Mehrsprachigkeit in der Frühpädagogik: Subjektive Theorien von Eltern und Kitafachkräften vor dem Hintergrund migrationsgesellschaftlicher Ordnungen 9783839449004

Mehrsprachigkeit gehört heute unbestreitbar zum Alltag in der Frühpädagogik. Dennoch ist Sprachbildung, die als Vorausse

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Mehrsprachigkeit in der Frühpädagogik: Subjektive Theorien von Eltern und Kitafachkräften vor dem Hintergrund migrationsgesellschaftlicher Ordnungen
 9783839449004

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1. Einleitung
Exkurs zur Bezeichnungspraxis ‚mit Migrationshintergrund‘ und ihrer Verwendung
THEORETISCHER TEIL
2. Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit
3. Forschungsüberblick heterogene Entwicklungsumwelten
4. Forschungsüberblick Sprachaneignung und Mehrsprachigkeit
5. Mehrsprachigkeit und heterogene Entwicklungsumwelten aus migrationsgesellschaftlicher Perspektive
6. Zwischenbilanz und Entwicklung der Fragestellung
EMPIRISCHER TEIL
7. Methodologische Überlegungen und methodisches Vorgehen
8. Ergebnisse
9. Schlussbetrachtung
Literatur

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Janne Braband Mehrsprachigkeit in der Frühpädagogik

Pädagogik

Janne Braband (Dr. phil.), geb. 1975, promovierte an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Mehrsprachigkeit in der frühen Kindheit und Bildung in der Migrationsgesellschaft. Zu ihrem Promotionsthema mehrsprachiges Aufwachsen aus Eltern- und Fachkraftperspektive führt sie Fortbildungen mit Praktiker_innen durch. Sie forscht im Rahmen des Projektes »Unterstützte Kommunikation für alle« zum Thema Peerinteraktion und Einsatz von Gebärden in der Kita, ebenfalls an der Universität Hamburg.

Janne Braband

Mehrsprachigkeit in der Frühpädagogik Subjektive Theorien von Eltern und Kitafachkräften vor dem Hintergrund migrationsgesellschaftlicher Ordnungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4900-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4900-4 https://doi.org/10.14361/9783839449004 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 7 1

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Einleitung | 9 Problemzusammenhang | 10 Forschungsüberblick und theoretischer Bezugsrahmen | 11 Fragestellung | 13 Methodisches Vorgehen | 14 Ergebnisse | 15

Exkurs zur Bezeichnungspraxis ‚mit Migrationshintergrund‘ und ihrer Verwendung | 17

THEORETISCHER TEIL 2

Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit | 25

2.1 2.2 2.3 2.4

Entwicklung des Angebotes und der Inanspruchnahme | 26 Entwicklung des Wissenschafts- und Forschungsfeldes | 29 Zugangshürden für Familien ‚mit Migrationshintergrund‘ | 31 Qualitätsforschung | 32

3

Forschungsüberblick heterogene Entwicklungsumwelten | 39

3.1 Kritik am ethnozentrischen Qualitätsmodell | 40 3.2 Kulturvergleichende Kindheits- und Säuglingsforschung | 45 3.3 Familiale Entwicklungsumwelten im Kontext von Migration | 50 4

Forschungsüberblick Sprachaneignung und Mehrsprachigkeit | 57

4.1 Sprachaneignung | 58 4.2 Mehrsprachiges Aufwachsen | 65 4.3 Mehrsprachigkeit in der Kita | 76 5

Mehrsprachigkeit und heterogene Entwicklungsumwelten aus migrationsgesellschaftlicher Perspektive | 91

5.1 Grundbegriffe und Erkenntnisinteresse | 93

5.2 Sprache als Differenzmerkmal | 101 5.3 Migrationsgesellschaftliche ‚Sprachigkeit‘ | 104 5.4 Umgang mit Mehrsprachigkeit in der Frühpädagogik | 106 6

Zwischenbilanz und Entwicklung der Fragestellung | 117

6.1 Die Frage nach sprachlich heterogenen Entwicklungsumwelten in der frühen Kindheit | 117 6.2 Die Frage nach dem migrationsgesellschaftlichen Kontext | 121

EMPIRISCHER TEIL 7

Methodologische Überlegungen und methodisches Vorgehen | 127

7.1 Methodologische Überlegungen | 127 7.2 Erhebungsmethodik | 131 7.3 Auswertungsmethodik | 140 Ergebnisse | 151 Subjektive Theorien der Eltern | 151 Handlungsleitende Vorstellungen und Orientierungen der Eltern | 200 Spuren des migrationsgesellschaftlichen Kontextes bei den Eltern | 211 Subjektive Theorien der Fachkräfte | 220 Handlungsleitende Vorstellungen und Orientierungen der Fachkräfte | 262 8.6 Spuren des migrationsgesellschaftlichen Kontextes bei den Fachkräften | 272 8.7 Ergebnisse von Eltern und Fachkräften im Vergleich | 290 8

8.1 8.2 8.3 8.4 8.5

Schlussbetrachtung | 301 9.1 Die Rolle der Sprache für Identitätsbildung und Selbstpositionierung | 303 9.2 Monolinguales Sprachregime und Normalitätsvorstellungen im professionellen Handeln | 307 9.3 Möglichkeiten einer Weiterentwicklung der pädagogischen Praxis | 311 9.4 Grenzen der Untersuchung und Ausblick auf mögliche Anschlussuntersuchungen | 318 9

Literatur | 323

Danksagung

Diese Arbeit wäre ohne die tatkräftige Unterstützung einiger Personen nicht möglich gewesen, weshalb ich mich hier bei ihnen bedanken möchte. Mein Dank gilt zuerst den zehn Untersuchungspartnerinnen, die mir ihre Zeit geschenkt und sich mit großer Offenheit auf die Rekonstruktion ihrer subjektiven Theorien eingelassen haben. Dabei haben sie mir tiefe Einblicke in familiäre und biographische Zusammenhänge gewährt, was keineswegs selbstverständlich ist. Ganz herzlich danken möchte ich auch Prof. Dr. Drorit Lengyel, die mich durch den gesamten Prozess des Dissertationsprojektes zuverlässig und sehr wertschätzend begleitet und mir stets viel Raum für meine Untersuchung gegeben hat. Auch das ist nicht selbstverständlich und ich weiß, dass die Arbeit ohne diese Unterstützung nicht fertig geworden wäre. Ebenso danke ich Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu, Prof. Dr. Hans-Christoph Koller und Prof. Dr. Inci Dirim. Sie haben mir zu verschiedenen Zeitpunkten des Projektes entscheidende inhaltliche Impulse gegeben, die meine Auseinandersetzung bereicherten. Auch in meinem privaten Umfeld bin ich stets mit viel Interesse und Zuspruch unterstützt worden. Besonders danke ich hier meinem Mann und meinen wunderbaren Kindern, sowie vielen anderen geduldigen Zuhörerinnen und Ratgebern. Der größte Dank gebührt allerdings meiner Mutter, die in ihrem beruflichen Leben als Kitaleitung eine echte Pionierin der Mehrsprachigkeit war. Die Grundlage für alles, was in dieser Arbeit steckt, verdanke ich Dir.

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Einleitung

Die vorliegende Untersuchung erarbeitet Einblicke in die Tiefendimensionen mehrsprachigen Aufwachsens anhand der Vorstellungen und Orientierungen von Eltern und Kitafachkräften. Dabei zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen Sprache, Zugehörigkeit und Identität, wie bereits in den folgenden beiden Zitaten von zwei befragten Elternteilen deutlich wird: „Wir sind angekommen im Sowohl-als-auch. Uns fehlt im Deutschen nichts und durch das Türkische gewinnen wir ein Plus hinzu.“ (Alara1, Grundgedanke 2) „Wir sind sowohl sprachlich als auch kulturell eine Mischung, sind weder türkisch noch deutsch und gehören nirgends richtig hin.“ (Zefcan, Grundgedanke 3)

In diesen Zitaten über die eigene (Mehr-)Sprachigkeit zeigt sich, welche Bedeutung Sprache für Zugehörigkeit, ‚Angekommen-sein‘ oder die ‚kulturelle‘ Identität haben kann und wie unterschiedlich sie hier als „Sowohl-als-auch“ oder als „Weder-noch“ erlebt wird. Dieser Zusammenhang ist einer der Gründe dafür, warum in der vorliegenden Arbeit nicht bloß nach der Gestaltung von mehrsprachigem Aufwachsen gefragt wird, sondern auch nach der Bedeutung von Sprache und Spracherziehung im Hinblick auf Selbstpositionierungsprozesse und dominante Zugehörigkeitsordnungen. In dieser Einleitung wird zunächst der Problemzusammenhang der Untersuchung beschrieben (1.1), daraufhin wird in den fachwissenschaftlichen und theoretischen Bezugsrahmen eingeführt (1.2) und die Fragestellung erläutert (1.3). Nach einer kurzen Darstellung des methodischen Vorgehens (1.4) folgt ein Einblick in die wichtigsten Ergebnisse (1.5).

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Alle Namen der an der Untersuchung Beteiligten und ihrer Familienangehörigen wurden geändert.

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| Mehrsprachigkeit in der Frühpädagogik

1.1 PROBLEMZUSAMMENHANG In der bildungspolitischen Diskussion sowie im fachwissenschaftlichen Diskurs der Frühpädagogik ist die zentrale Bedeutung der Sprache für Bildungserfolg, Integration und den Ausgleich von sozialer Benachteiligung unstrittig. Häufig wird betont, dass die Förderung von sprachlichen Kompetenzen im Rahmen einer gezielten sprachlichen Bildung – womit meistens die Förderung des Deutschen gemeint ist – ein entscheidender Schlüssel sei für die Bekämpfung von Bildungsbenachteiligung und die Verbesserung von Bildungs- und Lebenschancen. Der Mehrsprachigkeit kommt dabei eine zweischneidige Rolle zu. Einerseits wird sie häufig mit mangelnden Deutschkenntnissen und Schwierigkeiten in der Bildungslaufbahn in Verbindung gebracht sowie mit einem erhöhten Förderbedarf und mit besonderen Herausforderungen für die Bildungsinstitutionen. Andererseits wird Mehrsprachigkeit in Programmen und Empfehlungen zur sprachlichen Bildung häufig als Ressource bezeichnet, die im Allgemeinen zu fördern sei, aufgegriffen und einbezogen werden solle. Im Zuge der Bemühungen um den Ausgleich von Bildungsbenachteiligung ist neben der Sprache bzw. der Intensivierung der sprachlichen Bildung auch die frühkindliche Bildung insgesamt in den Fokus geraten. Ebenso wie durch eine verstärkte Förderung der sprachlichen Kompetenzen soll durch eine möglichst frühe Inanspruchnahme von außerfamiliären Bildungsangeboten erreicht werden, dass mehr Kinder aus sozial benachteiligten Familien die Chance zu einer erfolgreichen Bildungskarriere erhalten. Auch mit dem Ausbau der Betreuungsangebote für Kinder unter drei Jahren werden somit Ziele wie Integration, Bildungsgerechtigkeit und Ausgleich sozialer Benachteiligung verbunden. Sprachliche und frühkindliche Bildung werden als möglichst frühe Förderung sprachlicher Kompetenzen miteinander verknüpft und es wurden und werden eine Vielzahl von Programmen und Projekten aufgelegt, die im frühkindlichen und vorschulischen Bereich die sprachliche Bildung intensivieren sollen. Von fachwissenschaftlicher Seite wird betont, dass neben dem quantitativen Ausbau der frühpädagogischen Betreuungsangebote auch die Professionalisierung des Personals, die Verbesserung der Betreuungsqualität und die Zusammenarbeit mit den Eltern intensiviert und weiterentwickelt werden müssten. Im Rahmen dieser Forderungen wird deutlich, dass dem Bemühen um die Verbesserung von Bildungsvoraussetzungen gerade in den Bereichen der Sprache und der frühkindlichen Bildung viele offene Fragen gegenüberstehen, die intensivierte Forschungstätigkeiten nötig machen. Hierzu gehören u.a. die Frage nach den Maßstäben für Betreuungsqualität angesichts einer heterogenen Klientel, die Frage nach den Zielen sprachlicher Bildung vor dem Hintergrund der Mehrspra-

Einleitung

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chigkeit vieler Kinder, die Frage nach der Professionalität und den Orientierungen der Fachkräfte in der frühkindlichen Bildung und Betreuung und die Frage nach den Vorstellungen und Wünschen der Eltern und die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit ihnen. Um den Ausbau und die Weiterentwicklung frühkindlicher und hier speziell sprachlicher Bildung voranzutreiben, die der Heterogenität gerecht wird, Bildungschancen verbessern hilft und dazu auf einem eigenständigen Bildungsverständnis aufbaut, muss diesen Fragen nachgegangen werden, wozu diese Arbeit einen Beitrag leisten möchte.

1.2 FORSCHUNGSÜBERBLICK UND THEORETISCHER BEZUGSRAHMEN Angesichts der o.g. Fragen im Kontext der gestiegenen Erwartungen an sprachliche Bildung und den Ausbau frühkindlicher Betreuungsangebote wird in der vorliegenden Untersuchung zunächst ein Forschungsüberblick erarbeitet. Er umfasst erstens eine Bestandsaufnahme in Bezug auf die Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit (Kapitel 2). Hier zeichnen sich – vor allem durch den quantitativen Ausbau des Angebotes für unter Dreijährige in den letzten Jahren – große Entwicklungen und Entwicklungsaufgaben ab, die auch die wissenschaftliche Diskussion um Bildungsziele, Betreuungsqualität und Professionalisierung in der Frühpädagogik betreffen. Wichtige Aspekte sind dabei die aktuellen Erkenntnisse aus der Qualitätsforschung und Ergebnisse zur Inanspruchnahme, hier speziell in Bezug auf Familien ‚mit Migrationshintergrund‘. Es zeigt sich u.a., dass die Qualität in Einrichtungen, die von vielen Kindern ‚mit Migrationshintergrund‘ besucht werden, häufig besonders niedrig ist, und dass gerade diejenigen, die eigentlich besonders vom Ausbau des Bildungsangebotes profitieren sollten, zahlenmäßig weniger erreicht werden. Diese Befunde verweisen auf die Notwendigkeit, die Qualität in Einrichtungen der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung weiterzuentwickeln und gleichzeitig ihre Maßstäbe zu hinterfragen. So wird im zweiten Teil des Forschungsüberblicks (Kapitel 3) auf die Kritik an den Qualitätsmaßstäben in der Frühpädagogik eingegangen. Diese seien angesichts zunehmender Heterogenität zu eindimensional an individualisierten westlichen Gesellschaften ausgerichtet. Entwicklungsumwelten und Erziehungsvorstellungen von Familien ‚mit Migrationshintergrund‘ würden häufig nicht einbezogen bzw. aus einer Defizitperspektive betrachtet, die vor allem die Anschlussfähigkeit der familialen Erziehung im Bildungssystem fokussiere.

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| Mehrsprachigkeit in der Frühpädagogik

Untersuchungen zu familialen Entwicklungsumwelten, die der Heterogenität gerecht zu werden versuchen, zeigen, dass Erziehungsvorstellungen in Abhängigkeit von kulturellen und sozialen Kontexten sehr unterschiedlich sein können und im Zusammenhang mit Prozessen der Akkulturation und der Positionierung im Migrationskontext zu betrachten sind. Zuschreibungen entlang ‚kulturell bedingter‘ Unterschiede werden hier jedoch ebenso verworfen wie die Hierarchisierung von Erziehungsvorstellungen als ‚normal‘ bzw. ‚abweichend‘. Aus diesen Ergebnissen wird deutlich, dass es weiterer Untersuchungen bedarf, die heterogene familiale Entwicklungsumwelten, Erziehungs- und Qualitätsvorstellungen jenseits einer Defizitperspektive beleuchten. Als weiterer Forschungskontext werden drittens Ergebnisse der Mehrsprachigkeitsforschung einbezogen (Kapitel 4). Hierzu gehören ebenso allgemeine Erkenntnisse zur Aneignung von Sprache als auch Ergebnisse zum mehrsprachigen Aufwachsen und zum Umgang mit Mehrsprachigkeit in der Kita. Auch hier zeigt sich eine starke Orientierung an Normalitätsvorstellungen, die ausschließlich Merkmale der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ berücksichtigen. Sowohl in Empfehlungen und Förderprogrammen zur sprachlichen Bildung als auch in der Sprachpolitik vieler Einrichtungen dominiert ein monolingual ausgerichtetes Normalitätsverständnis, das den Blick auf die tatsächliche Vielfalt von Sprachaneignungsprozessen verstellt und der Situation mehrsprachig aufwachsender Kinder nicht gerecht wird. Um sprachliche Bildung als Aneignung eines gesamtsprachlichen Repertoires gestalten zu können, zeigt sich auch hier die Notwendigkeit, mehrsprachiges Aufwachsen jenseits einer Defizitorientierung in seiner Vielfalt und Vielschichtigkeit näher zu untersuchen. Angesichts der bis hierhin im Forschungsüberblick erarbeiteten Erkenntnisse und der sich daraus ergebenden Fragen wird in die Arbeit viertens eine theoretische Perspektive einbezogen, die den migrationsgesellschaftlichen Kontext fokussiert, in dessen Rahmen sich mehrsprachiges Aufwachsen vollzieht (Kapitel 5). Die migrationsgesellschaftliche Perspektive ermöglicht einen Blick auf dominante Zugehörigkeitsordnungen, die bestimmte Normvorstellungen mit Macht ausstatten und sie auf den verschiedenen (pädagogischen) Ebenen durchsetzen, indem sie u.a. die Vorstellungen und Orientierungen der hier Handelnden entscheidend prägen. Aus dieser Perspektive wird deutlich, wie Sprache und der Umgang mit Mehrsprachigkeit als zentrale Aspekte von migrationsgesellschaftlicher Subjektivierung und Identitätskonstruktion wirken. Darüber hinaus zeigt sich, dass Sprache(n) zwar als Träger dominanter Zugehörigkeitsordnungen fungieren, aber auch für die Konstruktion hybrider ‚Sprachidentitäten‘ genutzt werden können. Untersuchungen zum Umgang mit Mehrsprachigkeit aus dieser Perspektive zeigen, wie ein monolinguales Sprachregime im Kitaalltag durchgesetzt

Einleitung

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wird und welche Möglichkeiten es im Gegensatz dazu für die Förderung des translingualen Repertoires mehrsprachiger Kinder gibt.

1.3 FRAGESTELLUNG Die Auswertung des Forschungsstandes in Bezug auf die Heterogenität frühkindlicher Entwicklungsumwelten und auf die Aneignung von Sprache in einem mehrsprachigen Kontext zeigt, dass Untersuchungen fehlen, die die Tiefendimension mehrsprachigen Aufwachsens jenseits einer Defizitperspektive fokussieren. Gleichzeitig wird deutlich, dass dominante Normalitätsvorstellungen sowohl die Kriterien für Erziehungsqualität als auch die Richtlinien für sprachliche Bildung prägen. Es liegt also nahe, dass eine Untersuchung der Gestaltung mehrsprachigen Aufwachsens auch diese dominanten Ordnungen, die z.B. die Sprachpolitik einer Kita prägen können, berücksichtigt und kritisch reflektiert. Die vorliegende Untersuchung fragt daher zunächst nach den Vorstellungen und Orientierungen derjenigen, die mehrsprachiges Aufwachsen maßgeblich mitgestalten (vgl. Kapitel 6): • Wie gestalten mehrsprachige Eltern und Kitafachkräfte die sprachliche Erzie-

hung ihrer Kinder und was sind die zentralen Vorstellungen und Orientierungen, von denen sie sich dabei leiten lassen? Neben dem Wie soll auch das Warum untersucht werden, indem gemeinsam mit den Untersuchungspartnerinnen2 die Gründe für ihr Handeln und ihre Ziele in der Spracherziehung erarbeitet werden. Indem die Vorstellungen und Orientierungen von Eltern und Fachkräften als subjektive Theorien rekonstruiert werden, werden auch die Zusammenhänge in den Blick genommen, die sie zwischen Sprache und Spracherziehung einerseits und anderen Aspekten wie Identität, Zukunft der Kinder oder Rolle der Kita andererseits herstellen. Eine zweite Frage richtet sich auf die migrationsgesellschaftliche Dimension dieser Zusammenhänge und nimmt dominante Ordnungen in den Blick, die in den subjektiven Theorien von Eltern und Fachkräften sichtbar werden:

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Da an der vorliegenden Untersuchung neun Untersuchungspartnerinnen und ein Untersuchungspartner beteiligt waren, wird im Folgenden dort, wo es konkret um die Beteiligten an dieser Untersuchung geht, für die ganze Gruppe die weibliche Form verwendet, was den einen männlichen Untersuchungspartner ausdrücklich einschließt.

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| Mehrsprachigkeit in der Frühpädagogik

• Wie lassen sich die subjektiven Theorien von Eltern und Fachkräften über

mehrsprachiges Aufwachsen im Hinblick auf ihren migrationsgesellschaftlichen Kontext interpretieren? Welche Hinweise enthalten sie auf eine Verarbeitung gesellschaftlicher Differenz- und Zugehörigkeitsordnungen? Mehrsprachiges Aufwachsen wird somit einerseits als soziale Praxis aus der Perspektive der (pädagogisch) Handelnden rekonstruiert und andererseits werden die in dieser sozialen Praxis enthaltenen dominanten Codes diskursanalytisch herausgearbeitet. Eine dritte Frage bezieht sich außerdem auf die Weiterentwicklung der sprachlichen Bildung in der Frühpädagogik, für die die Ergebnisse der vorausgegangenen Analysen einige Anhaltspunkte liefern.

1.4 METHODISCHES VORGEHEN Das methodische Vorgehen (vgl. Kapitel 7) orientiert sich an einem Verständnis von kulturwissenschaftlicher Analyse, das die Forschungslogik praxeologischer und diskursanalytischer Ansätze verbindet (vgl. Reckwitz 2008). Mehrsprachiges Aufwachsen wird zunächst als soziale Praxis rekonstruiert, indem die Vorstellungen und Orientierungen von fünf mehrsprachig erziehenden Elternteilen und fünf Kitafachkräften als subjektive Theorien erarbeitet werden. Hierbei kommt die Methodik des Forschungsprogramms Subjektive Theorien (Groeben/Scheele 2010) in einer modifizierten Form zur Anwendung. Die subjektive intentionale Sinndimension der Untersuchungspartnerinnen wurde jeweils in einem leitfadengestützten Interview erhoben, in dem es u.a. um die Bedeutung von Sprache, die Ziele und Methoden der Spracherziehung und die Rolle der Kita ging. Bei einem weiteren Termin wurde die subjektive Theorie über mehrsprachiges Aufwachsen gemeinsam mit der jeweiligen Untersuchungspartnerin anhand der Interviewergebnisse rekonstruiert und visualisiert. Das praxeologische Vorgehen dieser Rekonstruktion wurde mit einer diskursanalytischen Herangehensweise verbunden, indem die zehn rekonstruierten subjektiven Theorien entsprechend der Frage nach dem migrationsgesellschaftlichen Kontext auf diskursive Praktiken und Reflexe dominanter Ordnungen hin untersucht wurden. Die Auswahl der Untersuchungspartnerinnen sowie die Auswertung der Interviews und die Analyse der subjektiven Theorien stützt sich auf die Methodik der Grounded Theory (Strauss/Corbin 1996), indem hier das theoretische Sampling und die Auswertungsschritte des offenen, axialen und selektiven Kodierens angewandt wurden. Durch das offene Vorgehen bei der Rekonstruktion der subjektiven Theorien konnten sehr viele Aspekte aufgegriffen werden, die für die

Einleitung

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Untersuchungspartnerinnen im Zusammenhang mit Sprache und Spracherziehung wichtig waren, ohne dass dies im Voraus absehbar gewesen wäre. Indem die Untersuchungspartnerinnen ihre Aussagen vor der kommunikativen Validierung noch einmal überprüfen konnten und sie dann selbst in einem Theoriebild anordneten, hatten sie die Möglichkeit, die eigenen Vorstellungen zu vervollständigen und Zusammenhänge zu entdecken, die auch ihnen selbst vorher nicht deutlich waren. Das Potenzial des methodischen Vorgehens spiegelt sich in den Ergebnissen der Untersuchung wider, die vor allem unterstreichen, wie weitreichend die Bedeutung ist, die Sprache(n) und mehrsprachige Erziehung für die Untersuchungspartnerinnen haben.

1.5 ERGEBNISSE Die Ergebnisse der Untersuchung (Kapitel 8) beziehen sich entsprechend der beiden Fragestellungen einerseits auf die handlungsleitenden Vorstellungen und Orientierungen von Eltern und Fachkräften in der Spracherziehung und andererseits auf Spuren des migrationsgesellschaftlichen Kontextes in den subjektiven Theorien. In Bezug auf die beteiligten Eltern wird deutlich, welche zentrale Bedeutung Sprache, Familiensprachen und die Sprachigkeit der Kinder für sie haben, welche Ziele sie in ihrer Spracherziehung weshalb verfolgen und was sie sich von der Kita wünschen. Auf Seiten der Fachkräfte zeigt sich bei einigen eine starke Orientierung an monolingualen Normalitätsvorstellungen, von anderen wiederum wird das Ziel der Förderung eines mehrsprachigen Repertoires der Kinder betont. Ein Vergleich von Eltern und Fachkräften macht deutlich, dass die Vorstellungen über Sprache und mehrsprachiges Aufwachsen eng mit grundsätzlichen Vorstellungen über die eigene Identität und mit Positionierung und Selbstpositionierung zusammenhängen sowie mit Erfahrungen im Rahmen dominanter Zugehörigkeitsordnungen und deren teilweiser Übernahme in das eigene Selbstverständnis. Eine Orientierung an fachwissenschaftlichen Aspekten, die zumindest bei den Fachkräften zu erwarten gewesen wäre, spielt hingegen eine eher untergeordnete Rolle. Unterschiede in den Vorstellungen und Orientierungen der Untersuchungspartnerinnen entstehen somit nicht so sehr entlang einer Trennlinie zwischen Eltern und Fachkräften, sondern vielmehr als graduelle Abstufungen, die u.a. mit der Position der Untersuchungspartnerinnen im migrationsgesellschaftlichen Kontext in Zusammenhang gebracht werden können. Dabei lässt sich eine Art Kontinuum ausmachen, das den Zusammenhang zwischen Position und Orientierung verdeutlicht. So zeigt sich, dass Untersuchungspartnerinnen, die sich im migrationsgesellschaftlichen Sinne als ‚zugehörig‘ verstehen

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| Mehrsprachigkeit in der Frühpädagogik

können, gleichzeitig eher ein monolinguales Sprachregime vertreten. Untersuchungspartnerinnen, die eher als ‚nicht zugehörig‘ positioniert sind, vertreten entweder gerade deshalb ebenfalls monolinguale Normalitätsvorstellungen, oder kritisieren diese aufgrund ihrer Erfahrungen und entwerfen ganz bewusst ein alternatives Selbstverständnis ihrer translingualen Sprachigkeit. Dabei scheint es mehr Raum für eine kritische Haltung und eine selbstbewusste Positionierung zu geben, je weniger ausgeprägt die eigene ‚nicht-Zugehörigkeit‘ ist. Die Ergebnisse vermitteln ein umfassendes Verständnis der Situation, der Ziele und Handlungsbegründungen von mehrsprachig erziehenden Eltern und zeigen gleichzeitig auf, woran sich Fachkräfte in der sprachlichen Bildung orientieren. Aus diesen Einblicken lassen sich Hinweise auf die Weiterentwicklung einer sprachlichen Bildung herausarbeiten, die Bildungschancen erweitert, indem sie der Heterogenität im frühpädagogischen Kontext gerecht wird und dominante Ordnungen kritisch reflektiert. Diesbezügliche Überlegungen werden in der Schlussbetrachtung diskutiert (Kapitel 9). Der Erarbeitung des Forschungsüberblicks (ab Kapitel 2) wird im Folgenden ein kurzer Exkurs zur Bezeichnungspraxis ‚mit Migrationshintergrund‘ vorangestellt, in dem die Zusammenhänge der Entstehung und Verbreitung dieser Kategorie nachgezeichnet und ihre kritische Verwendung in der vorliegenden Arbeit begründet werden.

Exkurs zur Bezeichnungspraxis ‚mit Migrationshintergrund‘ und ihrer Verwendung

Bereits in der vorangegangenen Einleitung wird die Bezeichnung ‚mit Migrationshintergrund‘ verwendet, u.a. im Zusammenhang mit der niedrigen pädagogischen Qualität von Einrichtungen der frühkindlichen Bildung, die von besonders vielen Kindern ‚mit Migrationshintergrund‘ besucht werden. Auch in den folgenden Kapiteln über Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit und im Forschungsüberblick zu heterogenen Entwicklungsumwelten wird es u.a. um Kinder und Familien ‚mit Migrationshintergrund‘ gehen, wobei diese Begrifflichkeit in den Studien, die dort referiert werden, weitgehend unkritisch auf der Grundlage von Kategorisierungen aus statistischen Erhebungen benutzt wird. Für die vorliegende Arbeit soll der Verwendung dieser Begrifflichkeit jedoch eine kritische Reflexion vorangestellt werden, die einerseits auf das Zustandekommen der Kategorie ‚mit Migrationshintergrund‘ am Beispiel des Mikrozensus und anderseits auf die Bewertung und diskursive Bedeutung der Begrifflichkeit eingeht. Einleiten möchte ich diesen Exkurs mit dem Zitat einer Person aus meiner Untersuchung, die regelmäßig mit dieser Markierung versehen wird: „In Deutschland wird der Migrationshintergrund so überbetont, dass es eigentlich immer ein Migrationsvordergrund ist.“ (Yves, Grundgedanke 1)

Die Praxis, durch die Bezeichnung ‚mit Migrationshintergrund‘ einen Teil der Bevölkerung von denen ‚ohne Migrationshintergrund‘ zu unterscheiden, ist im medialen, politischen und wissenschaftlichen Diskurs in der Bundesrepublik Deutschland mittlerweile etabliert. Die große Verbreitung der Begrifflichkeit ‚mit Migrationshintergrund‘ in den letzten 15 bis 20 Jahren beruht u.a. auf ihrer Verwendung in statistischen Erhebungen und Studien, die als Grundlage für po-

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| Mehrsprachigkeit in der Frühpädagogik

litische Entscheidungen dienen und gleichzeitig den öffentlichen Diskurs prägen. Zu solchen Studien zählen z.B. der Bildungsbericht, der Familienbericht und viele weitere Studien im Auftrag der Bundesregierung, die auf Daten aus dem Mikrozensus beruhen. Auch andere Studien, z.B. die PISA-Studien, verwenden die Kategorie ‚mit Migrationshintergrund‘ und sie taucht u.a. in Erhebungen der Bundesagentur für Arbeit, des Bundesinstituts für Berufsbildung oder der Kultusministerkonferenz auf. Dabei wird die Kategorie ‚mit Migrationshintergrund‘ allerdings jeweils unterschiedlich gebildet, sodass die Ergebnisse der Studien nicht unbedingt vergleichbar sind (vgl. Will 2018: 10). Am umfassendsten erhebt der Mikrozensus den ‚Migrationshintergrund‘ seit 2005. Der Mikrozensus ist eine amtliche Haushaltsbefragung, die in der Bundesrepublik seit 1957 jährlich durchgeführt wird, und in der von rund einem Prozent der Wohnbevölkerung Daten zu Geschlecht, Alter, Haushaltsgröße und Ehestand sowie zur wirtschaftlichen und sozialen Situation, Erwerbstätigkeit, Einkommen und Bildung erfasst werden (vgl. ebd.: 3). Bis 2005 wurde im Mikrozensus nur zwischen Deutschen und Ausländerinnen bzw. Ausländern, d.h. Personen, die nicht die deutsche Staatangehörigkeit besitzen, unterschieden. Im Jahr 2005 wurde die Kategorie ‚mit Migrationshintergrund‘ eingeführt, die heute als Itemkombination anhand von 19 Einzelfragen ermittelt wird. Das bedeutet, die Befragten ordnen sich dieser Kategorie nicht selber zu, sondern sie werden ihr aufgrund der für sie geltenden Itemkombination zugeordnet. So wird bei Befragten, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, zusätzlich u.a. nach dem Geburtsland der Eltern, dem Datum des Zuzugs nach Deutschland (der Eltern und des eigenen), dem Zeitpunkt des Erwerbs der deutschen Staatsbürgerschaft (der Eltern und der eigenen) und der im Haushalt vorwiegend gesprochenen Sprache gefragt. Wie die Zuordnung zur Gruppe derer ‚mit Migrationshintergrund‘ über die Auswertung dieser Fragen durch das statistische Bundesamt erfolgt, ist nicht transparent, da das entsprechende Kategorisierungsprogramm nicht öffentlich zugänglich ist (vgl. ebd.: 6). Im Ergebnis führt die Zuordnung aufgrund der Fragen dazu, dass Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit auch dann als ‚mit Migrationshintergrund‘ gelten können, wenn nur einer der vier Großelternteile und keiner der Elternteile nach 1960 in die Bundesrepublik zugewandert ist, auch dann, wenn dieser Großelternteil längst die deutsche Staatangehörigkeit besitzt. Umgekehrt haben Kinder, die im Ausland geboren sind, keinen ‚Migrationshintergrund‘, wenn ihre Eltern keinen ‚Migrationshintergrund‘ haben. Hieran wird deutlich, dass in diesem Konzept der ‚Migrationshintergrund‘ nicht zwangsläufig etwas über individuelle oder familiäre grenzüberschreitende ‚Wanderungserfahrungen‘ aussagt, sondern

Exkurs zur Bezeichnungspraxis ‚mit Migrationshintergrund‘

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auf ethnischer Zugehörigkeit beruht und damit quasi als vererbbares Merkmal behandelt wird (vgl. ebd.: 8). Durch die stark ausdifferenzierte Erfassung des ‚Migrationshintergrundes‘ im Mikrozensus hat sich die Anzahl der Menschen ‚mit Migrationshintergrund‘ in der Erhebung im Vergleich zu den vor 2005 erfassten ‚Ausländerinnen‘ und ‚Ausländern‘ mehr als verdoppelt (ebd.: 11; vgl. auch Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2013: 58; Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 140). Ca. die Hälfte derjenigen, die heute als ‚mit Migrationshintergrund‘ erfasst werden, wurden somit vor 2005 als Deutsche gezählt, da sie die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Sie werden heute weder als Deutsche ausgewiesen, noch als Deutsche ‚mit Migrationshintergrund‘, sondern mit den Ausländerinnen und Ausländern ohne deutsche Staatsangehörigkeit unter der Kategorie ‚mit Migrationshintergrund‘ zusammengefasst. Neben andern Kritikpunkten, die die große Komplexität der Erfassung, die fehlende Möglichkeit der Selbstzuordnung und das Ausblenden großer Teile der deutschen Migrationsgeschichte betreffen (vgl. Will 2018: 12f), ermöglicht es diese Art der Kategorisierung, die zunehmende Anzahl der Menschen, die in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland leben und die seit ihrer Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, dennoch als ‚anders‘, ‚fremd‘ und ‚nicht zugehörig‘ zu markieren. Ihre Zusammenfassung mit Ausländerinnen und Ausländern ohne deutsche Staatsangehörigkeit in der Kategorie ‚mit Migrationshintergrund‘ lege nahe, so die Kritik, dass „‚Personen mit Migrationshintergrund‘ Ausländern ähnlicher sind als ‚Deutschen ohne Migrationshintergrund‘, von denen sie unterschieden werden“ (ebd.: 11). Forschungsergebnisse zeigen tatsächlich, dass sich Deutsche ‚mit Migrationshintergrund‘ weniger zugehörig fühlen und angeben, nicht als Deutsche angesehen oder behandelt zu werden (ebd.: 12). Bereits der Blick auf die Bildung der Kategorie ‚mit Migrationshintergrund‘ zur statistischen Erfassung eines so markierten Bevölkerungsteils wirft also die Frage auf, ob die Kategorie eine im Einzelfall relevante Information über die befragte Person liefert. Obwohl es beim ‚Migrationshintergrund‘ scheinbar um die Migration, also um die Wanderungsbewegung geht, wird durch die Kategorie vielmehr einen Abstammungsaspekt aus dem ‚Hintergrund‘ in den Vordergrund gerückt, der bestimmte Deutsche zu einer Gruppe ‚nicht wirklich Zugehöriger‘ zusammenfasst. Auf diese Konnotation der Kategorie ‚mit Migrationshintergrund‘ weisen auch Scarvaglieri und Zech (2013) hin, indem sie den gesellschaftspolitischen Entstehungszusammenhang der entsprechenden Bezeichnungspraxis näher beleuchten. Die Bezeichnung ‚mit Migrationshintergrund‘ fand demnach ab einem Zeitpunkt Mitte der 90er Jahre Verbreitung, zu dem „die Konzepte ‚Staatsangehörigkeit‘ und ‚Nationalität‘ […] ihre Eindeutigkeit“ verlo-

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| Mehrsprachigkeit in der Frühpädagogik

ren (ebd.: 205), da immer mehr Zugewanderte eingebürgert wurden und gleichzeitig durch den Zuzug von Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern viele Deutsche in der Bundesrepublik lebten, die „in einer anderen Kultur und Sprache aufgewachsen“ waren (ebd.: 206). Die exponentielle Steigerung der Verwendung des Begriffs zwischen 2001 und 2009, die Scarvaglieri und Zech anhand von Zeitungskorpora nachweisen, zeige, dass der Ausdruck in diesem Zeitraum „eine Lücke im Sprachsystem schließt, die von anderen Mitteln freigelassen wird“ (ebd.: 207). Mithilfe qualitativer und quantitativer Verwendungsanalysen des Begriffs im öffentlichen Diskurs sowie einer Kookkurrenzanalyse untersuchen die Autoren daraufhin näher, welche Funktion dem Ausdruck im sprachlichen Handeln zukommt. Hierbei zeigt sich, dass der Gruppe derer, die als ‚mit Migrationshintergrund‘ bezeichnet werden, besonders häufig Eigenschaften wie „fremd, anders, nichtdeutsch“, „förderbedürftig“, „besser zu integrieren“, „statistisch zu unterscheidende“ und „benachteiligt“ zugeschrieben werden (ebd.: 216). Diese Analysen machen vor dem Hintergrund der staatsbürgerschaftsrechtlichen und migrationspolitischen Entwicklungen deutlich, dass der Ausdruck ‚mit Migrationshintergrund‘ verwendet wird, um „weiterhin zwischen Deutschen deutscher Herkunft und Deutschen fremder Herkunft“ unterscheiden zu können (ebd.: 219). Die Veränderung des Staatsbürgerschaftsrechts im Jahr 2000, nach der die Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft erleichtert wurde, wird, so Scarvaglieri und Zech, „sprachlich quasi rückgängig gemacht“ und der Ausdruck ‚Migrationshintergrund‘ erlaube eine „Tradierung des Abstammungsprinzips“ (ebd.). Eine kritische Reflexion des Zustandekommens und der diskursiven Bedeutung der Kategorie ‚mit Migrationshintergrund‘ ist m.E. vor diesem Hintergrund daher immer dort nötig, wo die Begrifflichkeit verwendet wird. Da sich die vorliegende Arbeit mit (migrationsbedingter) Mehrsprachigkeit und sprachlicher Bildung auseinandersetzt, ist außerdem die Verwendung der Begrifflichkeit in der Bildungsforschung und in der Bildungspolitik besonders relevant. Scarvaglieri und Zech zeigen in diesem Zusammenhang, dass die Kategorie ‚mit Migrationshintergrund‘ gerade hier häufig herangezogen wird, um besonders förderungsbedürftige und benachteiligte Kinder und Jugendliche zu identifizieren (vgl. ebd.: 220). U.a. am Bildungsbericht 2010 können die Autoren indes zeigen, dass sozioökonomische Unterschiede einen viel bedeutenderen Einfluss auf einen geringeren Bildungserfolg haben als das Merkmal ‚mit Migrationshintergrund‘. So würde der Fokus im Bildungsbericht auf die Benachteiligten ‚mit Migrationshintergrund‘ gelenkt, während anhand der Zahlen eindeutig nachweisbar sei, dass die durch sozioökonomische Herkunft bedingte Benachteiligung wirksamer ist als eine Benachteiligung aufgrund des Merkmals ‚mit Migra-

Exkurs zur Bezeichnungspraxis ‚mit Migrationshintergrund‘

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tionshintergrund‘. Entgegen dem im Bildungsdiskurs gezogenen Schluss sei daher „die Förderung von Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Schichten [nötig], nicht die von Kindern ‚mit Migrationshintergrund‘“ (ebd.: 222). Scarvaglieri und Zech sehen diese Fokussierung auf den ‚Migrationshintergrund‘ beim Thema Bildungsbenachteiligung als Mechanismus einer Dethematisierung von sozioökonomisch bedingten Ungleichheiten. Auf diese Weise werde das Problem der Bildungsbenachteiligung bei einer Gruppe verortet, die nicht nur benachteiligt ist, sondern auch als fremd, nicht-zugehörig und schlecht integriert gilt. Dabei werde nahegelegt, dass die Ursachen der Benachteiligung zu großen Teilen in der Andersartigkeit der Gruppe selbst liegen und lediglich ein gewisser Förderbedarf bestehe, damit die Betroffenen sich selbst integrieren bzw. Benachteiligungen aufholen können. Dies verringere den gesellschaftlichen bzw. bildungspolitischen Handlungsdruck, der größer wäre, wenn Bildungsungleichheit als vor allem sozioökonomisches Problem und die Ursachen vor allem in der bestehenden sozialen Ungleichheit erkannt würden. Die Kategorie ‚mit Migrationshintergrund‘ und der regelmäßige Rückgriff auf sie bei der Erklärung von Bildungsbenachteiligung ist also laut Scarvaglieri und Zech geeignet, „sozioökonomische Fragen durch Fragen der Abstammung und Herkunft“ zu überdecken (ebd.) und soziale Ungleichheit aufrechtzuerhalten. Die hier nachgezeichneten Analysen der Bezeichnungspraxis ‚mit Migrationshintergrund‘ in Bezug auf dessen statistische Erfassung sowie auf den gesellschaftspolitischen Entstehungszusammenhang und die diskursive Verwendung des Begriffs machen deutlich, dass die Bezeichnungspraxis in mindestens dreierlei Hinsicht problematisch ist. Sie ermöglicht erstens eine Tradierung des Abstammungsprinzips, indem Deutsche deutscher Abstammung wieder von ‚Anderen‘ bzw. ‚Fremden’ unterschieden werden können, auch wenn diese ebenfalls einen deutschen Pass besitzen. Zweitens besitzt der Begriff ein erhebliches Stigmatisierungspotenzial, wie die Verwendungsanalysen von Scarvaglieri und Zech zeigen. So wird er nicht nur mit Zusätzen wie ‚fremd‘, ‚anders‘, ‚nichtdeutsch‘ in Verbindung gebracht, sondern auch häufig mit ‚förderbedürftig‘, ‚benachteiligt‘ und ‚kriminell‘. Drittens ist besonders in Bezug auf Bildung und damit verbundene Diskurse zu bedenken, dass das Merkmal ‚mit Migrationshintergrund‘ regelmäßig herangezogen wird, um Bildungsungleichheit und Bildungsbenachteiligung zu erklären, obwohl sich Unterschiede im Bildungserfolg kaum mit der ‚Andersartigkeit‘, mangelnden Integration oder ‚Förderbedürftigkeit‘ einer tatsächlich sehr heterogenen Gruppe erklären lassen, sondern viel eher mit sozioökonomischer Ungleichheit. In der vorliegenden Arbeit wird die Kategorie ‚mit Migrationshintergrund‘ dort verwendet, wo Studien und Erkenntnisse referiert werden, die diese Be-

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zeichnung nutzen. In den meisten Fällen beruht die Bezeichnungspraxis dort letztendlich auf der Verwendung der Kategorie in statistischen Erhebungen und wird von den jeweiligen Autorinnen und Autoren nicht kritisch hinterfragt. Indem ich die Bezeichnung in einfache Anführungszeichen setzte, möchte ich eine unkritische Reproduktion der Kategorie vermeiden und auf die hier dargelegte Kritik an der Bezeichnungspraxis verweisen.

Theoretischer Teil

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Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit

Die Entwicklungen und Entwicklungsaufgaben der Pädagogik der frühen Kindheit zeichnen sich besonders deutlich im Bereich der institutionellen Bildung, Betreuung und Erziehung für unter dreijährige Kinder (im Folgenden U3-BBE) ab, die sich quantitativ wie qualitativ in einer Umbruchphase befindet. Daher beziehen sich die folgenden Ausführungen zur Entwicklung von Angebot und Inanspruchnahme, zum Wissenschafts- und Forschungsfeld sowie zu bestehenden Zugangshürden vor allem auf den U3-Bereich. Die daraufhin vorgestellten Ergebnisse aus der Qualitätsforschung beziehen sich hauptsächlich auf Kinder zwischen zwei und vier Jahren. Bei der im dritten Kapitel anschließenden Auseinandersetzung mit der Kritik an Qualitätsmaßstäben und mit Untersuchungen zur Heterogenität familialer Entwicklungsumwelten wird der Blickwinkel erweitert und die Ausführungen beziehen sich dann auf die Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern im Krippen- und Kitaalter. Die Umbruchsphase, in der sich die U3-BBE befindet, zeichnet sich vor allem durch einen enormen quantitativen Ausbau des Betreuungsangebotes für unter Dreijährige in den letzten zehn Jahren aus. Mit dem Bedeutungszuwachs der U3-BBE sind im fachpolitischen Interesse besonders drei Aspekte verbunden und in den Fokus geraten: erstens ist ihr Bildungsauftrag stärker akzentuiert und in Form von Bildungsplänen, Initiativen zur sprachlichen Bildung, Qualitätsimpulsen und Professionalisierungsbestrebungen vorangetrieben worden (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016). Zweitens gilt die Umsetzung dieses Bildungsauftrags als Schlüssel zur Schaffung von mehr Chancengleichheit in Bezug auf die spätere Bildungskarriere. Eine möglichst frühe Beteiligung von Kindern an außerfamiliären frühpädagogischen Angeboten wird somit angestrebt, um soziale Ungleichheit abzumildern (Alt 2012). Drittens steht die Kooperation von U3-BBE und Elternhaus im Fokus, auch ihr wird eine Schlüsselrolle für die Schaffung von mehr Chancengleichheit zugewiesen (Lengyel/Salem

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2016). Auch seitens der Eltern ist das Interesse in Form von Betreuungswünschen und Inanspruchnahme von Betreuungsplätzen stark gestiegen. Hier sind allerdings durchaus Unterschiede zu verzeichnen, u.a. zwischen Familien ‚mit und ohne Migrationshintergrund‘. Im Folgenden wird zunächst der quantitative Ausbau der U3-BBE der letzten Jahre nachgezeichnet (2.1), um daraufhin zu zeigen, wie sich der Bedeutungszuwachs der U3-BBE in der Entwicklung des Wissenschafts- und Forschungsfeldes der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung widerspiegelt (2.2). Daraufhin wird auf die Unterschiede in der Inanspruchnahme und auf Zugangshürden für Familien ‚mit Migrationshintergrund‘ eingegangen (2.3) und es werden Ergebnisse der Qualitätsforschung vorgestellt (2.4).

2.1 ENTWICKLUNG DES ANGEBOTES UND DER INANSPRUCHNAHME Bis in die 1990er Jahre hinein gab es in den alten Bundesländern nur sehr wenige Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren. Der Deutsche Bildungsrat hatte noch 1970 verkündet, ein Kind sei während seiner ersten drei Lebensjahre am besten in der Familie aufgehoben und es sei bisher unbekannt, wie es außerhalb der Familie überhaupt mehr Anregungen als dort erfahren könnte (vgl. Tietze u.a. 2013: 13). Während die neuen Bundesländer zum Zeitpunkt der Wende über ein voll ausgebautes Früherziehungssystem verfügten mit nahezu 100% Beteiligung der Kinder über und mehr als 50% Beteiligung der Kinder unter drei Jahren, lag die Betreuungsquote in den alten Bundesländern 1990 im Elementarbereich bei 67,1% und in der Krippe bei lediglich 1,8% (ebd.: 14). Der entscheidende Impuls zum Ausbau der U3-BBE kam erst mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz von 2005 und dem Kinderfördergesetz von 2008 (ebd.), in dessen Vorfeld Bund, Länder und Kommunen auf dem Krippengipfel 2007 einen massiven Ausbau der U3-BBE beschlossen hatten. Bis zum Jahr 2013 sollte bundesweit für 35% aller Kinder unter drei Jahren ein Angebot zur Kindertagesbetreuung in einer Kindertageseinrichtung oder durch eine Tagesmutter bzw. einen Tagesvater bereitgestellt werden. Seit dem Kindergartenjahr 2013/2014 gibt es außerdem einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab Vollendung des ersten Lebensjahres (vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2011: 4). Die gestiegenen Betreuungswünsche der Eltern lassen sich daran ablesen, dass sich Eltern einjähriger Kinder, die 1999 geboren wurden, für diese nur zu 23% einen Betreuungsplatz wünschten, während Eltern einjähriger Kinder, die

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2004 geboren wurden, schon zu 34% einen Betreuungsplatz in Anspruch nehmen wollten. Bei Eltern zweijähriger Kinder erhöhte sich die Zahl im gleichen Zeitraum von 48% auf 61% (Bien/Riedel 2006: 274). Für 2009 wurde ein durchschnittlicher Platzbedarf von 39% aller Kinder unter drei Jahren ermittelt (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012: 54), 2015 lag er bereits bei 43,2% (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016: 54). Tatsächlich betreut wurden im März 2015 bundesweit knapp 700 000 Kinder unter drei Jahren. Damit ist das Betreuungsplatzangebot für diese Altersgruppe bundesweit von ca. 287 000 Plätzen im Jahr 2006 um über 400 000 Plätze angestiegen (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012: 53). Die Betreuungsquote ist dementsprechend in den letzten Jahren deutlich gewachsen und lag bundesweit im März 2015 bei 32,9%, in Hamburg sogar bei 43,3%. Im Bundesdurchschnitt lag die Zahl der Betreuungsplätze damit aber immer noch unter der Zahl der elterlichen Betreuungswünsche. Außerdem bestanden große Unterschiede in Bezug auf die Region, das Alter der unter Dreijährigen und den Betreuungsumfang. Die Betreuungsquote in Ostdeutschland war 2015 fast doppelt so hoch wie in Westdeutschland (Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2016: 7). Kinder unter einem Jahr waren außerdem bundesweit nur zu 2,6% in Kindertagesbetreuung, während der Anteil bei den Einjährigen bei 35,8% und bei den Zweijährigen bei 61,3% lag (ebd.: 12). Eine Ganztagsbetreuung nahmen nur 18,1% der Kinder unter drei Jahren in Anspruch, hier auch wieder mit deutlichen Unterschieden zwischen West- und Ostdeutschland, wo der Ganztagsbetreuungsanteil deutlich höher lag als im Bundesdurchschnitt (ebd.: 14). Ein weiteres Differenzierungsmerkmal für die Betreuungsquote ist der ‚Migrationshintergrund‘ der betreuten Kinder. Hier lässt sich außerdem zwischen Zahlen zur Zusammensetzung der Kinder in der U3-BBE und Zahlen zur Beteiligung von Kindern ‚mit Migrationshintergrund‘ unterscheiden. Im März 2015 hatten 19,4% aller unter Dreijährigen, die sich in Kindertagesbetreuung befanden, einen ‚Migrationshintergrund‘. In Westdeutschland traf dies sogar auf 24% zu, während es in Ostdeutschland nur 9% waren (ebd.: 151). In Hamburg lag der Anteil der Kinder ‚mit Migrationshintergrund‘ bei den betreuten unter Dreijährigen 2015 über dem westdeutschen Durchschnitt, nämlich bei 31,6%. Der Anteil der unter Dreijährigen ‚mit Migrationshintergrund‘ in Kindertagesbetreuung hatte sich im Jahr 2015 im Vergleich zu 2009 verdoppelt (vgl. Autorengruppe Bil-

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Im Bericht der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder werden diejenigen Kinder als ‚mit Migrationshintergrund‘ bezeichnet, die mindestens einen Elternteil haben, der im Ausland geboren ist, unabhängig von seiner Staatsbürgerschaft (vgl. ebd.: 6).

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dungsberichterstattung 2016: 62), er lag jedoch immer noch deutlich unter dem der unter Dreijährigen ‚ohne Migrationshintergrund‘. Hierüber geben die Zahlen zur Bildungsbeteiligung Aufschluss, die zeigen, dass Kinder ‚mit Migrationshintergrund‘ im Durchschnitt seltener und später eine Kindertageseinrichtung besuchen als Kinder ‚ohne Migrationshintergrund‘ (Forschungsbereich des Sachverständigenrates 2013: 53). Die Differenz beträgt seit 2011 in jedem Jahr zwischen 16 und 18 Prozentpunkte, so haben in 2015 38% der unter Dreijährigen ‚ohne Migrationshintergrund‘ an der U3-BBE teilgenommen, aber nur 22% der unter Dreijährigen ‚mit Migrationshintergrund‘ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016: 171). Insgesamt bleibt also festzuhalten, dass sich Betreuungswünsche und Betreuungszahlen für unter Dreijährige in den letzten 15 Jahren – angeschoben auch durch den Rechtsanspruch seit 2013 – vervielfacht haben. Dabei liegt die Zahl der Betreuungswünsche durchschnittlich noch immer über der Zahl der angebotenen Plätze. Deutlich geringer als der Durchschnitt ist die Beteiligung bei Familien ‚mit Migrationshintergrund‘, aber auch auf dem Land im Vergleich zum städtischen Raum sowie in den alten Bundesländern im Vergleich zu den neuen. Diese Ergebnisse geben einen ersten Hinweis darauf, dass die Ziele des Krippenausbaus im Hinblick auf das Bildungspotenzial der U3-BBE und auf den Ausgleich von Bildungsbenachteiligung womöglich nur bedingt erreicht werden können. Bevor jedoch den Gründen für die geringere Beteiligung von Kindern ‚mit Migrationshintergrund‘ nachgegangen wird, soll im Folgenden die Entwicklung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der U3-BBE dargestellt werden.

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Im Bericht der Autorengruppe Bildungsberichterstattung wird dann von einem „Migrationshintergrund“ gesprochen, wenn die „Eltern oder Großeltern nach Deutschland zugewandert sind, ungeachtet ihrer gegenwärtigen Staatsangehörigkeit“ (ebd.: X)

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Der Forschungsbereich des Sachverständigenrates bezeichnet in seinem Text diejenigen als ‚mit Migrationshintergrund‘, die „in der ersten Generation selbst nach Deutschland zugewandert sind oder die als zweite Generation in Deutschland geboren wurden und mindestens ein zugewandertes Elternteil haben“ und verwendet zudem die Begriffe „Zuwanderer“ und „mit Migrationshintergrund“ synonym (ebd.: 5).

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2.2 ENTWICKLUNG DES WISSENSCHAFTSUND FORSCHUNGSFELDES Durch die Entdeckung der Kindheit als eigenständiger Lebensphase sowie die Anerkennung des Rechtes des Kindes auf Bildung und der Bedeutsamkeit der frühen Kindheit für die Bildungsbiographie hat die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine immer größere Bedeutung erlangt (Stamm 2010: 11ff). Grundsätzlich legitimiert sich diese Bedeutung der Frühpädagogik durch die Rolle der ersten Lebensjahre als grundlegend für die soziale, emotionale und intellektuelle Entwicklung eines Menschen, durch die Abhängigkeit dieser Entwicklung vom Umfeld und den sozialen Beziehungen in den ersten Lebensjahren, durch die Möglichkeit, Bildungsbenachteiligungen, die aus der sozialen Herkunft erwachsen, in der Frühpädagogik entgegenzuwirken, und durch die wachsende Nachfrage nach außerfamiliären Betreuungsangeboten aufgrund eines veränderten Rollenverständnisses zwischen den Geschlechtern (ebd.: 12f). Angesichts des starken Anstiegs der Bildungs-, Integrations-, Betreuungsund Erziehungsarbeit im Bereich der frühen Kindheit aufgrund der gewandelten Einschätzung ihrer Bedeutung und der stärkeren Inanspruchnahme außerfamiliärer Betreuungsangebote ist auch eine Intensivierung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihr nötig geworden. Bis zur Bildungsreform Ende der 1960er Jahre verfügte die Frühpädagogik nicht über eine eigene Forschungsinfrastruktur und eigenständige Forschung (Fried/Roux 2013: 13ff). Die meist angloamerikanische Forschung zu jungen Kindern dieser Zeit basierte auf Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie, die damals u.a. eine genetische Determinierung menschlicher Eigenschaften voraussetzte. Es wurde angenommen, dass die Intelligenz eines Menschen abgesehen von seiner natürlichen Reifung nicht verbessert oder modifiziert werden könne, und dass die Kita dementsprechend ausschließlich ein Betreuungs- und kein Bildungsort sei (Stamm 2010: 32). Erste Programme zur kognitiven Frühförderung wurden erst in den 1970er Jahren etabliert und wissenschaftlich begleitet, als Fragen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaften die frühe intellektuelle Entwicklung von Kindern relevant machten. In den 1970er und 1980er Jahren verlagerte sich das (Forschungs-)Interesse von der Entwicklung kognitiver Funktionen in der frühen Kindheit hin zum sozialen Lernen, was sich vor allem in der Verbreitung des Situationsansatzes in der frühpädagogischen Forschung zeigt. Seit den 1990er Jahren gewinnt unterdessen die Entwicklungs- und Kognitionspsychologie wieder an Einfluss (ebd.: 33).

