein, von woher sich manches in einem etwas anderen Lichte zeigen würde. ,0en at religion or ordir J>o w hidie Crist hymself made, £>at is bothe Go d an d mon . . . Cristen men sey f>at ]?o religion an d ordir {sat Grist m ade fo r his disciples an d prestes, is moste perfite, moste esy, an d most siker. Moste perfite fo r Jsis resoun, — fo r £>0 patroun e or foun de r Jjerof is moste perfite, for he is verrey Go d and verrey mon . . .

Die Kritik an den Gelübden

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katholischen monastischen Ideals sehen. Freilich fehlt diesem Vorwurf bei Wyclif noch eine tiefere theologische Begründung, die von dem Wesen des Glaubens ausgeht und in den menschlichen Traditionen, sofern sie von der Schrift abweichen, den Versuch der Selbstrechtfertigung sieht. Vielmehr ist und bleibt die Schrift für ihn wesentlich das Gesetzbuch, nach dem sich die Kirche zu richten hat. 6. Immerhin ist es bedeutsam genug, daß Wyclif Mönchsregel und Evangelium in klarem Widerspruch zueinander sieht. Das gilt nicht nur für den Gedanken der höheren Vollkommenheit, sondern auch für die Mönchsgelübde. Auf der einen Seite sagt Wyclif, daß, falls die Gelübde mit Recht geleistet werden, der Papst in keinem Falle einen Dispens erteilen könne; denn kein Mensch, nicht einmal ein Engel, könne lösen, was vor Gott bindet. Auf der anderen Seite aber wird von Wyclif eben die Praxis der ewigen Gelübde als solche kritisch geprüft. Wenn grundsätzlich Gelübde auch wieder aufgelöst werden können, dann bedarf es dazu keineswegs eines päpstlichen Dispenses, sondern dann kann, da es sich um eine menschliche Einrichtung handelt, jeder Priester einen Mönch von seinem Gelübde lösen146. Ja, Wyclif kann sogar fordern, daß alle Gelübde aufgehoben werden müssen, damit die Menschen wieder in freier Weise zur Sekte Christi gehören: so wird das Gelübde ins Bessere gewandelt 147 . Wenn die Kirche Mönchen erlaubt, ihren Orden zu verlassen, um ein Bischofsamt zu übernehmen, so gibt sie ja selbst zu, daß die Gelübde nicht unbedingt auf ewig verpflichten 148 . Wichtig ist bei Wyclif aber nicht nur die Gegenüberstellung von Gelübden und Evangelium, sondern auch ein anderer Gedanke, nämlich der, daß das Evangelium etwas öffentliches ist. Dagegen sind die Orden „privat". Schon der von Wyclif häufig verwendete Ausdruck „private Sekten" oder „private 146 D e blasphemia 1 p. 10,3 ff. Et quoad dispensaciones, specialiter cum voto, credit catholicus quod votum vel est sapienter vel stulte commissum et continuatum. Assistente vero sapiencia in continuacione voti commissi, foret stulticia dispensare. Si autem stulte commissum est, foret prudentia ipsum celeriter dissolvere et de commissionis stulticia penitere: ad eius remissionem et contriti absolucionem sufficit quicunque sacerdos habens claves ecclesie. N o n enim subiacet potestati hominis vel angeli dispensare cum religioso vel alio, nisi aput deum sit patens racio, et apud subiectum utilitas dispensandi. Et sic quicunque stulte voverit, debet sine petita pape dispensacione votum tale dimittere. 147 De quattuor sectis novellis 12 p. 285,10 ff. Debent itaque omnes hii novi ordines imprimis cpgnoscere, quod deus dispensat et precipit, quod sine consciencia dirumpant cathenas hominum et intendant libere secte Cristi . . . Z. 15ff. Et sic mutando votum in melius Cristus dispensat, sicut dispensat cum homine, qui vovit fratrem suum occidere et dimittit. p. 289,2 ff. beruft Wyclif sidi für seine Auffassung auch darauf, daß das Gelübde eines sponsus oder einer sponsa hinfällig ist, wenn es „nec sibi ad commodum nec s p o n s o . . . ad honorem" geschieht. 148 Purgatorium sectae Christi 12 p. 315,13 ff. videtur, quod sicut religiosus egreditur ordinem suum privatum, acceptando tanquam perfeccius episcopale officium vel curam aliam, dum sit pingwis, sic quilibet habilis debet compelli egredi has sepes, in quibus includitur et servare liberam sectam Christi.

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Wyclif

Orden" weist auf diese Auffassung vom Evangelium hin. Wyclif hat aber gelegentlich eigens auf den Gegensatz zwischen dem Evangelium und den Gelübden aufmerksam gemacht 149 . 7. Mit der bisher erwähnten Kritik Wyclifs hängt sachlich eng ein anderer Punkt zusammen, den er des öfteren herausstellt, nämlich der der Gemeinschaft. Das Evangelium ist das allen Christen Gemeinsame, wie auch Christus selbst in der Öffentlichkeit gewirkt hat 1 5 0 . Allein, Wyclif hat diesen Gedanken doch weder wirklich durchgeführt noch für seine Theologie wie auch für seine Kritik am Mönchtum fruchtbar gemacht. Man muß sogar sagen, daß Wyclifs Betonung der communio weit hinter der von Augustin festgehaltenen, audi beim Geloben vorhandenen communio, zurüdkbleibt151. Die Gemeinsamkeit, die Wyclif betont, ist letztlich nur die Allgemeinverständlichkeit des göttlichen Gesetzes, nicht aber die Gemeinschaft der Kirche, d. h. der durch das Hören des Wortes und den Empfang der Sakramente auch untereinander verbundenen Menschen. Der Grund dafür, daß Wyclif den Gedanken der Gemeinschaft nicht stärker geltend gemacht hat, ja ihn nicht einmal stärker geltend machen konnte, besteht nicht nur in dem gewissen Individualismus, der seinem humilitas-Ideal eigen ist, sondern vor allem in seiner schroffen Prädestinationslehre. Seine deterministisch verschärfte Prädestinationsauffassung ließ für die Freiheit des durch Wort und Sakrament wirkenden Gottes keinen Raum mehr. Damit aber wurde zugleich auch die Gemeinschaft der Kirche des sie belebenden Elementes beraubt; die Kirche ist lediglich die Zahl der von Gott zum Heil Vorherbestimmten. Insbesondere hat Wyclif es nicht verstanden, von der Taufe her die Gemeinschaft der Kirche und der Christen stärker zu erfassen. So gewiß Wyclif etwa die Nächstenliebe betonen kann, so ist die Gemeinschaft der Kirche für ihn letztlich doch immer nur etwas Gefordertes, niemals aber etwas Vorgegebenes, in das der einzelne schon hineingestellt ist 152 . " · Siehe Speculum ecclesie militantis 21, z . B . p . 4 2 , 2 6 f i . 1 5 0 Ebd. p. 4 2 , 1 6 f. Christus enim communiter mansit sub divo. Der Gedanke der Gemeinschaft klingt auch sonst öfter an, siehe etwa o. S. 187 Anm. 143. 1 5 1 Vgl. o. S. 6 9 ff. 1 5 2 Treffend bemerkt M.Schmidt, op.cit., S . 9 2 : „Wyclifs Kirchenbegriff bleibt nach der positiven Seite hin individualistisch. Die humilitas, die er als Forderung aufstellt, ist ganz vom einzelnen aus gedacht. Die Gliedsdiaft am Leibe Christi wird nicht für die Gliedschaft untereinander fruchtbar gemacht. Die Prädestinationslehre Augustins wirkt hier nur nodi verschärfend. Sie läßt keine Beziehung zwischen den einzelnen Erwählten aufkommen. Niemand weiß wirklich, wer außer ihm selbst zur erwählten Schar gehört." Tatsächlich ist das, was Wyclif über die Taufe zu sagen hat, sehr wenig und ebenfalls ganz an diesem Individualismus orientiert. E r unterscheidet Trial. 12 eine dreifache Taufe, den baptismus fluminis, sanguinis, flaminis (p. 285). Der baptismus fluminis bezeichnet die Wassertaufe, der baptismus sanguinis die Märtyrertaufe, durch welche die Seelen der Märtyrer gereinigt worden sind. Der baptismus flaminis dagegen ist die Geisttaufe, die jedermann vonnöten ist, wenn er gerettet werden soll. Auf diese Geisttaufe kommt es letztlich entscheidend an: ( p . 2 8 5 ) Baptismus . . . flaminis est baptismus Spiritus Sancti, qui est sim-

Ehe und Beruf

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8. Einige weitere Punkte aus Wyclifs Kritik am Mönchtum und am monastischen Ideal seien noch genannt. Wie Wyclif dafür eintritt, daß die Priester heiraten dürfen — allerdings hält er dafür einen Dispens für nötig153 —, so wendet er sich audi gegen das oft zu schnell geleistete Gelübde der castitas. Die Orden verbieten zu heiraten, obwohl viele Ordensbrüder schwer mit der fleischlichen Begierde zu kämpfen haben. Dabei nehmen sie nach Wyclif zu leicht, was Paulus 1. Kor. 7,9 gesagt hat: melius est nubere quam uri154. Oder ein anderes. Besonders scharf wendet sich Wyclif gegen die Behauptung, daß das Gebet eines Mönchs mehr gelte als das eines Laien155. Oder Wyclif nimmt zwar den oftmals vertretenen Gedanken auf, daß der Gehorsam die höchste Tugend sei, richtet ihn aber nun gegen das Mönchtum: indem die Mönche zu Dingen verpflichtet werden, die keinen Grund im Evangelium haben, versuchen sie Gott; sie tun das, was Christus bei seiner zweiten Versuchung zurückweist156. Wichtig ist schließlich folgender Gedanke bei Wyclif, daß nämlich gelegentlich so etwas wie ein weltliches Berufsbewußtsein bei ihm begegnet. Er kann das treue Leben eines Bauern oder Hirten ein besseres Gebet nennen als das Gebet der Mönche157. In die gleiche Richtung weisen andere Äußerungen, in denen Wyclif betont, daß die Zugehörigkeit zu einem Orden die von Christus geforderte Tat der Barmherzigkeit unmöglich macht158. Freilich sind es nur gelegentliche Aussagen, die dieses neue pliciter necessarius cuilibet homini, si salvetur. Ideo duo baptismi priores sunt ut signa antecedentia, et ex suppositione necessaria ad istum tertium baptismum flaminis. Im folgenden hebt er dann hervor, daß man den baptismus fluminis nicht unterlassen soll, daß man aber auch nicht zweifeln soll, daß die infantes rite baptisati flumine auch mit der dritten Taufe getauft sind. Sein Interesse haftet an der Heilswirkung, und d.h. für ihn letztlich am Erweis der Prädestination, nicht aber an der Gabe der Sündenvergebung und der Heilszueignung. 183 De veritate sacr. script. 24 Bd. 2,261 if. 154 De Fundatione sectarum 6 p. 36,8 ff. 155 Speculum eccl. militantis 22 p. 44,5 ff.; 23 p. 46,24ff. 156 De nova praevaricantia mandatorum 7 p. 140,21 f f . . . . obediencia, ut inquiunt (seil, die Orden), est virtus maxime meritoria et luciferine superbie maxime depressiva. In ista ergo obediencia supra alios extra has sectas quatuor incomparabiliter promerentur. Sed idem foret hominem ebullire in istam stulticiam et obligare se dyabolo, ut parate faciat, quidquid mandat, cum multi tales abbates ac priores sunt dyaboli manifesti. Ideo ingredientes istos privatos ordines videntur specialiter temptare deum, sicut Cristus innuit Matth. 4,5 ff. in secunda temptacione dyaboli. Quando enim quis posset per viam securam incedere, doctam a domino, et ipsam deserit, capiens aliam viam ambiguam preter necessariam, temptat deum sicut potens, descendere de pinnaculo per gradus ab opifice ordinatos, dimittit illum descensum ac eligit saltum sine racione confidens, quod dei adiutorio debet liberari. 157 Siehe dazu M. Sdimidt, op. cit., S. 101; dort audi der Beleg. 159 Speculum eccl. militantis 30 p. 69,6 ff. Iudas enim, quem Christus vocat filium perdicionis, adhuc in fine vite sue proiecit argenteos et sie, licet desperavit, abiit satis pauper; fratres autem videntur superare Scarioth, eo quod incollunt manentem civitatem, ac si de celesti Ierusalem desperarent, et sie vocatas elemosinas statim inpossibilitant ut iuvent pauperes vel quantumeunque fratres derelinquerant ab elemosinantibus revocentur, cum

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Wyclif

Berufsbewußtsein andeuten, nicht aber handelt es sich schon um eine durchdachte und von der katholischen Anschauung klar abgehobene Berufsauffassung. 9. Wyclifs Kritik am Mönchtum hat demnach im Grunde alle wesentlichen Seiten des monastischen Ideals betroffen. Ob es sich um die Einteilung in Gebote und Räte oder um die für Mönche in Anspruch genommene höhere Vollkommenheit bzw. den besseren Weg zur Vollkommenheit oder um die Gelübde handelt: nichts bleibt von seinem Angriff verschont. Das Bedeutsame an Wyclifs Kritik ist dabei nicht so sehr das einzelne, was er kritisch vorzubringen hat, als der Maßstab, an welchem er das monastische Ideal prüft, nämlich die Hl. Schrift und die Autorität Jesu Christi. So gewiß Wyclif die Schrift noch nicht in reformatorischem Sinne verstanden hat, so führt doch die Herausstellung der alleinigen Schriftautorität in die Nähe des reformatorischen Schriftprinzips. Wie Wyclif in anderen Fragen, etwa beim Papsttum oder bei der Lehre von der Transsubstantiation, von der Schrift her zu neuen Erkenntnissen gelangte, so auch beim Mönchtum. Mit einer Reduktion bestimmter Vorstellungen konnte er sich nicht begnügen. Eine bloße Reform des Mönchtums und des monastischen Ideals mußte ihm von seinen Voraussetzungen her als völlig unzureichend erscheinen. Vielmehr konnte es für ihn hier nur ein klares Entweder-Oder geben: entweder bleibt man bei dem, was Christus gewollt hat und wovon die Schrift Zeugnis ablegt; oder man vertraut sich menschlichen Überlieferungen an, die aber niemals die gleiche Autorität wie der Herr der Kirche beanspruchen können und die daher dem Christen auch keine wirkliche Sicherheit geben können. Es ist deshalb nur konsequent, wenn Wyclif in seinen letzten Jahren immer deutlicher die Mönche auffordert, die Klöster zu verlassen und zur Religion Christi zurückzukehren. Ja, eben wegen der menschlichen Zusätze, die sich im monastischen Ideal zeigen und die keinen Grund in der Schrift haben, gilt ihm das Mönchtum als Werk des Teufels oder des Antichrist. Denn es ist das Wesen des Antichrist, sich über Jesus Christus zu erheben. Eben das aber geschieht durch die menschlichen Fündlein im Mönchtum 159 . preter exemplacionem Christi faciunt sibi basilicas sumptuosas et procurant ypocritice quod maiores domini et domine in eorum basilica sunt humati. ,5> De diabolo et membris eius 3 p. 366,3 ff. die Bettelorden sind die condicio dyaboli, quia dyabolus wit inpossibiliter omnes homines sicut se ipsum perpetuo condempnari. p. 367,21 ff. Secundam condicionem dyaboli habent fratres, quod extolluntur supra Christum, sicut dicit apostolus 2 Thess. 2 , 4 esse proprium anticristo. Im folgenden weist Wyclif erneut darauf hin, daß die Mönche Dinge erwählen, die nidit von Christus gestiftet worden sind. Vgl. D e septem donis Spiritus Sancti 4 p. 215,18 ff. erubescerent religiös: moderni, qui dicunt, quod in hoc a nobis differunt, quod observant omnia Cristi consilia, sed nos nude precepta. — Sed revera, si consilia Cristi perfecte servarent, conventus monstruosos relinquerent et prelatos dyabolicos, quibus ex humanis tradicionibus obligantur, et perfecte legi dei atque facili prudenter se submitterent.

Zu sam m e n fassu n g

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W yclif hat nicht gemeint, daß er der Erste w äre, der die Orden in dieser W eise kritisiert. Er hat sich, und zw ar nicht zu Unrecht, w iederholt auf Vorläufer berufen, w ie etw a auf Robert Grosseteste oder W ilhelm von St. Amour oder den Kanzler der Universität O x fo rd RichardzvtsrponmlkihgedcbaRPFA Fitz- Ralph 1 β0 . Aber bei keinem von diesen hat doch die Polemik gegen das Mönch tum annähernd die gleiche Schärfe und den gleichen U m fan g besessen w ie bei W yclif. W yclifs Kritik am Mönchtum betrifft nicht mehr nur die Praxis, sondern auch die Theorie; sie rührt an die W urzeln des katholischen Verständnisses des christlichen Glaubens. Andererseits bleibt W yclif jedoch selbst eigentümlich im katholischen Denken befangen. D ie Grundzüge der imitatio- Frömmigkeit und der Gesetzlichkeit lassen sich auch bei ihm nachweisen. W enn er die Verdienstlichkeit der W erke w eniger betont, als das im Mittelalter sonst üblich w ar, so liegt das w eniger an einer neuen Erfassun g des Wesens des Glaubens und der W erke als vielmehr an seiner schroffen Prädestinationslehre, die für eigentliche Verdienste keinen Raum läß t 1 6 1 . Aber auch in anderen Punkten fehlt eine Beziehung zwischen dem monastischen Ideal, bzw . der Kritik an ihm, und dem christlichen Glauben. Am bedeutendsten ist, daß W yclif es nicht verstanden hat, von der Taufe her die Frage der Gelübde zu behandeln. H at er hier die tiefen Ansätze des von ihm sonst oft als Meister anerkannten Augustin nicht übernommen, so fehlen auch andere Gedanken, die mit zu dem Besten gehörten, w as das Mittelalter über das monastische Ideal gedacht und gesagt hatte, vornehmlich über den Mönchsstand als Büß erstand. W yclif w äre es von seinen Voraussetzungen aus nicht leicht gew orden, derartige Gedanken recht zu w ürdigen und gegebenenfalls in Frage zu stellen. Insofern ist es nicht zufällig, daß W yclifs Kritik am Mönchtum noch nicht zu einer Aufhebung der Klöster führte, sondern lediglich einzelne Mönche veranlaß te, ihr Kloster im Stich zu lassen und in die W elt zurückzukehren. Zum Schluß sei kurz auf die Entscheidungen des Konstanzer Konzils eingegangen, sofern sie auf W yclifs Stellung zum Mönchtum Bezug nehmen. D as Konstanzer Konzil hat eine Reihe von Sätzen W yclifs verketzert. Diese Urteile sind nicht nur darum von Bedeutung, w eil man sich von W yclif abgegrenzt hat, sondern es läß t sich auch aus ihnen auf das spätmittelalterliche monastische Ideal rüdtschließ en. D ie Entscheidungen in Konstanz lassen sich, sow eit es sich um W yclifs Stellung zum Mönchtum handelt, in drei Gruppen teilen: einmal w ird W yclifs Kritik am Mönchtum als solchem zurückgew iesen, sodann die an Sie h e e t w a D e O rdi n at i o n e f rat ru m 2 p. 9 1 , 1 8 ff. Freilich be to n t "W yclif do di imme r w ie de r das „m e re re ". So e tw a im Tri al . 12 p. 288 ( am En de des Absch nitts übe r di e Tau f e , v gl . o. S. 190 A n m . 1 5 2 ) : Cre di m u s tarnen e x fide, qu o d nihil co n tin git h o min i po st pri m am grat i am , nisi al i qu a pars h um an i generis h oc me rue rit v e l de me rue rit sie e v e n ire . 1M

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Lohse, Mönchtum

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Huß

einzelnen Ordensgründern und schließlich die an bestimmten Einzelheiten. Was das Erste betrifft, so verwirft man Wyclifs Entgegensetzung von religio Christi und religio privata 1β2 . Sodann werden die Ordensgründer gegen den Vorwurf in Schutz genommen, sie hätten durch die Stiftung ihrer religio privata gesündigt und seien, falls sie nicht Buße getan hätten, wegen ihres Besitzes sowie wegen ihrer Ordensgründung verdammt worden 183 . Was die dritte Gruppe betrifft, so geht es hier einmal um die Frage der Arbeit: Wyclifs These, daß die Mönche ihren Unterhalt nicht durch Bettelei, sondern durch Handarbeit verdienen sollen, wird abgewiesen164. Wichtiger aber ist ein anderes: auch sein Satz, daß man zu Unrecht dem Gebet des Mönchs größere Aussicht auf Erhörung zuschreibt, wird verworfen 1β5 . Positiv gewendet, bedeutet das, daß nach Meinung des Konstanzer Konzils das Gebet des Mönchs, ceteris paribus, mehr vermag als das des Laien. c) Exkurs: Huß' Stellung zum Mönch tum160 1. Wyclifs Theologie und insbesondere seine reformatorischen Ideen haben auf dem Kontinent bekanntlich vor allem in Böhmen Anhänger gefunden, um dann von dort auch in andere Länder einzudringen. Gilt das auch für seine Kritik am Mönchtum? Für die Beurteilung der Kritik Luthers am 1 6 2 Conc. Constantiense, errores Iohannis Wicleff, 21. Si aliquis ingreditur religionem privatam qualemcunque, tarn possessionatorum quam mendicantium, redditur ineptior et inhabilior ad observationem mandatorum Dei. 23. Religiosi viventes in religionibus privatis non sunt de religione christiana. 34. Omnes de ordine mendicantium sunt haeretici, et dantes eis eleemosynas sunt excommunicati. 35. Ingredientes religionem aut aliquem ordinem eo ipso inhabiles sunt ad observanda divina praecepta, et per consequens ad perveniendum ad regnum coelorum, nisi apostataverint ab iisdem. 45. Omnes religiones indifferenter introductae sunt a diabolo. 1 6 5 Ebd. 22. Sancti, instituentes religiones privatas, sie instituendo peccaverunt. 44. Augustinus, Benedictus et Bernardus damnati sunt, nisi poenituerint de hoc, quod habuerunt possessiones et instituerunt et intraverunt religiones: et sic, a Papa usque ad ultimum religiosum, omnes sunt haeretici. 1 8 4 Ebd. 24. Fratres tenentur per laborem manuum victum acquirere, et non per mendicitatem. 1 . 5 Ebd. 19. Speciales orationes, applicatae uni personae per praelatos vel religiosos, non plus prosunt eidem, quam generales, ceteris paribus. 1 . 6 Eine Spezialuntersuchung über Huß* Stellung zum monastischen Ideal gibt es meines Wissens nicht. Einige Hinweise finden sidi bei J . Loserth, Huß und Wiclif — Zur Genesis der hussitischen Lehre, 2. Aufl. 1925. Siehe ferner E.Peschke, Die Theologie der böhmischen Brüder in ihrer Frühzeit, Bd. 1,1 in: Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte Bd.5, 1935, der sich jedoch nur mit dem Abendmahl befaßt. Einen Überblick über die seit Loserths grundlegenden Untersuchungen sehr viel vorsichtigere Beurteilung des Verhältnisses zwischen Wyclif und Huß gibt M. Spinka, John Hus and the Czech Reform, 1941; siehe dens., Paul Kravar and the Lollard-Hussite Relations, in: ChH 25, 1956, S. 16 ff. — Huß' Schrift De ecclesia zitiere ich nach der Ausgabe von S.H.Thomson, 1956, die übrigen Schriften nach der Ausgabe von Flajähans, Prag 1903 ff.

Gebote und Räte

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monastischen Ideal der katholischen Kirche wäre das u.U. von erheblicher Bedeutung. Natürlich kann Luther manche Ideen Wyclifs auch auf anderem Wege als über Huß und die Anfang des 16. Jahrhunderts gerade in Deutschland lebhaft geführte Kontroverse um die hussitischen Ideen kennengelernt haben. Allein die Tatsache, daß das Konstanzer Konzil bei seiner Verurteilung der wyclifschen Lehren auch einige wichtige Grundsätze der Gedanken Wyclifs über das Mönchtum nannte, läßt es möglich erscheinen, daß Luther wenigstens auf diese Weise von Wyclifs Kritik am Mönchtum hörte. Das wäre u. U. für die Entwicklung von Luthers Stellungnahme zum Mönchtum wichtig. Aber die Sätze des Konstanzer Konzils sind doch zu knapp, als daß man von ihnen her einen nennenswerten Einfluß der Kritik Wyclifs am Mönchtum auf Luther behaupten könnte. Praktisch bestünde nur die Möglichkeit, daß Luther durch das hussitische Schrifttum sowie durch die Kontroverse über die hussitischen Lehren Wyclifs Gedanken über das Mönchtum kennenlernen konnte. Aus diesem Grunde ist es nötig, kurz auf Huß' Stellung zum monastischen Ideal einzugehen. Die neuere Forschung hat ein wesentlich anderes Bild von Huß entworfen, als es Loserth und andere Ende des vorigen Jahrhunderts gezeichnet hatten. So bahnbrechend Loserths Untersuchungen waren und so sehr eine Feststellungen über Huß' weitgehende Abhängigkeit von Wyclif, die bis hin zur wörtlichen Übernahme wyclifscher Ausführungen ging, nach wie vor Gültigkeit haben, so hat Loserth doch seinerzeit die Eigenständigkeit des tschechischen Reformtheologen unterschätzt. Gegen Loserth ist mit Recht geltend gemacht worden, daß man mit Urteilen über Plagiate den mittelalterlichen Vorstellungen über das geistige Eigentum eines Autors nicht gerecht wird. Zudem hat die neuere Forschung hervorgehoben, daß neben der zweifellos bestehenden weitgehenden Abhängigkeit Huß' von dem englischen Reformtheologen gerade auch diejenigen Fragen berücksichtigt werden müssen, in denen sich eine solche Abhängigkeit nicht nachweisen läßt. Huß hat keineswegs alles von Wyclif übernommen, sondern nur das, was er selbst als richtig ansah. Gerade hinsichtlich der Stellung zum Mönchtum läßt sich zeigen, daß Huß bei der Übernahme wyclifscher Gedanken nicht unselbständig zu Werke gegangen ist, sondern sorgfältig manches ausgeschieden hat, was ihm an den wyclifschen Gedanken nicht vertretbar erschien. 2. Was zunächst die Einteilung in Gebote und Räte betrifft, so kennt Huß nach der im Mittelalter verbreiteten Zählung zwölf evangelische Räte. Man wird es sicher auf Wyclifs Einfluß zurückführen müssen, wenn Huß in den evangelischen Räten etwas sieht, zu dem im Grunde jeder Christ verpflichtet ist. Allein, eine gewisse Abschwächung gegenüber Wyclif läßt sich doch insofern feststellen, als Huß einschränkend hinzufügt, diese Verpflichtung gelte sub pena peccati venialis. Außerdem erwähnt Huß ohne ein Wort der Kritik, daß Kleriker und vor allem Mönche sich in besonderer Weise zur Be13*

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Huß

obachtung der evangelischen Räte verpflichten — das hätte Wyclif so in seinen letzten Jahren nicht sagen können1β7. 3. Hat Huß somit gelegentlich den alle verpflichtenden Charakter der evangelischen Räte herausstellen können, so hat er dodi sonst oft den höheren Wert der Weltentsagung betont. Die vita contemplativa steht ihm höher als die vita activa; wie die Liebe, so wird audi die vita contemplativa in der kommenden Welt andauern. Darum sterben jene, die sich beständig in der vita contemplativa üben, sicherer als die Weltchristen, hat doch auch Christus zusammen mit den Aposteln und auch mit seiner Mutter die vita contemplativa erwählt. Darum ist die vita contemplativa vollkommener als die vita activa1β8. Besonderes Lob spendet Huß dabei der Jungfräulichkeit. Sie ist mit Recht von Bernhard von Clairvaux gepriesen worden1ββ. Theologisch ergibt sich der höhere Wert der Jungfräulichkeit daraus, daß die Kirche die Braut Christi ist. Zwar ist die Jungfräulichkeit der Kirche durch ihr Buhlen mit dem Teufel entstellt worden. Aber sie muß in ihrer ursprünglichen Reinheit wiederhergestellt werden. Ohne Schwierigkeit ergibt sich für Huß von dem Gedanken der jungfräulichen Kirche her, daß Christus auch den Jungfrauen in besonderer Weise nahesteht: er ist der sponsus virginitatis170. 1,7 De eccl. 17 p. 155,20 if. Omnia ista duodecim consilia in forma sua primaria non habebunt esse in effectu in patria sed in fructu, et in sensu secundario observabuntur sicut mandata eterna. Sed in via sunt ad vitam saluberrima. Et utinam clerici et specialiter religiosi, appreciantes consilia hominum, et omnes alii innitentes humano consilio, ad ista consilia medici celestis attenderent, quia indubie sunt a peccatis possibilibus preservativa, a commissis purgativa et adepte sanitatis conservativa. Ideo omnes viantes obligantur ad ista consilia vel eorum aliqua ad minimum sub pena peccati venialis, ad quod iudicandum erit discretus, sibi ipsi iudex optimus, videndo quando ex defectu observancie alicuius istorum inciditur in peccatum, quod non facit cito nisi ex contemptu divini consilii. 168 Sermones de sanctis 5 (In die Assumpcionis B. Virginis) B d . 3 , 1 8 , I f f . Omnem enim activam vitam necesse est evacuari ante finale iudicium; vita autem contemplativa, sicut et Caritas, manebit in patria. Ideo oportet, quod sit perfeccior, quam activa. Ebd. Z. 9 ff. illi, qui educantur in vita contemplativa continue, dimissa sollicitudine mundana, securius moriuntur. Hanc autem vitam elegit Christus cum suis apostolis, cum matre et carioribus eius discipulis. 169 Sermones de sanctis 10 (De B. Virgine) p.38,20. 170 De eccl. 2 p. 9,6 ff. Est autem ipsa universalis ecclesia virgo sponsa Christi virginis, ex qua ut vera matre spiritualiter generamur. „Virgo", inquam, „tota pluchra, in qua non est macula", Cantic.4,7, „nec habens rugam aut maculam." Ad Ephes. 5,27, „et sancta et inmaculata" et sic castissima secundum se totam in patria. Hic tarnen fornicando cum adulterante dyabolo et cum multis membris eius, criminibus parcialiter est corrupta. Verumptamen nunquam reeipitur ut sponsa amplexanda beatifice in dextera in lecto sponsi, antequam fuerit pura virgo omnimode sine ruga. Christus enim est sponsus virginitatis, qui cum vivit perpetuo non licet sponse ab eo recedere fornicando spiritualiter. Ideo de celestium civium multitudine dicitur, Apoc. 14,4: „Virgines enim sunt et secuntur agnum quocunque ierit." — Sollte M.Schmidts Vermutung (John Wyclifs Kirchenbegriff, in: Gedenkschrift für Eiert, 1955, S.73f.), daß in Wyclifs Kirchenbegriff der Gedanke des Brautverhältnisses zwischen der Kirche und Christus dem des Prädestinatianismus vorangeht, zu Recht bestehen, so ergäbe sich für unser Problem ein Festhalten H u ß ' an dem