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Gerade in den letzten Jahren hat sich in der Frühpädagogik ein vielschichtiges und stark interdisziplinär geprägtes Wissenschafts- und Forschungsfeld entwickelt, das sich u.a. aus Beiträgen der Erziehungswissenschaft, der Sozialpädagogik, der Psychologie, der Soziologie, der Philosophie, der Bildungsökonomie und der Medizin zusammensetzt (Stamm/Edelmann 2013: 11). Schwerpunkte der aktuellen frühpädagogischen Forschung sind die Ausbalancierung sozialer Benachteiligung, die Kooperation und gegenseitige Ergänzung von frühpädagogischen Angeboten und Familie sowie die frühpädagogisch ausgerichtete Bildungsforschung (Stamm 2010: 34ff; Fried/ Roux 2013: 13ff). In weitgehender Übereinstimmung werden sowohl der Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit als auch der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihr in den letzten Jahren große Fortschritte bescheinigt. In der Praxis betrifft dies den quantitativen Ausbau des U3-Angebotes und die Professionalisierungsentwicklung, in der Wissenschaft die Entwicklung der Forschung und der Forschungsförderung. Andererseits werden Defizite und Herausforderungen beschrieben. So sei die Beteiligung sozial Benachteiligter an der U3-BBE nach wie vor zu niedrig, außerdem sei die Qualitäts- und Wirksamkeitsforschung unterentwickelt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung stütze sich noch zu sehr auf eine wenig reflektierte Übernahme von Erkenntnissen aus den Nachbardisziplinen und die Professionalisierung des Fachpersonals müsse auf eine breitere Forschungsbasis gestellt werden (vgl. Stamm/Edelmann 2013: 14ff; Stamm 2010: 11; Fried/Roux 2013: 13ff). Die starke Entwicklung der Betreuungswünsche und Betreuungszahlen und der damit verbundene Bedeutungszuwachs, der der U3-BBE in Bezug auf Bildung und Chancengleichheit beigemessen wird, findet also eine Entsprechung in der Entwicklung ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung. Die Forschungstätigkeit im Bereich der frühen Kindheit hat sich in den letzten Jahren stark intensiviert, gleichzeitig werden die Weiterentwicklung einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin der Frühpädagogik, die Ausdifferenzierung der Forschungsfelder und eine verstärkte Professionalisierung der Fachkräfte gefordert. Für die vorliegende Untersuchung sind vor allem diejenigen Forschungsfelder der Frühpädagogik zentral, die die Bedingungen des Aufwachsens im Kontext von Migration und Mehrsprachigkeit und die Aneignung von Sprache in der frühen Kindheit fokussieren. Im Folgenden sollen zunächst zwei Studien vorgestellt werden, die einerseits die geringere Beteiligung von Familien ‚mit Migrationshintergrund‘ in den Blick nehmen und andererseits die Qualität von frühpädagogischen Angeboten untersuchen. Sowohl die Ergebnisse zur Beteiligung als auch die zur Qualität weisen auf Wiedersprüche und besondere Bedingungen für

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Kinder aus Familien ‚mit Migrationshintergrund‘ hin, denen im dritten Kapitel anhand unterschiedlicher Forschungslinien nachgegangen wird.

2.3 ZUGANGSHÜRDEN FÜR FAMILIEN ‚MIT MIGRATIONSHINTERGRUND‘ Dem Bedeutungszuwachs der Frühpädagogik als Grundlage für lebenslanges Lernen und für die Abmilderung sozialer Ungleichheit steht die Tatsache entgegen, dass Kinder ‚mit Migrationshintergrund‘ zu ca. einem Drittel seltener Angebote der U3-BBE in Anspruch nehmen (vgl. Kapitel 2.1). Den Gründen für die deutlich niedrigere Inanspruchnahme durch Familien ‚mit Migrationshintergrund‘ geht der Forschungsbereich des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR-Forschungsbereich) nach. In einem Policy Brief werden eine „als gering wahrgenommene Qualität der Betreuung und die unzureichende interkulturelle Öffnung“ als die wichtigsten Gründe von Eltern ‚mit Migrationshintergrund‘ genannt, die U3-BBE für ihre Kinder nicht in Anspruch zu nehmen (Forschungsbereich des Sachverständigenrates 2013: 3). Die Untersuchung der Zugangshürden zur Krippenbetreuung beruht auf der Auswertung der Antworten von 1875 Eltern, die 2012 vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) im Rahmen der Studie „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (Deutsches Jugendinstitut 2012) befragt wurden. Die Studie des SVR-Forschungsbereichs differenziert zunächst das Ergebnis, dass Kinder ‚mit Migrationshintergrund‘ seltener eine Krippe besuchen, und betont, dass dies vor allem für Kinder von Eltern zutrifft, die selbst nach Deutschland zugewandert sind. Bei Eltern der zweiten Generation und bei Eltern, von denen ein Teil keinen ‚Migrationshintergrund‘ hat, hänge die Beteiligung an der U3-BBE eher von ihrer Schulbildung ab (Forschungsbereich des Sachverständigenrates 2013: 4). Für die geringere Beteiligung von Kindern ‚mit Migrationshintergrund‘ werden drei Erklärungsansätze bisheriger wissenschaftlicher Untersuchungen vorgestellt: „(1) unterschiedliche normative Vorstellungen bei den Eltern, (2) Hürden, die den Zugang zur Krippe versperren oder erschweren und (3) familiäre Ressourcen, die alternative Betreuungsarrangements attraktiver machen“ (ebd.: 6). Die unterschiedlichen normativen Vorstellungen von Eltern (1) betreffen vor allem den angemessenen Zeitpunkt des Kitaeintritts der Kinder und die Wichtigkeit von familiären Beziehungen vs. Unabhängigkeit und Kompetenzerwerb. Als Hürden (2) würden in verschiedenen Untersuchungen die Betreuungszeiten und die Kosten sowie kulturelle, religiöse oder pädagogische Vorbehalte sowie Probleme in der Kooperation mit den Fachkräften genannt.

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Bei der Auswertung der Daten der DJI-Studie „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ durch den SVR-Forschungsbereich wird deutlich, dass die Hürden, die den Zugang zur Krippe versperren, von Eltern ‚mit Migrationshintergrund‘ nicht nur im Bereich der Rahmenbedingungen wahrgenommen werden, sondern auch die Qualität der Betreuung betreffen. Eltern ‚mit Migrationshintergrund‘ der ersten Generation geben demnach mit einer 2,5-mal höheren Wahrscheinlichkeit den Wunsch an, dass die Kinder in der Krippe besser auf die Schule vorbereitet und die Zusammenarbeit zwischen Fachkräften und Eltern optimiert würde (ebd.: 16). Zusätzlich identifiziert der SVR-Forschungsbereich „kulturelle Hürden“ und stellt fest, dass „Eltern mit Migrationshintergrund […] ihr Kind mit einer mehr als doppelt so hohen Wahrscheinlichkeit in einer Kindertageseinrichtung betreuen lassen [würden], wenn ihre Kultur oder Religion dort stärker berücksichtigt werden würde. Insbesondere Eltern der ersten Generation nennen darüber hinaus den Wunsch nach mehrsprachigen Erziehern in der Kindertagesbetreuung“ (ebd.). Diese Ergebnisse gehen ein auf den Widerspruch zwischen dem Bedeutungszuwachs der U3-BBE in Bezug auf Bildung und Chancengleichheit und der geringeren Beteiligung gerade von den Kindern, die häufig über schlechtere Bildungschancen verfügen und weniger erfolgreiche Bildungskarrieren aufweisen. Es wurde deutlich, dass vom rein zahlenmäßigen Ausbau der U3-BBE nicht unbedingt diejenigen profitieren, denen eine frühere institutionelle Bildung Vorteile verschaffen soll. Bei den Gründen für diesen Widerspruch spielen laut SVRForschungsbereich Fragen der kulturellen Öffnung eine Rolle, Fragen des Einbezugs von Mehrsprachigkeit, aber auch allgemeine Fragen der Betreuungsqualität. Um letztere geht es zunächst im folgenden Abschnitt, in dem Ergebnisse aus der Qualitätsforschung vorgestellt werden, der angesichts des starken quantitativen Krippenausbaus eine besondere Bedeutung, aber auch großer Nachholbedarf bescheinigt wird. Mit Fragen der kulturellen Öffnung frühpädagogischer Einrichtungen, auch anlässlich einer kritischen Reflexion der gegenwärtigen Qualitätsforschung, beschäftigt sich das dritte Kapitel. Dort werden verschiedene Ansätze vorgestellt, die die besonderen Bedingungen des Aufwachsens von Kindern ‚mit Migrationshintergrund‘ in Familie und Frühpädagogik zu fassen versuchen.

2.4 QUALITÄTSFORSCHUNG Mit dem quantitativen Ausbau der U3-BBE gehen große Herausforderungen für ihre pädagogische Qualität einher. Verschiedene Autoren aus Wissenschaft, Po-

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litik und Verbänden mahnen daher einen gleichzeitigen Ausbau der verschiedenen Ebenen pädagogischer Qualität in der U3-BBE an. So weist z.B. die Deutsche Liga für das Kind – die sich grundsätzlich für den Krippenausbau ausspricht – darauf hin, dass Einrichtungen, die konzeptionell, strukturell oder personell nicht ausreichend für die Altersgruppe der unter Dreijährigen ausgestattet sind, durchaus ein Entwicklungsrisiko für die Kinder darstellen können (Deutsche Liga für das Kind 2015: 2). Im entsprechend geführten Qualitätsdiskurs betonen Tietze u.a. (2013), dass zum Thema pädagogische Qualität in der Früherziehung in Deutschland ein großes Informationsdefizit besteht (ebd.: 16). Es lägen sowohl bei Trägern, Verwaltung und Fachpolitik als auch im wissenschaftlichen Bereich kaum valide Daten oder übergreifend angelegte Untersuchungen zur pädagogischen Qualität in Einrichtungen und Familien vor, und es bestehe ein deutlicher Nachholbedarf an entsprechenden Untersuchungen (ebd.: 17). Die erst seit den 1990er Jahren verstärkte Entwicklung von Konzepten der Qualitätsforschung für die U3-BBE hat eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze hervorgebracht, die sich vier verschiedenen Grundrichtungen zuordnen lassen (vgl. Fried/Roux 2013: 129ff). Quantitativ-empirisch ausgerichtete Qualitätskonzepte stützen sich auf eine entsprechend ausgerichtete pädagogische Forschung und entwickeln allgemeingültige Qualitätsstandards, die sich am Kindeswohl und an den Bedürfnissen der Eltern orientieren. An der Handlungsforschung orientierte Qualitätskonzepte setzen eher auf eine diskursive Qualitätsentwicklung, die am Situationsansatz ausgerichtet ist. Qualitätskonzepte, die mit ethnographischen Studien und feldtheoretischen Perspektiven arbeiten, fragen in erster Linie nach dem Entstehen von Qualität und nach einer relationalen Qualitätsdeutung. Am Qualitätsmanagement orientierte Qualitätskonzepte schließlich haben vor allem die Qualitätssicherung innerhalb der Strukturen eines Dienstleistungsunternehmens im Blick. Laut Stamm und Edelmann (2013) haben sich mittlerweile diejenigen Modelle pädagogischer Qualität durchgesetzt, die sich auf die Dimensionen der Struktur-, Orientierungs- und Prozessqualität beziehen (ebd.: 326). Die Strukturqualität beinhaltet die Rahmenbedingungen, zu denen z.B. der Erzieher-KindSchlüssel, die Gruppengröße, die Qualifikation des Personals, das Raumangebot etc. gehören. Die Orientierungsqualität repräsentiert die pädagogischen Vorstellungen, Werte und Überzeugungen der an der Erziehung Beteiligten und die Prozessqualität umfasst alle Bestandteile der in den Einrichtungen stattfindenden pädagogischen Arbeit. Im Rahmen der Orientierungsqualität lässt sich beispielsweise die Einstellung der Fachkräfte zum mehrsprachigen Aufwachsen der Kinder untersuchen, wie im Abschnitt 4.3 noch zu sehen sein wird. Zu den Merkmalen für eine hohe Prozessqualität gehören z.B. der sensible und einfühl-

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same Umgang mit den Kindern, das Eingehen auf ihre individuellen Bedürfnisse, Interessen und Entwicklungsvoraussetzungen, das Bereitstellen von entwicklungsangemessenen Materialien, Anregungen und Impulse für selbstgesteuertes Lernen in verschiedenen Entwicklungs- und Bildungsbereichen sowie lern- und persönlichkeitsförderliche Strategien in der Interaktion mit den Kindern und die Kooperation mit den Eltern. Merkmale für Prozessqualität im Hinblick auf Mehrsprachigkeit könnte z.B. das Einbeziehen eines mehrsprachigen Repertoires in Routinen des Kitaalltags sein, wie ebenfalls in Kapitel 4.3 und in Kapitel 5.4 deutlich wird. Eine erste übergreifende Untersuchung der Qualität der Früherziehung in Deutschland wurde mit der quantitativ-empirisch ausgerichteten NUBBEKStudie (Tietze u.a. 2013) durchgeführt. Sie bezieht sich auf eine Stichprobe von 2000 mit ihren Familien untersuchten zwei- bis vierjährigen Kindern in 567 Betreuungssettings. Die Studie enthält Erkenntnisse zur Betreuungsgeschichte und Betreuungssituation der untersuchten Kinder, zur pädagogischen Qualität in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflegestellen, zu Strukturen und Qualitätsmerkmalen in der Familienbetreuung, zu den Zusammenhängen zwischen familiärer und außerfamiliärer Betreuungsqualität mit dem kindlichen Bildungsund Entwicklungsstand und zur Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern ‚mit Migrationshintergrund‘. Die Ergebnisse zeigen insgesamt, dass die pädagogische Qualität in vielen Teilen der Früherziehung erheblich weiterentwickelt werden muss (Tietze u.a. 2012: 14). In Bezug auf die pädagogische Qualität in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflegestellen zeigt die NUBBEK-Studie, dass die Rahmenbedingungen in den verschiedenen untersuchten Betreuungsformen (altersgemischte Gruppen, Gruppen für über Dreijährige, Gruppen für unter Dreijährige, Tagespflegegruppen) sehr stark variieren, auch innerhalb derselben Betreuungsform (Tietze u.a. 2013: 143). Die pädagogische Prozessqualität weist eine sehr große Spannweite auf, die von unzureichender bis zu guter Qualität reicht. Dabei kommt allerdings gute bis sehr gute Qualität in jeder der Betreuungsformen nur in weniger als 10% der Fälle vor, unzureichende Qualität dagegen in deutlich mehr als 10% der Fälle (ebd.). Weiterhin wurde festgestellt, dass die Prozessqualität in erheblichem Maße von Rahmenbedingungen abhängig ist, die sich in bestimmten Merkmalen der Struktur- und Orientierungsqualität zeigen. So falle die pädagogische Prozessqualität besser aus, „wenn die Erzieherin einen höheren Grad an Extraversion aufweist, wenn weniger Kinder mit Migrationshintergrund in der Gruppe sind, wenn keine Altersmischung gegeben ist, und wenn offene Gruppenarbeit praktiziert wird“ (ebd.: 144).

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Die Untersuchung der pädagogischen Prozessqualität in der Familie zeigt, dass auch hier die Qualität abhängig ist von Merkmalen der Strukturqualität, u.a. vom sozioökonomischen Status der Familie: „Ein hoher sozioökonomischer Status ist konsistent verbunden mit höheren Werten in der häuslichen Entwicklungsumwelt, in der Interaktionsqualität, der mütterlichen Einschätzung der Beziehung sowie den entwicklungsfördernden Aktivitäten“ (ebd.: 145). Zu den wichtigsten Prädiktoren für eine hohe Prozessqualität in der Familie gehören außerdem „ein hoher Bildungsabschluss und geringe Depressivität der Mutter, für die Zweijährigen darüber hinaus die Merkmale Partner im Haus und mütterliche Erwerbstätigkeit. Ein Migrationsstatus der Familie ist mit niedrigerer Prozessqualität verbunden“ (ebd.). Die Ergebnisse der NUBBEK-Studie enthalten einen eigenen Abschnitt über die Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern ‚mit Migrationshintergrund‘, die sich auf Familien mit türkischem und russischem ‚Migrationshintergrund‘ in der Stichprobe (25% der Zweijährigen und 30% der Vierjährigen) bezieht4. Hier zeigt sich wie bereits in den Zahlen zur Angebotsentwicklung der U3-BBE (vgl. Kapitel 2.1), dass Kinder mit türkischem und russischem ‚Migrationshintergrund‘ deutlich später in die außerfamiliäre Betreuung eintreten als Kinder ‚ohne Migrationshintergrund‘, nämlich im Durchschnitt erst kurz vor Vollendung des 3. Lebensjahres (ebd.: 149). Auch in der NUBBEK-Studie wurde den Gründen für diese Diskrepanz zwischen Kindern ‚mit und ohne Migrationshintergrund‘ nachgegangen, indem man Eltern von familiär betreuten Kindern danach fragte, welche Merkmale eine Einrichtung haben müsste, damit sie die Kinder außerfamiliär betreuen lassen würden. Dabei zeigte sich, ebenso wie in der Studie des SVR-Forschungsbereichs zu den Zugangshürden (vgl. Kapitel

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In der Zusammenfassung der Ergebnisse der NUBBEK-Studie wird betont, dass innerhalb der Familien mit russischem und türkischem ‚Migrationshintergrund‘ eine beachtliche Heterogenität besteht (Tietze u.a. 2013: 148f). Zudem können die Ergebnisse nicht pauschal auf alle Familien ‚mit Migrationshintergrund‘ übertragen werden, da die Studie nur Familien mit russischem und türkischem ‚Migrationshintergrund‘ in ihre Stichprobe einbezogen hat. Obwohl man diesem Umstand Rechnung trägt, indem meist ausdrücklich auf den türkischen und den russischen ‚Migrationshintergrund‘ Bezug genommen wird, deutet sich hier die Gefahr von Pauschalisierungen an. Leyendecker und De Houwer (2011) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Untersuchung von Entwicklungsbedingungen in Familien ‚mit Migrationshintergrund‘ der enormen soziokulturellen Diversität dieser Familien gerecht werden muss und nicht in grobe Kategorien wie ‚Migrantenfamilien‘, ‚russische‘ oder ‚türkische‘ Familien unterteilen darf.

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2.3), dass Qualität, Mehrsprachigkeit sowie kulturelle und religiöse Öffnung für Eltern ‚mit Migrationshintergrund‘ die ausschlaggebenden Themen sind. Mütter mit türkischem und russischem ‚Migrationshintergrund‘ wären demnach deutlich stärker als Mütter ‚ohne Migrationshintergrund‘ zu einem Einrichtungsbesuch der Kinder zu motivieren, wenn die Einrichtungen eine bessere Qualität aufweisen würden. Als Qualitätsmerkmale, die den Müttern mit türkischem und russischem ‚Migrationshintergrund‘ besonders wichtig wären, um sich doch für einen Krippen- oder Kitabesuch ihrer Kinder zu entscheiden, wurden Mehrsprachigkeit der Erzieherinnen und eine bessere Zusammenarbeit zwischen Eltern und Fachkräften angegeben. Auch eine stärkere Berücksichtigung ihrer Kultur und Religion ist, vor allem für die Mütter mit türkischem ‚Migrationshintergrund‘ in der Stichprobe, ein wichtiges Kriterium (vgl. Tietze u.a. 2013: 61). In Bezug auf Familien mit türkischem und russischem ‚Migrationshintergrund‘ stellt die NUBBEK-Studie weiterhin fest, dass hier teilweise andere Voraussetzungen und Bedingungen für das Aufwachsen bestehen als in Familien ‚ohne Migrationshintergrund‘. So sei das Bildungsniveau bei Müttern mit türkischem und russischem ‚Migrationshintergrund‘ insgesamt niedriger, sie seien häufiger verheiratet und seltener berufstätig als Mütter ‚ohne Migrationshintergrund‘. Familien mit türkischem und russischem ‚Migrationshintergrund‘ verfügten außerdem im Durchschnitt über ein niedrigeres Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen, lebten häufiger von Arbeitslosengeld II und der sozioökonomische Status sei geringer (vgl. ebd.: 146). Weitere Unterschiede beziehen sich auf die Orientierungen und Einstellungen. So legten einerseits Mütter mit türkischem und russischem ‚Migrationshintergrund‘ mehr Wert auf Erziehungsziele wie prosoziales Verhalten und Gehorsam, andererseits betonten türkische Mütter das Erziehungsziel Autonomie stärker als alle anderen Mütter. In allen erfassten Bereichen der Prozessqualität erzielten Familien mit türkischem und russischem ‚Migrationshintergrund‘ in der NUBBEK-Studie niedrigere Werte, am stärksten ausgeprägt in Bezug auf die häusliche Entwicklungsumgebung5 (vgl. ebd.). In Bezug auf die sprachliche Entwicklung von Kindern aus Familien mit türkischem und russischem ‚Migrationshintergrund‘ wird in der NUBBEK-Studie festgestellt, dass diese zu Hause überwiegend die Herkunftssprache der Familie sprechen. Die Zweijährigen erreichten daher deutlich geringere Werte im deutschen Wortschatztest, aber die Vierjährigen, die schon in der Kita betreut wurden, hatten sich bereits an das Niveau der monolingual aufwachsenden Kinder

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Die Maßstäbe für die hier festgestellte „niedrige Prozessqualität“ sind jedoch umstritten. Die Einwände gegen ein als ethnozentrisch kritisiertes Qualitätsmodell werden in Kapitel 3.1 vorgestellt.

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angenähert. Bemerkenswerterweise schnitten die Kinder mit türkischem und russischem ‚Migrationshintergrund‘ im sprachunabhängigen Konzentrations- und Problemlösefähigkeitstest insgesamt besser ab als Kinder ‚ohne Migrationshintergrund‘6 (ebd.: 151). Als Konsequenz aus den Untersuchungsergebnissen empfehlen die Autoren der NUBBEK-Studie grundsätzlich, dass die öffentlich verantworteten Formen früher Bildung, Betreuung und Erziehung ein möglichst hohes Qualitätsniveau aufweisen sollten und dass dabei Mindeststandards nicht unterschritten werden dürfen. Die Realisierung der pädagogischen Qualität auf der Ebene der Struktur, der Orientierung und der Prozesse solle künftig weniger auf Grundlage „unüberprüfter pädagogischer Prinzipien und Glaubenssätze“ (ebd.), sondern eher auf der Grundlage empirischer Untersuchungen erfolgen. Wichtig sei die Einführung eines allgemeinen Qualitätsmonitorings für das Früherziehungssystem. Um die qualitative Herausforderung ebenso zu meistern wie die quantitative Herausforderung des Krippenausbaus bedürfe es einer gesellschaftlichen Anstrengung desselben Ausmaßes und einer „konzertieren Aktion von Vertretern aus Fachpolitik, Wirtschaft, Elternschaft, der Profession, der Medien und der Fachwissenschaft selbst“ und eines „bundesweiten Qualitätskonsens[es]“ (ebd.: 154f). Das mittelmäßige Durchschnittsniveau der Qualität pädagogischer Prozesse in der außerfamiliären Betreuung müsse dringend verbessert werden, dies betreffe auch die Struktur- und Orientierungsqualität und schließe die Rahmenbedingungen ein, die direkte Auswirkungen auf die pädagogische Prozessqualität hätten (ebd.: 152). Insgesamt müsse außerdem die Kooperation mit den Familien gestärkt und diese als Partner gewonnen werden. Vor allem für die stark im Ausbau befindlichen Angebote für unter Dreijährige fordern die Autoren der NUBBEK-Studie eine Anpassung an die Bedürfnisse der Familien. Dazu gehöre ausdrücklich auch die Berücksichtigung von sozialen und kulturellen Unterschieden (ebd.). Um eine stärkere Einbeziehung von Familien ‚mit Migrationshintergrund‘ zu erreichen, fordern die Autoren politische Maßnahmen, die diese gezielt ansprechen (ebd.: 153). Sie kritisieren den Umstand, dass Einrichtungen mit einem hohen Anteil an Kindern ‚mit Migrationshintergrund‘ eine besonders niedrige Prozessqualität aufweisen. Gerade für diese Kinder sei eine optimale Förderung vor Schulbeginn besonders wichtig und daher solle im Rahmen kommunaler Bildungsplanung „der Segregation im Bildungswesen entgegengewirkt und auf durchmischte, am Prinzip der Inklusion

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Dieses Ergebnis entspricht Erkenntnissen zur unterschiedlichen Entwicklung metasprachlicher Kompetenzen bei Ein- und Mehrsprachigen, auf die in Kapitel 4.2 eingegangen wird.

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orientierte Gruppenzusammensetzungen geachtet werden“ (ebd.: 154). Ebenso wichtig sei für Einrichtungen mit einem hohen Anteil an Kindern ‚mit Migrationshintergrund‘ eine besondere Förderung der Qualität, z.B. durch hoch qualifiziertes Personal und einen günstigen Erzieher-Kind-Schlüssel. Im Folgenden wird die Situation von Kindern und Familien ‚mit Migrationshintergrund‘ weiter fokussiert, indem ein Forschungsüberblick über heterogene Entwicklungsumwelten und elterliche Erziehungsvorstellungen erarbeitet wird.

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Forschungsüberblick heterogene Entwicklungsumwelten

In Kapitel 2 wurde deutlich, dass der massive Ausbau der U3-BBE u.a. mit dem Ziel verbunden ist, durch Intensivierung der frühkindlichen Bildung für mehr Chancengleichheit zu sorgen. Gleichzeitig zeigte sich, dass Familien ‚mit Migrationshintergrund‘ die U3-BBE weniger stark in Anspruch nehmen als Familien ‚ohne Migrationshintergrund‘ und dass die Gründe dafür aus der Sicht der Eltern u.a. in einer niedrig bewerteten Qualität der Einrichtungen, in der geringen Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit, mangelnder kultureller Öffnung und zu wenig Kooperation zwischen Fachkräften und Eltern liegen. Außerdem wurde im Rahmen der NUBBEK-Studie festgestellt, dass gerade Einrichtungen, die mehrheitlich von Kindern ‚mit Migrationshintergrund‘ besucht werden, tatsächlich eine geringere Betreuungsqualität aufweisen. Angesichts dieser Ergebnisse wird gefordert, die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern ‚mit Migrationshintergrund‘ stärker zu berücksichtigen und gerade im Hinblick auf ihre Bedürfnisse die Qualität der Einrichtungen zu verbessern. In der frühpädagogischen Forschung greifen einige Ansätze diese Forderungen auf, indem sie die Bedingungen des Aufwachsens in Familien ‚mit Migrationshintergrund‘ in den Blick nehmen und dazu anregen, Qualitätsmaßstäbe neu zu diskutieren. Im Folgen geht es daher zunächst um eine Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Qualitätsdiskurs, der als ethnozentrisch kritisiert wird (Kapitel 3.1). In diesem Zusammenhang wird darauf verwiesen, dass Vorstellungen von guter pädagogischer Qualität auf Normen und Werten fußen, die als allgemeingültig vorgestellt werden, dies aber nicht unbedingt sind. Zur Erweiterung des Blicks auf pädagogische Qualität werden verbreitet Erkenntnisse der kulturvergleichenden Kindheits- und Säuglingsforschung herangezogen, die in Kapitel 3.2 dargestellt werden. In Abschnitt 3.3 werden Studien vorgestellt, die elterliche Vorstellungen von guter Erziehung im Zusammenhang mit ihren soziodemographischen, kulturellen und migrationsbezogenen Kontexten untersuchen

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und damit an einer kulturellen Öffnung des Blicks auf pädagogische Qualität, familiale Entwicklungsumwelten und elterliche sowie professionelle Erziehungsvorstellungen arbeiten.

3.1 KRITIK AM ETHNOZENTRISCHEN QUALITÄTSMODELL Die Bildungsqualität und die pädagogische Qualität von Angeboten der frühpädagogischen Bildung, Betreuung und Erziehung sind mit der Anerkennung ihrer Bedeutung für Bildungsbiographie und Bildungsgerechtigkeit stark in den Fokus gerückt. Laut der NUBBEK-Studie besteht in Bezug auf die pädagogische Qualität in der Früherziehung einerseits ein erhebliches Informationsdefizit und andererseits ist sie in weiten Teilen stark entwicklungsbedürftig (vgl. Kapitel 2.4). Dem gegenwärtigen Qualitätsdiskurs, der diese beiden Erkenntnisse aufgreift, wird jedoch vorgeworfen, auf einem einseitigen Konzept von pädagogischer Qualität aufzubauen, was angesichts der kulturellen Vielfalt in frühpädagogischen Einrichtungen nicht angemessen sei (Stamm/Edelmann 2013). Das international verwendete dreidimensionale Qualitätsmodell (Orientierung, Prozess und Struktur), auf das die meisten Studien zurückgreifen, sei ein Abbild von „individualisierten westlichen Gesellschaften“, das deren „Denk-, Handlungs- und Kommunikationsmuster als selbstverständliche und verbindliche Grundlage“ betrachte (ebd.: 326). Die Kindheitsbilder, ebenso wie Erziehungs- und Bildungsziele sowie Förderpraxen seien in verschiedenen Gesellschaften aber unterschiedlich und diese Vielfalt sei mittlerweile auch innerhalb von Gesellschaften vorzufinden. Die Verengung der Qualitätsmaßstäbe auf die „ethnozentrische Weltsicht individualistischer Gesellschaften“ (ebd.: 337), durch die „andere Qualitätsvorstellungen ignoriert oder sogar deklassiert werden“ (ebd.: 326) führe dazu, dass die bisherigen Anstrengungen zur Qualitätsentwicklung in der Frühpädagogik zu kurz greifen. Solange Qualitätsmerkmale ethnozentrisch einseitig bewertet würden, werde einer bloßen Anpassung von Kindern ‚anderer‘ Herkunft unter dem Deckmantel von ‚Inklusion‘ oder ‚Pädagogik der Vielfalt‘ Vorschub geleistet. Um den integrativen Bildungsauftrag der Frühpädagogik wirklich wahrzunehmen, müssten die normativen Beschränkungen des ethnozentrischen Qualitätsmodells reflektiert und überwunden und das Modell selbst überarbeitet werden. Im Zentrum einer solchen Überarbeitung müsse das Ziel stehen, „die Welt auch mit anderen Augen zu sehen und zu akzeptieren, dass das, was anders ist, nicht zwangsläufig ein Defizit darstellt“ (ebd.: 338).

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Da pädagogische Qualität kein „derart eindeutig definierbares und messbares Produkt“ sein könne, „um für alle Gesellschaften und Kulturen universale Gültigkeit zu beanspruchen“ (ebd.: 328), müsse im Qualitätsdiskurs auf diese Unterschiedlichkeit in den Vorstellungen eingegangen werden, so Stamm und Edelmann. Um Erziehungs- und Bildungsziele verschiedener Kulturen vergleichen zu können, schlagen sie zunächst vor, zwischen individualistisch und kollektivistisch geprägten Gesellschaften zu unterscheiden. Dazu greifen sie auf die Individualismus/Kollektivismus-Dichotomie von Hofstede (2007) zurück, der diese Dimension in den 1970er Jahren aufgrund von Untersuchungen der Werthaltungen von Angehörigen verschiedener Gesellschaften und Kulturen entwickelte. Individualistisch eingestufte Kulturen werden dabei beschrieben als durch individuelle Autonomie gekennzeichnet, während kollektivistisch eingestufte Kulturen von hierarchischer Verbundenheit geprägt seien. Kritisiert werde die Verwendung der Individualismus/Kollektivismus-Dichotomie, weil sie übersehe, dass kollektivistische und individualistische Wertehaltungen sich häufig überschneiden und ineinander verwoben seien. Zudem sei die Bipolarität der Dimensionen problematisch und darüber hinaus seien in Wirklichkeit beide Konzepte, der Kollektivismus wie der Individualismus, „den gesellschaftlichen Vorstellungen der westlichen Welt entlehnt“ (Stamm/Edelmann 2013: 329). Stamm und Edelmann verwenden die Dichotomisierung trotz dieser Kritik, weil sie die Möglichkeit biete, überhaupt ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es innerhalb von Gesellschaften verschiedene Kulturen mit unterschiedlichen Werten, Normen, Lebensstilen und Umgangsformen gibt. Darüber hinaus könne dieses Konzept helfen, die bisher herrschende Zweiwertigkeit, mit der auch das pädagogische Qualitätsmodell ‚andere‘ Qualitätsvorstellungen deklassiere, zu überwinden, und die tatsächlich vorhandene Mehrwertigkeit zu sehen, die durch die Vielfalt in der Gesellschaft entstehe (ebd.: 328ff). Anhand der Gegenüberstellung von kollektivistischen und individualistischen Gesellschaften zeigen Stamm und Edelmann für die Orientierungsqualität, die Prozessqualität und die Strukturqualität frühpädagogischer Förderung, wie unterschiedlich Qualitätsvorstellungen und Erziehungsziele sein können (ebd.: 332ff). Dabei greifen sie einerseits auf deutsche Bildungspläne und andererseits auf kulturvergleichende Studien zurück. In Bezug auf die Orientierungsqualität zeigt die Gegenüberstellung, dass in individualistisch geprägten Kulturen eher Erziehungsziele wie Zielstrebigkeit, Konflikt- und Kommunikationsfähigkeit angestrebt werden, während in kollektivistisch geprägten Kulturen eher Ziele wie Respekt vor erwachsenen Autoritäten, Gruppenharmonie und Konformität wichtig sind. Der Blick auf die Prozessqualität zeigt, wiederum anhand von Bildungsplänen und kulturvergleichenden Studien, dass individualistisch geprägte

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Gesellschaften pädagogische Prozesse dann als qualitativ hochwertig einstufen, wenn das Kind mit seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen im Mittelpunkt steht und wenn es dazu angeregt wird, seine Umwelt autonom zu erkunden und seine eigenen Gefühle und Gedanken auszudrücken. In kollektivistisch geprägten Gesellschaften stünden die hierarchische Struktur einer Gruppe und das Zugehörigkeitsgefühl im Mittelpunkt. Pädagogische Prozessqualität drücke sich hier dadurch aus, dass das Kind angeleitet wird, sich an den Aktivitäten der anderen Gruppenmitglieder zu orientieren und sich anzupassen. In Bezug auf die Strukturqualität zeigten sich, folgend aus den unterschiedlichen Maßstäben für die Orientierungs- und die Prozessqualität, ebenfalls unterschiedliche Bewertungen. So würden in individualistisch geprägten Gesellschaften Strukturen als gut bewertet, die dem Kind individuelle Aufmerksamkeit ermöglichen, während in kollektivistisch geprägten Gesellschaften eher Strukturen als gut gelten, die die Entwicklung im sozialen Netzwerk unterstützen. In der Folge dieser unterschiedlichen Vorstellungen von Qualität können laut Stamm und Edelmann ganz verschiedene Bewertungen derselben Situation in der frühpädagogischen Bildung, Betreuung und Erziehung entstehen (ebd.: 332ff). Ein Kind aus einer kollektivistisch orientierten Familie, das in der Krippe nicht aktiv auf andere zugehe, sondern auf Aufforderungen der Erwachsenen warte, könne so z.B. durch eine Erzieherin, die nichts über kollektivistisch geprägte Kulturen wisse, als unkooperativ und wenig sozialkompetent eingestuft werden. Dementsprechend könnte es bei den kollektivistisch orientieren Eltern dieses Kindes Irritation auslösen, wenn die Erzieherin ihnen rückmelde, das Kind sei zurückhaltend und wenig aktiv, was als problematisch oder veränderungsbedürftig bewertet würde. Da Zurückhaltung und Orientierung an den anderen für kollektivistisch orientierte Eltern vielleicht besonders förderungswürdige Verhaltensweisen seien, würden sie zu einer ganz anderen Bewertung des Verhaltens des Kindes kommen. Ein weiteres Beispiel kommt aus dem Bereich der Strukturqualität, wo Stamm und Edelmann zeigen, dass gängige Qualitätsmerkmale wie z.B. die Gruppengröße unterschiedlich bewertet werden können. Während kleine Gruppen und ein Betreuungsschlüssel, der den Kindern viel individuelle Aufmerksamkeit durch die Fachkräfte ermöglicht, in individualistischen Kulturen als gut bewerteten würden, seien sie in kollektivistisch orientierten Gesellschaften nicht unbedingt ein Merkmal hoher Qualität. Da hier eher Strukturen geschätzt würden, die die Entwicklung im sozialen Netzwerk unterstützen, würden eher große Gruppen mit wenigen Erwachsenen bevorzugt, die die Gruppensozialisation förderten. Auf die Ergebnisse der NUBBEK-Studie wird von Stamm und Edelmann nicht explizit eingegangen. Dennoch wird schon an den in Kapitel 2.4 dargestell-

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ten Ausschnitten aus der NUBBEK-Studie deutlich, dass sich auch ihre Ergebnisse im Hinblick auf ethnozentrische Qualitätsvorstellungen kritisch reflektieren lassen. Das betrifft vor allem die niedrigere Bewertung der pädagogischen Qualität in Familien mit türkischem und russischem ‚Migrationshintergrund‘ durch die NUBBEK-Studie, die sich u.a. auf die stärkere Orientierung dieser Eltern an Erziehungszielen wie prosozialem Verhalten und Gehorsam stützt. Die Bewertungsmaßstäbe für die pädagogische Qualität in Familien, die dazu führen, dass eine Orientierung an prosozialem Verhalten und Gehorsam als Indikatoren für eine schlechtere pädagogische Qualität gesehen werden, werden dabei nicht kulturvergleichend reflektiert oder kritisch hinterfragt. Ein weiteres Beispiel ist, dass auch die NUBBEK-Studie eine geringere Gruppengröße und einen ‚günstigen‘ Erzieherin-Kind-Schlüssel (d.h. wenige Kinder pro Erzieherin) als besser für die pädagogische Qualität vertritt, ohne darauf einzugehen, dass kleine Gruppen mit vielen Fachkräften nicht unbedingt für alle ein wichtiges Qualitätsmerkmal sind. Ebenso könnte die Tatsache, dass die türkischen und russischen Eltern in der NUBBEK-Studie Zweifel an der Qualität der institutionellen Betreuung als Grund für die Nichtinanspruchnahme angeben, als Hinweis darauf reflektiert werden, dass nicht in allen Familien die gleichen Vorstellungen von guter Qualität bestehen. Die NUBBEK-Studie weist in ihrer Ergebnisdarstellung zwar darauf hin, dass kulturelle Hintergründe in der pädagogischen Arbeit stärker berücksichtigt werden müssten. Die Maßstäbe für gute Qualität, die die NUBBEK-Studie anlegt, entsprechen jedoch selbst den Vorstellungen individualistisch geprägter Gesellschaften (im Sinne der hier vorgestellten Kritik von Stamm und Edelmann) und werden von ihr nicht hinterfragt. Den Zusammenhang zwischen dem Bedeutungszuwachs frühpädagogischer Angebote, den Erwartungen, die damit in Bezug auf Bildungschancen verbunden werden, und einem defizitorientierten Blick auf ‚andere‘ Erziehungsvorstellungen und -praxen greifen auch Otyakmaz und Karakaşoğlu (2015) auf. Sie stellen fest, dass sich das Interesse am Ausbau der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung, an ihrem Potenzial zur Ausbalancierung sozialer Ungleichheit und der Diskurs um die Weiterentwicklung der pädagogischen Qualität in einer Schieflage befinden. Die Erkenntnis, dass Kinder ‚mit Migrationshintergrund‘ in Deutschland über deutlich schlechtere Bildungschancen verfügen als Kinder ‚ohne Migrationshintergrund‘, habe zwar dazu geführt, dass der „frühkindlichen Bildung in Institutionen ein zentraler Stellenwert für den Bildungserfolg von Kindern aus Migrationsfamilien bzw. anderen sozial benachteiligten Familien zugeschrieben“ werde (ebd.: VI). Damit gehe aber einher, dass diese Familien nicht nur als ‚Andere‘ etikettiert und ihre tatsächliche Heterogenität auf bestimmte Merkmale reduziert würden, sondern auch, dass ihre familiäre Erzie-

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hung und Bildung in der frühen Kindheit als mangelhaft bewertet würden. Es werde angenommen, dass „in diesen Familien das Unterstützungspotential für die formalen Bildungsprozesse der Kinder fehlten, da die Eltern entweder nicht in der Lage oder teilweise auch nicht ausreichend motiviert seien, ihren Kindern die notwendigen Kompetenzen für eine erfolgreiche Bildungsintegration zu vermitteln“ (ebd.: VII). Dieser Blick auf familiale Erziehung, der auf ihre „Funktionalität für Anschlüsse im Bildungssystem“ (ebd.: IX) reduziert sei, führe zu einer Defizitperspektive, die die förderlichen Faktoren in familiären Erziehungsvorstellungen und Erziehungspraktiken übersehe. Tatsächlich sei bislang sehr wenig bekannt über die von Eltern ‚mit Migrationshintergrund‘ gestalteten frühkindlichen Entwicklungsumwelten. Um den Eltern in Einrichtungen der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung aber auf Augenhöhe zu begegnen, sei es unerlässlich, mehr über ihre Erziehungs- und Entwicklungsvorstellungen zu erfahren. Die geforderte Untersuchung familialer Entwicklungsumwelten, von denen angesichts migrationsgesellschaftlicher Vielfalt keine Homogenität zu erwarten ist, steckt noch in den Kinderschuhen und ist in weiten Teilen von einer Überbetonung der potenziellen Probleme zugewanderter Familien geprägt. Zudem weist sie häufig eine zu grobe Kategorisierung auf (vgl. Exkurs zur Bezeichnungspraxis ‚mit Migrationshintergrund‘), die relevante Faktoren wie den Migrationsstatus, unterschiedliche Migrationserfahrungen oder den Akkulturationsstatus (vgl. Leyendecker/De Houwer 2011) vernachlässigt. Es ist jedoch anzunehmen, dass viele familiale Entwicklungsumwelten und elterliche Sozialisationsziele, Erziehungsvorstellungen und -praktiken, die in der frühpädagogischen Bildung, Betreuung und Erziehung relevant werden, erheblich von denen abweichen, die gemeinhin als ‚normal‘ oder ‚mehrheitlich‘ vorgestellt werden. Ein vielfältigeres und mithin vollständigeres Bild kindlicher Entwicklungsumwelten und differenzierte Erkenntnisse über Vorstellungen von Eltern sind sowohl für die Untersuchung der Qualität pädagogischer Einrichtungen als auch für ihre Praxis unverzichtbar. Entsprechende Forschungsansätze ebenso wie Weiterbildungskonzeptionen für Fachkräfte greifen häufig auf Erkenntnisse der kulturvergleichenden Kindheits- und Säuglingsforschung zurück, die im Folgenden vorgestellt werden.

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3.2 KULTURVERGLEICHENDE KINDHEITS- UND SÄUGLINGSFORSCHUNG In der kulturvergleichenden Kindheits- und Säuglingsforschung wird davon ausgegangen, dass die meisten alltäglichen Handlungen von Eltern kulturspezifische Handlungen sind, die sich an kulturellen Modellen orientieren (Keller 2011). Diese kulturellen Modelle entstehen vor dem Hintergrund unterschiedlicher kultureller Kontexte und stellen den Rahmen dar für die Bildung von Erziehungsund Sozialisationszielen. Zum Erreichen dieser Ziele greifen Eltern demnach auf sog. Ethnotheorien über ‚richtige‘ Erziehung zurück, die sich an vom jeweiligen kulturellen Modell geprägten alltagspsychologischen Vorstellungen ausrichten. Diese Ethnotheorien schließlich bringen verschiedene elterliche Verhaltensstrategien hervor (ebd.: 26). Um den Zusammenhang zwischen kulturellen Modellen, elterlichen Sozialisationszielen und Ethnotheorien zu untersuchen, werden in der kulturvergleichenden Kindheits- und Säuglingsforschung hauptsächlich quantitative Studien durchgeführt, die zumeist mit standardisierten Fragebögen und skalenbasierten Beobachtungen arbeiten. Zur Identifizierung der kulturellen Modelle anhand des kulturellen Kontextes werden soziodemographische Daten der untersuchten Personen in den verschiedenen Regionen herangezogen, wie das Niveau formaler Bildung, das Erstgebäralter der Mütter, die Kinderzahl und die Haushaltsgröße. Es wird davon ausgegangen, dass sich im Rahmen dieser soziodemographischen Kontexte kulturelle Modelle als Spezifikationen von „grundlegende[n] Werte[n], Orientierungen, Überzeugungen, Normen und Konventionen“ herausbilden, „die sich als jeweils spezifische Mischung aus Autonomie und Verbundenheit beschreiben lassen“ (ebd.: 24). Die Weitergabe dieser Orientierungen von einer Generation an die nächste wird als „aktiver Konstruktions- und Ko-Konstruktionsprozess“ vorgestellt, bei dem „Kinder Verhalten und Werte aktiv erwerben und dabei auch verändern“ (ebd.). In Anlehnung an Kağıtçıbaşı (1996a; 1996b; 2005) werden drei prototypische kulturelle Modelle vorgestellt: das an Autonomie orientierte kulturelle Modell, das an Relationalität orientierte kulturelle Modell und das kulturelle Modell der autonomen Verbundenheit1 (Keller u.a. 2006: 156).

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Auch diese Identifikation dreier kultureller Modelle bezieht sich auf die bereits thematisierte Dichotomie von Kollektivismus und Individualismus (vgl. Kapitel 3.1). Keller betont hier ebenfalls, dass man sich auf diese Dichotomie nicht beschränken will, sondern sie benutzt, um darzustellen, dass die westlich geprägte autonomieorientierte Perspektive nur eine mögliche und keineswegs die einzige ist. Zudem gebe es viele

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Der Zusammenhang von kulturellen Modellen und Sozialisationszielen sowie die Konsistenz der drei prototypischen kulturellen Modelle wurde u.a. in einer Studie zur frühkindlichen Entwicklung im ersten Lebensjahr untersucht (Keller u.a. 2006). Dabei wurden Mütter aus Berlin (Deutschland), Los Angeles (USA), Athen (Griechenland), Peking (China), San José (Costa Rica), Delhi (Indien), Mexico City (Mexico), Bui (Kamerun) und Vadodara (Indien) zu ihrer Einstellung zu Familiarität, Sozialisationszielen und Ethnotheorien über gutes Elternhandeln befragt. Anhand der Ergebnisse ließen sich die Gruppen einem der drei prototypischen Modelle Autonomie (Berlin, Los Angeles, Athen), Relationalität (Bui, Vadodara) und autonome Verbundenheit (Peking, San José, Delhi, Mexico City) zuordnen. Ebenso wurde die These als bestätigt betrachtet, dass diese Zugehörigkeit zu einem Modell die Sozialisationsziele und elterlichen Ethnotheorien prägt. Vor allem die kulturellen Modelle der Autonomie und der Relationalität zeigten eine starke Konsistenz in ihren Implikationen für Sozialisationsziele und elterliche Ethnotheorien, während die Ergebnisse für das Modell der autonomen Verbundenheit nahelegten, dass es sich hier um eine Übergangsstufe vom kulturellen Modell der Relationalität zu einem Modell der Autonomie handelt. Für die prototypischen kulturellen Modelle Autonomie und Verbundenheit werden unterschiedliche Entwicklungspfade und entsprechende charakteristische Sozialisationsziele und Ethnotheorien über gutes Elternhandeln beschrieben (vgl. Borke u.a. 2011). In einem autonomieorientierten Entwicklungspfad, dem die westeuropäisch-nordamerikanische Mittelschichtsperspektive zuzuordnen sei, wird das Kind demnach als von Anfang an autonomes Wesen mit eigenen Wünschen und eigenem Willen wahrgenommen, den es zu berücksichtigen und zu unterstützen gilt. Die Entfaltung der jeweils ganz individuellen Kompetenzen der Kinder stelle ein sehr bedeutendes Sozialisationsziel dar und der kognitiven Entwicklung sowie der Förderung einer abstrakt technologischen Intelligenz komme eine besondere Bedeutung zu. Elternhandeln, dass vor allem die Autonomie fördern will, wende bewusst und unbewusst vorzugsweise Interaktionsweisen wie das Objektspiel an, betone den Blickkontakt, verwende eine kindbezogene Sprache und reagiere verstärkt auf kindliche Initiativen und Signale (ebd.: 15f). Im Gegensatz dazu stellen beim prototypisch beschriebenen verbundenheitsorientierten Entwicklungspfad die Fähigkeit zur gemeinschaftlichen Zusammengehörigkeit, das Erlangen von sozialen Kompetenzen sowie Gehorsam und Respekt gegenüber Sozialhöhergestellten wichtige Sozialisationsziele dar.

Mischformen zwischen diesen beiden Polen sowie weitere, bisher nicht identifizierte kulturelle Modelle (Keller u.a. 2006,: 169; Keller 2011: 12)

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Gutes Elternhandeln zeichne sich hier nicht durch die ausdrückliche Berücksichtigung der Wünsche des Kindes aus, sondern durch die Vorstrukturierung von Situationen durch die Eltern, durch Gleichbehandlung und emotionale Wärme (vgl. ebd.). Die Untersuchung von Sozialisationszielen und Ethnotheorien in Abhängigkeit von kulturellen Modellen im soziodemographischen Kontext bezieht sich jedoch nicht nur auf Eltern, sondern auch auf pädagogisches Personal. Hinweise darauf, dass kulturelle Modelle auch das professionelle Handeln von Fachkräften prägen, wurden u.a. in einer Untersuchung zum Zusammenhang von kulturellen Modellen, Sozialisationszielen und Erziehungsstrategien von Erzieherinnen und Erziehern in Kindertageseinrichtungen gefunden (vgl. Niedersächsisches Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung 2010). Mit einem Fragebogen wurden Fachkräfte in Osnabrück (Deutschland) und Kumbo (Kamerun) über ihre Sozialisations- und Bildungsziele sowie ihre Erziehungsmethoden befragt. Dabei bezogen sich die deutschen Erzieherinnen und Erzieher am häufigsten auf Aspekte, die die Förderung von Autonomie und Selbstbewusstsein betreffen, während die kamerunischen Erzieherinnen vor allem die Schulvorbereitung und die Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten als Bildungsziele nannten. Die Erziehungsstrategien wiesen bei den deutschen Erzieherinnen und Erziehern eher ein kindzentriertes Vorgehen auf, bei dem der Entwicklungsstand der einzelnen Kinder und deren Persönlichkeit berücksichtigt wurden, während die kamerunischen Erzieherinnen eher direktive und didaktische Methoden anwendeten. Angesichts dieser Forschungsergebnisse wird betont, dass es für frühe institutionelle Bildungsprozesse zentral sei, Erkenntnisse über die Sozialisationsziele und Erziehungsmethoden von pädagogischen Fachkräften zu sammeln, mit denen „eine verbesserte Anpassung an die unterschiedlichen soziokulturellen Realitäten von Familien erreicht werden“ kann (ebd.: 23f). Im Rahmen der Untersuchung von Sozialisations- und Erziehungszielen sowie Erziehungsstrategien wurde festgestellt, dass auch die Spracherziehung anhand kulturspezifischer Praktiken gestaltet und damit vom jeweiligen kulturellen Kontext beeinflusst wird. Wie unterschiedlich kulturelle Kontexte diskursive Praktiken und Konversationsstile in der Eltern-Kind-Kommunikation prägen können, hat u.a. Demuth (2008) beleuchtet, indem sie diskursive Praktiken in Mutter-Säugling-Interaktionen in Mittelschichtsfamilien aus dem norddeutschen Münster mit solchen in Familien von Nso-Bauern in Kikaikelaki im Nordwesten Kameruns untersuchte. Diskursive Praktiken werden dabei als zentrales Verbindungsglied zwischen dem sich entwickelnden Individuum und seiner Kultur verstanden, das selbst einem ständigen sozio-historischen Wandel unterliegt. So wird davon ausgegangen, dass die „dialogische Beziehung zwischen diskursiven

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Praktiken, Selbst und Kultur“ Ausdruck der „jeweils prominenten kulturellen Modelle“ ist (Demuth u.a. 2011: 28). Es wurden in den untersuchten Familien unterschiedliche Interaktionsmuster vorgefunden, die laut Demuth u.a. zur Entwicklung „kulturspezifischer Formen menschlichen Bewusstseins und menschlicher Selbstkonzepte“ beitragen und gleichzeitig „Resultat von spezifischen sozio-historischen Entwicklungen“ sind (ebd.). Die deutlichen Unterschiede in der Kommunikation mit den Säuglingen der beiden Gruppen betrafen vor allem die Art und Weise, wie narrative Elemente in die Interaktion eingebracht wurden. Zudem unterschieden sich Struktur und Ausmaß von Wiederholungen und rhythmischen Elementen. In der Gruppe der deutschen Mittelschichtsfamilien wurden explizite und implizite Erzählaufforderungen als prominente Muster der Kommunikation mit den Säuglingen identifiziert und als Erwartung an das Kind interpretiert, sich in die Interaktion narrativ einzubringen. Darüber hinaus wurden narrative Elemente auch verwendet, um das momentane Erleben des Kindes in Verbindung mit Vergangenem zu bringen. Damit werde „so etwas wie ein biographisches Begründungsmuster angelegt“ (ebd.: 20): „Erzählgenerierende Praktiken, die auf das individuelle und innerpsychische Erleben des Kindes abzielen“ wiesen darauf hin, dass „SelbstReflektion, individuelles Erleben, autobiographisches Erzählen sowie vorausschauende Planung […] zentrale Bestandteile dessen“ seien, was diesen Kindern vermittelt wird (ebd.: 27). In der Gruppe der Nso-Bauern kamen in der Kommunikation mit den Säuglingen hingegen keinerlei Erzählaufforderungen und keine Referenzen zu biographischen Erlebnissen des Kindes vor. Hier stellten eine stark einseitige aktive Strukturierung seitens der Mutter, eine stark rhythmische Lautmalerei und der Sprechgesang die prominenten Muster in der Kommunikation dar (ebd.: 20). Die Konzentration auf rhythmisch-musikalische Elemente, auf Kehrreime und rhythmische Wiederholungen von Lautmalerei, meist einhergehend mit einer synchronen körperlichen Bewegung des Kindes, interpretieren Demuth u.a. als Vermittlung von Aufmerksamkeit und Verbundenheit durch synchrone gemeinsame Erfahrung, in der jedoch die Mutter den Takt angebe. Laut Demuth u.a. lassen diese Befunde die Annahme zu, dass die Kinder aus den deutschen Mittelschichtsfamilien lernen, „über sich selbst in autobiographisch-narrativer Form zu erzählen und nachzudenken. Von den Kindern in Kikaikelaki wird angenommen, dass sie eine Selbstwahrnehmung entwickeln, die weniger auf individuellem Erleben und Selbst-Reflexion fokussieren (sic!), sondern stärker auf einer emotionalen Verbundenheit und Eingliederung in die Gesellschaft“ (ebd.: 27). Der Einfluss des jeweiligen kulturellen Modells auf die sprachliche Sozialisation wird auch aus den Ergebnissen eines weiteren Forschungsprojektes von

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Keller u.a. deutlich. Hier wurde die Konversation von Müttern und ihren dreijährigen Kindern über vergangene Ereignisse in sieben verschiedenen Erhebungsorten in Costa Rica, Deutschland, Griechenland, Indien und Kamerun untersucht. Von den kulturellen Kontexten der verschiedenen Erhebungsorte wurden zwei dem kulturellen Modell der Autonomie, zwei dem relationalen Modell und drei dem Modell der relationalen Autonomie zugeordnet. Es wurde angenommen, dass sowohl der Konversationsstil als auch der inhaltliche Fokus bei Erwachsenen verschiedener kultureller Kontexte unterschiedlich ist und unterschiedliche Sozialisationsziele widerspiegelt (Niedersächsisches Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung 2010). Die Analyse der verschiedenen Mutter-KindKonversationen ergab, dass sich Mütter aus an Autonomie orientierten Kontexten stärker auf eine einzigartige Vergangenheit mit dem Kind beziehen, ihm viel Rückmeldung über seine Beiträge geben und auf das fokussieren, was das Kind getan hat. Mütter aus relationalen Kontexten hingegen würden weniger elaborieren und ihre Fragen häufig wiederholen, zudem beharrten sie darauf, dass das Kind erinnert, was sie für wichtig halten, und fokussierten darauf, was andere getan haben und weniger darauf, was das Kind getan hat. Keller u.a. schließen aus diesen Ergebnissen, dass die durch kulturelle Modelle beeinflusste unterschiedliche Gestaltung der Konversation auch eine unterschiedliche Entwicklung des biographischen Selbst der Kinder hervorbringt. So werde durch einen elaborativen Konversationsstil, bei dem inhaltlich das Kind im Fokus steht, ein autonomes Selbstkonzept gefördert, während durch einen repetitiven Stil, der eher den sozialen Kontext fokussiert, ein bezogenes Selbstkonzept gefördert werde (ebd.: 15). Gleichzeitig wird festgehalten, dass der elaborative Stil dazu führt, dass Kinder mehr erinnern als Kinder von Müttern mit repetitivem Stil und dass ein positiver Zusammenhang zwischen dem elaborativen Stil und der kindlichen Sprachentwicklung besteht. Außerdem würden Kinder aus relationalen Familien mehr zu Gesprächen beitragen, wenn diese sich auf soziale Inhalte beziehen (ebd.). Aufbauend auf diesen Ergebnissen schulten Keller u.a. in einem Modellprojekt Erzieherinnen und Erzieher in einem bestimmten Sprachstil, der für Kinder aus verschiedenen Familienkulturen ansprechend sein sollte. Sie gingen davon aus, dass ein elaborativer Konversationsstil die Sprachentwicklung unterstützt und sich positiv auf spätere Lese- und Schreibfähigkeiten auswirkt. Außerdem wurde aus der Konversationsstil-Untersuchung die Erkenntnis verarbeitet, dass „eine Kita-Sprachkultur, die Kindern einen elaborativen Gesprächsstil über soziale Inhalte bietet, […] für Kinder verschiedener Familienkulturen ansprechend und zusätzlich auf mehreren Ebenen förderlich“ wäre (ebd.: 17).

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Anhand dieser Ergebnisse aus der kulturvergleichenden Kindheits- und Säuglingsforschung lässt sich die Entstehung von unterschiedlichen Sozialisationszielen und Erziehungsvorstellungen nachvollziehen. Die meisten Untersuchungen beziehen sich jedoch auf globale Vergleiche verschiedener Regionen und fokussieren nicht die unterschiedlichen kulturellen Kontexte innerhalb einer von Migration geprägten Gesellschaft. Daher wird hier nicht berücksichtigt, dass sich innerhalb einer Gesellschaft unterschiedliche Bezüge mischen und dass das Mischungsverhältnis in jeder Familie anders sein kann. Die Zuordnung der Untersuchten zu prototypischen kulturellen Modellen kann außerdem dazu führen, dass Unterschiede, die durch gesellschaftliche Bedingungen entstehen, als ‚kulturelle‘ Unterschiede festgeschrieben werden. Zwar soll die Betrachtung soziodemographischer Kontexte helfen, Kultur als durch sozioökonomische Hintergründe geprägtes Orientierungssystem zu begreifen. Die Verwendung von ‚kulturellen Modellen‘ als Kategorisierungslabel birgt dennoch die Gefahr, „Gruppenunterschiede als Kulturunterschiede zu interpretieren und andere relevante Einflussgrößen zu vergessen“ (Leyendecker/De Houwer 2011: 182). Im Folgenden werden Untersuchungen vorgestellt, die die Erkenntnisse aus der kulturvergleichenden Entwicklungspsychologie nutzen, sich aber, anstatt internationale Vergleiche anzustellen, explizit auf die Situation von eingewanderten Familien in Deutschland beziehen. Dabei wird wiederum deutlich, dass hier nicht von einheitlichen Vorstellungen ‚guter‘ Erziehung ausgegangen werden kann. Gleichzeitig zeigt sich, dass der Prozess der Migration selbst einen erheblichen Einfluss auf elterliche Sozialisationsziele und Erziehungsvorstellungen hat und dass diese weder statisch sind noch einem eindeutig definierbaren kulturellen Kontext zugeordnet werden können.

3.3 FAMILIALE ENTWICKLUNGSUMWELTEN IM KONTEXT VON MIGRATION Die Notwendigkeit, der Heterogenität zugewanderter Familien in der Frühpädagogik gerecht zu werden, greifen u.a. Otyakmaz (2015), Demuth u.a. (2015) sowie Leyendecker und De Houwer (2011) auf. Sie untersuchen Sozialisationsziele und Erziehungsvorstellungen von Eltern und Fachkräften ‚mit und ohne Migrationshintergrund‘ vor dem Hintergrund der Migrationsgeschichte. Ein wichtiger Faktor ist für sie die Frage, in welcher Migrationsgeneration die Familien hier leben und in welchem Maße sich der Einfluss der ‚Herkunftskultur‘ mit dem der Aufnahmegesellschaft in ihren Haltungen mischt. Besonders stark werden die

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Migrationserfahrungen und damit verbundenen Entwicklungsaufgaben für die Familien von Leyendecker und De Houwer betont. Otyakmaz (2015) geht, übereinstimmend mit Keller, in ihrem Vergleich der Entwicklungserwartungen und des Erziehungsverhaltens deutscher und türkischer Mütter davon aus, dass die kindliche Entwicklung einer „kulturelle[n] ‚Kanalisierung‘“ unterliegt, da die Eltern-Kind-Interaktionen sowie Erziehungsziele und -stile kulturbedingt unterschiedlich gestaltet würden (ebd.: 68). Die elterlichen Überzeugungen und Praktiken seien dabei aber nicht einheitlich durch ein kulturelles Bezugssystem geprägt, sondern „als individuell gefärbte Rekonstruktionen kultureller Denk- und Handlungsvorschläge zu verstehen“ (ebd.). Ebenso sei auch die Entwicklung des Kindes selber Ergebnis eines interaktionistischen Ko-Konstruktionsprozesses und nicht unidirektional durch die Eltern beeinflusst. Häufig sei außerdem nicht eindeutig zu klären, ob die aktuellen sozioökonomischen Verhältnisse oder der ethnische bzw. kulturelle Hintergrund für die Orientierungen verantwortlich seien. In ihrer Studie untersuchte Otyakmaz die Entwicklungserwartungen und das Erziehungsverhalten von insgesamt 197 in Deutschland lebenden Müttern mit türkischem (98) und ohne (99) ‚Migrationshintergrund‘, die Kinder im Vorschulalter hatten. Von den 98 deutsch-türkischen Müttern waren 42 nach ihrem 18. Geburtstag eingewandert (1. Generation) und 56 vor ihrem sechsten Geburtstag (2. Generation). Mit einem sozialdemographischen Fragebogen wurden das Alter und die Bildungsabschlüsse der Mütter, die Anzahl der Familienmitglieder, Alter und Geschlecht des Zielkindes und Alter und Geschlecht der Geschwister abgefragt. Die Entwicklungserwartungen wurden anhand eines Fragebogens erhoben, der auf einer Skala aus acht verschiedenen Entwicklungsbereichen, wie z.B. motorische und kognitive Fähigkeiten, Selbstkontrolle, Autonomie und Gehorsam, aufbaute. Hier sollten die Mütter ankreuzen, zu welchem Alterszeitpunkt ein Kind die genannte Fähigkeit erstmalig zeigen könne. Das Erziehungsverhalten wurde mit dem Child-Rearing Practices Questionaire (Paterson/Sanson 1999) erfasst, in dem sich die Mütter anhand von 30 Items in zwei Subskalen für positives Erziehungsverhalten (Wärme, logisches Begründen vorgegebener Regeln) und zwei Subskalen für negatives Erziehungsverhalten (Gehorsam und Bestrafung) selbst einschätzen sollten. Otyakmaz stellt fest, dass die türkisch-deutschen Mütter in allen erhobenen Entwicklungsbereichen spätere Entwicklungserwartungen aufweisen als die deutschen Mütter. Die Unterschiede führt sie auf ein unterschiedliches Kindheitskonzept zurück. Eltern türkischer Herkunft würden die frühe Kindheit eher als „eine Art Schonzeit“ ansehen und kleine Kinder würden „als in erster Linie bedürfnis- und nicht verstandesgeleitet betrachtet“ und „weniger für ihr Verhal-

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ten zur Verantwortung gezogen“ (Otyakmaz 2015: 77). Dieses Kindheitskonzept, das nicht dem westlicher Gesellschaften entspreche, würde von den türkisch-deutschen Müttern jedoch nicht einfach beibehalten, sondern an die Erfordernisse der aktuellen Umweltgegebenheiten angepasst. Ein Indiz dafür sei die Tatsache, dass sich deutsche und türkisch-deutsche Mütter in ihren Entwicklungserwartungen dort am stärksten unterschieden, wo es um Bereiche gehe, die sich vor allem auf das Zusammenleben in der Familie beziehen. Bei schulbezogenen Items des kognitiven Entwicklungsbereiches zeige sich hingegen kein signifikanter Unterschied, was nahelege, dass die Entwicklungserwartung an die Kinder da, wo sie „das außerfamiliäre Umfeld und vor allem ihre Bildung betrifft“, eher den Vorstellungen der Aufnahmegesellschaft angepasst werden (ebd.). Dennoch könne es dazu kommen, dass beim Eintritt in die Kindertagesbetreuung die Vorstellungen über eine angemessene Entwicklung, z.B. in Bezug auf die Impulskontrolle, die Selbstregulierung der Emotionen oder das selbstständige Essen, zwischen Eltern mit und Fachkräften ohne ‚Migrationshintergrund‘ stark divergieren, so Otyakmaz. Problematisch sei das dann, wenn diese Unterschiede nicht partnerschaftlich verhandelt, sondern die Vorstellungen der Eltern als falsch und die Eltern selbst als inkompetent abgewertet würden (ebd.: 78). Ebenfalls auf Erkenntnisse aus der kulturvergleichenden Kindheits- und Säuglingsforschung Bezug nehmend, untersuchten auch Demuth u.a. (2015) „Parentale Ethnotheorien“ (ebd.: 29) türkischstämmiger Mütter in Deutschland. Sie stellen diese vor als „Alltagsvorstellungen von Eltern darüber, was gut für ein Kind ist und welche Erziehungsziele man verfolgen sollte, um ein Kind optimal für das Leben in der jeweiligen Gesellschaft vorzubereiten“ (ebd.: 30). Die zentrale Rolle dieser „kulturellen Erziehungsvorstellungen“ (ebd.) für die kindliche Entwicklung werde bei den Bemühungen um eine erfolgreiche Integration in der Frühpädagogik zu wenig beachtet. Demuth u.a. gehen – wie Keller – in Anlehnung an Kağıtçıbaşı (2005) von drei prototypischen Familienmodellen aus, die „aus bestimmten sozio-historischen Entwicklungen hervorgegangen“ seien (Demuth u.a. 2015: 30): Dem traditionellen, dem individualistischen und dem autonom-relationalen Familienmodell. Ergebnisse aus verschiedenen Studien zu parentalen Ethnotheorien und Erziehungszielen türkischstämmiger Familien in Deutschland zusammenfassend, halten Demuth u.a., ähnlich wie Otyakmaz, fest, dass sich die Erziehungsziele dieser Mütter „in manchen Bereichen an die der Aufnahmekultur annähern […], in anderen Bereichen sich die Erziehungsziele zwischen deutschen und türkischstämmigen Müttern jedoch stark unterscheiden“ (ebd.: 33). Die Untersuchung der Ethnotheorien von sechs in Deutschland lebenden türkisch-stämmigen Müttern der zweiten Generation durch Root (2011) zei-

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ge, dass Vorstellungen über ‚gute‘ Erziehung nicht statisch sind, sondern einem Wandel unterliegen und in den „sozio-historischen“ und „öko-kulturellen“ (Demuth u.a. 2015: 30) Kontext eingebunden sind. Demuth u.a. ordnen die Mütter anhand ihrer Erziehungsvorstellungen einem autonom-relationalen Familienmodell zu, da sie „der emotionalen Verbundenheit und der gegenseitigen Fürsorge einen sehr hohen Stellenwert in ihrer Erziehung“ einräumen (ebd.: 41). Gleichzeitig sei die Förderung kognitiver Kompetenzen und schulischer Erfolg sehr wichtig, während „andere traditionale Denkweisen, die in der heutigen Gesellschaftsstruktur nicht mehr funktional erscheinen“ abgelegt würden (ebd.). Demuth u.a. betonen, dass es wichtig sei, zu verstehen, wie Erziehungsvorstellungen bei Angehörigen zugewanderter Familien zustande kommen und wie sie mit kulturellen Modellen und deren Wandel und Weiterentwicklung zusammenhängen. Dies sei unerlässlich, wolle man Integration fördern und Missverständnisse verhindern. Indem sie die Interviewergebnisse von Root (2011) mit Ergebnissen aus verschiedenen Gruppendiskussionen mit Fachkräften von Gerwing (2012) kontrastieren, zeigen Demuth u.a., wie sich mangelnde Kenntnisse über kulturspezifische Erziehungsvorstellungen auswirken können. Als zentralen Punkt heben sie unterschiedliche Vorstellungen über angemessene Spracherziehung hervor. Die türkischstämmigen Mütter betonten in den Interviews über ihre Erziehungsvorstellungen die Bedeutung von Zweisprachigkeit in der Entwicklung ihrer Kinder und vermittelten ihnen zu Hause vor allem die Muttersprache. Die Fachkräfte in der Gruppendiskussion sahen es jedoch als Aufgabe der Eltern an, den Kindern bereits vor Eintritt in die Kita genügend Deutsch beizubringen (Demuth u.a. 2015: 42). Dass dies nicht geschehen sei, bewerteten die Fachkräfte als Unvermögen oder Desinteresse seitens der Eltern. Das Sprechen der Herkunftssprache in der Familie wurde nicht als bewusste Erziehungsentscheidung, die sich zudem auf den Rat von Fachleuten bezog, wahrgenommen. Auch weitere Kritikpunkte seitens der Fachkräfte, wie die geringe Beteiligung der Eltern am Kitaalltag und die vermeintlich mangelnde Einhaltung von festen Tagesabläufen in den Familien, wurden von ihnen als Defizite in der Erziehung bewertet und nicht als kulturell divergierende Vorstellungen erkannt. Demuth u.a. fordern angesichts dieser Ergebnisse, Erziehungsvorstellungen von Eltern jeweils „im Zusammenhang und in ihrer Funktionalität in einem gegebenen ökokulturellen Kontext“ zu verstehen (ebd.: 44). Auf die Frage, was gesunde kindliche Entwicklung sei, gebe es „keine universelle[n] i.S. von normative[n] Antworten, sondern kindliche Entwicklung muss immer auch im jeweiligen kulturellen Kontext verstanden werden“ (ebd.). Daher seien auch die Erwartungen einer einseitigen Anpassung an „in der Mehrheitsgesellschaft vorherrschende“ (ebd.) Erziehungsvorstellungen kritisch zu hinterfragen. Ein tieferes

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Verständnis von parentalen Ethnotheorien und ihrer Wurzeln in gesellschaftlichen und historischen Entwicklungen müsse durch weitere Untersuchungen erarbeitet werden, ebenso sei es wichtig, die Ethnotheorien des frühpädagogischen Fachpersonals zu erforschen und zu reflektieren. Den Erfahrungen im Migrationsprozess und den Entwicklungsaufgaben, die daraus für Familien entstehen, messen Leyendecker und De Houwer (2011) eine besondere Bedeutung bei. In Bezug auf die Gestaltung familialer Entwicklungsumwelten und die Prägung von Sozialisationszielen und Erziehungsvorstellungen sei zu berücksichtigen, dass zugewanderte Familien im Gegensatz zu nichtgewanderten Familien besondere Entwicklungsaufgaben bewältigen müssten. Dies sei Teil einer Reihe von Gemeinsamkeiten zugewanderter Familien, zu denen auch die Herausforderung gehöre, „die Werte ihrer Herkunftskultur und der Aufnahmegesellschaft zu reflektieren und Entscheidungen zu treffen, was sie sich für ihre Kinder wünschen“ (ebd.: 184). Weiterhin verfügten diese Familien meist nicht über eine „geeignete Vorbereitung auf die anstehenden Entwicklungsaufgaben und nur [über] eine relativ geringe Unterstützung für die Neuorientierung in Deutschland“ (ebd.: 185). Hinzu kämen Herausforderungen wie erhöhter Alltagsstress, eine vergleichsweise geringere Bildung oder die Abwertung von im Herkunftsland erworbenen Bildungs- und Berufsabschlüssen und geringere finanzielle Ressourcen. Laut Leyendecker und De Houwer ist die „Akkulturationsorientierung der Eltern“ (ebd.: 189) ein zentraler Faktor für das Erziehungsverhalten und die langfristigen Sozialisationsziele von Eltern, der zur Heterogenität der Entwicklungsbedingungen in der frühen Kindheit beiträgt. Akkulturation wird hier als der Prozess verstanden, „durch den Immigranten und ihre Nachfahren die Werte, Verhaltensweisen, Normen und Einstellungen der Aufnahmegesellschaft erwerben“ (ebd.). Als komplexer sozialer Entwicklungsprozess über Generationen hinweg sei der Akkulturationsprozess noch kaum untersucht worden, neuere Untersuchungen zeigten jedoch, dass – im Unterschied zu Assimilation, Marginalisierung und Separation – Integration die meist gewählte Akkulturationsstrategie ist, bei der die Herkunftskultur aufrechterhalten und dennoch an den Lebenszusammenhängen der Aufnahmegesellschaft partizipiert wird. In den Untersuchungen hierzu von Suarez-Orozco und Suarez-Orozco (2001) zeige sich, dass „eine sichere ethnische Identität und damit die Achtung und Wertschätzung der Herkunftskultur […] ein wichtiger Schutzfaktor [ist], den Eltern an ihre Kinder weitergeben können“ (Leyendecker/De Houwer 2011: 190). Heute sei kulturelle Pluralität kennzeichnend für die Akkulturationsprozesse vieler Zuwanderer. Eltern könnten für ihre Kinder „Akkulturation im Sinne von Akkommodation – dem funktionalen und adäquaten Umgang mit der Aufnahmegesellschaft, dem

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Beherrschen der Sprache, der Umgangsformen und anderem mehr – bei gleichzeitig hoher emotionaler Identifikation mit der Herkunftsgesellschaft anstreben“ (ebd.: 191). Im Sinne dieser kulturellen Pluralität in vielen Einwandererfamilien benennen Leyendecker und De Houwer in Anlehnung an Phinney (1996) drei Aspekte von ethnischer Identität, die zur Heterogenität bei der Sozialisation von Kindern in zugewanderten Familien beitragen: Erstens das Beibehalten oder Modifizieren kultureller Werte und Normen, zweitens das Maß der Vermittlung eines Gefühls von Stärke und Zugehörigkeit zur eigenen Ethnie und drittens die Art und Weise, wie Erfahrungen und Einstellungen, die mit dem Minoritätsstatus einhergehen, mit den Kindern besprochen und Strategien gegen Diskriminierung diskutiert werden (vgl. Leyendecker/De Houwer 2011: 191). Aus den hier dargestellten Beiträgen zur Untersuchung familialer Entwicklungsumwelten wird deutlich, dass die Vorstellung einer ‚Herkunftskultur‘ nicht ausreicht, um der migrationsgesellschaftlichen Heterogenität in der frühen Kindheit gerecht zu werden und die Unterschiedlichkeit von Sozialisationszielen und Erziehungsvorstellungen zu erfassen. Die Ansätze von Otyakmaz und Demuth u.a. gehen zwar von einer „kulturellen ‚Kanalisierung‘“ (Otyakmaz 2015: 68) kindlicher Entwicklung bzw. von „kulturellen Erziehungsvorstellungen“ (Demuth u.a. 2015: 30) aus, sie betonen jedoch, dass diese sich nicht auf einen statischen Kulturbegriff beziehen, sondern auf den jeweiligen „sozio-historischen“ bzw. „öko-kulturellen“ (ebd.) Kontext der Familien, und dass es sich bei deren Orientierungen um individuelle „Rekonstruktionen kultureller Denk- und Handlungsvorschläge“ (Otyakmaz 2015: 68) handelt. Sie finden in ihren Untersuchungen Unterschiede zwischen Erziehungsvorstellungen und Entwicklungserwartungen von Müttern mit und ohne ‚Migrationshintergrund‘, ebenso wie Differenzen zwischen zugewanderten Eltern und pädagogischen Fachkräften in der Bewertung von Erziehungshandeln. Es wird festgestellt, dass das Zustandekommen unterschiedlicher Vorstellungen in der Frühpädagogik zu wenig Beachtung findet und dass das Nachvollziehen von kulturell unterschiedlichen Orientierungen, wie es ihre Untersuchungen anstreben, unverzichtbar sei, um der verbreiteten Defizitperspektive auf das Erziehungshandeln zugewanderter Eltern entgegenzuwirken und um Missverständnisse zu verhindern. Der Beitrag von Leyendecker und De Houwer (2011) enthält zudem weitere Hinweise darauf, wie die jeweilige Konstruktion von Orientierungssystemen in zugewanderten Familien im Sinne einer „ethnischen Identität“ (ebd.: 189) aussehen könnte. Mit dem Begriff der Akkulturation wird dabei deutlich gemacht, dass Erziehungsvorstellungen auch Ergebnis einer individuellen Positionierung im Rahmen des Migrationsprozesses einer Familie sind. Diese Positionierung bezieht sich demnach auf die Beibehaltung und Modifizierung von Werten aus

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verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten, sie fußt auf der Vermittlung von Zugehörigkeit an die Kinder und wird beeinflusst durch den Umgang mit Migrationserfahrungen und ggf. Diskriminierung. Damit wird deutlich, welche zentrale Rolle die Aufnahmegesellschaft für die Gestaltung der familialen Entwicklungsumwelten gerade in zugewanderten Familien spielt, und wie wichtig daher eine migrationsbezogene Untersuchung der Bedingungen des Aufwachsens hier ist. Ein solcher Blick auf die migrationsgesellschaftlichen Bedingungen, die den Hintergrund für die familialen Entwicklungsumwelten bilden, bedeutet einen Perspektivwechsel weg von der ‚Kultur‘ zugewanderter Familien hin zur Struktur des gesellschaftlichen Rahmens. Dieser Perspektivwechsel wird in Kapitel 5 vollzogen, wo gezeigt wird, wie die Konstruktion von Orientierungssystemen, die auch das Erziehungshandeln prägen, mit der Positionierung anhand migrationsgesellschaftlicher Zugehörigkeitsordnungen zusammenhängt. Die bisher vorgestellte Auseinandersetzung mit heterogenen Entwicklungsumwelten in der Frühpädagogik verweist außerdem auf die besondere Rolle der Sprache. In Bezug auf das Zustandekommen von Sozialisationszielen und Erziehungsvorstellungen wurde sie als zentrales Mittel identifiziert, das das Bewusstsein mit den übergreifenden kulturellen Bedeutungssystemen und Wertvorstellungen verknüpft. Gleichzeitig wurde betont, dass Spracherwerb und sprachliche Sozialisation selbst anhand kulturspezifischer Praktiken gestaltet und damit vom jeweiligen kulturellen Kontext geprägt seien. Im Rahmen der Gestaltung kindlicher Entwicklungsumwelten wird der Spracherwerb als entscheidend „sowohl für die Entwicklung der sozialemotionalen Bindung an die Eltern als auch für die Entwicklung von symbolischem Wissen“ betrachtet (Leyendecker/De Houwer 2011: 204). Für die Eltern sei Sprache „ein wichtiges Instrument zur Erklärung der Welt und zur Vermittlung der jeweils wichtigen Normen und Werte“ (ebd.). Damit ist Sprache eng an die eigene Identität gebunden und hat eine große Bedeutung für das emotionale Wohlbefinden, weshalb es für zugewanderte Familien wichtig ist, dass Eltern und Kinder eine gemeinsame Sprache sprechen. Die Erkenntnis, dass Eltern ‚mit Migrationshintergrund‘ den mangelnden Einbezug von Mehrsprachigkeit häufig als Zugangshürde für die Nutzung der Angebote der U3-BBE nennen (vgl. Kapitel 2.3), unterstreicht diese Einschätzung. Im Folgenden wird die Rolle der Sprache weiter fokussiert, indem ein Forschungsüberblick zur Aneignung von Sprache und zum mehrsprachigen Aufwachsen sowie zum Umgang mit Mehrsprachigkeit in der Kita erarbeitet wird.

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Forschungsüberblick Sprachaneignung und Mehrsprachigkeit

In den Kapiteln 2 und 3 wurde deutlich, dass angesichts der Erwartungen an die Frühpädagogik in Bezug auf die Verbesserung von Bildungschancen, Integration und den Ausgleich von sozialer Benachteiligung einiger Nachholbedarf besteht, sowohl im Hinblick auf die Betreuungsqualität als auch im Hinblick auf die Einbeziehung von Familien ‚mit Migrationshintergrund‘. So müsse die Heterogenität familialer Entwicklungsumwelten stärker berücksichtigt und jenseits einer Defizitperspektive genauer untersucht werden. Erkenntnisse aus verschiedenen Studien zeigen, dass Erziehungsvorstellungen mit dem kulturellen, sozialen und migrationsbezogenen Kontext zusammenhängen, und dass fehlende Kenntnisse dieser Zusammenhänge in der Praxis zu Vorurteilen, Missverständnissen und Ausschluss führen können. Aus dem bisher erarbeiteten Forschungsüberblick wurde außerdem deutlich, dass Sprache im Rahmen familialer Entwicklungsumwelten eine zentrale Rolle spielt. Die gemeinsame Sprache von Eltern und Kindern ist die Vermittlungsinstanz bei der Weitergabe von Orientierungssystemen, die den Herkunfts- mit dem Aufnahmekontext verbinden. Des Weiteren zeigte sich, dass gerade die Frage nach der sprachlichen Erziehung der Kinder für Eltern ein wichtiges Kriterium für die Inanspruchnahme der U3-BBE sein kann. Auch Missverständnisse und Konflikte zwischen Eltern und Fachkräften können sich, wie gesehen, gerade am Thema Spracherziehung entzünden. Mehrsprachiges Aufwachsen ist damit ein besonderer Aspekt im Rahmen heterogener Entwicklungsumwelten, auf den die Notwendigkeit einer näheren Untersuchung in mehrfacher Hinsicht zutrifft. Dies ergibt sich auch aus dem Bedeutungszuwachs, den die sprachliche Bildung erfährt, und den damit verknüpften Erwartungen an den Ausbau der U3BBE. So ist die Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten ein zentraler Aspekt des Bildungsauftrags, der an die Frühpädagogik im Zuge ihres Ausbaus herangetragen wird: Dem Erwerb sprachlicher Fähigkeiten komme „eine besondere Stel-

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lung für die Teilhabe an der Gesellschaft und der Bewältigung gesellschaftlicher Anforderungen zu, was dazu führt, dass die Orientierung an den heutigen gesellschaftlichen Erfordernissen“ ein wichtiges Ziel für jegliche institutionelle Bildung darstellt (Lengyel 2017: 273). Die Bildungspolitik erkennt seit einiger Zeit den „elementaren Stellenwert“ der „Beherrschung der gesellschaftlich verbindlichen Sprache im Leben jedes Einzelnen“ mehr und mehr an und rückt die Notwendigkeit in den Fokus, „hier fördernd tätig zu werden“ (Ehlich u.a. 2008: 11). Aus den vorangegangenen Kapiteln ergibt sich bereits, dass eine solche Förderung sprachlicher Fähigkeiten im Kontext heterogener Entwicklungswelten eine Auseinandersetzung mit den Besonderheiten mehrsprachigen Aufwachsens erfordert. Daher wird in diesem Kapitel ein Forschungsüberblick über mehrsprachiges Aufwachsen erarbeitet, der grundsätzliche Erkenntnisse zur Aneignung von Sprache ebenso einbezieht wie Ergebnisse der Mehrsprachigkeitsforschung und Untersuchungen und Empfehlungen zum professionellen Handeln in Bezug auf Mehrsprachigkeit in der Kita.

4.1 SPRACHANEIGNUNG Die Erforschung der Aneignung von Sprache blickt auf eine relativ kurze Geschichte zurück und der wissenschaftliche Kenntnisstand weist eine große Heterogenität mit deutlichen Schwerpunkten und großen Lücken auf (Ehlich u.a. 2008). Erkenntnisse über die Sprachaneignung stammen aus verschiedenen Disziplinen; hier spielt die Psychologie eine zentrale Rolle, ebenso wie die Linguistik, die jedoch über längere Strecken eher im Hintergrund blieb. Auch die Pädagogik ist, vor allem bei den Etappen der Sprachaneignung, die sich in Bildungsinstitutionen vollziehen, beteiligt, außerdem die Anthropologie und die Neurologie (vgl. ebd.: 23). Die verschiedenen Forschungstraditionen schlagen sich auch in der Bezeichnung des Untersuchungsgegenstandes nieder, sodass in unterschiedlichen Publikationen von „Sprachentwicklung“, „Spracherwerb“ oder „Sprachaneignung“ die Rede ist. Ehlich (2009) führt die verschiedenen Begriffe auf unterschiedliche Konzeptualisierungen von Sprache und unterschiedliche Modellierungen für die Prozesse der Sprachaneignung zurück. Dabei hält er fest, dass sich die Begriffe „Sprachentwicklung“ und „Spracherwerb“ eher an einer quasi biologischen Sicht orientieren – Entwicklung der Sprache etwa analog zur Entwicklung des Körpers –, während „Sprachaneignung“ eher auf die aktive Rolle des Kindes und seiner Kommunikationspartner Bezug nehme. Dementsprechend wird einmal Sprache eher als zentrales menschliches Kommunikationssystem vorgestellt und Sprach-

Forschungsüberblick Sprachaneignung und Mehrsprachigkeit

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erwerb als die zentrale Entwicklungsaufgabe für Kinder, bei der sie sich das strukturelle Regelsystem der Sprache erschließen (Chilla u.a. 2010). Ein anderes Mal wird Sprache „als eine wichtige Handlungsressource für die soziale Interaktion des Kindes“ gesehen, „die sich das Kind in seinem Sprachaneignungsprozess zu eigen macht“ (Ehlich 2009: 15)1. Der Blick auf Sprache als System von Regeln offenbart die strukturellen Komponenten der Sprache wie das Lautsystem (Phonologie), die grammatikalischen Regeln zur Wortbildung (Morphologie), zur Bildung von Wortformen (Flexionsmorphologie) und zum Aufbau von Äußerungen, Sätzen oder Texten (Syntax) und die sprachlichen Komponenten wie Semantik und Pragmatik (Chilla u.a. 2010). Die Beobachtung, dass sich Spracherwerb beim Kind spontan vollzieht und im Normalfall gelingt, führt zu der Annahme, dass der Mensch mit spezifischen Erwerbsmechanismen ausgestattet ist, um die Entwicklungsaufgabe des Spracherwerbs zu bewältigen. Über die Frage, welche Rolle genetische Faktoren einerseits und Umwelteinflüsse andererseits beim Spracherwerb spielen, besteht jedoch traditionell Uneinigkeit (Kauschke 2007). Hier stehen sich zunächst nativistische Ansätze, die mit ihrer „inside-out-Annahme“ von einer biologisch vorprogrammierten Entfaltung sprachlicher Fähigkeiten ausgehen (z.B. Chomsky/Lasnik 1993), und interaktionistische Ansätze gegenüber. Letztere vertreten eine „outside-in-Annahme“, bei der die sprachlichen und sonstigen Verhaltensweisen der Gesprächspartner des Kindes, also die Bedeutung des Inputs (Tomasello 2000) im Vordergrund stehen. Im interaktionistischen Paradigma wurde u.a. untersucht, wie Bezugspersonen ein kommunikatives Unterstützungssystem aufbauen, das eine Rahmenbedingung des Spracherwerbs darstellt (vgl. z.B. Bruner 1987). Mittlerweile wurde die Dichotomie zwischen „inside-out-“ und „outside-in-Annahmen“ jedoch weitgehend überwunden und es gilt als Konsens, dass „das Angebot und die Anregung aus der Umgebung wesentlich sind, die Komplexität sprachlicher Systeme aber auch deshalb erwerbbar ist, weil eine biologisch vorgegebene Ausstattung den Erwerbsprozess anstößt, lenkt und erleichtert“ (Kauschke 2007: 13). Im Zentrum steht nunmehr die Frage nach dem Ausmaß und der Art der Umweltfaktoren und der biologischen Voraussetzungen. Hier haben verschiedene Studien ergeben, dass die „beiden bestimmenden Parameter […] Wechselwirkungen unterworfen [sind], denn Umwelteinflüsse

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Da in der vorliegenden Untersuchung das mehrsprachige Aufwachsen im Vordergrund steht, bei der die Sprachaneignung im Sinne von Interaktionen im Elternhaus bzw. in frühpädagogischen Einrichtungen eine zentrale Rolle spielen, wird der Begriff Sprachaneignung favorisiert und dort verwendet, wo nicht explizit durch die Literatur die Begriffe Spracherwerb oder Sprachentwicklung verwendet werden.

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haben unterschiedliche Effekte, je nachdem, wie die genetische Grundlage beschaffen ist“ (ebd.). Die Forschung zu sprachaneignungsunterstützenden Maßnahmen, speziell in den ersten drei Lebensjahren, zeigt, dass das Interaktionsverhalten von Bezugspersonen die Sprachaneignung unterstützen kann. Bruner (1987) weist als erster die Bedeutung sog. Formate nach, die von Bezugspersonen kommunikativ errichtet werden und in denen Kinder, noch bevor sie selbst aktiv sprechen, wiederkehrend bestimmte Äußerungen in einem ritualisierten Kontext hören, in dem die Struktur der Handlung oder des Gegenstands markiert wird. Solche Formate bieten Kindern einen geeigneten Rahmen, um ihre Aufmerksamkeit auf die Handlung oder ein Objekt zu lenken. Ruberg und Rothweiler (2012: 63ff) beschreiben in diesem Zusammenhang die kindgerichtete Sprache, die in Abhängigkeit vom sprachlichen Entwicklungsstand des Kindes variiert: Im ersten Lebensjahr wird die Ammensprache (Babytalk) angewandt, das Scaffolding wird im Alter von etwa zwölf Monaten eingesetzt und etwa ab dem Alter von 24 Monaten die lehrende Sprache (Motherese) (vgl. dazu auch Grimm 2000; Weinert 2000; Ritterfeld 2000). Dabei muss betont werden, dass die kindgerichtete Sprache ein kulturell und sozial geprägtes Phänomen ist, die nicht in allen Kulturen und Schichten gleichsam angewandt wird und nicht überall die gleichen Merkmale aufweist (vgl. Heath 1986; Lin-Huber 1998; Lengyel 2009). Dennoch können eine Reihe von Untersuchungen förderliche Effekte der Ammensprache und des Scaffoldings auf den Spracherwerb, insbesondere den Wortschatzumfang, nachweisen (vgl. zusammenfassend z.B. Szagun 2008). Die ersten Schritte in der Sprachaneignung Der kindliche Spracherwerb beginnt mit dem ersten Wahrnehmen von Lauten, das etwa zum Ende des ersten Lebensjahres in die Produktion der ersten Wörter mündet. Im Laufe des ersten Lebensjahres hat das Kind bereits angefangen, den sprachlichen Input, den es erhält, zu analysieren und erste Wörter aus dem Lautstrom isoliert. Prosodische Eigenschaften der Sprache, im Deutschen z.B. Muster von betonten und unbetonten Silben, helfen dem Kind in dieser Phase, Wörter zu identifizieren2. Schon in dieser Zeit beginnt der Aufbau des mentalen Lexikons.

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In der deutschsprachigen Literatur wird überwiegend nicht differenziert, ob es sich um die Aneignung der deutschen oder einer anderen Sprache handelt. Die meisten Erkenntnisse aus der Sprachaneignungsforschung beziehen sich ursprünglich auf die englische Sprache, die entscheidende Ähnlichkeiten mit der deutschen Sprache aufweist, z.B. die Flexion von Verben oder die Nicht-Auslassung von Subjekten. Beispiele sind daher vom Englischen ins Deutsche leicht übertragbar, während einzelne

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Die ersten produzierten Wörter ab dem ersten Lebensjahr haben noch eine stark vereinfachte Aussprache, die an die lautlichen Fähigkeiten aus der Lallphase anschließt. Eine wichtige Grundlage für den Ausbau des Wortschatzes ist eine durch das Merkmal der gemeinsam geteilten Aufmerksamkeit („joint attention“) gekennzeichnete Interaktion zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen (Ruberg/Rothweiler 2012: 28). In einer solchen dyadischen Kommunikation der geteilten Aufmerksamkeit, die durch Zeigegesten und eine an das Kind gerichteten Sprache unterstützt wird, kann das Kind Worte auf einen Gegenstand oder eine Situation beziehen und so neue Wörter in seinen Wortschatz aufnehmen. Etwa im Alter von 18 Monaten, wenn der aktive Wortschatz auf ca. 50 Wörter und der rezeptive auf ca. 250 Wörter angewachsen sind, entdeckt das Kind das syntaktische Prinzip und beginnt, Zwei- und Dreiwortäußerungen3 zu bilden. Zu dieser Zeit beginnt auch der „Wortschatzspurt“ (Chilla u.a. 2010: 15) und das Kind nimmt täglich mehrere neue Wörter in seinen Wortschatz auf, bis der produktive Wortschatz um den zweiten Geburtstag herum ca. 200-300 Wörter umfasst. Der Wortschatz wird bis ins Schulalter hinein weiter ausgebaut und die Organisation und Umorganisation des mentalen Lexikons gelten als lebenslang stattfindende Prozesse. Aber bereits zu Beginn des dritten Lebensjahres kann das Kind aufgrund seines bis dahin erworbenen Wortschatzes erste Flexive identifizieren und Wortarten unterscheiden. Parallel zum Aufbau des Wortschatzes wird das phonologische Regelsystem erworben. Bis ca. zur Mitte des vierten Lebensjahres sind Abweichungen der kindlichen Lautproduktion vom System der Erwachsenen noch die Regel. Mit komplexen Konsonantenverbindungen, z.B. Lauten wie /ch/ und /sch/, wie sie im Deutschen vorkommen, haben viele Kinder noch bis zum Ende des fünften Lebensjahrs Schwierigkeiten (Ruberg/Rothweiler 2012: 29). Der Aufbau des grammatischen Systems im deutschen Spracherwerb wird in Phasen (Clahsen 1988) bzw. anhand von Meilensteinen (Tracy 1991) beschrieben. Phase I bzw. Meilenstein I ist durch Einwortäußerungen gekennzeichnet. Mit der Entdeckung des syntaktischen Prinzips und dem Beginn der Zwei- und

Etappen in anderen Sprachen etwas variieren können. In deutschen Veröffentlichungen gelten Beispiele daher häufig nur für die deutsche Sprache und einige weitere Sprachen, ohne dass darauf hingewiesen wird, dass sie nicht für alle Sprachen gelten können, und ohne dass weitere Beispiele für andere Sprachen angegeben würden. Aus diesem Grund wird an den entsprechenden Stellen darauf hingewiesen, dass Beispiele für den Erstspracherwerb in anderen als der deutschen Sprache abweichen können. 3

In Sprachen mit Subjektauslassung können solche sog. Zwei- und Dreiwortäußerungen aus einem einzigen Wort bestehen.

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Dreiwortäußerungen tritt das Kind in die zweite Phase ein bzw. erreicht Meilenstein II (Chilla u.a. 2010: 16). Hier werden Sätze mit zwei oder drei Wörtern gebildet, bei denen Artikel, Präpositionen und Hilfswerben häufig noch fehlen und die Verben häufig am Satzende stehen und nicht korrekt flektiert sind. Der Erwerb der Verbflexion und die korrekte Verbstellung liegen in der dritten Phase bzw. werden mit Meilenstein III erreicht (ebd.), wobei auch die Auslassungen von Satzelementen weniger werden. Parallel dazu entwickeln sich die Wortformen im Hinblick auf die Beherrschung morphologischer Merkmale wie z.B. Pluralmarkierungen, Übereinstimmung von Artikel, Adjektiv und Nomen hinsichtlich des Genus, Numerus und Kasus. Die Phase IV bezeichnet den Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz (ebd.). Um den Abschluss des dritten Lebensjahres herum erreichen Kinder die fünfte Phase bzw. den vierten Meilenstein, in der sie den Gebrauch von Nebensätzen lernen und das Kasussystem ausbauen, und haben damit die „letzte Entwicklungsstufe im Erwerb der zentralen Eigenschaften von deutschen Sätzen“ (Ruberg/Rothweiler 2012: 31) erreicht. Nach dem dritten Lebensjahr entwickelt sich die Sprache weiter, so vervollständigt sich das Lautinventar, der produktive und rezeptive Wortschatz werden weiter ausgebaut, ebenso das Kasussystem und die Verwendung von Nebensätzen. Das Verständnis von W-Fragen entwickelt sich und auch sprachliche Komponenten der Pragmatik werden ausgebaut, so z.B. die Wiedergabe kurzer Geschichten erlernt oder die Wahl angemessener Anredeformen (ebd.: 32). Die Variation im Erwerbstempo der Kinder ist sehr groß, sodass Unterschiede von bis zu zwölf Monaten auftreten können (Chilla u.a. 2010: 44). Im Allgemeinen ist die vierte Phase jedoch mit Abschluss des vierten Lebensjahres erreicht (Ruberg/Rothweiler 2012). Ehlich u.a. (2008) weisen in diesem Zusammenhang auf die Problematik von Normalitätsvorstellungen hin, die zwar für die Bewertung von Sprachaneignung unerlässlich seien. Eine „Fixierung bestimmter Etappen der Sprachaneignung auf ganz enge Zeitabschnitte“ sei jedoch problematisch (ebd.: 10), weshalb ein aussagekräftigeres Instrumentarium zur Erfassung der Sprachaneignung erarbeitet werden müsse. Die Basisqualifikationen kindlicher Sprachaneignung Ehlich (2009) beschreibt die kindliche Sprachaneignung als „Bündel von Prozessen“ (ebd.: 17), in denen sieben sprachliche Basisqualifikationen angeeignet werden (ebd.: 19). Mit seinem Ansatz geht er über die Vorstellung eines zu erwerbenden strukturellen Regelsystems der Sprache hinaus und bettet sie in ein funktional-pragmatisches Grundverständnis ein. Das zentrale Antriebsmoment für den lebenslangen Prozess der Aneignung von Sprache liefern in diesem Verständnis die jeweiligen sprachlichen Handlungsanforderungen, was sowohl in

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individueller wie auch in gesellschaftlicher Hinsicht gilt: „Das Kind eignet sich Sprache in einem solchen Umfang an, dass es alle erforderlichen Mittel hat, um erfolgreich mit seiner Umgebung zu kommunizieren. Aus der Sicht des Kindes ist das Ziel der Sprachaneignung dann erreicht, wenn ihm die dafür erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen“ (Ehlich u.a. 2008: 16). Da die gesellschaftlichen kommunikativen Handlungsanforderungen über diese sprachlichen Mittel hinausgehen, stehe neben den individuellen Zielen des Kindes das gesellschaftliche Ziel einer „umfassende[n], kommunikativ hinreichende[n] Beherrschung der gesellschaftlich relevanten Sprache“ (ebd.: 17). Für die Aneignung dieser komplexeren sprachlichen Strukturen seien – sozusagen im Vorgriff auf eine spätere Praxis – u.a. vorschulische und schulische Bildungseinrichtungen zuständig. Das komplexe Geschehen der Sprachaneignung umfasst laut Ehlich weit mehr als die meistens als zentral wahrgenommen Bereiche der Phonologie, der Grammatik und der Lexik: „Kinder müssen nämlich nicht nur die Formelemente einer Sprache lernen, sondern auch das, was man mit diesen Elementen tun kann. Sie müssen also Lernen, wie man durch sprachliches Handeln ein Ziel erreicht“ (ebd.: 18, Hervorh. im Original). Um die Aneignung von Sprache als einer umfassenden Ressource für Kommunikation auf der Grundlage eines komplexeren Sprachbegriffs nachvollziehbar zu machen, stellt Ehlich (2009) den „Fächer der sieben Basisqualifikationen“ vor: Die phonische Qualifikation, die pragmatische Qualifikation I, die semantische Qualifikation, die morphologisch-syntaktische Qualifikation, die diskursive Qualifikation, die pragmatische Qualifikation II und die literale Qualifikation. Während die phonische, die semantische, die morphologisch-syntaktische und die literale Qualifikation eher den traditionellen Forschungslinien der Spracherwerbsforschung entsprechen (vgl. Chilla u.a. 2010) und einen mittleren bis hohen Forschungsstand aufweisen, zeigen sich laut Ehlich (2009) größere Forschungslücken im Bereich der beiden pragmatischen und der diskursiven Qualifikation. Ehlich u.a. (2008) betonen, dass die Unterscheidung der Basisqualifikationen eine analytische Unterscheidung ist. Die Basisqualifikationen würden als kommunikative Mittel für die Erreichung kommunikativer Ziele angeeignet und interagierten beim konkreten sprachlichen Handeln. Dabei brächten Kompetenzzuwächse in einzelnen Teilbereichen des sprachlichen Handelns Kompetenzzuwächse in anderen Teilbereichen mit sich (ebd.: 21). Bereits in einem jungen Alter eigneten sich Kinder die phonische, die morphologische und eine grundlegende syntaktische Qualifikation an. Komplexere syntaktische Strukturen würden etwas später angeeignet und ihre Aneignung sei wie die Aneignung literaler Qualifikationen durch Bildungsinstitutionen, vor allem die Schule, stark curricular gesteuert. Auch im Rahmen der diskursiven, pragmatischen und semantischen Qualifikationen spielten Bildungsin-

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stitutionen eine prägende Rolle, da sich die Kinder hier „institutionsspezifische sprachliche Handlungsmuster“ (ebd.: 21) aneigneten, Formen der sprachlichen Interaktion in der Institution sowie institutionsspezifische Bedeutungen, fachspezifisches Wissen und Fachbegriffe lernten. Das so ausdifferenzierte Geschehen der kindlichen Sprachaneignung ist, wie bereits anhand der Basisqualifikationen deutlich wird, mit anderen Entwicklungsbereichen eng verbunden. Vor allem die kognitive und die soziale Entwicklung hängen eng mit der Aneignung von Sprache zusammen. List (2010) hebt in Bezug auf die Wechselwirkungen der Sprachaneignung mit kognitiven und sozialen Entwicklungsschritten vor allem drei Aspekte hervor: Den Zusammenhang mit der Gedächtnistätigkeit (1), den Zusammenhang mit der Ausbildung von Kooperativität und Sozialkompetenz (2) sowie den Zusammenhang mit Handlungsplanung und Handlungskontrolle (3). Demnach sind sprachliche Handlungen erstens für die Ausbildung der verschiedenen Gedächtnistypen, für die Entstehung des Bewusstseins und für die Ausbildung von Selbstkonzepten zentral. In Form von Gesprächen über Erlebtes, der Betrachtung von Büchern oder auch von Phantasiespielen werden das Weltwissen und der Erfahrungsschatz sprachlich verarbeitet und zu vielfältigen Wissensstrukturen ausgebaut. Zweitens sind die Ausbildung sozialer Kognitionen, das Begreifen, wie sich Handeln von Wissen oder Fühlen ableitet, sowie die Reflexion des eigenen Ichs und des eigenen Handelns eng mit der Aneignung von Sprache verbunden. Die Entstehung der „theory of mind“, „die Herausbildung der Person insgesamt mit ihrer Handlungsfähigkeit in sozialen, kulturell geprägten Kontexten [ist] intensiv mit dem Spracherwerb ab etwa vier Jahren verbunden und markiert ein echtes Arbeitsfeld für Sprachanregung und Sprachförderung im Kindergarten“ (ebd.: 15). Der sprechende Erkenntnisgewinn über die eigene Perspektive und die Wünsche, Bedürfnisse und Erfahrungen anderer Menschen zeigt sich z.B. in der Entstehung von Nebensatzkonstruktionen, in denen nicht sichtbare Begründungen für sichtbare Handlungen formuliert werden können: „Sie weint, der Peter hat das Buch genommen“ (ebd.). Schließlich stehen drittens Antizipationsfähigkeit, Handlungsplanung und Handlungskontrolle eng mit der Entwicklung der inneren Sprache im Zusammenhang. Das Selbstständigwerden beinhaltet die Fähigkeit, Handlungen in Gedanken vorzubereiten, mit sich selbst zu kommunizieren sowie Handlungen sprachlich zu kommentieren und Absichten zu formulieren (ebd.). Bereits in diesen drei Aspekten wird deutlich, wie Sprache im Aneignungsprozess „über die schon eingespielten kommunikativen Dienste hinaus neue, sozialisatorische wie individualisierende Funktionen“ übernimmt (ebd.: 16).

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Die Erforschung der Sprachaneignung hat sich sehr lange fast ausschließlich auf einsprachig aufwachsende Kinder bezogen (Ehlich u.a. 2008: 9). Allerdings sind auch bei ihnen schon verschiedene Sprachvarietäten, wie Regionalsprachen und unterschiedliche soziale Sprachformen für den Spracherwerb relevant (vgl. ebd.). Durch die zunehmende (migrationsbedingte) Mehrsprachigkeit der Lebenswelt begegnen viele Kinder schon vor dem Eintritt in die Kita verschiedenen Sprachen und angesichts der Tatsache, dass die Bevölkerung in Deutschland sprachlich als „superdivers“ (Vertovec 2007) beschrieben wird (vgl. Lengyel 2017), muss Spracherwerbs- bzw. Sprachaneignungsforschung auch erklären, wie sich die Aneignung mehrerer Sprachen vollzieht. Die bisher zitierten Arbeiten von Chilla u.a. (2010), Ruberg und Rothweiler (2012) sowie Ehlich (2009) und Ehlich u.a. (2008) beschäftigen sich auf der Grundlage der allgemeinen Erkenntnisse der Spracherwerbs- bzw. Sprachaneignungsforschung mit dieser Frage. Die Ausdifferenzierung der Basisqualifikationen von Ehlich u.a. bietet hier die Möglichkeit, die Aneignung der verschiedenen Qualifikationen in unterschiedlichen Sprachen mit ihren Dopplungen und gegenseitigen Ergänzungen genauer zu betrachten.

4.2 MEHRSPRACHIGES AUFWACHSEN Die angeborene Sprachverarbeitungskapazität, die in den ersten drei Lebensjahren uneingeschränkt zur Verfügung steht, ermöglicht es Kindern grundsätzlich, mehr als eine Sprache in altersgemäßem Umfang vollständig zu erwerben (Reich 2010). Die Sprachaneignung wird demnach im Allgemeinen durch mehrsprachiges Aufwachsen nicht behindert. Kognitionspsychologische Studien aus dem angelsächsischen Raum legen im Gegenteil nahe, dass Mehrsprachige im Vergleich zu Einsprachigen u.U. über höhere metasprachliche Fähigkeiten verfügen, die vor allem auf ihrer früheren und größeren Sprachbewusstheit beruhen (vgl. Bialystok 2009; Scharff Rethfeldt 2013). Die Tatsache, dass Mehrsprachige „sowohl für ein Konzept mehrere Wörter haben, als auch gegebenenfalls vorhandene sprachspezifische Wortschatzlücken mithilfe des Wortschatzes der anderen Sprache füllen“ können, führt demnach dazu, dass sie sich „zu einem früheren Zeitpunkt in ihrer Entwicklung vom sprachlichen Inhalt lösen […] und Sprache selbst zum Gegenstand des Nachdenkens […] und der Manipulation“ machen können (Scharff Rethfeldt 2013: 53). Ein Grund für den „zeitlichen Vorsprung in der Entwicklung des metalinguistischen Bewusstseins“ (ebd.: 54) bei Mehrsprachigen könnte also in den zeitlich früher liegenden Anlässen und Gelegenheiten zum Nachdenken über Sprache

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liegen. Bialystok (2009) stellte in diesem Zusammenhang fest, dass die Vorteile Mehrsprachiger in Bezug auf metalinguistische Fähigkeiten, die sich neben einer früheren Entwicklung der Sprachbewusstheit in einer früheren Bereitschaft zum Schriftspracherwerb sowie in einem leichteren Erwerb weiterer Sprachen zeigten, auf die „konstant erforderliche Kontrolle linguistischer Prozesse“ (Scharff Rethfeldt 2013: 54) zurückzuführen sind. Diese Kontrolle linguistischer Prozesse sei im Rahmen von Mehrsprachigkeit stets bei der „Auswahl der adäquaten sowie der Unterdrückung der inadäquaten Sprache erforderlich“ (ebd.). So schnitten in den Untersuchungen von Bialystok (2009) bilinguale Kinder besser als Einsprachige in solchen Aufgaben ab, die ein hohes Maß an Aufmerksamkeitskontrolle voraussetzten (ebd.: 56ff). Die Frage, ob sich Mehrsprachigkeit positiv im Sinne früherer und größerer metasprachlicher Fähigkeiten auswirkt, hängt jedoch auch maßgeblich von „sozialen Einflussgrößen, wie z.B. den soziokulturellen Bedingungen inklusive des sozialökonomischen Status“ ab (Scharff Rethfeldt 2013: 54). Zentrale linguistische Befunde zeigen, dass der frühkindliche Erwerb zweier Sprachen in sehr unterschiedlichen Erwerbssituationen erfolgen und entsprechend unterschiedlich verlaufen kann (vgl. Tracy 2007; Chilla u.a. 2010). Vor allem aufgrund von Ungleichmäßigkeiten im Input und durch die Unterschiede der sprachlichen Kontexte verfügen Kinder meistens über eine stärkere (‚dominante‘) und eine schwächere (‚nicht-dominante‘) Sprache. Abhängig von der Spracherwerbssituation ist das Dominanzverhältnis jedoch veränderlich. Insbesondere in Bezug auf die Aneignung von grammatischen Erscheinungen vollzieht sich der Spracherwerb eines bilingualen Kindes bei gleichmäßigem Input in beiden Sprachen in der gleichen Weise (vgl. Meisel 2004). Auch bei ungleichmäßigem Input bzw. sukzessivem Erwerb gibt es Gemeinsamkeiten der Erwerbsverläufe mit dem monolingualen Erwerb, es bestehen aber z.T. gravierende Unterschiede, die vor allem das Erwerbstempo, die grammatische Sicherheit und den Wortschatzumfang betreffen. Generell sind diese Erwerbsvorgänge nur in Umrissen bekannt (vgl. Reich 2010: 29f). Zu unterscheiden sind bei Kindern der simultane Erwerb zweier Sprachen oder doppelter Erstspracherwerb und der sukzessive Erwerb zweier Sprachen, der auch kindlicher Zweitspracherwerb genannt wird. Der Zweitspracherwerb bei Erwachsenen unterscheidet sich, insbesondere in Bezug auf die Aneignung des grammatischen Regelsystems, deutlich vom Erstspracherwerb, während der kindliche Zweitspracherwerb eher graduelle Unterschiede zum Erstspracherwerb aufweist und sich mit dem Zeitpunkt des Erwerbsbeginns dem Zweitspracherwerb Erwachsener annähern kann (Chilla u.a. 2010: 23).