Jungfräulichkeit und Ehe

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4. D i e Ansicht, d a ß die J u n g f r ä u l i c h k e i t höher stehe als die Ehe, begründet H u ß auch gern m i t mariologischen Erwägungen. E r f o l g t hier einfach der T r a d i t i o n des v o n Augustin beeinflußten asketischen Ideals. M a r i a h a t selbst das jungfräuliche Leben e r w ä h l t , d a r u m ist dieses höher z u b e w e r t e n 1 7 1 . H u ß w e i ß audi v o n einem G e l ü b d e der J u n g f r a u M a r i a , die virginitas zu bewahren. J a , die J u n g f r ä u l i c h k e i t ist in sich selbst eine „große V o l l k o m m e n heit", z u m a l w e n n sie durch ein G e l ü b d e b e k r ä f t i g t w o r d e n ist. M a r i a h a t daher die J u n g f r ä u l i c h k e i t gelobt, um die V o l l k o m m e n h e i t zu erlangen 1 7 2 . H u ß e r ö r t e r t auch die schon oft behandelte Frage, o b denn nicht in der Zeit des alten Bundes die Ehe der J u n g f r ä u l i c h k e i t vorgezogen w u r d e , weswegen dann das Gelübde der M a r i a eine Verpflichtung ad imperfectius darstelle. Seine A n t w o r t lautet, daß im alten Bund z w a r die Ehe höher stand, daß aber m i t M a r i a der Beginn eines Neuen anzusetzen sei: sie ist die erste, die die J u n g f r ä u l i c h k e i t gelobte, und h a t d a m i t ein Beispiel f ü r alle virgines gegeben 1 7 3 . J a , H u ß spricht sogar v o n einem t r a n s f u n d e r e der puritas der M a r i a auf die anderen 1 7 4 . Dabei preist H u ß die D e m u t w i e die J u n g f r ä u lichkeit als die Frucht der M a r i a — auch die D e m u t w i r d also v o n ihm auf Maria zurückgeführt175. 5. Auch über die G e l ü b d e lehrt H u ß in wesentlicher Übereinstimmung mit der Scholastik und anders als W y c l i f . Er greift die Definition des v o t u m a u f , ekklesiologisdien Ansatz Wyclifs hinsichtlich des virginitas-Ideals. Allein, Schmidts Interpretation von Wyclifs Kirdienbegriff systematisiert diesen, wenigstens in diesem Punkte, doch wohl zu sehr. 171 Super IV Sent. IV d. XXXIII 7 p. 667,37ff. (Frage:) Utrum virginitas sit melior matrimonio, (Antwort:) loquendo de virginitate, que est incorrupcionis carnalis perpetua meditacio. Et non est dubium, quin sit, cum illam Mater Christi et ipse Christus elegerint et concorditer sancti doctores virginitatem matrimonio preferunt. 172 Ebd. IV d. X X X 5 p.657,38 ff. (Frage:) Utrum Virgo Maria debuit virginitatem vovere? (Antwort:) Dicendum, quod sic. In ipsa enim debet apparere omnis perfeccio pertinens sexui muliebri. Virginitas autem in se est magna perfeccio et presertim voto firmata. Ideo beata Virgo vovit virginitatem propter perfeccionem consequendam. 173 Ebd. p.658,Iff. Sed diceres, matrimonium preferebatur virginitati in lege veteri, ergo tunc beata Virgo non debuit per votum ad inperfeccius se obligare. Dicitur negando consequenciam: ipsa enim fuit inicium prime et dignissime virginitatis in sexu femineo, a qua debent singule virgines capere exemplum, ut virginitatem servent, pro qua coronam aeeipere cupiunt spiritualem. 174 Sermones de sanetis 36 (Nativitatis Marie) p. 157,15 ff. (seil. Maria) habuit virginitatem dedicatam; nam ipsa, ut dicitur, primo virginitatem vovit, deinde alie. Unde Psalmus: „Adducentur regi virgines eius post eam." . . . (Maria) habuit virginitatem transfusam sic, quod licet virgo puleerrima extitit, a nullo tarnen carnaliter Spiritu S. peruneta potuit concupisci, quia eius puritas in aliorum corda transfundebatur et omnes motus illicitos extingwebat . . . (Maria) habuit virginitatem ornatam lumine gracie, oleo misericordie et divine sapiencie excellencia decoratam, non sicut fatue virgines, que aeeeptis lampadibus non sumpserunt oleum secum etc. 175 Ebd. 14 (In vigilia Assumpcionis) p. 48,4 Flores Marie virginitas et humilitas.

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Huß

die Hugo von St. Viktor170 sowie ihm folgend Petrus Lombardus177 gegeben hatten, und sieht in dem Gelübde ein freiwilliges Versprechen, das mit Bezug auf Gott oder auf das, was Gottes ist, gegeben wird. Dementsprechend gehört nach Huß zum Gelübde ein Dreifaches: der Vorsatz des Willens, d.h. daß das Gelübde freiwillig und nicht gezwungen geleistet wird; sodann die reifliche Überlegung und drittens, daß sich das Gelübde auf etwas Gutes bezieht. Für Huß steht dabei der verpflichtende Charakter eines Gelübdes, auf das diese drei Dinge zutreffen, fest. Ein Bruch des Gelübdes bedeutet Todsünde. Audi was die bedingten Gelübde oder eine etwa eintretende impossibilitas anlangt, weicht Huß nicht von der Scholastik ab178. Selbst die traditionelle Unterscheidung zwischen einem votum commune und einem votum singulare begegnet bei Huß, wie er audi bei dem votum singulare wiederum das private und das öffentliche Gelübde kennt179. In all diesen 178

177 Siehe o. S. 145. Siehe o. S. 148. Expositio Decalogi 3,6 Bd. 1,12,16 ff. Secunda exposicio: „Non assumes nomen Domini Dei tui in vanum" etc. male vovendo et bonum votum transgrediendo. Pro quo nota, quod votum est quedam testificacio promissi, qua spontanee, que ad Deum, et ea, que Dei sunt, referuntur, sicut dicit Hugo, de sacramentis libro secundo: „vel votum est spontanea promissio melioris boni cum deliberacione et obligacione firmata". Ex quo patet, quod ad votum tria requiruntur. Primum est propositum voluntatis, quia debet fieri ex animi libertate, non ex coacta necessitate. Ex quo patet, quod aliquis metu in constantem virum cadente aliquid promittens Deo non tenetur, si wit, votum exsolvere. Secundum est deliberacio huius voluntatis, quia, si quis subito bonum aliquod concipiat, non obligatur ad hoc votum ex necessitate servandum, sed solum ex quadam congruitate et decencia propter divinos instinctus. Tercium est, quod sit de re bona, quia si fiat de re mala, non obligatur teste Ysidoro: In malis promissis rescinde fidem etc. . . . 3,7 Notandum, quod votum (prout hie dicitur) semper obligat, quia eius transgressio est peccatum mortale, exceptis quatuor casibus. Primus est, si aliquis vovit sub condicione; tunc enim non existente condicione non tenetur solvere votum. Ut si quis vovit ieiunare sabbato et, si sanabitur: talis, si non sanabitur intra tempus prefixum, non obligatur. Secundus casus est, si impossibilitas sil sibi illius voti: hie debet querere dispensacionem, que tamen nunquam in voto fieri debet, nisi in eque bonum vel melius commutetur. Tercius casus est, si impossibilitas postea accedat; nam quicquid votum fiendum impediret, si presens esset, hoc ipsum superveniens voto facto obligacionem aufert; puta, si dives voluit edificare ecclesiam, et talis postea paupertate superveniente perficere non possit, non obligatur secundum illam partem, secundum quam est depauperatus, sed quantum potest, tantum faciat, et satis est. Quartus casus est, si vovens non sit sui iuris, cum votum sit spontanea promissio melioris boni cum deliberacione firmata, ut patet superius. Ex hoc patet, quod quicunque subest voluntati aliene, non potest aliquid vovere, quod ilium, cui subest, quoad debitum subieccionis, impediat. Unde sequitur, quod servus, qui subest domino, non potest aliquid vovere, quod impediat ilium a servicio domini. Item mulier, que subest viro, non potest vovere continenciam nec peregrinaciones longas sine licencia viri; et similiter vir sine licencia mulieris. Item monadius sine consensu sui prelati non potest vovere peregrinaciones nec quicquam contra regulam sui ordinis. Vgl. audi Super IV Sent. IV d. X X X I I 4 p. 663,16 ff. 178

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Super IV Sent. IV d. X X X V I I I 1 f. p. 678,18 if. (1) votum est testificacio quedam promissionis spontanee, que Deo et hiis, que sunt Dei, proprie debet fieri . . . (2) quod votum aliud est commune, aliud singulare. Commune illud, quod omnes faciunt, cum spondent renuncciare dyabolo et omnibus pompis eius. Singulare, ut cum aliquis sponte promittit servare virginitatem et continenciam vel aliud huiusmodi.

Zusam m e n fassun g

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Punkten zeigt sich keine Abw eichung von der scholastischen Auffassun g. U n d schließlich findet sich auch bei Huß die Anschauung, daß dem Geloben ein besonderer verdienstlicher Ch arakter eignet 180 . Eine Dispensmöglichkeit gibt es nicht, da das Gelübde vor Go tt unbedingt verpflichtet; selbst der Papst kann von ihm nicht entbinden m . Auch w as Huß über die einzelnen monastischen Tugenden äuß ert, steht nicht im W iderspruch zum Mönchsideal des Mittelalters. W as er etw a in seiner Schrift D e ecclesia über den Gehorsam sagt, ist w eitgehend am Gehorsamsideal des Klosters orientiert. Gehorsam bedeutet, daß man seinen eigenen W illen aufgibt und sich der Entscheidung eines Oberen in erlaubten und guten Dingen unterw irft. Dieser Gehorsam w ird zu einem Habitus. Dabei richtet sich der Gehorsam vorzüglich auf die evangelischen Räte 1 8 2 . Man mag allenfalls finden, daß Huß hierbei den Gehorsam mehr in personalem Sinne versteht als im Sinne des W erkes und der Leistung. Aber dabei handelt es sich gegenüber der Scholastik höchstens um geringfügige Akzentverschiebungen, die an der grundsätzlichen Übereinstimmung nichts ändern. Huß hat sich jedenfalls ausdrücklich auf Th omas' Ausführungen über den Gehorsam bezogen 1 8 3 . Auch die Aussage, daß zum w ahrhaften Gehorsam Gn ade oder Liebe erforderlich sei 1 8 4 , w ar den mittelalterlichen Mönchstheologen schon vertraut. 6. Somit ergibt sich, daß Huß von der radikalen Kritik W yclifs am monastischen Ideal nichts übernommen hat. Zw ar sind W yclif und Huß hinsichtlich zahlreicher Grundsätze einander verw andt. Beiden stand die Schriftautorität fest. Auch Huß sagt, daß bei allen strittigen Fragen allein die Schrift zu entscheiden h at 1 8 5 . D ie Bedeutung, die das Vorbild des demütigen Christus hat, ist für Huß nicht geringer als für W y clif 1 8 0 . U n d auch nach Huß soll sich der Klerus in seinem Lebensw andel allein nach dem Ev an gelium richten, d.h . allem Reichtum und allem weltlichen Treiben entsagen und die evangelische Armut auf sich nehmen 187 . Aber Schrift und Tradition haben für Huß nicht in der gleichen W eise w ie für W yclif in Gegensatz zueinander gestanden. Insbesondere übernimmt er nicht W yclifs Verurteilung 1 8 0 Ebd. p. 6 8 0 , 1 8 f. (4) ut sit spon tan e a, quia v o tum a v o lun tate dicitur. Et cum sit opus meritorium . . . Vgl. D e eccl. 20 p. 1 8 9 ,2 ff. 1 8 1 D e eccl. 16 p. 1 4 2 ,1 7 ff. 1 8 2 Ebd. 17 p. 1 4 9 ,3 2 ff. obediencia est subieccio pro prie volun tatis ad arbitrium superioris in licitis et honestis, vel obediencia est h abitus exequendi preceptum superioris volun tarie in licitis et honestis. Et prim a descripcio datur per actum, secunda v e ro per h abitum. 1 8 3 Eb d . p . 1 5 3 , I f f . 1 8 4 Ebd. 21 p. 2 0 3 ,4 f. . . . ad veram obedienciam requiritur gracia sive Caritas. 1 8 3 Ebd. 16 p. 131 ff. 1 8 6 Ebd. z . B. 9 p . 6 7 , 1 5 f f . omnia, que fecit Ch ristus vel docuit, sunt sine calumpn ia possibili a to ta ecclesia acce ptan da. 1 8 7 Ebd. 17 p. 1 4 9 ,2 ff. intencio nostre partis est, quo d clerus v i v at sincere secundum ew angelium Ihesu Ch risti, po m pa, av aric ia et luxuria poste rgatis.

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Huß

des Mönchtums als einer bloß menschlichen Überlieferung, die die Freiheit des Gesetzes Christi beeinträchtigt. Huß ist in seiner Stellung zum monastisdien Ideal des Mittelalters nicht nur weniger radikal gewesen als Wyclif, vielmehr hat er auch dessen theologischen Ansatz an diesem Punkte nicht übernommen. Andererseits kann man freilich Huß' Haltung gegenüber dem Mönchtum nicht völlig auf eine Ebene mit derjenigen der Scholastik stellen. Zwar ist Huß in dem, was er über das monastische Ideal sagt, im wesentlichen ganz auf der Linie der scholastischen Theologen. Nicht minder wichtig aber ist das, was bei ihm im Vergleich mit der Scholastik fehlt. Dazu gehört vor allem die Anschauung, daß die Profeß eine zweite Taufe sei. Sie findet sich, soweit ich sehe, bei Huß nirgends. Allerdings hatte schon Wyclif diesen Gedanken nicht erwähnt und ihn auch nicht angegriffen. Sodann aber schreibt Huß der Profeß auch keine Sünden tilgende Bedeutung zu. Es läßt sich also bei Huß eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der Uberbewertung der Mönchsgelübde beobachten. Im ganzen läßt sich aber abschließend feststellen, daß Huß Wyclifs Kritik am Mönchtum nicht übernommen hat. Luther kann daher nicht auf dem Wege über die Hussiten mit der wyclifschen Kritik am Mönchtum bekannt geworden sein 188 . 1 8 8 Soweit ich sehe, begegnet auch in der späteren Literatur der Hussiten kein Einfluß der wyclifschen Kritik am Mönchtum. Jedenfalls fiindet sich kein derartiger Hinweis in dem zu Leipzig 1512 erschienenen Sammelbande, der außer Jac. Ziegler, Contra Heresim Valdensium Libri quinque, folgende Schriften enthält: Duplex Confessio Valdensium ad Regem Ungarie missa; Augustini de Olomucz Arcium et Decretorum Doctoris Prepositi Olomucensis Ecclesie Regiique Secretarii Epistole contra perfidiam Valdensium; Eiusdem Doctoris bine Littere ad Regiam Maiestatem de Heresi Valdensium; Excusacio Valdensium contra binas litteras Doctoris Augustini. Auch in der Ausgabe von Balthasar Lydius, Waldensia, id est, Conservatio verae Ecclesiae Demonstrata ex confessionibus, cum Taboritarum, ante C C fere annos, tum Bohemorum, circa tempora Reformationis scriptis, Rotterdam 1616 (enthaltend: Iohannis Lykawitz, Waldensis, Confessio Taboritarum, contra Rokenzanam et Papistas Pragenses, ante duo ferme saecula conscripta, 1431; Articuli magistrorum et sacerdotum antiquae civitatis Pragensis, per regnum Bohemiae, sub anno Domini Millesimo, quadringentesimo tricesimo secundo evulgati, 1432; Apologia verae doctrinae, eorum qui vulgo appellantur Waldenses vel Picardi, qui retinuerunt Iohannis Hus doctrinam, cum s. Scriptura consentientem, 1532) begegnen keine Stellungnahmen zum Mönchtum. Siehe im übrigen zu der Frage der Beziehungen zwischen Luther und den Hussiten: F . M . Bartos, Das Auftreten Luthers und die Unität der böhmischen Brüder, in: A R G 31, 1934, S. 103 ff.; S.H.Thomson, Luther and Bohemia, in: A R G 44, 1953, S. 160ff. Beide Aufsätze gehen auf die Frage des Mönchtums jedoch nicht ein.

II. Hauptteil Luthers Stellung zum Mönchtum A. D E R S T A N D D E R

FORSCHUNG

In der Lutherforschung herrscht bislang noch keine Einmütigkeit darüber, wann Luther innerlich mit dem monastischen Ideal des Mittelalters gebrochen hat. Lediglich der Terminus ad quem steht fest, nämlich durch die im Herbst 1521 auf der Wartburg abgefaßte Schrift De votis monasticis iudicium, die eindeutig die katholische Auffassung vom Mönchtum ablehnt. Aber die Frage, wann Luther von seiner neuen evangelischen Erkenntnis her zu einer neuen Beurteilung des Mönchsideals gelangt sei, wird bis heute sehr verschieden beantwortet. Erstmalig ist dieses Problem ausführlich in den Untersuchungen von H . Denifle und H . Grisar behandelt worden. Sieht man von der persönlichen Polemik ab, die Denifle und Grisar gegen Luther gerade hinsichtlich des Mönchtums vorgebracht haben\ so ergibt sich nach ihrer Darstellung folgendes Bild. Nach Denifle hat Luther sowohl in der ersten Psalmenvorlesung (1513—1515) als auch im Römerkolleg (1515—1516) sich im wesentlichen noch korrekt über das monastische Ideal ausgesprochen. Ja, noch im Jahre 1519 hat, wie Denifle feststellt, Luther das Mönchsideal nicht nur richtig gezeichnet, sondern es auch noch selbst akzeptiert. Denifle beruft sich für diese Auffassung vor allem auf Luthers Taufsermon aus dem Jahre 1519, wo es heißt: „Eyn y gl icher muß sich selb prüffen, yn welchem standt er am pesten 1 Entsprechend der Absicht unserer Untersuchung soll auf diese Dinge nicht eingegangen •werden. Ein Gleiches gilt auch für die neueren Untersuchungen von R.Wekenborg (u.a. La diarite dans la premiere tWologie de Luther (1509—1515), in: R H E 45, 1950, S.617ff.; Miraculum a Martino Luthero confictum explicatne eius reformationem?, in: Antonianum 31, 1956, p. 247ff.; Neuentdeckte Dokumente im Zusammenhang mit Luthers Romreise, in: Antonianum 32, 1957, S. 147ff.; Luther et les cinquante et un Augustins d'Erfurt d'apres une lettre d'indulgence inedite du 18 avril 1508, in: R H E 55, 1960, S. 819ff.). Zu Wekenborgs Lutherstudien siehe die ausführliche Kritik von F. Lau, P£re Reinoud und Luther — Bemerkungen zu Reinhold Wekenborgs Lutherstudien, in: LJB 27, I960, S.64 ff. Lau weist mit Recht auf die Haltlosigkeit vieler Thesen Wekenborgs hin, nicht zuletzt darauf, daß die Quellen Wekenborgs Vermutung, die Schuld am Observantenstreit im deutschen Augustinerorden trage Staupitz, nidit stützen können. Eine erneute Auseinandersetzung mit Weijenborgs Thesen wäre nicht ersprießlich. Das hindert nidit, daß Wekenborg im einzelnen mandie wichtige Quelle neu erschlossen und audi manches Bedenkenswerte vorgetragen hat.

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Luther

die sund müge tödten und die natur dempffen. Alßo ist es war, das keyn hoher, besser, grösser gelubd ist, dan der taufF gelubd, was kan man weyter geloben, dan alle sund vortreyben, sterben, diß leben hassen und heylig werden? Uber das gelubd mag aber sich eyns woll vorpinden yn eynen stand, der yhm füglich und forderlich sey zu seyner Tauf volnbrengung. Gleych als wan zween zu eyner Stadt wandeln, mag eyner den fußsteyg, der ander die land Straß gehen, wie es yhm am besten dunckt, Alßo wer sich an eelichen standt bindet, der wandelt yn des selben stands mühen und leyden, darynne er seyne natur beladet, das sie liebs und leyds gewone, sund meyde und sich zum tod deste baß bereyte, daß er nit ßo wol vormocht außer dem selben standt, Wer aber mehr leyden sucht und durch vill ubung will kurtzlich sich zum tod bereyten und seyne tauf werck bald erlangen, der pind sich, an die keuscheyt odder geystlichen orden, dann eyn geystlicher stand, wen er recht steht, ßo sol er voll leyden und marter seyn, das er mehr ubung seyner tauff hab, dann der ehliche stand, und durch solche marter sich bald gewene den Tod frolich zu empfahenn, und alßo seyner tauff end ubirkome." 2 Nach Denifle bedeutet diese Aussage Luthers, daß durch das Mönchsgelübde der Taufbund nicht bloß erneuert, sondern auch verstärkt werden soll, „indem wir desjenigen uns gänzlich entledigen, was uns wieder in die Botmäßigkeit des Teufels, dem wir in der Taufe entsagt haben, gebracht h a t " 3 . Andrerseits findet Denifle freilich, daß schon in der ersten Psalmenvorlesung eine gewisse Abweichung vom katholischen Mönchsideal begegnet. Sie besteht nicht nur in der scharfen Kritik an der Observanz, sondern auch darin, daß Luther den Wert der Gelübde geringer veranschlagt, als er nach katholischer Lehre und auch nach Luthers Äußerung im Taufsermon von 1519 ist 4 . Insbesondere vermißt Denifle bei dem Luther der frühen Vorlesungen Aussagen über die sog. zweite Taufe, die von Luther dann später merkwürdigerweise ganz in den Mittelpunkt seiner Kritik am Mönchtum gerüdkt worden sei. D a nach Denifle Luther noch 1519 die Mönchgelübde mit einer zweiten Taufe gleichsetzt 5 , ergibt sich eine in der T a t seltsame Entwicklung: während Luther in den frühen Vorlesungen zwar im ganzen korrekt das katholische Mönchsideal vertritt und sich bei ihm lediglich eine gewisse Erweichung in der Ansicht über die Bedeutung des Mönchtums feststellen läßt, lehrt Luther 1519 im vollen Sinne korrekt über das Mönchsideal, insbesondere auch über die Gelübde als eine zweite Taufe, um dann bald darauf im Jahre 1521 gerade den Punkt anzugreifen, den er selbst erst 1519 im katholischen Sinne voll erfaßt hatte. Denifle erklärt diese Wandlungen teilweise durch seinen gegen Luther erhobenen Vorwurf der Laxheit, teilweise aber auch durch die Behauptung, die Gleichsetzung der Gelübde mit 2 W A 2 , 7 3 6 , 1 ff. Siehe H . Denifle, Luther und Luth ertum in der ersten Entw icklung quellenmäß ig dargestellt, B d . l , 1904, S. 141. * H . Denifle, o p. c i t . , S. 151. 4 H . Denifle, op. cit., S. 90. s H . Denifle, op. cit., S. 151.

Stand der Forschung

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einer zweiten Taufe sei eben im Spätmittelalter nicht sehr verbreitet gewesen 6 . Was das Zweite betrifft, so ist Denifle auch von katholischer Seite dahin korrigiert worden, daß die Auffassung vom Mönchtum als einer zweiten Taufe im Spätmittelalter durchaus von vielen Theologen geteilt worden ist 7 . Sollte Luther tatsächlich eine doppelte Veränderung in seiner Stellungnahme zum Mönchtum durchgemacht haben, so hat Denifle jedenfalls keine ausreichende Erklärung dafür gegeben. Seine Auslegung der einschlägigen Äußerungen des jungen Luther, auch des Taufsermons, bedarf kritischer Nachprüfung; zugleich müssen die Aussagen des jungen Luther über das Mönchtum auf dem Hintergrund und im Zusammenhang mit der Theologie Luthers gesehen werden, damit sie recht gewürdigt werden können. Grisar folgt im ganzen der Linie Denifles. Freilich datiert er den Wendepunkt in Luthers Theologie anders. Während Denifle den reformatorischen Durchbruch auf das Jahr 1515 ansetzt 8 , fällt nach Grisar die Veränderung in der Frage der Heilsgewißheit in die Zeit 1518/1519 9 . Aber für die Beurteilung von Luthers Stellung zum Mönchtum ist diese verschiedene Datierung der reformatorischen Erkenntnis nicht von erheblicher Bedeutung. Grisar hat jedoch die Äußerungen des jungen Luther zum Mönchtum nach den verschiedenen Schriften getrennt behandelt und insofern eine sorgfältigere Analyse gegeben. Er findet in der ersten Psalmenvorlesung zwar manche Tendenz, die sowohl der gesamten katholischen Theologie als auch speziell dem monastischen Ideal fremd ist. Das gilt nicht nur für die Polemik gegen die Observanz, sondern auch für Luthers nach katholischer Sicht übertriebene Auffassung von der Sünde und von der Begierde. Aber es handelt sich dabei nach Grisar doch lediglich um Tendenzen. Ein Abweichen vom kirchlichen Bekenntnis läßt sich dagegen hinsichtlich des Mönchsideals in der ersten Psalmen Vorlesung nicht beobachten 10 . Ähnliches gilt nach Grisar auch für das Römerkolleg. Der Kampf gegen die Werkheiligkeit der Observanten ist hier zwar noch stärker geworden als in der Psalmenvorlesung. Zudem ist Luther jetzt zu der Auffassung gelangt, daß die menschliche Natur durch die bleibende Erbsünde ganz verderbt sei. Aber damit hat Luther doch noch nicht das katholische Mönchsideal ganz aufgegeben u . Wichtig ist dabei Grisars Hinweis, daß Luther trotz seines Kampfes gegen die Observanz in seinem Wittenberger Kloster selbst als Augustiner-Observant lebte: Luther ist, „solange er die Kutte getragen (seil, hat), selber Augustiner-Observant gewesen", und zwar „observantissimus" 12 . Nach Grisar richtet sich Luthers Kampf gegen die Observanz daher nicht einfach gegen die Observanz als solche, sondern gegen eine vermeintlich oder wirklich pharisäische Richtung 13 . 9

H. Denifle, op. cit., S. 152 ff. 8 Siehe o. S. 171. H. Denifle, op. cit., S. 453 ff. 8 10 H. Grisar, Luther, Bd. 1,1911, S. 304 ff. H. Grisar, op. cit., Bd. 1, S. 56. 11 12 H. Grisar, op. cit., S. 158 ff. H. Grisar, op. cit., Bd. 3,1912, S. 968. 13 Grisar, op. cit., Bd. 3, S.962, äußert, daß 1515/1516 die Spaltung in zwei Parteien in Luthers Orden nidit mehr vorhanden war, da Staupitz den Unionsplan habe fallen7

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Wie Denifle, so meint audi Grisar, daß Luther noch 1519 korrekt das katholische Mönchsideal vertreten habe, um dann erst 1521, und zwar ohne innere Vorbereitung, das monastische Ideal anzugreifen u . Nach Grisar ist zwar die doppelte Veränderung in Luthers Stellung zum Mönchtum nicht so stark gewesen wie nach Denifle, vor allem nicht diejenige von der Zeit der ersten Psalmenvorlesung bis zum Taufsermon. Aber grundsätzlich zeichnet Grisar die Entwicklung von Luthers Stellungnahme zum monastischen Ideal doch ähnlich wie Denifle. Von evangelischer Seite hat sich Anfang des Jahrhunderts zunächst vor allem O. Scheel mit den durch Denifle und Grisar angeschnittenen Fragen befaßt. In seinem Kommentar zu Luthers Schrift De votis monasticis iudicium15 und in seiner großen Biographie des jungen Luther 16 hat er mancherlei Material zusammengetragen. Allein, Scheel hat doch die Entwicklung von Luthers Kritik am Mönchtum nicht im Zusammenhang untersucht. Er beschränkt sich im wesentlichen darauf, die mancherlei von Denifle und Grisar erhobenen Vorwürfe zu entkräften sowie etwa die sog. Mönchstaufe zu untersuchen, wobei er allerdings auch hier nicht auf die Genesis derartiger Vorstellungen eingeht, sondern lediglich manche Belege liefert. Scheel scheint der grundsätzlichen Beurteilung von Luthers Stellung zum Mönchtum, wie sie Denifle und Grisar gegeben haben, zuzustimmen. Jedenfalls ist auch er der Meinung, daß Luther erst spät zu einer neuen Auffassung vom Mönchtum gelangt sei. Den Grund dafür sieht er darin, daß Luther durch die äußere Entwicklung seiner Auseinandersetzung mit Rom veranlaßt gewesen sei, zu ganz anderen Fragen Stellung zu nehmen als zu der des monastischen Ideals17. Einen wichtigen Beitrag zu Luthers Stellung zum Mönchtum gerade in der Frühzeit hat erst K. Holl geliefert. Neben der Widerlegung zahlreicher Anschuldigungen gegen Luther hat nämlich Holl auf das Problem aufmerksam gemacht, das der Begriff der Observanz in den frühen Vorlesungen enthält. Nach Holl hat Luther den Observantenstreit „nicht nur als eine Frage der Ordenspolitik und Ordensdisziplin, geschweige als eine Gelegenheit zum lassen. Gleichwohl hätten gewisse innere Gegensätze fortbestanden, und diese habe Luther aufgegriffen: „Seine Äußerungen zeigen ihn (seil. Luther) aber nach meiner Ansicht wiederholt als lebhaften Sprecher gegen eine Gruppe unter den Ordensbrüdern, denen er pharisäischen Geist vorwirft und ein starres Festhalten an Statuten, Privilegien und Exemtionen, die ihre ernstere Beobachtung der Regel schützen sollten und die der Observantenkongregation eigentümlich waren. Diese Stellung geht bei ihm parallel mit dem . . . Kampf gegen die .Selbstgerechten'. In beiden zusammen möchte ich einen Faktor bei der Ausgestaltung und Befestigung seiner Lehre von Werken, Glaube und Gnade erblicken." 14 H. Grisar, op. cit., Bd. 1, S. 397. 15 O. Scheel, Kommentar zu De votis monasticis, in: Luthers Werke, ed. Budiwald, Kawerau, Köstlin, Rade, Schneider, Ergänzungsband 2, 1905. " O. Scheel, Martin Luther, Bd. 2, 3. u. 4. Aufl., 1930 passim. 17 Ο. Scheel, Kommentar zu De votis monasticis, S. 138 f.