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Simultaner Erwerb zweier Sprachen Als simultaner Erwerb zweier Sprachen wird es bezeichnet, wenn sich Kinder von Beginn an oder bereits während der ersten beiden Lebensjahre zwei Sprachen parallel aneignen. Das kann in Form einer „one person-one language“Konstellation geschehen oder dadurch, dass innerhalb der Familie eine andere Sprache gesprochen wird als in der Umgebung, mit der das Kind dennoch regelmäßig Kontakt hat. Der simultane Erwerb zweier Sprachen verläuft wie der Erstspracherwerb in einer dieser Sprachen mit dem möglichen Unterschied, dass die ersten Wörter etwas später produziert werden. Da auf diesem Wege eine vollständige Sprachkompetenz in beiden Sprachen erworben wird, wird der simultane Erwerb zweier Sprachen auch doppelter Erstspracherwerb genannt (vgl. Chilla u.a. 2010: 24). Beide Sprachsysteme werden früh voneinander getrennt und entwickeln sich unabhängig voneinander innerhalb der jeweiligen einsprachigen Norm. Obwohl es den Kindern keine Schwierigkeiten bereitet, ihre beiden Sprachen auseinander zu halten, kommen Sprachmischungen vor, die kommunikativ motiviert sind, z.B. um lexikalische Lücken zu füllen (ebd.: 59). Ursachen für Probleme beim Spracherwerb sind, bei Ein- wie bei Zweisprachigen, entweder in einer grundsätzlichen Spracherwerbsproblematik zu suchen oder, häufiger, im sprachlichen und sozialen Umfeld, nicht aber im simultanen Erwerb zweier Sprachen an sich. Kindlicher Zweitspracherwerb Mit kindlichem Zweitspracherwerb ist der sukzessive Erwerb einer zweiten Sprache gemeint, mit dem das Kind nach dem zweiten Lebensjahr beginnt. Obwohl diese Erwerbssituation typisch ist für sehr viele mehrsprachige Kinder und das, aufgrund der umfangreichen Arbeitsmigration in den 60er bis 70er Jahren, schon seit einigen Jahrzehnten, wurde die Erforschung des kindlichen Zweitspracherwerbs lange Zeit vernachlässigt (vgl. Chilla u.a. 2010). Bei Kindern, die zu ihrer Erstsprache eine zweite Sprache lernen, wie z.B. das Deutsche, wenn sie in die Kita kommen, weist der Erwerb dieser Zweitsprache einige Besonderheiten auf im Vergleich zum (doppelten) Erstspracherwerb, die allerdings nicht als Schwierigkeiten oder Rückstände zu deuten sind (vgl. Ruberg/Rothweiler 2012). Da die Kinder aus ihrem Erstspracherwerb schon wissen, was Wörter sind und welche Funktion sie haben, sind sie auch in der Zweitsprache häufig kompetente Wortlerner und bauen ihren Wortschatz in der neuen Sprache rasch aus (Chilla u.a. 2010: 40). Häufig entspricht ihr Wortschatz in der Erstsprache im Kindergarten- und Vorschulalter monolingualen Normen, während er in der Zweitsprache noch dahinter zurückliegt. Im Schulalter kommen sie bereits an monolinguale Werte in der Zweitsprache heran, während die Wortschatzleistungen in der

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Erstsprache dann häufig unter einsprachige Normen fallen, wenn die Erstsprache in der Schule nicht Unterrichtssprache ist (vgl. ebd.: 39). Der Aufbau des grammatischen Systems weist bei Zweitsprachlernerinnen und -lernern häufig lexikalische ‚Fehler‘ auf, die zeigen, dass der lexikalische und der grammatische Erwerb eng miteinander verzahnt sind. So wird z.B. für die 3. Person Singular die korrekte Flexion „-t“ verwendet, dies allerdings auch, wenn das benutzte Verb irregulär ist, wie z.B. „essen“, und es nicht „esst“, sondern „isst“ heißen müsste. Daraus wird deutlich, dass die Subjekt-Verb-Kongruenz bereits erworben wurde, nicht aber die lexikalische Kenntnis von irregulären Verben (vgl. ebd.: 41). Am Aufbau der Satzstruktur zeigt sich, dass der kindliche Zweitspracherwerb dem Erwerb der Erstsprache stärker ähnelt als dem erwachsenen Zweitspracherwerb. Kinder, die Deutsch als Zweitsprache lernen, produzieren – wie die Erstsprachlernerinnen und -lerner – sehr bald Sätze mit korrekter Verbzweistellung und Sätze mit Verbendstellung („Ich gehe nach Hause“; „Ich muss nach Hause gehen“), während nur sehr selten nicht-finite Verben in der vorderen Verbzweitposition stehen („Ich gehen nach Hause“), wie bei erwachsenen Zweitsprachlernerinnen und -lernern (vgl. ebd.: 44). Aus entwicklungspsychologischer Sicht werden unterschiedliche Arten des kindlichen Zweitspracherwerbs u.a. anhand ihrer Beteiligung von implizitem und explizitem Lernen identifiziert (vgl. List 2007). Demnach lernen Kinder bis zu einem Alter von drei bis vier Jahren anders als ältere Kinder oder Erwachsene und eignen sich die grammatischen Grundstrukturen der sie umgebenden Sprachen ganz unbewusst an (vgl. List 2007; Lengyel 2009). Dieses implizite Lernen wird im Übergang zum Vorschulalter durch das explizite Lernen ergänzt. Explizites Lernen bedeutet die Fähigkeit, „mit Vorsatz Informationen zu vorab imaginierten Zielen aufzusuchen und Aufmerksamkeit dann zu mobilisieren, wenn sich dem gewohnten Handeln Barrieren entgegenstellen“ (List 2007: 47). Somit ist am expliziten Lernen das Bewusstsein beteiligt, dass sich gerade mittels der Sprache entfaltet (vgl. Lengyel 2009: 40). Im Anschluss an die verschiedenen Arten des Lernens lassen sich auch in Bezug auf die Spracherwerbsstrategien des Kindes Unterschiede erkennen. Die Spracherwerbsforschung konzentrierte sich zunächst auf die „referentielle“ Spracherwerbsstrategie, „mit der Kinder ihre Neugier auf immer mehr Benennungen für Objekte in ihrer Umgebung bekunden, nachdem sie gezielt auf die Assoziationen zwischen Wörtern und Dingen aufmerksam gemacht werden“ (List 2007: 15). Aus dieser Erwerbsstrategie, die, zumindest was das Handeln der lernbegleitenden Erwachsenen angeht, bereits auf das explizite Lernen vorgreift, „resultieren folgerichtig kindliche Sprachproduktionen mit erkennbaren Wörtern, oder Fragmenten hiervon, die verständlich sind […]. Äußerungen sol-

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cher Kinder bieten sich für eine Dokumentation leichter an als die von Kindern, die sich zwar flüssig und melodisch, aber weniger leicht verständlich, vor allem weniger in Form von distinkten Wörtern, äußern“ (ebd.). Eine referentielle Spracherwerbsstrategie wurde vor allem bei Kindern untersucht, deren Spracherwerb in bildungsbürgerlichen bzw. wissenschaftlichen Kontexten durch die Eltern explizit und mit besonderer Sorgfalt begleitet und beobachtet wurde. Schon für zweitgeborene Kinder bestehe allerdings „ein großer Teil ihrer Spracherfahrung aus anderen Diskursen: den Gesprächen, die mit den älteren Geschwistern geführt werden, wo Sprache eher als Mittel der alltäglichen Interaktion und sozialen Regulierung (Fragen, Verbote, Lob, Zurechtweisung etc.) eingesetzt wird“ (ebd.). Hier liegt nicht die volle Aufmerksamkeit auf den Fortschritten des Spracherwerbs und u.a. deshalb wurde die von der „referentiellen“ zu unterscheidende, „holistisch“ (Peters 1977) genannte Spracherwerbsstrategie längere Zeit weniger beachtet: „Diese Strategie scheint eher in Erwerbssituationen nahezuliegen, in denen Kinder die Sprache nicht so sehr als gezielt auf Objekte gerichtet, sondern von vornherein als lebenspraktisch in interaktive Funktionen eingebettet erfahren“ (List 2007: 15), die also eher dem impliziten Lernen entspricht. Folgt man der Vorstellung von unterschiedlichen Erwerbsstrategien, die durch unterschiedlichen sprachlichen Input hervorgerufen werden, findet man also „im zweiten und dritten Lebensjahr auf der einen Seite [Erwerbsstrategien, die] überwiegend zu einem reichen Lexikon mit erst allmählich verbindender Morphologie führen […] und auf der anderen Seite [Erwerbsstrategien, die] überwiegend zu sprachlicher Expressivität von melodischer Gestalt mit manchen schon ‚korrekt‘ wirkenden morphologischen Abwandlungen [führen], die insgesamt jedoch weniger leicht zu verstehen ist“ (ebd.). List betont jedoch, dass „zweifellos für den kindlichen Spracherwerb beide Strategien, die einander ergänzen, nötig [sind]: die (perzeptiv und reproduzierend) holistische ebenso wie die zergliedernde und grammatikalisierend konstruktive“ (ebd.: 16). Die spracherfahrungsbasierte Forschung habe inzwischen belegt, dass kleine Kinder in diesem Sinne „das ‚Ganze‘ vor den ‚Teilen‘“ (ebd.: 17) berücksichtigen. Das gelte gewiss auch für „die stärker ‚referentiell‘ orientierten Kinder, bei denen erste Äußerungen aber von der […] Spracherwerbsforschung eher als ‚vorsprachlich‘ rubriziert worden sind und daher nicht die gleiche Aufmerksamkeit erhalten haben wie diejenigen Produktionen, die sich eindeutiger als ‚Wörter‘ oder ‚Anzahl Wörter pro Äußerung‘ quantitativ erfassen lassen“ (ebd.). Die Fähigkeit, anhand internalisierter grammatischer Regeln neue Aussagen zu konstruieren und zu verstehen, und die Fähigkeit, durch formelhaften Sprachgebrauch eine kompetente Mitgliedschaft in einer Sprechergemeinschaft einzunehmen, seien also

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nicht als entweder oder, sondern als zwei Komponenten der kommunikativen Kompetenz zu verstehen. Die Unterscheidung von implizitem und explizitem Lernen bei der Aneignung von Sprache unterstreicht den jeweils unterschiedlichen Charakter der Spracherwerbssituation. Wird eine zweite Sprache bereits in den ersten Lebensjahren in Form von implizitem Lernen angeeignet, ist der Prozess ein anderer, als wenn das Lernen erst später und weitgehend in expliziter Form einsetzt. Genauso können sich Spracherwerbsstrategien je nach Spracherwerbssituation unterscheiden: Der referentielle Stil wird eher von Kindern angenommen, die von ihren engen Bezugspersonen gezielt auf „Assoziationen zwischen Wörtern und Dingen aufmerksam gemacht werden“ (List 2007: 15). Der holistische Stil hingegen „scheint dagegen von Kindern bevorzugt zu werden, die Sprache nicht als gezielt an sie gerichtet, sondern in Alltagsroutinen und in interaktive Formen eingebettet erfahren“ (Lengyel 2009: 42). Beide Spracherwerbsstrategien können sich gegenseitig ergänzen und in verschiedenen Situationen zur Geltung kommen. Aus diesen Erkenntnissen lassen sich wichtige Hinweise auf die erforderlichen Kommunikationspraktiken im Umgang mit mehrsprachig aufwachsenden Kindern aus unterschiedlichen Erwerbssituationen ableiten. Ein Beispiel für die Nutzung solcher Erkenntnisse über unterschiedliche Spracherwerbsstrategien ist die in Kapitel 3.3 angesprochene Fortbildung von Kitafachkräften, die auf der Konversationsstil-Untersuchung von Keller u.a. aufbaute (vgl. Niedersächsisches Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung 2010). Übergang zum Zweitspracherwerb Erwachsener Bei Kindern, die erst zu einem späteren Zeitpunkt, z.B. mit Eintritt in die Grundschule, mit dem Erwerb des Deutschen als Zweitsprache beginnen, ist zu beobachten, dass beim Erwerb der Satzstruktur mehr Formen auftreten, die aus dem Zweitspracherwerb Erwachsener bekannt sind, wie z.B. die Verwendung eines nicht-finiten Verbes in der Verbzweitposition. Ein zentraler Faktor für den kindlichen Zweitspracherwerb ist daher der Zeitpunkt des Erwerbsbeginns („Age of Onset“). Von ihm hängt ab, ob der kindliche Zweitspracherwerb „eher dem Erstspracherwerb gleicht oder bereits Besonderheiten des Zweitspracherwerbs aufweist“ (Lengyel 2009: 46). Die Annahme kritischer Perioden im Spracherwerb geht u.a. auf die Feststellung von Lenneberg (1967) zurück, dass die Spracherwerbsfähigkeit im Laufe der Entwicklung eines Menschen abnimmt. Sie wird auch durch Erkenntnisse aus der Forschung zum kindlichen Zweitspracherwerb gestützt, die auf Ergebnisse zur neuronalen Verarbeitung zurückgreifen. Hier zeigt sich z.B., dass zwar die lexikalische Verarbeitung der Erst- und Zweitsprache im gleichen Areal des Gehirns stattfinden, dass aber grammatische

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Aspekte bei Erst- und Zweitsprachlernern an unterschiedlichen Orten verarbeitet werden (Chilla u.a. 2010: 49). Im Ergebnis gilt das Alter von sieben Jahren als kritische Grenze: „Beginnt der Erwerb einer Sprache vor diesem Alter, ist das grammatische System dieser Sprache wie das einer Erstsprache organisiert, und zwar eindeutig in der linken Hemisphäre. Liegt der Erwerbsbeginn später, wird morpho-syntaktisches Wissen für beide Sprachen in unterschiedlichen zerebralen Strukturen verarbeitet“ (ebd.: 49). Auch für die Unterscheidung von sukzessivem doppeltem Erst- und kindlichem Zweitspracherwerb gibt es Hinweise aus linguistischen und elektrophysiologischen Studien, die Veränderungen in der Erwerbsfähigkeit einmal um das Alter von vier und einmal um das Alter von sieben Jahren herum zeigen: „Während bei einem Erwerbsbeginn bis vier Jahre von einem sukzessiven (doppelten) Erstspracherwerb gesprochen werden kann, führt ein späterer Beginn zu einem kindlichen Zweitspracherwerb, also zu einer Mischform zwischen Erst- und Zweitspracherwerb“ (Chilla u.a. 2010: 49). Besonders die Flexionsmorphologie scheint von einer Veränderung der Erwerbsfähigkeit beeinflusst zu werden, so Chilla u.a. unter Verweis auf Meisel (2009). Wenn indes der Erwerb erst nach dem siebten Lebensjahr einsetze, dann sei auch die Syntax betroffen. Input und Erwerbssituation Die Ergebnisse der kindlichen Mehrsprachigkeitsforschung zeigen, wie unterschiedlich sich mehrsprachiges Aufwachsen vollziehen kann und welche Rolle dabei der Zeitpunkt des Erwerbsbeginns spielt. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Quantität und die Qualität des Inputs. In der Forschung zur zwei- und mehrsprachigen Sprachaneignung werden zum Zwecke der Differenzierung sprachlicher Inputvarianten und Aneignungsbedingungen unterschiedliche Erwerbstypen voneinander abgegrenzt. Beispielsweise beziehen sich Anstatt und Dieser (2007) auf die Sprachenwahl der Eltern gegenüber dem Kind. Dabei unterscheiden sie folgende vier Typen. (1) one person-one language: die Eltern haben unterschiedliche Muttersprachen, jedes Elternteil spricht mit dem Kind in seiner Muttersprache; (2) home language-environment language: die Eltern haben die gleiche Muttersprache und sprechen diese mit dem Kind zu Hause, diese Sprache ist jedoch nicht die Umgebungssprache; (3) situativer Sprachengebrauch: die Eltern sprechen beide Sprachen mit dem Kind und unterscheiden dabei nach situativen Gesichtspunkten (innerhäuslich/außerhäuslich, monolinguale/bilinguale Kommunikationspartnerinnen und -partner, Gesprächsthema); (4) mixed languages: die Eltern sprechen beide Sprachen mit dem Kind, folgen dabei aber eher spontanen Bedürfnissen.

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Der Typ one person-one language ist zwar nicht der am häufigsten vorkommende, aber dennoch der am besten erforschte (vgl. Reich 2010). Im Gegensatz dazu sind der situative Sprachgebrauch und gemischte Sprachen die am stärksten verbreiteten, aber gleichzeitig die am wenigsten erforschten Typen. Ausgehend von seiner Kindergartenstudie (2009) nimmt Reich (2010) an, dass im familiären Umgang mit Kindern unter drei Jahren die Herkunftssprache der Familie die Hauptkommunikationssprache darstellt. Außerdem sei davon auszugehen, dass fast alle Kinder ‚mit Migrationshintergrund‘ in Deutschland von Anfang an auch mit dem Deutschen in Berührung kommen (ebd.). Die Spracherwerbssituation dieser Kinder, die (annähernd) gleichzeitig mit ihrer Familiensprache und dem Deutschen in Kontakt treten, sei jedoch nicht mit der Situation derjenigen Kinder zu vergleichen, die bewusst bilingual, im Sinne des Typs one person-one language, erzogen werden. Reich merkt an, dass die Unterschiede besonders im Ausmaß und in der Systematik der Kontakte mit dem Deutschen liegen. Daher empfiehlt er eine übergreifende Typisierung der Erwerbssituationen in Deutschland, die sich nicht nur an der elterlichen Sprachwahl, sondern auch an der relativen Quantität des Inputs und an sozioökonomischen Bedingungen wie Bildungshintergrund und Milieu orientiert (ebd.: 16): • Typ I: gleichmäßiger Gebrauch beider Sprachen („one person-one language“









oder situativer Wechsel), kennzeichnend für bildungsbewusste Familien der Mittel- und Oberschicht, aber auch in Migrantenfamilien anzutreffen; Typ II a: der (fast) ausschließliche Gebrauch der (gemeinsamen) Herkunftssprache aus bewusster Entscheidung der Eltern, kennzeichnend für bildungsbewusste Migrantenfamilien; Typ II b: der (fast) ausschließliche Gebrauch der (gemeinsamen) Herkunftssprache der Eltern in Migrantenfamilien aus ungenügender Kenntnis des Deutschen, Deutsch als eher marginale Umgebungssprache, kennzeichnend für ‚Ghetto‘-Situationen; Typ III: überwiegender Gebrauch der Herkunftssprache neben dem Deutschen, meist ohne besondere Systematik, Deutsch als häufiger kontaktierte Umgebungssprache, kennzeichnend für die Mehrheit der Migrantenfamilien in Deutschland; Typ IV: überwiegender Gebrauch des Deutschen neben der Herkunftssprache, meist ohne besondere Systematik, kennzeichnend für Migrantenfamilien mit assimilativer Tendenz.

Zur Qualität des sprachlichen Inputs und zur Rolle der familiären Spracherziehung wurde bereits im Kontext der allgemeinen Sprachaneignung (Kapitel 4.1)

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darauf hingewiesen, dass das Interaktionsverhalten von Bezugspersonen die Sprachaneignung unterstützen kann. Als sprachaneignungsförderliche Verhaltensweisen von Bezugspersonen werden die geteilte Aufmerksamkeit (Bruner 1987) genannt, außerdem Wiederholungen und Sprechen in einer höheren Tonlage (sog. motherese oder Ammensprache, vgl. Weinert 2000; Ritterfeld 2000), Reimen, Singen, dialogisches Erzählen und weitere Aktivitäten im Bereich der „emergent literacy“ (vgl. Hoff-Ginsberg 2000; Hampson/Nelson 1993; Hellrung 2006; Bose/Gutenberg 2007; Kuyumcu/Kuyumcu 2004; Ninio 1980; Clark 1993). Emergent literacy bezieht sich auf die Einführung in und den frühen Umgang mit Schriftkultur; in der Regel liegt der Fokus auf dem vorschulischen Bereich (Rhyner 2009), wobei Bowman u.a. (2000) Entwicklungsgrundlagen von Literalität insbesondere im Alter zwischen zwei und drei Jahren ausweisen. In den letzten Jahren hat sich die diesbezügliche Forschung unter Einbezug von mehrsprachig aufwachsenden Kindern intensiviert und aufgezeigt, dass die Entwicklung von schulrelevanten Kompetenzen mit dem Erwerb von Vorläuferfähigkeiten schon im frühen Kindesalter beginnt und dieser frühe Beginn für die spätere Schullaufbahn eine große Bedeutung hat (Leseman/de Jong 1998; 2001; Snow u.a. 1991). Aktuelle Studien, die u.a. Kinder ‚mit und ohne Migrationshintergrund‘ vergleichen, deuten darauf hin, dass sich die literale Erziehung und Bildung in der Familie, besonders der Zugang zu und die Qualität gemeinsamer literaler Aktivitäten, entscheidend auf spätere Lese- und Sprachkompetenzen sowie auf die schulrelevanten sprachlichen Fähigkeiten auswirkt (vgl. Hansen/Jones 2011; Wasik/Hendrickson 2004; Leseman/de Jong 1998; Leseman u.a. 2009; 2010; Quiroz u.a. 2010). Auch und gerade jenseits seiner Bedeutung für den Erfolg der schulischen Laufbahn ist der sprachliche Input bei mehrsprachigem Aufwachsen in allen Sprachen wichtig: Aus entwicklungspsychologischer Perspektive wird betont, dass es bei der Unterstützung von mehrsprachigem Aufwachsen und der Forderung nach einer vielfältigen sprachlichen Interaktion nicht nur um die möglichst umfangreiche Beherrschung von zwei oder mehr Sprachen geht. So zeige sich in verschiedenen Studien, dass es „nicht zu positiver Emotionalität innerhalb der Familie“ beiträgt, wenn Kinder die Sprache der Aufnahmegesellschaft mit ihren Eltern sprechen, obwohl diese mit ihnen ihre Herkunftssprache sprechen“ (Leyendecker/De Houwer 2011: 206). Es könne dann eine größere Distanz zwischen Eltern und Kindern festgestellt werden und Eltern könnten sich von den Kindern abgelehnt fühlen. Dennoch sei diese Art der Sprachenverteilung in 2540% der Familien vorzufinden. Der Einfluss einer gemeinsamen Sprache gehe weit über den Spracherwerbsprozess hinaus und betreffe „die gesamte Entwicklung der Kinder und die innerfamiliären Beziehungen“ (ebd.). Im Gegensatz zur

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weit verbreiteten Befürchtung, die Herkunftssprache könne den Erwerb der Mehrheitssprache behindern, betonen Leyendecker und De Houwer, dass vielmehr die Mehrheitssprache eine Gefahr für die Herkunftssprache und somit indirekt auch eine Gefahr für die Eltern-Kind-Beziehung darstellen könne4. Die Aufgabe der Eltern bestehe darin, ihren „Kindern die Welt in der Sprache [zu] erklären, die sie am besten beherrschen, in der sie sich wohl fühlen und die so den Kindern eine reichhaltige Sprachumwelt bietet“ (ebd.: 180). Gleichzeitig sollten Eltern den Kindern frühzeitig Zugang zur Sprache der Aufnahmegesellschaft verschaffen. Auch hier wird betont, dass für das erfolgreiche Erlernen der Mehrheits- und der Herkunftssprache vor allem der sprachliche Input entscheidend ist. Dabei komme es aber nicht nur auf den zeitlichen Aspekt, sondern auch auf die Vielfalt der Sprachpartnerinnen und Sprachpartner an. Es sei wichtig, dass mehrsprachige Kinder ihre Sprachkenntnisse vielfältig einsetzen könnten, sodass sie erfahren, „dass es Kontexte gibt, in den[en] ihre Kompetenzen in der Herkunftssprache von großer Relevanz sind“ (Leyendecker u.a. 2015: 119). Normalitätserwartungen bei Mehrsprachigen Angesichts der Unterschiedlichkeit der Erwerbssituationen mehrsprachig aufwachsender Kinder ist es offensichtlich, dass eigentlich nicht von einem bestimmten ‚normalen‘ Verlauf der Sprachaneignung ausgegangen werden kann. Da der Stand der Sprachaneignung mehrsprachiger Kinder aber im Rahmen von ärztlichen, frühpädagogischen oder schulischen Untersuchungen immer wieder beurteilt wird, ist es wichtig, dass hier angemessene Erwartungen an die Entwicklung gestellt werden. So betonen Ehlich u.a. (2008), dass es doppelter Normalitätserwartungen bedürfe, die nicht nur die Ziele der Deutschförderung abbilden, sondern auch die Normalität des Zweitspracherwerbs (ebd.: 27). Rückstände gegenüber der deutschen Alltagsnormalität müssten bei mehrsprachigen Kindern nicht als Verzögerungen oder Störungen gewertet werden, sondern zunächst als „Momente eines ganz normalen Aneignungs- und Lernprozesses unter Bedingungen des ungleichzeitigen Erwerbs zweier Sprachen“ (ebd.). Eine genauere Betrachtung der Sprachaneignung anhand der sieben Basisqualifikationen sei hier besonders aufschlussreich. So seien z.B. diskursive und pragmatische Qualifikationen ein Stück weit einzelsprachunabhängig und ein zweitsprachler-

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Vor allem da es leider noch immer ein häufig beobachtetes Phänomen sei, dass bilingualen Eltern von Kinderärzten und Erzieherinnen empfohlen wird, zu Hause ihre Herkunftssprache nicht mehr zu verwenden. Dies sei im besten Falle „ein Ergebnis von Ignoranz, wenn nicht sogar von blanker Diskriminierung“; derartige Ratschläge seien „mit der UN-Konvention für Kinderrechte nicht vereinbar“ (ebd.: 205).

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nendes Kind könne zwar Erzählungen vielleicht noch nicht in allen lexikalischen und grammatischen Aspekten korrekt wiedergeben, es könne aber auf seine bereits angeeigneten narrativen Fähigkeiten aus der Erstsprache zurückgreifen. Das „Verständnis des Menschen als eines prinzipiell einsprachigen Wesens“ (ebd.: 23) sei in diesem Zusammenhang problematisch, denn damit sei der differenzierte Aneignungsprozess von Sprache bei mehrsprachigen Kindern nicht angemessen zu verstehen. Vielmehr bedürfe es einer kritischen Auseinandersetzung mit dem „monolingualen Habitus“ (Gogolin 1994) sowie einer weitergehenden Forschung und entsprechenden Qualifizierung des pädagogischen Personals, um die Sprachaneignung ein- und mehrsprachiger Kinder angemessen einschätzen und fördern zu können. Neuere Beiträge zur Mehrsprachigkeitsforschung, die ebenfalls von einem fundamental-pragmatischen Grundverständnis ausgehen und die Aneignung von Sprache übereinstimmend mit Ehlich (2009) vor allem vor dem Hintergrund der jeweiligen kommunikativen Handlungsanforderungen sehen, teilen diese Kritik an monolingual orientierten Normalitätserwartungen (vgl. Panagiotopoulou 2016). Darüber hinaus wird hier die Vorstellung von mehrsprachigem Aufwachsen als Erwerb mehrerer getrennter Sprachsysteme in Frage gestellt und die Angemessenheit einer Unterscheidung zwischen ‚dominanten‘ und ‚nichtdominanten‘ Sprachen bezweifelt. Es handele sich bei diesen Begrifflichkeiten um starke Vereinfachungen, „die den komplexen, dynamischen und translingualen Praktiken mehrsprachig lebender Kinder nicht gerecht werden“ könnten (ebd.: 15). Mehrsprachige Kinder entwickelten „bereits während ihres dynamischen Sprach(en)erwerbs ein über die Grenzen von Sprachsystemen hinausgehendes Gesamtrepertoire an sprachlichen Praktiken“ (ebd.: 16). Bezeichnungen wie „translingual“ (García/Wei 2014) oder „quersprachig“ (List 2004) seien dafür weitaus angemessener als die bisherige Unterscheidung in „einsprachig“ bzw. „simultan“ oder „sukzessiv zweisprachig“. Dementsprechend müsse jenseits von einsprachigen Normalitätserwartungen das „sprachenübergreifende Languaging“ von Kindern betrachtet werden, in dem „verschiedene Sprachen, Sprachregister und Sprachvarietäten involviert [sind], die mit- und ineinander existieren bzw. koexistieren“ (Panagiotopoulou 2016: 15, Hervorh. im Original). Die Forderung einer so verstandenen „Wende zur Mehrsprachigkeit“ (ebd.) wird im Kapitel 5 wieder aufgegriffen. Im Folgenden geht es zunächst um den Umgang mit Mehrsprachigkeit in der Kita, wobei sich zeigt, dass monolinguale Normalitätserwartungen hier in entsprechenden Bildungsempfehlungen und Sprachförderkonzeptionen eine erhebliche Rolle spielen.

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4.3 MEHRSPRACHIGKEIT IN DER KITA Die Erkenntnisse zur Aneignung von Sprache, sowohl im Hinblick auf eine Sprache als auch im Hinblick auf ein mehrsprachiges Repertoire, zeigen, dass das Umfeld, in dem sprachliches Handeln stattfindet, für die Aneignung eine entscheidende Rolle spielt. Für viele Kinder besteht dieses Umfeld nicht nur aus der Familie, sondern sie eignen sich Sprache auch in anderen Kontexten an, nicht selten zu einem großen Teil in der Kita oder einer Einrichtung der U3BBE. Die Bedeutung dieser Einrichtungen für die sprachliche Bildung ist mittlerweile nicht nur wissenschaftlich nachgewiesen, sondern auch bildungspolitisch anerkannt, was zu entsprechenden Empfehlungen und Programmen in der Frühpädagogik geführt hat, auf die im Folgenden eingegangen wird. Es zeigt sich hier jedoch, dass sprachliche Bildung in der frühen Kindheit meistens mit einem Fokus auf den Erwerb von Kenntnissen im Deutschen versehen wird. Die Wertschätzung von Mehrsprachigkeit wird zwar gefordert, die Förderung von anderen Sprachen als Deutsch wird jedoch kaum konkret ausbuchstabiert. Im Folgenden wird daher nach der Vorstellung von bildungspolitischen Empfehlungen und Programmen zur sprachlichen Bildung gesondert auf die Förderung von Mehrsprachigkeit in der Kita und im Zusammenhang damit auf das professionelle Handeln der Fachkräfte eingegangen. Bildungspolitische Empfehlungen, Programme und Projekte für die Frühpädagogik Die bildungspolitischen Entwicklungen infolge der ersten Teilnahme Deutschlands an den PISA-Studien haben dazu geführt, dass Sprache als Schlüssel zu Bildung auch für die institutionelle frühkindliche Bildung zu einer zentralen Aufgabe geworden ist. Dabei nimmt mittlerweile die alltagsintegrierte Sprachbildung einen besonderen Stellenwert ein: Anders als „Sprachförderprogramme, die ausgewählte sprachliche Teilbereiche […] in den Mittelpunkt rücken und engmaschig mit vorgegebenen Übungen und Materialien konzipiert sind, sind (Rahmen-)Konzepte und Handreichungen alltagsintegrierter Sprachbildung allgemeiner formuliert, bieten Anregungen für die Umsetzung sprach- und bildungsbezogener Aktivitäten im Alltag und betonen grundsätzliche Prinzipien und Sprachlehrstrategien zur Schaffung einer sprachanregenden Lernumgebung“ (Lengyel 2017: 276). So wird z.B. in den Hamburger Bildungsempfehlungen (Freie und Hansestadt Hamburg 2012) betont, dass die Integration sprachlicher Bildungsprozesse in den Kitaalltag eine Querschnittsaufgabe sei. Auch hier werden die Wechselwirkungen zwischen sprachlicher, kognitiver und sozialer Entwicklung hervor-

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gehoben und daher empfohlen, die sprachliche Bildung in alle Anregungen für Bildungsprozesse einzubeziehen. Wichtig sei dafür zunächst, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, die Themen und Handlungen der Kinder sprachlich aufzugreifen und zu begleiten und sprachliche Anregungen daran auszurichten. Fachkräfte seien gleichzeitig Sprachmodell, Sprachvorbild und Sprachbegleiterinnen und -begleiter und hätten die Aufgabe, die sprachliche Entwicklung der Kinder systematisch zu beobachten und zu dokumentieren sowie eine individuelle Förderung im Rahmen der Gruppenprozesse zu gestalten. Neben der Betonung der Bedeutung von Deutschkenntnissen für die spätere Bildungslaufbahn wird auch empfohlen, die Familiensprachen der Kinder wertzuschätzen, zu fördern und auch hier den jeweiligen Entwicklungsstand zu beachten. Fragen der konkreten Umsetzung bleiben im Rahmen solcher Empfehlungen häufig offen (vgl. Lengyel 2017) oder werden nur beispielhaft angesprochen. In den letzten Jahren sind dazu aber eine Reihe von Förderprogrammen aufgelegt worden, wie z.B. die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend finanzierten Bundesprogramme „Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“ (2011-2015) oder das Nachfolgeprogramm „Sprach-Kitas: Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist“ (2016-2019). Im Rahmen dieser Programme werden zusätzliche Fachkräfte in den Kitas für die alltagsintegrierte sprachliche Bildung eingesetzt und die Kitas werden von Fachberaterinnen und Fachberatern begleitet. Inhaltlich werden die Programme durch Praxiskonzepte unterstützt, die im Rahmen von Sprachbildungsprojekten in Zusammenarbeit von wissenschaftlichen Einrichtungen und Fachpraxis erstellt wurden. Insgesamt wurde eine große Fülle solcher Initiativen für Sprachfördermaßnahmen ins Leben gerufen, deren gemeinsames Ziel es ist, ungleiche Bildungschancen von Kindern aufgrund unterschiedlicher Sprachbiographien auszugleichen (Gold/Schulz 2014): Das Deutsche Jugendinstitut zählte zwischen 2005 und 2008 „mehr als 30 solcher Konzepte und Maßnahmen […], und die Zahl ist seitdem kontinuierlich gestiegen“ (ebd.: 28). Die gegenwärtige Sprachförderlandschaft in Kitas stellt sich daher in Bezug auf die Verbindlichkeit, auf die Zielgruppen und die eingesetzten Formen sehr uneinheitlich dar. Ein herausragendes Beispiel für ein Praxiskonzept alltagsintegrierter Sprachbildung, auf das auch die o.g. Förderprogramme „Schwerpunkt-Kitas“ und „Sprach-Kitas“ zurückgreifen, ist das Konzept „KinderSprache stärken!“ (Jampert u.a. 2009), das im Rahmen des Projekts „Sprachliche Förderung in der Kita“ des Deutschen Jugendinstituts entwickelt wurde (vgl. Legyel 2017). In diesem Konzept wird konkret herausgearbeitet, welche Potenziale die Bildungsbereiche Musik, Medien, Bewegung und Natur für die sprachliche Bildung beinhalten und wie sie dafür fruchtbar gemacht werden können.

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Insgesamt ist festzustellen, dass alltagsintegrierte sprachliche Bildung eher für den Elementarbereich konzipiert wird, und dass sie trotz der allseits betonten Wertschätzung von Mehrsprachigkeit eher als Förderung der sprachlichen Kompetenzen im Deutschen verstanden wird und weniger als gleichzeitige Förderung mehrerer Sprachen bzw. einer mehrsprachigen Kompetenz. Unter den wenigen Konzepten zur alltagsintegrierten Sprachbildung, die explizit für die U3-BBE entwickelt wurden, ist das Praxiskonzept „Die Sprache der Jüngsten entdecken und begleiten“ (Jampert u.a. 2011) das erste und wahrscheinlich das umfassendste (vgl. Lengyel 2017: 276). Das Material wurde im Rahmen des Projektes „Sprachliche Bildung und Förderung für Kinder unter Drei“ vom Deutschen Jugendinstitut erarbeitet und enthält eine umfassende Einführung in die Sprachentwicklung in den ersten drei Lebensjahren im Hinblick auf die sozialkommunikative und die sprachlich-kognitive Entwicklung, die Entwicklung von Lauten und Prosodie, sowie die Entwicklung des Wortschatzes und der Grammatik. Hinzu kommen Hinweise für die Beobachtung und Dokumentation der Kindersprache und in einem zweiten Band Grundlagen, Beispiele und Anregungen für die systematische sprachliche Bildung und Förderung im Alltag der U3-BBE. Dazu gehören Grundlagen des kindlichen Lernens, Grundlagen der Dialoghaltung, die Erarbeitung der sprachförderlichen Potenziale verschiedener Bildungsund Entwicklungsbereiche wie Musik, Bewegung und bildende Kunst, die Erarbeitung der sprachförderlichen Potenziale von Alltagssituationen und ihre Reflexion sowie die Kooperation mit den Eltern im Hinblick auf sprachliche Bildung. Die sprachliche Entwicklung von mehrsprachigen Kindern wird im Rahmen dieses Praxiskonzeptes „nicht als Sondersituation verstanden“, denn „Kinder, die mit mehreren Sprachen aufwachsen, durchlaufen in jeder ihrer Sprachen grundsätzlich die gleichen Etappen wie Kinder, die nur mit einer Sprache groß werden“ (Jampert 2011: 26). In den Kapiteln über die verschiedenen Bereiche der Sprachentwicklung wird auf die Besonderheiten und Phänomene der mehrsprachigen Entwicklung hingewiesen, wie z.B. auf die Anforderung des ‚Einhörens‘ in die Prosodie des Deutschen, auf Sprachmischungen und auf die Übergeneralisierung von Verbformen. Auch die Praxiskonzepte, die im Rahmen des Projektes „Sprachliche Bildung für Kleinkinder“ der Baden-Württemberg Stiftung ab 2008 entstanden sind, beziehen sich explizit auf die sprachliche Entwicklung im U3-Bereich. Die Sprachförderkonzepte „Dialoge mit Kindern führen“ (2008-2010), „Mit Kindern im Gespräch“ (2008-2011) und „Sprache macht stark!“ (2006-2010) greifen den Qualifizierungsbedarf in der U3-BBE im Hinblick auf sprachliche Bildung auf und zielen auf die Professionalisierung des Interaktionshandelns der Fachkräfte. Im Programm „Sprache macht stark!“ wird zudem der „Beibehalt und Ausbau

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mehrsprachiger Kompetenzen“ der Kinder (Baden-Württemberg Stiftung 2014: 37) als Projektziel genannt und es wird „die Einbeziehung der Familieninteraktion in die Förderung des frühen Zweitspracherwerbs betont“ (ebd.: 43). Die Umsetzung der Konzepte im Gesamtprojekt wurde durch eine interdisziplinär angelegte Forschung begleitet. Förderung von Mehrsprachigkeit Eine eingehende Auseinandersetzung mit der sprachlichen Entwicklung mehrsprachiger Kinder und mit der Rolle der verschiedenen Sprachen in der Sprachförderung findet in den meisten Sprachförderprogrammen und Praxiskonzepten zur sprachlichen Bildung nicht wirklich statt. In fast allen Konzepten steht die Förderung des Deutschen unangefochten im Mittelpunkt, auch wenn häufiger eine Wertschätzung und manchmal eine Förderung der Mehrsprachigkeit angesprochen werden. Zwar ist die Erkenntnis, dass die Fähigkeiten in der Erstsprache eine wichtige Voraussetzung für den kindlichen Zweitspracherwerb sind, mittlerweile in allen Empfehlungen und Konzepten zur sprachlichen Bildung in der Kita zu finden. Ebenso durchgesetzt haben sich die Empfehlung, dass Eltern im Kontakt mit den Kindern lieber ihre Familiensprache beibehalten sollten, auch wenn die Kinder Deutsch als zweite Sprache lernen, und die Notwendigkeit, die Fähigkeiten der Kinder in ihren verschiedenen Sprachen zu beachten und wertzuschätzen. Wie eine explizite Förderung von Mehrsprachigkeit aber konkret aussehen und auf welchen theoretischen Konzepten sie aufbauen könnte, wird im Allgemeinen nicht thematisiert. Aus Sicht der Mehrsprachigkeitsforschung ist es für die sprachliche Bildung in frühpädagogischen Einrichtungen unerlässlich, dass im Rahmen einer möglichst vielfältigen Sprachumwelt sowohl die deutsche als auch weitere Sprachen ganzheitlich gefördert und nicht auf einige Förderstunden reduziert werden (vgl. Leyendecker u.a. 2015). Ausgehend von seinen in Kapitel 4.2 dargestellten Befunden zu Input und Erwerbssituation kommt auch Reich (2010) zu einer Reihe von Empfehlungen für die mehrsprachige Bildung im Elementarbereich. Hierzu gehören die Stärkung der Kooperation zwischen Eltern und Einrichtung, die allgemeine Wertschätzung aller Sprachen, die richtige Einschätzung von Fortschritten auch in der schwächer entwickelten Sprache, Individualisierung und Einnahme einer dialogischen Haltung im Kitaalltag, eine sorgfältige Beobachtung der sprachlichen Entwicklung, möglichst auch in der Familiensprache, und die Ermöglichung von ausreichenden Deutschkontakten sowie die Einbeziehung der Familiensprache in die Kommunikation in der Einrichtung (ebd.: 30f). Lengyel (2009) zeigt anhand ihrer Kitastudie beispielhaft, wie die Sprachen mehrsprachiger Kinder und ihre kommunikativen Handlungsmöglichkeiten auf-

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gegriffen werden können: als ‚Türöffner‘, um mit den Kindern in Beziehung zu treten oder auch um mit Sprachen zu spielen. Dabei bieten literacy-bezogene Angebote einen möglichen Ausgangspunkt. Die Förderung von mündlicher Literalität ist ein wichtiger Bestandteil sprachlicher Bildung (List 2007), da sie ein Medium für den Umgang mit Sprache darstellt und die metasprachliche Bewusstheit fördert. Dies mache sie auch zu einem wichtigen Mittel bei der Nutzung von Mehrsprachigkeit im Sinne der Erweiterung der sprachlichen Kompetenzen aller Kinder einer Gruppe, so List (ebd.: 50f). Hierzu seien das gemeinsame Lesen und Interpretieren von Bilderbüchern und das Spielen von Lesen und Schreiben wichtige pädagogische Interaktionen, zu denen auch Eltern angeregt werden sollten (ebd.: 25). Sprachförderlich für mehrsprachig aufwachsende Kinder sei außerdem die Ermöglichung von literalen Erfahrungen in der Erstsprache, da diese auch für das Erlernen der Zweitsprache genutzt würden. Des Weiteren zeigt Lengyel (2009), dass dialogische Vorlesesituationen eine der ganz wenigen Beispiele für eine dyadische Situation zwischen Bezugsperson und Kind in der Kita sind. Solche dyadischen Situationen, im Rahmen derer in der Familie große Teile des Spracherwerbs stattfinden, kämen im institutionellen Setting kaum vor. Auch die kindgerichtete, speziell die stützende Sprache wie das Scaffolding, werde kaum eingesetzt. Dies führe dazu, dass Kinder, die sich die Zweitsprache in der Institution aneignen, eher auf den sog. holistischen Spracherwerbsstil zurückgreifen und Imitation sowie formelhafter Sprachgebrauch eine wichtige Rolle in ihrem Aneignungsprozess spielen (vgl. Kapitel 4.2). Folgerichtig plädieren auch Ruberg und Rothweiler (2012) im Rahmen der Professionalisierung des Interaktionsverhaltens pädagogischer Fachkräfte für den Einsatz von Sprachlehrstrategien als Modellierungstechniken und für ein hohes Maß an Sprachbewusstheit und die Reflexion des eigenen Sprachverhaltens. Eine umfassende Sprachförderkonzeption, die explizit die Förderung von Mehrsprachigkeit in der Kita fokussiert, ist aus dem Projekt „Sprachentwicklung zweisprachiger Kinder im Elementarbereich“ (2001-2004) (Reich 2008b) und seinen Folgeprojekten entstanden. Reich stellt seiner Sprachförderkonzeption einige grundsätzliche Überlegungen voran, die sich mit der Verengung von Sprachförderzielen auf den Erwerb des Deutschen auseinandersetzen und mit der Herausforderung für die Kita, im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit angesichts gesellschaftlicher Normalisierungserwartungen nicht ihre elementarpädagogischen Grundsätze aus den Augen zu verlieren. In Bezug auf die Zielgruppe(n) und die Ziele von Sprachförderung wirft Reich daher zunächst die Frage nach der Grenze zwischen förderbedürftigen und nicht förderbedürftigen Kindern auf und betont, dass jede Grenzziehung hier auf „einem gewissen Maß an

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Willkür“ beruht (ebd.: 16). In Übereinstimmung mit Ehlich u.a. (2008; vgl. auch Kapitel 4.2) gibt er zu bedenken, dass der Maßstab der altersgemäßen Entwicklung im Falle von mehrsprachigen Kindern kaum brauchbar sei: „Die zweite oder dritte Sprache eines Kindes kann nicht ohne weiteres Nachdenken am selben Maßstab gemessen werden wie die erste Sprache“ (Reich 2008b: 16). Dennoch gebe es eine gesellschaftliche Normalitätsvorstellung, nämlich den Maßstab, der sich an der „sprachlichen Schulreife“, d.h. den Deutschkenntnissen, die nötig sind, um in der Schule sprachlich mitzukommen, orientiere. Die Beherrschung der deutschen Sprache sei eine Grundbedingung für schulischen Erfolg und gesellschaftliche Integration. Dieser Umstand führe dazu, dass die Deutschkenntnisse eines mehrsprachigen Kindes nicht an der normalen Entwicklung Mehrsprachiger gemessen würden, sondern an „einer von außen an es herangetragenen Norm“, die zu der normalen Entwicklung des Kindes „in mehr oder minder großem Widerspruch stehen kann“ (ebd.: 17). In der Folge würde in einer Vielzahl von Fällen eine „forcierte Deutschaneignung [verlangt], deren Berechtigung sich aus zukünftigen Erfordernissen ableitet, die aber durch die gegenwärtige Sprach- und Lebenssituation des Kindes (noch) nicht abgedeckt ist“ (ebd.). Besonders problematisch sei es, wenn der Kita im Rahmen dieses Verständnisses der Auftrag erteilt werde, die Kinder in diesem Sinne auf den Schulbesuch vorzubereiten: „Diese Vorstellung überspringt die Gegenwart des Kindes und ist auch im Hinblick auf das Fortdauern des Sprachaneignungsprozesses im Schulalter wenig angemessen“ (ebd.). Die sprachliche Bildungsarbeit der Kita agiert somit laut Reich in einem Spannungsfeld „zwischen sprachlicher Primärsozialisation und Sprachbildung als institutionellem Auftrag“ (Reich 2008a: 250). Die von der pädagogischen Bezugswissenschaft geforderte Orientierung an der tatsächlichen Sprachenvielfalt der Kinder stünde dem sprachlichen Einheitlichkeitsinteresse des öffentlichen Bildungswesens und der „gesellschaftlichen Normalisierungserwartung“ (ebd.: 251) gegenüber. Innerhalb dieses Spannungsfeldes stellen laut Reich diejenigen eine „in der Spracherziehung verunsicherte Minderheit [dar], die Spracherhalt und Schulerfolg gerne auf einen Nenner bringen“ möchten und die „nur von einer wissenschaftlichen und publizistischen Minderheit, die keinen starken Eindruck macht“ (ebd.: 250) unterstützt würden. Diese Minderheitsposition artikuliere sich „in Hinweisen auf die Rolle der Erstsprache als Überbrückungshilfe, auf die Bedeutung dieser Sprache für das kindliche Selbstbewusstsein, auf die Zweisprachigkeit als Ressource des späteren Fremdsprachenlernens, auf die Erfolge des bilingualen Unterrichts, auf den allgemeinen gesellschaftlichen Sprachenbedarf und die europäische Vielsprachigkeitspolitik“ (ebd.: 251). Sie werde aber von der mächtigeren Position der gesellschaftlichen Normalitäts-

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und Einheitserwartung überstimmt, die „die institutionelle Grundlage fast aller angebotenen Bildungsmöglichkeiten ist“ (ebd.: 255), was sich z.B. in der aktuellen Sprachförderpolitik zeige. Die Ergebnisse dieser Machtverteilung, nämlich einsprachige Normalitätserwartungen und in der Folge Maßnahmen einer forcierten Deutschaneignung, führen laut Reich zu einer „Defizitorientierung für eine Vielzahl von Kindern, die im Widerspruch steht zu einer generellen Kompetenzorientierung in der Elementarpädagogik“ (ebd.). Diese Widersprüche müssen in der Sprachbildungskonzeption einer Kita ausgehalten und ihre „möglichen schädlichen Folgen für die Kinder gemildert werden“, so Reich (ebd.: 256). Hierzu gehöre die Auseinandersetzung mit der Frage, wie die sprachliche Bildung der Kita das geforderte „Deutsch für alle“ (Reich 2008b: 44) um die „Weiterführung der familiären Spracherziehung für alle“ (ebd.) ergänzen könne. Schließlich garantiere die allseits betonte Wertschätzung der Familiensprachen noch nicht „Bildung in der Familiensprache“ (ebd.: 43) und in den verschiedenen Bildungsempfehlungen und -plänen würden hier besonders vorsichtige Formulierungen gewählt. Reich betont, dass die Konstruktion einer Sprachenkonkurrenz, die auf eine Verdrängung der sozial schwächeren Sprache durch die sozial stärkere hinauslaufe, der aktuellen sprachlichen Situation von Migrantenkindern in Deutschland pädagogisch nicht gerecht werde: „Die Herkunftssprachen haben Funktionen in der sozialen Welt von Migrantenkindern und es ist pädagogisch richtig, den Kindern einen konstruktiven Umgang damit zu ermöglichen“ (ebd.: 44). Die Vorstellung einer positiv gewerteten, „additiven“ (ebd.) Zweisprachigkeit stellt für Reich eine grundlegende Orientierung dar, wobei er betont, dass es sich im Normalfall um eine „mehr oder minder ungleichmäßige Beherrschung von zwei oder mehr Sprachen“ handelt (ebd.). Der Auf- und Ausbau sprachlicher Fähigkeiten, der durch die sprachliche Bildungsarbeit der Kita begleitet werden soll, müsse also Bezug nehmen auf diese Mehrsprachigkeit und nicht bloß auf die Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten im Deutschen, auch wenn letztere in der gesellschaftlichen Normalitätserwartung im Hinblick auf den Schulbesuch im Zentrum stehen. Ausgehend von diesen grundsätzlichen Orientierungen über Normalitätserwartungen und die Funktionen der verschiedenen Sprachen der Kinder sowie ihre Rolle in der Sprachförderung gibt Reich Hinweise für eine Konzeption sprachlicher Bildung unter Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit in der Kita. Zunächst sei es wichtig, die sprachlichen Voraussetzungen der Kinder in allen ihren Sprachen zu kennen. Dazu sei neben der individuellen Beobachtung der Kinder auch eine Verständigung mit den Eltern zum sprachpädagogischen Rahmen nötig. Da sich Sprachbildung in Wechselwirkung mit den Spracherfahrungen der Kinder in- und außerhalb der Einrichtung vollziehe, sei die Zusammen-

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arbeit mit den Eltern im gesamten Verlauf der sprachlichen Bildung besonders bei Mehrsprachigen wichtig. Der Einbezug der Eltern könne die sprachliche Bildung in den Familiensprachen in der Kita auch konkret unterstützen, indem durch sie die jeweilige Familiensprache in die Einrichtung getragen werde, wenn Eltern z.B. Bücher in der Familiensprache mit den Kindern lesen. Ebenso könne dieser Kontakt auch für Hinweise auf förderliche häusliche Aktivitäten in der Familiensprache für die Eltern genutzt werden. In diesem Zusammenhang weist Reich auch auf Projekte wie Hippy5, Rucksack6 oder Family Literacy7 hin, die Eltern in sprachförderlichen Aktivitäten mit den Kindern in der Familiensprache unterstützen (ebd.: 45). Die Bildungsangebote der Kita in der Familiensprache können laut Reich die Spracherziehung in der Familie zwar nicht ersetzen, wohl aber die Aneignung der Familiensprache stärken und weiterführen. Gleichzeitig seien „Bildungsangebote des Kindergartens in der Familiensprache der Aneignung des Deutschen als Zweitsprache nicht abträglich […]. Zweisprachige Bildung wird den Interessen des Kindes in vollem Maße gerecht“ (ebd.: 35). Neben der Kooperation mit den Eltern nennt Reich als eine weitere wichtige Maßnahme für die Förderung der Mehrsprachigkeit in der Kita den Einsatz mehrsprachiger Fachkräfte. Dies sei nicht nur für die Unterstützung der sprachlichen Bildung mehrsprachiger Kinder hilfreich, sondern für die sprachliche und kulturelle Bildung aller Kinder, für die interkulturelle Öffnung des Teams und wiederum für die Verbesserung der Kooperation mit den Eltern. Hierbei sei es wichtig, bewusste Entscheidungen über die Sprachwahl zu treffen, die vom gesamten Team der Kita getragen würden. Dem Bedenken, dass Kinder mit derselben Familiensprache wie eine zweisprachige Fachkraft weniger Deutsch sprechen würden, könne man begegnen, indem man dies zunächst sorgfältig beobachte und schließlich, wenn tatsächlich ein zu geringer Kontakt mit dem Deutschen festgestellt würde, die Kommunikation in der Familiensprache auf bestimmte Gelegenheiten oder Zeiten beschränke. Da mehrsprachige Kinder die Tendenz hätten, auf der Sprache zu antworten, auf der sie angesprochen würden, hätten die Fachkräfte damit ein recht verlässliches Instrument, um die Sprachwahl der Kinder zu beeinflussen. Ein regelmäßiges Bildungsangebot in der Familiensprache durch die mehrsprachige Fachkraft könne z.B. „im Erzählen, Vor-

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https://www.drk-kiju.de/einrichtungen/hippy/willkommen.html (zuletzt abgerufen am 26.05.2019)

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http://www.kommunale-integrationszentren-nrw.de/rucksack-1 (zuletzt abgerufen am 26.05.2019)

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http://li.hamburg.de/family-literacy/4552940/artikel-family-literacy/ (zuletzt abgerufen am 26.05.2019)

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lesen, Betrachten und Singen ihren Schwerpunkt haben und […] zwanglos an die Themen anschließen, die auch in der Gesamtgruppe ‚dran‘ sind“ (ebd.: 45). Im Hinblick auf die Schwierigkeit, dass nicht alle Sprachen der Kinder berücksichtigt werden können, werde aus der Praxis berichtet, „dass keine Neidgefühle daraus entstehen, sondern eher Anstöße, auch etwas für die Präsenz derjenigen Sprachen im Kindergarten zu tun, die nicht durch eine zweisprachige Erzieherin vertreten sind“ (ebd.). Der Einbezug verschiedener Sprachen in die sprachliche Bildung im Kitaalltag kann laut Reich bei allen Kindern zur Stärkung einzelner sprachlicher Fähigkeiten betragen: „Der Klang fremder Sprachen kann die Lautverarbeitung schärfen, vor allem wenn das Kind erfährt, dass es diese ‚fremden Laute‘ selber aussprechen kann. Einem fremdsprachigen Bilderbuchtext zu folgen kann die Fähigkeit des ‚ergänzenden Verstehens‘ anregen und stärken. Die Feststellung, dass ein und dieselbe Sache in verschiedenen Sprachen unterschiedlich ‚heißt‘, kann das Bewusstsein für den Zeichencharakter der Sprache wecken. Die Einsicht, dass die Wahl einer bestimmten Sprache diejenigen, die diese Sprache nicht sprechen, aus der Kommunikation ausschließt, kann der Anfang eines verantwortlichen Umgangs mit der Mehrsprachigkeit sein“ (ebd.: 46). An diese Anregungen für die Sprachförderkonzeption in der Kita anschließend entwickelt Reich auch eine Qualifizierungskonzeption für Fachkräfte, die verschiedene Aspekte des professionellen Handelns fokussiert. Professionelles Handeln im Kontext von Mehrsprachigkeit Die Qualifikation der Fachkräfte und ihr professionelles Handeln in der sprachlichen Bildung stehen in der Sprachbildungskonzeption von Reich im Mittelpunkt. Als Qualifikationsziele für die Fachkräfte, die in einer Kita sprachliche Bildung und individuelle Sprachförderung unter Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit durchführen, nennt Reich die Befähigung, • • • • • •

„die Sprachen des einzelnen Kindes zu beobachten und einzuschätzen, den Beobachtungsergebnissen Förderangebote planvoll zuzuordnen, sich ein breites Methodenrepertoire der Sprachförderung zuzulegen, Förderangebote zu reflektieren und Förderplanungen zu revidieren, sich selbst bei der Förderarbeit zu kontrollieren, und schließlich im Team, mit den Eltern, mit Ehrenamtlichen und mit professionellen Kräften anderer Institutionen im Interesse der Sprachbildung der Kinder zusammenzuarbeiten.“ (Reich 2008b: 84)

Bei diesen Anforderungen an professionelles Handeln geht es aber für Reich nicht nur darum, praktikable Wege für die Förderung des gesamten sprachlichen

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Repertoires der Kinder zu finden. Entsprechend seiner Einschätzung, dass die Bildungsarbeit der Kita das Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlicher Normalisierungserwartung in Bezug auf ein ‚schulreifes‘ Deutsch und der grundsätzlichen Orientierung der Elementarpädagogik an den Kompetenzen der Kinder aushalten muss, stellen das professionelle Handeln und die Qualifikation der Fachkräfte den zentralen Ansatzpunkt für die Kita dar, hier ein eigenes Profil zu entwickeln und mit einer eigenen Sprachförderkonzeption Position zu beziehen. Wie sich die Kita positioniert und was sie in ihrer sprachlichen Bildungsarbeit umsetzt, hängt somit von der Qualifikation, aber auch von den Orientierungen der Fachkräfte ab und spiegelt sich gleichzeitig in letzteren wider. Diesem Umstand tragen verschiedene Untersuchungen Rechnung, die sich mit der Haltung von Kitafachkräften in Bezug auf Mehrsprachigkeit beschäftigen. Neben den Erkenntnissen aus dem Projekt „Sprachentwicklung zweisprachiger Kinder im Elementarbereich“ von Reich (2008a) werden im Folgenden Ergebnisse einer Studie der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg vorgestellt sowie eine Untersuchung der Universität Luxemburg. Angesichts der zentralen Rolle der Fachkräfte bei der Entwicklung und Umsetzung einer mehrsprachigkeitsbezogenen Sprachförderkonzeption wurden im Rahmen des Projektes „Sprachentwicklung zweisprachiger Kinder im Elementarbereich“ (ebd.) vorab die Einstellungen von 60 mehr- und einsprachigen Erzieherinnen und Leiterinnen der beteiligten Kitas zur Mehrsprachigkeit untersucht. Anhand einer Fragebogenbefragung und ihrer quantitativen Auswertung wurde eine Faktorenanalyse durchgeführt, die vier mögliche Komponenten der Einstellung der Fachkräfte ergab: Die „multilingual-pädagogische Einstellung“, die „spracherhalts-offensive Einstellung“, die „assimilatorische Einstellung“ und die „kompensatorische Einstellung“ (vgl. ebd.: 252), die sich nicht gegenseitig ausschließen und z.T. auch ergänzen können. Dabei war die „multilingualpädagogische Einstellung“, die durch Zustimmung zu Statements wie „Zweisprachigkeit als Kompetenz“ oder „Kommunikation aller Kinder als Ziel der Sprachförderung“ gekennzeichnet ist, bei den Befragten die am häufigsten vertretene Komponente. Seltener vertreten war die „spracherhalts-offensive Einstellung“, die durch Zustimmung zu Statements wie „Zweisprachigkeit als Normalfall“ oder „Muttersprache lesen und schreiben lernen“ gekennzeichnet ist, und deren Vertreterinnen vor allem die Zweisprachigkeit der Kinder fördern möchten. Noch schwächer vertreten war die „assimilatorische Einstellung“, die die Vorstellung einer langfristigen Überwindung der Zweisprachigkeit zugunsten des Deutschen mit dem Ziel des ‚Mithaltenkönnens‘ in der Grundschule verband. Die vierte Komponente, auch schwach vertreten, war die „kompensatori-

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sche Einstellung“, die, statt Zweisprachigkeit als Ressource und Normalfall anzusehen, eher zusätzliche gezielte Sprachförderung für Mehrsprachige fordert mit dem Ziel, Defizite im Deutschen zu kompensieren und ein Mithalten in der Grundschule zu ermöglichen. Im Unterschied zur „assimilatorischen Einstellung“ sieht die „kompensatorische“ den Elementarbereich klar in der Verantwortung auch für die spätere Sprachentwicklung der Kinder. Die Verteilung der vier Komponenten in den Einstellungen der befragten Erzieherinnen zeigt, dass überwiegend eine Wertschätzung von Mehrsprachigkeit als Ressource vorhanden ist. Teilweise werden der Erhalt und die Förderung der Herkunftssprache vertreten, andererseits gibt es aber auch Stimmen für eine Bevorzugung des Deutscherwerbs im Hinblick auf die Schule. Ein weiteres wichtiges Ergebnis ist, dass die recht verbreitete grundsätzliche Offenheit für die Förderung von Mehrsprachigkeit einer von den Fachkräften selbst als eher gering eingeschätzten sprachspezifischen Förderkompetenz gegenübersteht. Die befragten Erzieherinnen und Leitungen verfügten diesbezüglich über ein eher niedriges Wissensniveau bei gleichzeitig ansehnlichen berufspraktischen Erfahrungen und einer hohen Fortbildungsbereitschaft (ebd.: 256). Fortbildungsinteressen bezogen sich vor allem auf theoretisches Hintergrundwissen und seine Systematisierung. Reich stellt in diesem Zusammenhang einerseits einen Mangel an professionellem Selbstbewusstsein fest, der aber mit einem klaren Professionalisierungsinteresse der Fachkräfte in Bezug auf Mehrsprachigkeitsförderung verbunden sei (ebd.: 257). Das Verbundprojekt der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg knüpft direkt an die Untersuchung von Reich und seine vier Komponenten der Einstellungen von Fachkräften an. In der Projektlaufzeit zwischen 2014 und 2017 wurde untersucht, inwieweit Einstellungen von Fachkräften sowie weitere Aspekte des Umgangs mit Mehrsprachigkeit durch Weiterbildung verändert werden können. Die „Effekte einer aktiven Integration von Mehrsprachigkeit in Kindertageseinrichtungen“ (IMKi) (Kratzmann u.a. 2017) wurden in einer dreijährigen längsschnittlich angelegten Interventionsstudie betrachtet. Neben der Ebene der Einrichtung (Prozess-, Struktur- und Orientierungsmerkmale im Hinblick auf Qualitäts- und auf Professionalisierungsaspekte) bezieht sich die Untersuchung auch auf die Ebene der drei- bis sechsjährigen Kinder (Sprachentwicklung), und auf die Ebene der Eltern (Integration). Die Studie arbeitet mit einer Experimental- und einer Kontrollgruppe, wobei die Intervention in beiden Gruppen in einer mehrtägigen Weiterbildung der Kitafachkräfte zum Umgang mit sprachlicher Vielfalt und Mehrsprachigkeit bestand, die allerdings unterschiedlich aufgebaut waren. Die einzelnen Erhebungen auf den drei Untersuchungsebenen wurden mit quantitativen

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Methoden durchgeführt und enthielten auf der Ebene der Kinder z.B. Sprachtests, standardisierte Kinder-, Eltern- und Fachkräftebefragungen, auf der Ebene der Einrichtung Fragebogenbefragungen der Fachkräfte und Rating- und Beobachtungsverfahren sowie auf Elternebene Fragebogenbefragungen. Auf der Ebene der Einrichtung wurden die Konstrukte „Sprachförderkompetenz“ und „pädagogische Qualität“ untersucht im Hinblick auf die Frage, welche Veränderungen in Orientierungs-, Struktur- und Prozessmerkmalen hier festzustellen sind, die auf die Intervention (Weiterbildung) zurückzuführen sind. Die Orientierungsmerkmale wurden mit dem von Reich (2007) entwickelten Fragebogen erhoben, der auch bei der oben dargestellten Untersuchung eingesetzt wurde, und es wurde damit ebenso von den vier Einstellungs-Typen „multilingualpädagogische Einstellung“, „spracherhalts-offensive Einstellung“, „assimilatorische Einstellung“ und „kompensatorische Einstellung“ ausgegangen. Ergebnisse des zweiten Messzeitpunktes im Frühjahr 2015, bei dem 119 Fachkräfte befragt wurden, bestätigen, dass die Einstellungen der Fachkräfte einen erheblichen Einfluss auf das pädagogische Handeln im Alltag haben (Kratzmann u.a. 2017). Auf der Performanzebene zeige sich ein positiver Zusammenhang zwischen multilingual-pädagogischen Einstellungen und der Integration von Mehrsprachigkeit in den Kitaalltag. Die assimilatorische Einstellung hingegen befürworte eher eine „Überwindung der Erstsprache zugunsten des Deutschen“ und die kompensatorische Einstellung habe die „Vorbereitung auf die Grundschule zum primären Ziel“ (ebd.: 253). Weiterhin zeigen die Ergebnisse der Studie, dass „Wissen über Mehrsprachigkeit […] bedeutsam für die Integration von Mehrsprachigkeit im pädagogischen Alltagsgeschehen“ ist (ebd.). Dieses Wissen wiederum werde vor allem über eine höher qualifizierte Berufsausbildung vermittelt, was die Bedeutung des Niveaus der Berufsausbildung für die Integration von Mehrsprachigkeit unterstreiche. Das Beherrschen einer weiteren Sprache neben dem Deutschen bei den Fachkräften selbst hingegen stehe nicht in einem direkten positiven Zusammenhang mit einer multilingual-pädagogischen Einstellung. Stattdessen wurde festgestellt, dass pädagogische Fachkräfte mit Kenntnissen in einer anderen Sprache häufiger assimilatorische und kompensatorische Einstellungen befürworten (ebd.). Der aktive und additive Umgang mit Mehrsprachigkeit liegt besonders dort auf der Hand, wo Mehrsprachigkeit nicht nur zur Realität in der Kita, sondern bereits zur Normalität in der gesamten Gesellschaft gehört. In Luxemburg, wo neben dem Luxemburgischen auch Deutsch und Französisch Amtssprachen sind und zudem sehr viele Kinder in portugiesischen und anderen Einwandererfamilien der ersten, zweiten oder dritten Generation aufwachsen, ist eine mehrsprachige Pädagogik daher ein besonders wichtiges Forschungsthema. Das For-

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schungsprojekt „Developing Multilingual Pedagogies in Early Childhood“ (MuLiPEC)8 an der Universität Luxemburg (Laufzeit: Mai 2016 bis April 2019) untersucht die Entwicklung multilingualer Sprachpraktiken von Kindern im Alter zwischen drei und sechs Jahren sowie die zugrundeliegende Pädagogik in den Institutionen. Die Ziele des Projektes sind einerseits die Entwicklung des Wissens und der Fähigkeiten von Erzieherinnen und Erziehern sowie Lehrkräften in Bezug auf Mehrsprachigkeit und auf wirksame pädagogische Konzepte sowie andererseits die Entwicklung der vielfältigen Sprachen der Kinder. Das Design des Projektes sieht dementsprechend zwei Säulen vor, die Professionalisierung der Fachkräfte durch Weiterbildung und Mentoring einerseits sowie die qualitativ-empirische Untersuchung der Praktiken der Fachkräfte und der Kinder andererseits. Die Weiterbildung der Fachkräfte baut auf der Idee auf, dass es Kindern ermöglicht werden sollte, im Sinne des Translanguaging (García/Wei 2014) ihr gesamtes sprachliches und nicht-sprachliches Repertoire einzusetzen, um zu lernen und zu kommunizieren. Lernen soll in diesem Zusammenhang durch Interaktion in vielfältigen Tätigkeiten ermöglicht werden, wobei eine aktive Auseinandersetzung mit Sprache zentral ist. Die Erwachsenen binden die Kinder dabei als Dialogpartnerinnen und -partner ein, orientieren sich an ihren mündlichen Kompetenzen und motivieren sie zum Sprechen und Denken, indem sie Erzählsituationen gestalten, Verhandlungsprozesse anstoßen, Gelegenheiten für kooperatives und symbolisches Spiel anbieten und die Kinder auch für Schriftsprache sensibilisieren und mehrsprachige Materialien anbieten. Die begleitende Erforschung der Praktiken von Fachkräften und Kindern findet u.a. in der Untersuchung von „Teacher beliefs“ (Levin/Wadmany 2006) statt, für die zunächst ein Fragebogen zu den Einstellungen der Fachkräfte in Bezug auf sprachliche Bildung und Einbezug der Familiensprachen eingesetzt wurde. Erste Ergebnisse zeigen, dass Mehrsprachigkeit hier an sich positiv gesehen wird, wobei nicht erwartet wird, dass dabei mehrere Sprachen perfekt beherrscht werden (Kirsch/Aleksic 2018). Es wird weitgehend ein positives Erleben der Mehrsprachigkeit angestrebt und die Familiensprachen der Kinder werden als wichtig anerkannt. Translanguaging, also der gleichzeitige Gebrauch mehrerer Sprachen als Nutzung des gesamten verfügbaren Repertoires für die Kommunikation und das Lernen, wird von den Befragten verbreitet als normale Praxis angesehen. Es gibt aber auch Stimmen, die die Verwendung von anderen Sprachen als Luxemburgisch in der Einrichtung als hinderlich für den Erwerb des Luxem-

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https://wwwde.uni.lu/recherche/flshase/education_culture_cognition_and_ society_eccs/projects_phd_theses_and_publications/mulipec_developing_ multilingual_pedagogies_in_early_childhood (zuletzt abgerufen am 26.05.2019)

Forschungsüberblick Sprachaneignung und Mehrsprachigkeit

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burgischen ansehen. Hier ergaben Korrelationsanalysen, dass jüngere Fachkräfte eher die Mehrsprachigkeit in den Einrichtungen befürworten, während Fachkräfte über 40 Jahre eher eine Konzentration auf das Luxemburgische für richtig halten. Obwohl in unterschiedlich starkem Maße auch die weiteren Familiensprachen der Kinder in den Einrichtungen verwendet und dieser Einsatz von einem Großteil der Befragten positiv gesehen wird, liegt der Fokus der Einrichtungen mehrheitlich in der Vermittlung von Luxemburgisch. Dies entspricht der traditionellen Rolle der Bildungseinrichtungen, die stets vor allem für die Förderung des Luxemburgischen zuständig waren. Dementsprechend haben die Fachkräfte für die Vermittlung des Luxemburgischen im pädagogischen Alltag klare Vorstellungen und geben z.B. an, dass sie viel auf Luxemburgisch sprechen, singen und erzählen. Beim Einbezug der nichtluxemburgischen Familiensprachen hingegen wird eine Verunsicherung darüber deutlich, wie die sprachliche Bildung hier gestaltet werden soll. Zwar geben die Fachkräfte an, dass diese Sprachen in der Einrichtung gesprochen werden. Damit ist jedoch häufig nur gemeint, dass einzelne Wörter gebraucht werden oder dass die Kinder untereinander ihre nichtluxemburgischen Familiensprachen verwenden. Andere Formen der sprachlichen Bildung, wie z.B. Geschichten erzählen oder singen, finden hingegen in diesen Sprachen eher selten statt. Dieser Befund zeigt, dass es auch hier einen hohen Bedarf an Weiterbildung und an Beispielen für gute und gelingende Praxis des Einbezugs von Familiensprachen gibt. Insgesamt sind solche sprachpädagogischen Konzepte, die Mehrsprachigkeit nicht nur oberflächlich wertschätzen, sondern explizit fördern, ebenso selten wie die Untersuchung der Einstellungen von Fachkräften zu Mehrsprachigkeit und Maßnahmen zur Weiterentwicklung einer dementsprechenden Sprachbildungskompetenz. Es gibt jedoch Untersuchungen, die das von Reich geschilderte Spannungsverhältnis zwischen der monolingualen Normalitätserwartung und der Förderung von Mehrsprachigkeit in der Kita zum Anlass nehmen, die dahinterstehende gesellschaftliche Sprachpolitik in den Fokus zu nehmen. So wird im Rahmen eines macht- und differenzanalytischen Diskurses um Mehrsprachigkeit und sprachliche Bildung genauer beleuchtet, wie Sprache als symbolisch aufgeladenes Zugehörigkeits- und Differenzmerkmal fungiert. In entsprechenden Untersuchungen hierzu wird der Umgang mit Mehrsprachigkeit in der Frühpädagogik macht- und differenztheoretisch analysiert. Im Folgenden wird diese Perspektive zunächst in ihren Grundzügen dargestellt, die auch an den im dritten Kapitel thematisierten Umgang mit heterogenen Entwicklungsumwelten in der Frühpädagogik anknüpfen. Daraufhin wird das Thema Sprache und Mehrsprachigkeit in diesem Zusammenhang wieder aufgegriffen.

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Mehrsprachigkeit und heterogene Entwicklungsumwelten aus migrationsgesellschaftlicher Perspektive

Bereits anhand der Qualitätsdebatte in der Frühpädagogik wurde deutlich, dass ein ethnozentrischer Blick auf Erziehungsvorstellungen und -praktiken dazu führen kann, dass die familiären Entwicklungsbedingungen vieler Kinder außen vor bleiben oder sogar als ‚defizitär‘ und ‚förderungsbedürftig‘ eingeschätzt werden (vgl. Kapitel 3.1). Eine ethnozentrische Perspektive birgt demnach die Gefahr, dass Erziehungsvorstellungen und Erwartungen derjenigen Eltern, deren sozioökonomische oder kulturelle Bezüge nicht denen der ‚Mehrheit‘ entsprechen, nicht wahrgenommen, missverstanden oder sogar pauschal als falsch bewertet werden. Eine Untersuchung der Gründe für die geringere Inanspruchnahme von U3-BBE durch Eltern ‚mit Migrationshintergrund’, die zeigt, dass sich Eltern vor allem mehr interkulturelle Öffnung und Einbeziehung der Mehrsprachigkeit wünschen würden, weist ebenfalls darauf hin, dass unterschiedliche Vorstellungen über gute Erziehung stärker in die Überlegungen über Qualität einbezogen werden müssten. Als Konsequenz daraus wird für die Praxis eine Weiterentwicklung des professionellen pädagogischen Handelns gefordert, damit es der Vielfalt gerecht wird. In der Frage, was die unterschiedlichen Erziehungsvorstellungen und familiären Bedingungen vor allem prägt, lassen sich indes unterschiedliche Schwerpunkte ausmachen. Einerseits wird in Anlehnung an eine kulturpsychologische Perspektive angenommen, dass die jeweiligen soziodemographischen Kontexte in Gesellschaften unterschiedliche kulturelle Modelle hervorbringen, die dann wiederum elterliche ‚Ethnotheorien‘ prägen (vgl. Kapitel 3.2). Andererseits werden die Migrationserfahrungen und Akkulturationsprozesse von Familien in den Mittelpunkt gerückt, sodass nicht nur eine ‚kultur-‘‚ sondern auch eine migrationsbezogene Untersuchung der familiären Entwicklungsumwelten der Kinder

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wichtig scheint (vgl. Kapitel 3.3). Damit wird betont, dass unterschiedliche Vorstellungen über Erziehung und Erwartungen an die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung nicht einfach an bestimmten ‚kulturellen‘ oder gar nationalen Zugehörigkeiten festzumachen sind, sondern mit Prozessen innerhalb der Migrationsgesellschaft zu tun haben. Die Annahme von allgemeinen, ‚normalen‘ oder ‚richtigen‘ Erziehungsvorstellungen und die pauschale Problematisierung von ‚anderen‘ Vorstellungen ist damit selbst ein Teil migrationsgesellschaftlicher Prozesse, die einer Reflexion bedürfen. Das Beharren auf einer vermeintlichen Normalität gepaart mit der Nichtanerkennung abweichender Vorstellungen und Entwicklungen wurde auch in Bezug auf die Aneignung von Sprache und die Zielsetzung von sprachlicher Bildung deutlich (vgl. Kapitel 4.2 und 4.3). Gesellschaftliche Normalitätserwartungen an ein ‚schulreifes‘ Deutsch bilden die Grundlage für bildungspolitische Empfehlungen und Sprachförderprogramme und können dazu führen, dass die Nutzung eines mehrsprachigen Repertoires pauschal problematisiert wird. Die frühkindliche Bildung befindet sich dadurch in einem Spannungsverhältnis zwischen einer grundsätzlichen Kompetenzorientierung, die den Kindern die Entwicklung ihres gesamten sprachlichen Repertoires ermöglichen will, und den Erwartungen der weiterführenden Bildungsinstitution Schule, die ausschließlich die Kompetenzen in der Mehrheitssprache ins Auge fasst. Nicht nur in Bezug auf Erziehung allgemein, sondern auch speziell in Bezug auf Spracherziehung bzw. sprachliche Bildung zeigt sich also, dass eine dominante Vorstellung von ‚normaler‘ Entwicklung dazu führt, dass Abweichungen als Defizite betrachtet werden. Die Förderung des gesamten sprachlichen Repertoires wird dadurch erschwert oder verhindert. Wie im Hinblick auf die Heterogenität von Erziehungsvorstellungen wird daher auch im Hinblick auf sprachliche Bildung eine Perspektiverweiterung gefordert, die sich in zweierlei Hinsicht ausformulieren lässt. Erstens müsste die Betrachtung der sprachlichen Fähigkeiten Mehrsprachiger über ein Messen ihrer Kompetenzen in Einzelsprachen und über den Vergleich mit einsprachigen Normen hinausgehen und stattdessen das gesamte sprachliche Repertoire der Kinder berücksichtigen. Zweitens müssten die dominanten gesellschaftlichen Ordnungen, die hinter der monolingualen Verengung auf eine Förderung schulreifer Deutschkenntnisse stehen, näher beleuchtet werden. Die Entstehung und Wirkungsweise von gesellschaftlichen Ordnungen in Bezug auf ‚kulturelle‘ und sprachliche Heterogenität, auf ‚andere‘ Erziehungsvorstellungen und mehrsprachige Entwicklungsumwelten, werden in der Perspektive der Migrationspädagogik genauer untersucht und auf pädagogisches Handeln bezogen. Hier wird der Frage nachgegangen, wieso bestimmte Norm-

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vorstellungen mit Macht ausgestattet sind und wie machtvolle Ordnungen auf den verschiedenen (pädagogischen) Ebenen durchgesetzt werden. Die migrationspädagogische Perspektive wendet damit den Blick weg von den ‚Anderen‘, deren Erziehungs-, Sprach- oder sonstiges Handeln als defizitär, diagnose- und förderbedürftig erscheint, hin zu denjenigen gesellschaftlichen Diskursen und Zugehörigkeitsordnungen, die die ‚Anderen‘ erst konstruieren und ihnen einen bestimmten Platz in der jeweiligen Handlungslogik zuweisen.

5.1 GRUNDBEGRIFFE UND ERKENNTNISINTERESSE Gegenstand der Migrationspädagogik sind Prozesse von Bildung und Erziehung unter migrationsgesellschaftlichen Bedingungen. Als migrationsgesellschaftliche Bedingungen werden gesellschaftliche Verhältnisse in den Blick genommen, die durch Migrationsphänomene angestoßen und durch natio-ethno-kulturelle1 Zugehörigkeitsordnungen geprägt werden. Die Durchsetzung dieser Ordnungen finde in einem „migrationsgesellschaftlichen Raum“ (Mecheril 2014: 12) statt und vollziehe sich als Eröffnung, Kanalisierung und Limitierung von Möglichkeitsräumen für Individuen anhand politischer, kultureller, rechtlicher und interaktiver Kontexte (ebd.). Erfahrungen in der Migrationsgesellschaft werden demnach in einer bedeutsamen Weise von natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnungen strukturiert. Diese Zugehörigkeiten und die “Bedingungen und Konsequenzen ihrer Herstellung“ (Mecheril u.a. 2010: 13) werden in der migrationsgesellschaftlichen Perspektive sichtbar. Sie untersucht Prozesse von Vereinseitigung, Differenzierung und Segregation sowie kulturelle Praxen, „in denen ‚Ausländer/innen‘, ‚Migrant/innen‘, ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘ als Fremde und ‚eigentlich nicht Zugehörige‘ konstruiert und behandelt werden“ (ebd.: 8). Der Zustand „nicht legitimierbarer Ungleichheit“ (Mecheril 2014: 11), der im migrationsgesellschaftlichen Raum durch Zugehörigkeitsordnungen und ent-

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Angesichts verschiedener Dimensionen von Zugehörigkeit (wie z.B. solche, die von Kategorien wie Geschlecht, soziökonomischer Status, Sexualität etc. zugewiesen werden) wird in der migrationspädagogischen Perspektive der Fokus der „natio-ethnokulturellen Zugehörigkeit“ (Mecheril u.a. 2010: 13) gewählt, wobei betont wird, dass die Bildungs- und Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten nicht allein von dieser Zugehörigkeit abhängig ist. Es gehe hier jedoch darum, „das Verhältnis von Migration und Pädagogik unter dem Thema natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit zu betrachten“ (ebd.: 15).

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sprechende Praxen hergestellt werde, spiegele sich auch in pädagogischen Institutionen, ihren Selbstverständnissen und Handlungsweisen wider. Die mit „Migration, Postkolonialität und Globalisierung verknüpften Differenzverhältnisse“ betreffen demnach „alle pädagogischen Bereiche und Handlungsfelder wie Elementarpädagogik, Schule, Erwachsenenbildung und alle pädagogischen Handlungsebenen, also Organisationsformen, Methoden, Inhalte wie auch Kompetenzen pädagogischer Professionalität“ (Mecheril 2015: 35). Die Eröffnung und Limitierung von Möglichkeitsräumen anhand migrationsgesellschaftlicher Zugehörigkeitsordnungen schließt damit auch den Zugang zu Bildung und die Erfolgsaussichten von Bildungskarrieren ein und vollzieht sich anhand von Interaktionen in Bildungszusammenhängen auf den verschiedensten Ebenen. Daher nimmt die Migrationspädagogik genau diese Prozesse und Praxen in den Blick, die natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen im Kontext von Bildung und Erziehung reproduzieren und dazu beitragen, dass Bildungsprozesse ermöglicht oder verhindert werden (ebd.: 36). Die grundlegenden Fragen der Migrationspädagogik sind demnach: • Wie sehen die relevanten natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnungen in

der Migrationsgesellschaft aus und welche Differenzlinien ziehen sie? • In welchen Kontexten, anhand welcher Praktiken und Interaktionen werden Menschen im Zusammenhang mit diesen Zugehörigkeitsordnungen unterschieden und so positioniert, dass ihnen unterschiedliche Möglichkeitsräume eröffnet bzw. verschlossen werden? • Was ist der Beitrag der Pädagogik zur (Re-)Produktion dieser Zugehörigkeitsordnungen und auf welchen Ebenen von Bildung und Erziehung vollzieht er sich auf welche Weise? • Welche Möglichkeiten der Veränderung und Schwächung natio-ethnokultureller Zugehörigkeitsordnungen gibt es und wie können sie entwickelt werden? (vgl. Mecheril u.a. 2010: 15) Subjekt-Bildung in der Migrationsgesellschaft Für alle vier Fragen von zentraler Bedeutung sind der Begriff des migrationsgesellschaftlichen Subjektes und der Prozess der Subjektivierung, der den Vorgang bezeichnet, in dem aus Individuen Subjekte (gemacht) werden (Mecheril 2014: 17). In der Migrationspädagogik wird von einem postmodernen Begriff des Subjektes ausgegangen, das in einem diskursiv vermittelten Vorgang hervorgebracht „und in dieser Hervorbringung bereits den normativen Vorgaben des Sozialen unterworfen“ wird (ebd.: 16). Dieses Verständnis geht u.a. auf Butler (2001), Foucault (1994) und Althusser (1977) zurück. Der Prozess der Subjektwerdung

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wird damit als ein „Zusammenspiel zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen“ verstanden, „bei dem den Akteuren und Akteurinnen aufgrund der historisch entstandenen Machthierarchien der Gesellschaft unterschiedliche Handlungsspielräume und Deutungshoheiten zur Verfügung stehen“ (Dirim/Heinemann 2016: 118). Die in den grundsätzlichen Fragestellungen der Migrationspädagogik durchscheinende Dialektik von Unterworfen-werden, Selbstunterwerfung und Möglichkeiten ihrer Überwindung fußt auf Butlers Konzept der Subjektivation (Butler 2001). Butler untersucht sowohl die diskursiv-gesellschaftlichen als auch die individuell-psychischen Mechanismen der Subjektkonstitution in ihrer grundlegenden Ambivalenz. Ein Individuum wird demnach erst zum handlungsfähigen Subjekt, indem es sich Instanzen der Macht unterwirft. Der Prozess dieser Unterwerfung wird durch Anrufungen vollzogen, auf die das Subjekt reagiert, womit es sie erstens bestätigt und zweitens Handlungsfähigkeit erlangt. Der Begriff der Anrufung geht auf Althusser (1977) zurück, der damit die Diskursivität der Positionszuweisung unterstrich. Die Subjektwerdung beinhaltet also gleichzeitig die Anerkennung von höheren Machtinstanzen durch das Individuum in Form der Reaktion auf Anrufungen, als auch die Erlangung von Handlungspotenzial gegenüber diesen Machtinstanzen. Butler unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei Erscheinungsformen der Macht, nämlich die, die auf das Subjekt ausgeübt wird und eine Bedingung seiner Handlungsfähigkeit darstellt, und die Macht, die vom Subjekt angenommen und von ihm selbst ausgeübt wird und damit eine Aktualisierung seiner Handlungsfähigkeit bedeutet (Butler 2001: 16). Diese Aktualisierung der Macht in der Handlungsfähigkeit des Subjektes ist aber mehr als die bloße Reproduktion und Bestätigung der das Subjekt bedingenden Macht. Die Entwicklung von Handlungsfähigkeit im Prozess der Subjektivation ist also zwar von Unterwerfung geprägt, in ihr ist aber auch „eine Art Überschuss enthalten, der über die Macht hinausweist“ (Koller 2014: 26), und sie zu einer potenziell widerständigen Handlungsfähigkeit macht. Die Migrationspädagogik betreibt in diesem Sinne eine „kulturwissenschaftliche Subjektanalyse“ (Mecheril/Rose 2014), die die Macht von Differenzordnungen in Prozessen der Subjektivierung beleuchtet und gleichzeitig eine subversive Handlungsfähigkeit der so entstehenden Subjekte voraussetzt. Untersucht werden gesellschaftliche Bedingungen, unter denen Subjekte entstehen (können), in ihrer historisch-spezifischen Machtförmigkeit (Rose 2014: 60) und Subjektivierungsprozesse, in denen „einzelne vermittels der Erfahrungen, die sie machen, sich in ihrem alltäglichen Handlungs- und Symbolraum positionieren und […] positioniert werden“ (Mecheril/Rose 2014: 130). Subjektivierung wird so als Selbstherstellungsprozess verstanden, bei dem sich das Subjekt wieder und

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wieder auf seine sprachlich konstruierte Subjektposition beziehen muss. Es sucht nach Anerkennung seiner eigenen Existenz in Kategorien, die es nicht selbst hervorgebracht hat (ebd.: 141). Die dabei entstehenden „‚Subjektivitäten‘ sind Ergebnisse machtvoller Prozesse einer Subjektivierung, die entlang zumeist binär strukturierter und hierarchisch organisierter Differenzordnungen realisiert wird. Das Funktionieren solcher hegemonialen Verhältnisse wird durch kulturelle Selbstverständlichkeiten gestützt, die sie ‚natürlich‘ erscheinen lassen.“ (Mecheril 2014: 17). Eine solche Differenzkategorie stelle z.B. die Unterscheidung in ‚Migrant‘ und ‚Nicht-Migrant‘ dar, die über dominante gesellschaftliche Diskurse im juristischen, bildungsbezogenen, alltagspraktischen und vielen weiteren Bereichen gültig gemacht werde. Im Rahmen dieser Diskurse und der entsprechenden Praktiken z.B. im Bildungskontext werden Kinder als Migrantin oder Migrant angerufen, wenn sie – anders als diejenigen, die als Nicht-Migrantin oder Nicht-Migrant gelten – beispielsweise nach ihrer Herkunft gefragt werden oder über ‚andere‘ Länder Auskunft geben sollen. Indem Kinder und Jugendliche dann im Laufe der vielen Gelegenheiten von Anrufungen als ‚Migrant‘ oder ‚Migrantin‘ diese zur Selbstpositionierung nutzen, reproduzieren sie eine Differenzkategorie, die sie nicht selbst hervorgebracht haben, zu deren Verschiebung sie aber u.U. beitragen können. Für die Auseinandersetzung mit migrationsgesellschaftlichen Subjektivierungsprozessen sind vor allem auch solche Anrufungen im Sinne Althussers und Butlers als Positionszuweisungen zentral, die an koloniale und rassistische Traditionen anschließen. Rassismus als allgemeine strukturelle Logik des gesellschaftlichen Zusammenhangs steht somit als „Matrix der Subjektivierung zur Verfügung“ (Mecheril/Rose 2014: 135) und kann als einer ihrer Kontexte verstanden werden. Im Sinne einer rassistischen Differenzordnung vollziehe sich ein „Othering-Prozess“ (ebd.), in dem bestimmte Merkmale von Subjekten relevant gesetzt werden, sie damit als ‚Andere‘ angerufen und gleichzeitig hierarchisiert werden, wie z.B. in der Differenzierung ‚Migrant/Nicht-Migrant‘. „Der Begriff Othering kennzeichnet Prozesse, in denen von einer unmarkierten und als unproblematisch geltenden Sprecherposition […] aus der und die ‚Andere‘ entworfen und beurteilt wird“ (ebd.: 136). Die dominanten Diskurse, die diese Othering-Prozesse betreiben, wirken dabei auch auf die Selbstbeschreibungen oder -thematisierungen dieser ‚Anderen‘ ein und bewirken bei ihnen eine „Internalisierung des Selbst als Anderes“, so Mecheril und Rose (ebd.). Die Zugehörigkeitsordnung der deutschen Migrationsgesellschaft wird demnach von legitim erscheinenden Unterscheidungen wie der in ‚Migrant‘ und ‚Nicht-Migrant‘ ge-

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stützt, die „nicht nur selbstverständliche, sondern in ihrer Selbstverständlichkeit unmerkliche Verhältnisse der Asymmetrie“ darstellen (Mecheril 2014: 17)2. Welche bedeutsame Rolle pädagogische Institutionen bei dieser „Vernatürlichung von subjektivierenden Zugehörigkeitsordnungen“ (ebd.) und der Internalisierung des Selbst als Anderes spielen, zeigt eine Untersuchung von Rose (2014). In ihrer kulturwissenschaftlichen Subjektanalyse untersucht sie die Verschränkung von Subjektivierung und Bildung anhand von rassismusrelevanten Anrufungen im Unterrichtskontext und geht einerseits der Frage nach, als wer und wie jemand mit welchen Effekten angerufen wird, und andererseits der Frage, wie biographisch mit diesen Anrufungen umgegangen wird bzw. welche Effekte wiederum dieser spezifische Umgang hat (ebd.: 58). Im Rahmen ihrer Studie, in der sie narrative biographische Interviews mit Schülerinnen und Schülern analysiert, untersucht sie u.a. das vermeintliche Lob einer Lehrerin an einen Schüler: „Für einen Ausländer gar nicht mal schlecht“ (ebd.: 59). In der Analyse zeigt sich erstens, dass der Schüler mit diesem vermeintlichen Lob als Einzelperson verkannt und stattdessen als Repräsentant einer Gruppe angerufen wird, der der Kollektiv-Kategorie ‚Ausländer‘ zuzuordnen ist. Zweitens werde diese Gruppe mit einer Defizitorientierung verbunden, in der angenommen wird, ‚ausländische‘ Schülerinnen und Schüler seien im Allgemeinen weniger leistungsfähig und müssten daher nach einem anderen Maßstab bewertet werden. Mit dem vermeintlichen Lob der Lehrerin werde also eine „verallgemeinernde, distanzierende und abwertende“ (ebd.: 67) Normalitätsvorstellung aufgerufen, die konkrete Dominanz im Unterricht deutlich macht, aber auch „allgemeinere, gesamtgesellschaftlich relevante Positionierungen und damit verbunden Zuschreibungen enthält“ (ebd.). In einem weiteren Schritt fragt Rose danach, „wie solchen Fixierungsversuchen – die grundsätzlich auf ihre Wiederholung angewiesen sind – begegnet wird, ob und wenn ja wie auf diese Anrufungen geantwortet wird, und auch wie solche Fixierungsversuche praktisch unterlaufen werden (können)“ (ebd.: 68). Anhand eines kurzen zitierten Interviewausschnitts, in dem der Schüler das vermeintliche Lob der Lehrerin mit „Boh. (.) O.k. hart!“ (ebd.: 72) kommentiert, zeigt Rose, wie sich der Schüler gegenüber der Anrufungspraxis distanziert, „die darin genutzte Zuschreibung klar als Problematische“ ausweist und der Lehrerin

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Der Exkurs am Anfang dieser Arbeit über das Zustandekommen und diskursive Wirken der Bezeichnungspraxis ‚mit Migrationshintergrund‘ blickt hinter die Kulissen genau eines solchen Othering-Prozesses und macht deutlich, wie eine unkritische Verwendung der Begrifflichkeit ‚mit Migrationshintergrund‘ zu einer „Vernatürlichung“ dominanter Zugehörigkeitsordnungen führen würde.

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die Verantwortung für die Verletzungen und Zumutungen, die damit einhergehen, zuweist (ebd.: 73). Über das Stilmittel der Skandalisierung zeigt der Interviewpartner laut Rose, „dass und auch in etwa was an dieser Adressierung als ‚Ausländer‘ problematisch, verletzend, und empörend, kurz diskriminierend ist“ (ebd.). Des Weiteren werde anhand anderer Stellen im Interview aber auch deutlich, wie die Kategorie ‚Ausländer/-in‘ von dem Schüler zur Selbstbeschreibung und Selbstidentifizierung genutzt wird, und wie sie dabei eine klar veränderte Bedeutung aufweist: „Als Identifizierung artikuliert wird die Kategorie ‚Ausländer/-in‘ nämlich als eindeutig positiv konnotierte, offensive und eher andere herausfordernde Positionierung in der Migrationsgesellschaft formuliert“ (ebd.). Der Status des Ausgeschlossen- und Abgewertet-Seins, der in dieser Verwendung der Kategorie ‚Ausländer/-in‘ angenommen wird, werde dabei genutzt, um auf Diskriminierungserfahrungen hinzuweisen und sie öffentlich zu problematisieren. Es finden sich also laut Rose in der Selbstbeschreibung als ‚Ausländer/-in‘ sowohl Aspekte des Affirmativen wie des Subversiven. Dies kann als Beispiel einer „Resignifizierung“ gelesen werden, die Rose mit Butler als veränderte und verändernde „Wiedereinschreibung von Bedeutungen in den Diskurs“ versteht (ebd.: 69). Resignifizierung berge die Möglichkeit einer „Fehlaneignung von Normen, […] die in der Wiederholung des vermeintlich ‚Gewöhnlichen‘ etwas ‚nicht-gewöhnliches‘ (sic!) hervorzubringen“ (ebd.) vermöge. So könne mithilfe des skandalisierenden Erzählgestus des Schülers im Interview und mit seiner „Umwertung des herabwürdigenden ‚Ausländer/-in‘-Begriffs eine offensive Positionierung als ‚Migrationsanderer‘ zur Geltung gebracht [werden], von der aus sich diskriminierende Verhältnisse gerade ausweisen und öffentlich anklagen lassen“ (ebd.: 74). Im Sinne einer erziehungswissenschaftlichen Bildungsforschung schlägt Rose vor, Subjektivierungsprozesse im Kontext von Migration auch als Bildungsprozesse zu verstehen. Die Tatsache, dass in diesem Zusammenhang gesellschaftlich relevante Normalvorstellungen, die die Subjekte entstehen lassen und dabei mögliche Subjektkonstitutionen begrenzen, durch sprachliche wie körperliche Resignifizierung unterlaufen und verschoben werden können, mache Resignifizierung selbst zu einem zentralen Moment von Bildung: Bildung wäre damit „vor allem als Vorgang der Infragestellung und Verschiebung der diskursiven Bedingungen des menschlichen Seins“ zu verstehen (ebd.: 70f). Subjektivierung im Modus des Hybriden Der Begriff eines migrationsgesellschaftlichen Subjektes, das anhand von natioethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnungen und durch Anrufungen positioniert

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wird und sich im Aufgreifen dieser selbst positioniert, stellt auch den herkömmlichen Begriff von Identität infrage. Identität wird in diesem Zusammenhang als „Ergebnis machtvoller Prozesse einer Subjektivierung, die entlang zumeist binär strukturierter und hierarchisch organisierter Differenzordnungen realisiert wird“ verstanden (Mecheril 2014: 17). Mit diesem Verständnis von Identität lässt sich das Konstrukt der ‚kulturellen Identitäten‘ entkräften, die „auf der ‚Zugehörigkeit‘ zu ethnisch, ‚rassisch‘, sprachlich, religiös und vor allem national definierten ‚Kulturen‘ basieren“ und deren zentraler Bezugspunkt das Konstrukt der ‚Nation‘ ist (Hall 1999: 249). Besonders deutlich wird ein solches postkoloniales Verständnis von Identität am Begriff der ‚hybriden Identitäten‘, mit dem in der erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung Selbstverortungen und individuelle Identifikationen migrationsgesellschaftlicher Subjekte beschrieben werden (Fürstenau/Niedrig 2007: 248). Fürstenau und Niedrig untersuchen transnationale Selbstverortungen Jugendlicher und stellen dabei fest, dass junge Migrantinnen in ihrer individuellen Identifikation dominante bzw. herrschaftslegitimierende Deutungsmuster durchkreuzen und in Frage stellten, indem sie sich als mehrfachzugehörig identifizieren (ebd.: 260). Anhand der exemplarischen Analyse zweier Interviews zeigen sie, dass sich „jugendliche Transmigrantinnen in dominante national-kulturelle Repräsentationsprozesse einschreiben bzw. in ihnen verorten“ (ebd.: 259), und dass dabei unterschiedliche diskursive Modi ineinandergreifen. Einerseits wird der Modus der kulturellen Homogenisierung deutlich, „der im Bezug auf eine weltweite Jugendkultur über ‚universal‘ erscheinende Markierungen (z.B. Kleindung, Musikstile) funktioniert, die allerdings stark von westlichen Konsumgütern und Medienprodukten geprägt sind“ (ebd., Hervorh. im Original). Zweitens wirkt der „Modus des Partikular-Ethnischen“, der sich „in einem Rekurs auf ‚kulturelle Wurzeln‘, ‚kulturelle Reinheit‘ und ‚Tradition‘ artikuliert“ (ebd.). In Abgrenzung zu beiden Modi arbeiten Fürstenau und Niedrig aus ihren Interviews aber auch den „Modus des ‚Hybriden‘“ heraus, der sich dadurch auszeichnet, „dass Verbindungen zwischen offenkundig disparaten und widersprüchlichen Deutungsangeboten hergestellt und dadurch auch die Bedeutungen der reartikulierten Elemente transformiert werden“ (ebd.). So finden sich z.B. in beiden Interviews Rückgriffe auf ethnisch-essentialisierende Deutungsmuster, die durch „eine jeweils spezifische Reartikulation widersprüchlicher Elemente aber zugleich durchkreuzt [werden]. Beide Jugendliche erörtern darüber hinaus in Abgrenzung zu dominanten nationalen Identitäten, die auf Eindeutigkeit und Homogenität hin angelegt sind, innovative ‚grenzüberschreitende‘ WirKonstruktionen, die auf der Identifikation mit anderen Jugendlichen in transnationalen und uneindeutigen Lebenslagen basieren“ (ebd.).

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Der Modus des Hybriden, wie ihn Fürstenau und Niedrig beschreiben, macht wiederum die im migrationsgesellschaftlichen Subjektbegriff innewohnende Möglichkeit der Subversion sichtbar. Hybridität und Mehrfachzugehörigkeit lassen sich damit als subversive Praktiken verstehen, die sich „binären Differenzlogiken gegenüber sperren“ (Kleiner/Rose 2014: 9). Wie bereits anhand der Untersuchung von Rose (2014) deutlich wurde, können Subjekte auch auf Anrufungen reagieren, indem sie die damit einhergehenden Verletzungen und Zumutungen deutlich machen und zurückweisen. Die dennoch stattfindende Positionierung anhand dominanter natio-ethno-kultureller Zugehörigkeitsordnungen kann, so zeigen die Ergebnisse von Fürstenau und Niedrig, in einer Selbstverortung aufgegriffen werden, die sich nicht nur am dominanten Konstrukt homogener ‚kultureller‘ Identität orientieren muss. Im Rahmen einer ‚hybriden‘ Identitätsbildung scheint es vielmehr möglich, dass unterschiedliche Bezüge von den Subjekten selbst relevant gemacht werden, und dass auch dominante Zugehörigkeitsordnungen zwar aufgegriffen, aber zumindest teilweise durch Resignifizierung mit neuen Bedeutungen versehen werden. Diese Erkenntnisse legen in Bezug auf den hier vorliegenden Gegenstand wiederum nahe, die familialen Entwicklungsumwelten, die für die frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung relevant sind, in ihrer Vielschichtigkeit nicht zu unterschätzen. Bereits im dritten Kapitel wurden Ansätze vorgestellt, die die Heterogenität familialer Entwicklungsumwelten auszuleuchten versuchen. Einige dieser Ansätze gehen von kulturellen Modellen aus, die sich auf soziodemographische Hintergründe beziehen, andere hingegen betonen, dass auch Migrationserfahrungen und Prozesse der Akkulturation als wichtige Bedingungen des Aufwachsens betrachtet werden müssten. Die migrationspädagogische Perspektive ermöglicht nun eine Erweiterung des Blicks auf familiale Entwicklungsumwelten, einerseits im Hinblick auf ein als Subjektivierung verstandenes Aufwachsen, und andererseits im Hinblick auf die Möglichkeit der Selbstpositionierung im ‚Modus des Hybriden‘. Unter Bezugnahme auf den migrationspädagogischen Subjektivierungsbegriff lassen sich gesellschaftliche Ordnungen aufzeigen, die die familialen Entwicklungsumwelten prägen, sowie Prozesse und Praktiken analysieren, in denen dominante Zugehörigkeitsordnungen für dieses Aufwachsen relevant werden. Der ‚Modus des Hybriden‘ birgt außerdem die Möglichkeit, die Bezüge, die von den Subjekten selbst relevant gemacht werden, zu untersuchen und dabei sichtbar zu machen, ob und wie im Rahmen der Gestaltung der familialen Entwicklungsumwelt subversive Resignifizierungen von dominanten Ordnungen stattfinden.

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5.2 SPRACHE ALS DIFFERENZMERKMAL Welche zentrale Rolle die Sprache bei der Verknüpfung des Individuums mit übergreifenden Bedeutungssystemen spielt, wurde ebenfalls bereits im dritten Kapitel deutlich. Ebenso die Erkenntnis, dass Sprache hier einerseits als ‚Transportmittel‘ fungiert und andererseits selbst von übergreifenden Bedeutungssystemen geprägt wird. Auch in der migrationspädagogischen Perspektive kommt der zentralen und vielschichtigen Rolle der Sprache besondere Aufmerksamkeit zu. Dabei zeigt sich einerseits, dass Sprache(n) und der Umgang mit Mehrsprachigkeit zentrale Aspekte im Rahmen von migrationsgesellschaftlicher Subjektivierung und Identitätskonstruktion sind. Andererseits zeigt sich, dass Sprache(n) zwar als Träger dominanter Zugehörigkeitsordnungen fungieren, aber auch für die Überwindung derselben und für die Konstruktion hybrider ‚Sprachidentitäten‘ genutzt werden können. In diesem Zusammenhang wird für eine Betrachtung der Aneignung von Sprache im Rahmen einer migrationsgesellschaftlichen Mehrsprachigkeit plädiert, die sich von monolingualen Normalvorstellungen abgrenzt. Zunächst jedoch soll auf den ersten Aspekt eingegangen und gezeigt werden, inwiefern Sprache in der Migrationsgesellschaft als „symbolisch aufgeladenes Zugehörigkeits- und mithin Differenzmerkmal“ (Dirim/Heinemann 2016: 118) wirkt. Im erziehungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Diskurs lässt sich dies anhand der herrschenden Normalitätsvorstellung und der daran anschließenden Fokussierung von Förderpraxen auf eine Angleichung an diese Normalitätsvorstellung zeigen. Des Weiteren werden in Bildungskontexten Praxen der Ausgrenzung durch Relevantmachung von Sprache und Sprachbeherrschung sichtbar, die mit den Begriffen Linguizismus bzw. Neolinguizismus beschrieben werden. Die Fokussierung auf die Förderung des Deutschen bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern und Jugendlichen, wie sie auch im Kitakontext bereits deutlich wurde (vgl. Kapitel 4.3), hat laut Dirim und Mecheril (2010) im erziehungswissenschaftlichen Diskurs stets eine zentrale Rolle eingenommen. Schon das bis in die 1980er Jahre vorherrschende Paradigma der Ausländerpädagogik sei einer „kompensatorischen Sprachförderprogrammatik“ (ebd.: 99) verpflichtet gewesen und seit der Veröffentlichung der ersten PISA-Studien werde wiederum vor allem die „Verbesserung der ‚Sprachkompetenz‘ im Deutschen“ (ebd.) als Mittel zur Erhöhung der Chancengleichheit für Kinder ‚mit Migrationshintergrund‘ verfolgt. Diese Verengung der Perspektive auf sprachliche Kompetenzen in der Mehrheitssprache sei einem Verständnis von Sprache geschuldet, das von den Perfektions- und Normorientierungen sowie den „Normierungsversuchen

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der Nationalsprachen“ geprägt sei (ebd.: 102). Dadurch würden die gesellschaftliche und die soziale Bedeutung von Sprache und deren Machtdimension ausgeblendet. Darüber hinaus würden sprachliche Fähigkeiten in einer weiteren Verengung anhand einer idealistisch konstruierten Vorstellung von Sprache beurteilt, die „den unrealistischen Anspruch entstehen lässt, dass die Sprachen nicht nur gleich gut, sondern auch sehr gut beherrscht werden müssen“ (ebd.). Differenzlinien entstünden dabei nicht nur anhand der Frage, ob eine Sprache in einer gesellschaftlich geforderten Form beherrscht würde, sondern auch, ob die beherrschte Sprache selbst eine anerkannte Sprache ist. Dass gute sprachliche Fähigkeiten in der Mehrheitssprache für den Erfolg der Bildungskarriere erforderlich sind, wird dabei nicht in Zweifel gezogen. Der erweiterte Blick auf die migrationsgesellschaftlichen Zusammenhänge und die ausgrenzenden Effekte der herrschenden Normorientierung zeige jedoch auch, dass Bildungsmöglichkeiten durch sie eher begrenzt denn erweitert werden. Die Tatsache, dass Bildungsinstitutionen in Deutschland mit einer sprachlichen ‚Normalisierung‘ im Sinne von Einsprachigkeit beauftragt sind, stellen Dirim und Mecheril in einen Zusammenhang mit dem historischen Prozess der Durchsetzung der Idee der Nation ab dem 18. Jahrhundert. Im Zuge dieses Prozesses habe die deutsche Sprache den wichtigsten „Grundzug gemeinsamer Kultur“ dargestellt, „der die Einheit der Deutschen als ‚Volk‘“ anzeigte (ebd.: 106). Die nationale Schule sei hierbei ein zentraler Ort gewesen, an dem über die Homogenisierung der Sprache eine nationale Sprachgemeinschaft hergestellt wurde, die die Begründung eines national konstruierten ‚Wir‘ unterstützte und die Möglichkeit zu Identifikation und Zugehörigkeit bot. Im so entstandenen monolingual verfassten Nationalstaat habe die Gleichsetzung von ‚Volk‘, ‚Sprache‘ und ‚Nation‘ zu einem „legitim wirkenden Zwang von sprachlicher Vereinheitlichung und zur Wahrnehmung von Mehrsprachigkeit als Bedrohung“ (ebd.: 108) geführt. Auch heute begründe und befördere die nationale Schule die Vorrangstellung der offiziellen Sprache und verwandele dabei „bestehende Unterschiede zwischen den Sprechweisen der Schüler […] in soziale Ungleichheiten“ (ebd.: 107). Die Schule stehe für die Ausbildung des als legitim verstandenen Sprachvermögens, der Beherrschung eines ganz bestimmten Deutsch: Eltern, „deren Erstsprache nicht Deutsch ist und die über wenig Ressourcen verfügen, diesen Mangel zu kompensieren“ sind demnach „nur schwer in der Lage“, dieses Deutsch „zu vermitteln, auch wenn sie mit ihrem Kind Deutsch sprechen. […] Dies verschärft die Problematik des sprachlichen Konflikts, in den Eltern und Kinder geraten, sobald sie Mitglieder der Institution Schule werden, und dessen Verlierer sie mit großer Wahrscheinlichkeit werden […]“ (ebd.: 108). Unter-

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schiede in sprachlichen Dispositionen würden durch diese Unterscheidungen und Benachteiligungen in ungleiche Chancen umgewandelt und trügen so zu einer Verfestigung von Differenzen bei. Anhand der sprachlichen Normalitätsvorstellungen der Schule werde deutlich, wie „im Disput über die Sprache(n), die als legitime Sprache(n) […] gilt (gelten)“ ein „Kampf um Zugehörigkeiten“ (ebd.: 105) ausgetragen wird, in dem es darum gehe, wer ‚zu uns‘ gehört und wer ‚wir‘ eigentlich sind. Auch Dirim und Heinemann (2016) zeigen, wie Sprache als zentrales Differenzmerkmal herangezogen wird, um Über- und Unterordnungen herzustellen. Die Gleichsetzung von Sprache, Volk und Nation sei historisch so gefestigt, dass sie als normal gelte. Diese Normalitätsannahme der Einsprachigkeit in der Nationalsprache manifestiere sich in einem „monolingualen Habitus“ (Gogolin 1994), der genutzt werde, um Einbezug und Ausschluss zu legitimieren, sodass Menschen aufgrund ihrer migrationssprachlichen Differenz zur dominanten Nationalsprache ausgegrenzt würden. Anhand einer Interviewstudie mit Dozentinnen und Dozenten an pädagogischen Hochschulen in Österreich zeigen Dirim und Heinemann, dass hier Lehramtsstudierende bevorzugt werden, die keine migrationssprachlichen Merkmale in ihrer Sprache aufweisen, wobei hingegen dialektale Merkmale in der Nationalsprache Deutsch von den Interviewten nicht als problematisch gesehen werden. Dies stellt für sie eine „empirische Evidenz [dar] für die Ausgrenzung von Menschen auf Grund migrationssprachlicher Differenz zu Formen der dominanten Nationalsprache und die Nutzung dieser Differenz für deren Festlegung auf eine Vorstellung von minderer Sprachkompetenz“ (Dirim/Heinemann 2016: 112). Des Weiteren zeige sich, dass Sprache auch in einen Zusammenhang mit ethnischer Zugehörigkeit gebracht und im Hinblick auf sie symbolisch wirksam gemacht werde. So würde bei migrationsbedingt mehrsprachig aufwachsenden Schülerinnen und Schülern versucht, Schwierigkeiten in der Wissensaneignung durch die unvollständige Aneignung ‚ihrer Erstsprache‘ zu erklären. Durch die Argumentation, diese Kinder könnten in der deutschsprachigen Schule nicht richtig mithalten, weil sie ‚ihre Muttersprache‘ nicht richtig gelernt hätten, werde die Zuständigkeit für sie mit Verweis auf ‚ihre eignen Sprachen‘ „aus der Verantwortung der Wissensvermittlung in der nationalen Schule exkludiert“ (ebd.: 112). Migrationssprachen würden so genutzt, um Ausschluss zu legitimieren: „Damit werden Migrationssprachen als Differenzmerkmal auf eine solche Art und Weise bedeutsam (gemacht), dass mit ihnen Gruppen von Schülerinnen und Schülern konstruiert werden, die vom Ausschluss bedroht sind“ (ebd.). Diese Zuschreibung und Nutzung des Differenzmerkmals Sprache gehe mit einer Naturalisierung sozialer Differenz einher

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und könne als spezielle Form des Rassismus, als „Linguizismus“ oder „NeoLinguizismus“ verstanden werden (ebd.: 113).

5.3 MIGRATIONSGESELLSCHAFTLICHE ‚SPRACHIGKEIT‘ Neben der Analyse der dominanten Diskurse um sprachliche Fähigkeiten, in denen eine sprachliche Homogenisierung forciert wird, beschäftigt sich die migrationspädagogische Perspektive mit alternativen Herangehensweisen an migrationsgesellschaftliche Mehrsprachigkeit. In diesem Zusammenhang vertreten Dirim und Mecheril (2010) die Vorstellung einer „Innere(n) Mehrsprachigkeit“ (ebd.: 103), durch die Sprechende auch schon in einer Sprache in der Lage seien, ihre Mitteilungen in Abhängigkeit von Beziehungen zu den Adressaten, von sozialen Stellungen, von Altersunterschieden etc. zu variieren. Jeder Mensch eigne sich Dialekte, Soziolekte, Ethnolekte und Fachsprachen an und daher müsse man Sprache nicht als „homogenen Block“ verstehen, „sondern als komplexes Geflecht, das spezifische Mittel für unterschiedliche Kommunikationssituationen bereithält“ (ebd.: 104). Im Falle von Zwei- und Mehrsprachigkeit beinhalte diese „interaktive Gestaltung eines Kontextes“ eben auch die „Wahl der passenden Sprache oder Sprachkombination“ (ebd.). Damit verschiebt sich der Fokus weg von Sprachbeherrschung im Sinne einer an Nationalsprachen orientierten Normierung hin zur Aneignung der adäquaten sprachlichen Mittel für die Gestaltung verschiedener Kontexte. Das Gelingen dieser Aneignung hängt laut Dirim und Mecheril davon ab, ob soziale und pädagogische Verhältnisse ausreichende Lerngelegenheiten bieten, um eine angemessene Entfaltung von Sprache zu ermöglichen. Wie solche unterschiedlichen Kontexte sprachlich gestaltet werden, zeigen Dirim und Mecheril am Beispiel von kreativen Sprachformen, die in der Migrationsgesellschaft entstehen, wie z.B. ein ethnolektaler Deutschgebrauch. Die Verbreitung von Ethnolekten zeige auch, wie Sprachen, die in der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ wenig anerkannt sind, durch „migrationssprachliche Neuformation, an der Migrationsandere und Nicht-Migrationsandere gemeinsam teilhaben“ (ebd.: 113), im alltagssprachlichen Gebrauch eine neue Wertigkeit bekommen können. Auch seien die Migrantensprachen selbst von einem spezifischen Wandel gekennzeichnet, der allerdings sowohl von Migrantinnen und Migranten selber als auch in pädagogischen Zusammenhängen häufig übersehen werde. So würden z.B. spezifische Varianten des Türkischen im sog. herkunftssprachlichen Unterricht schnell als ‚Fehler‘ wahrgenommen und bezeichnet (ebd.: 114). Um Kinder

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und Jugendliche nicht als ‚halbsprachig‘ in der Herkunftssprache abzuqualifizieren, sei es hier nötig, die aus der spezifischen Situation resultierende Sprachpraxis in die Betrachtungen des Sprachvermögens einzubeziehen. In diesem Sinne empfehlen Dirim und Heinemann (2016) in Bezug auf die Aneignung von Sprache(n), gar nicht von einer Erstsprache zu sprechen, sondern von einem „erstsprachlichen Repertoire“, da der Begriff Erstsprache häufig mit einer monolingualen Nationalsprache in Verbindung gebracht werde. In der Linguistik würde schon seit längerem versucht, ein Gegenmodell zur Vorstellung der getrennten Verwendung von Einzelsprachen und von Mehrsprachigkeit als Sonderfall zu entwerfen. Durch die Verwendung des Begriffs „repertoire view“ solle deutlich gemacht werden, „dass einem Individuum in den einzelnen und in mehreren Sprachen zahlreiche Register zur Verfügung stehen, die abwechselnd und strategisch eingesetzt werden“ (ebd.: 106, Hervorh. im Original). In diesem Zusammenhang läge es auch nahe, statt Mehrsprachigkeit den Begriff „Sprachigkeit“ (vgl. auch Busch 2017; Dorostkar 2014) zu verwenden, um deutlich zu machen, dass sich sprachliche Vielfalt nicht entlang nationalstaatlicher Grenzen definieren lasse. Im erziehungswissenschaftlichen Diskurs sehen Dirim und Heinemann in Gogolins Begriff der „lebensweltlichen Mehrsprachigkeit“ (Gogolin 1988) eine Entsprechung dazu, der darauf aufmerksam mache, dass „Kinder in der Migrationssituation Sprachen so erwerben, wie sie ihnen in der Umgebung dargeboten werden und sie sie benötigen“ (Dirim/Heinemann 2016: 106). Dieser Gedanke betrifft auch das Verhältnis von sog. Erst- und Zweitsprache: Hier werde durch den dominanten Fokus auf die eine monolinguale Nationalsprache erwartet, dass sich Erst- und Zweitspracherwerb in einer chronologischen Abfolge vollziehen, was wiederum zu einer Defizitperspektive führe. „Die derzeitig dominante Perspektive, in der es möglich scheint, den Erwerb und die Entwicklung einer Erst- und Zweitsprache klar voneinander zu unterscheiden, begreift die Resultate des migrationsspezifischen Sprachgebrauchs lediglich als Abweichung von der amtlich anerkannten Variante des Deutschen und als ‚mangelnde Sprachkompetenz‘. Sie werden demnach abgewertet und es wird versucht, ihnen pädagogisch ‚entgegenzuwirken‘“ (ebd.: 109). Im Gegensatz dazu wird aus einer migrationspädagogischen Perspektive gefordert, in der Pädagogik, die „faktische Pluralität der Sprachen, die in Deutschland gesprochen werden, erstens zur Kenntnis zu nehmen und diese zweitens in einem grundlegen Sinne zu achten“ (Dirim/Mecheril 2010: 115). Die dynamische Vielfalt der Sprachen, Lebensweisen und Lebensformen müsse anerkannt und einbezogen werden, damit jedes Kind „eine Stimme finden“ könne (ebd.: 116). Die spezifisch unterschiedlichen Zugänge der Schülerinnen und Schüler zum Deutschen müssten berücksichtigt werden, ebenso wie die Tatsache, dass

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„Migrationsandere ihr eigenes Deutsch und darüber einen eigenen Bezug, eine Form von Zugehörigkeit zu Deutschland entwickeln“ (ebd.: 117). Gleichzeitig sei es die Aufgabe der Schule, „den Kindern und Jugendlichen ein Bewusstsein von verschiedenen Registern zu vermitteln und ihnen die Entwicklung der in offiziellen Zusammenhängen benötigten Deutschkompetenzen zu ermöglichen, ohne ihnen ihren eigenen Deutschgebrauch als Bestandteil der migrationsgesellschaftlichen Mehrsprachigkeit abzusprechen“ (ebd.: 118). Darüber hinaus müsse Schule „konzeptionell klären, wie sie Sprache und das Verhältnis der Sprachen zueinander versteht“ (ebd.: 119). Diese Auffassung von Sprache als migrationsgesellschaftlichem Differenzmerkmal und von Mehrsprachigkeit als legitimer Aneignung adäquater sprachlicher Mittel wird auch für den Bereich der Frühpädagogik nutzbar gemacht, wie sich im folgenden Kapitel zeigt.