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persönlichen Vorwärtskommen, sondern religiös durchlebt"18. Nach Holl hat Luther für seine Stellung zum Mönchtum wohl manche Anregung aus dem Observantenstreit erhalten. Aber es gibt doch nadi Holl keine einzige Stelle in den frühen Schriften, an der sich Luther „gegen die Observanten als gegen eine parteimäßige Gruppe und gegen die Observanzen als etwas in Statuten Festgelegtes gewendet hat. Für ihn hat sich die Frage (seil, vielmehr) erweitert zu einer religiösen Frage, bei der es ihm nicht mehr um Staupitzianer und Nichtstaupitzianer, sondern um etwas viel Tieferes ging"19. Unter der Observanz versteht Luther demnach nicht eine bestimmte Partei, sondern „eine religiöse Denkweise, die sich in Wittenberg ebensogut finden kann wie in Erfurt, bei den Anhängern von Staupitz so gut wie bei den ihm Widerstrebenden, ja bei Laien ebensogut wie bei Mönchen"20. Damit ist die ganze Frage des Observantenstreites und Luthers Stellungnahme zu ihr in ein anderes Lidit gerückt. Die Stellen, an denen Luther von der Observanz spricht, müssen mit größter Vorsicht verwendet werden. Andererseits ist freilich die Frage, ob Holl mit seiner Behauptung, keine einzige Stelle in Luthers frühen Schriften wende sich unmittelbar gegen die Observanten als eine parteimäßige Gruppe, nicht zu weit gegangen ist. Holl hat darüber hinaus aber Luthers theologische Stellungnahme zum monastischen Ideal in einem anderen Lichte gezeigt. Holl meint, daß Luther bereits in der ersten Psalmenvorlesung die katholische Unterscheidung zwischen Geboten und evangelischen Räten grundsätzlich überwunden habe. Zwar weiß Holl, daß Luther sich gelegentlich noch dieser Terminologie bedienen kann. Aber nach Holl sieht Luther doch, „viel ernsthafter als Thomas, in den evangelischen Räten wirklich nur ein Mittel, um das für alle gleiche und für alle in gleichem Umfang verpflichtende Gebot zu erfüllen" 21 . Für Luther gilt die katholische Stufenordnung des Guten nicht mehr. Darum kann sich der Mensch von dem Ernst der göttlichen Forderung nicht dispensieren, indem er sie in Räte und Gebote differenziert. Vielmehr ist jeder Rat letztlich auch ein Gebot22. Allein, so sehr Holl Luthers neues Verständnis des ethischen Sollens, wie es sich schon in der ersten Psalmenvorlesung zeigt, herausgearbeitet hat, so hat er doch die von Denifle und Grisar angeführte Stelle aus dem Taufsermon von 1519 nicht beachtet. Von Holls Deutung der Psalmenvorlesung und des Römerkollegs her muß diese spätereÄußerungLuthers schlechterdings ganz unverständlich sein. Tatsächlich dürfte Holl das „Katholische" bei dem Luther der frühen Vorlesungen zu gering veranschlagt haben. 18

K.Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirdiengesdiichte, Bd. 1, Luther, 7. Aufl. 1948, S. 199 (dieser Aufsatz war zuerst 1919 veröffentlicht). 19 K. Holl, op. cit., S. 199 f. Anm. 1. Vgl. dazu audi Ο. Scheel, Luther und der angebliche Ausklang des „Observantenstreites" im Augustinereremitenorden, in: Festgabe für K.Müller, 1922,'S. 118 ff. 20 21 K. Holl, op. cit., S. 200 f. K. Holl, op. cit., S. 176 Anm. 3. " K.Holl,op.cit.,S.211.

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Von Holl abhängig ist die einzige ausführliche Erörterung23 von Luthers Stellung zum Mönchtum, die bisher erschienen ist, nämlich V.Sarenacs Untersuchung über „Luthers Kritik an den Mönchsgelübden bis zum Ablaßstreit"24. Sarenac ist der Meinung, daß Luther bis 1512/1513 durchaus noch auf katholischem Boden gestanden habe. Andererseits gilt es für Sarenac zunächst als Arbeitshypothese, daß Luther schon im Jahre 1517 seine ab23 Einige Hinweise auf Luthers Stellung zum Mönchtum finden sich bei Fr. Parpert, Das Mönchtum und die evangelische Kirche — Ein Beitrag zur Ausscheidung des Mönditums aus der evangelischen Soziologie, in: Aus der Welt christlicher Frömmigkeit, ed. Fr.Heiler, Bd. 10, 1930. Allein, diese Arbeit ist doch in keiner Weise genügend. Parpert geht es hauptsächlich um — in seiner Terminologie — soziologische Fragen. Dabei kommt er zu der Auffassung, daß die ideale Gemeinschaft des Klosters Luther den Anstoß für die spätere Bildung von kleinen Gemeinschaften gegeben haben wird. Im Kloster lernte Luther „den seelischen Wert einer kleinen Gemeinschaft kennen" (S.34). Eigenartig ist auch Parpens Meinung, daß der eigentliche Anstoß zur Aufhebung des Mönchtums nicht von Luther, sondern von anderer Seite ausging (S. 37). Man hat den Eindruck, als wolle Parpert hier Luther in Schutz nehmen. Aber die eigentliche theologische Problematik, um die es Luther bei der Frage des Mönchtums ging, ist Parpert ganz fremd geblieben. Darum kann Parpert zu einer so merkwürdigen Feststellung wie dieser gelangen, daß Luther das Mönchtum nicht „als Prinzip und Organisation im Ganzen" abgelehnt habe (S. 48). Parpert meint sogar, daß das Mönchtum — es ist ihm der „Kampfplatz der faustischen Naturen" — zeitlebens für Luther von positiver Bedeutung geblieben sei; Luther sei auch später noch innerlich Mönch geblieben, als er äußerlich den Bruch längst vollzogen hatte (S. 55). Um diese seltsame These zu vertreten, muß Parpert freilich behaupten, daß Luther bei seiner Kritik am Mönchtum über das Ziel hinausgeschossen habe (S. 55 f.). Immerhin gibt Parpert zu bedenken: „Wer wollte ihm das verargen? Wer so wie Luther im Kampfe stand, konnte nicht jede Äußerung auf die Wagschale legen" (ebd.). Schließlich sucht Parpert die These zu vertreten, daß die Sekten das Erbe des Mönchtums angetreten hätten. Insofern sei eben auch der Reformation letztlich das Mönchtum nicht fremd geblieben: „Die Reformation beseitigte das Mönchtum, aber sie beseitigte nicht die Motive, die Ideen, die in dem Mönchtum vorhanden waren. Eben darum erwies sich der Protestantismus als der günstige N ä h r boden der Sekte. Ist das Mönchtum, wie Troeltsch meint, die Verkirdilichung des Sektentypus, so wäre die Frage wohl zu überlegen, ob die Sekte dadurch überwunden werden könnte, daß man das Mönchtum wieder zu einem Bestandteil der evangelischen Soziologie macht" (S. 80). Bei solchen Anschauungen kann man wohl nicht erwarten, daß Luthers Kritik am Mönchtum audi nur mit etwas Verständnis geschildert wird.

Ähnliches gilt auch von der Arbeit von N.Heutger, Das Nachleben der alten monastisdien und stiftischen Formen in nachreformatorischer Zeit in Niedersachsen, Diss, theol. Münster 1959 (Maschinenschrift). Auch bei ihm zeigt sich eine merkwürdige Unklarheit in der Erfassung dessen, worum es Luther bei seiner Kritik am Mönchtum ging. Nach Heutger hat Luther „nicht das Mönchtum als Lebensform angegriffen" (S. 17). Auch Heutger meint (S. 22), daß Luthers Kritik oft übersteigert sei. Aber er glaubt doch, daß Luther die Klöster als solche nicht beseitigen wollte, und meint diese These dadurch beweisen zu können, daß eine Reihe von Klöstern auch nach der Reformation für einige Zeit als Klöster erhalten blieben. Allein, um eine theologische Würdigung von Luthers Kritik am Mönchtum bemüht sich Heutger so wenig wie Parpert. — In kürzerer Form liegt Heutgers Arbeit jetzt gedruckt vor: Evangelische Konvente in den weifischen Landen und der Grafschaft Sdiaumburg. Studien über ein Nachleben klösterlicher und stiftischer Formen seit Einführung der Reformation, 1961. 24 Diss, theol. Jena 1940, gedr. Jena 1940.

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schließende Einstellung gegenüber dem Mönchtum gewonnen habe, wenn er auch, wie Sarenac zugeben muß, erst im Jahre 1521 den äußeren Bruch vollzogen habe. Sarenac findet seine Arbeitshypothese durch den Gang seiner Untersuchung vollkommen bestätigt. Was die wesentlichen Grundlagen des Mönchtums betrifft, wie die Auffassung über Gebote und Räte oder die Anschauung über die Gelübde oder auch das Demutsideal, so zeigt sich nach ihm allenthalben, daß Luther eigentlich schon vor 1517 mit dem Mönchtum brach. „Luther hat längst vor dem Ablaßstreit seine Stellung zum Mönchtum und zu den Mönchsgelübden geändert, und zwar im Zusammenhang mit seinem inneren Umschwung, mit seiner Einsicht in den rechtfertigenden Glauben, im Sinne seiner Rechtfertigungslehre."25 Sarenac sucht diese Behauptung durch eine eindringende Untersuchung der Aussagen des jungen Luther zu erweisen. Freilich muß Sarenac faktisch doch manche Widersprüche beim jungen Luther zugeben. Auf der einen Seite erklärt Sarenac, daß Luther schon in der ersten Psalmenvorlesung seine neue Auffassung von der Demut ausgebildet habe: „Der Grundgedanke des Demutbegriffes bei Luther ist der, daß der Mensch nichts, Gott aber alles sei."26 In einer Anmerkung zu eben diesem Satz liest man dann jedoch: „Dieser Gedanke (seil, über die Demut) findet sich allerdings auch bei Augustin."27 Oder, Sarenac äußert in Ubereinstimmung mit Holl, daß Luther bereits in der ersten Psalmenvorlesung die Unterscheidung zwischen Räten und Geboten aufgegeben habe, muß dann aber doch einräumen, daß zumindest terminologisch diese Differenzierung bei dem jungen Luther doch noch begegnet28. Was die Institution des Mönchtums als solchen betrifft, so sagt Sarenac mit Bezug auf die erste Psalmen Vorlesung: „Merkwürdig ist es, daß Luther seit den ,Dictata' den Mönchen immer die ,Werkheiligkeit' vorgeworfen hat. Er verurteilt die Mißbräuche und Übelstände der Mönche, aber ohne ihre Institution anzutasten."2® Hinsichtlich der Gelübde findet Sarenac es durchaus befremdlich, daß Luther des öfteren von der Notwendigkeit spricht, die Gelübde zu erfüllen; er sei dazu meistens durch den Text der Psalmen veranlaßt worden, wo eben öfter des „Gelobet und haltet's" begegnet30. Allein, Denifles Hinweis, daß Luther sich im Unterschied zur Tradition sehr viel seltener über die Mönchsgelübde äußert, findet bei Sarenac keine Berücksichtigung81. Was die Römerbriefvorlesung betrifft, so meint Sarenac, daß sich hier bereits die wesentlichen Themen finden, die Luther später in seiner Schrift De votis monasticis judicium näher ausgeführt hat 32 . Auch der Berufsgedanke sei von Luther schon im Römerkolleg voll entfaltet worden 33 . Luther lehne zwar das Mönchtum noch nicht völlig ab, aber er wolle es doch „radikal umgebildet 25

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27

28

V. Sarenac, op.cit., S. 11. Sarenac, op.cit., S. 15 Anm. 11. 29 Sarenac, op. cit., S. 22. S1 Siehe o. S. 202. " Sarenac, op. cit., ebd.

30 32

Sarenac, op.cit., S. 15. Sarenac, op.cit., S. 16. Sarenac, op. cit., S. 23. Sarenac, op. cit., S. 55.

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und reformiert sehen" 34 . Sarenac sieht selbst den Widerspruch, der zwisdien einer gewissen Bejahung des Mönditums und diesen radikalen Reformgedanken besteht. Er meint diesen Widerspruch dahin lösen zu können, daß Luther nicht mehr an dem damaligen mittelalterlichen katholischen Mönchtum gehangen habe 35 . Das Mönchtum, das Luther vor Augen geschwebt habe, sei eben ein schlechterdings neues Mönchtum gewesen, das nicht mehr seiner Rechtfertigungslehre widerspreche: wenn der Christ „fest überzeugt ist, daß für die Rechtfertigung und Gerechtmachung allein der Glaube erforderlich ist, dann kann er sich aus freiem Antrieb — aus Liebe zu Gott — zum Knechte machen. Nur dann kann der Christ in das Mönchtum eintreten und die Mönchsgelübde ablegen" 36 . Die Erfüllung der Mönchsgelübde ist eben nur im Glauben möglich37. Andererseits findet Sarenac doch wieder, daß Luther auch noch in seiner Römerbriefvorlesung „von den heroischasketischen Elementen des uralten Mönchtums beeinflußt" sei38. Der Schluß, der sich aus alledem ergibt, kann nach Sarenac nur der sein, daß Luther das katholische Mönchtum ablehnt, daß er aber noch ein Reformmönch tum gelten läßt. Erst als Luther später sehen mußte, daß das katholische Mönchtum sich als irreformabel erwies, sprach er in der Schrift De votis monasticis iudicium sein endgültiges Nein gegen das Mönchtum in jeder Form 39 . Sarenacs Arbeit leidet somit im ganzen daran, daß sie über die Annahme einer Reihe mehr oder weniger erheblicher Widersprüche beim jungen Luther nicht hinausführt und ihre Thesen über eine grundlegend neue Stellungnahme gegenüber dem Mönchtum letztlich nur statuieren, nicht aber begründen kann. Daß sich bei Luther in den frühen Vorlesungen teilweise außerordentlich scharfe Kritik am Mönchtum findet, daß man manchmal geradezu den Eindruck hat, als könne es für den Luther der ersten Psalmenvorlesung und des Römerkollegs im Grunde kein Mönchtum mehr geben, ist ohne weiteres zuzugeben. Aber neben der Abhängigkeit von Holl, die bei Sarenac reichlich weit geht, ist zu bemängeln, daß er sein Thema auf die Zeit vor dem Ablaßstreit eingegrenzt hat. In dem von Denifle herangezogenen Taufsermon von 1519 ist jedenfalls von einer Ablehnung der vorfindlichen katholischen Orden und Klöster nicht die Rede. Vielmehr heißt es dort ganz allgemein, daß jeder sich prüfen solle, ob er sich an die Keuschheit oder die geistlichen Orden binden wolle 40 . Hätte Sarenac diese Aussage, die bei dem Luther der Zeit von 1519 nicht ganz isoliert dasteht, berücksichtigt, so hätte er zu anderen Ergebnissen auch hinsichtlich der frühen Vorlesungen kommen müssen. Vor allem aber ist schon gegen den Titel der Arbeit von Sarenac einzuwenden, daß sich bei Luther in der Zeit vor dem Ablaßstreit keine grundsätzliche Kritik an den Mönchsgelübden findet. Eine solche Kritik begegnet bei Luther vielmehr " Sarenac, op. cit., S. 59. " Sarenac, op. cit., S. 64 f. 58 Sarenac, op. cit., S. 66. 4 0 Siehe o. S. 201 f.

Sarenac, op. cit., S. 60. Sarenac, op. cit., S. 65. " Sarenac, op. cit., ebd.

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erst seit 1520. Eine andere Frage ist freilich, ob Luther in der Zeit vor 1517 die Gelübde noch in dem gleichen Sinne versteht wie die katholische Kirche. Sarenac hat auch hierzu einige Beiträge geliefert, sie aber von vornherein unter ein falsches Vorzeichen gestellt. In der neueren Forschung wird die Stellung des jungen Luther zum Mönchtum anders gesehen als von Sarenac. Zwar fehlt es an einer speziellen Untersuchung über Luthers Kritik am Mönchtum. Aber in einigen Arbeiten über verwandte Themen begegnen auch manche Exkurse über Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchtum. W. Jetter hat in seinem Buch über „Die Taufe beim jungen Luther" dargelegt, daß die Taufe für den jungen Luther von neuem fundamentale Bedeutung für das gesamte christliche Leben gewonnen hat 41 . Andererseits hat Jetter freilich auf den eigenartigen Tatbestand aufmerksam gemacht, daß im Zentrum der Theologie schon des jungen Luther fast ausschließlich das Wort steht, nicht das Sakrament. Uber das Sakrament äußere sich der junge Luther „auffallend selten, obwohl er sich seiner intensiv bedient". Jetter sieht darin „ein bedeutsames reformatorisches Symptom" 42 . Zur Erklärung dieser Zurückhaltung des jungen Luther gegenüber dem Sakrament verweist Jetter einmal auf „das in den Klosterkämpfen erfahrene Versagen des herkömmlich praktizierten und verstandenen Sakraments", sodann auf „die in Luthers Mönchtum sich ausdrückende existentielle Leidenschaft seines Theologietreibens überhaupt" 43 . Nach Jetter hat sich für Luther „der allgemeine, von Geburt bis Tod sakramental geheiligte Weg" als nicht ausreichend erwiesen. Darum sei Luther den Weg des Mönches gegangen. Das Mönchtum habe im Grunde stets eine gewisse antisakramentale Spitze gehabt, indem diejenigen, die sich für das Mönchtum entschieden, sich nicht mit den Sakramenten hätten begnügen können. Zwar sei das Mönchtum verkirchlicht worden, und insofern sei auch die antisakramentale Spitze des Mönchtums niemals voll zur Auswirkung gelangt. Gleichwohl sei sie stets vorhanden und auch wirksam gewesen. „Der Weg zum Heil blieb einerseits Weg zum Sakrament, wurde aber andrerseits mehr und mehr als Weg zur rechten Disposition fürs Sakrament verstanden." Das Sakrament sei also als Ziel angesehen worden, jedoch nicht mehr als Heilsbedingung. „Im Grund genommen hatte das Mönchtum, wenn es der sicherste Weg war, der Heilsbedingung zu genügen, damit schon mehr in sich als das Sakrament. Darum konnte sich hier das geistliche Leben sammeln und entfalten, während der Sakramentsgebrauch immer mehr zum bloßen Rahmen verblassen konnte." Jetter meint, diesen Tatbestand sowohl bei Staupitz als audi beim jungen Luther feststellen zu können 44 . 41 W. Jetter, Die Taufe beim jungen Luther — Eine Untersuchung über das Werden der reformatorisdien Sakraments- und Taufanschauung, in: Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 18, 1954. Siehe dazu die Rezension von E.Bizer, in: ZKG 67, 1956, S.341 ff.; sowie E.Bizer, Die Entdeckung des Sakraments durch Luther, in: Ev.Th. 17, 1957, S.64ff. 42 44 W. Jetter, op. cit., S. 337. « W. Jetter, op. cit., ebd. W. Jetter, op. cit., S. 128 f.

14 8016 Lohse, Mönchtum

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Sollte sich Jetters These über die Bedeutung des Mönchtums für die Sakramentsanschauung des jungen Luther als richtig erweisen, so wäre von der älteren Forschung die Stellung des jungen Luther zum monastischen Ideal falsch, gezeichnet worden, und zwar nicht nur insofern, als man das Hervorbrechen der neuen Auffassung vom Mönchtum zu früh angesetzt hätte, sondern auch insofern, als man die Bedeutung des Mönchsideals für den jungen Luther völlig verkannt hätte. Allein, es ist doch gegen Jetters sonst sorgfältige Untersuchung einzuwenden, daß diese These über die Bedeutung des Mönchtums für den jungen Luther ohne Begründung aus den Quellen und auch ohne Auseinandersetzung mit der Forschung vorgetragen worden ist. Sie läßt sich nicht halten. Man wird mit sehr viel mehr Recht das Gegenteil behaupten können, daß nämlich der junge Luther das monastische Ideal im Unterschied von der Tradition schon früh mit der Sakramentsauffassung, insbesondere mit der Taufe, verbunden hat. Damit fällt dann zugleich die Erklärung hin, die Jetter für die Zurückhaltung des jungen Luther gegenüber dem Sakrament gegeben hat. Diese ist viel stärker, als Jetter sieht, durch die Bedeutung bedingt, die das Wort für den jungen Luther hat. Neuerdings hat sich U.Mauser in seiner Dissertation „Der Häresiebegriff des jungen Luther" auch mit Luthers Stellung zum Mönchsideal befaßt, und zwar vor allem von der Seite der kritischen Äußerungen Luthers über das Mönchtum her. Mauser weist in seiner Arbeit nach, daß sich bei Luther schon in der ersten Psalmenvorlesung eine neue Auffassung über das Wesen der Häresie beobachten läßt. Ja, die Ansätze lassen sich bereits in den Randbemerkungen aus den Jahren 1509/1510 feststellen. Schon hier gelangt Luther zu der Ansicht, „daß äußere Erfüllung religiöser Pflichten und Bräuche eine Decke sein kann für grundverdorbene Religion" 45 . „Von den großen Leitbegriffen, die gewöhnlich das Verständnis der Häresie festlegen, wie traditio, doctrina, auctoritas etc., ist (seil, dagegen) gar keine Rede." 4 6 Die Häresie ist für Luther nicht mehr ein Faktum, das sich an Hand gewisser Obiectiva feststellen läßt, sondern bezeichnet eine innere Haltung gegenüber dem Wort. In der Psalmenvorlesung ist dieses neue Verständnis der Häresie verstärkt zu beobachten. „Häretisch ist für den Luther der ersten Psalmenvorlesung jeder Versuch, die Welt abgesehen vom Kreuz Christi verstehen zu wollen. Das bedeutet zunächst, daß die Christologie aufgehört hat, ein dogmatischer Locus neben anderen zu sein." Vielmehr ist das Kreuz Christi für den Luther dieser Zeit „das Zeichen der Verborgenheit aller Dinge unter ihrem Gegenteil. Es kann keine Frage sein, daß hierbei viel mönchisches, mystisches und asketisches Gedankengut mitschwingt"47. Mit 4 5 U.Mauser, Der Häresiebegriff des jungen Luther, Diss, theol. Tübingen 1956/1957 (Masdiinensdirift), S. 47. — Die Dissertation von R. Sdiwarz, Fides, spes und Caritas beim jungen Luther unter besonderer Berücksichtigung der mittelalterlichen Tradition, 1962, geht nur ganz gelegentlich auf die Fragen des Mönchtums und des Mönchsideals ein. 47 U. Mauser, op. cit., S. 77. *" U. Mauser, op. cit., S. 47.

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anderen Worten, das Wesen der Häresie besteht für den jungen Luther in der superbia, während umgekehrt das Wesen des Glaubens in der humilitas zu sehen ist. Dabei ist die humilitas für Luther nicht mehr eine Tugend, sondern ist die unter dem Gericht Gottes erfahrene annihilatio. Mauser betont, daß Luther bei diesen Gedanken bis zu einem gewissen Grade von Bernhard von Clairvaux abhängig ist, aber doch sogleich über ihn hinausgegangen ist, indem er unter der humilitas keine bloße vilificatio, sondern eben die annihilatio verstanden hat 48 . Mauser hat darüber hinaus auch Luthers Äußerungen zum Observantenstreit einer Prüfung unterzogen. Er knüpft hier an die Ergebnisse von Holl an. Wie Holl meint audi Mauser, daß die gelegentlich in den Randbemerkungen der Jahre 1509/1510 begegnenden kritischen Aussagen über die Observanz zunächst eine religiöse Haltung meinen. Zwar will Mauser die Möglichkeit nicht ausschließen, daß Luther audi die Zwistigkeiten im Augustinerorden mit im Auge gehabt habe. Aber er weist doch darauf hin, daß der eigentliche Observantenstreit, der durch das im Jahre 1510 veröffentlichte Unionsedikt ausgelöst wurde, erst im Herbst 1510 begonnen hat. Aus diesem Grunde lege sich eine Bezugnahme auf die Observanten des Augustinerordens hier nicht nahe49. Auch die in der ersten Psalmen Vorlesung begegnenden Äußerungen gegen die Observanz seien zum großen Teil nicht auf die Ordenspartei der Observanten zu beziehen, sondern richteten sich ebenfalls noch gegen eine religiöse Denkweise. Luthers Kampf gegen die observantia könne daher nicht einfach ordenspolitisch verstanden werden, nämlich im Sinne einer Absage an die renitenten Observanten im Streit der deutschen Augustinerkongregation50. Trotzdem sieht Mauser, daß manche Aussagen Luthers zu Fragen des Mönchtums konkret zu verstehen sind. Das gilt nach Mauser vor allem für Äußerungen über den Gehorsam, die durchaus den Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten im Kloster im Auge haben. Darum könne auch die Polemik Luthers nicht nur in religiösem Sinne gedeutet werden, man dürfe sie vielmehr von den ordenspolitischen Verflechtungen nicht trennen61. Mauser entscheidet sich nun dahin, daß bei Luther hier eine langsame Veränderung eingetreten sei: anfänglich meinte Luther, wenn er von der Observanz sprach, etwas rein Religiöses; mit der Zeit habe er aber auch an die ordenspolitischen Zwistigkeiten gedacht. Insofern gehe Luther mit seinem scharfen Urteil über die „Observanz" als religiöse Richtung auch gegen die „Observanz" als ordenspolitische Riditung an52. Was sdiließlich das Mönchtum als solches betrifft, so meint Mauser, daß Luther in der ersten Psalmenvorlesung noch nicht eine völlig neue Auffassung vertrete. Immerhin beginnt hier dodi „bereits, ohne daß er (seil. Luther) sich selbst dessen bewußt ist, seine Kritik am Mönchtum" M . Den Ausgangs48 49 51

14*

U. Mauser, op. cit., S. 80 und 175 Anm. 252. 50 U. Mauser, op. cit., S. 48. U. Mauser, op. cit., S. 83 ff. 52 äS U.Mauser, op.cit., S.86f. U.Mauser, op.cit., S.88. U.Mauser, op.cit., S.93.