5.4 UMGANG MIT MEHRSPRACHIGKEIT IN DER FRÜHPÄDAGOGIK Die Erkenntnis, dass Sprache nicht nur ein Mittel der Kommunikation ist, sondern auch ein Mittel der Herstellung und Artikulation von gesellschaftlicher Anerkennung und eine wesentliche Voraussetzung für soziale, ökonomische und politische Teilhabe, lässt die Rede vom ‚Einbezug der Mehrsprachigkeit‘, wie wir sie in Bildungsplänen und Sprachförderkonzeptionen für die Kita sehen, in einem neuen Licht erscheinen. In einer migrationspädagogischen Lesart müsste Mehrsprachigkeit nicht nur im Hinblick auf die Aneignung mehrerer Sprachen oder als besondere Voraussetzung für den Erwerb ‚schulreifer‘ Deutschkenntnisse aufgegriffen werden. Es ginge nicht nur darum, welche Sprachen ein Kind spricht und darum, diese ggf. in das pädagogische Handeln einzubeziehen oder ihren Erwerb zu berücksichtigen, wenn Förderbedürftigkeit oder Fördererfolge bewertet werden. Mehrsprachigkeit im migrationspädagogischen Sinne in die Frühpädagogik einzubeziehen hieße, sie als Teil einer in migrationsgesellschaftliche Ordnungen eingebetteten Subjektwerdung zu betrachten. Es hieße, danach zu fragen, mit welchen Anrufungen und Zugehörigkeitsordnungen Kinder und Eltern aufgrund ihrer Mehrsprachigkeit konfrontiert, wie sie positioniert und an welchen Maßstäben sie warum gemessen werden. Es hieße, danach zu fragen, wie entsprechende Anrufungen von Eltern und Kindern resignifiziert werden (können), wie sie sich anhand ihrer Sprachigkeit selbst positionieren und wie Subjektkonstruktionen und Identitätsentwürfe vom (migrations-)gesellschaftlichen und pädagogischen Umgang mit Mehrsprachigkeit geprägt werden. Es hieße weiterhin, da-

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nach zu fragen, welchen Beitrag pädagogisches Handeln zur Positionierung Mehrsprachiger anhand dominanter Zugehörigkeitsordnungen und zur Reproduktion letzterer leistet und welche Möglichkeiten pädagogisches Handeln hat, jenseits dieser Zugehörigkeitsordnungen zu wirken oder sie sogar zu verändern. Mehrsprachigkeit im frühpädagogischen Diskurs und Sprachpolitik der Kita Betrachtet man den Umgang mit Mehrsprachigkeit in der Frühpädagogik im Sinne der o.g. Fragestellungen, so wird laut Brandenberg u.a. (2017) in Übereinstimmung mit Reich (2008a, 2008b; vgl. auch Kapitel 4.3) deutlich, dass die „Auffassung von der Einsprachigkeit als Normalfall“ (Brandenberg u.a. 2017: 253) den frühpädagogischen Diskurs um Mehrsprachigkeit und die entsprechenden Vorgaben der Bildungspolitik prägt. Dies führe nicht nur zu einer Verengung auf die Förderung von sprachlichen Fähigkeiten in der Mehrheitssprache, sondern auch zu einer Stigmatisierung und Benachteiligung von Mehrsprachigen. Kinder, die mit mehr als einer Sprache aufwachsen, würden als Problemträger betrachtet und könnten nur dann als zweisprachig gelten, wenn sie „trotz einer oder mehrerer Erstsprache(n) keine oder allenfalls vernachlässigbare Defizite in der offiziell als Zielsprache angesehenen Sprache“ aufweisen, so Brandenberg u.a. (ebd: 254, Hervorh. im Original). Die frühkindliche Bildungsforschung weise im Hinblick auf die Sprachwirklichkeit in frühpädagogischen Institutionen eine problematische Selektivität auf, die sich in unterschiedlichen Beschränkungen zeige. Erstens werde nur die Sprache der ‚Förderbedürftigen‘ untersucht und nicht die Sprache der ‚Förderer‘ oder die Sprachpolitik der Institutionen. Zweitens würden die sprachbezogenen Verhaltensweisen der Kinder meist in vorbereiteten Settings untersucht und nicht die alltägliche Sprachverwendung in der Einrichtung oder ihre Festsetzung legitimen Sprachverhaltens. Drittens würde Sprache auf das gesprochene oder geschriebene Wort begrenzt und andere Ressourcen erfolgreicher Kommunikation würden außer Acht gelassen. Viertens würden hauptsächlich Effekte sprachförderlichen Handelns untersucht und weniger Aspekte der Organisationsentwicklung. Fünftens verhindere eine Verengung auf eine Zielsprache die Thematisierung der (Mehr-)Sprachigkeit der Kinder. Sechstens würden in einer evaluativen Verengung vor allem Sprachdiagnostik und Wirksamkeitsforschung in Bezug auf bestimmte Sprachförderprogramme durchgeführt, anstatt die Sprachwirklichkeit pädagogischer Institutionen zu thematisieren (vgl. ebd.: 254f). Die herrschende Sprachenideologie und Sprachenpolitik, die von Monolingualität als gesellschaftlicher Ordnung ausgehe, wirke jedoch nicht nur auf die frühpädagogische Bildungsforschung, so Panagiotopoulou (2016). Vielmehr

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zielten auch frühpädagogische Diskurse und frühpädagogische Praxis auf die Normalisierung von Mehrsprachigkeit im Sinne von Sprachentrennung, getrennter Zweisprachigkeit und perfekter Beherrschung der Mehrheitssprache ab. So zeige sich auch in der Praxis, dass hier Monolingualität und dementsprechende Normalisierungserwartungen umgesetzt und migrationsbedingte Mehrsprachigkeit mit Skepsis betrachtet werden. Die mehrsprachige Praxis von Eltern und Kindern würde dabei nicht als Normalität, noch ihre Migrantensprachen als sprachliches Kapital anerkannt. Stattdessen würden Eltern und Kinder bereits beim Eintritt in die Kita mit der Forderung nach Einsprachigkeit und Sprachentrennung konfrontiert (ebd.: 8). Zusätzlich gehe mit der Verengung auf eine Zielsprache auch eine Hierarchisierung von Sprachen einher. So seien vor allem Sprachen, die nicht als förderlich für die Bildungskarriere angesehen werden, von indirekten Sprachverboten und monolingualen Normen betroffen. Obwohl also die Familien mehrsprachig handelten, würden die Kinder in der Kita „mit der Überzeugung konfrontiert, dass Bildung nur in einem ‚rein einsprachigen‘ Umfeld geschehen kann“ (ebd.: 19). So machten migrationsbedingt mehrsprachige Kinder die Erfahrung, dass ihre Sprachpraxis nicht nur als abweichend, sondern auch „als Risikofaktor für eine erfolgreiche Bildungskarriere angesehen wird“ (ebd.: 20). Das sprachliche Handeln mehrsprachig aufwachsender Kinder werde auch bereits in der Kita immer wieder mit dem Einsprachiger verglichen, ohne ihre Sprachbiographien und ihre sprachliche Sozialisation genauer zu betrachten, so Panagiotopoulou. Dieser ständige Vergleich stabilisiere nicht nur „das Konstrukt einer (sprachlich) abweichenden Sozialisation im Rahmen einer angeblich einsprachigen Gesellschaft“ (ebd.: 12), er führe auch dazu, dass mehrsprachige Kinder „selbst unrealistische Ansprüche entwickeln, die sie […] nicht erfüllen können: einerseits weil es ohnehin keine ‚perfekten‘ Sprecherinnen und Sprecher einer oder mehrerer Sprachen gibt, andererseits weil mehrsprachige Menschen nicht als zwei Einsprachige (in einer Person) betrachtet werden können“ (ebd.: 11). Diese Einschätzungen zur Sprachenpolitik in der Kita in ihrer Eingebundenheit in dominante gesellschaftliche Ordnungen basieren u.a. auf Untersuchungen, die die auf sprachliche Bildung bezogenen Praktiken im frühpädagogischen Zusammenhang fokussieren, und deren Ergebnisse im Folgenden dargestellt werden. In Abgrenzung von einer frühkindlichen Bildungsforschung, die in Bezug auf mehrsprachiges Aufwachsen die o.g. Verengungen aufweist, liegt der Fokus dieser Untersuchungen auf der „konkrete[n] Praxis der Sprachverwendung in den jeweiligen lokalen, institutionellen und subkulturellen Kontexten“ (Brandenberg u.a. 2017: 256). Dabei zeigt sich, wie sprachbezogene Differenzordnun-

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gen durchgesetzt, mehrsprachige Kinder positioniert und der Versuch unternommen wird, ihre Sprachigkeit zu ‚normalisieren‘. Ethnographie der Mehrsprachigkeit Sowohl Brandenberg u.a. (2017) als auch Panagiotopoulou (2017) vertreten für die Untersuchung von Mehrsprachigkeit im Betreuungsalltag und die Möglichkeiten des Umgangs mit ihr eine ethnographische Perspektive. Eine von ihnen angestrebte „Ethnographie der Mehrsprachigkeit“ (Brandenberg u.a. 2017: 255) fasse Mehrsprachigkeit „als eine soziale Praxis auf […], in der die Grenzen zwischen verschiedenen Sprachen ebenso wie die zwischen verschiedenen Gruppen von SprecherInnen nicht unhinterfragt gegeben sind, sondern immer wieder neu hervorgebracht und verhandelt werden, eine Praxis also, die in soziale Ordnungen eingebunden ist und sie zugleich mit produziert“ (ebd.: 256, Hervorh. im Original). Sprache selbst konstruiere die Wirklichkeit und somit würden Machtverhältnisse, soziale Asymmetrien und Normen mittels der Sprache interaktiv bzw. diskursiv hergestellt (Panagiotopoulou 2017: 257). Ein solcher Aufmerksamkeitsfokus untersucht demnach nicht Personen und ihre individuellen Kompetenzen, sondern Situationen und ihre strukturellen Kontexte und ist außerdem von einem differenz- und ungleichheitsanalytischen Interesse geleitet. Brandenberg u.a. (2017) stellen im Rahmen einer solchen Ethnographie der Mehrsprachigkeit Ergebnisse aus der frühkindlichen Bildungsforschung vor, die den Umgang mit sprachlicher Diversität in Kindertagesstätten zum Gegenstand haben und diesen vor dem Hintergrund programmatischer Orientierungen untersuchen. Zu den wichtigsten Ergebnissen gehört hier, dass die Durchsetzung einer monolingualen Norm in der Kita eine zentrale Strategie darstellt, um die bildungspolitisch geforderte Sprachförderung umzusetzen. Dabei würden Sprachförderpraktiken und -programme systematisch Auslese- bzw. Integrationseffekte erzeugen und legitimieren. Insgesamt werde deutlich, dass der Umgang mit Mehrsprachigkeit eine der grundlegenden Herausforderungen im pädagogischen Alltag darstellt. Sowohl in konzeptionell einsprachigen als auch in konzeptionell mehrsprachigen Einrichtungen werde auf diese Herausforderung „mit einer Entmischung und Trennung von Herkunftssprachen und legitimen Sprachen im Sinne einer Monolingualisierung der Sprachverwendung reagiert“, was mit der „institutionellen Produktion von Ungleichheit zwischen einzelnen herkunftssprachlichen Gruppen“ einhergehe (ebd.: 258). Die Produktion von Differenz und Ungleichheit über die Regulierung sprachlicher Praktiken im frühpädagogischen Feld untersuchen auch Kuhn und Neumann (2017) in der ethnographischen Studie „Linguistic Landscapes. Fallstudien zu pädagogischen Praktiken im Umgang mit Mehrsprachigkeit in bilin-

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gualen Kindertageseinrichtungen“. In ihrer Studie nehmen sie die Sprachverwendung im Alltag dreier deutsch-französisch bilingualer Kitas in der Westschweiz in den Blick. In jeweils vierwöchigen Feldphasen führten sie dazu Beobachtungen durch, die durch Audioaufnahmen unterstützt wurden, und in zwei Einrichtungen wurde zusätzlich nach Abschluss der Feldphase ein Experteninterview mit der Leitung geführt. Die Ergebnisse zeigen, dass die drei Kitas ihr bilinguales Konzept jeweils auf ganz unterschiedliche Weise umsetzen. Während in einer Kita Deutsch und Französisch von den Fachkräften nahezu ausgewogen verwendet werden, wird in der zweiten Kita aufgrund fehlenden deutschsprachigen Personals fast ausschließlich Französisch gesprochen. Die dritte Kita versucht, ihr bilinguales Konzept umzusetzen, indem sie ihren Fachkräften ausdrücklich vorschreibt, nur Deutsch zu sprechen, während sie den Kindern erlaubt, Deutsch und Französisch zu verwenden und den Eltern empfiehlt, mit den Kindern Deutsch zu sprechen. Anhand des Experteninterviews mit der Leitung der dritten Kita und ergänzenden Raum- und Kontextanalysen zeigen Kuhn und Neumann exemplarisch, wie hier ein Sprachregime3 unter Rückgriff auf „ethnisierende und verräumlichende Differenzierungen“ (ebd.: 288) aufgebaut wird und Sprachen dazu in ein hierarchisches Verhältnis zueinander gebracht werden. Die Raum- und Kontextbezogene Interpretation zeigt, dass die Leiterin ihre Sprachenregeln für nötig hält, weil sie annimmt, dass das Französische im sozialräumlichen und familialen Umfeld dominiert, und dass die französischsprachigen Kinder nicht lernbereit sind und sonst nur Französisch sprechen würden. Das Sprachregime der Kita wird damit von der Leiterin als kompensatorische Lösung für die „drohende Übermacht des Französischen und den Lernunwillen der frankophonen Kinder“ (ebd.) gesucht. Auch wenn in diesem Fall das Sprachregime der Kita als „eine Politik des Empowerment für die deutschsprachigen Kinder gelesen werden [kann], die im Sozialraum als sprachliche Minderheit positioniert sind“ (ebd.: 289), bringt es gleichzeitig eine Einschränkung der Teilhabechancen der frankophonen Kinder mit sich, so Kuhn und Neumann. Es sei außerdem ein Beispiel dafür, wie die Sprachpolitik der Kita bestimmten Kindern vermitteln kann, dass

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Mit dem Begriff Sprachregime beziehen sich Kuhn und Neumann auf Busch, die Sprachregime soziolinguistisch und in Anlehnung an Coulmas (2005) als „Bündel von Gewohnheiten, rechtlichen Regulierungen und Ideologien“ beschreibt, „die Sprecher_innen in räumlich situierten Interaktionen in der Wahl sprachlicher Mittel beschränken“ (Busch, 2017: 135). Der Begriff Regime umfasst dabei „nicht nur normative Regulierungen von Sprache, sondern auch die Ungleichheit in der Verteilung von Ressourcen und Macht“ (ebd.).

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ihrer Herkunftssprache in der institutionellen Hierarchie der Sprachen ein minderer Rang zukommt. Auch anhand der Beobachtungen des Kitaalltags der dritten Kita im Rahmen dieser Studie zeigt sich, wie trotz des bilingualen Konzepts im sprachlichen Alltag eine Monolingualisierung durchgesetzt wird. So fordert eine Fachkraft im Morgenkreis die Kinder auf, ihre französischsprachigen Äußerungen ins Deutsche zu übersetzen. Durch die spezifischen Sprachverwendungsregeln, die im Morgenkreis angewendet werden, wird „allein das Deutsche als die legitime Sprache und die Verwendung des Französischen als eine situationsbezogen illegitime Sprachpraktik ausgewiesen“ (Brandenberg u.a., 2017: 265). Französische Sprachpraktiken einzelner Kinder werden durch die monodirektionale Übersetzungsforderung ins Deutsche „dekapitalisiert“ (ebd.). Beobachtungen in weniger strukturierten Alltagssituationen derselben Kita zeigen jedoch, wie Kinder und Fachkräfte jeweils in ihrer Sprache bleiben und dennoch „eine translinguale, die einzelnen Sprachen überschreitende Situation“ (ebd.) entsteht. Es werden implizite Übersetzungsleistungen und die Antizipation eines wechselseitigen Verstehens sowohl seitens der Fachkraft als auch seitens des Kindes sichtbar. In diesen Situationen, in denen keine Forderung nach einer bestimmten Sprache erfolgt, wird ein fließender Sprachenwechsel vollzogen, bei dem die Verständigung im Mittelpunkt steht und die Sprachen gleichwertig behandelt werden. Auch Panagiotopoulou (2016) zeigt anhand einer Reihe erziehungswissenschaftlicher Feldstudien, „dass Mehrsprachigkeit im frühpädagogischen Alltag weitgehend mit einer expliziten Forderung nach Einsprachigkeit und einer strikten Trennung zwischen Familien- und Schulsprachen bzw. Mehrheits- und Minderheitensprachen begegnet wird“ (ebd.: 20). In ethnographischen Studien von Diehm und Magyar-Haas (2012) aus Deutschland und von Seele (2015) aus Luxemburg werde sichtbar, wie durch die Fachkräfte „Alltagssituationen zu einer Art alltagsintegrierter Erziehung zur Einsprachigkeit umgedeutet werden“ (Panagiotopoulou 2016: 21). Erzieherinnen verlangten in den beobachteten Situationen schon von sehr jungen Kindern, dass sie sich auf Deutsch äußern, und deklarierten z.T. sogar ihr Weinen als ‚unverständlich‘, oder gaben vor, Kinder nicht zu verstehen, wenn sie sich nicht auf Luxemburgisch, sondern auf Französisch äußerten. Ein weiteres Ergebnis, das von Panagiotopoulou referiert wird, ist, dass es durch das Nichtzulassen von Familiensprachen sogar zu einem sog. „Silencing“ kommt. In ethnographischen Studien in Deutschland und der Schweiz, die Vorschulkinder am Übergang in die Schule begleitet haben, zeige sich demnach, wie Kinder, die in der DaZ-Förderung ausschließlich Deutsch sprechen mussten, verstummten, da sie mit dem monolingualen Modus nicht zurechtkamen (Christ-

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mann/Panagiotopoulou 2012). Auch in einer weiteren Studie von Thomauske (2015), die Sprachpolitiken und -praktiken im Kontext von Einrichtungen frühkindlicher Bildung in Deutschland und Frankreich untersuchte, werde Silencing als Effekt der Sprachpolitik in Einrichtungen der frühkindlichen Bildung deutlich. Hier zeige sich in Gruppendiskussionen mit Fachkräften, dass translinguales Handeln mehrsprachiger Kinder „als problematisch empfunden, z.B. als ‚Kauderwelsch‘ […] stigmatisiert und implizit oder explizit verboten“ wurde (Panagiotopoulou 2016: 22). Das Verstummen als Reaktion mehrsprachiger Kinder, deren translinguales sprachliches Handeln nicht akzeptiert wurde und die man auf eine monolinguale Norm verwiesen hatte, wurde von den beteiligten Fachkräften folgendermaßen kommentiert: „Ja, aber die Französischsprachigen, die sprechen zwangsläufig nicht. […] Also, die sprechen noch nicht mal in ihrer Sprache […]. Da wir nicht ihre Sprache kennen“ (Thomauske 2015: 104). Schließlich wird laut Panagiotopoulou im Umgang mit Mehrsprachigkeit in der Kita auch die interaktive Herstellung von Ethnizität und Rasse sichtbar. Die Herstellung ethnischer Differenz aufgrund von Mehrsprachigkeit wurde u.a. in einer ethnographischen Studie von Hammel (2015) untersucht, die drei- bis fünfjährige Kinder über mehrere Monate in einer Kita in Köln begleitete. Dabei wurde beobachtet, dass die nichtdeutschen Familiensprachen der Kinder den Fachkräften dienten, um ihnen eine bestimmte Herkunft zuzuschreiben und sie als nicht ‚wirkliche‘ Deutsche zu klassifizieren. In einer dokumentierten Szene soll eine Praktikantin für ihre Schule die ‚Herkunft‘ der Kinder in der Kita angeben. Sie fragt eine Fachkraft, die wiederum zurückfragt, was mit Herkunft gemeint sei. Da alle Kinder in Deutschland geboren sind, kommen die beiden überein, zur besseren Abgrenzung die Herkunft der Eltern heranzuziehen, da wären ja sicherlich welche dabei, die nicht in Deutschland geboren seien. Als die ‚Herkunft‘ eines Kindes dadurch immer noch nicht zu klären ist, da die Fachkraft und die Praktikantin nicht wissen, aus welchem Land die Mutter des Kindes kommt, fragen sie das Kind direkt: „‚Franzi, wo kommt die Mama her?‘ Franzi schaut zu Nina hoch und sagt kleinlaut mit hängenden Mundwinkeln: ‚Muss ich das jetzt allen sagen?‘ ‚Ja‘, bestätigt Nina freundlich.“ (Panagiotopoulou 2017: 260). Als Franzi das für sie Offensichtliche antwortet und sagt, ihre Mutter käme auch aus Dortmund, ist der Punkt erreicht, an dem die Fachkraft die Sprache zur Klassifizierung der ‚Herkunft‘ heranzieht, und sie sagt zu dem Mädchen, deren Mutter würde doch noch eine ‚andere‘ Sprache sprechen. Dass sie daher nicht einfach aus Dortmund kommen könne, ist damit impliziert, so Panagiotopoulou: Die „Anderssprachigkeit“ der Mutter fungiert „als Differenzlinie, um den Unterschied zwischen der ein- oder deutschsprachigen Mehrheit und einer migrationsbedingt mehrsprachigen Minderheit zu markieren“ (ebd.: 262). Das Mädchen

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beendet das Gespräch, das vermeintlich die Sprachen, eigentlich aber die Herkunft der Mutter und damit die Herkunft der ganzen Familie zum Thema hatte: Es antwortet auf die Frage, welche ‚andere‘ Sprache die Mutter spreche, „Weiß ich jetzt nicht.“ (Ebd.: 261). Dies zeigt für Panagiotopoulou, dass bereits sehr junge Kinder wissen, „dass eine nicht-deutsche Herkunft mit einer (beobachtbaren) mehrsprachigen Alltagspraxis zusammenhängt, so dass auch sie, sobald sie in solche Herkunftsdialoge involviert werden, als eben diese Subjekte erzeugt werden könnten“, die eben keine ‚wirklichen‘ Deutschen sind (ebd.: 262). Weiterhin zeige die hier beschriebene Beobachtung, dass auch junge Kinder dieser Art von Anrufungen nicht ausgeliefert zu sein scheinen, sondern, z.B. wie das Mädchen aus der beschriebenen Szene, den Herkunftsdialog dekonstruieren könnten, indem sie keine weiteren Informationen über die sprachliche Praxis ihrer Familie liefern. Die Heranziehung von Mehrsprachigkeit und Familiensprachen zur Zuschreibung einer ‚anderen‘ Herkunft und das Unbehagen, das betroffene Kinder dabei empfinden (‚Muss ich das jetzt allen sagen?‘) führt laut Panagiotopoulou außerdem dazu, dass Kinder ihre Mehrsprachigkeit und ihre weiteren Sprachen verleugnen. In der Untersuchung von Hammel sei bei mehreren Kindern zu beobachten gewesen, dass sie ihre Mehrsprachigkeit im Kitaalltag verheimlichten und/oder sich offen weigerten, ihre nichtdeutschen Sprachen zu benennen. Es sei daher fraglich, „wie unter solchen Bedingungen mehrsprachige Kinder ihre Mehrsprachigkeit praktizieren können, um ihre sprachlichen Fähigkeiten zu entfalten“ (ebd.: 263), so Panagiotopoulou. Translanguaging und Wende zur Mehrsprachigkeit Die vorgestellten Ergebnisse, die im Sinne einer „Ethnographie der Mehrsprachigkeit“ herrschende Sprachideologien und -politiken sowie darauf aufbauende Praxis in der Kita kritisch reflektieren, ermöglichen außerdem einen Blick auf Prozesse der Aneignung eines mehrsprachigen Repertoires jenseits von Verengungen durch einsprachige Normalitätsvorstellungen. In diesem Zusammenhang wird eine „Wende zur Mehrsprachigkeit“ im Sinne eines „offene(re)n Umgangs mit der […] gelebten Mehrsprachigkeit von Kindern und Professionellen“ angeregt (Panagiotopoulou 2016: 24). Die monolingual ausgerichtete Normalitätsvorstellung und die dementsprechende Normalisierungserwartung an die Kita, das Insistieren auf einsprachigem Handeln, das „mit der Sprachenpolitik national verfasster Bildungssysteme und so auch mit der Konstruktion nationaler Identität“ (ebd.: 21) zusammenhänge, fuße auf sprachideologischen und alltagstheoretischen Betrachtungen, so Panagiotopoulou. Im Gegensatz dazu seien neuere sprachpädagogische Konzepte

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wie Translanguaging (García/Wei 2014), Multilingual Literacy (Hélot 2011) oder der Ansatz der Quersprachigkeit (List/List 2004) geeignet, die verbreiteten Normalitätserwartungen gegenüber Mehrsprachigen zu entkräften und ihr sprachliches Handeln in den Mittelpunkt zu stellen (Panagiotopoulou 2016: 24). Anstatt Sprachsysteme getrennt voneinander zu sehen, stehen der Begriff Translanguaging und die damit verbundenen Konzepte für eine soziolinguistische Perspektive und legen den Fokus auf Sprachpraktiken, in denen verschiedene Sprachen, Sprachregister und Sprachvarietäten involviert sind4. Translanguaging sei in mehrsprachigen Familien der normale Modus der Kommunikation, so Panagiotopoulou. Kinder aus mehrsprachigen Familien handeln demnach von Anfang an in diesem Modus: „Dabei verwenden und entfalten sie zugleich ihr individuelles und dynamisches Repertoire, auf das sie je nach Situation entsprechend zugreifen, um in ihrem mehrsprachig organisierten Alltag pragmatisch adäquat zu kommunizieren“ (ebd.: 16). Dieses Gesamtrepertoire sprachlicher Praktiken gehe schon während des Sprach(en)erwerbs über die Grenzen von Sprachsystemen hinaus. Statt nach Abweichungen oder Übereinstimmungen von Äußerungen mit dem jeweiligen Sprachsystem zu fragen, könne daher mit Translanguaging der Sprachenerwerb als dynamischer Prozess im Kontext realer Kommunikation betrachtet und die komplexe, flexible sprachenübergreifende Praxis der Kinder erfasst werden. Pädagogisches Handeln, das nicht nur die translinguale Sprachpraxis mehrsprachiger Kinder, sondern auch die der Fachkräfte aufgreife, anstatt einsprachiges Handeln zu fordern, erleichtere den Kindern den Übergang in die Kita und dort das Lernen von Sprache(n), so Panagiotopoulou5. Dass mit einer solchen „Wende zur Mehrsprachigkeit“ in frühpädagogischen Einrichtungen nicht „die Förderung der standardisierten Sprachvarietäten vernachlässigt oder aufgegeben werden“ soll und muss (ebd.: 25), zeigt Panagiotopoulou am Beispiel eines deutschen Kindergartens in Kanada, in dem drei- bis fünfjährige Kinder, die z.T. in nicht-deutschsprachigen Familien aufwachsen, Deutsch im Hinblick auf den Besuch der deutschen Schule erwerben. Die Kinder wüchsen mit drei oder vier Familiensprachen auf, wobei nicht klar festlegbar sei, welches die ‚Erstsprache‘ sei und in welcher Reihenfolge die weiteren Sprachen

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Dazu gehört z.B. auch das Qualifizierungsprogramm im Rahmen der in Kapitel 4.3 erwähnten MuLiPEC-Studie der Universität Luxemburg.

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Diese Perspektive auf mehrsprachiges Aufwachsen schließt auch an den Vorschlag von Dirim und Heinemann (2016; vgl. Kapitel 5.3) an, statt von getrennten Sprachen von einem „mehrsprachigen Repertoire“ auszugehen, und führt diese Sichtweise für die Frühpädagogik aus.

Migrationsgesellschaftliche Perspektive

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dazukämen. Die Muttersprache der Kinder sei eigentlich „Plurilingualism“, so Panagiotopoulou (ebd.: 26). Dementsprechend würden auch die Fachkräfte nicht als monolinguale Sprachvorbilder handeln, sondern „als bewusst mehr- und quersprachig handelnde Professionelle, die den dynamischen Sprach(en)erwerb der Kinder begleiten“ (ebd., Hervorh. im Original). Dies zeigt sich anhand einer im Interview mit einer Erzieherin des Kindergartens beschriebenen Gesprächsszene mit einem Kind: „Frau Esser: Also die werden nicht forciert‚ ‚Ihr müsst Deutsch sprechen‘ sondern wir lassen jedem Kind individuell seine, sein Lerntempo; […] ich hatte ein Kind das kam, ‚Frau Esser, ich habe zu Hause eh deep deep, was heißt deep‘, und da sag ich ‚ein Tief‘. ‚Frau Esser, ich habe zu Hause ein tiefes, tiefes‘, gleich richtig konjugiert gehabt, und ‚what is a hole‘; na sag ich ‚ein Loch‘ und dann ging’s wieder von vorne los und dann noch ein drittes Wort gefragt und das in ein Satz, deswegen; also wir setzen uns auch nicht hin und machen ‚Du musst das so und so machen‘.“ (Ebd.)

Hier wird laut Panagiotopoulou deutlich, wie mehrsprachige Kinder von der Fachkraft als kompetente Lernende anerkannt werden, „die translingual handelnd neue lexikalische Elemente aufnehmen, diese morphologisch manipulieren (konjugieren bzw. deklinieren) um sie dann zielgerichtet einzusetzen, damit sie sich […] monolingual deutsch ausdrücken können“ (ebd.: 26). Auch für nicht explizit bilinguale Einrichtungen in Deutschland zeigt Panagiotopoulou anhand eines weiteren Forschungsbeispiels, dass translinguale Äußerungen von Kindern aufgegriffen und verstanden werden können, auch wenn nicht alle Sprachen der Kinder in der Kita vertreten sind. Dabei ginge es nicht in erster Linie um die Kompetenzen in einzelnen Sprachen, sondern um „die diskursiv-pragmatischen Ressourcen aller Beteiligten“ (ebd.): „Die Erzieherin Hanna erzählte mir, dass Lena ihre Suppe heute Mittag zurückwies, indem sie ihre Augen weit aufriss, eine abweisende Bewegung mit der Hand machte und dabei ‚kéi‘ sagte. ‚Wir haben uns gefragt‘, erzählte die Erzieherin enthusiastisch, ‚was das bedeuten könnte. Maria hat es direkt erraten und Lena gefragt, ob sie ‚heiß‘ meine. Lena nickte!‘“ (Ebd.)

Situationen, in denen translinguale oder nicht-deutschsprachige Äußerungen einzelner Kinder aufgegriffen würden, könnten so „von der Peer-Gruppe als gemeinsam geteilte (Sprach-)Aufgaben wahrgenommen und bewältigt“ werden (ebd.). Die Aufgabe der Pädagogin sei es dann, die Bedingungen dafür zu schaffen.

116

| Theoretischer Teil

Die Erkenntnis, dass „neben dem monolingualen auch mehr- und quersprachiges Handeln im Kontext von Bildungsinstitutionen durchaus legitim und aus der Perspektive aller Lernenden sinnvoll und förderlich ist“, sieht Panagiotopoulou als Ermutigung für Fachkräfte, „sich auf innovative sprachpädagogische Konzepte einzulassen“ (ebd.: 27). In diesem Sinne sollten auch Fachkräfte ihre mehrsprachigen Ressourcen einbringen (können), um eine „Erziehung zur Mehrsprachigkeit als Normalität“ (ebd.) zu leisten und um das sprachpädagogische Feld künftig als ‚sicheren Ort‘ für mehrsprachig handelnde Kinder und Fachkräfte zu gestalten. Das Aufgreifen der Translingualität mehrsprachiger Kinder und das translinguale Gestalten von sprachpädagogischen Situationen ist laut Panagiotopoulou auch ein wichtiger Aspekt für die Literacy-Förderung (vgl. auch List 2007; Lengyel 2009; Kapitel 4.3). Die Ermöglichung schriftkultureller Erfahrungen und Praktiken in der Kita, durch die bildungssprachliche Kompetenzen vorbereitet werden sollen, müsse ebenso für translinguale Praktiken geöffnet werden. Da Bildungs- und Alltagssprache nicht als Gegensätze, sondern ebenso wie konzeptionelle Mündlichkeit und konzeptionelle Schriftlichkeit auf einem Kontinuum zu betrachten seien, würden auch hier die translingualen Praktiken und Fähigkeiten der Kinder einfließen. Wenn also in Literacy-Situationen „das translinguale Vorlesen und Erzählen, das mehrsprachig lebende Kinder im besten Fall bereits im familiären Kontext kennenlernen, auch im Kita-Alltag“ angeboten würde (Panagiotopoulou 2016: 32), könnten „beim fließenden Übergang von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit mehr- und quersprachige Kompetenzen“ gefördert werden (ebd.: 33). Mit diesen Anregungen für ein professionelles Handeln, das die Aneignung eines mehrsprachigen Repertoires jenseits von Verengungen durch einsprachige Normalitätsvorstellungen in der Kita fördert, schließt die Erarbeitung des Forschungsüberblicks und des theoretischen Bezugsrahmens. Nachdem zuletzt gezeigt wurde, wie mehrsprachiges Aufwachsen und professionelles Handeln mit einem differenz- und ungleichheitsanalytischen Interesse als Teil migrationsgesellschaftlicher Subjektivierungsprozesse untersucht werden kann, wird im Folgenden die Fragestellung der Untersuchung vor dem Hintergrund der bisherigen Erkenntnisse herausgearbeitet. Dabei werden die Ergebnisse zur Situation der Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit, zur Heterogenität familialer Entwicklungsumwelten, zur Aneignung von Sprache und zum Umgang mit Mehrsprachigkeit sowie zur kritischen Reflexion des migrationsgesellschaftlichen Kontextes mehrsprachigen Aufwachsens miteinander verbunden.

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Zwischenbilanz und Entwicklung der Fragestellung

An verschiedenen Stellen der hier nachgezeichneten Diskurse in der Frühpädagogik, der Mehrsprachigkeitsforschung und der sprachlichen Bildung werden Fragen aufgeworfen, zu deren Klärung diese Arbeit einen Beitrag leisten möchte. Die im Folgenden zu entwickelnde Fragestellung greift daher Desiderata aus den verschiedenen Forschungsfeldern auf.

6.1 DIE FRAGE NACH SPRACHLICH HETEROGENEN ENTWICKLUNGSUMWELTEN IN DER FRÜHEN KINDHEIT Anhand der quantitativen Entwicklung der frühpädagogischen Bildung, Betreuung und Erziehung ebenso wie an der Veränderung ihres bildungspolitischen Auftrags und des Fachdiskurses zeichnet sich ein starker Bedeutungszuwachs der Frühpädagogik ab (vgl. Kapitel 2). Frühpädagogische Einrichtungen müssen nicht nur den zahlenmäßig gestiegenen Betreuungswünschen gerecht werden, sondern auch den gestiegenen Erwartungen in Bezug auf ihren Beitrag zum späteren Bildungserfolg der Kinder. Soziale Benachteiligung soll schon hier abgemildert und Integration gefördert werden. Dazu werden neben dem quantitativen Ausbau des Angebotes eine stärkere Professionalisierung des Personals und eine intensivere Zusammenarbeit mit den Eltern gefordert. In Bildungsplänen für die Frühpädagogik und auch im Fachdiskurs wird außerdem vor allem der sprachlichen Bildung eine zentrale Rolle für die Verbesserung von Bildungschancen zugeschrieben. Ein Blick in die Qualitätsforschung der Frühpädagogik zeigt jedoch, dass hier ein großes Informationsdefizit besteht und dass die pädagogische Qualität in

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| Theoretischer Teil

weiten Teilen mittelmäßig bis gering ist (vgl. Kapitel 2.4). Gleichzeitig wird deutlich, dass große Unterschiede sowohl in Bezug auf die Inanspruchnahme als auch in Bezug auf die Qualität der Einrichtungen bestehen. Hieraus folgt, dass gerade diejenigen, die insgesamt eher über schlechtere Bildungschancen verfügen, frühpädagogische Einrichtungen weniger nutzen und dass Einrichtungen, die viele Kinder aus sozial benachteiligten Familien betreuen, in der pädagogischen Qualität besonders schlecht abschneiden. Dieser Widerspruch zwischen dem Bildungs- und Integrationsauftrag der Frühpädagogik und den Ergebnissen zur Nutzung und zur Qualität lenkt den Blick auf diejenigen Familien, die seltener erreicht werden und weniger von frühpädagogischen Angeboten profitieren. Es zeigt sich u.a., dass Eltern ‚mit Migrationshintergrund‘, die frühpädagogische Angebote nicht nutzen, dies eher tun würden, wenn sie ihre Kultur oder Religion mehr berücksichtigt sähen, wenn die Qualität der Einrichtungen und die Kooperationsbereitschaft der Fachkräfte höher wären und wenn Mehrsprachigkeit stärker einbezogen würde (vgl. Kapitel 2.3). Dementsprechend setzt sich ein kritischer Diskurs in der Frühpädagogik mit den Maßstäben auseinander, die der gegenwärtigen Qualitätsforschung zugrunde liegen (vgl. Kapitel 3.1). Hier wird festgestellt, dass das herrschende Qualitätsmodell ethnozentrisch ist und in Bezug auf Orientierungs-, Struktur- und Prozessqualität auf Vorstellungen individualistisch geprägter westlicher Gesellschaften aufbaut. Elterliche Erziehungsziele und Vorstellungen von guter Erziehung aus anderen Kontexten werden demnach zu wenig berücksichtigt. Häufig ergebe sich gar eine Defizitperspektive auf zugewanderte Familien, deren pädagogisches Handeln vor dem Hintergrund der gängigen Maßstäbe als ‚anders‘ wahrgenommen werde. Um der Heterogenität von Erziehungsvorstellungen und dem Integrationsanspruch der Frühpädagogik gerecht zu werden, wird gefordert, Untersuchungen zu elterlichen Ethnotheorien aus der kulturvergleichenden Entwicklungspsychologie einzubeziehen (vgl. Kapitel 3.2). Gleichzeitig gibt es Bemühungen, die Orientierungen von Eltern ‚mit Migrationshintergrund‘ zu untersuchen, ohne sie an bestimmten ‚Herkunftskulturen‘ festzumachen, sondern die Bedingungen der Migration und die Akkulturationsprozesse der Familien stärker einzubeziehen. Entsprechende Untersuchungen zeigen, dass sich Erziehungsvorstellungen deutscher und zugewanderter Eltern unterscheiden, aber auch, dass sich letztere abhängig von der Zuwanderungsgeneration verändern und an die Vorstellungen nicht gewanderter Eltern annähern (vgl. Kapitel 3.3). Somit wird deutlich, dass die jeweilige Konstruktion von Orientierungssystemen in zugewanderten Familien sowohl durch den Herkunftskontext als auch durch den Aufnahmekontext geprägt wird und dass sich daraus eine je individuelle ‚ethnische Identität‘

Zwischenbilanz und Fragestellung

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ergibt. Diese spielt eine wichtige Rolle in der Familie, z.B. für die Vermittlung von Zugehörigkeit und für den Umgang mit dem Status als Minderheit sowie ggf. mit Diskriminierungserfahrungen. Sowohl die Auseinandersetzung mit der Inanspruchnahme und der Qualität frühpädagogischer Angebote als auch die nähere Beschäftigung mit den Erziehungsvorstellungen in zugewanderten Familien weisen also darauf hin, dass eine bisher uneingelöste Notwendigkeit besteht, der hier vorhandenen Heterogenität gerecht zu werden. Dies bezieht sich ebenso auf die Praxis wie auch auf die Forschung. So wird in verschiedenen Studien diesbezüglich betont, dass es vor allem qualitativer Untersuchungen bedarf, die die Tiefendimensionen von familiären Entwicklungsumwelten und Erziehungsvorstellungen vor dem Hintergrund von Migration und jenseits einer Defizitperspektive fokussieren (vgl. Kapitel 3.3). Dieses Forschungsdesiderat greift die vorliegende Arbeit auf, indem sie die Orientierungen von Eltern und Fachkräften in den Blick nimmt, die für die Gestaltung der Entwicklungsumwelten in der frühen Kindheit maßgeblich sind. Dabei geht es speziell um die Erziehung derjenigen Kinder, deren familiärer Hintergrund migrationsbedingt auch Bezüge aufweist, die jenseits des Kontextes ‚westlich geprägter individualistischer‘ Gesellschaften liegen. Bei der Untersuchung der Orientierungen von Eltern und Fachkräften soll es jedoch nicht um die gesamte Bandbreite von Erziehungsvorstellungen gehen, sondern vor allem um die sprachliche Erziehung. Diese Fokussierung ergibt sich aus der besonderen Rolle der Sprache, die anhand des hier erarbeiteten Forschungsstandes in verschiedenerlei Hinsicht deutlich wurde. Erstens zeigt die Auseinandersetzung mit elterlichen Erziehungsvorstellungen, dass Sprache die Funktion hat, übergreifende Bedeutungssysteme und Wertvorstellungen mit dem Bewusstsein zu verknüpfen. Mittels der Sprache erklären Eltern ihren Kindern die Welt und geben für sie wichtige Normen und Regeln weiter. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive zeigt sich außerdem, dass dabei gerade vor dem Hintergrund von Migration und Akkulturation eine gemeinsame Sprache von zentraler Bedeutung für Eltern und Kinder ist und als besonders prägend für die Identität betrachtet wird (vgl. Kapitel 3.3). Dies spiegelt sich zweitens darin wider, dass die Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit für viele Eltern ‚mit Migrationshintergrund‘ ein wichtiges Kriterium für oder gegen die Inanspruchnahme frühpädagogischer Angebote ist (vgl. Kapitel 2.3). In der Untersuchung von unterschiedlichen Erziehungsvorstellungen bei Fachkräften und Eltern ist zudem aufgefallen, dass diese gerade in Bezug auf (mehr-)sprachige Erziehung weit auseinanderliegen können (vgl. Kapitel 3.3). Dies deutet darauf hin, dass Vorstellungen zur sprachlichen Erziehung eine be-

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| Theoretischer Teil

sondere Rolle unter den Erziehungsvorstellungen spielen können und ist ein weiterer Grund für die Fokussierung der Frage nach elterlichen und professionellen Vorstellungen zur sprachlichen Bildung und Erziehung. Drittens wird der sprachlichen Bildung und Erziehung sowohl im bildungspolitischen als auch im frühpädagogischen Fachdiskurs eine zentrale Bedeutung beigemessen. Die Erwartungen in Bezug auf die spätere Bildungslaufbahn, in Bezug auf den Ausgleich sozialer Ungleichheit und in Bezug auf Integration, die sich mit dem Ausbau frühpädagogischer Angebote verbinden, stützen sich maßgeblich auf die Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten und ihre Förderung in frühpädagogischen Einrichtungen. Sprachliche Fähigkeiten sind zentral für Bildungserfolg und gesellschaftliche Teilhabe, weshalb der sprachlichen Bildung und Erziehung in der Frühpädagogik eine besondere Rolle zukommt. Schließlich wird viertens auch innerhalb des Feldes der Sprachaneignungsforschung deutlich, dass Erkenntnisse über mehrsprachiges Aufwachsen vertieft werden müssten (vgl. Kapitel 4.2). Unterschiede beim Zeitpunkt des Erwerbsbeginns, in der Quantität und Qualität des sprachlichen Inputs oder in der Erwerbssituation führen zu maßgeblichen Unterschieden in Bezug auf Verlauf und Ergebnisse mehrsprachigen Aufwachsens. Detaillierte Erkenntnisse über diese Aspekte sind daher nötig, um mehrsprachiges Aufwachsen zu verstehen und im Einzelnen einschätzen zu können. Vor dem Hintergrund der Bedeutung sprachlicher Bildung zeigte sich auch, dass die Konzentration auf den Erwerb schulreifer Deutschkenntnisse in der Frühpädagogik der sprachlichen Situation vieler Kinder nicht gerecht wird (vgl. Kapitel 4.3). Es wird gefordert, dass die Sprachaneignung mehrsprachiger Kinder jenseits von starren Normalitätserwartungen, die sich zudem am Erwerb Einsprachiger orientieren, betrachtet wird, um allen Kindern die Entwicklung ihres je spezifischen gesamtsprachlichen Repertoires zu ermöglichen. Anhand von Untersuchungen zu den Orientierungen der Fachkräfte in Bezug auf Mehrsprachigkeit wurde zudem deutlich, dass eine Haltung, die sprachliche Bildung als Entwicklung eines mehrsprachigen Repertoires versteht, hier nicht allzu verbreitet ist, und dass vor allem in Bezug auf die konkrete Umsetzung im Kitaalltag Unsicherheit besteht (vgl. Kapitel 4.3). Neben der weiteren Untersuchung der Bedingungen mehrsprachigen Aufwachsens in den Familien steht daher auch eine genauere Untersuchung der Bedingungen (mehr-)sprachlicher Bildung in frühpädagogischen Einrichtungen anhand des Handelns der Fachkräfte aus. Eine gleichzeitige Untersuchung der Eltern- und der Fachkräfteperspektive auf mehrsprachiges Aufwachsen ergibt sich außerdem aus der mit dem Bedeutungszuwachs der frühkindlichen Bildung verbundenen Forderung, die Kooperation zwischen Eltern und Einrichtung weiterzuentwickeln. Der Vergleich von El-

Zwischenbilanz und Fragestellung

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tern- und Fachkräfteorientierungen könnte hier Anschlussstellen und Vermittlungsbedarfe aufzeigen. Die vorliegende Arbeit möchte also die Erkenntnisse über mehrsprachiges Aufwachsen in der frühen Kindheit erweitern, indem sie sowohl die Perspektive der Eltern als auch die der Fachkräfte in frühpädagogischen Einrichtungen erschließt. Anstatt Sprachaneignung z.B. anhand des Messens der sprachlichen Kompetenzen Mehrsprachiger oder professionelles Handeln z.B. anhand von Beobachtungen im pädagogischen Alltag zu untersuchen, sollen hier Eltern und Fachkräfte selbst zu Wort kommen. Mehrsprachiges Aufwachsen in seiner Heterogenität wird untersucht, indem diejenigen, die hier maßgeblich wirken, ihr Handeln in Bezug auf die sprachliche Erziehung und Bildung vor dem Hintergrund ihrer grundsätzlichen Vorstellungen und Orientierungen erklären. Damit wird keinesfalls die Wirklichkeit mehrsprachigen Aufwachsens in Familie und Kita abgebildet, zumal die Auswahl der Untersuchungspartnerinnen nur einen bestimmten Ausschnitt der vorhandenen Vorstellungen über Spracherziehung aufgreift. Es wird jedoch erwartet, dass die Rekonstruktion der handlungsleitenden Orientierungen von Eltern und Fachkräften aufschlussreiche Einblicke in die Gestaltung mehrsprachiger Entwicklungsumwelten in Familie und Einrichtung und ihre Hintergründe liefern kann. Die erste Untersuchungsfrage lässt sich daher folgendermaßen formulieren: • Wie gestalten mehrsprachige Eltern und Kitafachkräfte die sprachliche Erzie-

hung ihrer Kinder und was sind die zentralen Vorstellungen und Orientierungen, von denen sie sich dabei leiten lassen? Inwiefern sich die Vorstellungen und Orientierungen von Eltern und Fachkräften als subjektive Theorien verstehen lassen, die das Handeln in der Spracherziehung leiten, und wie diese konkret rekonstruiert werden sollen, wird im Kapitel 7.2 zum methodischen Vorgehen geklärt. Zunächst steht jedoch noch die Erarbeitung einer weiteren Fragestellung aus, die sich auf die gesellschaftliche Kontextualisierung der zu untersuchenden subjektiven Theorien bezieht.

6.2 DIE FRAGE NACH DEM MIGRATIONSGESELLSCHAFTLICHEN KONTEXT Die in den Kapiteln 3 und 4 dargestellten Erkenntnisse über heterogene Erziehungsvorstellungen, Sprachaneignung und mehrsprachiges Aufwachsen sowie über den Umgang mit Mehrsprachigkeit in der Kita haben gezeigt, dass gesell-

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| Theoretischer Teil

schaftliche Normalitätserwartungen häufig im Widerspruch stehen zu den tatsächlichen Entwicklungsumwelten vieler Kinder. Besonders in Bezug auf sprachliche Bildung und Erziehung wurde deutlich, dass monolingual ausgerichtete Erwartungen an die sprachliche Entwicklung den Aneignungsverläufen und -praktiken mehrsprachiger Kinder nicht immer gerecht werden. Mehrsprachiges Aufwachsen, das zeigt sich schon hier, ist eingebunden in gesellschaftliche Kontexte. Dies wird sowohl im Hinblick auf die Bedeutung von Sprache(n) im Rahmen der Entwicklungsumwelten in zugewanderten Familien deutlich als auch im Hinblick auf die Sprachpolitiken von Bildungsinstitutionen und ihre Sprachförderpraxis. Aus einer migrationspädagogischen Perspektive lässt sich mehrsprachiges Aufwachsen nun als Teil von migrationsgesellschaftlichen Subjektivierungsprozessen verstehen. Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, wie sich Subjektbildung im migrationsgesellschaftlichen Kontext anhand der in ihm geltenden machtvollen Ordnungen vollzieht (Vgl. Kapitel 5.1). Gleichzeitig wird darauf verwiesen, wie gesellschaftlich relevante Normalvorstellungen nicht nur Subjekte entstehen lassen und ihre Möglichkeitsräume limitieren, sondern auch von den Subjekten selber umgedeutet und für eine subversive Selbstpositionierung genutzt werden können. Sprache spielt im Rahmen solcher Subjektivierungsprozesse eine entscheidende Rolle, sowohl als Zugehörigkeits- und Differenzmerkmal als auch als Mittel für die mögliche Konstruktion einer eigenen ‚Sprachidentität‘ (vgl. Kapitel 5.2). Mehrsprachigkeit bedeutet somit vor dem Hintergrund der Migrationsgesellschaft weit mehr als den Erwerb zweier oder mehrerer Sprachen. Sie wird im Rahmen einer machtvollen gesellschaftlichen Positionierung der Subjekte herangezogen und bietet dem Subjekt gleichzeitig die Möglichkeit, sich selbst anhand seiner mehrsprachigen Praxis zu verorten. Entsprechende Untersuchungen zeigen, wie die Relevantmachung von Sprache und Sprachbeherrschung in Bildungsinstitutionen dazu beiträgt, hierarchische Differenzordnungen der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ durchzusetzen und Über- und Unterordnung sowie Ausschluss zu legitimieren. Es wurde aber auch deutlich, dass über Sprachformen, die kreativ mit der Vielfalt umgehen, eigene Positionen bezogen werden können, z.B. durch den Gebrauch von Ethnolekten oder eine ‚quersprachige‘ Sprachennutzung (vgl. Kapitel 5.3). Speziell für die Frühpädagogik wird in ethnographischen Untersuchungen, die soziale Praxis vor dem Hintergrund struktureller Ordnungen fokussieren, deutlich, dass der Umgang mit Mehrsprachigkeit hier eine zentrale Herausforderung darstellt (vgl. Kapitel 5.4). Um ihr zu begegnen wird häufig eine monolinguale Normorientierung für die Sprachbeherrschung als zentrale Strategie der Sprachförderung eingesetzt, was eine institutionelle Produktion von Ungleich-

Zwischenbilanz und Fragestellung

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heit nach sich zieht. Des Weiteren zeigen Untersuchungen, wie im Rahmen einer solchen ‚Erziehung zur Einsprachigkeit‘ Kinder verstummen, wenn sie den monolingualen Modus der sprachlichen Förderung nicht einhalten können, und dass sie z.T. ihre Mehrsprachigkeit verleugnen, um einer Markierung als (nicht nur sprachliche) Minderheit zu entgehen. Diese Erkenntnisse zeigen, dass ein Blick auf den Zusammenhang zwischen der Gestaltung sprachlicher Entwicklungsumwelten und den gesellschaftlichen Ordnungen, von denen erstere mitstrukturiert werden, aufschlussreich ist. Erstens wird dabei deutlich, wie Sprache in einem subjektwissenschaftlichen Sinne Identität und Zugehörigkeit konstruiert und zur Positionierung der Subjekte beiträgt. Entsprechende Untersuchungen haben hier Beispiele geliefert, wie Kindern durch das Sprachregime der Kita beigebracht wird, zu welcher Gruppe sie gehören, und wie ihnen aufgrund ihrer Mehrsprachigkeit eine ‚andere‘ Herkunft zugeschrieben wird. Zweitens zeigt sich, wie die Aneignung von Sprache durch hierarchische Ordnungen strukturiert wird. Die verbreitete Orientierung der sprachlichen Bildung an monolingualen Normalitätserwartungen führt dazu, dass Mehrsprachige ihre eigenen sprachlichen Kompetenzen an einsprachigen Normen messen und dass in der sprachlichen Entwicklung der Erwerb des Deutschen im Vordergrund steht. Beispiele aus der Forschung haben gezeigt, dass mehrsprachige Kinder in der Kita anhand eines monolingualen Sprachregimes lernen, wie sie sich sprachlich zu verhalten haben, um nicht sanktioniert zu werden. Drittens lässt sich durch die Betrachtung der subjektivierenden Ordnungen im Hintergrund von Sprachaneignung erkennen, welche Möglichkeiten Sprache auch zur Resignifizierung bietet. Die Förderung einer quersprachigen Praxis kann Mehrsprachigen möglicherweise dazu verhelfen, eine eigene Sprachidentität jenseits von monolingualen Normalitätsvorstellungen zu entwickeln. Die Vorstellungen und Orientierungen von Eltern und Fachkräften über die sprachliche Erziehung ihrer Kinder, die in der vorliegenden Arbeit als subjektive Theorien über mehrsprachiges Aufwachsen rekonstruiert werden, sollen daher in einem zweiten Schritt auf Spuren und Reflexe machtvoller migrationsgesellschaftlicher Ordnungen hin untersucht werden. Dabei soll herausgearbeitet werden, inwiefern der migrationsgesellschaftliche Kontext anhand seiner subjektivierenden Ordnungen die Gestaltung sprachlicher Entwicklungsumwelten in Familie und Kita prägt. Die entsprechende Fragestellung lautet daher: • Wie lassen sich die subjektiven Theorien von Eltern und Fachkräften über

mehrsprachiges Aufwachsen im Hinblick auf ihren migrationsgesellschaftlichen Kontext interpretieren? Welche Hinweise enthalten sie auf eine Verarbeitung gesellschaftlicher Differenz- und Zugehörigkeitsordnungen?

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| Theoretischer Teil

Die Erkenntnisse, die durch die Rekonstruktion der subjektiven Theorien über mehrsprachiges Aufwachsen und ihre migrationsgesellschaftliche Kontextualisierung erarbeitet werden, sollen schließlich noch auf eine Weiterentwicklung der konkreten Praxis bezogen werden. Angesichts des hier dargestellten Forschungsstandes wurde deutlich, dass weitergehende Erkenntnisse über die (sprachlichen) Entwicklungsumwelten der Kinder nötig sind, um die pädagogische Qualität zu fördern und um Ausschluss entlang natio-ethno-kultureller Zugehörigkeiten zu verhindern. Bezogen auf die sprachliche Erziehung und Bildung bedeutet das nicht nur, neben dem „Wie“ auch das „Warum“ zu erschließen, sondern zusätzlich die migrationsgesellschaftliche Dimension zu hinterfragen. Von ihr wird erwartet, dass sie die Gestaltung der sprachlichen Entwicklungsumwelten prägt und sich in den subjektiven Theorien wiederfindet. Die Antworten auf beiden Ebenen können Aufschluss darüber geben, welche Haltungen und Maßnahmen in der Frühpädagogik geeignet sind, um die Kooperation zwischen Elternhaus und Einrichtung in Bezug auf die sprachliche Bildung zu fördern und den Kindern eine Entfaltung ihres je eigenen sprachlichen Repertoires zu ermöglichen.

Empirischer Teil

7

Methodologische Überlegungen und methodisches Vorgehen

Um die sprachlichen Entwicklungsumwelten von Kindern in heterogenen Kontexten zu untersuchen, wird in der vorliegenden Arbeit die Perspektive der Eltern und der Fachkräfte gewählt, die diese Umwelten (mit-)gestalten. Es wird davon ausgegangen, dass Eltern und Fachkräfte die sprachliche Erziehung und Bildung der Kinder maßgeblich prägen und dass sie das anhand von Vorstellungen und Orientierungen tun, die als subjektive Theorien über mehrsprachiges Aufwachsen rekonstruierbar sind. Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass sich in den subjektiven Theorien auch der migrationsgesellschaftliche Kontext widerspiegelt, dass also die soziale Praxis mit migrationsgesellschaftlichen Diskursen verwoben ist, und dass sich dies in den subjektiven Theorien zeigt.

7.1 METHODOLOGISCHE ÜBERLEGUNGEN Die Untersuchung baut damit auf einem Verständnis von kulturwissenschaftlicher Analyse auf, das die Forschungslogik praxeologischer und diskursanalytischer Ansätze zu verbinden sucht. Die Rekonstruktion der subjektiven Theorien von Eltern und Fachkräften steht zunächst in der Tradition praxeologischer Ansätze, die soziale Praktiken als die eigentliche Grundlage des Sozialen bzw. Kulturellen sehen. Praxeologische Analysestrategien bauen u.a. auf der Theorie der Praxis von Bourdieu (1979; 1987) auf und fokussieren „soziale Praktiken in ihrer materiellen Verankerung in Körpern und Artefakten sowie in ihrer Abhängigkeit von implizitem Wissen, die als kleinste Einheit der sozial- und kulturwissenschaftlichen Analyse vorausgesetzt werden“ (Reckwitz 2008: 188). Praxeologische Ansätze gehen von einer Doppelstruktur der sozialen Praxis aus, die einerseits aus konkret beobachtbaren Handlungen und andererseits aus dem in ihnen enthaltenen inkorporierten Wissen besteht, das nicht direkt wahrgenommen,

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| Empirischer Teil

sondern nur indirekt erschlossen werden kann (vgl. ebd.: 196). Forschungsmethodologisch arbeiten diese Ansätze daher meistens mit ethnographischer teilnehmender Beobachtung, mit der die als grundlegend betrachteten sozialen Praktiken, die in Körpern und Artefakten verankert sind, erschlossen werden können. Daneben werden qualitative Interviews eingesetzt, um den Rückschluss vom Expliziten (der beobachtbaren sozialen Praxis) aufs Implizite (dem unsichtbaren sozialen Sinn) zu unterstützen. Das pädagogische Handeln von Eltern und Fachkräften in der sprachlichen Bildung und Erziehung lässt sich somit in der praxeologischen Forschungslogik als soziale Praxis verstehen, die einerseits in den konkreten pädagogischen Handlungen und andererseits in der impliziten Sinnstruktur besteht. In der vorliegenden Untersuchung wird demensprechend davon ausgegangen, dass die Gestaltung sprachlicher Entwicklungsumwelten als soziale Praxis rekonstruiert werden kann, indem die sie konstituierenden Wissensschemata von Eltern und Fachkräften erschlossen werden. Zu diesem Zweck wird hier die Methodik des Forschungsprogramms Subjektive Theorien (Groeben/Scheele 2010, im Folgenden FST), modifiziert und angewandt. Das FST geht von einem explizit subjektorientierten Wissens- und Handlungsverständnis und von einer grundlegenden Fähigkeit des Menschen zur (Selbst-)Erkenntnis aus. Sprach- und Kommunikationsfähigkeit, Reflexivität, potenzielle Rationalität und Handlungsfähigkeit sind die zentralen anthropologischen Merkmale des zugrundeliegenden epistemologischen Subjektmodells (ebd.: 151). Auf dieser Grundlage wird im FST das Erkenntnis-Objekt (die Untersuchungspartnerinnen und -partner) parallel zum Erkenntnis-Subjekt (der Forscherin/dem Forscher) konstruiert. Als Kernmerkmal von Handlungen wird ihre Intentionalität hervorgehoben, die impliziert, dass mit dem Handeln ein Sinn verbunden, ein Ziel angestrebt wird. Für die Entscheidung für und Planung von Handlungen sind demnach sowohl Situationskontexte als auch Normen- und Wertesysteme relevant. Um Handlungsentscheidungen zu treffen, Handlungspläne abzuleiten und durchzuführen und Erklärungen und Prognosen zu treffen, stelle das Erkenntnis-Objekt Theorien auf, mit denen es sich die Welt und sich selbst darin erkläre. Diese subjektiven Theorien sind Gegenstand des Forschungsprogramms. Während die konkrete Handlungsdimension der sozialen Praxis also von außen beobachtbar ist, ist ihre subjektive intentionale Sinndimension nur implizit erschließbar. Das FST baut darauf, dass diese Dimension von der/dem Handelnden kommunikativ mitteilbar ist, was für ihre Rekonstruktion eine systematische Verstehensmethodik erfordert, die das FST bereitstellt. Die genaue Vorgehensweise bei der Rekonstruktion der so verstandenen subjek-

Methodologie und methodisches Vorgehen

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tiven Theorien von Eltern und Fachkräften über mehrsprachiges Aufwachsen, die an das FST angelehnt ist, wird in Kapitel 7.2 beschrieben. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich jedoch nicht auf die Rekonstruktion subjektiver Theorien über mehrsprachiges Aufwachsen. Wie bei der Entwicklung der Fragestellung deutlich wurde, geht es ihr auch um die Interpretation der rekonstruierten subjektiven Theorien im Hinblick auf ihren migrationsgesellschaftlichen Kontext. Es wird davon ausgegangen, dass in den subjektiven Theorien Spuren migrationsgesellschaftlicher Differenz- und Zugehörigkeitsordnungen zu finden und die Orientierungen und Vorstellungen über sprachliche Erziehung und Bildung auch als Reaktionen auf sie zu verstehen sind. Damit wird zusätzlich zur praxeologischen Perspektive ein diskurstheoretischer Blickwinkel eingenommen, der das Verhältnis von Text und Kontext (Reckwitz 2008: 199) fokussiert. Diskurstheoretische und -analytische Forschungsansätze greifen u.a. auf die Diskurstheorie Foucaults und seine Rekonstruktion von Aussagesystemen (Foucault 1990) zurück. Im Gegensatz zu den praxeologischen Ansätzen werden hier Diskurse als „die eigentliche Grundlage des Sozialen/Kulturellen“ präsentiert (Reckwitz 2008: 193). Sie seien die kleinste Einheit des Sozialen, weil Handlungen und Dinge erst relevant würden, sobald sie „etwas für andere bedeuten“ (ebd.: 192). Diskurse werden als Systeme vorgestellt, „die regulieren, welche Bedeutungen im jeweiligen Kontext als intelligibel erscheinen“ (ebd.). Sie sind „Signifikationsregime, die jegliche Form menschlichen Handelns als sinnhaftes Handeln fundieren“ (ebd.). Die dominanten kulturellen Codes in gesellschaftlichen Diskursen prägen dabei „ein ganzes Feld möglichen Handelns und Denkens“ (ebd.: 193) und fungieren so als primäre „Sinngeneratoren für Ordnungen des Denkbaren und Sagbaren“ (ebd.). Das Ensemble solcher Ordnungen, die sich in Diskursen manifestieren, nennt Foucault (1991) „Dispositiv“. Diskursanalytische Forschungsansätze arbeiten meistens textanalytisch, rekonstruieren Codes und Sinnstrukturen aus ihrem Material und untersuchen den gesellschaftlichen Status bestimmter Diskurse (vgl. Reckwitz 2008: 199). Dazu versuchen sie, den jeweiligen Kontext zu erschließen, indem sie z.B. Codes des politischen oder ökonomischen Diskurses einbeziehen und ihre Wirksamkeit untersuchen. Die im Forschungsstand dargestellten migrationspädagogischen Analysen und ethnographischen Untersuchungen folgen einer solchen diskurstheoretischen Forschungslogik, indem sie diskursive Praktiken fokussieren, sie mit übergeordneten gesellschaftspolitischen Diskursen und dem gesellschaftlichen Kontext als Dispositiv in Zusammenhang bringen und dabei die machtvollen Ordnungen herausarbeiten, die in ihnen sichtbar werden. In diesem Sinne wird auch in der vorliegenden Untersuchung davon ausgegangen, dass sich die subjektiven Theo-

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| Empirischer Teil

rien über mehrsprachiges Aufwachsen mit dominanten Codes des migrationsgesellschaftlichen Diskurses in Verbindung bringen lassen und dass der migrationsgesellschaftliche Kontext als Dispositiv im Foucault’schen Sinne anhand seiner subjektivierenden Ordnungen die subjektiven Theorien mitstrukturiert. Den scheinbaren Widerspruch zwischen praxeologischen und diskursiven Ansätzen, die einerseits die soziale Praxis und andererseits den Diskurs als kleinste Einheit des Sozialen ansehen, versucht Reckwitz aufzulösen, indem er die Untersuchung von „Praxis/Diskurs-Formationen“ vorschlägt (ebd.: 201). Praktiken und Diskurse sollen damit nicht als zwei unabhängige Gegenstände separiert, sondern „als zwei aneinander gekoppelte Aggregatszustände der materialen Existenz von kulturellen Wissensordnungen“ begriffen werden (ebd.: 202). Die Verbindung von Diskursen und Praktiken werde darin deutlich, dass in allen Praktiken zwangsläufig Sinnzusammenhänge enthalten seien, die „ihnen, ohne dass sie repräsentiert oder thematisiert werden müssten, ihre Form geben: […] „Alle sozialen Praktiken enthalten Wissensordnungen und Codes“ (ebd.: 205). Damit werde klar, dass Praktiken immer auch diskursive Praktiken enthalten: „Jene kulturellen Unterscheidungen, die in den Praktiken insgesamt zum Einsatz kommen, werden in den diskursiven Repräsentationen selber zum Thema“ (ebd.). Kulturelle Ordnungen manifestierten sich in Praktiken und Diskursen gleichermaßen. Gemäß Reckwitz‘ Vorschlag wird in der vorliegenden Arbeit die Gestaltung mehrsprachigen Aufwachsens als Praxis/Diskurs-Formation verstanden und bei ihrer Untersuchung wird das praxeologische Vorgehen des FST mit der diskursanalytischen Herangehensweise der migrationspädagogischen Perspektive verbunden. Mehrsprachiges Aufwachsen wird als eine soziale Praxis vorgestellt, die diskursive Codes enthält, welche sich auf kulturelle Ordnungen beziehen und der sozialen Praxis ihre Form geben. Das in der sozialen Praxis der Gestaltung mehrsprachigen Aufwachsens enthaltene implizite Wissen wird als subjektive Theorie der Handelnden rekonstruiert. Die subjektiven Theorien werden als Manifeste der sozialen Praxis verstanden, die das implizite Wissen, das das pädagogische Handeln leitet, explizit machen. Darüber hinaus werden die subjektiven Theorien diskurstheoretisch als Repräsentationen des migrationsgesellschaftlichen Kontextes betrachtet. Dabei werden dessen dominante Codes und Ordnungen sichtbar und gleichzeitig zeigt sich, wie diese die soziale Praxis prägen.

Methodologie und methodisches Vorgehen

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7.2 ERHEBUNGSMETHODIK Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien Die Rekonstruktion der subjektiven Theorien von Eltern und Fachkräften über mehrsprachiges Aufwachsen in der vorliegenden Arbeit ist methodisch an das FST angelehnt, wie es von Groeben und Scheele seit den 1970er Jahren entwickelt wurde (vgl. Groeben/Scheele 2010). Die ursprüngliche Untersuchungsstruktur des FST ist zweiphasig und beinhaltet einerseits die Erhebung der intentionalen Innensicht der oder des Handelnden und andererseits die Prüfung der „Realitäts-Adäquanz“ (ebd.: 155) der subjektiven Theorien durch Beobachtung. Die Erhebung der intentionalen Innensicht erfolgt durch ein halbstandardisiertes Interview, in dem die Erkenntnis-Objekte (die Untersuchungspartnerinnen und partner) ihr Handeln reflektieren und begründen. Nach der Auswertung der Interviews wird in einer zweiten Sitzung gemeinsam mit den Untersuchungspartnerinnen und -partnern ein Theoriebild erstellt, mit dem die subjektive Theorie der Handelnden sichtbar gemacht und einer „kommunikativen Validierung“ unterzogen wird (ebd.). Dafür wurden verschiedene „Struktur-Lege-Leitfäden“ entwickelt, wie z.B. die „Heidelberger Struktur-Lege-Technik“ (Scheele/ Groeben 2010). Das FST wurde zunächst im Rahmen der allgemein- und sozialpsychologischen Grundlagenforschung entwickelt. Grundsätzlich impliziert der handlungstheoretische Ausgangspunkt des FST ein Einsetzen beim Einzelfall. Um die Frage nach überindividuellen Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zu beantworten, können aber auch mehrere subjektive Theorien zu einer Struktur zusammengeführt werden. Subjektive Theorien können dort, wo es noch keine ausgearbeiteten objektiven Theorien gibt, auch als Heuristik eingesetzt werden. Gleichzeitig ist es möglich, dass subjektive Theorien durch den Austausch mit wissenschaftlichen Theorien modifiziert werden (vgl. Groeben/Scheele 2010: 157). Das FST wurde bisher schwerpunktmäßig in der pädagogisch-psychologischen Unterrichtsforschung eingesetzt, wobei es hauptsächlich um die Untersuchung der Gründe für problematisches Handeln aufseiten der Lehrkräfte ging (ebd.). Speziell das Lehren und Lernen von Fremdsprachen wurde mit dem FST untersucht, indem sowohl die subjektiven Theorien der oder des Lehrenden als auch der Lernenden über die Lehrinhalte und den Lernprozess erhoben wurden, um den Lehr-Lernprozess zu optimieren (vgl. u.a. Grotjahn 1998). Zu subjektiven Theorien von Erzieherinnen und Erziehern liegen nur sehr wenige Studien vor. Laut Müller (2007) beziehen sich diese hauptsächlich auf Erziehungsvorstellungen oder auf Teilaspekte von Bildung. Häufig verfolgen diese Untersuchungen eine eher allgemeine Fragestellung, die sich z.B. auf Erziehungsziele (Ulich 1989),

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Bildungskonzeptionen oder Wertvorstellungen (Dippelhofer-Stiem 2000; 2002) beziehen oder subjektive Theorien über Kreativität (Schneider 2003) bzw. Bildung (Müller 2007) rekonstruieren. Es gibt aber auch Untersuchungen, die sich auf bestimmte Ausschnitte des pädagogischen Handelns beziehen, wie z.B. die Studie von Rank (2008), die subjektive Theorien von Erzieherinnen über Diagnose und Förderung von „Risikokindern“ im Schriftspracherwerb rekonstruiert. Zu den noch selteneren Untersuchungen subjektiver Theorien von Eltern gehört die Arbeit von Worrall (1981), der die subjektiven Theorien von Müttern über ihre Kinder am Beispiel der Hausaufgabenhilfe untersuchte. Nicht alle Untersuchungen halten sich streng an das im FST beschriebene Vorgehen. So werden z.B. in der Studie von Müller (2007) die Aussagen aus episodischen Interviews nach einer thematischen Kodierung typisiert, indem das Gemeinsame von ähnlichen Fällen anhand von Kernkategorien in einer Typenbeschreibung gebündelt wird. Die Phase der kommunikativen Validierung, in der die subjektiven Theorien zusammen mit den Befragten mithilfe einer StrukturLege-Technik visualisiert werden, entfällt hier. In der Studie von Volgger (2012) über die Mehrsprachigkeitsbewusstheit von Schülerinnen und Schülern wurden die Theoriebilder nicht von den Untersuchungspartnerinnen und -partnern, sondern von der Forscherin angefertigt und in der Sitzung zur kommunikativen Validierung mit ihnen besprochen und ggf. verändert. Begründet wird dieses Vorgehen damit, dass die Untersuchungspartnerinnen und -partner kognitiv und motivational nicht überfordert werden sollten. Rank (2008) verwendet für ihre Untersuchungspartnerinnen und -partner, von denen erwartet wird, dass sie wenig oder keinen Kontakt zu wissenschaftlichen Theorien haben, als Adaption der „Heidelberger Struktur-Lege-Technik“ das „alltagssprachliche Struktur-LegeSpiel“ (Scheele u.a. 1992), das ein weniger umfangreiches Regelwerk und eine einfachere Sprache verwendet. Häufig wurde zudem in Untersuchungen, die auf das FST Bezug nehmen, auf die zweite Untersuchungsphase, die Prüfung der „Realitäts-Adäquanz“ (Groeben/Scheele 2010: 155) der subjektiven Theorien durch Beobachtung, verzichtet. Auch in der vorliegenden Rekonstruktion der subjektiven Theorien von Eltern und Fachkräften wird die Methodik des FST modifiziert und nur in Teilen umgesetzt. Dabei wurden die Modifizierungen und Adaptionen anderer FST-Studien als Inspiration aufgegriffen. Leitfadengestützte Interviews In einem ersten Schritt wurde die intentionale Innensicht der Untersuchungspartnerinnen mit einem leitfadengestützten Interview erhoben. Der Leitfaden thematisiert verschiedene mögliche Bereiche der subjektiven Theorie, legt jedoch nicht die Wortwahl oder Reihenfolge der Themen im Gespräch fest. Zu jedem The-

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menbereich gibt es eine einleitende offene Frage, wie z.B. „Was verbindest Du mit dem Begriff Sprache, wenn Du an die Entwicklung Deiner Kinder denkst?“. Um darüber hinaus implizites Wissen der Interviewpartnerinnen zu erheben, wurden außerdem theoriegeleitete, hypothesengerichtete Fragen gestellt (vgl. Scheele/Groeben 2010). In diesen Fragen wurden Annahmen formuliert, die die Untersuchungspartnerinnen aufgreifen oder ablehnen konnten, wie z.B. „Gibt es in den verschiedenen Sprachen einen unterschiedlichen Kommunikationsstil?“. Im FST vorgesehen ist außerdem ein dritter Fragentyp, durch den die von den Untersuchungspartnerinnen entwickelten Zusammenhänge und Theorien noch einmal kritisch hinterfragt werden sollen (vgl. Flick 2014: 203ff). In diesen Konfrontationsfragen werden alternative Sichtweisen angeboten, die in inhaltlicher Konkurrenz zu dem stehen, was die Untersuchungspartnerinnen entwickelt haben1. Zusätzlich wurden Fragen gestellt, die auf das episodische Wissen abzielen, indem nach bestimmten Situationen und Erlebnissen im Zusammenhang mit der Spracherziehung gefragt wurde. Als Einstieg ins Interview mit den Eltern wurden Daten zu den verschiedenen genutzten Sprachen in der Familie, zur Anzahl und zum Alter der Kinder sowie zur Nutzung außerfamiliärer Betreuung abgefragt. Dabei wurden die Untersuchungspartnerinnen auch gebeten, den Spracherwerb in der Familie einem der fünf Erwerbstypen nach Reich (2010; vgl. Kapitel 4.2) zuzuordnen. Daneben umfasst der Interviewleitfaden für die Eltern neun weitere Themenbereiche. Die verschiedenen Themenbereiche wurden in den Interviews nicht in der Reihenfolge des Leitfadens angesprochen, sondern jeweils an der inhaltlich passenden Stelle des Gesprächs einbezogen. Gegen Ende wurde anhand des Leitfadens überprüft, ob alle vorgesehenen Themen besprochen worden waren. Um die „Ziele und Erziehungsstrategien“ (Abschnitt 1) der Eltern in Bezug auf den Spracherwerb der Kinder zu rekonstruieren, wurden die Untersuchungs-

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Im Fall der vorliegenden Untersuchung war es besonders wichtig, darauf zu achten, dass die Konfrontationsfragen die Untersuchungspartnerinnen nicht verunsichern. Da es sich vor allem bei den Eltern zwar um Expertinnen, aber nicht um professionelle Fachkräfte für Spracherziehung handelt, sind sie es nicht gewohnt, ihre Ideen und Einstellungen explizit zu machen und in Bezug zu anderen Theorien zu setzen. Eine Konfrontation ihrer Sichtweise mit widersprechenden theoretischen Ansätzen hätte dazu führen können, dass sie ihre Sichtweise zurückziehen. Daher wurden die Inhalte der Konfrontationsfragen so gewählt, dass sie zwar inhaltlich konkurrieren, jedoch aus einem ähnlichen Setting stammen. Es wurden also z.B. Aussagen von anderen Untersuchungspartnerinnen verwendet, aber nicht solche, die der wissenschaftlichen Fachliteratur entstammen.

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partnerinnen gefragt, ob sie allgemeine Vorstellungen über ‚gute Spracherziehung‘ haben und woran sich diese orientieren. Außerdem wurde danach gefragt, was sich die Eltern konkret für ihre Kinder wünschen und was sie selbst tun, um ihre Ziele zu erreichen. Um die Begründung der elterlichen Ziele und Handlungsweisen zu vertiefen, wurde außerdem die „Mehrsprachigkeit“ thematisiert (Abschnitt 2). Hier ging es darum, was Mehrsprachigkeit für die Familie bedeutet und welche Rolle sie nach Ansicht der Eltern für die Kinder spielt. Es wurde danach gefragt, ob die Eltern denken, dass die Kinder sich selbst als mehrsprachig wahrnehmen und ob die Kinder auf die verschiedenen Sprachen unterschiedlich reagieren. Außerdem wurde nach der Zufriedenheit der Eltern mit der mehrsprachigen Praxis in der Familie gefragt und danach, ob sie die mehrsprachige Erziehung als Herausforderung empfinden. Zusätzlich wurden die Eltern hier und bei den folgenden Abschnitten nach beispielhaften konkreten Situationen aus dem Familienalltag gefragt. Um weiteres implizites Wissen der Eltern und mögliche weitere Dimensionen der mehrsprachigen Praxis in der Familie einzubeziehen, wurde im Abschnitt 3 „Kommunikationsstile und Spracherwerb“ näher besprochen, wie die Sprachen in der Familie vermittelt werden. Um das implizite Wissen der Eltern über Sprachaneignung zu rekonstruieren wurde danach gefragt, wie die Kinder die verschiedenen Sprachen ihrer Meinung nach lernen, ob es dabei Unterschiede zwischen den Sprachen gibt und wovon diese Unterschiede abhängen. Die Informationen über die Vorstellungen der Eltern zur Aneignung verschiedener Sprachen und über die Gestaltung der mehrsprachigen Praxis wurden im Abschnitt 4 „Diskursive Praktiken“ ergänzt. Eingeleitet mit der Frage „Wie spreche ich?“ wurde hier danach gefragt, wie die Eltern in den verschiedenen Sprachen mit den Kindern sprechen, ob es dabei Unterschiede zwischen den Sprachen gibt und ob z.B. in den verschiedenen Sprachen unterschiedliche Inhalte oder Absichten im Vordergrund stehen. Dieses Thema wurde im Abschnitt 5 „Selbstwahrnehmung“ vertieft mit der Frage „Wie fühle ich?“. Hier ging es darum, ob sich die Kommunikation in den verschiedenen Sprachen unterschiedlich anfühlt und ob die Eltern glauben, dass auch die Kinder einen solchen Unterschied empfinden. Die eigene Gestaltung der mehrsprachigen Praxis wurde dann erweitert um das Thema „Kooperation Familie und Kita“ (Abschnitt 6). Hier ging es um die Erfahrungen der Eltern mit der Spracherziehung bzw. dem Umgang mit der Mehrsprachigkeit ihrer Kinder der Kita bzw. Krippe. Es wurde auch danach gefragt, ob und wie die Kita die familiäre Spracherziehung unterstützen könnte und was sich die Eltern diesbezüglich wünschen. Die Bedeutung der Sprache für die gesamte Entwicklung der Kinder wurde in den Abschnitten 7 „Sprache und Ent-

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wicklung“ und 8 „Sprache und Sozialisation“ thematisiert. Hier ging es, eingeleitet mit der Frage „Was macht die Sprache?“ darum, wie sich das Kind über die Sprache mit seiner Umwelt verbindet und welche unterschiedlichen Rollen dabei ggf. die verschiedenen Sprachen spielen. Dazu wurde auch thematisiert, in welchen Situationen und mit welchen Personen welche Sprachen gebraucht werden und wie die Kinder selbst über ihre Mehrsprachigkeit sprechen bzw. damit umgehen. Schließlich wurde mit dem Abschnitt 9 „Migrationsprojekt“ noch ein Themenbereich vertieft, der in den meisten Interviews bereits am Anfang des Gesprächs angesprochen wurde und auch im Verlauf immer wieder zur Sprache kam. Hier ging es um die Frage, wie die Untersuchungspartnerinnen ihre eigenen Migrationserfahrungen beschreiben würden, wie zufrieden sie mit ihrer Migrationssituation sind und was davon eine Rolle spielt, wenn es um das mehrsprachige Aufwachsen ihrer Kinder geht. Der Leitfaden für die Interviews mit den Fachkräften wird eingeleitet mit „Angaben zum beruflichen und sprachlichen Hintergrund“ der Untersuchungspartnerinnen. Hier wurde danach gefragt, wie lange sie schon mit Kindern arbeiten, wie ihr Weg in den Beruf war und ob sie im Bereich Sprache/Sprachförderung eine Zusatzausbildung absolviert haben. Außerdem wurde nach der eigenen Mehrsprachigkeit gefragt und ggf. nach der Migrationsgeschichte. Im zweiten Abschnitt wurden „Angaben zur Einrichtung“ abgefragt, wobei es neben der Anzahl der Kinder vor allem um deren Sprachen ging und um die Frage, welche Sprachen im Kitaalltag genutzt und welche Sprachen im Team gesprochen werden. Um die subjektiven Theorien der Fachkräfte über mehrsprachiges Aufwachsen zu rekonstruieren, wurden sie im Abschnitt 3 über „Sprache“ nach ihrem Verständnis von Sprache und den Zielen ihrer Spracherziehung gefragt. Hierzu gehören Fragen zur Rolle der Sprache in der kindlichen Entwicklung und zu den Vorstellungen der Fachkräfte über ‚gute Spracherziehung‘. Auch nach der Rolle der Fachkräfte gegenüber den Eltern in Bezug auf die Spracherziehung wurde hier gefragt. Die Rekonstruktion der Vorstellungen über Sprache und gute Spracherziehung wurde dann ergänzt durch das Thema „Mehrsprachigkeit“ (Abschnitt 4). Hier wurden die Fachkräfte gefragt, was mehrsprachiges Aufwachsen ihrer Meinung nach bedeutet und welche Unterschiede es zu einsprachig aufwachsenden Kindern gibt, welche Rolle die verschiedenen Sprachen ihrer Ansicht nach für die Kinder spielen, was sie über die Spracherziehung der mehrsprachigen Kinder in ihrer Gruppe wissen, wie sie mit der Mehrsprachigkeit umgehen, wie die Kita generell damit umgehen sollte und ob sie für die Mehrsprachigkeit der Kinder Ziele haben. Im Zusammenhang mit dem Thema Mehrsprachigkeit wurden auch die Vorstellungen der Fachkräfte zum Thema „Migration“

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(Abschnitt 5) besprochen und es wurden Fragen gestellt nach der Rolle, die die Migrationsgeschichten der Familien spielen, und nach Annahmen über den Zusammenhang zwischen Migrationsgeschichten und Zielen oder Wünschen, die Eltern für die Spracherziehung haben. Die Eindrücke und Vorstellungen der Fachkräfte über „Ziele und Wünsche der Eltern“ (Abschnitt 6) wurden erhoben, indem gefragt wurde, was diesbezüglich von Eltern an die Kita oder sie selbst herangetragen wird. Es wurde danach gefragt, ob die Fachkräfte als Expertinnen für Fragen der Spracherziehung angesprochen werden und in welcher Rolle sie sich selbst sehen, was die häufigsten Fragen und Anliegen der Eltern sind, welche Sorgen sie haben und womit sie ihrer Meinung nach zusammenhängen. Schließlich ging es auch darum, wie die Kita aus Sicht der Fachkraft mit den Vorstellungen der Eltern umgehen sollte bzw. wie sie selbst mit ihnen umgeht. Um die Gestaltung der „Spracherziehungspraxis in der Kita“ (Abschnitt 7) genauer zu beschreiben und zu reflektieren, wurde darüber gesprochen, in welchen Situationen im Kitaalltag Sprache und Spracherwerb eine Rolle spielen, wie die sprachliche Bildung gestaltet wird, welche Konzepte es dazu gibt und was der Fachkraft besonders wichtig ist. Hier ging es auch darum, wie die Mehrsprachigkeit der Kinder einbezogen wird, welche Sprachen im Kitaalltag eine Rolle spielen und welche Wirkung der praktizierte Umgang mit Mehrsprachigkeit auf die Kinder hat. Außerdem wurde gefragt, wie die Wünsche der Eltern einbezogen werden, ob die Fachkraft mit der Spracherziehungspraxis und dem Einbezug der Mehrsprachigkeit und der Elternwünsche zufrieden ist und ob es Ideen zur Weiterentwicklung des Umgangs mit Mehrsprachigkeit oder der Zusammenarbeit mit den Eltern gibt. Wie bei den Gesprächen mit den Eltern wurde auch in den Interviews mit den Fachkräften zu jedem Themenbereich nach Beispielen aus der konkreten Praxis gefragt. Kommunikative Validierung Wie im FST vorgeschlagen (vgl. Groeben/Scheele 2010: 155) wurde etwa zwei Wochen nach dem Interviewtermin eine kommunikative Validierung mit den Untersuchungspartnerinnen durchgeführt. Dazu wurden ihnen ihre Aussagen aus ihren Interviews in Form von Statements und Grundgedanken2 vorab vorgelegt mit der Bitte, sie auf inhaltliche Richtigkeit zu prüfen. In der kommunikativen Validierung selbst wurden zunächst Änderungen an den inhaltlichen Aussagen besprochen und Grundgedanken und Statements ggf. umformuliert. Daraufhin erstellten die Untersuchungspartnerinnen aus den Grundgedanken und den

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Die Methodik für die Zusammenfassung der Interviewinhalte zu Grundgedanken und Statements wird im Kapitel 7.3 über die Auswertung erläutert.

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Statements selbst ein Theoriebild. Hierzu wurde in der vorliegenden Untersuchung keine Struktur-Lege-Technik verwendet, da dieses Vorgehen zu kompliziert und aufwändig erschien. Stattdessen wurden die Untersuchungspartnerinnen gebeten, die Grundgedanken nach ihren Vorstellungen auf einem DIN-A1Bogen anzuordnen und die für sie dazugehörigen Statements entsprechend zu gruppieren. Beziehungen zwischen den Grundgedanken konnten durch Pfeile und Beschriftungen deutlich gemacht und Statements konnten auch mehreren Grundgedanken zugeordnet werden. Die ein- bis zweistündigen Sitzungen zur kommunikativen Validierung, in denen die Theoriebilder entstanden, wurden auch akustisch aufgezeichnet, um die dabei von den Untersuchungspartnerinnen formulierten Begründungen der jeweiligen Anordnung zu sichern. Zum Abschluss wurde das jeweilige Theoriebild der Untersuchungspartnerinnen mit einer Anordnung von Grundgedanken und Statements verglichen, die ich bereits vor der kommunikativen Validierung als Entwurf vorbereitet hatte, um die Konsistenz und Vollständigkeit der Grundgedanken zu prüfen. Auffällige Unterschiede wurden zum Anlass genommen, einzelne Aspekte nochmal zu besprechen und ggf. Ergänzungen vorzunehmen. Dabei wurde jedoch nicht versucht, die beiden Bilder einander anzugleichen. Als Visualisierung der rekonstruierten subjektiven Theorie galt schließlich nur das von den Untersuchungspartnerinnen erstellte Theoriebild. Auswahl der Untersuchungspartnerinnen Für die Auswahl der Untersuchungspartnerinnen waren inhaltliche, methodische und praktische Kriterien bedeutsam, die im Folgenden erläutert werden. Die inhaltlichen Auswahlkriterien leiteten sich zum einen aus der Fragestellung der Arbeit nach den handlungsleitenden Vorstellungen und Orientierungen von Eltern und Fachkräften bei der Gestaltung der sprachlichen Erziehung mehrsprachiger Kinder ab. Als Untersuchungspartnerinnen kamen daher einerseits Eltern infrage, deren Kinder mehrsprachig aufwachsen, und andererseits Fachkräfte, die in ihrer Kita mit mehrsprachigen Kindern arbeiten. Da sich die Fragestellung auf den Kontext der frühen Kindheit bezieht, wurden Eltern und Fachkräfte ausgewählt, die die Sprachaneignung von Kindern unter drei Jahren begleiten. In den meisten Fällen kam es dabei dazu, dass die Untersuchungspartnerinnen sowohl mit unter als auch mit über Dreijährigen zu tun hatten, z.B. durch Geschwisterkinder oder Familiengruppen in der Kita. Weiterhin bezieht sich die Fragestellung der Arbeit auf die Gestaltung mehrsprachigen Aufwachsens in Elternhaus und Kita und beide Gruppen sollten auch Informationen über die Zusammenarbeit der beiden Bereiche liefern. Daraus ergab sich als ein weiteres Kriterium für

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die Auswahl, dass bei den befragten Eltern Erfahrungen mit der Kita vorliegen sollten, indem mindestens die älteren Kinder bereits eine Kita besuchten. Die subjektiven Theorien von Eltern und Fachkräften über mehrsprachiges Aufwachsen sollten außerdem im Hinblick auf ihren migrationsgesellschaftlichen Kontext interpretiert werden, indem nach Hinweisen auf die Verarbeitung gesellschaftlicher Differenz- und Zugehörigkeitsordnungen gesucht wurde. Diese Frage impliziert weitere inhaltliche Kriterien für die Auswahl der Untersuchungspartnerinnen. Auf Seiten der Eltern wurde nach Gesprächspartnerinnen gesucht, die nicht nur ihre Kinder mehrsprachig erziehen, sondern selbst über eine Migrationsgeschichte verfügen. Bei den Fachkräften wurden bewusst sowohl solche ausgewählt, die zwar mit mehrsprachigen Kindern arbeiten, aber selbst keine Migrationserfahrung haben, als auch solche, die über beide Merkmale verfügen. Angesichts der großen Vielfalt möglicher Konstellationen im ‚Migrationshintergrund‘ und Varianten der Migrationsgeschichte wurde die Auswahl zusätzlich durch methodische und praktische Kriterien bestimmt. Die methodischen Kriterien zur Auswahl der Untersuchungspartnerinnen orientierten sich am theoretischen Sampling nach der Forschungsmethodik der Grounded Theory3: „Theoretisches Sampling meint den auf die Generierung von Theorie zielenden Prozess der Datenerhebung, währenddessen der Forscher seine Daten parallel erhebt, kodiert und analysiert sowie darüber entscheidet, welche Daten als nächste erhoben werden sollen und wo sie zu finden sind. Dieser Prozess der Datenerhebung wird durch die im Entstehen begriffene […] Theorie kontrolliert.“ (Glaser/Strauss 2010: 61)

Die offene qualitative Fragestellung der Untersuchung, die der Gestaltung mehrsprachigen Aufwachsens anhand der Orientierungen und Vorstellungen der Handelnden nachgeht, machte eine offene Gestaltung der Auswahl erforderlich. Beim theoretischen Sampling bilden die jeweiligen Erkenntnisse aus der Untersuchung eines Falls Kriterien für die Auswahl des nächsten Falls. Die Prozesse der Datenerhebung, Datenanalyse und Theoriebildung verlaufen dabei parallel bzw. in einem Zirkel, in dem sich an die Auswahl, Erhebung und Auswertung eines Falls wiederum die Auswahl, Erhebung und Auswertung des nächsten Falls anschließt. Da in der vorliegenden Untersuchung vor der Rekonstruktion der ersten subjektiven Theorie nicht festgelegt werden konnte, welche Aspekte für ihre Konstruktion maßgeblich sind, wurde die Auswahl der weiteren Unter-

3

Nähere Erläuterungen zur Methodik der Grounded Theory und ihrer Verwendung in der vorliegenden Untersuchung siehe Kapitel 7.3.

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suchungspartnerinnen erst jeweils nach der Rekonstruktion der aktuellen subjektiven Theorie getroffen. So wurde z.B. nicht nur anhand des Forschungsstandes, sondern auch im Laufe dieser Untersuchung Schritt für Schritt deutlich, dass Migrationserfahrungen einen erheblichen Einfluss auf Vorstellungen über Sprache, Mehrsprachigkeit und mehrsprachige Erziehung haben. Aus dieser Erkenntnis heraus wurden bewusst auf Seiten der Fachkräfte sowohl Untersuchungspartnerinnen ausgewählt, die selbst über einen ‚Migrationshintergrund‘ verfügen, als auch solche, die keinen ‚Migrationshintergrund‘ haben. Bei den Eltern führten z.B. Erkenntnisse über die Verbindung von Migrationsgeschichte, Identität und Sprache aus der ersten Rekonstruktion dazu, diese Verbindung auch vor dem Hintergrund einer anderen Migrationsgeschichte zu untersuchen. Als ein Unterscheidungsmerkmal wurde hier die Frage herangezogen, ob die Migration selbstbestimmt oder fremdbestimmt vollzogen wurde, ob die Untersuchungspartnerinnen also als Kinder mit ihren Eltern, oder selbstständig als Erwachsene nach Deutschland gekommen waren. Abgesehen von den inhaltlichen und methodischen Kriterien waren für die Auswahl der Untersuchungspartnerinnen angesichts der anspruchsvollen und umfangreichen Erhebungsmethodik sowie angesichts des Themas mit seinen sprachlichen, persönlichen und emotionalen Implikationen außerdem einige praktische Kriterien anzulegen. Hierzu gehörte, dass die möglichen Untersuchungspartnerinnen über genug Zeit verfügten sowie über die Bereitschaft, sich auf das Erhebungsverfahren einzulassen und eingehend Auskunft über ihre Erziehungsvorstellungen und -praktiken zu geben bzw. diese zu reflektieren. Weitere praktische Kriterien stellen die sprachlichen und intellektuellen Anforderungen dar, die sich aus der Erhebungsmethodik in Anlehnung an das FST ergeben. So wurden nur Untersuchungspartnerinnen gewonnen, deren sprachliche Fähigkeiten ihnen ermöglichten, das Interview und die kommunikative Validierung auf Deutsch durchzuführen, und die in der Lage waren, ihr pädagogisches Handeln in einer Sprache, die (in den meisten Fällen) nicht ihre erste war, eingehend zu reflektieren. Durch die Art der Datenerhebung wurden somit mögliche Untersuchungspartnerinnen ausgeschlossen, deren Kinder zwar mehrsprachig aufwachsen, die selbst aber über geringere Kenntnisse im Deutschen verfügen und solche, die nicht in der Lage oder bereit wären, ihr Handeln in diesem Ausmaß zu reflektieren und/oder ihre Reflexion zu offenbaren. Die Tatsache, dass durch diese Auswahlkriterien die Untersuchungspartnerinnen in einer bestimmten Gruppe von Eltern und Fachkräften gefunden wurden, beeinflusst das Untersuchungsergebnis maßgeblich, was im Rahmen der Ergebnisauswertung reflektiert wird.

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Um das für die Erhebung nötige hohe Maß an Offenheit und Vertrauen zu mir als Untersuchungsleiterin zu erreichen, wurden die ersten Untersuchungspartnerinnen unter den Eltern und Fachkräften in meinem weiteren privaten und beruflichen Umfeld gefunden. Weitere Kontakte ergaben sich über die Vorstellung des Projektes in zwei Kitas und über die ersten Fachkräfte zu weiteren Fachkräften und zu anderen Eltern. Beim Anlegen der verschiedenen Auswahlkriterien waren jedoch jeweils die inhaltlichen und die methodischen den praktischen vorgeordnet. Anhand des theoretischen Sampling wurde jeweils nach demjenigen nächsten Fall gesucht, der weiteren Aufschluss im Sinne der Fragestellung und der bisher gefundenen Konzepte versprach, was die inhaltlichen Kriterien einschloss, und erst daraufhin wurde danach gefragt, wer von den infrage kommenden Untersuchungspartnerinnen auch aufgrund der praktischen Kriterien geeignet wäre. Der Abschluss des theoretischen Samplings allerdings wurde nicht durch methodische, sondern durch praktische Kriterien bestimmt. Die Methodik der Grounded Theory sieht vor, dass die Datenerhebung erst abgeschlossen wird, wenn sich eine „theoretische Sättigung“ einstellt, wenn also zusätzliches Material keine relevante Verfeinerung der gefundenen Kategorien mehr verspricht (vgl. Strübing 2014: 32). In der vorliegenden Untersuchung wurde stattdessen aus Gründen der Umsetzbarkeit im Rahmen eines Dissertationsprojektes zu einem Zeitpunkt, als bereits vier subjektive Theorien rekonstruiert waren, festgelegt, die Zahl der zu rekonstruierenden Theorien auf fünf bei den Eltern und fünf bei den Fachkräften zu begrenzen.

7.3 AUSWERTUNGSMETHODIK Aus den grundsätzlichen methodologischen Überlegungen in Kapitel 7.1 wurde deutlich, dass die vorliegende Untersuchung die praxeologische Forschungslogik des FST mit der diskursanalytischen Forschungslogik kulturwissenschaftlicher Subjektanalyse verbindet. Daraus und anhand der verschiedenen Fragestellungen der Untersuchung ergaben sich verschiedene Stufen der Datenauswertung. Diese fand außerdem im Rahmen eines zirkulären Forschungsprozesses statt, bei dem sich aus der Auswahl, Erhebung und Auswertung eines Falls wiederum die Auswahl, Erhebung und Auswertung des nächsten Falls ergaben. Auswertung der Interviews Der erste Auswertungsschritt im Rahmen einer Fallbearbeitung bestand jeweils aus der Transkription und Analyse des Interviews, das zur Erhebung der intenti-

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onalen Innensicht einer Untersuchungspartnerin durchgeführt worden war. Die Audioaufnahme des Interviews wurde zunächst komplett transkribiert, wobei auf aufwändige Notationssysteme verzichtet wurde. Stattdessen erfolgte die Transkription in Anlehnung an die Basistranskription des „Gesprächsanalytischen Transkriptionssystems“ (vgl. Langer 2010: 521). Sprachliche Besonderheiten, wie z.B. grammatikalische Fehler, wurden geglättet, aber es wurden Sprechpausen und nonverbale Reaktionen wie Lachen ins Transkript aufgenommen. Anstatt auch die Betonung von Worten oder eine laute bzw. leise Sprechweise jeweils im Transkript zu markieren, wurden Auffälligkeiten während der Transkription am Rand notiert, ebenso wie erste Paraphrasen. Daraufhin wurden aus dem Interviewtext heraus Aussagen formuliert und einer Reihe von Themen zugeordnet, die teilweise aus dem Interviewleitfaden übernommen und teilweise aus den Aussagen selbst generiert wurden. In fast allen Interviews gab es z.B. als übergeordnete Themen Meine Sprache, Die Sprache(n) der Kinder, Ziele für die Spracherziehung oder Spracherziehungsstrategien, aber auch Migrationsgeschichte oder Spracherziehung bei Mehrsprachigkeit. In einem zweiten Durchgang wurden die Aussagen zu Statements zusammengefasst, um Wiederholungen zu vermeiden. Diese Statements wurden wiederum einer Sammlung von verschiedenen Themen zugeordnet, die sich im Vergleich zur ersten Themensammlung meistens durch Zusammenfassung etwas reduzieren ließ. Die Anzahl der formulierten Statements und ihrer Themenbereiche variierte von Fall zu Fall sehr stark und bewegt sich zwischen acht und 17 Themenbereichen und 56 bis 123 Statements. Aus der Sammlung der Statements wurden nun in einem weiteren Analyseschritt Grundgedanken entwickelt, die die Eckpfeiler der zu rekonstruierenden subjektiven Theorie bildeten. Um die Konsistenz und Gültigkeit der Grundgedanken zu prüfen, wurden daraufhin die Statements den Grundgedanken zugeordnet, wobei teilweise Überschneidungen und Mehrfachzugehörigkeiten auftraten. Wichtig war hierbei zu prüfen, ob eine größere Anzahl von Statements ohne Zugehörigkeit übrigblieb, oder ob es einen Grundgedanken gab, dem kaum Statements zuzuordnen waren. Dies hätte gezeigt, dass die Grundgedanken nicht ausreichten, um alle Bereiche der subjektiven Theorie zu beschreiben, bzw. dass Grundgedanken formuliert worden waren, die eigentlich keinen Eckpfeiler der subjektiven Theorie darstellen. Im Gegensatz zur Anzahl der Statements, die von Fall zu Fall stark variierte, lag die Anzahl der Grundgedanken in allen Fällen zwischen vier und sechs. Dies wird als Hinweis darauf verstanden, dass die Untersuchungspartnerinnen zwar unterschiedlich viele Argumente und Details zur Erläuterung der verschiedenen Aspekte ihrer subjektiven Theorie angebracht haben, dass sich die subjektiven Theorien selbst aber bei allen auf ähnlich viele Eckpfeiler stützen.

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Das Vorgehen bei der Analyse des Interviewtextes und der Formulierung von Statements und Grundgedanken lässt sich methodologisch als Kodierprozess im Sinne der Grounded Theory (vgl. Strauss/Corbin 1996; Strübing 2014; Flick 2014) beschreiben, in dem theoretische Konzepte in Auseinandersetzung mit dem empirischen Material erst entwickelt werden. Das mehrstufige Auswertungsverfahren der Grounded Theory, das dort als Kodieren bezeichnet wird, folgt der Leitidee des ständigen Vergleichens der Daten miteinander. Daten werden demnach nicht anhand bereits existierender Kategoriensysteme kodiert, sondern anhand von Kodes, die „auf der Basis theoretischer Konzepte und Kategorien [entstehen], die erst sukzessive aus der kontinuierlich vergleichenden Analyse dieser Daten entwickelt werden müssen“ (Strübing 2014: 16). Das Kodieren wird in der Grounded Theory als der Prozess beschrieben, in dem „die Daten aufgebrochen, konzeptualisiert und auf neue Art zusammengesetzt werden. Es ist der zentrale Prozeß, durch den aus den Daten Theorien entwickelt werden“ (Strauss/Corbin 1996: 39). Der Kodierprozess setzt sich aus offenem, axialem und selektivem Kodieren zusammen, wobei sich diese drei Stufen zeitlich und inhaltlich nicht klar voneinander trennen lassen (vgl. Flick 2014: 387ff). Beim offenen Kodieren werden Konzepte identifiziert, indem Aussagen zergliedert und mit Begriffen bzw. Kodes versehen werden. Die daraus entstehende Vielzahl an Kodes wird anhand von besonders relevanten Phänomenen kategorisiert, d.h. zusammengefasst, wobei die gefundenen Kategorien wieder mit Kodes versehen werden. Benannt werden die Kategorien möglichst mit Begriffen aus dem Material selbst („Invivo-Kodes“). Beim axialen Kodieren werden vor allem die Beziehungen zwischen den entstandenen Kategorien herausgearbeitet. Dafür können die Kategorien anhand eines „Kodierparadigmas“ zugeordnet und z.B. als „ursächliche Bedingung“, „Kontext“ oder „intervenierende Bedingung“ identifiziert werden (ebd.: 393f). Das axiale Kodieren dient dazu, für die Fragestellung besonders relevante Kategorien als Achsenkategorien auszuwählen und ihnen andere gefundene Kategorien und Kodes in unterschiedlichen Beziehungen zuzuordnen. Selektives Kodieren schließlich setzt dieses Zuordnen unter den Kategorien fort, indem hier die Beziehungen der wenigen gefundenen „Kernkategorien“ (Strübing 2014: 18) zu den übrigen Kategorien und die Gültigkeit der bisherigen Kodierungen überprüft werden. Das Zusammenfassen der einzelnen Aussagen aus den Interviews zu Statements lässt sich so als offenes Kodieren beschreiben, wobei Kategorien mit Invivo-Kodes gefunden wurden, die wiederum übergeordneten Kategorien (der Themensammlung) zugeordnet wurden. Beim Entstehen der Grundgedanken wird deutlich, wie die drei Kodierstufen der Grounded Theory ineinandergreifen.

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Um Grundgedanken zu generieren, wurden aus der Vielzahl der gebildeten Statements besonders relevante Phänomene herausgearbeitet, die – im Sinne des offenen Kodierens – wiederum mit einem Kode, der Formulierung des Grundgedankens, versehen wurden. Gleichzeitig wurden diese Kernkategorien im Sinne des axialen Kodierens als Achsenkategorien in Beziehung zu den übrigen Kategorien gesetzt, indem ihnen die Statements zugeordnet und auch die Grundgedanken selbst zueinander angeordnet wurden. Dabei zeigte sich, dass ein Grundgedanke für einen anderen oder ein Statement für einen Grundgedanken z.B. eine „ursächliche Bedingung“, ein „Kontext“ oder eine „intervenierende Bedingung“ im Sinne des Kodierparadigmas sein konnte. Selektives Kodieren schließlich rundete diesen Vorgang ab, indem geprüft wurde, ob alle Statements sich zuordnen ließen, oder ob Grundgedanken ‚übrig‘ blieben, also doch nicht als Kernkategorien gelten konnten, oder ob sich gefundene Grundgedanken noch einmal zusammenfassen ließen. Das Vorgehen bei der Auswertung der Interviews soll im Folgenden an einem Beispiel verdeutlicht werden. Auf die Frage, was sie sich für die ‚kulturelle Identität‘ ihrer Kinder wünsche, und was das mit der Mehrsprachigkeit zu tun habe, antwortete eine Untersuchungspartnerin: „Also ich würde mir schon wünschen, dass sie zu dem Land ihrer Großväter, was es ja dann ist, es ist ja dann nicht mal mehr das Land ihrer Eltern, zum Land ihrer Großväter noch einen Bezug haben, auch einen emotionalen Bezug haben, … und im Grunde geht es mir tatsächlich nur darum, dass sie wissen, woher sie irgendwann mal kamen. Mir hilft das an manchen Punkten wirklich weiter, ich habe ja zur Türkei längst nicht mehr so einen Bezug wie meine Eltern es haben, aber immer noch einen sehr starken, weil ich ja diese ganze Phase noch miterlebt habe, wo meine Eltern immer noch geplant haben, zurückzugehen und dass wir dann alle dort leben und so weiter, das war ja bei uns lange lange Jahre Thema, das steht bei uns ja nicht mal annähernd zur Diskussion, wenn, dann würden wir irgendwann mal auswandern, wie andere nach Spanien gehen, gehen wir vielleicht in die Türkei weil wir dann praktischerweise die Sprache können, das Wetter ist halt gut, aber jetzt nicht mehr aus den Gründen wie meine Eltern das tun. Also ich würde mir einfach nur wünschen, dass sie einen Bezug zu diesem Land haben, aus dem die Großväter irgendwann mal gekommen sind, dass sie wissen, wie ihr Weg hierhergeführt hat, das ist eigentlich alles. Also mehr wünsche und erhoffe ich mir da eigentlich gar nicht von.“ (Interviewtranskript Alara)

Aus diesem Text wurde u.a. folgendes Statement kodiert:

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„Ich wünsche mir, dass meine Kinder einen emotionalen Bezug haben zum Land ihrer Großväter und dass sie wissen, woher die irgendwann mal kamen und wie ihr Weg hierhergeführt hat.“ (7.54)

Das Statement wurden dem Thema Ziele der Spracherziehung zugeordnet. Weitere Statements aus diesem Themenbereich, die aus anderen Textstellen generiert wurden, waren: „Mir ist es wichtig, dass die Kinder die türkische Sprache lernen und auch mit ihren Großeltern Türkisch sprechen, weil es für mich eine Emotionssprache ist.“ (7.1) „Für mich ist Türkisch die Sprache der Emotionen und der Familie und ich möchte, dass es das für meine Kinder auch ist.“ (7.2) „Ich möchte, dass die Kinder sich auf Türkisch mit unseren Verwandten unterhalten können, die in Europa verteilt sind und andere Sprachen sprechen, sodass unsere gemeinsame Sprache Türkisch ist.“ (7.3) „Wir möchten es in einer schönen Form hinkriegen, dass die Kinder die türkische Sprache gut für sich annehmen, sie nicht als Ballast empfinden und damit umgehen mögen.“ (7.4) „Mein Hauptziel ist es, dass die Kinder immer einen Bezug dazu haben, wo sie ursprünglich herkommen.“ (7.6) „Die Sprache soll den Kindern auch als Schutz dienen, damit sie sich nicht selbst in der Integration verlieren und stattdessen ihre Bezüge selbst kennen und sich positionieren können.“ (7.7) „Die Sprache soll den Kindern als Anker dienen, damit sie von Zuschreibungen nicht überrascht und von den Füßen gerissen werden.“ (7.8)

Aus der Analyse dieser Statements und einiger anderer aus den Themenbereichen Spracherziehungsstrategien, Sprachpraxis in der Familie/Ergebnisse der

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Die Nummerierung der Statements richtet sich jeweils fallbezogen nach den übergeordneten Statement-Themenbereichen einer Untersuchungspartnerin und setzt sich aus einer Ziffer für den Themenbereich und einer Ziffer für das Statement innerhalb des Themenbereichs zusammen. Hier: Alaras fünftes Statement aus ihrem siebten Themenbereich (Ziele der Spracherziehung).

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Spracherziehungsstrategien, Umgang der Kinder mit Sprachen/Sprachlernstrategien, Kooperation mit der Kita, Bildung und Bedeutung der Mehrsprachigkeit wurde folgende Kernkategorie als einer der fünf Grundgedanken der subjektiven Theorie generiert: „Die Kinder sollen Türkisch als Sprache der Emotionen und der Familie lernen, ohne es als Ballast zu empfinden.“ (Grundgedanke 3)

Diesem Grundgedanken als Achsenkategorie wurden nun die passenden Statements zugeordnet. Dabei wurde auch deutlich, in welcher Beziehung die Statements zum Grundgedanken und die Grundgedanken zueinander stehen könnten. Dies geschah zunächst in Vorbereitung auf die kommunikative Validierung durch mich, um die Konsistenz und Gültigkeit der Grundgedanken im Verhältnis zu den Statements zu prüfen. Rekonstruktion, Visualisierung und Dokumentation der subjektiven Theorie Den zweiten Auswertungsschritt stellte die Rekonstruktion und Visualisierung der jeweiligen subjektiven Theorie in der kommunikativen Validierung mit der Untersuchungspartnerin dar (vgl. Kapitel 7.3). Dazu wurden die vorher erarbeiteten Konzepte und Kategorien mit den gewählten Kodes (Statements und Grundgedanken) durch die jeweilige Untersuchungspartnerin geprüft und ggf. verändert. Außerdem wurden in diesem Auswertungsschritt die Grundgedanken in einem Theoriebild auf einem Poster angeordnet, es wurden ihnen Statements zugeordnet und es wurden Beziehungen hergestellt und teilweise auch im Theoriebild markiert. In diesem Prozess wurde die subjektive Theorie vor allem durch axiales und selektives Kodieren nochmals erarbeitet. Im oben genannten Beispiel kam es dazu, dass die Untersuchungspartnerin in der kommunikativen Validierung einige der oben genannten Statements (7.5 bis 7.8) nicht wie ich ihrem Grundgedanken 3 zuordnete, sondern dem Grundgedanken 4: „Von außen werden wir mit Etikettierungen, kulturellen Zuschreibungen und Vorurteilen konfrontiert. Die türkische Sprache dient dann als Identifikationsanker, um eine eigene Position zu beziehen und mit der eigenen Identität selbstständig umzugehen.“ (Grundgedanke 4)

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| Empirischer Teil

Diesem Grundgedanken 4 ordnete Alara in der kommunikativen Validierung folgende Statements zu, die ich vorher in meinem Entwurf ihrem Grundgedanken 3 zugeordnet hatte: „Ich wünsche mir, dass meine Kinder einen emotionalen Bezug haben zum Land ihrer Großväter und dass sie wissen, woher die irgendwann mal kamen und wie ihr Weg hierhergeführt hat.“ (7.5) „Mein Hauptziel ist es, dass die Kinder immer einen Bezug dazu haben, wo sie ursprünglich herkommen.“ (7.6) „Die Sprache soll den Kindern auch als Schutz dienen, damit sie sich nicht selbst in der Integration verlieren und stattdessen ihre Bezüge selbst kennen und sich positionieren können.“ (7.7) „Die Sprache soll den Kindern als Anker dienen, damit sie von Zuschreibungen nicht überrascht und von den Füßen gerissen werden.“ (7.8)

Dies lässt sich dahingehend interpretieren, dass der Wunsch, den Kindern durch die Sprache ein Bewusstsein für die Herkunft der Familie mitzugeben (7.5 und 7.6), für die Untersuchungspartnerin über das Ziel der mehrsprachigen Erziehung im Grundgedanken 3 („Die Kinder sollen Türkisch als Sprache der Emotionen und der Familie lernen, ohne es als Ballast zu empfinden.“) hinausreicht. Vielmehr soll den Kindern durch die Sprache ein Bewusstsein für die Herkunft der Familie mitgegeben werden, um ihnen angesichts von Zuschreibungserfahrungen eine selbstständige Identifikation zu ermöglichen. An diesem Beispiel wird deutlich, wie das Zuordnen durch die Untersuchungspartnerinnen als eigenständiger Kodierungsschritt erst die maßgeblichen Zusammenhänge innerhalb der subjektiven Theorie sichtbar werden lässt. Die zugeordneten Statements stützen die Grundgedanken als übergeordnete Kategorien und füllen sie mit Argumenten, Begründungen und Erfahrungen. Im Anschluss an die kommunikative Validierung wurde die jeweilige subjektive Theorie ausformuliert, indem das von der Untersuchungspartnerin erstellte Theoriebild von mir in einem Text beschrieben wurde. Die Argumentation der subjektiven Theorie ließ sich dabei anhand der Anordnung der Grundgedanken und durch die Darstellung der zugeordneten Statements nachzeichnen. Hierbei wurde z.T. auch die jeweilige Tonaufnahme des Validierungsgesprächs herangezogen, um Begründungen für die Platzierung von Grundgedanken und Statements, die im Gespräch gegeben wurden, noch einmal nachzuvollziehen. Die so

Methodologie und methodisches Vorgehen

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entstandenen Dokumentationen der zehn subjektiven Theorien werden im Ergebniskapitel in den Abschnitten 8.1 für die Eltern und 8.4 für die Fachkräfte dargestellt. Analyse im Hinblick auf die handlungsleitenden Vorstellungen und Orientierungen bei der Gestaltung der sprachlichen Erziehung Die so dokumentierten subjektiven Theorien lassen sich im praxeologischen Sinne als Manifeste der sozialen Praxis verstehen, die das handlungsleitende implizite Wissen explizit machen. In einem dritten Auswertungsschritt wurden diese Manifeste der sozialen Praxis nun im Hinblick auf die erste Fragestellung der Untersuchung nach der Gestaltung der sprachlichen Erziehung durch Eltern und Fachkräfte einer übergreifenden Analyse unterzogen. Dabei wurden verschiedene Fragen an das Material (die subjektiven Theorien) gerichtet, die sich aus dem Forschungshintergrund der Untersuchung ergaben und auch im Interviewleitfaden enthalten sind: • Was bedeutet Sprache für die Eltern/die Fachkräfte und welche Rolle spielt sie • • • •

in der Erziehung? Welche Ziele haben die Eltern/die Fachkräfte für die Spracherziehung? Was verstehen die Eltern/die Fachkräfte unter guter Spracherziehung? Wie beschreiben die Eltern/die Fachkräfte die Mehrsprachigkeit der Kinder? Welche Rolle spielt die Kita aus Sicht der Eltern/der Fachkräfte?

Die Antworten auf diese Fragen werden im Ergebniskapitel im Abschnitt 8.2 für die Eltern und im Abschnitt 8.5 für die Fachkräfte zusammengefasst. Diese Zusammenfassungen stellen eine fallübergreifende Verdichtung der Ergebnisse dar, bei der Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden. Analyse im Hinblick auf Spuren des migrationsgesellschaftlichen Kontextes Nach der Rekonstruktion der subjektiven Theorien und ihrer Analyse im Hinblick auf die handlungsleitenden Vorstellungen und Orientierungen bei der Gestaltung der sprachlichen Erziehung wurden die subjektiven Theorien auch im Hinblick auf die zweite Fragestellung analysiert, was dem vierten Auswertungsschritt entspricht. Die Auseinandersetzung mit den bisherigen Erkenntnissen zu sprachlich heterogenen Entwicklungsumwelten in der frühen Kindheit und zum Umgang mit Mehrsprachigkeit in der Kita hat bereits die Bedeutung des migrationsgesellschaftlichen Kontextes deutlich gemacht. Sowohl im Rahmen der

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sprachlichen Entwicklungsumwelten in zugewanderten Familien als auch in den Sprachpolitiken von Bildungsinstitutionen und ihrer Sprachförderpraxis lassen sich demnach Hinweise auf migrationsgesellschaftliche Subjektivierungsprozesse finden, in denen machtvolle Ordnungen auch in Bezug auf Sprachaneignung durchgesetzt und von den Subjekten selbst umgesetzt und verarbeitet werden. Die subjektiven Theorien wurden daher auch diskurstheoretisch als Repräsentationen des migrationsgesellschaftlichen Kontextes betrachtet. In der diesbezüglichen Analyse wurde danach gefragt, ob die Vorstellungen der Untersuchungspartnerinnen über Sprache und mehrsprachiges Aufwachsen zur Konstruktion von Identität und Zugehörigkeit beitragen und ob sich hier hierarchische Ordnungen widerspiegeln. Es wurde untersucht, ob in den subjektiven Theorien, z.B. eine monolinguale Normalitätserwartung (seitens der Kita oder der Eltern) sichtbar wird und wie damit umgegangen wird. Weiterhin wurde danach gefragt, ob Möglichkeiten der Resignifizierung durch Sprache wahrgenommen werden, z.B. durch eine quersprachige Praxis oder durch die Betonung einer eigenen translingualen Sprachidentität. Weiterhin wurde geprüft, in welchem Zusammenhang die migrationsgesellschaftliche Positionierung der Untersuchungspartnerinnen mit ihren Vorstellungen und Orientierungen stehen könnte. Zur Analyse im Hinblick auf solche Spuren des migrationsgesellschaftlichen Kontextes wurden in diesem Schritt folgende Fragen an das Material (die jeweilige subjektive Theorie) gerichtet: Werden anhand der Vorstellungen und Orientierungen über Sprache und Spracherziehung migrationsgesellschaftliche Differenz- und Zugehörigkeitsordnungen sichtbar? • Werden ‚Sprachigkeit‘ und Spracherziehung herangezogen für die Konstrukti-

on von Identität und Zugehörigkeit? • Gibt es Hinweise auf die Reproduktion migrationsgesellschaftlich ‚Anderer‘

bzw. auf die Internalisierung des Selbst als ‚Anderes‘ (Othering)? • Wird von erlebten Positionierungen, z.B. anhand von Sprache und Spracher-

ziehung, berichtet? • Werden die Untersuchungspartnerinnen womöglich durch die Untersuchung

selbst zu ‚Anderen‘ gemacht? Gibt es Hinweise auf eine monolinguale Normalitätserwartung an die Sprachaneignung? • Wie wird die Rolle der Kita (und der Schule) gesehen?

Methodologie und methodisches Vorgehen

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• Werden migrationsgesellschaftliche Normalitätserwartungen erlebt und/oder

übernommen? • Gibt es Konflikte zwischen unterschiedlichen Vorstellungen über adäquate

Sprachbeherrschung und ‚richtige‘ Spracherziehung? Gibt es Hinweise auf Subversion und Resignifizierung? • Wie sehen die Selbstpositionierungen der Untersuchungspartnerinnen (auch

anhand ihrer Vorstellungen über Sprache und Spracherziehung) aus? • Werden hybride Sprachidentitäten jenseits monolingualer Normalitätserwar-

tungen sichtbar? Die Erkenntnisse aus diesem Analyseschritt werden im Ergebniskapitel wiederum fallübergreifend im Abschnitt 8.3 für die Eltern und im Abschnitt 8.6 für die Fachkräfte dargestellt.