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punkt für die Kritik sieht Mauser „in einem vom Kreuz Christi her begründeten Verständnis des Gerichtes Gottes von soldier Strenge und absoluter Gewalt, daß es die Basis des mönchischen Lebens, die menschliche humilitas, von innen her zersetzt" M . Mauser hat sich damit vorsichtiger ausgesprochen als Holl und Sarenac. Gleichwohl berücksichtigt audi er nicht die späteren Aussagen Luthers aus dem Jahre 1519. Demnach ist man gegenwärtig noch weit von einer Übereinstimmung in dem Urteil über Luthers Stellung zum Mönchtum in den Jahren nach 1513 entfernt 55 . In der Tat bedürfen die Ergebnisse der bisherigen Forschung kritischer Nachprüfung. Das gilt sowohl für die Untersuchungen von Holl und Sarenac als auch für die neueren Arbeiten von Jetter und Mauser. Auf der einen Seite ist stets im Auge zu behalten, daß Luther noch 1519 den mönchischen Weg empfehlen konnte, wenn auch die Exegese dieser Aussage bei Denifle und Grisar schwerlich hinreichend sein dürfte. Auf der anderen Seite ist aber das Axiom, daß der junge Luther in den Randbemerkungen sich noch nicht kritisch über die Observanz habe aussprechen können, da der eigentliche Observantenstreit noch nicht begonnen habe, ebenfalls kritisch zu überprüfen. Denn es läßt sich zeigen, daß es im Orden der Augustinereremiten bereits im 15. Jahrhundert manche Kritik an der Richtung der Observanz gegeben hat, die gerade aus Kreisen ernster Mönche herrührte, daß also eine ähnliche, wenn auch vielleicht schärfere Kritik bei Luther in der Zeit von 1509/1510 nicht schlechterdings ein Novum darstellt. Damit soll jedoch nicht gesagt werden, daß alle Äußerungen des jungen Luther über die observantia nur die ordenspolitische Richtung der Observanten meinen. Aber man wird hier doch in stärkerem Maße mit einer Bezugnahme auf die Ordensstreitigkeiten rechnen müssen, als das in der bisherigen Forschung zugegeben ist. Schließlich sind selbstverständlich die Untersuchungen von E. Bizer über die Entdeckung der iustitia Dei durch Luther stets im Auge zu behalten 56 . Wenn auch die Frage nach dem Zeitpunkt der reformatorischen Entdeckung Luthers hier nicht ausführlich erörtert werden kann, so sind Bizers Untersuchungen über das humilitas-Ideal des jungen Luther doch für Luthers Auseinandersetzung mit dem monastisdien Ideal schlechthin von Bedeutung. 84

U.Mauser, op. cit., S. 80. Aus der Literatur der letzten Jahre, in der Luthers Auseinandersetzung mit dem Möndisideal nur kurz behandelt worden ist, sei noch genannt: C.Stange, Die Anfänge der Theologie Luthers, 1957; nach Stange bewegen sich Luthers Ausführungen in der ersten Psalmenvorlesung noch ganz in den Bahnen des Mönditums (S. 31 f.). D.Löfgren, Die Theologie der Schöpfung bei Luther, 1960, geht zwar gelegentlich audi auf Luthers Kritik am Mönchtum ein, behandelt jedoch nicht die Frühzeit (S. 112 ff.). Schließlich finden sich einige Hinweise bei W. H. Lazareth, Luther on the Christian home, an application of the social ethics of the Reformation, Philadelphia 1960. S. 160 ff. erörtert Lazareth Luthers Stellung zum Mönditum in der Zeit von 1519—1521, S. 180 ff. die Entwicklung von Luthers Auffassung über die Ehe, ebenfalls von 1519 ab. Auf die Frühzeit geht Lazareth jedodi nidit ein. 58 E. Bizer, Fides ex auditu, 1958, 2. Aufl. 1961. 55

Β.  D I E  R A N D B E M E R K U N G E N  Z U  A U G U S T I N  U N D  P E T R U S  L O M B A R D U S  (1509—1510) 

1. In  Luthers  fr٧hesten Δuίerungen,  den  Randbemerkungen  zu  Augustin  und  Petrus  Lombardus,  finden  sich  nur  verhδltnismδίig  wenige  Aussagen  ٧ber  das  Mφnchtum  und  das  monastische  Ideal.  Der  fragmentarische  Cha­ rakter  dieser Randbemerkungen  gibt daher Veranlassung,  sie nur  mit  groίer  Vorsicht  auszuwerten.  Man  kann  aus dem  Fehlen  bestimmter  Vorstellungen  nicht  ohne  weiteres  Schl٧sse  darauf  ziehen,  daί  Luther  die  entsprechenden  Gedanken  des  mittelalterlichen  monastischen  Ideals  nicht  mehr  geteilt  hat.  Andererseits  d٧rfte  kein  Zweifel  bestehen,  daί  Luther  bereits  in  diesen  Randbemerkungen  manche  neuen  Ansichten  δuίert.  Das  d٧rfte  die  neuere  Forschung gezeigt haben. Wenn Luther im ganzen  auch noch im Rahmen  der  ihm  vorgegebenen  occamistischen  Theologie  verbleibt,  so  ist  er  doch  bei  manchen Einzelfragen bereits zumindest zu neuen  Fragestellungen,  gelegent­ lich  auch  zu  neuen  Erkenntnissen  vorgestoίen.  Insbesondere  lδίt  sich  hin­ sichtlich seiner Auffassung von  der S٧nde, vom Willen und  auch von der  Er­ kenntnisfδhigkeit  der  menschlichen  Vernunft  nachweisen,  daί  Luther  nicht  mehr  in  allem  die  Vorstellungen  der  Scholastik  teilt,  sondern  vielmehr  mit  grφίerer  Radikalitδt  nach  dem, was dem Menschen  mφglich  ist,  fragt 1 . Man  wird  daher von vornherein  Δhnliches auch f٧r Luthers Stellung zum  Mφndi­ tum  erwarten  d٧rfen.  Eine  grundsδtzliche  Δuίerung  zum  Mφnchtum  findet  sich  in  Luthers  Randbemerkungen  zu  Augustins  Schrift De vita  et moribus  clericorum.  Der  Humanist  Jakob  Wimpfeling  hatte  einige  Zeit  zuvor  in  seinem  Buch  De  integritate  kritische  Δuίerungen  ٧ber  die Echtheit  der  Predigten  Augustins  „An die Br٧der in der W٧ste" wie auch ٧ber die Echtheit der Regel Augustins  getan. Obendrein  hatte Wimpfeling gesagt, daί Augustin niemals Mφnch ge­ wesen  sei.  Ja,  Wimpfeling  hatte  es  sogar  gewagt,  darauf  hinzuweisen,  daί  weder  Mose  noch  Christus  noch  auch  die  Apostel  selbst  Mφnche  gewesen  seien;  auch  die  δltesten  Kirchenvδter  hδtten  noch nichts vom  Mφnchtum  ge­ wuίt.  Diese  Δuίerungen  des  kritischen  Humanisten  hatten  verstδndlicher­ weise allenthalben  einen  Sturm  der  Entr٧stung  hervorgerufen,  insbesondere  im  Orden  der  Augustinereremiten.  Gegen  Wimpfeling  wurde  die  Echtheit  sowohl  der Regel Augustins als auch seiner Predigten  „An  die Br٧der  in  der  W٧ste"  behauptet.  Luthers  Randbemerkung  zu  Augustins  Schrift De vita  et  moribus  clericorum  nimmt  nun  auf  diesen  Streit  Bezug.  Luther  steht  ganz  auf  Seiten  seines Ordens,  der  sich durch Wimpfeling unmittelbar  angegriffen  1   Siehe B. Lohse,  Ratio  und  Fides  —  Eine  Untersuchung  ٧ber  die  ratio  in  der  Theologie  Luthers,  1958,  S. 22 ff., bes. S. 29. 

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Luther, Randbemerkungen

f٧hlt. In  scharfen Worten  fordert er Wimpfeling auf, er mφge doch Augustins  Schrift  De  vita  et  moribus  clericorum  lesen,  dabei  jedoch  seiner  voreiligen  Vernunft Z٧gel anlegen.  Auίerdem  beruft sich Luther  auf  Hugo von  St. Vik­ tor,  der in  seinem  Kommentar  zur  Regel  Augustins  Worte  aus  den  Predigten  „An  die  Br٧der  in  der  W٧ste"  zitiert  und  insofern  auch  deren  Echtheit  be­ zeugt.  Ja,  Luther  wirft  Wimpfeling  vor,  er  wolle  die  Kirche  Gottes  korri­ gieren. Auch  meint  er, Wimpfeling sei bei seinem Vorgehen  von  superbia  ge­ leitet  gewesen2.  F٧r  Luthers  Stellung  zum  Mφnchtum  in  dieser  Zeit  ist  hierbei  nicht  nur  seine  schroffe Zur٧ckweisung  des  Angriffs von  Wimpfeling  bedeutsam,  son­ dern  auch  das  Festhalten  sowohl  an  der  Regel  Augustins  wie  auch  an  der  Schrift De  vita  et  moribus  clericorum.  Was  die  Regel  Augustins  betrifft,  so  wird Luther sie selbstverstδndlich  als Novize  gr٧ndlich  kennengelernt  haben;  sie  ist  ihm  von  Anfang  seines  Mφnchseins  an  vertraut  gewesen.  Hinsichtlich  der  anderen  Schrift Augustins  lδίt  sich  nichts  Genaues  sagen,  ob  Luther  sie  schon  lδngere  Zeit  vor  1509  oder  erst  kurz  vor  dieser  Randbemerkung  ge­ lesen  hat.  Allerdings  d٧rfte  es  naheliegen,  daί  Luther  auch  die  Schrift  De  vita  et  moribus  clericorum  schon  fr٧h  im  Kloster  studiert  hat 3 .  Luther  hat  also  damals  die in  diesen  Augustinschriften  ausgesprochenen  Gedanken  ٧ber  das  Mφnchtum  f٧r  sich  selbst  akzeptiert.  Jede  Kritik  sowohl  an  ihrer  Echt­ heit als auch an ihrem  Inhalt hat ihm  ferngelegen; sonst hδtte  er Wimpfelings  Ansicht  nicht  so  schroff  zur٧ckweisen  kφnnen.  Damit  haben  wir  einen  gewissen  Anhaltspunkt  f٧r  Luthers  Einstellung  gegen٧ber  dem  monastischen  Ideal  zu  dieser Zeit.  Freilich,  sehr  viel  lδίt  sich  daraus  doch nicht  entnehmen.  Denn  sowohl  die Regel  Augustins  als  auch  die  Schrift  De  vita  et  moribus  clericorum  geben  zwar  einige  Grundgedanken  ٧ber das monastische Leben  wieder,  enthalten  aber  doch nicht  die profilierten  Gedanken,  die Augustin  sonst  ٧ber  das monastische  Ideal  geδuίert  hat.  Was  die  Regel  Augustins  betrifft,  deren  Echtheit  hier  nicht  zu  erφrtern  ist,  da  Luther  sie fraglos f٧r edit  hielt,  so gibt  sie allgemeine  Belehrungen  ٧ber  den  Wert  des klφsterlichen  Lebens:  „Das  erste Ziel, um  dessentwillen  ihr  im  Klo­ ster  zusammen  wohnt,  ist,  daί  ihr  eintrδchtig  im  Hause  wohnt  und  daί  ihr  ein  Herz  und  eine  Seele  in  Gott  habt." 4  Aus  diesem  Grunde  soll  niemand  2 W A 9 , 1 2 , 7 ff. Hos duos sermones velim legeret Garrulus Blactero et Augustinianae gloriae Zoilus Vimpfelingus, sed admonitus prius ut rationem suam quae longo pertinaciae et invidiae morbo alio peregrinata est revocaret et specillum aliquod talpinis oculis suis adhiberet. Sperarem quod puderet saltern durissimam et impudicissimam frontem eius. Hugo itidem in Expositionibus regulae allegat verba Augustini ubi dixerat Augustinus „fateor de preciosa veste erubesco" etc. quae cum sint in sermonibus ad heremitas factis: Cur tu senex et frenetica larva Hugonem incusas? Cur ecclesiam dei corrigis? id est cur tarn impurissi'me mentiris? H o s scilicet non esse Augustini. Verbis virtutem illude superbis. 3 Diese Ansicht vertritt auch O. Scheel, Martin Luther, Bd. 2, 3. u. 4. Aufl. 1930, S.193. 4 Reg. Aug. cap. 1 Primum propter quod in unum estis congregati, ut unanimes habitetis in domo et sit vobis anima una et cor unum in Deo.

D i e concupiscentia

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etwas  sein  Eigen  nennen.  Weiter  wird  vor  Eitelkeit  gewarnt,  die  Pflicht  zu  regelmδίigem  Gebet  zu  den  festgesetzten  Zeiten,  die  Notwendigkeit  des  Fastens  und  ٧berhaupt  die  Bedeutung  der  Zucht  eingeschδrft;  nicht  zuletzt  wird  der  Gehorsam  betont,  der  dem  Vorgesetzten  zu  leisten  ist 5 .  Auch  was  in  De  vita  et  moribus  clericorum  steht,  f٧hrt  nicht  wesentlich  weiter.  Hier  wird  ebenfalls  das  gemeinsame  Leben  hervorgehoben,  welches  das  Vorbild  der  Urgemeinde  nachahmt®.  Niemand  nennt  etwas  sein  Eigen.  Man  hat  die  Hoffnung dieser Welt  verlassen  und  sich von  denen,  die  die Welt  lieben,  ab­ gesondert 7 .  Schlieίlich  wird  das  „Gelobet  und  haltet's!"  eingeschδrft  sowie  der  alte  Grundsatz,  daί  es gegebenenfalls besser  wδre,  nicht  zu  geloben  und  nicht zu  halten,  als zu  geloben  und nicht zu halten 8 .  Wohl  folgt hier ein  Hin­ weis  auf  den  hφheren  Wert  der  Jungfrδulichkeit  im  Vergleich  mit  der  Ehe,  aber  das  besondere  Profil  des  augustinischen  monastischen  Ideals  sucht  man  auch hier  vergebens. Man  kann  daher aus Luthers Verteidigung  dieser Schrif­ ten  gegen  den  Angriff  Wimpfelings  keine zu  weitreichenden  Schl٧sse  ziehen,  etwa  dahingehend,  daί  Luther  das  gesamte  monastische  Ideal  Augustins  da­ mals geteilt hδtte,  wie andererseits  aus dieser einen  Δuίerung  eine solche Be­ hauptung  auch  nicht  zu  widerlegen  ist.  Lediglich  soviel  lδίt  sich mit  Sicher­ heit  sagen,  daί  Luther  an  den  Gel٧bden  und  ihrem  besonderen  Wert  fest­ hδlt,  ohne diesen  freilich nδher zu bestimmen, und  daί  ihm  auch  das  augusti­ nische Gemeinschaftsideal wichtig gewesen  sein  muί,  begegnet  es doch  gerade  in  den  von  Wimpfeling in  ihrer  Echtheit bestrittenen  Schriften Augustins  so­ wie  in  der  von  Luther  hier  kommentierten  Schrift  Augustins.  2.  Weitere  Δuίerungen  zum  Mφnchsideal  finden  sich  im  Zusammenhang  mit  dem,  was  Luther  ٧ber  die Begierde  sagt.  Luther  versteht  unter  der  con­ cupiscentia  einen  „Ungehorsam  des  Fleisches,  die  S٧nde,  das  Gesetz  der  Glieder.  Das  alles  ist  nichts  anderes  als  ein  Mangel  an  fleischlichem  Gehor­ sam,  ist  doch  auch  die  Urs٧nde  ein  Nichts  oder  ein  Mangel  wie  auch  jede  s٧ndige  Tat,  sofern  man  sie  formal  betrachtet:  ihrem  Wesen  gemδί  ist  sie  jedoch  eben  die  Bewegung  des  Fleisches,  ja  das  Fleisch  und  Blut  selbst,  be­ raubt  der  Tugend  und  der  Gnade.  Deshalb  begehrt  das  Fleisch,  weil  es  von  der  Gnade  und  der  Tugend  verlassen  ist." 9  Hier  begegnet  weder  ٧ber  die  5 Ebd. cap. 11 Praeposito tamquam patri oboediatur, multo magis presbytero, qui omnium vestrum curam gerit. β Augustin, sermo 355,1,2. 7 Ebd. Spem quippe omnem saeculi reliqueram, et quod esse potui, esse nolui . . . Ab eis qui diligunt saeculum, segregavi me. 8 Ebd. 4 , 6 Vovete et reddite Domino D e o vestro et Melius est non vovere, quam vovere et non reddere. 0 W A 9 , 7 3 , 2 9 ff. concupiscentia est etiam inoboedientia carnis, peccatum, lex membro­ rum, quae omnia sunt nihil aliud nisi privatio oboedientiae carnalis, quia peccatum origi­ nale est Nihil seu privatio sicut omne peccatum quoad formale: quoad essentiale autem est ipse motus carnis immo ipsa caro et sanguis privata virtute et gratia. Ideo enim caro con­ cupiscit, quia est deserta a gratia et virtute.

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Luther,  Randbemerkungen 

concupiscentia  noch  ٧ber  die  S٧nde  als  solche  eine  grundlegend  neue  An­ schauung  bei  Luther.  Formal  betrachtet,  ist  die  S٧nde  ein  Nichts,  wesens­ mδίig jedoch  eine Bewegung  des Fleisches:  das ist weiter  nichts als der  scho­ lastisch  interpretierte  Augustin.  Man  wird  dabei  unter  „Fleisch"  wohl  vor­ wiegend,  wenn  auch  nicht  ausschlieίlich,  die  Leiblichkeit  des  Menschen  zu  verstehen  haben.  Diese  Interpretation  legt  sich  nicht  nur  darum  nahe,  weil  Luther  hier  nicht  Fleisch und  Geist  gegen٧berstellt,  sondern  nur  von  Fleisch  bzw.  von  Fleisch  und  Blut  redet,  sondern  auch  darum,  weil  die  S٧nde  oder  der  motus  carnis  wesentlich  als  Ungehorsam  des  Fleisches  angesehen  wird.  Hier  mag sich also ein Einfluί der bei Augustin  und  vielen  anderen  Mφnchs­ theologen begegnenden  Leibfeindlichkeit zeigen. Umgekehrt  lδίt  sich  daraus  aber  schlieίen,  daί  die  Übung  des  Gehorsams,  wie  sie  im  Mφnchtum  ge­ schieht,  gerade  f٧r  die  Z٧chtigung  des  ungehorsamen  Fleisches  ihre  Bedeu­ tung  hat,  das  Mφnchtum  also  als  Mφglichkeit  und  Gelegenheit  verstanden  wird,  die  S٧nde  auszutreiben.  Auf  der  gleichen  Ebene  liegen  auch  andere  Aussagen  ٧ber  die  concupis­ centia. Noch ist Luther nicht so weit, daί er die concupiscentia—freilich nicht  mehr  im mittelalterlichen  Sinne,  sondern  verstanden  als Idiwille  — mit  der  S٧nde  gleichsetzt.  Vielmehr  heiίt  es,  daί  die  Begierde  eine  Neigung  zum  Bφsen  sei.  Mit  Augustin  unterscheidet  Luther  dabei  die  concupiscentia,  so­ fern sie mit  Schuld verbunden  ist, von  der  concupiscentia,  sofern die Schuld  bereits  vergeben  ist.  In  diesem  zweiten  Sinne  kann  die  concupiscentia  den  Christen nicht mehr schaden, da Gott  seit der Taufe den Schuldcharakter  der  Begierde nicht  mehr  anredinet.  Immerhin  bleibt  doch  die concupiscentia  im  Sinne  einer  Gelegenheit  zum  Bφsen,  und  insofern  ist  der  Kampf  gegen  sie  von  entscheidender  Bedeutung,  also  der  Kampf  wiederum  gegen  das  „Fleisch"10.  Ausdr٧cklich  weist  Luther  die Meinung  ab,  als  wδre  diese  con­ cupiscentia  noch  als  bφse  zu  bezeichnen.  Das  lieίe  sich  nur  insofern  be­ haupten, als sie zuweilen Gelegenheit zur S٧nde gibt. Aber der Mensch ist im  ganzen  doch durch  die Taufe gleichsam  auf  den  Nullpunkt  versetzt,  so  daί  er,  ohne  durch  die Erbs٧nde wesentlich  behindert  zu  sein,  der  S٧nde folgen  oder  Gott  gehorsam  sein  kann.  Ungehorsam  freilich  zieht  Strafe nach  sich.  Ja,  der Mensch ist niemals frei von  Ungehorsam,  und  so erklδrt  es sich  audi,  daί  der Mensch jetzt  das Gebot  Gottes,  das er einst mit Leichtigkeit erf٧llen  10   WA 9,75,35 if.  Ecce  ex  his  omnibus  liquet,  quod  solum  reatus  solvitur.  Unde  videtur  Augustinus  concupiscentiam  dupliciter  capere,  primo  prout  includit  culpam,  et  sic  potest  dici  malum  in  came,  et  sic  forte  Magister  loquitur  de  peccato  originali.  Alio  modo  sinitur  cum  exclusione  culpae.  Et  sic  non  est  per  se  mala,  sed  est  poena  tantum  et  per  accidens  mala,  prout  anima  non  vincens  earn  peccat  ex  eius  inclinatione  et  pondere.  Unde  dicit  Apostolus,  quod  concupiscentia  non  nocet  his  (qui)  secundum  Christum  vivunt,  quia  non  est  malum  deleta  culpa,  sed  tantum  pondus  et  inclinatio  ad  malum  quam  sic  deus  esse  voluit  in  poenam  Adae.  Dupliciter  itaque  concupiscentia  seu  fomes  dicitur  malum,  primo  quia  habet  ipsum  malum  i. e.  absentiam  freni,  quod  est  iustitia  originalis.  Secundo  quia  est  occasio  mali  i. e.  peccati  actualis.  Sed  ipsa  neutrum  illorum  est,  cum  malum  sit  nihil. 

Das stete Fortschreiten

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konnte,  nur  unter  Schwierigkeiten  und  stδndigem  Widerstand  des  Fleisches  einhalten kann. So muί der Geist gegen das Fleisch kδmpfen  u .  Luther  spricht  sich  in  diesem  Zusammenhang  audi  ٧ber  den  Willen  aus:  ohne  Willensentscheidung  keine  bφse  Tat!  Jeder  bφsen  Handlung  geht  ein  bφser  Willensratschluί  voraus.  Freilich  kann  man  auch  das  Umgekehrte  sagen,  daί  die bφse Tat  nicht  aus  dem  Willen  kommt,  sondern  daί  aus  der  Tat  der  bφse Wille hervorgeht.  Auf  diese Weise bringt  Luther  das  enge  In­ einander von Willensentschluί und Tat zum Ausdruck, das sich rational nicht  auflφsen lδίt 12 . Dabei folgt die Strafe stets auf  dem Fuίe13.  Wenn  Luthers  Gedanken  sich hier  auch weitgehend  in  traditionellen  Bah­ nen  bewegen,  so  d٧rfte  dabei  doch  im  ganzen  die  Bedeutung  des  Willens  stδrker  veranschlagt sein. Der Wille dringt ٧berall  ein, und  so ist der Bereich  der nat٧rlichen  Krδfte geringer als f٧r die Scholastik. Freilich ist damit  doch  die Auffassung von  der Erbs٧nde, von  der concupiscentia  und  auch von  der  Bedeutung  des  Gehorsams  und  des  Ungehorsams  noch  nicht  grundlegend  anders.  Im  Gegenteil,  Luther kann  von  seiner theologischen  Gesamtanschau­ ung,  wie er  sie damals  hatte,  durchaus  das Mφnchsideal  der  Augustinerregel  bejahen.  3.  Auch  den  alten  Gedanken  des  Fortschreitens  teilt  Luther  in  seinen  Randbemerkungen.  Er  zitiert  das  Wort  Bernhards,  daί  Stillstand  schon  R٧ckschritt  bedeutet14.  Luther  wendet  diesen  Gedanken  auf  den  Stand  der  Unschuld  des ersten  Menschen  an:  hier  gilt,  daί  das Stehen  bereits  das  Ver­ bleiben im Stande der Unschuld bedeutet hδtte.  F٧r  Adam  trifft es also nicht  zu, daί Stillstand  audi R٧ckschritt bedeutet hδtte, wie in gleicher Weise auch  in der ewigen Seligkeit das Stehen nicht schon R٧ckschreiten ist. Aber  Luther  f٧gt mit Recht hinzu, daί Bernhard von Clairvaux seine Δuίerung mit  Hin­ sicht auf  unseren gegenwδrtigen  Stand  getan hat. Hier bedeutet  der Verzicht  auf  das Fortschreiten  in jedem  Falle R٧ckschritt,5.  11 WA 9,75,16 ff. illa concupiscentia in carne est nihil aliud nisi inoboedientia carnis ad spiritum quae de se non est culpa, sed poena, quia si esset aliquo modo culpa et non dimitti in baptismo diceretur, iniuria fieret baptismo et gratiae dei. Igitur ante baptisma est ei annexa culpa et reatus tanquam poenae temporali quae omnino manet post baptismum, et non est mala nisi occasionaliter inquantum ratio contra earn sibi in pugnam pro poena inoboedientiae primae relictam debet certare, ut quae prius cum facilitate potuit dei prae­ ceptum in omnibus carne oboediente sibi implere, nunc propter inoboedientiam suam in poenam cogitur cum difficultate et in omnibus renitente carne implere. 12 WA 9 , 8 0 , I f f . Nota: Magister dicit has duas mirabiles propositiones: A. Nec ex voluntate actio fit mala, sed actione voluntas fit prava . . . B. Nec omnis actio mala ex fine et ex voluntate mala est, sicut supra dictum est, intelligitur scilicet ex fine et ex voluntate illius finis, tarnen utique ex voluntate illius actionis actio est mala, cum nulla sit actio mala, cuius non praecesserit voluntas mala. 15 WA 9,78,14 Poena semper et tam cito est quam ipsum peccatum. 14 Siehe o. S. 119. 15 WA 9,69,36 ff. Stare est retrogredi, dicit b. Bernardus. Ergo si potuit tantum stare, non potuit manere innocens. Respondetur, quod stare in statu innocentiae non erat retro­

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Luther, Randbemerkungen

Auf  Grund  dieser  Stelle  ist  zu  fragen,  ob  Luther  damals  schon  einige  Schriften  Bernhards  aus  eigener  Lekt٧re  gekannt  hat.  In  der  Forschung  ist  bisher  die  Ansicht  vertreten  worden,  daί  Luther  vielleicht  in  der  Zeit  der  ersten  Psalmenvorlesung  mit  manchen  Gedanken  Bernhards  nδher  vertraut  war 1β .  Nun  ist  nat٧rlich  der  Gedanke  ٧ber  das  den  Mφnchen  aufgetragene  Fortschreiten  Allgemeingut  aller  Orden  und  aller  Mφnchstheologen  ge­ wesen,  so  daί  man  daraus  allein  keine  sicheren  Schl٧sse  f٧r  eine  Lekt٧re  Bernhards  durch Luther  ziehen  kann.  Luther  kann  diesen  Gedanken  aus  der  Belehrung  in  seinem  eigenen  Kloster  sowie  aus  der  Lekt٧re  anderer  Schrif­ ten,  in  denen  dieses  Wort  Bernhards  begegnet,  kennengelernt  haben.  Andererseits  ist  Luther  sich  doch  ٧ber  den  genauen  Sinn  der  Aussage  Bern­ hards  im klaren  und hebt  seine eigenen Erwδgungen  ٧ber  den  Stand  der  Un­ schuld  von  der  Meinung  Bernhards  deutlich  ab,  so  daί  es  durchaus  mφglich  erscheint,  daί Luther zu dieser Zeit bereits selbst manche Schriften  Bernhards  gelesen hat. Diese Vermutung  wird  dadurch  bestδtigt  und  verstδrkt,  daί  sich  bereits  in  den  Randbemerkungen  manche  Aussagen  gegen  die  ungeistliche  Sicherheit  finden,  die  unten  zu  erφrtern  sind  und  die  ebenfalls  auf  der  Linie  der  Bernhardschen  Gedanken  liegen.  4. Wichtig sind  alsdann  Luthers  Ausf٧hrungen ٧ber  Demut  und  Hochmut.  Auch  hier  handelt  es  sich  um  ein  altes  Thema  der  Mφnchstheologen.  Der  Mφnch  hat  in  gleicher  Weise  gegen  die  cupiditas  wie  gegen  die  superbia  zu  kδmpfen.  Luther  setzt  in  einer  Randbemerkung  zu  Petrus  Lombardus  Be­ gierde  und  Hochmut  in  gewisser  Hinsicht  gleich:  „Gleichwohl  kφnnte  man  sagen, daί  die superbia eben  die cupiditas  sei oder doch ihre Folge. Denn  was  ist  der  Wunsdi,  hφher  zu  stehen,  anderes  als  die  Begierde,  hφher  zu  stehen?  Wiederum  ist  jede Begierde  zugleich  Hochmut;  denn  wer  begehrt,  will  nach  eigenem  Gesetz  leben  und  sich  nicht  unterordnen." 17  Hochmut  und  Be­ gierde  —  das  waren  f٧r  Augustin  die  beiden  Wesensbestimmungen  der  menschlichen  S٧nde,  wobei  jedoch  f٧r  Augustin  faktisch  das  Moment  der  Begierde  die Überhand  gewann  ٧ber  das  des  Hochmuts  und  sich  von  daher  gredi. Sicut nec in beatitudine stare est retrogredi. Sed b. Bernardus loquitur de nostro statu, si saltern status et non potius fluxus est. 18 Siehe O. Scheel, Martin Luther, Bd. 2, 3. u. 4. Aufl. 1930, S. 192. Scheel äußert zu­ nächst, daß Luther „in diesen Jahren" (seil, der ersten Psalmenvorlesung) Bernhards Schriften gelesen haben könnte, sagt dann aber, darüber hinausgehend: „Dennoch würde der Vermutung nichts im Wege stehen, daß Luther die Predigten Bernhards schon in der ersten Klosterzeit durch eigene Lektüre kennen gelernt habe." U.Mauser, Der Häresie­ begriff des jungen Luther, Diss, theol. Tübingen 1956/1957, S. 14 meint: „Soviel steht . . . fest: Zur Zeit der ersten Psalmenvorlesung war Luther auf irgendeine Weise mit Ge­ danken Bernhards in Berührung gekommen", wobei Mauser insbesondere an Luthers Äußerungen im Psalmenkolleg gegen die ungeistliche Sicherheit denkt. 17

W A 9 , 8 1 , 3 1 ff. Tarnen posset dici, quod et superbia sit ipsa cupiditas vel effectus eius. N a m amor excellentiae quid est nisi cupido excellentiae? Rursus omnis cupiditas est super­ bia: quia qui cupit, vult propria lege vivere et non subesse.

Hochmut und Demut

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die gewisse Leibfeindlichkeit  seiner  Auffassung von  der  S٧nde  ergab,  so  daί  die  S٧nde  mehr  als  etwas  Leibliches  denn  als  etwas  Seelisches  verstanden  wurde.  F٧r  Luther  stehen  hier  superbia und  cupiditas  vollkommen  gleich,  ja  sie sind  im  Grunde  identisch.  Das  ist  nat٧rlich  noch  nicht  eine  neue  Bestim­ mung  des  Wesens  der  S٧nde,  aber  es  bedeutet  doch,  daί  die  Begierde  audi  schon  als  Ichwille  verstanden  wird.  Dieser  Ichwille  δuίert  sich  darin,  daί  man  nach  eigenem  Gesetz  leben  will,  sich  also  nicht  dem  Gesetz  Gottes  und  dem  Gesetz  der  Kirche unterordnen  will.  Dementsprechend  bedeutet  Demut  den Verzicht  auf  den Eigenwillen  und  die Unterordnung  unter  das  „fremde"  Gesetz. So sehr Luther  hier noch in  dem Rahmen  des monastischen  Ideals  des  Mittelalters  verbleibt,  so mag  man  doch  fragen,  ob hier  nicht  eine  Abwand­ lung  im  Verstδndnis  der  Begierde  insofern  vorliegt,  als  die  Begierde  als  die  eigentliche  S٧nde  und  die  S٧nde  als  Ichwille  verstanden  wird.  Jedenfalls  wird  man  soviel  mit  Sicherheit  sagen  d٧rfen,  daί  diese Randbemerkung  das  hieronymianische  Verstδndnis  der  Begierde  ausschlieίt.  Die  Begierde  ist  f٧r  Luther  nicht  primδr  der  sexuelle  Trieb,  sondern  viel  umfassender  der  Eigen­ wille  des  Menschen.  Daί  Luther  in  dieser  fr٧hen  Zeit  tatsδchlich,  schon  manche  Seiten  des  monastischen  Ideals  etwas  anders  verstanden  hat,  als  es  im  Mittelalter  die  Regel  war,  ergibt  sich  aus  einer  anderen  Δuίerung,  die  Luther  in  seiner  Fr٧hzeit  getan  hat,  die  allerdings  auf  das  Jahr  1512  zu  datieren  ist.  Luther  schreibt  in  einem  Brief  an  die  Erfurter  Augustinereremiten:  „Ich  verzichte  darauf,  mich  selbst  anzuklagen  und  auf  mein  eigenes  Ungen٧gen  hinzu­ weisen,  damit  ich nicht  etwa  den  Anschein  erwecke,  als  suchte ich  auf  Grund  meiner  Demut  insgeheim  den  Hochmut  oder  das  Lob." 18  Hier  offenbart sich  eine gewisse Skepsis  gegen  eine Uberbetonung  der Demutsforderung.  Luther  sieht sehr sdiarf,  daί  sich unter  dem  Gewδnde  der Demut  auch der  Hochmut  verbergen  kann 19 .  Deshalb  ist  gerade  der  Mφnch,  der  die  Demut  erstrebt,  nicht  gegen  die Gefahr  des Hochmuts  gefeit. Luther  sagt  hier  audi  nidit  nur,  daί  der Mensch nichts, Gott  aber alles sei. Vielmehr  geht  er ٧ber  die  traditio­ nelle  Auffassung  von  der  Demut  auch  eines  Bernhard  von  Clairvaux  hin­ aus,  indem  er  in  dem  Verlangen,  dem٧tig  zu  sein,  mφglicherweise  nur  eine  sublime  Form  des  Hochmuts  sieht.  Gewiί  hat  Bernhard  in  scharfer  Form  vor  falscher  Sicherheit  gewarnt  und  auch  die  Nichtigkeit  des  Menschen  be­ tont.  Aber  eine  solche  Δuίerung,  die  wie  hier  bei  Luther  die  accusatio  sui  als  mφgliche  Verh٧llung  der  superbia  sieht,  sucht  man  bei  Bernhard  ver­ gebens20.  Insbesondere w٧rde Luther  die Bernhardsche Definition der  Demut  18

W A B r l , Nr. 6 , 9 ff. (22. IX. 1512) omitto meam mei ipsius accusationem ac insuffi­ cientiam, ne etiam ex humilitate superbiam aut laudem quaerere videar. 19 H. v. Campenhausen, Reformatorisches Selbstbewußtsein und Geschichtsbewußtsein bei Luther 1517—1522, in: Tradition und Leben — Kräfte der Kirchengeschichte, Aufsätze und Vorträge, 1960, S. 320, sagt mit Bezug auf diese Stelle: „Den zweifelhaften Wert der mönchischen Demutsäußerungen hat er (seil. Luther) schon früh durchschaut." 20 Siehe o. S. 126 ff.

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Luther,  Randbemerkungen 

—  „Die Demut  ist die Tugend,  durch  welche der Mensch  sich wahrhaft  selbst  erkennt und  sich selbst gering wird" 2 1 — nicht mehr als ausreichend erscheinen,  obwohl  Luther  sich  ٧ber  das  Neue  in  seinem  Verstδndnis  der  Demut  nicht  im  klaren  zu  sein  scheint.  Kann  man  diese  Ansicht,  die  Luther  1512  δuίert,  bei  ihm  audi  schon  f٧r  die  Zeit  von  1509/1510  annehmen?  Faίt  man  die  kritischen  Bemerkungen  ins  Auge,  die  Luther  damals  ٧ber  zahlreiche  Theologen,  gelegentlich  sogar  ٧ber  Augustin  und  Petrus  Lombardus 22 ,  vor  allem  aber  ٧ber  Scotus,  Biel  und insgesamt  ٧ber  die moderni 23 macht und in denen er immer wieder  gegen  die Menschenweisheit  polemisiert,  so scheint das durchaus mφglich. Zudem  ist  Luther  bereits  in  der  Zeit  der Randbemerkungen  zu  der  Auffassung gelangt,  daί  eine  Vollkommenheit  des  Willens  wie  auch  des  intellectus  in  diesem  Leben  nicht  erlangt  werden  kann 24 .  Mag  Luther  die Ausf٧hrungen  des  Tho­ mas ٧ber  die in  diesem Leben  mφgliche Vollkommenheit  gekannt  haben  oder  nicht 25 ,  sachlich  weicht  Luther  auf  jeden  Fall  von  der  Auffassung  des  Tho­ mas  an  diesem  Punkte  ab.  In  dieser  K٧rze  und  Schδrfe  hδtte  sich  Thomas  nicht  ٧ber  die  nicht  zu  ٧berwindende  Unvollkommenheit  des  menschlichen  Willens  aussprechen  kφnnen.  Von  daher  darf  die  Vermutung  geδuίert  wer­ den,  daί  Luther  bereits  in  der  Zeit  der  Randbemerkungen  sachlich  ٧ber  Demut  und  Hochmut  δhnlich  gedacht  hat  wie in  dem  Brief  von  1512.  5. Daί  dem  tatsδchlich  so ist, d٧rfte auch  daraus  hervorgehen,  daί  Luther  sowohl  schon  1509/1510  als  auch  1512  in  seiner  Kritik  an  manchen  Miί­ stδnden  in  der  Kirche  einen  ganz  δhnlichen  Ton  anschlδgt.  Was  die Zeit  von  1512  betrifft,  so  sagt  Luther  in  seinem  Sermon  zu  Litzka,  daί  im  Volke  Christi  Zwietracht,  Zorn,  Miίgunst,  Hochmut,  Ungehorsam,  Begierde  usw.  herrschen,  wδhrend  die Liebe erkaltet,  der  Glaube  ausgelφscht und  die Hoff­ nung  entleert  ist2®.  Ja,  die  ganze  Welt  ist  voll  von  zahlreichen  und  ver­ schiedenartigen Lehren:  durch so viele Gesetze, so viele Meinungen  von  Men­ schen,  soviel  Aberglauben  wird  das  Volk  „eingedeckt"  statt  belehrt,  so  daί  das  Wort  der  Wahrheit  kaum  noch  leuchtet.  Dabei  sollten  doch  die  Priester  das Wort  der Wahrheit  im  Uberfluί  haben 27 !  22 »  Siehe  o.  S.126.    WA 9,6,12 ff.;  85,6 ff.    W A 9 , 4 3 , 2 2 f f .  u.φ.;  74,8  ff.;  7,32ff.  24   WA 9,14,14 f.  nulla  perfecta  voluntatis  in  hac  vita  potest  haberi  perfectio,  ita  nec  intellectus.  25   Zu  Thomas  siehe  o.  S. 153 ff.  28   WA  1,12,21  ff.  Mirari  nos  solemus,  tantam  in  populo  Christi  regnare  discordiam,  iram,  invidiam,  superbiam,  inobedientiam,  libidinem,  gulam,  penitusque  frigere  diaritatem,  fidem  extingui,  spem  evacuari.  27   WA  1,12,14  ff.  . . .  est  res  . . .  necessaria  —,  ut  sacerdotes  primo  omni  verbo  veritatis  abundent.  Scatet  totus  Orbis,  imo  inundat  hodie  multis  et  variis  doctrinarum  sordibus:  tot  legibus,  tot  opinionibus  hominum,  tot  denique  superstitionibus  passim  populus  obruitur  quam  docetur,  ut  verbum  veritatis  vix  tenuiter  micet.  Vgl.  ebd.  p. 13,9 ff.  23

Kri ti k an der Obse rv an z

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Die Kritik, die sich in den Randbemerkungen von 1509/1510 findet, steht sachlich nicht dahinter zurück. Luther wirft seinen Zeitgenossen vor, daß sie die Weisheit in Aberglauben festhalten, das heißt in der törichten und eitlen „observatio" oder in der überflüssigen, ja falschen „religio", so daß sie verrückte alte Weiber sind. Während sie allzu „religiös" sein wollen, werden sie abergläubisch, wie bei dem Sakrament der letzten Ölung deutlich ist. So verschlucken diese Verkehrten und Häretischen ein Kamel 28 . Weiter äußert er, daß diese Leute die Weisheit im Aberglauben beobachten (observant) oder suchen29. Hier ist zunächst bedeutsam, daß für Luther das Wesen der Häresie in einem zu streng religiösen Leben bestehen kann. Der Gedanke, den Luther in seinem Brief von 1512 äußerte, daß unter der Demut der Hochmut verborgen sein kann, begegnet hier in der Form, daß unter strenger religiöser Observanz sich Häresie verbergen kann. Für Luther ist Häresie also nicht ein äußerlich feststellbarer Tatbestand, jedenfalls nicht in erster Linie. Vielmehr versteht er unter Häresie eine bestimmte religiöse, allzu religiöse Lebensweise30. Aber darüber hinaus ist in unserem Zusammenhang wichtig, daß dieses Ubermaß an religiöser Lebensweise mit dem Begriff der Observanz bezeichnet wird. Es handelt sich um eine törichte und eitle Observanz, d. h. um eine überflüssige oder gar falsche Religion. Was ist hier unter der Observanz zu verstehen? In der Forschung besteht gegenwärtig Einmütigkeit, daß dabei nicht an die Observantenrichtung innerhalb des Ordens der Augustinereremiten zu denken sei. Diese These, die K.Holl sogar mit Bezug auf die gesamte erste Psalmenvorlesung verfochten hat 31 , ist von Mauser noch durch den Hinweis begründet worden, daß ja der eigentliche Observantenstreit erst im Herbst 1510 ausgebrochen sei, Luther also nicht bereits vorher gegen die Observanz habe polemisieren können32. Andererseits besteht u.E. freilich keine Frage, daß die Terminologie, deren Luther sich hier bedient, den Gedanken nahelegt, daß es sich doch um eine Ordensrichtung handelt. „Religio" war seit langem Terminus technicus für die monastische Lebensweise. Darüber hinaus ist festzustellen, daß kritische Äußerungen über die Observantenrichtung nicht erst mit Beginn des Streites in Luthers Orden datieren, sondern schon langevorher gemachtworden sind. Der bedeutende Augustinereremit Gottschalk Hollen (gest. 1481), der selber mit Nachdruck nicht nur die klösterliche Lebensform schlechthin, sondern speziell auch die Geltung 2 8 W A 9 , 3 0 , 2 3 f f . Habe n te s rationem sapientiae i.e . ipsam sapientiam in superstitione i.e . stulta et v an a observatione vel superflua (darübe r: fal sa) religione, ut delyrantes vetulae, dum nimium volunt esse religiosae, fiunt superstitiosae, utpatet in sacramento unctionis, Sic isti perversi et heretici Glutientes camelum etc. 2 9 W A 9 , 3 0 , 3 0 f f . Sicut illi non habent rationem sapientiae nisi in superstitione i .e . reputant sapientiam in superstitione esse sive observant vel quaerunt sapientiam in superstitione. 3 0 Siehe o. S. 210 ff. S1 Siehe o. S. 204 f. s 2 U . Mau se r, o p.cit., S. 4 8 ; vgl. audi S. 8 8 .

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Luther,  Randbemerkungen 

der Augustinerregel verteidigte33, hat doch gelegentlich den Hochmut und das falsche Selbstvertrauen mancher Observanten kritisiert. Er kann die Ge­ rechtigkeit solcher Religiösen mit der Gerechtigkeit der Pharisäer ver­ gleichen, um dann darauf hinzuweisen, daß für die Mönche das Wort des Herrn gilt: „Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, so sprecht: Wir sind unnütze Knechte" (Lk. 17,10) 34 . Deutlich hat Hollen auch vor dem Vertrauen auf die eigene Gerechtigkeit gewarnt. Er führt dabei verschie­ dene Gründe an: zunächst sei unsere Gerechtigkeit stets unsicher, sodann sei sie niemals rein, weiter sei sie nicht beständig, und schließlich sei es immer so, daß wir die Gerechtigkeit, die wir vielleicht haben, audi mißbrauchen. Darum kann er nur vor dem Vertrauen auf die eigene Gerechtigkeit warnen35. Solche Warnungen stehen in der Geschichte des Ordens der Augustiner­ eremiten nicht allein. Jordan von Sachsen (gest. 1370 oder 1380) konnte in seinem berühmten Werk Liber Vitasfratrum vor einer allzu rigorosen Diszi­ plin warnen. Dabei denkt er daran, daß man nicht in einen strengeren Orden übertreten solle, als ob man dort etwa das Verdienst des vollkommeneren Lebens gewinnen würde. Jordan sagt sogar, daß hier eine teuflische Ein­ gebung am Werk sein kann. Vielmehr hat jeder Mönch schon genug zu tun, wenn er sidi bemüht, die Anweisungen seines milderen Ordens genau zu be­ 33   Siehe  A. Zumkeller,  Die  Lehrer  des  geistlichen  Lebens  unter  den  deutschen  Augusti­ nern  vom  13. Jahrhundert  bis  zum  Konzil  von  Trient,  in:  Sanctus  Augustinus  Vitae  Spiri­ tualis  Magister,  Bd. 2,  o.J.  (1959),  S.  (239  ff.)  290  ff.,  bes.  S.295f.  34   Gottschalk  Hollen,  Sermonum  opus  II,  Hagenau  1520,  Sermo  16  C  (zit.  nach  Zum­ keller,  op. cit.,  S.294  Anm.211):  De  qua  nemo  debet  gloriari  et  praesumere,  sed  dicere  cum  Anaxagora,  qui,  cum  ceteri  philosophi  se  sapientes  fatebantur,  ipse  solus  se  dixit  amatorem  sapientie,  non  sapientem.  Sic  nullus  se  debet  dicere  iustum,  sed  amatorem  iustitie.  Contra  quod  faciunt  quidam  religiosi  multum  gloriantes  de  sua  observantia  et  iustitia,  ceteros  spernentes.  Contra  quos  Christus  Luc. 18,9f.:  „Dixit  ad  quosdam,  qui  in  se  confidebant  tamquam  iusti  aspernentes  ceteros:  Duo  homines"  etc.  Et  Luc. 17,10:  „Cum  omnia  bene  feceritis,  dicite:  Servi  inutiles  sumus."  35   Ebd.  Sermo  16  Β  (zit.  nadi  Zumkeller,  op.cit.,  S.295  Anm.213)  Nullus  enim  homo,  quantumcumque  iustus,  debet  de  suis  iustitiis  confidere  propter  quattuor.  Primo,  quia  nostre  iustitie  incerte  sunt. Nullus  enim  scire potest,  an  opera  sua  iusta  sint  vel  falsa:  l . C o r .  4,4:  „Nihil  mihi  conscius  sum,  nec  tarnen  in  hoc  iustificatus  sum."  Ideo  dicit  Job  9,21:  „Etiam  si  simplex  fuero,  hoc  ipsum  ignorat  anima  mea."  Super  quo  Gregorius:  Plerumque,  si scimus bona,  quae  agimus,  ad  elationem  ducimur,  si nescimus,  minime  servamus.  Secundo,  quia  nostre  iustitie  pure  non  sunt,  quia  semper  habent  aliquas  maculas  annexas.  Is. 64,6:  „Quasi  pannus  menstruate  universe  iustitie  nostre."  Ideo  dixit  Job 9,20:  „Si  iustificare  me  voluero,  os  meum  condemnabit  me",  quia  angelica  iustitia  impuritate  est  permixta.  Job  4,18:  „Qui  serviunt  ei,  non  sunt  stabiles  et  in  angelis  suis  reperit  pravitatem."  Tertio:  Nostre  iustititie  stabiles  non  sunt. Quia  „septies  in die cadit  iustuis", Prov. 24,16  et  Job  15,15:  „Ecce  inter  sanctos  eius  immutabilis  nemo."  Cuius  exempla  patent  in  casu  angeli  primi  hominis,  David,  Petri  et  cetera.  Quarto,  quia  abutimur  ea.  Eccle. 7,17:  „noli  esse  multum  iustus",  i.e.  crudelis.  Augustinus  in  homelia  X I V  (In  loa.Ev.Tract.95,2):  „Multum  enim  se  facit  iustum,  qui  dicit  se  non  habere  peccatum,  aut  qui  se  putat,  non  gratia  Dei,  sed  sua  voluntate  sufficienter  se effici iustum."  Hec  ille. 

Kritik an der Observanz

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folgen 3 '. Wichtig ist  dabei,  daί  der Begriff  „observantia"  nicht  als  Terminus  technicus  f٧r  eine bestimmte  Ordenspartei  gebraucht  wird,  sondern  den  all­ gemeinen  Sinn  von  „Einhaltung  der Regel"  hat.  Freilich lebte Jordan  gut  ein  Jahrhundert  fr٧her als  Gottschalk  Hollen,  und  bei  diesem  hatte  „observan­ tia"  eindeutig  den  technischen  Sinn.  Immerhin  ist  „observantia"  auch  bei  Jordan  im  Sinne  der  Ordensdisziplin  zu  verstehen.  Der  Sprachgebrauch  von  „observantia"  sowie  die  gelegentliche  Kritik  an  einem  Übermaί  an  mφnchischen  Übungen  legen  es  nahe,  auch  bei  Luthers  Randbemerkung  (WA  9,30,23 ff.)  „observantia"  im  monastischen  Sinne  zu  verstehen. Dar٧ber  hinaus  steht nichts der Vermutung  im Wege, hier  auch  an  die  ordenspolitische  Richtung  der  Observanten  zu  denken.  Luther  ist  nicht  der  erste  gewesen,  der,  obwohl  er  selbst  eine  strenge  Disziplin  vertritt  und  sie  f٧r  sich  auch  akzeptiert,  vor  den  Gefahren  einer  ٧bermδίigen  Zucht  warnt.  Gegen  die  von  Holl  u.a.  ausgesprochene  Annahme,  Luther  denke  ausschlieίlich  an  eine  religiφse  Richtung,  nicht  aber  an  bestimmte  Gruppen  seines  Ordens,  ist  zu  fragen,  wo  denn  diese  religiφse  Richtung  ihren  kon­ kreten  Ausdruck  findet.  Die kritischen  Bemerkungen,  die sich bei dem  jungen  Luther  in  den  Randbemerkungen  finden,  sind  ebenso  konkret  gemeint,  wie  die  spδter  von  dem  Reformator  vorgebrachte  Kritik  an  bestimmten  Miί­ stδnden  und  Lehren.  Aus  diesem  Grunde  entscheiden  wir  uns  daf٧r, bei  der  „observantia"  hier  an  die  Observanten  des  Ordens  der  Augustinereremiten  zu  denken.  Was  aber  ist  dann  der  genaue  Sinn  von  Luthers  Kritik  im  Vergleich  mit  den  kritischen  Bemerkungen  fr٧herer  Ordenstheologen,  wie  sie sich  bei  Jor­ dan  von  Sachsen  oder  Gottschalk  Hollen  finden?  Der  Kritik  der  Fr٧heren  und  derjenigen Luthers  ist gemeinsam  die Warnung  vor  pharisδischer  Selbst­ gerechtigkeit. Auch das Moment,  daί  man  dabei einer  Tδuschung  des Teufels  verfallen  kann,  begegnet  bei  beiden;  wenn  Luther  diesen  Gedanken  auch  nicht in gleicher Weise δuίert,  so ist er sachlich bei ihm  doch auch  vorhanden.  Luther  geht nun  aber  offenbar ٧ber  die Fr٧heren  hinaus,  indem  er in  diesem  Übermaί  an  Gerechtigkeit  nicht  nur  die  Gefahr  falscher  Selbsteinschδtzung  sieht,  sondern  in  ihr  auch  das  Moment  des Hδretischen  erf٧llt  findet.  So  ge­ wiί  Luther  noch  den  Wert  des monastischen  Gehorsams  und  der  Tφtung  des  Eigenwillens  bejaht,  so  kann  doch  gerade  der  Wunsch,  sich  selbst  preiszu­ geben  und  ausschlieίlich  nach  den  evangelischen  Rδten  zu  leben,  zu  einer  sublimeren  Form  der  Selbstbehauptung  werden.  Der  Glaube  verkehrt  sich  dann  in  Aberglauben,  die  Weisheit  in  Torheit,  die  Demut  in  Hochmut.  3e Jordan von Sachsen, Liber Vitasfratrum, ed. R. Arbesmann und W. Hümpfner, N e w York 1943, p. 420,25 ff. Unde quilibet poterit sibi facere Ordinem istum satis rigorosum et asperum; nec oportet quempiam de Ordinis laxatione causari ac per hoc velle ad strictiorem Ordinem quasi ob frugem melioris vitae transire, sicut nonnullos suggestione diabolica de hoc temptatos agnovi, praetendentes se velle ad artiorem observantiam convolare, qui nec umquam eiusdem sui Ordinis mitiores observantias adimpleverunt.

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Luther, Randbemerkungen

Luther  sagt  nicht,  daί  dies  die  notwendige  Folge  der  Observanz  ist;  sonst  hδtte  er ja  selbst  zu  dieser  Zeit  kein  Observant  mehr  sein  kφnnen.  Vielmehr  d٧rfte der Sinn  dieser Randbemerkung  δhnlich sein wie derjenige des Briefes  vom  22. September  1512:  der  Mφnch  steht  in  besonderer  Gefahr,  sich  selbst  zu  leben.  Es  ist  demnach  deutlich,  daί  es  Luther  hier  keineswegs  nur  darum  geht,  die Observanten  seines Ordens  zu  kritisieren.  Die Observanz,  vor  deren  Ge­ fahren  er warnt,  ist gewiί  eine religiφse Haltung,  die ٧berall  begegnen  kann  und  auch begegnet.  Aber  es d٧rfte eine Verzeichnung  sein, wenn  man  Luther  hier  von  einer  religiφsen  Haltung  im  allgemeinen  ausgehen  und  diese  spδter  auf  die Observantenrichtung  seines Ordens ٧bertragen  lδίt. Das  Umgekehrte  hat  mehr  Wahrscheinlichkeit  f٧r  sich,  daί  Luther  nδmlich  von  der  Obser­ vantenrichtung  seines  Ordens  ausgeht  und  die  Gefahren,  die  er  dort  in  be­ sonderer  Weise  gegeben  sieht,  als  eine  jederzeit  und  ٧berall  mφgliche  reli­ giφse Haltung  ansieht.  Das  Konkrete  ist  immer  vor  dem  Abstrakten  da.  Luther  zeichnet  sich  dann  aber  durch  eine  sehr  viel  schδrfere  Kritik  an  den  Gefahren  der  Observanz  aus als fr٧here Ordenstheologen.  Hinter  seiner  Kritik  steht  ein  ganz  anderer  Ernst  und  eine  ganz  andere  Radikalitδt,  δhn­ lich  wie  auch  seine  Kritik  an  der  scholastischen  Theologie,  an  der  Erkennt­ nisfδhigkeit  der  Vernunft  und  an  den  von  der  Scholastik  oft  behaupteten  Mφglichkeiten  des menschlichen  Willens schδrfer und  radikaler  ist. Nicht  zu­ fδllig  fehlt  in  den  Randbemerkungen  die  Formel  von  den  rein  nat٧rlichen  Krδften  des  Menschen37.  Die  radikalisierte  Auffassung  von  der  S٧nde  und  vom  menschlichen  Willen  bedingte  auch  eine  Radikalisierung  der  Kritik  an  dem  Eigenwillen  mancher  Mφnche und  der  Haltung  der  Observanz  schlecht­ hin.  Luther  betont  in  den  Randbemerkungen  nicht  nur  die  fides  stδrker  als  die  Scholastik  —  das  wird  allgemein  zugestanden  —,  sondern  er  hat  auch  eine in  gewisser  Hinsicht  neue,  wenn  auch noch  nicht  durchgebildete Auffas­ sung  von  der  S٧nde  und,  was  unser  Problem  angeht,  von  Hochmut  und  Demut 38 .  ®7 Vgl. B.Lohse, Ratio und Fides — Eine Untersuchung über die ratio in der Theologie Luthers, 1958, S.27. 38 Gegen A. Gyllenkrok, Rechtfertigung und Heiligung in der frühen evangelischen Theologie Luthers, 1952, der S. 15 Anm.4 sagt, „daß Luther in den Randbemerkungen zum Lombarden zwar den Hauptlinien der occamististben Heilslehre folgt, wie Vignaux be­ hauptet hat, daß er aber nichtsdestoweniger in der Betonung der fides eine bemerkens­ werte Akzentverschiebung . . . an den Tag legt. Nach dien Untersuchungen von Scheel..., Vignaux und Weijenborg dürfte es klar sein, daß die Theologie der Randbemerkungen in allem Wesentlichen als katholisch bezeichnet werden muß . . . Dasselbe gilt von den frühe­ sten Predigten . . . " Es verstärkt nicht das Gewicht der Argumentation von Gyllenkrok, daß er sich ausgerechnet auf Weijenborg beruft. Gyllenkrok muß selbst S. 17 Anm. 1 mit Bezug auf Weijenborg feststellen: „Leider ist die Eigenart der Lutherschen Lehre vom Worte dem katholischen Forscher völlig entgangen." Wenn es auch sicher nicht angeht, mit Forschern wie Holl und R. Seeberg in den Randbemerkungen die Ansätze einer reforma­

Zusammenfassung

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6.  Die  Eigenart  von  Luthers  Stellung  zum  monastisdien  Ideal  zeigt  sich  freilich  erst  dann  ganz,  wenn  man  die  Aussagen  in  den  Randbemerkungen  mit  denen  fr٧herer  Theologen  vergleicht.  Luthers  eigener  Lehrer,  der  ihn  auch  ٧ber  Sinn  und  Aufgabe  des  Mφndisberufes  unterrichtet  haben  wird,  ist Johann  Paltz  gewesen3e. Von  den  eigenartigen  Gedanken,  die Paltz  ٧ber  das  monastische  Ideal  geδuίert  hat 40 ,  begegnet  bei  dem  Luther  der  Rand­ bemerkungen  schlechterdings  nichts.  Nidit  nur  die  gesamte  Mariologie,  wie  Paltz  sie im Zusammenhang  mit  dem monastisdien  Ideal  gelehrt hatte,  fehlt  bei Luther. Auch sagt Luther nirgends etwas ٧ber die Gel٧bde als eine zweite  Taufe. Mit  keinem  Wort  verrδt  Luther,  daί  er  jemals  etwas  ٧ber  den  S٧n­ den  tilgenden  Charakter  der  Profeί  gehφrt hat.  Aber  auch  allgemeinere  Er­ wδgungen  ٧ber  den  Nutzen  des  Eintritts  ins  Kloster  fehlen  vφllig.  Oben­ drein ist die gesamte Theologie, wie sie Paltz  gelehrt hat, dem jungen  Luther  ganz  fremd.  Aber  auch, wenn  man  die Theologie  der  Randbemerkungen  mit  den  Aus­ sagen  fr٧herer  Theologen  vergleicht,  finden  sich  bedeutsame  Unterschiede.  Von der Leibfeindlichkeit und der Ablehnung der Ehe, wie sie sich bei Hiero­ nymus  und  in  geringerem  Maίe  bei  Augustin  gezeigt  hatten,  ist  bei  Luther  nichts  zu  sp٧ren.  Zwar  hδlt  er  an  dem  Gedanken  des  Fortschreitens  fest.  Aber nδhere Erwδgungen  ٧ber Mφglichkeiten  und Arten  dieses Fortschreitens  sowie  ٧ber  die  dabei  etwa  zu  erreichenden  Stufen  sucht  man  bei  Luther  in  den  Randbemerkungen  vergeblich.  Extreme  Vorstellungen,  wie  sie  etwa  Cassian  ٧ber  den  Gehorsam  besessen  hatte,  sind  ebenfalls nicht  vorhanden.  Statt  dessen  findet  man  eine  Reduktion  der  Gedanken  ٧ber  die  Bedeutung  des monastisdien  Weges auf  die Termini  humilitas und  superbia  und  zudem  ein  vertieftes  Verstδndnis  des  Wesens  menschlichen  Hochmuts.  Die  mona­ stisdien  Tugenden  werden  ihres  spezifisch  monastisdien  Charakters  ent­ torischen Theologie zu finden, so ist das Erstaunliche doch, wie viel Luther schon 1509/1510 von der katholischen Theologie nicht übernimmt. Man wird das Neue bei Luther zu dieser Zeit weniger in einer etwa schon ausgebildeten reformatorischen Theologie zu finden haben als vielmehr in der viel radikaleren Kritik und in dem größeren Ernst seines Fragens. Siehe auch W. Jetter, Die Taufe beim jungen Luther, 1954, S. 140 Anm. 1; B. Lohse, op. cit., S. 29. se Daß Paltz Luther noch unterrichtet hat, wird allgemein angenommen. O. Scheel, Mar­ tin Luther, Bd. 2, 3. u. 4. Aufl. 1930, S.131 schreibt: „Der Unterricht (seil, des Novizen Luther) lag vornehmlich in den Händen Nathins. Dodi scheint Paltz während des Noviziats und des ersten Profeßjahres Luthers seine theologische Lehrtätigkeit regelrecht ausgeübt zu haben. Zu den eigentlichen Lehrern Luthers werden wir ihn aber doch nicht zählen dürfen, mag audi sein Geist im Konvent wirksam gewesen sein. Denn schon 1507 begegnen wir ihm als Prior in Mühlheim, vallis mollaria, Thal­Ehrenbreitstein bei Koblenz." Demnach dürfte Paltz gerade in den entscheidenden ersten Monaten von Luthers Klosterzeit auf den jungen Novizen Einfluß ausgeübt haben, obwohl die eigentlich theologische Ausbildung in den Händen von Nathin lag. Daß Paltz Luthers Lehrer war, nimmt auch Weken­ borg an (vgl. o. S. 162 und Anm. 7 ebd.), freilich mit Gründen, die nicht einleuchten. 40 Vgl. o. S. 160 ff. 15  8016  Lohse,  Mφnchtum 

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Luth er, Ran dbe me rkun ge n

kleidet und auf die Grundelemente christlichen Seins und Selbstverständnisses zurückgeführt. Das geschieht freilich ohne Polemik gegen das monastische Ideal als solches. Lediglich die Observanten, die durch ein Übermaß von Beobachtungen letztlich nur sich selbst suchen, werden scharf angegriffen. Gewiß ließe sich einwenden, daß die geringe Anzahl der Äußerungen über das Mönchtum in den Randbemerkungen eine solche Interpretation in Frage stellt. Allein, die Vorstellungen über das monastische Ideal, die man schon in den Randbemerkungen vergeblich sucht, fehlen auch in der ersten Psalmenvorlesung und den späteren Schriften Luthers, so daß sich hinsichtlich der Schwerpunktverlagerung eine Kontinuität beim jungen Luther beobachten läßt. Das aber dürfte unsere Deutung rechtfertigen. Zudem hätte es Luther nicht an Gelegenheiten gefehlt, sich über das monastische Ideal näher auszusprechen. Insbesondere Augustins Schrift D e vita et moribus clericorum hätte reichlichen Anlaß dazu geboten. Auf der anderen Seite ist aber das Neue, was an die Stelle des Alten treten soll, noch nicht recht deutlich da. Die Forschung hat sicher recht, wenn sie bei dem Sententiar Luther weder hinsichtlich der Gnade noch hinsichtlich der Sünde noch auch betreffs der Sakramente eine wirkliche Abkehr von der Scholastik festgestellt hat. W. Jetter hat gerade für die Taufauffassung in den Randbemerkungen gezeigt, daß sich „noch keine neue Betrachtungsweise erheben" läßt 4 1 . Für den Sententiar ist die Taufe die Voraussetzung des Christenlebens, die Erbsünde wird durch sie getilgt; aber von einem eigentlichen Taufgebrauch, wie ihn Luther später lehrt, ist in den Randbemerkungen noch nichts zu finden. Im Grunde erschöpft sich die Bedeutung der Taufe in den Randbemerkungen darin, daß sie dem Menschen von neuem eine gewisse Willensfreiheit verleiht 42 . Aber vielleicht sollte man an diesen Punkten, wo Terminologie und Vorstellungswelt der Spätscholastik so fest ausgeprägt waren, bei dem Sententiar auch noch nicht zu viel Neues erwarten. Das Bezeichnende ist doch, daß sich bei manchen Problemen neue Ansätze und teilweise auch schon neue Durchbrüche zeigen. Was Luthers monastisches Ideal in den Randbemerkungen betrifft, so begegnet ein neuer Ansatz in der Radikalisierung der Vorstellung von der concupiscentia, von humilitas und superbia. Freilich hat der Sententiar noch nicht eine Verbindung zwischen dem monastischen Ideal und der Taufe hergestellt. Jedenfalls ist keine derartige Äußerung erhalten, und was Luther sonst über die Taufe sagt, läßt audi nichts dergleichen bei ihm zu dieser Zeit erwarten. W . Je tte r, o p.c i t., S. 1 6 9 . W A 9 , 7 3 19 f. Asini nascimur, per baptismum oves e fficimur; 7 4 ,1 8 f. in bapdsati s auffe rt u r culpa, sed non poe n a originalis pe ccati; 7 5 , 1 8 f f . (zit. o. S. 2 1 7 An m . 11). 41

4!

C. D I E E R S T E P S A L M E N V O R L E S U N G (1513—1515) Fanden sich in den Randbemerkungen zu Augustin und Petrus Lombardus nur verhältnismäßig wenige Aussagen über das Mönchtum und das monastische Ideal, so ist man, wenn man Luthers erste Psalmenvorlesung liest, erstaunt, wie oft und unter wie zahlreichen Gesichtspunkten Luther sich mit bestimmten Fragen des Mönchtums befaßt. Durch die gesamte Psalmenvorlesung zieht sich wie ein breiter Strom eine scharfe Kritik an „Observanten". Diese Kritik ist nicht isoliert vorgenommen worden, sondern ist hineingenommen in die umfassendere Kritik an „Juden", Häretikern und schlechthin an allen superbi, die vor Gott ihre eigene Gerechtigkeit aufrichten wollen. Auf Grund dieser scharfen Kritik hat man zuweilen gemeint, Luther vertrete bereits eine ganz neue Auffassung vom Mönchsideal 1 . Auf der anderen Seite ist es aber keine Frage, daß Luther an zahlreichen Anschauungen, die für das Mönchtum und die Einteilung in Gebote und Räte grundlegend sind, noch festhält, so daß manche Forscher in der Psalmenvorlesung noch im ganzen das katholische Mönchsideal wiederzufinden meinten 2 . Was aber wichtiger ist sowohl gegenüber der Kritik an den Observanten und an den superbi als auch gegenüber dem Festhalten an bestimmten Voraussetzungen des monastischen Ideals, das ist die Tatsache, daß Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal als solchem getragen und durchdrungen ist von seiner im Umbruch begriffenen Theologie, insbesondere von seinen Anschauungen über das Wort, über Gericht und Evangelium und nicht zuletzt auch von seiner teilweise schon neuen Sakramentsauffassung. Von daher erfährt das überkommene monastische Ideal eine Umprägung, wobei jedoch die Frage ist, ob Luther theologisch, wenn auch noch nicht praktisch, wirklich schon mit dem Mönchtum bricht, oder ob sich nicht seine neue Theologie durchaus noch mit einem Festhalten an dem besonderen Weg, den der Mönch sich vornimmt, verträgt. Auch die Frage, wie Luther in der Psalmenvorlesung zum traditionellen Mönchsideal steht, duldet keine vorschnelle Beantwortung. So sehr manches bei Luther neu ist und so vieles Luther aus der Tradition nicht übernimmt, so gab es doch in der Tradition nicht wenige Punkte, an die Luther — vielleicht ihm selbst nicht voll bewußt — anknüpfen konnte. Die Untersuchung der Auffassungen über das Mönchsideal des Mittelalters hat ja gezeigt, wie wenig einheitlich dieses war, trotz gewisser gemeinsamer Voraussetzungen wie der Unterscheidung zwischen Geboten und Räten und der Auffassung über die Mönchsgelübde. Die folgende Erörterung hat dieses Inund Miteinander von Traditionellem und Eigenem in der Auffassung des Collector Psalterii über das monastische Ideal zu berücksichtigen. 1 1

15*

So V. Sarenac (siehe o. S. 206 ff.), S. 15 ff. So H. Denifle und H.Grisar, siehe o. S. 201 ff.

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Luther, erste Psalmenvorlesung

1. Zunächst ist kein Zweifel, daß Luther wesentliche Voraussetzungen des mönchischen Weges teilt. Die Unterscheidung zwischen Geboten und Räten ist ihm noch geläufig, ohne daß er sie jemals ausdrücklich kritisiert 3 . Die evangelischen Räte haben, wie Luther in Ubereinstimmung mit der Tradition sagt, den Zweck, Gelegenheiten zur Sünde zu vermeiden, nämlich insbesondere den Reichtum, weltliche Ehren und Begierden; Luther spielt damit auf die drei Gelübde der Armut, des Gehorsams und der Keuschheit an 4 . Die evangelischen Räte sind ihm zur Erlangung „eines guten Zieles" gegeben5. Es ist auch kein Unterschied gegenüber dem katholischen Mönchsideal, wenn Luther betont, daß man in jedem Stand, als Mönch so gut wie als Laie, rein oder unrein sein kann". Zwar lehnt Luther damit den Ausschließlichkeitsanspruch ab, mit welchem das monastische Ideal zuweilen offen, manchmal aber auch insgeheim vertreten worden war; aber theologisch bedeutet das etwa gegenüber Thomas von Aquin keine Abweichung 7 . Ebenfalls korrekt katholisch ist es, wenn Luther sagt, daß man sich durch das Gelübde ganz an Christus bindet und seiner Freiheit entsagt, so daß man „ein Sklave der Gerechtigkeit" wird; denn nachdem man das Wort Gottes gehört hat, kommt es auf den Gehorsam an, und darin besteht die Vollkommenheit des christlichen Lebens 8 . Luther kann gelegentlich sogar seine tropologische Auslegungsmethode dazu verwenden, um bestimmte Aussagen getrennt auf Mönche und auf Laien zu beziehen. In den Scholien zu Ps. 59 sieht er in Gilead, Manasse und Ephraim mit Rücksicht auf die Mönche einen Hinweis auf obedientia, paupertas und castitas; bezieht man die drei jedoch auf die Laien, so sind mit ihnen humilitas, benignitas vel patientia und bonitas bezeichnet9. An anderer Stelle verweist Luther auf das Beispiel Christi, 3

Näheres hierzu siehe u. S. 265 ff. WA 4,202,29 ff. (RGl.Ps. 105,36) omnes qui non vitant etiam occasiones peccatorum, ingrati sunt. Ideo consilia evangelica docent etiam occasiones et scandala vitare, seil, divitias, honores, voluptates. 5 WA3,27,1 Iff. (Sdi.Ps. 1 Vocabularium) „Consilium". Est dispositio mediorum vel via, quibus ad finem pervenitur in moralibus et practicis. Et est quadruplex. Primo est consilium bonum ad finem bonum, ut sunt consilia Evangelii, lex dei, que dirigit homimem per debitum medium ad deum. Et hec est virtus et Charitas, ut orare, misereri proximo propter deum. ' WA 4,311,26 ff. (Sch.Ps. 118,17) unusquisque potest esse maculatus vel immaculatus in suo statu, item diligens scrutator sui officii aut negligens . . . , maxime cum etiam unicuique non desint sui adversarii, qui ei pugnam super dono gratie sibi date suscitent, cum quibus pugnet, ne pereat donum frustra. 7 Siehe oben S.150ff. 8 WA 3,228,19ff. (Sdi. Ps. 39,7) . . . Exo.21. preeipitur, ut cum Hebreus servus se sponte tradiderit, dominus suus eum ad ostium subula perfodiat aurem eius. Hoc fit, quando Christo sese quis devoverit et libertati renunciat, ut sit servus iustitie. Opus summe est, ut acuto verbo dei obedientia ei commendetur. Quia in hoc stat tota ratio et perfectio Christiane vite. » WA3,350, Iff. (Sdi.Ps.59,9); vgl. dazu p. 337,2f. 24 f. 27ff.; 349,29ff. 4

D a s Mönchsideal

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wobei zugleich audi die Gegenüberstellung zur Welt scharf zum Ausdruck kommt. Christus predigte die Armut; aber die habsüchtigen Pharisäer verlachten ihn. Auch in abstinentia et vestitu und überhaupt in allem war Christus den Pharisäern entgegengesetzt; sie aber liebten es, üppige Feste zu feiern und sich in kostbare Gewänder zu kleiden: so haben die Verkehrten alles verkehrt. Mit Hilfe seiner tropologischen Auslegungsmethode wendet Luther diesen Gedanken nun auf die Gegenwart an: ein Gleiches wird auch allen Gliedern am Leibe Christi zuteil, und zwar bis heute, so daß sie von der Welt für töricht gehalten werden, weil sie nicht das suchen, was zur Welt gehört, wie üppige Feste und reiche Kleider. Wer aber unter den Vornehmen sich nicht dafür entscheidet, zusammen mit Christus zur „Schmach" zu werden, der wird dazu gezwungen, sich den Pharisäern in Kleidung und Essen anzugleichen. Dieses Schicksal ist seit den Tagen der Apostel allen zuteil geworden: sie gehen entweder den Weg Christi oder den Weg der Pharisäer 10 . Man könnte demnach fast meinen, daß Luther doch noch in gewissem Sinne an dem Ausschließlichkeitsanspruch festhält, mit dem das Mönchsideal früher oft vertreten worden war. Allein, dahingehende Aussagen finden sich in eigentlichem Sinne nicht. Zudem muß man sich die Kritik vergegenwärtigen, die Luther auch gegenüber den Observanten und den Mönchen äußern kann u . Vor allem aber ist die Welt, die es zu meiden gilt, nicht einfach die vorhandene Welt. Zwar ist der Umgang mit „schlechten" Menschen für viele eine Gefahr. Aber im Grunde ist die Welt in jedem Menschen doch selbst da. Darum geht es, wenn man Mönch wird, um die Absage nicht nur und auch nicht in erster Linie gegenüber der Welt, sondern vor allem gegenüber dem Teufel und dann auch gegenüber dem eigenen Fleisch. Der Teufel, die Welt und das eigene Fleisch sind die Feinde des Menschen. Von diesen kehrt sich der Mensch durch sein Mönchsgelübde fort und wendet sich Gott zu. Darum bezeichnen die Vögel pelicanus, nycticorax und passer die drei monastischen Tugenden der Demut, der Armut und der Keuschheit, die gegen die Laster der Welt gerichtet sind 12 . Es ist allerdings eigenartig, daß Luther kurz darauf diese drei Vögel in einem ganz anderen Sinne deuten kann. Nun versteht er unter ihnen die dreifache Verfolgung der Kirche, wie 10 So ist in etwas freier Wiedergabe der Gedankengang v o n W A 3 , 4 2 7 , 2 6 ff. (Sch. Ps. 68,11).

11 12

Siehe hierzu u. S. 267 ff.

W A 4 , 1 5 5 , 2 0 ff. (Sdi. Ps. 101,7) In istis tribus avibus (nämlich pelicanus, nycticorax und passer) tres virtutes contra tria vitia in mundo tanguntur: humilitas, paupertas, castitas, contra superbiam vite, concupiscentiam carnis et oculorum. Sicut enim per humilitatem ad deum, per paupertatem ad proximum, per castitatem ad seipsum disponitur et placet: ita per superbiam deo, per avaritiam proximo, per intemperantiam sibi dissentit et resistit . . . Z . 3 0 f f . Vel aliter: propter tres inimicos diabolum, mundum, carnem. Per humilitatem v i n cit diabolum, per paupertatem autem mundum, per continentiam carnem. Et ita est pelicanus diabolo, nycticorax mundo, passer autem carni. Q u o d etiam faciunt tres virtutes theologice, ut patet.

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Luither, erste Psalmenvorlesung

sie durch die Tyrannen, die Häretiker und durch die falschen Brüder oder die Heuchler geschieht. Bei der dritten Gruppe denkt er, wie er hervorhebt, nicht an bestimmte Menschen, sondern an Menschen in allen Ständen. Aber es dürfte doch naheliegen, im Sinne Luthers dabei vor allem Mönche im Auge zu haben. Denn Luther charakterisiert diese Gruppe durch Begriffe und Aussagen wie „Absonderung", „Selbstruhm in dem Hochmut eigener Heiligkeit" u. dgl. Luther kann also in demselben Psalmvers einen Hinweis einmal auf den besonderen Weg der monastischen Tugenden, zum anderen eine Warnung vor der Eigengerechtigkeit und der sich gerade in der Absonderung von der Welt aussprechenden besonderen Heiligkeit sehen13. Das Eigentümliche dieses Verständnisses mit Rücksicht auf das Mönchtum ist unten näher zu würdigen14. Hier mag der Hinweis genügen, daß Luther, eben auf Grund dieser doppelten Auslegung eines einzigen Psalmverses, jedenfalls nicht mehr den Aussdiließlichkeitsanspruch des Mönchsideals vertritt. Ferner sei noch erwähnt, daß für den Collector Psalterii nicht nur die vita contemplativa höher steht als die vita activa, sondern daß darüber hinaus auch die Kontemplativen zugleich die Vollkommenen sind. Freilich macht Luther an der Stelle, wo er dieses sagt, doch die Einschränkung, daß auch die Heiligen niemals den ganzen Christus „haben", sondern immer nur einen Teil von ihm15. Ähnliche Aussagen begegnen öfter in der Psalmenvorlesung. So deutet Luther etwa Benjamin und Joseph „mystisch" auf die Kontemplativen; zugleich sind sie ihm die principales des Volkes Israel18. Oder Luther sagt sogar, daß Christi Glaube nur in denen sein kann, die über die Vernunft hinaus kontemplativ sind. Freilich fügt Luther, diese Feststellung eingrenzend oder gar abwandelnd, hinzu, daß das dann offenkundig wird, wenn man an Christus glaubt. Der Gegensatz zur contemplatio ist für ihn also der Unglaube, und positiv wird die contemplatio letztlich mit dem Glauben 13 WA 4,156,30 ff. (Sch.Ps. 101,8) Item potest per istas tres aves intelligi triplex persecutio Ecclesie et cuiuslibet anime, scilicet tyrannorum, hereticorum, falsorum fratrum seu Hypocritarum. Prima fuit in martyribus, secunda in doctoribus, tercia generaliter in omnibus statibus. Et prima per potentiam, secunda per sapientiam, tercia per bonitatem mundi. Prima contra potentiam, secunda contra sapientiam, tercia contra bonitatem seu sanctitatem dei. Prima Ecclesie infirmitatem, secunda ignorantiam, tercia corruptionem et prophanitatem obiecit. Ideo recte pro prima se pelicanum solitudinis nuncupat, quia sola et infirma illis visa. Et pro secunda nocturnam, quia stulta et ignorans iudicata est ab hereticis. Et pro tercia passer solitarius, quia negligens et non sancta ab iis iudicatur, qui in superbia proprie sanctitatis gloriantur. 14 Siehe u. S.246. 15 WA 4,401,27 ff. (Sdi.Ps. 121,3) nunquam habet aliquis sanctorum totum Christum, sed quilibet partem eius, etiam perfectissimi. Unde et de Maria Magdalena (id est de contemplativis, qui sunt perfectissimi) dixit: Non totum optimum, sed „partem optimam elegit sibi". L. Pinomaa weist bei seiner Besprechung dieser Stelle nidit auf die vorangehende einschränkende Bemerkung hin (Die Heiligen in Luthers Frühtheologie, in: Studia Theologica 13,1, 1959, S. 6 f.). " WA 3,604,28 ff. (RGl.Ps.79,3).

Der Gehorsam

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identisch gesetzt17. Luther hält also durchaus an der traditionellen Bewertung der vita contemplativa fest. Aber es ist doch bedeutsam, daß sich bei ihm dann stets eine erklärende oder einschränkende Bemerkung findet, die zumindest der Sache nach die contemplatio mit dem Glauben gleichsetzt oder doch auf die entscheidende Bedeutung des Glaubens hinweist, nicht jedoch den besonderen Wert der contemplatio gegenüber einer bloßen fides herausstellt18. 2. Wichtig sind sodann aber bestimmte Ausführungen zu einzelnen Punkten des monastischen Ideals. Dabei betont Luther zunächst Notwendigkeit und Wert des Gehorsams. Die Prälaten stehen ihm an der Stelle Christi; ihnen ist daher Ehrerbietung und Gehorsam zu leisten1β. In den Scholien zu Ps. 1, die ja von Luther noch später überarbeitet worden sind und daher mit Sicherheit seine Ansicht auch für die Zeit gegen Ende der Psalmenvorlesung wiedergeben, wird immer wieder der Gehorsam eingeschärft. Wenn man Gehorsam, Armut und Keuschheit gelobt hat, so soll man sich daran genügen lassen; es ist dann einem nur die eine Aufgabe gestellt zu gehorchen20. Kurz darauf heißt es, daß man die Anordnungen seines Oberen nicht diskutieren und nicht über sie urteilen soll, bevor man sie erfüllt; hätte doch auch Adam nicht fragen dürfen, warum Gott ihm verboten hat, von dem Baum zu essen. Daher ist es sicherlich stets eine Einflüsterung der Schlange, wenn man hinsichtlich des Befehls seines Oberen auch nur innerlich fragt und spricht: warum? Warum dies gerade für mich21? Der Gehorsam hat einen Eigenwert, 17

WA 3,607,22 ff. (Sch. Ps. 79,3) Christi fides non potest esse nisi in iis, qui supra rationem contemplativi sint. Apparet enim, quando in eum creditur. Sed credere nequeunt, nisi filii Rachel, elevate mentis- L.Pinomaa, op. cit., S. 7, sagt mit Bezug auf diese Stelle: „Die Offenbarung Gottes kommt nur den Kontemplativen zu, und nur bei ihnen ist der Glaube Christi zu finden." Es ist aber an dieser Lutherstelle nidit von der Offenbarung Gottes als solcher die Rede; obendrein wird von Pinomaa die faktische Ineinssetzung von contemplatio und fides nicht erwähnt. Er führt nur den ersten Satz des genannten Zitates an, nidit aber das Folgende. 18 Vgl. auch die Gegenüberstellung von eigenen Erfindungen und den Räten Gottes: WA 3,542,22 ff. (Sch. Ss. 76,13) S u p e r b i . . . et heretici meditantur in omnibus operibus suis, id est omnia que tractant et agunt, sua sunt. Et non cogitant, ut opera dei exquirant. Insuper et docent et loquuntur suas adinventiones, suas sapientias, suum sensum. Sed Sancti adinventiones dei, id est sapientiam, quam a d i n v e n i t . . . Iste enim sunt adinventiones dei, mirabilia consilia, quibus diabolum vicit et mundum eripuit. 14 WA 4,404,13 f. (Sdi.Ps.121,5) (seil. Christus ermahnt die subditi zu:) reverentiam ac obedientiam erga prelatos, ut sciant eos esse sedes Christi. 20 WA 3,18,24 ff. (Sch. Ps. 1,2) Quia tu promisisti obedientiam, paupertatem, et castitatem. Hec ratio debet tibi sufficere, nec debeo tibi aliam dare, tuum est obedire. 11 WA 3,18,33 ff. (ebd.) Caveat ergo sibi quilibet diligentissime, ne unquam prelati sui iussionem discutiat aut iudicet, antequam faciat. Nec dicat: Quare preeepit mihi deus de hac arbore non comedere? Certissimum enim signum Serpentis afflantis est, quoties in precepto superioris tui ineipis intus querere et dicere: Quare? Quur mihi hoc?

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Luther, erste Psalmenvorlesung

und gerade auf seine Erprobung kommt es an 22 . Dabei beurteilen die „Toren" die Größe des Gehorsams nach der Größe des aufgetragenen Werkes, bzw. seine Geringfügigkeit nach der Geringfügigkeit des gebotenen Werkes. Gott aber kommt es nicht auf Opfer, sondern auf den Gehorsam an. Daher kümmert sich Gott nicht um die Größe unserer Werke, sondern um den Gehorsam 23 . Dementsprechend legt Luther allen Wert darauf, daß der Gehorsam im Herzen, also nicht nur äußerlich, erfüllt wird. Audi muß die Ehrerbietung gegenüber den Oberen in corde erfolgen 24 . Luther setzt sich damit von Erwägungen ab, wie sie etwa Antoninus von Florenz angestellt hat, wonach die Erfüllung des Gelübdes audi dann noch verdienstlich ist, wenn man hinsichtlich seines Gelübdes Reue empfindet; lediglich der Wunsch, sein Gelübde zu brechen, würde dem Werk seinen verdienstlichen Charakter nehmen 25 . Der innere Gehorsam ist für Luther darum so wichtig, weil nur durch ihn der Eigenwille des Menschen gebrochen werden kann 2e . Dabei hat Luther durchaus den Gehorsam gegen die Mönchsregel im Auge. Es zeigt sich an dem Gehorsam ihr gegenüber wie auch an dem Verzicht darauf, irgendwelche Dispense zu erstreben, ob man für seine Eigengerechtigkeit lebt oder ob man wirklich seinen Eigenwillen aufgibt 27 . Luther kann in derartigen Zusammenhängen gelegentlich auch den Verdienstgedanken erwähnen. Es heißt dann etwa, wer tatsächlich gehorcht, erwirbt sich auch ein Verdienst 28 . Aber solche Gedanken werden von ihm doch recht selten geäußert. Keinesfalls kann man nach Luther den Gehorsam um des zu erlangenden Verdienstes willen ableisten. Entscheidend kommt es vielmehr auf die Abtötung des Ichwillens an, mit anderen Worten auf die Demut 29 . Da22 WA 3,19,5 ff. (ebd.) Nam sicut in Adam factum fuit, ubi preceptum ei datum fuit solum in signum, quo obedientia eius probaretur, sic nunc quandoque vile preceptum datur et exiguum signum. 29 WA 3,19,11 ff. (ebd.) Stultorum ergo stultitia est, obedientie magnitudinem ex operis magnitudine metiri, aut parvitatem et vilitatem ex vilitate operis preeepti. Non vult deus victimam sed obedientiam. Nec nostra magna opera curat, quia ipse potest maiora facere, requirit autem obedientiam solam . . . 2 . 1 9 f. Sicut thezaurus in agro absconditus, ita obedientie precium in abiecto et contemptibili precepto. 24 WA 3,405,26 ff. (Sdi. Ps. 67,26) Sicut enim prelatis prevenire et precedere incumbit: ita iuvenculis et subditis obedire, sequi et in medio eos habere convenit, quod sane ex obliquo percutit Hereticos et superbos . . . Z. 34 ff. Wir müssen die Prälaten „corde am· plecti". 25 Antoninus von Florenz, Summa, gedr. Basel 1502, Bd. 1 pars 2 tit. XI Kap. 2 § 3 si quis paeniteat de voto, alias non facturus, nisi quod non vult votum frangere, adhuc est maius meritum. Der Grund dafür besteht in Folgendem: bona voluntas sufficit ad meritum. 2 27 « WA 3,22,33 ff. (Sdi.Ps. 1,3). W A 3 , 1 5 5 , 8 f f . (Sdi.Ps.27,4). 28 W A 3 , 1 5 5 , I f f . (ebd.) Levare festucam ex obedientia placet: Econtra etiam montes transferre extra obedientiam peccatum est. Immo Oseas ex obedientia fornicatur: et obedit et meretur. Econtra Saul offert victimas et irritat magis deum quia non obedit. 28 W A 3 , 6 1 5 , 3 f f . (Sdi.Ps. 80,3): es geht um die opera subiectionis et humilitatis.

Der Gehorsam

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her ist die obedientia ein consilium dei et fides30. Beim Gehorsam geht es also nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, um eine besondere Leistung. Vielmehr geht es beim Gehorsam um den Glauben selbst. Der Gehorsam ist der Glaube in seiner Verwirklichung, und ohne diese Verwirklichung wäre der Glaube gar nicht Glaube 31 . Luther kann dabei gelegentlich sogar unter Bezugnahme auf besondere Gehorsamsleistungen, wie sie in den Vitae Patrum berichtet werden, ein menschlich betrachtet sinnloses Werk unter dem Gesichtspunkt der Abtötung des Eigenwillens für sinnvoll erklären. Luther ist dabei durchaus nicht blind für die Gefahren, die gerade der Weg der ägyptischen Einsiedler mit sich brachte: sie „irrten in der Wüste", sie standen außerhalb der Gemeinschaft der Kirche. Und doch haben sie sich gerade in den geringen Werken geübt. Was dem Menschen als falsch, fehlerhaft, absurd und sinnlos erscheint und was es wohl tatsächlich audi in gewisser Hinsicht ist, das kann doch, wenn es zur Übung des Gehorsams verwendet wird, einen verborgenen Sinn haben. Denn man lernt, sich nicht selbst ein Ziel zu setzen, sondern dorthin zu gehen, wohin man gerufen wird, einem Führer zu folgen. So haben die Mönchsväter große Früchte für ihren Gehorsam geerntet 32 . Luther greift da30 WA 3,27,27 ff. (Sdi.Ps. 1 Vocabularium) Contra hoc vitium (seil, die Aufhebung des Gehorsams) psalmus iste loquitur, in quo Iudei olim figurative et vere, nunc autem multo magis errant: Quia abeunt (i.e. deserunt consilium dei et fidem, que sola est via et consilium debitum ad deum) in consilio suo statuentes suam iustitiam et zelum dei habent stultum. 31 WA 4,306,40 ff. (Sdi. Ps. 118,1) Qui (seil, die superbi, inoboedientes) quidem verba et fidem Christi habent, que est velut caro Christi, sed veritatem fidei non habent, quia in tali fide obedientiam et humilitatem non habent. Preponunt enim sua magna parvis et vilibus, que preeipit obedientia . . . p . 3 0 7 , 4 f . Igitur quodeunque opus faeimus sine relatione ad obedientiam, est maculatum. 32 WA 4,211,19 £f. (Sdi.Ps. 106,1) Primum ergo est, cum iam converti ceperit homo et querere deum, ut dicat: „domine, quid vis me facere?" Ecce dubitat et nescit, quia aliam viam ingredi ineipit. Et est simile cum ambulantibus, qui bene sciunt, ad quam partem sita est civitas, quo vadunt, sed tarnen viam non ideo sciunt. Hic enim illud Proverbiorum contingit, quod „Est via, que videtur hominibus recta, et novissima illius dueunt ad mortem", et econtra „Est via, que videtur erronea, sed novissima eius dueunt ad vitam." Sic enim contingit stultis, qui scientes, quo ire debent, mox contemnunt quameunque obliquitatem vie et directum semper volunt sequi: ideo peius errant. Hec est enim ordinatio divine sapientie, ut vie non directe eant ad locum, sed quandoque recte, quandoque oblique, et qui timet nimis omnem obliquitatem, veniat in totam obliquitatem. Quia per hoc exprimitur et eruditur superbia nostri sensus, qui nolumus audire et sequi preeeptum et iussionem maiorum, nisi in iis, que nobis recta vidientur. Precipiuntur enim nobis sepius, quie erronea, absurda, obliquissima nobis ad finem nostrum videntur: et tarnen sunt rectissima. Rursus nobis effingimus media, que rectissima et planissima videntur: et sunt tortuosissima, duoentia in palustria, lacus, latrones et bestias ac mille pericula. Ideo utilissimum, immo necessarium est ducem sequi, ut licet scias, quo eundum sit, tarnen discas per hominem, qua eundum sit. Exempla patent in ludeis et hereticis et omnibus superbis in sensum suum confidentibus. Econtra in iis, qui in Vitis Patrum stulto labore, ut videbatur, magnum fruetum obedientie reportabant. Illi enim sibi sapientissimi videntur et totius scripture

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Luther, erste Psalmenvorlesung

mit auf die Tradition von dem vorbildlichen Leben und Gehorsam der Anachoreten zurück. Aber er unterscheidet sich doch in charakteristischer Hinsicht von dem, was Cassian in diesem Zusammenhang als Ideal hingestellt hatte. Für Luther ist manches von dem Geforderten — Luther bezieht sich nicht auf bestimmte Einzelfälle — wirklich töricht. Vor allem aber findet sich bei Luther nicht die Betonung des Eigenwertes asketischer Leistungen. Im Gegenteil, es geht um die Übung des Glaubens, und er bemerkt in vorsichtiger Kritik, daß die Einsiedler nicht die kirchliche Gemeinschaft bewahrt haben, obwohl er meint, sie hätten diesen Fehler später selbst bemerkt33. Kommt diese Äußerung über den Gehorsam der Anachoreten dem traditionellen Mönchsideal sehr nahe, so lassen doch andere Stellen keinen Zweifel daran, daß für Luther stets auf der einen Seite Eigenwille und Hochmut, auf der anderen Gehorsam und Glaube einander gegenüberstehen. Hier zeigt sich, daß Luther, so sehr er an dem überkommenen Gehorsamsideal festhält, dieses doch in der Regel umfassender versteht als die Tradition34. Von dieser Ausweitung des Gehorsamsideals her kann Luther den Gehorsam oft auch einfach dahin deuten, daß man das Wort Gottes recht hört. Freilich kann Luther sich auch dabei noch eines traditionellen Schemas bedienen, insofern er bei dem Hören zwischen dem, der nur Ohren hat, und dem, der vollkommene Ohren hat, unterscheidet. Das bloße Hören genügt nicht. Es kommt auf mehr an, nämlich das innere Sich-Öffnen gegenüber dem gehörten Wort. Nur wenn dieses da ist, wird man vor dem Verstopfen der Ohren bewahrt und damit auch zugleich vor dem Ungehorsam35. In ähnspiritum habere, isti autem stulti sunt propter deum et in hoc ipso beati. Hoc est quod dicit: Erraverunt in solitudine, scilicet extra communionem Ecclesie, et in inaquoso, licet sibi non ita tunc videatur. Sed postea recognoscunt. " Vgl. o. S. 97 ff. Tatsächlich besteht zwischen Cassian und Luther hinsichtlich der Bestimmung der obedientia und auch der humilitas weitgehende Obereinstimmung. Unterschiedlich ist nicht die Beurteilung des Gehorsams als solchen, sondern lediglich die theologische Einordnung. Für Cassian geht es bei dem Gehorsam lediglich um eine asketische Tugend, für Luther ist der Gehorsam die Verwirklichung des Glaubens, der blind auf Gott traut und darum der Führung bedarf. Wichtig ist aber daneben auch, daß nach Cassian im Grunde nur die Mönche und Asketen Christen sind, während Luther hier diese Einseitigkeit ausschließt, indem er die Gemeinschaft der Kirche als wesentlich hinstellt. Zum Gemeinschaftsideal in der Psalmenvorlesung siehe unten S. 238 ff. 34 WA 3,172,30 ff. (RGl.Ps.31,2) Loquitur autem secundum apostolum Ro.4 contra eos omnes, qui peccata sua suis operibus et meritis volunt remitti a deo et suis operibus iustificari. Et sie Christus frustra esset mortuus, quia sine eius morte propriis operibus salvi essent, quod est falsum. Tales sunt Iudei, tales heretici, tales etiam omnes superstitiosi in singularitate, qui reiecta obedientia et fide suam statuunt iustitiam, quia nolunt nomen domini invocari super se. Neque enim mors Christi nisi humilibus proficit, et omnis superbus est negator Christi. 15 W A 3 , 2 2 5 , 1 0 f . (ZG1.Ps.39,7) „aures autem perfecisti mihi", i.e. obedientiam me habere perfectam dedisti, quia obedientiam et non victimam vis. Dazu RG1. Z. 25 ff. Unde illis qui non audiunt vel obediunt dici solet: an etiam aures habes? Christus autem non

Concupiscentia und Enthaltsamkeit

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licher Weise kann Luther auch andere monastische Begriffe übernehmen, um die Bedeutung des Gehorsams herauszustellen: der Gehorsam ist mit der promptitudo letztlich gleichzusetzen, aber auch mit der perfectio; denn bei diesen allen geht es darum, nicht mehr dem eigenen Sinn zu folgen. Das aber geschieht, wenn man in seinem Inneren auf Gott hören und zugleich auch im Äußeren demütig hören will, und dieses wiederum findet seinen Ausdruck darin, daß man das Amt der Kirche nicht verachtet3®. So sehr Glaube und Gehorsam bei alledem identisch sind, so wenig darf doch die äußere Seite des Gehorchens, also die gehorsame Tat, fehlen. Inneres und Äußeres müssen vielmehr übereinstimmen37. 3. Wie Luther an dem Gehorsamsideal festhält, so ist ihm auch das Virginitätsideal des Mönchtums bedeutsam. Luther betont allgemein die Notwendigkeit der castigatio. Allein, schon hier ist bezeichnend, daß für Luther das Evangelium es ist, welches die Inzuchtnahme bewirkt, ja selbst vollzieht38. Was speziell die concupiscentia betrifft, so kennt Luther — trotz der gewissen Neufassung dieses Begriffes, der schon in den Randbemerkungen begegnete39 — die concupiscentia selbstverständlich audi in der überkommenen Bedeutung des Wortes und versteht unter ihr die fleischliche Begierde. Es handelt sich bei ihr um eine Krankheit der Natur, wie Luther unter Berufung auf den Lombarden ausführt, welche die Seele, die zu leben beginnt, „schwer gefangennimmt und bindet"40. Gleichwohl hat es keinen Zweck, der contantum aures, sed perfectas aures habuit, i.e. obedientissimus fuit, alii autem imperfectas valde, Iudei autem nullas, quia secundum Ezech. precise sunt eis aures et n a s u s . . . Et est similis significationis metaphora. Quia sicut simulachra habent quidem aures, sed non physicas ad interiora vocem recipientes, sie etiam inobedientes habent aures obtusas et obstruetas, ut vocem Dei non possint pereipere. — Apostolus: »Corpus autem aptasti mihi." Idem est, quia per obedientiam corpus obtulit pro nobis. 36 WA 3,248,15 ff. (Sdi. Ps. 43,2) Secundo Ideo ut promptitudinem et obedientiam et perfectionem exprimat et hoc significative, quod scilicet non nostri sensus esse debemus, tantum intus audire deum volentes, sed etiam humiliter audire foris auribus, ut ministerium Ecclesie non c o n t e m n a t u r . . . Sic . . . fideles per obedientiam plus alienis narrationibus nituntur, quam suo sensui. Malunt enim discere quam sibi ipsis Magistri e s s e . . . Similiter etiam humilitas ibi commendatur . . . 37 WA 3,248,27 ff. (ebd.) Tercio Quod nulla virtus sufficit ad intra esse, nisi et foris prodeat in opus s e n s u u m . . . Multi audiunt intus et loquuntur et tractant secum, quod tamen foris nolunt ostendere, ut qui intus superbus et invidus est, secum bene quandoque tractat, sed cum o p u s . . . (Luther hat den Satz nidit vollendet.) 58 WA 4,284,3 ff. (ZGl.Ps. 118,25) „vivifica me" per gratie augmentum „secundum verbum tuum" secundum regulam Evangelii tui, vel secundum promissum, non secundum m e r i t u m . . . p.289,15 (ZGl.Ps. 118,66) . . . evangelium, quod castigat carnem . . . " Vgl. ο. S. 218 ff. 40 WA 4,207,23 ff. (RGl.Ps. 106,10). Wenn H . Grisar, Luther, B d . l , 1911, S.56 Luther vorwirft, daß er hier bereits die Konkupiszenz für unüberwindlich erkläre, so ist dem zu entgegnen, daß sich das Prädikat „unüberwindlich" an dieser Stelle auf die concupiscentia im Sinne von passio ire, superbie, luxurie bezieht: ebd. Z. 33 ff. Sic enim passio ire, superbie, luxurie, cum absens est facilis, presumitur victu ab inexpertis. Sed cum presens est, sentitur difficillima, immo insuperabilis, ut experientia docet.

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Luther, erste Psalmenvorlesung

cupiscentia die Zügel schießen zu lassen: sie wird dadurch nur noch mehr entzündet; darum muß man sie zügeln und ersticken41. Es ist aber doch die Regel, daß Luther den Begriff concupiscentia in dem weiteren Sinne faßt, wie er ihn schon in den Randbemerkungen zum Ausdruck gebracht hat. Die concupiscentia wird ihm dabei geradezu die Sünde wider den Hl. Geist, so wie sich die Sünde der infirmitas gegen den Vater und die der ignorantia gegen den Sohn richtet. Die concupiscentia steht dem converti des Menschen zu Gott entgegen, wobei wiederum charakteristisch ist, daß der monastische Terminus technicus des converti auf die Hinwendung des Menschen zu Gott schlechthin ausgeweitet wird 4 2 . Die concupiscentia wird sonst von Luther ganz umfassend als „Unordnung des Willens" interpretiert, die jedoch keineswegs nur auf das sexuelle Moment zu deuten ist, sondern umfassend als der Ursprung jeder Sünde gilt, zusammen mit der infirmitas und der coecitas 43 . An anderen Stellen ist concupiscentia geradezu gleichbedeutend mit Unglaube 44 . Von daher ist es zu verstehen, wenn Luther sagt, daß zur Uberwindung der concupiscentia Gnade gehört. Keineswegs wird damit die concupiscentia in dem überkommenen Sinn des Wortes ausgeschlossen. Aber es geht ihm dabei doch um mehr, nämlich um alles, was zum menschlichen Willen gehört 45 . Diesem erweiterten und vertieften Verständnis der concupiscentia entspricht nun auf der anderen Seite auch eine Erweiterung und Vertiefung der Auffassung über die virginitas. Selbstverständlich ist das Ideal der Jungfräulichkeit nodi von Luther festgehalten; die Hochschätzung des kontem4 1 W A 4 , 2 8 2 , 4 f . (ZGl.Ps. 118,9) non in explendo et laxando concupiscentia vincitur, sed magis incenditur, vincitur autem in coercendo et suffocando. 4 2 WA 3 , 1 6 , 1 2 ff. (Sdi. Ps. 1,1) Tria scelera sunt omnia peccata, scilicet infirmitatis contra patrem, ignorantie contra filium, malitie vel concupiscentie contra spiritum sanctum. Quattuor autem scelera sunt istis assumptis addere excusationem in illis et confessionem eorum negare. Que faciunt ipsum stare in via sua durissima cervice. Et ideo non convertitur nec potest converti, quia directe claudit sibi portam misericordie et resistit spiritui sancto ac remissioni sue. Super tribus ergo sceleribus bene converterentur. Sed super tribus et quattuor simul non convertuntur. 4 3 WA 3 , 4 5 3 , 7 if. (Sdi. Ps. 70,2) dimissa culpa adhuc multa nobis restant de peccato inflicta, scilicet infirmitas in memoria, coecitas in intellectu, concupiscentia sive inordinatio in voluntate. E x quibus tribus omne peccatum originiliter descendit. Ipsa autem sunt reliquie peccati originalis etiam dimissi in baptismo. 4 4 WA 3 , 4 2 3 , 1 9 ff. (Sdi. Ps. 6 8 , 4 zu Defecerunt oculi mei, dum spero in deum meum) sie alterum alterum impedit, ut oculi in somnum declinent et deficiant, concupiscentia autem fortior dominetur aut saltern potiore sorte pugnet. Credo autem multos nunc (et potissimum ex me et aliquibus experior) experiri hanc prophetiam. Quia optime quidem sciunt omnia, que credenda sunt, sed ita egre possunt credere et eis assentire, ut videantur velut quodam somno opprimi et gravi corde fieri, nec sursum elevare ad dominum posse. 45 W A 3 , 1 7 , 7 f f . (Sdi.Ps. 1,2) Licet enim lex per timorem penarum potuit manum prohibere et per spem bonorum ad opera provocare, tarnen voluntatem intus non potuit neque solvere neque ligare, non inquam solvere ad libertatem neque ligare eius cupiditates. Hoc enim fit solum vineulis Charitatis, quam non lex, sed Christus in spiritu suo dedit.

Concupiscentia und Enthaltsamkeit

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plativen Lebens, wie sie schon skizziert wurde, bedingt das. Allein, einmal fehlen in der Psalmenvorlesung doch abwertende Aussagen über die Ehe. Das ist für sich natürlich noch keine Abweichung von dem traditionellen monastischen Ideal, bedeutet aber doch, eine gewisse Akzentverschiebung. Nicht mehr der Kampf gegen das Leibliche steht bei der Jungfräulichkeit im Mittelpunkt, sondern — wie beim Gehorsam — wiederum der Glaube. Daher ist der Glaube eigentlich die „geistliche Jungfräulichkeit, durch welche wir Christo anverlobt werden". Luther beruft sich für diesen Gedanken auf die biblische Vorstellung von der Ehe und dem Ehebruch zwischen Gott und seinem Volk46. Ohne das Ideal der leiblichen Jungfräulichkeit auch nur irgendwie in Frage zu stellen, geht es bei der Jungfräulichkeit eigentlich doch nicht sowohl um den Leib als um die Seele: sie ist es, die jungfräulich sein soll, d.h. die im Glauben mit Christus verbunden sein soll, um dann als Jungfrau durch den Glauben die Laster und Ausschweifungen des Fleisches, der Welt und des Teufels zunichte zu machen. Das ist auch der tiefere Sinn der Heiligenfeste der Kirche zu Ehren frommer Jungfrauen und Witwen: es geht um die Jungfräulichkeit als den rechten Glauben Luther stellt geradezu den Grundsatz auf: vor allem anderen muß der Glaube da sein; ist dieser vorhanden, dann kommt alles andere von selbst hervor, so wie Wasser aus dem Felsen hervorsprudelt48. Freilich hindert das alles nicht, daß Luther möglicherweise auch auf die Wertunterschiede zwischen dem Stand der Verheirateten und dem der Mönche aufmerksam macht. In den Scholien zu Ps.44 findet sich die Auslegung, daß die Myrrhe die Keuschheit bezeichnet, die Aloe die Jungfräulichkeit und die Kassia die Tugenden der Verheirateten4e. Luther sagt von der Aloe (lat. gutta), sie sei das, was aus der Myrrhe hervorfließt, und so ist die Jungfräulichkeit als die Frucht der castitas gedacht. Ob der Stand der Verheirateten ebenfalls wertmäßig hier verglichen werden soll, ist nicht deutlich. Unmöglich wäre es nicht, da das ja in der Tradition üblich war. Allein, Luther sagt darüber nichts Ausdrückliches. Und überhaupt ist dieses, wenn mir nichts entgangen- ist, die einzige Stelle in der Psalmenvorlesung, 48 WA 3,89,5 ff. (Sdi. Ps. 9,1) Unde quia fides est spiritualis virginitas, per quam desponsamur Christo, sicut in Osee dicit „Sponsabo te mihi in fide", ideo Iudei et mali Christiani in prophetis semper arguuntur de fornicatione (id est incredulitate). 47 WA3,264,12ff. (SA.Ps.44) Eodem modo tropologico regi, que est anima sancta, super carnem, mundum et diabolum dicitur: unde in sensu tropologico utitur istis verbis Ecclesia in festis sanctarum virginum et viduarum: quia per quandam excellentiam virginitas regnat super carnem sicut regina et domina potentissima, que nec uno momento carni cedit simulque diabolum et mundum gloriose calcat. Atque quia omnis anima virgo est fide conculcans vitia et excessus carnis, mundi et diaboli. 48 WA 3,649,22 ff. (Sdi. Ps. 83,7) Fides enim prerequiritur ante omnia: qua habita cetera omnia ex illa scaturiunt, sicut ex petra et silice aque. " WA 3,260,29 ff. (Sdi. Ps. 44,9) myrrha proprie castitatem significat, gutta autem virginitatem, casia coniugatorum virtutes.

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Luther, erste Psalmenvorlesung

wo Luther vielleicht einen Wertunterschied zwischen der virginitas und dem status coniugatorum zum Ausdruck bringt. Über das Armutsideal spricht sich Luther in der Psalmenvorlesung kaum gesondert aus. Hin und wieder wird es von ihm im Zusammenhang mit den anderen Mönchsgelübden erwähnt. Es ist keine Frage, daß Luther audi an dem Armutsideal in der ersten Psalmenvorlesung festhielt. N u r stand es weniger im Mittelpunkt für ihn als der Gehorsam und die Jungfräulichkeit 50 . 4. Neben den drei Mönchsgelübden und dem durch sie bezeichneten theologischen Gehalt ist für Luther aber in der Psalmenvorlesung ein anderes von großer Bedeutung, nämlich der Gedanke der Gemeinschaft. Oben wurde bei der Erörterung des Mönchsideals in der Zeit vor Luther darauf hingewiesen, daß der Gedanke der Gemeinschaft vor allem für Augustin, aber audi für manche anderen Mönchstheologen, von Gewicht war. Augustin hatte sich bei seiner Propagierung des Gemeinschaftsideals auf den Bericht über die Urgemeinde Act.2,42ff.; 4,32 bezogen 51 ; das Kloster war für ihn die abbildliche Verwirklichung des Vorbildes und Urbildes der Gemeinschaft der Urgemeinde. Dieser Gedanke begegnet in der ersten Psalmenvorlesung in dieser Form nicht. Wohl aber betont Luther den Gedanken der Gemeinschaft als solcher, und zwar in doppelter Hinsicht: einmal als Gemeinschaft mit der Kirche als ganzer, zum anderen als Gemeinschaft der Klöster und Orden untereinander. Luther wirft etwa den Häretikern vor, daß sie sich, aus welchem Grunde auch immer, von der Gemeinschaft der Kirche getrennt haben. Statt dessen kommt nach Luther alles darauf an, daß man „in Beziehung auf die Gemeinschaft der Kirche" lebt und handelt. Jeder Versuch, sich aus dieser Gemeinschaft der Kirche zu lösen, bedeutet, daß man auf seine eigenen Verdienste baut und sich an ihnen genügen läßt. In gleicher Weise ist den inobedientes vorzuwerfen, daß sie ihre eigene Gerechtigkeit in bezug auf den Gehorsam und den Befehl aufrichten wollen; dabei soll man doch niemals außerhalb der Anordnungen und des befohlenen Gehorsams bleiben, da Gott nichts wohlgefällt, was ohne Befehl und Gehorsam geschieht. Also auch die Mönche sind an die Gemeinschaft der Kirche gebunden. Diese findet ihren Ausdruck darin, daß die Mönche, ohne zu prüfen und zu fragen, das ihnen Aufgetragene tun. Befehl und Gehorsam sind für das Kloster der Garant für die Aufrechterhaltung der Gemeinschaft mit der Kirche. Wo Befehl und Gehorsam nicht mehr in Geltung stehen, da bilden sich in den Orden Sondergemeinschaften, die sich von der allgemeinen communio trennen 62 . *· Zur geistlichen Armut siehe W. Jetter, op. cit., S. 207. " Siehe oben S.66ff. " WA 4,307,8 ff. (Sch.Ps. 118,1) heretici tenentur omnia sua facere in relatione ad Ecclesie communionem, ita ut earn non excludant, tanquam ex suis seorsum meritis extra

Das Gemeinsdiaftsideal

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Wie schon aus dieser Stelle deutlich wird, vertritt Luther sein Gemeinschaftsideal in Auseinandersetzung mit der Absonderung bestimmter Mönche und Klöster. Tatsächlich sind fast alle Aussagen, in denen Luther in der ersten Psalmenvorlesung zum Gemeinsdiaftsideal Stellung nimmt, polemisch gegen die Sondergruppen in den Orden gerichtet. In den Scholien zu Ps. 1 heißt es etwa, daß das Wandeln im Rate der Gottlosen bedeutet, daß man in die conventicula abfällt 53 . Oder Luther wirft Häretikern, Juden und den superstitiosi vor, sie wollten singulares sein 54 . Oder Luther sagt, daß die superstitiosi und sdiismatici, welche die Juden nachahmen, durch ihre singularitas ihren Prälaten verwerfen 55 . Die singularitas ist also stets mit dem Streben nach eigener Gerechtigkeit verbunden. Die humilitas hingegen bedeutet u.a. stets auch, daß man die communio wahrt 56 . Die singularitas dagegen setzt immer, mag sie auch angeblich zum Zwecke besonderer Frömmigkeitsübungen unternommen worden sein, einen Mangel an Disziplin, an klösterlicher Zucht und Unterordnung voraus. Dagegen bindet gerade das Mönchtum doch an den Nächsten, damit man von ihm her „erzogen" wird und auch der Vollkommenheit entgegengeht 57 . Audi auf die mancherlei illam et sine illa possint placere et salvi esse. Sic quilibet inobediens et proprii sensus tenetur suas iustitias facere in relatione ad obedientiam et preceptum, ita ut eam nullo modo excludat nec extra illam aut sine ea aliquid placiturum deo confidat. Alioquin proprietarius erit, supersticiosus, immo idolatra. Quocirca religiosi devotarii sibi maxime provideant, ne in suis devotionibus confidant secretis et peculiaribus, si in iis, que sunt conventualia et communia, desides, tepidi et negligentes aut inobedientes sint. N a m Diabolus ita solet imprudentes exercitiis spiritualibus seorsum decipere et in communibus negligentissimos facere: et tunc illi deo bene servire se credentes propter sua singularia nihil curant, quod communia negligunt. Sed ista singularia debent sie agi, ut ad communia ordinentur et disponant ad melius agendum ea, que sunt obedientie, non ut impediant aut revocent. Tanquam media ad finem aeeipi debent, non tanquam finis ipse. Alioquin iis omnibus dicetur: „Nunquid sacrificium vult deus et non magis ut obediatur voci eius? Melior est obedientia quam victime etc." l.Reg. 15. 53 WA 3,26,19 ff. (Sdi.Ps. 1,6) . . . non abire in consilium impiorum . . . (seil, sed) ire in consilium piorum (declinare conventicula illorum de sanguinibus Idumeorum). " WA 3,160,2 ff. (Sch. Ps. 28,2). 55 WA 3,174,24 ff. (Sch. Ps. 31,1) (seil. Heretici) Alio enim modo reiieiunt eum (seil. Christum) quam Iudei, scilicet per apostasiam et inobedientiam Ecclesie sue, id est Christi mystici, sicut illi Christum in persona ad literam. Similiter et superstitiosi seu Sdiismatici abiieiunt per suam singularitatem suum prelatum, in quo Christus eis preficitur: quorum hodie est maior numerus. 56 WA 3,447,25 ff. (Sch. Ps. 69,5) superbi cogitatus de propria sanetitate, motus singularitatis, tanquam multum profecerim, avertantur retrorsum, ut videam, quoniam nihil sunt et de nihilo me inflant et profecisse me mihi fingunt et per hoc volunt mihi mala, ut eo peius ruam, quo magis aliis meliorem me mihi videri fecerint. 57 WA 3,444,19 ff. (Sch. Ps. 69,5) Hinc enim est, quod nec monasteria nec collegia nec ecclesie Cathedrales ullam velint reeipere diseiplinam. Et quod multo peius est, alter ab altero adeo dedignatur erudiri et perfici, ut si non ab ipsis primum processerit verbum atque diffinitio, digniores sese putent, quam ut ab aliis reeipiant: et irrisores (seil, des Wortes Gottes, Z. 18) tantummodo fiunt.

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Streitigkeiten der Orden untereinander wendet Luther diesen Gedanken an. Eine religio kämpft gegen die andere, ohne der Gemeinschaft zu achten58. Nach alldem kann kein Zweifel bestehen, daß es möglich ist, bei dem Collector Psalterii das traditionelle katholische Mönchsideal wiederzufinden. Zwar sind von Luther einige Gedanken nicht geäußert worden, die man an sich erwarten würde, wenn man Luther hier auf der Linie des monastischen Ideals des Mittelalters sieht59. Vor allem fehlen abwertende Aussagen über die Ehe oder die Leiblichkeit überhaupt. Andererseits aber hat Luther doch in positiver Hinsicht an dem besonderen Weg, den die Mönche gehen, persönlich und theologisch festgehalten. Die wesentlichen Seiten des mittelalterlichen Mönchsideals sind, jedenfalls wenn man etwa an Augustin oder Thomas denkt, in der ersten Psalmenvorlesung durchaus wiederzuerkennen. 5. Allein, es mußte bei der Wiedergabe von Luthers Stellung zum traditionellen Mönchsideal gelegentlich schon darauf hingewiesen werden, daß bestimmte Gedanken bei Luther in einem anderen Zusammenhang auftauchen und dadurch auch einen anderen Sinn gewinnen. Tatsächlich läßt sich ausnahmslos an allen wichtigen Punkten des Mönchsideals beobachten, daß Luther eine theologische Veränderung mit dem Überkommenen vorgenommen hat. Es handelt sich dabei nicht um eine Aufhebung, auch nicht um eine Relativierung des überkommenen monastischen Ideals. Vielmehr geht es Luther um eine theologische Neubesinnung. Die spezifisch monastischen Ideale werden ihres besonderen Charakters, den sie im Mönchtum immer mehr gewonnen hatten, entkleidet und vom Neuen Testament her mit neuem, eben dem ursprünglichen, Inhalt gefüllt. Diese Beobachtung, die oben schon für die Randbemerkungen von 1509—1510 hinsichtlich der superbia und der humilitas ausgesprochen wurde60, gilt für die Psalmen Vorlesung in verstärktem und erweitertem Maße. Wie oben schon festgestellt wurde, geht es für den Collector Psalterii bei dem mönchischen Wege darum, daß man die Schmach Christi teilt, selbst zum Tor wird und die Verachtung der Welt auf sidi nimmt61. Der Verzicht auf das Leben in der Welt bedeutet vor allem Verzicht auf den Eigenwillen als den Feind des Menschen. Der Gehorsam ist im Grunde nichts anderes als das Hören auf das Wort, verwirklicht in der Tat, die nicht nadi dem Warum fragt 62 . Das Vorbild der Anachoreten wird anerkannt, gerade hinsichtlich des Gehorsams, und zugleich vorsichtig kriti58

WA 4,76,29 ff. (Sdi. Ps. 90,8) nunc in Ecclesia omnia sunt miserabilia. Quia religio contra religionem, laborant istis quattuor malis, timore noctis, sagitta diei, peste tenebrarum et morsu meridiei. Putant enim pro zelo se obsequium et claram velut meridiem iustitiam Deo prestare, quod invicem mordent amarissimo morsu, et simul sese vastant et insidiantur s i b i . . . Quod venit inde, quia doctrinas et mandata hominum i a c t a n t . . . Z. 37 f. Fides autem recta, quia humilitatem d o c e t . . . , mitem esse et obedientem, ista facile vitat. 59 Zu humilitas, perfectio und profectio siehe unten S. 254 ff. Siehe oben S.225f. 82 « Siehe oben S. 229. Siehe oben S. 231 f.

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siert, nicht nur auf Grund der extremen Leistung, sondern vor allem wegen der Absonderung der Mönchsväter von der Gemeinschaft der Kirche63. Die concupiscentia ist zwar auch diefleischlicheBegierde, aber im entscheidenden ist sie doch der Ichwille des Menschen, und dieser wiederum ist ineinsgesetzt mit dem Unglauben, weshalb der Gegensatz zur concupiscentia nicht eigentlich die Keuschheit, sondern der Glaube ist, der der Seele die Jungfräulichkeit verleiht, so daß sie dann auch den Leib zügeln kann 84 . Und bei der Gemeinschaft geht es letztlich nicht um die imitatio des Lebens der Urgemeinde, sondern um die Bindung an die communio der Kirche65. Diese Vertiefung und Umprägung des monastischen Ideals gilt es noch etwas näher ins Auge zu fassen. Es ist aus den angeführten Beispielen deutlich, daß das Gemeinsame dieser Abwandlungen und Neuformungen des überkommenen Mönchsideals die Grundthematik ist, um die es Luther in der ersten Psalmenvorlesung geht, nämlich um das rechte Verstehen des Psalmtextes, um die beiden Begriffe des Wortes und des Glaubens. Göttliche Weisheit und menschliche Vermessenheit, göttliche Demut und menschlicher Hochmut, Gericht und Evangelium66: dies sind die entscheidenden Gegenüberstellungen, die immer wieder in der Psalmenvorlesung begegnen. Dieser öfter erörterte Grundgedanke der Psalmenvorlesung kann und soll hier nicht noch einmal ausführlich entfaltet werden67. Wohl aber ist die Auswirkung dieser neuen Thematik und ihrer Durchführung auf das monastische Ideal, wie es sich in der ersten Psalmenvorlesung zeigt, darzustellen; die Frage, wie sich nach Luther Mönchsgelübde und Taufe zueinander verhalten, wird unten noch erörtert werden M. Um die Bedeutung dieser neuen Thematik für das monastische Ideal aufzuzeigen, empfiehlt es sich, bei dem Scholion zu Ps. 1,5 einzusetzen. In diesem, von Luther später überarbeiteten Text findet sich eine grundsätzliche Besinnung über das Wesen des Gerichtes, von wo aus auch die monastischen Ideale in ihrer Bedeutung für den jungen Luther ins rechte Licht gerückt werden. Luther unterscheidet hier ein doppeltes Gericht, einmal das „passive", bei dem wir von dem Herrn gerichtet werden, zum anderen das Gericht, das wir über uns selbst aussprechen. Was das erste betrifft, so besteht 63 44 Siehe oben S. 233 f. Siehe oben S. 236 f. « Siehe oben S. 238 ff. " Siehe dazu A. Brandenburg, Gericht und Evangelium — Zur Worttheologie in Luthers erster Psalmenvorlesung, 1960. Brandenburg dürfte die Bedeutung des iudicium für die Psalmenvorlesung zu stark und einseitig betont haben. Siehe meine Rezension, ThZ 17, 1961, S.298ff.; vgl. F.Lau, LJB 28, 1961, S.llOff. 47 Siehe dazu vor allem die Arbeiten von G. Ebeling, Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, in: ZThK 48, 1951, S. 172ff.; Luthers Psalterdruck vom Jahre 1513, ebda. 50, 1953, S.43 ff.; Luthers Auslegung des 14. (15.) Psalms in der ersten Psalmenvorlesung im Vergleich mit der exegetischen Tradition, ebd. 50, 1953, S. 280 ff.; Luthers Auslegung des 44. (45.) Psalms, in: Lutherforsdiung heute — Referate und Berichte des 1. Internationalen Lutherforsdiungskongresses Aarhus, 18.—23. August 1956, ed. V. Vajta 1958, S. 32 ff. 68 Siehe unten S. 249 ff.

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das Gericht des Herrn darin, daß uns der Herr aus der Mitte der Gottlosen herausnimmt. Dies geschieht auf eine zweifache Weise: zunächst, indem er uns in körperlicher Hinsicht Zucht und Kasteiung auferlegt; sodann, indem er uns auch hinsichtlich der Seele durch die Gnade der Zucht unterwirft. In diesem Sinne, meint Luther, sei das Wort des Apostels zu verstehen: „Wenn wir aber von dem Herrn gerichtet werden, so werden wir gezüchtigt, damit wir nicht zusammen mit der Welt verdammt werden" (1.Kor. 11,32). Was das zweite Gericht angeht, das Gericht, das wir über uns selbst vollziehen, so geschieht es dadurch, daß wir uns selbst anklagen und unsere Sünde bekennen; dadurch gestehen wir, daß wir der Strafe und des Todes würdig sind69. Hier hat man den ganzen Spannungsbogen, den das „Gericht" für den jungen Luther darstellt. Die Gedanken, die unten noch nachzutragen sind, lassen sich leicht in ihn einfügen. Das Entscheidende bei dem Gericht ist in beiden Punkten die annihilatio sui. Das Gericht geschieht gegenwärtig, auf daß wir in der Zukunft bewahrt werden. Es betrifft in gleicher Weise Seele wie Leib und ist von uns in der Weise nachzuvollziehen oder hinzunehmen, daß wir uns als seiner würdig bekennen. Das heißt, das Gericht geschieht letztlich nicht anders als durch die Verkündigung des Wortes und das glaubende Hören. Was die disciplina betrifft, so ist bedeutsam, daß sie als Vollzug des Gerichts verstanden wird, ebenso wie die castigatio. Es handelt sich also bei den Werken der Askese nicht um etwas, was der Erlangung der Vollkommenheit oder der Erreichung höherer Stufen auf dem Wege zur Vollkommenheit oder auch nur der Vervollkommnung im Sinne des Heiliger·Werdens dienen soll. Das alles braucht nicht ausgeschlossen zu sein. Aber das Entscheidende ist, daß disciplina und castigatio als Vollzug des Gerichtes verstanden werden, und zwar des in Christus bereits ergangenen Gerichtes. Der Blickpunkt, unter dem der Collector Psalterii die asketischen Werke des Mönches sieht, ist also nicht mehr der der perfectio wie bei Thomas oder der zunehmenden Befreiung des Menschen von allem Äußeren, auch von seiner Leiblichkeit, wie bei Hieronymus; er ist auch nicht einmal der, daß die noch verbliebenen sündhaften Reste im Menschen ausgetrieben werden, obwohl diese Vorstellung erst recht nicht auszuschließen ist. Der Blickpunkt ist vielmehr eben der eigentliche Vollzug des Gerichtes, wie es jetzt über den Menschen ergeht, so daß er im eschatologischen Gericht bewahrt wird. Zugespitzt gesagt, Luther hat bei den asketischen Werken des Mönches nicht mehr die eschatologische Vollendung oder die Vervollkommnung im Auge. 89 WA 3,24,29ff. (Sch.Ps. 1,5) Est autem multiplex iudicium. l.primo passivum, quo a domino iudicamur, scilicet separando de medio malorum. Et hoc secundum corpus fit per disciplinam et castigationem. Secundum animam autem per gratiam. Sic Apostolus »Cum autem iudicamur a domino, corripimur ut non cum hoc mundo condemnemur." 2. Secundo, quo nosipsos iudicamus. Hoc fit seipsum accusando et confitendo peccatum suum, quo agnoscimus, quod digni sumus pena et morte.

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Er denkt dabei audi nicht an den Weg, den der Mensch von seinem gegenwärtigen Zustand zu einer Verbesserung noch hier auf Erden zurücklegt. Der Blick ist vielmehr zurückgewandt zu dem einmaligen und endgültigen Gericht, wie es in Christus am Kreuz ergangen ist, wobei jedoch dieses einmalige und vergangene Gericht als gegenwärtig verstanden wird: es muß jetzt nachvollzogen und hingenommen werden. Die zugrunde liegende Zeitvorstellung ist also eine andere als beim mittelalterlichen Mönchtum, und zugleich tritt an die Stelle der linearen Fortschrittsauffassung der punktuelle Gedanke der Vernichtigung. In der Psalmenvorlesung begegnen nun aber auch andere Gedanken, die zwar in manchem den Ton stärker auf das monastische Ideal legen, aber doch ganz in den Zusammenhang des Scholion zu Ps. 1,5 hineingehören. So äußert Luther etwa, daß es die Aufgabe der Oberen ist, über die Untergebenen Gericht zu halten. Dabei ist es Sache der Untergebenen, dieses Gericht hinzunehmen. Gehorsam und Demut werden als Vollzug dieses Gerichts verstanden 70. Wie auch immer Luther zu bestimmten Seiten des monastischen Ideals, insbesondere den Gehorsamsleistungen der ägyptischen Anachoreten, gestanden haben mag, so ist doch der Sinn dieser Werke für ihn in jedem Fall ein ganz anderer als für die Tradition vor ihm. Man wird aber sachlich in diesen Zusammenhang hineinnehmen dürfen, was Luther an anderer Stelle in der Psalmenvorlesung ausgeführt hat, nämlich in dem Scholion zu Ps. 69,1 f. („Gott, hilf mir; denn das Wasser geht mir bis an die Seele"). Luther deutet diesen Vers, nachdem er ihn zunächst auf den leidenden Christus, sodann auf die Märtyrer interpretiert hat, darauf, daß jeder Christ erkennen soll, daß er in Sünden und im Elend sei und auf diese Weise gedemütigt im Geiste diese devotissima oratio bete. Weiter versteht Luther dieses Wort von dem Elend der Kirche, wie es gegenwärtig am Tage ist, und in diesem Zusammenhang heißt es dann, daß dieser Vers im tropologischen Sinne auch bedeute, daß man die Nichtigkeit des Gebetes vor Gott erkenne. Der Vollzug des Gerichts, wie er durch die accusatio sui und die confessio coram Deo sowie durch die Hinnahme der Züchtigung und den Gehorsam gegen die Oberen geschieht, geht also soweit, daß auch das demütige Gebet nicht als Leistung verstanden werden kann, sondern vor Gott ebenfalls ein nihil ist71. 70 WA 4,405,40 ff. (Sch.Ps. 121,5) Igitur inferiorum non est expostulare iustitiam superiorum, quia hoc est eorum judicium sibi rapere. Ipsorum est enim iustitiam expostulare inferiorum. Et horum est suscipere iudicium et obedire eis, per quod fit in pace correctio malorum. Obedientia enim tollit omne malum pacifice et pacificum sinit esse regentem. Idem facit humilitas, que est nihil aliud nisi obedientia et tota iustitia. Quia totaliter ex alterius iudicio pendet, nihil habet sue voluntatis aut sensus, sed omnia vilificat sua et prefert atque magnificat aliena, scilicet superioris. A. Brandenburg, op. cit., S. 35, sagt etwas blaß, daß hier obedientia und humilitas als „Bestandteil" des iudicium zu verstehen sind. Es dürfte sich nach Luther wirklich um dessen Vollzug handeln. 71 WA 3,439,27 ff. (Sdi. Ps. 68,1 f.). Z.30ff. Tercio Tropologice, scilicet ut agnoscat se Christianus esse in peccatis et miseriis, et sie humiliatus in spiritu haue devotissimam ora-

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In einer gewissen Abwandlung begegnet eine ähnliche Vorstellung und Ausweitung des überkommenen monastischen Ideals ebenfalls in einem Scholion zu Ps. 1. Dort führt Luther (zu Ps. 1,2) aus, daß es „heute" Menschen gibt, die das Wort des „Propheten", d.h. des Psalmisten, verkehren und es in den Dienst ihrer eigenen Werke stellen. Von ihnen gilt, daß das Gesetz des Herrn ihrem Willen Untertan ist, statt daß ihr Wille dem Gesetz des Herrn folgt. Solche Menschen finden sich vornehmlich unter den Mönchen. Sie haben sich ihr Urteil selbst „reserviert", indem sie den Befehl ihres Oberen beurteilen. Bevor sie gehorchen, wollen sie Gründe für die Anordnungen hören. Darin gleichen sie den Juden, indem auch sie ein Zeichen suchen und sagen: „Welches Zeichen gibst du uns, warum du das tust?" Sie würden das nicht tun, wenn nicht ihre superbia das Gericht ablehnte, um selbst zu urteilen bzw. zu richten. Das heißt aber, daß sie nicht unter dem Oberen stehen wollen, sondern über ihm. Aber der Herr gibt ihnen ein Zeichen: „Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn wieder errichten." Sie brechen nämlich den Tempel seines mystischen Leibes ab, d.h. sie geben dem ganzen Konvent Ärgernis und zerstören ihn durch ihr schlechtes Beispiel. Aber das Wort „in drei Tagen wird er wieder errichtet" bezieht sich auf die drei wesentlichen Gelübde. „O Bruder", ruft dieses Wort nach Luther zu, „dies ist das Zeichen, dies der Grund, weshalb ich das befehle und nichts anderes: weil du Gehorsam, Armut und Keuschheit gelobt hast. Dieser Grund muß dir genügen, und einen anderen darf ich dir nicht geben. Deine Sache ist es zu gehorchen. Denn dir wird kein anderes Zeichen gegeben als das Zeichen des Jona, daß du nämlich drei Tage im Herzen der Erde bist. Du zerstörst also den Tempel, so weit du nur kannst, aber bei mir liegt es, ihn, nachdem du zurechtgebracht bist, wieder zu errichten." Dieses sind die Worte des Prälaten an seinen Untergebenen72. tionem faciat. Z. 38 ff. Quarto Est prophetia de miseria Ecclesie, qua videtur nostris temporibus currere, de qua 2 Timoth. 3. „In diebus novissimis erunt homines seipsos amantes etc." Sic Aque sunt ut supra (Vgl. S. 417 f.). Eodem modo et sequentes versus duo possunt quadrupliciter intelligi, ut ex dictis facile colligi potest. Quia rauce facte sunt fauces et defecti oculi Christo et martyribus corporaliter. Tropologice autem: agnoverant, quod eorum oratio et oculus coram deo nihil sit. Et quarto quod in temporibus nostris vere per peccatum sie contingit. 72 WA 3,18,3 S. (Sdi.Ps. 1,2) Sunt autem quidem nunc hodie, qui os huius prophete discorquere et linguam eins invertere nituntur. Qui suis inflatis sensibus et distortis operibus volunt, quod lex domini sit in voluntate eorum et non voluntas eorum in lege domini. Hoc enim et Iudei (ultra hoc quod non erat voluntas eorum in lege domini...) voluerunt... Ac sic potius ipsi deo ponunt legem quasi sit obligatus, quod ipsi voluerint et elegerint, aeeeptare, quam reeipiant ab eo legem, ut faciant, que ipse elegit et vult. Tales inquam nunc precipuie religiosi multi sunt. Qui sibi reservaverunt judicium, super mandato prelati sui, et ipsi volunt concludere et docere eum, quid eis debeat preeipere. Aut certe antequam faciant, quod iubentur, rationem volunt sibi reddi ac demonstrari, quare et ad quid sie preeipiat. Et similes in hoc ludeis, querentes signum et dicentes: „Quod ostendis nobis signum, quia hec facis?" i.e. da rationem et signum et proba mihi, cur istud iubeas? Et non hoc facerent, nisi quia superbia eorum est, qui iudicare volunt et non

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Audi hier findet sich zunächst das traditionelle Mönchsideal. Luther bejaht die drei „substantiellen" Gelübde und betont die Notwendigkeit, sie genau zu beobachten. Er gibt ihnen sogar eine sehr tiefe Bedeutung. Wenn hochmütige Mönche durch ihre Selbstüberhebung den Tempel des Herrn, seinen Leib, d. h. hier den Konvent, abbrechen, so sind die Gelübde bzw. ihre genaue Einhaltung es, die die Wiedererrichtung des Tempels des Herrn bewirken. Ein anderes „Zeichen" als die drei Gelübde wird den Mönchen nicht gegeben. Sie sind also in einem ganz ausschließlichen Sinne an die genaue Beobachtung des Gelobten gewiesen, an nichts darüber hinaus und an nichts darunter. Jedes „Zurückschauen", wie es in früherer Zeit so oft verworfen worden war, ist auch nach Luther verboten, in gleicher Weise jedes „Vorausschauen", das nach dem Sinn fragt. Insofern begegnet hier zwar nicht der früher oft erhobene Ausschließlichkeitsanspruch für das monastische Ideal als die allein christliche Lebensweise, aber doch die Vorstellung, daß der Mönch weiter nichts als Mönch sein darf. Und doch ist dieser Gedanke hineingenommen in den umfassenderen des Gerichtes und des Gehorsams gegen das Gesetz des Herrn. Die Einhaltung der Gelübde ist für den Mönch der exemplarische Fall, wo es sich entscheidet, ob er sich unter das Gericht des Herrn stellt oder selbst Gericht üben will. Es wird also die Notwendigkeit, die Gelübde zu erfüllen, nicht sowohl aus der Profeß abgeleitet — sie steht selbstverständlich auch im Hintergrund —, auch nicht von dem Gedanken der zu erlangenden perfectio her begründet, sondern allein aus dem umfassenden Verständnis des Neuen Testamentes geschlossen, daß der Christ und hier der Mönch sich dem Gericht des Herrn zu stellen hat. Auf der gleichen Linie dieser Erwägungen über die Notwendigkeit des Gerichtes, die sich in dem Gehorsam der Mönche als dem Vollzug der annihilatio sui erweist, liegen auch einige andere Äußerungen Luthers, in denen er grundsätzlich zum Weg des Mönchs Stellung nimmt. Wie Luther schon in der Psalmenvorlesung in ganz umfassender Weise menschliche Weisheit und göttliche Torheit einander gegenüberstellt und von daher zu einem Neuansatz in seiner Vorstellung von der ratio gelangt73, so treten auch menschliche Fündlein und die „Räte Gottes" einander gegenüber. Es ist das Wesen iudicari, et non est voluntas eorum in lege eius, sed precise lex eius in voluntate eorum. Et certe hoc non est sub prelato esse, sed supra eum. Dat autem eis dominus signum: „Solvite templum hoc et in triduo reedificabo illud." Solvunt enim et illi templum corporis sui mystici (i.e. totum conventum scandalisant et destruunt malo exemplo). „Sed in triduo" i.e. tribus votis substantialibus „reedificatur", q.d. Ο frater, ecce hoc signum est, hec ratio, quare hoc iubeam et nulla alia: Quia tu promisisti obedientiam, paupertatem, et castitatem. Hec ratio debet tibi sufficere, nec debeo tibi aliam dare, tuum est obedire. Non enim datur aliud tibi signum, nisi hoc signum lone, ut scilicet isto triduo sis in corde terre. Tu ergo qui solvis templum et destruis, quantum in te est, sed ad me pertinet ipsum (te emendato) reedificare. Hec verba sunt prelati ad suum subditum. 73 Siehe dazu B. Lohse, Ratio und Fides — eine Untersuchung über die ratio in der Theologie Luthers, 1958, S.30ff.

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aller Häretiker und aller Hochmütigen, allein über ihre eigenen Werke zu sinnen; sie tun das, was ihnen selbst gut scheint, und bedenken nicht, daß sie nach den Werken Gottes zu fragen haben. So lehren sie nur ihre eigenen Erfindungen und ihre eigene Weisheit. Die Heiligen aber folgen den „Erfindungen" Gottes, das heißt der Weisheit, die er selbst „gefunden" hat. Diese „Erfindungen" Gottes sind seine wunderbaren Räte, durch welche er den Teufel besiegt und die Welt seiner Macht entrissen hat 74 . Zwar ist es nicht sicher, ob Luther hier mit den „consilia" absichtlich einen monastischen Terminus technicus gewählt hat. Aber er dürfte diesen Ausdrude doch schwerlich zufällig gebraucht haben. Bei den Räten, denen der Mönch folgt, geht es letztlich um dasselbe, was Gott mit seinen „Räten" getan hat, nämlich um Gericht und Evangelium, wie sie in Christus ergangen sind und wie sie auch von dem Mönch nachzuvollziehen sind. Von dieser tiefen Neubesinnung auf das monastische Ideal her ist es zu verstehen, wenn Luther davon spricht, daß der Mönch sich Christus „gelobt" 75. Gewiß, auch das konnte früher gesagt werden und ist auch schon vor Luther oft ausgesprochen worden. Aber was bei Luther neu ist, das ist der Gedanke, daß der Mönch dadurch ein „Sklave der Gerechtigkeit" wird und daß hierin schon die „Vollkommenheit des christlichen Lebens" besteht. Auch der Gedanke der perfectio76 wird von Luthers theologischem Denken über iudicium und evangelium her umgeprägt und vertieft. Er wird nicht mehr linear, sondern punktuell verstanden. Weiter sei auf die schon oben erörterte Stelle Sch.Ps. 102,7 f. verwiesen, wo Luther die drei Vögel pelicanus, nycticorax und passer nacheinander auf die monastischen Tugenden und dann auf die Verfolgung der Kirche, wie sie u.a. auch durch die falschen Brüder und die Heuchler erfolgt, deutet77. So gewiß Luther an dem Mönchtum festhält und so sicher die Mönchsgelübde ein Weg sind, das Gericht Gottes anzunehmen, so droht doch hier zugleich die Gefahr, daß alles wieder in Frage gestellt wird. Luther kann aus demselben Psalm einmal das traditionelle Mönchsideal, zum anderen die schärfste Kritik an einer Verwirklichung desselben herauslesen, die nicht das Gericht Gottes beachtet. Nur die Vertiefung des monastischen Ideals von den Grundbegriffen in Luthers Psalmenvorlesung her ermöglicht dieses scheinbare Paradox. Es ist sachlich nichts anderes, wenn Luther den Gedanken über das Gericht in der Form ausspricht, daß es für den Christen darauf ankommt, mit Christus zu sterben und in die Unterwelt zu fahren, weil es anders keine Auferstehung gibt. Auch dieser Gedanke hat bei Luther einen monastischen Bezug, insofern er einschließt, daß die Weltmenschen, die ihrem eigenen Wohl leben und nicht mit dem Herrn in die Unterwelt zu fahren bereit sind, son74

WA 3, 542,22ff. (Sdi.Ps.76,13); zit. oben S.231 Anm.18. Siehe das Zitat oben S. 228 Anm. 8. 77 » Näheres dazu unten S. 258 ff. Vgl. oben S. 229 f.

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Die Heiligen

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dem gleich die Auferstehung haben wollen, die christliche Botschaft mißverstehen78. Hier wird jedoch faktisch die Differenzierung zwischen Mönchen und Weltmenschen durch die andere überlagert und ersetzt, wonach die einen mit Christus sterben und dann auch auferstehen, während die anderen, die das Sterben nicht auf sich nehmen wollen, auch nicht die Auferstehung erlangen werden. Auch hier geht es also darum, das Gericht Gottes anzunehmen. Luther fährt etwas später fort, daß daher niemand, der nicht als Verdammter in der Hölle war, ja der nicht schon ein Sterbender, nämlich mit Christus, ist, in rechter Weise beten kann. Und solange man das noch nicht „hat", soll man nicht wähnen, daß man schon vollkommen sei. Vielmehr, je mehr man von der Hölle und dem Sterben betroffen ist, um so mehr schreitet man auch fort; umgekehrt, je weniger man davon betroffen ist, um so mehr fällt man zurück. So geht es hier darum, demütig zu werden79. Und etwas später gibt Luther dem tiefen Gedanken Ausdruck, daß alle Heiligen „die Verwundeten Christi" sind, weil sie sein Kreuz tragen: verwundet sind sie durch das Wort des Evangeliums und getötet von dem Herrn gemäß dem Fleische. Denn sie töten, kasteien und erniedrigen sich selbst in der Demut und Furcht des Herrn, in Armut und Verachtung. Das aber ist die barmherzige und väterliche Tötung Gottes80. 6. Hier tritt schon ansatzweise zugleich ein weiterer Gedanke hervor, der ebenfalls eine Umbildung des überkommenen monastischen Ideals bedeutet, nämlich die Auffassung von den Heiligen81. Gewiß finden sich in der Psalmenvorlesung nicht wenige Stellen, wo das Heiligenideal noch in der alten Form begegnet. Und doch findet auch hier eine Umprägung statt. Das Ideal der Sündlosigkeit ist für Luther nicht mehr realisierbar. Hier zeigt sich ein bedeutsamer Unterschied zum früheren monastischen Ideal82. Luther hat 78

WA 3,432,7 ff. (Sch.Ps. 68,17) Quare qui non cum Christo moritur, ad inferos descendit, nunquam etiam cum eo resurgit et ascendet... Sequitur ergo quod mundani homines, quia in bonitate sua vivunt et non descendunt cum domino ad inferos, sed potius ascendunt ad coelos, ipsi tandem descendent et non ascendent. n WA 3,433,24 ff. (ebd.) Conclude igitur. Quandocunque non es sie affectus, sicut iam in inferno ardens et damnatus, vel ut iam moriens, non poteris digne tales orationes dicere, nec presumas quod perfectus sis. Quia quanto expressius et intensius hunc affectum induere potes, tanto magis proficis, et quanto frigidius, tanto magis deficis. Quare hinc optimam habes occasionem humiliandi. 80 WA 3,437,29 ff. (Sdi. Ps. 68,27) Vulnerati Christi sunt omnes saneti eius, quia portant crucem eius: tropologice sunt vulnerati verbo evangelii et percussi a domino (sicut Caput eorum) secundum carnem. Quia mortificant seipsos, castigant et affligunt iugiter in humilitate et timore Dei, in paupertate et contemptu. Hec autem est percussio Dei misericors et paterna. 81 Siehe dazu L. Pinomaa, Die Heiligen in Luthers Frühtheologie, in: Studia Theologica 13,1, 1959, S . l f f . , bes. S.4ff., 34 ff. 82 L. Pinomaa, op. cit., äußert nach Erörterung einer Reihe von einschlägigen Stellen mit Recht (S. 8): „Man kann somit feststellen, daß Luther die Möglichkeit, es gebe sündlose Mensdien, kategorisch ablehnt. Wenn jemand so etwas verteidigen und behaupten will, es

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aber darüber hinaus schon in der Psalmenvorlesung den Gedanken ausgesprochen, daß der Heilige ganz unter der Führung Gottes steht und daß Gott es ist, der in ihm und durch ihn wirkt. Dieser Gedanke besagt zunächst, daß Gott den Heiligen „den Anfechtungen preisgibt und (seil, ihn) in dieser Weise krönt. Das Ganze wird im Lichte des Kreuzes gesehen. Gott macht seinen Heiligen dadurch wunderbar, daß er ihn durch das Leiden errettet" 83 . Für unseren Zusammenhang, in dem es insbesondere auch um die Werke der Heiligen geht, ist freilich ein anderer Gedanke ebenfalls bedeutsam, daß nämlich Gott in den alten Vätern gewirkt hat. An die wunderbaren Werke des Herrn gedenken heißt, an die Werke gedenken, die Gott in ihnen getan hat. Denn auch die Heiligen haben nichts von sich aus tun können, sondern nur Gott hat in ihnen handeln können. Luther bringt audi hier wieder sofort den für ihn so zentralen Gedanken des Gerichtes und der Gerechtigkeit zum Ausdruck: auch die Gerechtigkeit der Heiligen ist ja vor Gott nichts; darum kommt es nicht auf ihre Worte an, sondern auf die Werke, die der Herr in ihnen und durch sie vollbracht hat 84 . Weiter heißt es, daß die Wege, die der Herr mit seinen Heiligen geht, sich menschlichem Begreifen entziehen. Die Rechte des Herrn führt sie wunderbar in die Tiefe, auf diese Weise allen Eigenruhm ausschließend85. Die gleichen Gedanken kann Luther auch mit Bezug auf Christi Handeln aussprechen. Da heißt es dann, daß Christus es ist, der die Wunder in allen heiligen Märtyrern, Jungfrauen und Konfessoren getan hat 88 . Luther bezeichnet also die besonderen Leistungen, die bestimmte hervorragende Christen vollbracht haben, niemals als die Frucht ihres Glaubens oder als das Ergebnis ihrer Askese oder als das Verdienst ihrer guten Werke. Solche Gesei möglidi, ein sündloses Leben zu führen, muß er den scheinheiligen Heuchlern zugerechnet werden." Da Pinomaa die entsprechenden Aussagen in der ersten Psalmenvorlesung gründlich ausgewertet hat, kann hier auf Einzelnachweise verzichtet werden. Lediglich zu dem Gedanken der Führung der Heiligen durch Gott sind einige Ergänzungen anzubringen. 83 L. Pinomaa, op. cit., S. 34; dort audi Belege. 84 WA 3,541,30 ff. (S