8

Ergebnisse

Die Darstellung der Untersuchungsergebnisse gliedert sich in Anlehnung an die in Kapitel 7 beschriebenen Auswertungsschritte in jeweils drei Teile für die Eltern und für die Fachkräfte. Zunächst werden die rekonstruierten subjektiven Theorien der Eltern als einzelne Fälle vorgestellt (8.1). Daraufhin werden ihre handlungsleitenden Vorstellungen und Orientierungen für die Gestaltung mehrsprachigen Aufwachsens im Sinne der ersten Fragestellung (vgl. Kapitel 6.1) fallübergreifend analysiert (8.2). Danach wird im Sinne der zweiten Fragestellung (vgl. Kapitel 6.2) gezeigt, wie sich die subjektiven Theorien der Eltern im Hinblick auf ihren migrationsgesellschaftlichen Kontext interpretieren lassen und welche Hinweise sie auf eine Verarbeitung gesellschaftlicher Differenz- und Zugehörigkeitsordnungen enthalten (8.3). Im Anschluss daran werden auch die rekonstruierten subjektiven Theorien der Fachkräfte als einzelne Fälle vorgestellt (8.4), ihre handlungsleitenden Vorstellungen und Orientierungen fallübergreifend untersucht (8.5) und Spuren des migrationsgesellschaftlichen Kontextes analysiert (8.6).

8.1 SUBJEKTIVE THEORIEN DER ELTERN Die subjektiven Theorien der Eltern werden dargestellt, indem das jeweilige Theoriebild schematisch abgebildet und die Argumentationsstruktur aus Grundgedanken und Statements nachgezeichnet wird. Die schematischen Darstellungen der Theoriebilder enthalten aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht die große Menge an Einzelstatements, die im Originalbild um die Grundgedanken herum platziert wurden. Die zugeordneten Statements werden aber in der Beschreibung der Argumentation der jeweiligen subjektiven Theorie genannt. Vorangestellt sind jeweils einige Informationen zur Auswahl der Untersuchungspartnerin, zur Interviewsituation sowie zur Familie und zur familiären Sprachpraxis.

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| Empirischer Teil

8.1.1 Zefcan Auswahl der Untersuchungspartnerin und Interviewsituation Zefcan wurde als erste Untersuchungspartnerin ausgewählt, da aufgrund persönlicher Bekanntschaft bereits ein Vertrauensverhältnis bestand und die Themen Sprache, Mehrsprachigkeit und Spracherziehung bereits im privaten Rahmen angesprochen worden waren. Dies und die Informationen über die Sprachpraxis in der Familie, die bereits bekannt waren, ließen sie als geeignete Untersuchungspartnerin für eine erste Rekonstruktion erscheinen. Interview und kommunikative Validierung wurden in der Wohnung von Zefcan und ihrer Familie geführt und dauerten jeweils ca. anderthalb Stunden. Aus verschiedenen Gründen fand die kommunikative Validierung in diesem Fall erst ca. drei Monate nach dem Interview statt. Daten zur Familie und Einordnung der familiären Sprachpraxis In der Familie von Zefcan lebten zum Zeitpunkt des Interviews ihre drei Kinder im Alter von sieben Jahren, fünf Jahren und 14 Monaten sowie Orhan, der Vater der Kinder. Nach dem Interview und vor der kommunikativen Validierung wurde das vierte Kind geboren. Die beiden älteren Kinder besuchten die Grundschule bzw. die Vorschule, der 14-monatige Sohn wurde noch zu Hause betreut. Zefcan ist in Deutschland aufgewachsen, ihre Eltern stammen aus der Türkei und sind in den 1970er Jahren eingewandert. Mit ihren Eltern hat Zefcan nur Türkisch gesprochen, bis heute sprechen die Eltern nur sehr wenig Deutsch. Zefcans Mann Orhan ist mit 16 Jahren zusammen mit seinen Eltern aus der Türkei eingewandert, hat erst ab diesem Zeitpunkt die deutsche Sprache erlernt, aber auch einen deutschen Schulabschluss gemacht. Zefcan ist gelernte Krankenschwester und war zum Zeitpunkt des Interviews in Elternzeit. Orhan arbeitet als Produktionsassistent beim Film. Mit ihren Kindern sprechen Zefcan und Orhan sowohl Türkisch als auch Deutsch, weitere Sprachen werden in der Familie oder im Umfeld nicht gesprochen. Außerhalb der Wohnung und unter den Geschwistern sprechen die Kinder fast ausschließlich Deutsch. Bei einer ersten Einordnung der familiären Erwerbssituation nach der Typologie von Reich (2010: 16; vgl. Kapitel 4.2) gab Zefcan an, dass sie in der Zeit, als sie nur ein Kind hatten, zum Typ IIa gehörten, also aus einer bewussten Entscheidung heraus (fast) ausschließlich die gemeinsame Herkunftssprache Türkisch benutzt haben. Ab dem zweiten Kind habe sich die Situation aber verändert und die Eltern seien dazu übergegangen, ohne besondere Systematik überwiegend die Herkunftssprache neben dem Deutschen zu benutzen (Typ III) und teilweise ebenso ohne besondere Systematik überwiegend das Deutsche zu gebrauchen (Typ IV). Die gegen-

Subjektive Theorien der Eltern

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wärtige Sprachpraxis in der Familie sei am ehesten als Mischform von Typ III und Typ IV zu bezeichnen. Argumentation in Grundgedanken und zugeordneten Statements Zefcans Theoriebild besteht aus fünf Grundgedanken und einer Frage. Auf der linken Seite des Theoriebildes drückt sie in den Grundgedanken 1 und 2 ihre grundsätzlichen Orientierungen über Sprache und Spracherziehungsstrategien aus und ordnet passende Statements dazu an. Im Zentrum geht es in den Grundgedanken 3 und 4 um die Situation der Familie in Bezug auf die kulturelle Identität, die familiäre Sprachpraxis und den Zusammenhang von beidem im Hinblick auf die Kinder. Auf der rechten Seite ist der Grundgedanke 5 platziert, der sich auf die Aufgabe der Kita bezieht.

Abb. 1: Theoriebild Zefcan

Der Grundgedanke 1 enthält Zefcans grundsätzliche Vorstellungen über Sprache, auf die die anderen Grundgedanken aufbauen: „Sprache ist wichtig als Kommunikationsmittel, um Konflikte zu bewältigen, ohne körperliche Gewalt auszukommen, und um nicht ausgegrenzt zu werden.“ (Grundgedanke 1)

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Dieser Grundgedanke entwickelte sich ausgelöst durch die Frage, was Sprache überhaupt bedeutet, wofür sie wichtig ist und wozu man sie braucht. Er entstand direkt aus einem gleichlautenden Statement und seine Relevanz wird gestärkt durch Erfahrungen, von denen im Interview berichtet wurde: Der älteste Sohn habe im Alter von einem bis zwei Jahren Probleme mit dem Gehör gehabt und dadurch sehr spät sprechen gelernt. Da er sich eine Zeitlang noch nicht habe ausdrücken können, sei er frustriert gewesen und in der Kita handgreiflich geworden, was dazu geführt habe, dass er dort als ‚Beißer‘ und ‚Hauer‘ ausgegrenzt wurde. Im Interview erwähnte Zefcan außerdem mehrmals, dass sie selbst häufig Frust erlebe, wenn sie merke, dass sie sich weder im Türkischen noch im Deutschen so ausdrücken könne, wie es dem Gegenstand angemessen wäre. Angelehnt an diese Erfahrungen wird der Grundgedanke auch durch den Wunsch gestützt, die Kinder sollten sich gut ausdrücken und mitteilen können, „um Emotionen verbal vermitteln zu können und weniger Frust zu erleben“ (3.2). Dass Sprache für Zefcan auch einen hohen Stellenwert für den beruflichen Erfolg der Kinder hat, kommt zum Ausdruck, wenn sie betont, dass „in beiden Kulturen […] der berufliche Erfolg im Vordergrund“ stehe (7.3.) Gleichzeitig wird Sprache auch als Schlüssel für die Kommunikation im Türkischen gesehen: „Je mehr Türkisch die Kinder verstehen, desto mehr Spaß macht es ihnen, auf Türkisch zu kommunizieren“ (5.3). Die Vorstellungen Zefcans von ‚guter‘ bzw. ‚richtiger‘ Spracherziehung in der mehrsprachigen Familie werden im Grundgedanken 2 deutlich, den sie unter den Grundgedanken 1 platziert hat: „In der Familie sollte konsequent mindestens von einem Elternteil die Herkunftssprache gesprochen werden.“ (Grundgedanke 2)

Diesem Grundgedanken zur ‚richtigen‘ Spracherziehung hat Zefcan ihr Ziel für die Mehrsprachigkeit zugeordnet: „Die Kinder sollen beide Sprachen gut beherrschen“ (3.1). Für eine gute Sprachbeherrschung der Kinder sei entscheidend, „wie gut die Eltern eine Sprache sprechen und ob sie sie an die Kinder vermitteln, mit ihnen z.B. auch Bücher lesen und Gespräche in der Sprache führen“ (2.2). Als Eltern könne man nur weitergeben, was man selbst erlernt habe. Als Konsequenz daraus betont Zefcan: „Jeder Elternteil sollte konsequent eine Sprache sprechen, in der er auch vorliest, spielt etc.“ (5.2). Weiterhin ordnet sie hier Beispiele aus der familiären Sprachpraxis zu: „Wir lassen die Kinder auf Türkisch fernsehen, machen manchmal Reime und Sprachspiele auf Türkisch und hören Musik auf Türkisch“ (4.1). Gestützt wird der Grundgedanke zur ‚richtigen‘ Spracherziehung auch von verschiedenen Erfahrungen. So berichtet Zefcan beispielsweise, dass die Kinder

Subjektive Theorien der Eltern

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befreundeter Familien, in denen mindestens ein Elternteil nur Türkisch spricht, viel besser Türkisch sprechen und sich auch mehr als Türken fühlen als ihre Kinder. Dementsprechend vermutet sie, dass auch ihre Kinder besser Türkisch könnten und mehr Spaß an der Sprache hätten, wenn sie als Eltern es geschafft hätten, diese Aufteilung beizubehalten. Der älteste Sohn habe im Krippenalter sehr gut Türkisch gesprochen. Nach Eintritt in die Kita, wo nur Deutsch gesprochen wurde, und da die Eltern mit der Geburt des zweiten Kindes begonnen hätten, auch zu Hause viel mehr Deutsch zu sprechen, könnten heute beide Kinder kaum noch Türkisch. Auch durch Zefcans Erfahrung mit der eigenen Sprache wird dieser Grundgedanke gestützt: Da ihre Eltern nicht gebildet waren und weder die deutsche Sprache noch die Türkische in ausreichendem Maße vermitteln konnten, erlebe sie es in ihrem Alltag oft, dass sie sich nicht erklären könne und sich deshalb aufrege und sauer werde. An diese Erfahrungen schließt sich der Grundgedanke 3 an, der die Situation der Familie beschreibt und im oberen Zentrum des Theoriebildes platziert ist: „Wir sind sowohl sprachlich als auch kulturell eine Mischung, sind weder türkisch noch deutsch und gehören nirgends richtig hin.“ (Grundgedanke 3)

Dieser Grundgedanke markiert den Zusammenhang von Sprache, Identität und Zugehörigkeit in der subjektiven Theorie Zefcans. Die große Bedeutung der Sprache für die eigene Identität drückt sie aus, wenn sie sagt, eine gut beherrschte Herkunftssprache sei wichtig für das Verständnis der eigenen Identität, der Herkunft(-skultur), für die Orientierung im Heimatland der Eltern und die Verständigung mit Familienangehörigen (2.1). Die Kinder sollen ihrer Ansicht nach die eigenen türkischen Anteile kennen und verstehen und dazu müssten sie gut Türkisch sprechen, lesen und schreiben können (3.3). Auch ihr Ziel für die Spracherziehung ordnet Zefcan diesem Grundgedanken zu: „Die Kinder sollen beide Sprachen gut beherrschen“ (3.1). Dementsprechend sollten „Türkisch und Deutsch […] gleichwertig behandelt werden, es darf kein Sprachverbot für Türkisch geben. Ein Verbot des Türkischen behindert das gesellschaftliche Miteinander“ (6.1). Gleichzeitig betont Zefcan, dass in der Familie kein Zwang zum Türkischsprechen ausgeübt werde (4.4). In weiteren diesem Grundgedanken zugeordneten Statements beschreibt Zefcan die im Grundgedanken benannte sprachliche ‚Mischung‘. Demnach könne man mit Deutsch „besser exakte Dinge z.B. aus dem technischen Bereich beschreiben,“ für diejenigen, die es nicht sprechen, klinge es aber „klotzig und hart“ (8.1). Das Türkische hingegen habe „einen größeren Wortschatz für emotionale Themen“ (8.2.). Für sie sei Türkisch „die Sprache der Emotionen, der Zu-

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gehörigkeit und des Geborgenseins“, da es die Sprache ihrer Herkunftsfamilie sei (9.2.). Dies wirke sich auch auf ihre Sprachenwahl im Umgang mit den Kindern aus: Das Türkische benutze sie „für emotionale Themen (schimpfen, liebkosen)“, sie sei „auf Türkisch liebevoller, aber auch geduldiger und evtl. inkonsequenter mit den Kindern“ (9.1.). Das Deutsche benutze sie, „um den Kindern Dinge exakt erklären zu können“ (9.3). Wenn sie mit den Kindern Deutsch spreche, könne sie „knallhart, d.h. direkter, klarer, zielstrebiger und evtl. strenger“ sein (9.4). Die (vermutete) Perspektive der Kinder wird deutlich, indem Zefcan ausführt, dass ihre Kinder sich nicht „bewusst mehrsprachig“ (12.2) fühlen. Durch das mehrsprachige Umfeld sei es für sie „ganz normal, mehrere Sprachen zu sprechen“ (ebd.). Besonders deutlich beschreibt Zefcan ihre Selbstwahrnehmung, wenn sie feststellt, dass sie als Familie „Deutsch-Türken“ und somit „weder türkisch noch deutsch“ seien, sie hätten eine „eigene Kultur“ (10.1). Mit dieser Selbstpositionierung im ‚Weder-noch‘ ist für sie jedoch ein Problem verbunden: „Wir kommen hier nicht zurecht und dort auch nicht“ (ebd.) Allerdings seien sie „eher hier zu Hause als dort“ (ebd.). Diese Aussagen wurden direkt in den Grundgedanken 3 über das eigene ‚Weder-noch‘ übernommen, dessen besondere Reichweite und Aussagekraft innerhalb der subjektiven Theorie Zefcans auch durch die große Anzahl der zugordneten Statements aus den verschiedensten Themenbereichen deutlich wird. Letzteres zeigt, dass viele der im Interview besprochenen Aspekte der Spracherziehung und der dazugehörigen Wünsche und Ziele sowie Aspekte der familiären Sprachpraxis eng mit der Selbstwahrnehmung als ‚Mischung‘ und mit Fragen der Zugehörigkeit verbunden sind. Im Grundgedanken 4, der im Zentrum unter dem Grundgedanken 3 platziert ist, wird der Zusammenhang von Sprache und kultureller Identität dann explizit mit der Sprache der Kinder in Verbindung gebracht: „Ob die Kinder sich selbst (auch) als Türken wahrnehmen und die türkische Kultur als ihre begreifen, hängt davon ab, ob sie die türkische Sprache beherrschen.“ (Grundgedanke 4)

Die Vorstellung, dass eine gut beherrschte Herkunftssprache wichtig sei „für das Verständnis der eigenen Identität, der Herkunft(-skultur), die Orientierung im Heimatland der Eltern und die Verständigung mit Familienangehörigen“ (2.1), wird dementsprechend auch diesem Grundgedanken über die Kinder zugeordnet. Ebenso wird hier nochmals der Wunsch aufgegriffen, die Kinder sollten „ihre eigenen türkischen Anteile kennen und verstehen“, wozu sie „gut Türkisch sprechen, lesen und schreiben können“ müssten (3.3). Außerdem wird dieser Grund-

Subjektive Theorien der Eltern

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gedanke durch die Rolle, die das Türkische für Zefcan selbst spielt, gestützt. Türkisch sei die Sprache ihrer Herkunftsfamilie und daher sei es für sie auch „die Sprache der Emotionen, der Zugehörigkeit und des Geborgenseins“ (9.2). Neben den Vorstellungen darüber, wie Sprache, Identität und Zugehörigkeit zusammenhängen, und wie wichtig daher Kenntnisse im Türkischen wären, ordnet Zefcan dem Grundgedanken 4 über die Sprache der Kinder aber auch Statements über die Sprachpraxis in der Familie zu. So hätten die Kinder im Türkischen „einen geringen Wortschatz und einen starken Akzent“ (11.1). Ihre Erklärungen verstünden sie besser auf Deutsch und auch sich selbst erklärten sie „mit allem auf Deutsch“ (ebd.). Auch möchten sie nicht auf Türkisch vorgelesen bekommen, da sie dafür zu wenig verstünden: „Stattdessen sehen sie auf Türkisch fern, hören Musik auf Türkisch und wir machen manchmal Reime und Sprachspiele auf Türkisch“ (11.3). Weiterhin erläutert Zefcan in den hier zugeordneten Statements, welche Folgen die familiäre Sprachpraxis für die Identität der Kinder hat, und welche Unterschiede zu anderen Familien bestehen: „Unsere Kinder fühlen sich bisher nicht als Türken, sondern als Deutsche. Um sich türkisch zu fühlen, müssten sie die Sprache besser beherrschen. Kinder, die mit einem Elternteil aufwachsen, der selbst in der Türkei aufgewachsen ist, sprechen besser Türkisch und fühlen sich mehr als Türken. Die Sprache vermittelt das Kulturelle. Durch die Spracherziehung wachsen die Kinder in eine Kultur hinein“ (12.1). Andere Familien würden „Gewohnheiten und Werte mit dem Türkisch-Sein“ begründen, da „Zugehörigkeit […] das Selbstbewusstsein“ stärke (10.2). Weiterhin beschreibt Zefcan, wie der älteste Sohn beginnt, die türkische Sprache bewusst einzusetzen: „Durch den Einfluss von Schulfreunden beginnt der älteste Sohn (7J.), mit einer türkischen Identität zu spielen. Auch hat er den Wert der türkischen Sprache für sich als Geheimsprache entdeckt“ (12.3). Auf der rechten Seite schließlich ordnet Zefcan den Grundgedanken 5 über die Rolle der Kita bei der Spracherziehung an: „Die Kita ist eine deutsche Institution, wo die Kinder vor allem die deutsche Sprache sprechen und erweitern und in die deutsche Kultur hineinwachsen.“ (Grundgedanke 5)

Dieses zunächst eindeutig erscheinende Aufgabenverständnis wird durch die hier zugeordneten Statements untermauert. So sei eine zweisprachige Erziehung in der Kita nicht nötig, da das Türkische Familiensache sei. In der Kita solle nur die deutsche Bildungssprache wichtig sein, nicht die türkische (6.2). Zudem wird ein Zusammenhang mit dem Bildungserfolg hergestellt, der als Bestätigung für das monolinguale Aufgabenverständnis der Kita herangezogen wird: „Außerdem ist Sprache wichtig für die Bildung. Bildung kommt mit der Sprache und Sprache

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| Empirischer Teil

kommt mit der Bildung“ (1.2). Es wurden dem Grundgedanken aber auch Statements zugeordnet, die auf Unterschiede in Bezug auf Erziehungsvorstellungen hinweisen, was zu Konflikten mit der Kita führen könne. So gebe es „große Unterschiede zwischen der türkischen und der deutschen Kultur: Während die Türken eher auf die Gruppe bezogen sind, sind die Deutschen sehr individualistisch. Das macht sich auch bei der Kindererziehung bemerkbar und kann zu Problemen führen“ (7.1). „Kinder mit türkischem Hintergrund, die in Deutschland aufwachsen, wachsen mit dem hier üblichen Individualismus auf und werden auch dadurch geprägt“ (7.2). Die im Grundgedanken 5 ausgedrückte Überzeugung, die Kita sei ausschließlich für die deutsche Sprache zuständig, ist für Zefcan allerdings nicht ungebrochen. So ordnet sie hier auch ein Statement zu, dass ihre Zweifel deutlich macht: „Ob Türkisch in der Kita gefördert werden soll oder nicht, ist sehr schwer für mich zu entscheiden“ (6.3). Dieser Eindruck wird auch dadurch untermauert, dass im Interview von negativen Erfahrungen mit Sprachverboten berichtet wurde. So hätten die beiden älteren Kinder in der Kita kein Türkisch sprechen dürfen, worüber sich Zefcan sehr geärgert habe. Auch in ihrer eigenen Schulzeit sei es verboten gewesen, Türkisch zu sprechen, was dazu geführt habe, dass die Schülerinnen und Schüler mit türkischem ‚Migrationshintergrund‘ sich diskriminiert fühlten und das Miteinander erschwert wurde. Die Ambivalenz des Grundgedankens 5 über die Rolle der Kita wird auch dadurch deutlich, dass manche Statements, die einen der vier anderen Grundgedanken stützen, erwarten lassen, dass auch von der Kita möglichst viel Unterstützung für beide Sprachen gewünscht wird. So wünscht sich Zefcan, die Kinder mögen ihre „eigenen türkischen Anteile kennen und verstehen“, wozu sie gut Türkisch sprechen, lesen und schreiben können müssten (3.3). Sie stellt fest, dass es den Kindern mehr Spaß macht, auf Türkisch zu kommunizieren, je mehr Türkisch sie verstehen (5.3) und betont, dass eine gut beherrschte Herkunftssprache beim Erlernen der deutschen Sprache helfe und wichtig sei für das Verständnis der eigenen Identität, der Herkunft(-skultur), für die Orientierung im Heimatland der Eltern und die Verständigung mit Familienangehörigen (2.1). In der subjektiven Theorie Zefcans wird also einerseits der Wunsch deutlich, dass die Kinder mehrsprachig aufwachsen und auch die türkische Sprache beherrschen, andererseits wird aber diese Aufgabe ausdrücklich nicht der Kita, sondern der Familie zugeschrieben. Gleichzeitig wird von Sprachverboten berichtet, die Zefcan als diskriminierend empfindet. In der kommunikativen Validierung wurde dieses Thema noch einmal aufgegriffen. Zefcan fügte hier den fünf Grundgedanken eine Grundfrage hinzu:

Subjektive Theorien der Eltern

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Sollte die Kita/außerfamiliäre Bildungsinstitution den Erwerb des Türkischen auch unterstützen? Wer ist für den türkischen Spracherwerb verantwortlich?

In der kommunikativen Validierung ließen sich dieser Frage verschiedene Statements zuordnen, die Zefcans Ambivalenz zu diesem Thema zeigen: So betont sie, die Kinder würden „sowieso Türkisch lernen, auch ohne Unterricht in der Schule“ (11.2). Außerdem sei „die kulturelle Identität […] auch in den Genen, selbst wenn man die Sprache und seine Wurzeln nicht kennt“ (10.4). Das Angebot des Herkunftssprachlichen Unterrichts in der Schule würden sie solange annehmen, wie dadurch nicht andere Angebote für die Kinder wegfallen würden (4.3). Schließlich aber formulierte Zefcan noch ein neues Statement, das sie ebenfalls hier zuordnete: „In der Kita sollte doch von Anfang an zweisprachig erzogen werden“ (6.4). 8.1.2 Requena Auswahl der Untersuchungspartnerin und Interviewsituation Requena wurde als zweite Untersuchungspartnerin ausgewählt, da die Konstellation der Mehrsprachigkeit in ihrer Familie einen Kontrast zur ersten Untersuchungspartnerin darzustellen versprach. Das Interview fand in der Wohnung von Requena statt, ebenso wie die kommunikative Validierung, die dreieinhalb Wochen nach dem Interview durchgeführt wurde. Beide Gespräche hatten eine Länge von anderthalb bis zwei Stunden. Daten zur Familie und Einordnung der familiären Sprachpraxis Requena hatte zum Zeitpunkt der Erhebung zusammen mit Robert zwei Töchter: Nela, viereinhalb, und Lula, anderthalb Jahre alt. Während die ältere Tochter seit Vollendung des dritten Lebensjahres den Elementarbereich einer Kita besuchte, wurde die Jüngere noch zu Hause von der Mutter betreut. Requena ist in Bolivien ausschließlich mit Spanisch aufgewachsen und hat dort auch eine Berufsausbildung als Erzieherin absolviert. Zum Zeitpunkt des Interviews lebte sie seit ca. zehn Jahren in Deutschland. Da ihre Ausbildung in Deutschland nicht anerkannt wird, kann sie hier nicht als Erzieherin arbeiten. Vor der Geburt der Kinder war sie jedoch bereits in einer Kita als Aushilfe tätig, zum Zeitpunkt des Interviews befand sie sich in Elternzeit. Robert ist in Deutschland aufgewachsen, seine Mutter- und Familiensprache ist Deutsch. Durch den Besuch eines dänischen Kindergartens und einer dänischen Schule ist er jedoch zweisprachig mit Deutsch und Dänisch aufgewachsen. Auch seine Eltern sprechen Dänisch, zu Hause wurde jedoch nur Deutsch gesprochen. In der Familie von Requena und Robert wird

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| Empirischer Teil

Spanisch, Deutsch und Dänisch gesprochen, wobei das Dänische nur recht sporadisch durch Robert eingebracht wird. Bei der Einordnung der Erwerbssituation in die Typologie von Reich entschied sich Requena schnell und eindeutig für den Typ I, der durch einen gleichmäßigen Gebrauch beider Sprachen (one personone language oder situativer Wechsel) gekennzeichnet ist. Argumentation in Grundgedanken und zugeordneten Statements Requenas Theoriebild besteht aus sechs Grundgedanken. Oben in die Mitte platzierte sie ihren Grundgedanken 1 über die Rolle der Sprache, der den Ausgangspunkt ihrer subjektiven Theorie darstellt. Links unterhalb davon hat sie den Grundgedanken 2 platziert, der ihr Ziel für die Spracherziehung ihrer Kinder ausdrückt. Rechts unterhalb des Ausganspunktes liegt der Grundgedanke 3 über ihre Strategien zur Erreichung dieses Ziels. Auf der linken Seite, unter dem Spracherziehungsziel, wird im Grundgedanken 4 die Rolle der Kita im Rahmen der Spracherziehung formuliert. Unterhalb davon, in der Mitte direkt unter dem Grundgedanken 1 über die Rolle der Sprache, liegt der Grundgedanke 5, in dem es um die Bedeutung von Sprache für die Kinder geht. Schließlich befindet sich rechts unten, unterhalb des Grundgedankens 3 über die Strategien der Spracherziehung noch der Grundgedanke 6, in dem es um den Zusammenhang von Sprachbeherrschung, Zugang und Zugehörigkeit geht.

Abb. 2: Theoriebild Requena

Subjektive Theorien der Eltern

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Den Ausgangspunkt der subjektiven Theorie stellt Requenas Verständnis von Sprache dar, das sie im Grundgedanken 1 formuliert: „Sprache ist das wichtigste Mittel der Konfliktlösung und der Kindererziehung.“ (Grundgedanke 1)

Dies wird gestützt durch Erfahrungen und Beobachtungen im Bekanntenkreis, z.B. bei einer Freundin, die durch geringe Sprachkenntnisse wenig Zugang zu den Menschen in ihrer Umgebung finde: „Ohne Sprache kann man sich nicht mitteilen, versteht die anderen nicht und ärgert sich mehr“ (1.2). Zudem fühlten sich auch die Deutschen wohler mit einem, wenn man sie verstehe und sich auf Deutsch ausdrücken könne. Auch für Kinder sei Sprache sehr wichtig: „Kinder, die sich nicht ausdrücken können, sind entweder aggressiv oder ängstlich und fühlen sich weniger wert“ (1.3). Auch Requenas Vorstellungen in der Kindererziehung unterstreichen die wichtige Rolle der Sprache: „Damit die Kinder verstehen, was man von ihnen will, sich aber trotzdem gut dabei fühlen, muss man ruhig mit ihnen reden, sie zum Mitmachen motivieren, und darf nicht laut werden“ (2.1). Auch für kleine Kinder sei es schon wichtig, das Gefühl zu haben, dass sie was bestimmen können. Dies müsse man berücksichtigen, wenn man mit ihnen was erreichen wolle (2.2). In der Erziehung der eigenen Kinder werden laut Requena die Erfolge deutlich, die eine Beachtung der wichtigen Rolle der Sprache bringen. So habe sie immer gesagt: „Wir können reden“ (5.7). Und auch sie selbst schreie nicht. Dadurch könne ihre große Tochter mit ihr Konflikte lösen ohne laut zu werden. Mit dem Vater hingegen werde häufiger geschrien und „Theater gemacht. Der Vater wundert sich, wie ich das schaffe, ohne laut zu werden“ (ebd.). Eine Verbindung von Sprache und Identität wird bereits in diesem Grundgedanken deutlich, da Requena hier den Wunsch äußert, dass die Kinder noch mehr als zwei Sprachen beherrschen. Allerdings sollten sie dadurch nicht „plötzlich eine andere Identität annehmen wollen, z.B. Englisch oder etwas, was sie nicht sind“ (3.3). Links unterhalb des Grundgedankens 1 über die Rolle der Sprache hat Requena den Grundgedanken 2 platziert, in dem sie ihre Ziele für die Spracherziehung formuliert: „Am wichtigsten ist mir, dass die Kinder sich sprachlich und kulturell wohl und sicher fühlen. Wenn sie sich hier eher als Deutsche fühlen, ist mir das recht, solange sie auch die spanische Sprache als Türöffner zu meiner Herkunftskultur, Familie etc. kennen.“ (Grundgedanke 2)

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Hier zeigt sich, dass Requena Sprache in einen engen Zusammenhang mit der kulturellen Identität und dem Sicherheitsgefühl der Kinder stellt. So sei es für ihre große Tochter wichtig, dass sie gut Deutsch könne. Sich als Deutsche zu fühlen, gebe ihr „eine wichtige Orientierung“ (7.3). Daher findet Requena es „in Ordnung, dass sich die Kinder in erster Linie als Deutsche fühlen“ (7.8). Ohnehin könnten die Kinder ihre eigene Herkunftskultur aus Bolivien hier nicht einfach dadurch kennenlernen, dass sie mit ihrer Mutter Spanisch sprechen (7.4). Außerdem hätten „Kinder, die beide Länder kennen, […] immer Sehnsucht und fragten sich, wo sie hingehören“ (7.7). Beim Grundgedanken 2 über ihre Spracherziehungsziele geht Requena auch näher auf die familiäre Sprachpraxis und auf die sprachlichen Kompetenzen ihrer Kinder ein. So sei es ihr sehr wichtig gewesen, dass ihre große Tochter bereits vor der Schule „richtig akzentfrei Deutsch sprechen lernt“ (3.2). Gleichzeitig spreche sie auch „sehr gut Spanisch“, habe „ein sehr gutes Sprachgefühl“ und könne „auch Witze machen auf Spanisch“ (6.4). Dennoch habe sie laut ihrer Familie in Bolivien einen deutschen Akzent (ebd.). Obwohl sie mit ihren Kindern eigentlich immer Spanisch spreche, wechsele sie ins Deutsche, wenn Leute dabei seien, die kein Spanisch verstehen, so Requena. Sie habe oft erlebt, „dass die Leute sonst unsicher werden“, was sie vermeiden wolle (5.3). Auch aus diesem Grund höre ihre kleine Tochter viel mehr Deutsch, auch von ihrer Mutter, als damals die große Tochter. Requena nimmt daher an, dass sie keine Schwierigkeiten mit Deutsch haben und selbst auch mehr Deutsch sprechen wird. Schwierigkeiten würden vielleicht eher im Spanischen auftreten (5.4). Dem Grundgedanken 2 über das Ziel der Spracherziehung gegenüber, auf der rechten Seite, wurde der Grundgedanke 3 platziert, der Requenas Vorstellungen über Strategien zum Gelingen mehrsprachiger Erziehung beschreibt: „Mehrsprachigkeit gelingt, wenn die Eltern eine gute Strategie haben und diese konsequent verfolgen.“ (Grundgedanke 3)

Welche Strategie Requena selbst verfolgt, wird hier ebenfalls deutlich: „Ich habe mir vorgenommen, nur Spanisch mit meinen Kindern zu sprechen, damit sie die Sprache gut lernen“ (4.1); „Ich spreche mit den Kindern immer Spanisch, wenn wir unter uns sind“ (5.1). Bei ihrer großen Tochter sei es ihre Strategie für die mehrsprachige Erziehung gewesen, diese bis zum dritten Lebensjahr zu Hause zu betreuen und sie nicht in eine Krippe zu geben. So habe sie in den ersten drei Jahren intensiv mit ihr Spanisch gesprochen und dann ganz bewusst eine Kita gesucht „in der gut Deutsch gesprochen wird“ (4.3). Damit ihre Tochter auch nach dem Kitaeintritt weiterhin mit ihr Spanisch sprach, habe sie sie dann zeit-

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weise dazu angehalten, indem sie ihr gesagt habe: „Ich gebe dir eine Antwort, wenn du auf Spanisch sprichst“ (4.4). Der Grundgedanke über die Strategien zum Gelingen der Mehrsprachigkeit wird auch durch die Erfolge von Requenas Strategie gestützt, die sie in einigen Statements beschreibt. So habe ihre ältere Tochter durch die drei Jahre zu Hause ohne Kitabetreuung „das Spanische als ‚unsere Sprache‘ verinnerlicht“ und nutze es auch entsprechend (6.3). Heute antworte sie ihr auf Spanisch und möchte mit Requena Spanisch sprechen, weil sie das besser verstehe. Auch mit ihrer kleinen Schwester spreche sie Spanisch (5.2). Außerdem habe ihre große Tochter „schon eine Mehrsprachigkeitsbewusstheit entwickelt“ und wisse, „dass es gut ist, mehrere Sprachen zu können“ (6.5). Requena drückt eine große Zufriedenheit mit der familiären Sprachpraxis und ihren Ergebnissen aus. Die Sprachpraxis sei so, wie sie es möchte (6.1) und ihre Strategie zur mehrsprachigen Erziehung sei aufgegangen (6.2). Weitere Statements beschreiben die Rolle des Vaters in der Spracherziehung. Von ihm lerne die große Tochter „nicht viel Deutsch, weil er weniger zu Hause ist und dann auch nicht viel spricht“, er unterstütze jedoch die zweisprachige Erziehung (5.5). Der Vater möchte außerdem, dass die Kinder auch Dänisch lernen. Dagegen habe Requena nichts, es sei ihr aber auch „nicht so wichtig“ (3.4). Die Beschreibung der Strategie des Vaters für das Dänische stützt den Grundgedanken 3 über Spracherziehung als Negativbeispiel: „Der Vater liest manchmal dänische Bücher mit den Kindern und übersetzt sie ihnen ins Deutsche. Einige Worte werden z.B. beim Frühstück auf Dänisch gesagt. Die mehrsprachige Sprachpraxis des Vaters funktioniert jedoch nicht, weil er zu wenig Zeit hat, die falsche Methode anwendet und nicht konsequent Dänisch spricht“ (5.6). Der Grundgedanke 3 über Spracherziehung wird außerdem gestützt durch Beobachtungen bei Freunden und Bekannten, die es nicht geschafft hätten, zu Hause konsequent ihre Herkunftssprache Spanisch zu sprechen und deren Kinder nun kein Spanisch könnten. Außerdem beschreibt Requena ihre Erfahrungen, die sie als Mitarbeiterin in einer Kita gesammelt hat, wo die Kinder ohne Vorkenntnisse nur durch sie sehr schnell Spanisch gelernt hätten. Kinder hätten eine sehr große Aufnahmefähigkeit für Sprachen und es sei eben entscheidend, dass sie genügend Input bekommen, um eine Sprache zu lernen. Bereits die Statements zur Spracherziehungsstrategie und die Erfahrungen Requenas aus ihrer eigenen Berufspraxis weisen darauf hin, dass Requena auch die Rolle der Kita in der Spracherziehung reflektiert. Unter den Grundgedanken 2 zum Spracherziehungsziel auf der linken Seite des Theoriebildes hat sie den Grundgedanken 4 über die Aufgabe der Kita im Rahmen der Spracherziehung platziert:

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„Die Kita soll die mehrsprachige Erziehung unterstützen und in der benötigten Sprache qualitativ hochwertigen Input ermöglichen.“ (Grundgedanke 4)

Die Rolle der Kita im Rahmen von Requenas Spracherziehungsstrategie und ihre Wünsche an sie werden konkretisiert, wenn sie berichtet, dass den „deutschen Part der Spracherziehung“ bei ihrer großen Tochter vor allem die Kita übernommen habe (8.1). Bewusst habe sie eine Kita gesucht, „wo nur deutsche Erzieher arbeiten, damit sie dort richtig Deutsch lernt“ (4.2). Es sei ihr wichtig, dass die Fachkräfte in der Kita „gut Deutsch sprechen, akzent- und fehlerfrei“ (8.3). Weitere hier zugordnete Statements, die sich auf die jüngere Tochter mit ihren speziellen Spracherwerbsbedingungen beziehen, unterstreichen, dass sie die Kita nicht nur in der Rolle der Vermittlerin des Deutschen sieht, sondern dass die Unterstützung von Mehrsprachigkeit auch Input in anderen Sprachen in der Kita erforderlich machen kann: So brauche die kleine Tochter „später eher eine Kita, in der Spanisch gesprochen wird. Daher soll sie vielleicht doch eher in eine spanische Kita“ (8.5). Die wichtige Rolle, die Sprache im Allgemeinen für Requena spielt, wird im Grundgedanken 5 im Hinblick auf die Kinder konkretisiert. Ihn hat sie im unteren Zentrum platziert: „Kinder brauchen altersgemäße sprachliche Fähigkeiten, um sich sicher, wertvoll und zugehörig zu fühlen.“ (Grundgedanke 5)

Hier hat Requena teilweise dieselben Statements wie beim Grundgedanken 1 zugeordnet, in denen sie feststellt, dass man sich ohne Sprache nicht mitteilen könne, die anderen nicht verstehe und sich mehr über sie ärgere (1.2). Dass Sprache für Kinder sehr wichtig sei, zeige sich darin, dass Kinder, die sich nicht ausdrücken können, entweder aggressiv oder ängstlich seien und sich weniger wert fühlten (1.3). Ebenso findet sich hier das Statement über die Rolle der Sprache bei der Kindererziehung wieder, in der Kommunikation das Wichtigste sei (2.1). In Bezug auf die eigenen Kinder wird hier außerdem der Wunsch geäußert, „die Kinder sollten sich in beiden Sprachen wohl und sicher fühlen“ (3.1). Die ebenfalls hier zugeordnete Erfahrung, dass Requenas große Tochter nach Eintritt in die Kita zunächst nur noch Deutsch sprechen wollte (8.4), das Deutsche also aktiv aufgegriffen hat, um sich in der Kita zugehörig und sicher zu fühlen, weist zudem auf einen engen Zusammenhang von Sicherheitsgefühl und Deutschkenntnissen im Rahmen der Kita hin. Zudem stützen Erfahrungen diesen Grundgedanken, von denen Requena im Interview berichtete. So gebe es in Nelas Kita ein Mädchen aus dem Irak, das früher sehr aggressiv gewesen sei. Sie habe noch nicht lange in Deutschland ge-

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lebt und konnte kaum Deutsch. Nachdem sie durch zusätzliche Sprachförderung Deutsch gelernt hatte, sei sie ganz lieb und zufrieden geworden. Auch habe sie weitere Kinder erlebt, die, solange sie kein Deutsch konnten, sehr unsicher und ängstlich gewesen seien. Diese Erfahrungen weisen darauf hin, wie dieser Grundgedanke 5 über die Bedeutung von Sprachkenntnissen für die Kinder mit dem Grundgedanken 4 über die Rolle der Kita zusammenhängt: Da Kinder laut Requena altersgemäße sprachliche Fähigkeiten brauchen, um sich sicher, wertvoll und zugehörig zu fühlen, sollte auch die Kita die mehrsprachige Erziehung unterstützen und für qualitativ hochwertigen Input sorgen. Gleichzeitig steht dieser Grundgedanke in Verbindung mit dem Grundgedanken 3, der die Aufgabe der Eltern beschreibt: Da Kinder altersgemäße sprachliche Fähigkeiten brauchen, um sich sicher, wertvoll und zugehörig zu fühlen, sollten die Eltern eine gute Strategie für die mehrsprachige Erziehung haben und diese konsequent verfolgen. Schließlich besteht auch eine argumentative Verbindung zwischen dem Grundgedanken 5 über die Bedeutung von Sprache für die Kinder und dem Grundgedanken 2 zum Spracherziehungsziel, da es in beiden um ein Sicherheitsgefühl für die Kinder geht: Das Ziel, dass sich die Kinder wohl, sicher, wertvoll und zugehörig fühlen, kann erreicht werden, indem es ihnen ermöglicht wird, sich altersgemäße sprachliche Fähigkeiten anzueignen. In der kommunikativen Validierung machte Requena noch einmal deutlich, dass sie das Gefühl der Unsicherheit auch aus der eigenen Erfahrung kennt: Im Deutschen fühle sie sich immer unsicher, was sie schade fände und sich für ihre Kinder anders wünsche. Auch im Englischen fühle sie sich durch ihre geringe Sprachkompetenz sehr unsicher und unwohl. Kinder hätten es jedoch leichter, diese Unsicherheit und die fehlenden sprachlichen Fähigkeiten zu überwinden und sie habe beobachtet, dass sie sich sprachlich schnell anpassten und dann auch sicherer und zufriedener seien. Die Rolle der Sprache für das Gefühl von Zugehörigkeit und für die Entwicklung von kultureller Identität wird auch betont im Grundgedanken 6, der auf der unteren rechten Seite platziert ist: „Die Sprache öffnet einem die Tür zu einer Kultur, aber um die Menschen wirklich zu begreifen und die Sprache richtig gut zu können, muss man lange in einem Land leben. Um die gleichen Möglichkeiten zu haben, muss man vielleicht sogar dort geboren sein.“ (Grundgedanke 6)

Diese Überzeugung begründet Requena, indem sie dem Grundgedanken Statements über Sprache und Identität ihrer Töchter zuordnet: „Die Kinder können hier die bolivianische Kultur nicht kennenlernen nur dadurch, dass ich mit ihnen Spanisch spreche.“ (7.4). Da sie immer hier gelebt habe, fühle sich ihre große

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Tochter als Deutsche, so Requena. Sie habe zu Bolivien keine richtige Bindung und auch nicht viel Interesse, dort hin zu fahren (7.5). Für ihre große Tochter entscheide sich vor allem anhand der Sprache, ob man deutsch sei oder nicht. So sage sie von sich, sie sei Deutsche und empfinde dies vor allem Kindern gegenüber, die nicht so gut Deutsch könnten (7.2). Beim Tanzen jedoch fühle sie sich eher als Latina (7.2). Mit diesen Statements wird die entscheidende Rolle der Sprache für Identität und Zugehörigkeit unterstrichen. Gleichzeitig wiederholt Requena in diesem Zusammenhang, dass es für sie „in Ordnung“ sei, dass sich ihre Töchter „in erster Linie als Deutsche fühlen“ (7.8). Dem Grundgedanken 6 über Sprache, Zugang und Zugehörigkeit hat Requena auch Statements zugeordnet, die sich mit Möglichkeiten und Grenzen des Spracherwerbs beschäftigen. Das betrifft einerseits die Spanischkenntnisse ihrer Kinder, die, da sie hier aufwachsen, „nicht genauso Spanisch sprechen können wie die Menschen in Bolivien“ (6.4) und andererseits die allgemeinen Möglichkeiten für Mehrsprachigkeit. Um „wirklich akzentfrei zu sprechen“ müsse man im jeweiligen Land aufgewachsen sein“ (1.4). Aber auch wenn man nicht akzentfrei sprechen könne, müsse man nach 20 Jahren in Deutschland schon „richtig flüssig Deutsch sprechen“ können und „sich ein bisschen Mühe geben“ (1.5). Allerdings hat Requena dem Grundgedanken 5 auch Statements zugeordnet, die den unterschiedlichen Charakter der Sprachen betreffen und zeigen, wie schwer es sein kann, sich in einer neuen Sprache zurecht zu finden. So könne dasselbe Wort auf Deutsch und auf Spanisch manchmal einen „ganz anderen Charakter und Effekt haben“ und was auf Deutsch als Beleidigung aufgefasst werde, sei im Spanischen u.U. gar nicht so gemeint (1.6). Außerdem klinge das Deutsche „sehr hart“, wenn sie mit den Kindern Deutsch spreche, versuche sie immer, das abzumildern und „genauso lieb zu sein wie auf Spanisch“ (2.3). Der Nachsatz im Grundgedanken 6, dass man, um die gleichen Möglichkeiten zu haben, vielleicht sogar in einem Land geboren sein muss, wird vor allem durch zwei Statements gestützt, die Requenas berufliche Situation beschreiben. Um ihren Beruf hier ausüben zu können, müsste sie sowohl ihren Schulabschluss als auch ihr Fachhochschulstudium in Pädagogik hier wiederholen, weil beides in Deutschland nicht anerkannt werde. Dazu habe sie jedoch keine Lust (1.7). Auch ohne anerkannten Abschluss habe sie vor der Geburt ihrer ersten Tochter eine Stelle in einer Kita gefunden, dort aber „viel weniger verdient“ als die Kolleginnen und Kollegen mit Abschluss, dennoch sei der Verdienst viel höher gewesen als in Bolivien (1.8). Dieser Aspekt des Grundgedankens 6 über Zugang und Zugehörigkeit weist darauf hin, dass Sprache für Requena zwar ein wichtiger Schlüssel zu einer Kultur ist, dass sie aber keineswegs allein darüber entscheidet, ob man dazugehört.

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8.1.3 Alara Auswahl der Untersuchungspartnerin und Interviewsituation Alara wurde als dritte Untersuchungspartnerin ausgewählt, da die Rekonstruktion ihrer subjektiven Theorie eine Ergänzung und Kontrastierung zur subjektiven Theorie der beiden vorigen Untersuchungspartnerinnen versprach, insbesondere derer von Zefcan, deren Migrationsgeschichte in mehreren Punkten mit der von Alara übereinstimmt. Das Interview wurde in der Wohnung von Alara durchgeführt und dauerte ca. anderthalb Stunden, die kommunikative Validierung fand zwei Monate später in meiner Wohnung statt und dauerte ca. zwei Stunden. Daten zur Familie und Einordnung der familiären Sprachpraxis Alara hat mit ihrem Mann Lokman zwei Kinder, Talas war zum Zeitpunkt des Interviews vier Jahre und neun Monate alt, Ebru ein Jahr und zehn Monate. Die Kinder besuchten den Elementarbereich bzw. die Krippe einer Kita und waren mit 16 Monaten (Talas) und 15 Monaten (Ebru) in die Einrichtung eingewöhnt worden. Alara und Lokman sind in Deutschland geboren und aufgewachsen, haben Bauingenieurwesen studiert und arbeiten als Bauingenieure. Alara stieg zum Zeitpunkt des Interviews gerade nach insgesamt fünfjähriger Elternzeit wieder in den Beruf ein. Die Eltern Alara und Lokman stammen aus der Türkei und sind in den 1970er Jahren im Zuge des Anwerbeabkommens nach Deutschland migriert. In ihren Herkunftsfamilien haben Alara und Lokman nur Türkisch gesprochen und Deutsch außerhalb von zu Hause gelernt und gesprochen. Mit ihren Eltern sprechen Alara und Lokman weiterhin Türkisch und auch die Kinder werden von den Großeltern nur auf Türkisch angesprochen. In ihrer eigenen Familie wird Deutsch und Türkisch gesprochen, wobei beide Elternteile situations- und themenabhängig zwischen den Sprachen wechseln. Als weitere Sprachen, mit denen die Kinder durch Freunde und durch die Kita Kontakt haben, nennt Alara Englisch, Ungarisch und Italienisch. Anhand der Typologie der Erwerbssituation von Reich (2010) ordnet Alara die Sprachpraxis der Familie als Typ I mit einem situativen Wechsel zwischen den Sprachen ein. Argumentation in Grundgedanken und zugeordneten Statements Anhand der im Gespräch behandelten Themen und der dazu geäußerten Statements ließen sich fünf Grundgedanken als Eckpfeiler der subjektiven Theorie Alaras formulieren. In die Mitte ihres Theoriebildes hat Alara den Grundgedanken 1 über ihre eigene Sprachigkeit platziert und ihn zusätzlich mit dem Wort „Kernaussage“ überschrieben. Links davon, in einem Bereich, der mit dem Begriff „Kultur“ markiert ist, befinden sich die Grundgedanken 2 und 3 über die Si-

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tuation der Familie in Bezug auf Sprache, Migration, Identität und Zugehörigkeit. Auf der rechten Seite, in einem Bereich, der mit „Emotion“ markiert ist, befindet sich der Grundgedanke 4, in dem es um die Rolle der Sprache in Bezug auf die Kinder geht, sowie der Grundgedanke 5, der das Spracherziehungsziel Alaras ausdrückt.

Abb. 3: Theoriebild Alara

Das Zentrum ihrer subjektiven Theorie stellt für Alara ihre eigene Sprachigkeit dar, die sie im Grundgedanken 1 beschreibt: „Deutsch ist für mich die Sprache der 100%igen Ausdruckssicherheit, Türkisch die Sprache der Emotionen und der Familie.“ (Grundgedanke 1)

Gestützt wird dieser Grundgedanke durch Statements zum Thema Meine Sprachen. Hier beschreibt Alara, dass Deutsch für sie die „erste Sprache“ sei und dass sie sich im Deutschen „100%ig ausdrücken“ könne und das Deutsche für sie „Sicherheit“ bedeute (5.1). Im Türkischen hingegen habe sie nicht das Gefühl, dass sie sich „100%ig mit allen Facetten ausdrücken“ könne, es biete ihr jedoch „die Möglichkeit, auf die emotionale Ebene zu gehen. Das kann ich allerdings im Deutschen auch, wenn jemand kein Türkisch kann“ (5.2). Ihr Türkisch sei jedoch „niemals so gut“ wie ihr Deutsch und sie könne sich „niemals im Tür-

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kischen über die gleichen Sachen unterhalten wie im Deutschen“, da sie „im Türkischen keine Schulbildung habe“, fehle ihr dazu der Wortschatz (5.4). Das Türkische sei für sie „ein Familiending“, habe viel mit Emotionen zu tun, weil sie damit aufgewachsen sei (5.6). In der Familie habe sie zu Hause nur Türkisch gesprochen, sowohl mit den Eltern als auch auf Wunsch der Eltern unter den Geschwistern. Daher würde sie „nie auf die Idee kommen, mit meinen Eltern Deutsch zu sprechen“ (5.9). Zweisprachigkeit sei für sie daher auch heute eine emotionale Angelegenheit, weil sie viele Dinge, „die ins Emotionale gehen, intuitiv auf Türkisch“ beschreibe (6.2). Wenn sie aber durchgehend Türkisch sprechen wolle, müsse sie sich selbst daran erinnern und aufpassen, nicht ins Deutsche zu wechseln (5.7). Dem Grundgedanken 1 über ihre Sprache hat Alara auch Statements zur Sprachpraxis in ihrer eigenen Familie und zu ihren Spracherziehungsstrategien zugeordnet. Demnach sind die Familiensprachen ungefähr zur Hälfte Deutsch und Türkisch. Deutsch sei die erste Sprache in der Familie, aber es werde auch sehr intensiv Türkisch gesprochen (9.1). Als die Kinder noch ganz klein waren, habe sie vor allem auf Türkisch mit ihnen gesprochen: „Dieses ‚Bezuzeln‘ mache ich intuitiv auf Türkisch, da hatte ich nie das Bedürfnis, Deutsch zu sprechen“ (9.3). Aber sie „rutsche sehr schnell ins Deutsche“ und müsse sich konzentrieren, um konsequent mit den Kindern Türkisch zu sprechen (9.4). Um das Türkische zu stärken, höre die Familie Musik auf Türkisch und lasse die Kinder Filme auf Türkisch sehen. Dabei behaupten Alara und ihr Mann manchmal, sie hätten den Film nicht auf Deutsch, sondern nur auf Türkisch (8.6). Die eigene sprachliche Situation, die in Alaras zentralem Grundgedanken 1 Ausdruck findet, stellt für sie den Ausgangspunkt dar für ihre Spracherziehungsziele, Strategien und familiäre Sprachpraxis sowie für das, was bei den Kindern als Umgang mit Sprache und Mehrsprachigkeit beobachtet wird. Dies zeigt sich auch daran, dass jeweils in den Räumen zwischen diesem und anderen Grundgedanken viele Statements platziert sind. In den Grundgedanken 2 und 3 wird die Situation der Familie in Bezug auf Sprache, Migration, Identität, Kultur und Zugehörigkeit beschrieben. Hier zeigt sich die Bedeutung, die die eigene Migrationsgeschichte sowie Fremd- und Selbstpositionierungen für die sprachliche Situation haben. Die Grundgedanken 2 und 3 hat Alara links von der Kernaussage im Grundgedanken 1 platziert und den ganzen linken Bereich des Theoriebildes mit dem Wort „Kultur“ gekennzeichnet. Im Folgenden wird zunächst der Grundgedanke 2 mit seinen zugeordneten Statements vorgestellt, dann der Übergang zwischen den Grundgedanken 2 und 3 und schließlich der Grundgedanke 3.

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„Wir sind angekommen im Sowohl-als-auch. Uns fehlt im Deutschen nichts und durch das Türkische gewinnen wir ein Plus hinzu.“ (Grundgedanke 2)

Diesem Grundgedanken hat Alara die Statements zur Migrationsgeschichte ihrer Familie zugeordnet. So hätten ihre Eltern, die in den 1970er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland kamen, immer mal wieder vorgehabt, mit den Kindern in die Türkei zurückzukehren, es dann aber doch nie getan. Nach dem letzten Anlauf sei Alaras Vater der Meinung gewesen, dass die Kinder jetzt ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland hätten „und von jetzt an jeder das macht, was er denkt“ (1.4). Ihre Eltern seien mit ihrer Migration zufrieden, weil die Kinder dadurch bessere Chancen gehabt und sich gut entwickelt hätten. Sie seien auch froh darüber, „bestimmte Sachen in der Türkei nicht miterlebt zu haben“ (1.6). Dennoch lebten Alaras Eltern „mit einer ständigen Heimatsehnsucht. Sie verbringen heutzutage den Sommer in der Türkei und sehnen sich dann wieder nach ihren Enkelkindern hier. Sie leben schon ein bisschen zwischen den Stühlen und sind nicht in dem Maße wie wir Kinder angekommen“ (1.8) Ihre Geschwister und sie selbst seien jedoch „angekommen im Sowohl-als-auch. Wir freuen uns, dass wir die Türkei als Fluchtort haben und fühlen uns emotional verbunden, aber wir leben nicht mit einer ständigen Heimatsehnsucht“ (1.9). Alara betont, dass sie, ihr Mann und ihre Geschwister ihr Leben hier genießen, aber auch wissen, dass sie ebenso gut in der Türkei leben könnten. Allerdings seien sie froh, dass ihnen „der harte Kampf um Arbeit, Geld und Bildung in der Türkei erspart“ bliebe (1.10). Hier stünden ihnen „alle Wege offen“ und im Vergleich zum Leben vieler in der Türkei könnten sie sich nicht beschweren (1.11). Dem Grundgedanken 2 über das ‚Angekommen-sein‘ sind außerdem Statements zum Thema Sprache zugeordnet. So hätten ihre Eltern „in den 40 Jahren in Deutschland nicht besonders gut Deutsch gelernt“, der Vater durch seine Arbeit noch etwas mehr als die Mutter (2.5). Bei ihr selbst hingegen gebe es nichts, was ihr im Deutschen fehle, aber durch das Türkische gewinne sie „ein Plus hinzu“ (5.3). Von Freunden aus der Türkei werde ihr bestätigt, dass ihr „Türkisch für jemanden, der im Ausland aufgewachsen ist, gut sei, was Akzent und Wortschatz angeht“ (5.5). Da das „Plus“, das Alara hinzugewinnt, nicht nur die Sprache im engeren Sinne betrifft, wurde es in die Formulierung des Grundgedankens über das Angekommen-sein aufgenommen. Dies wird auch durch Statements deutlich, die den Freundeskreis und das soziale Umfeld der Familie beschreiben. So seien die Freunde „ungefähr gleichmäßig gemischt deutsch- und türkischstämmig und aus anderen Ländern stammend“ (11.1). Zu „Familien, die sich stärker mit dem türkischen Kulturkreis identifizieren“ habe man „eigentlich kaum Kontakt“, daher

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sei es im sozialen Umfeld der Familie nicht so oft Thema, „ob man türkisch oder deutsch ist“ (11.2). Mit Familien, „die im türkischen ‚Bannkreis‘ sind und sich nur als Türken identifizieren“ hätten sie eigentlich nichts zu tun (13.7). Dieses „Unter-sich-bleiben“ bezeichnet Alara dann auch als „fatal“: Da sie selbst im „Sowohl-als-auch“ angekommen seien, hätten sie „gar kein ‚Sich‘“, für sie sei „‚Sich‘ alles“, daher gebe es für sie kein „Unter-sich-bleiben“ (13.10). Stattdessen hätten sie „in der Mitte unseren Platz gefunden“ und „analysieren das nicht tot, ob wir Türken oder Deutsche sind“ (13.6). Dementsprechend lehnt Alara auch den Begriff ‚Integration‘ ab: „Ich finde das Wort ‚Integration‘ blöd, weil es für mich nichts gibt, worein ich mich integrieren müsste, ich habe mich selbst nie als Integrationsfall gesehen“ (13.1). Die Familie habe in diesem Sinne auch „kein ‚Zurück‘. Wir sind hier und können nirgendwohin zurück. Wir kommen von nirgendwo anders“ (13.11). Am Übergang zwischen dem Grundgedanken 2 über das ‚Angekommensein‘ und dem Grundgedanken 3, der sich mit Zuschreibungen und Vorurteilen beschäftigt, sind Statements zu den Themenbereichen Migrationsgeschichte und Kulturelle Identität angesiedelt. Die Tatsache, dass diese Statements zwischen das ausdrückliche ‚Angekommen-sein‘ des Grundgedankens 2 und den Problemen mit Zuschreibungen und Vorurteilen aus dem Grundgedanken 3 platziert wurden, gibt einen Hinweis darauf, dass, das ‚Angekommen-sein‘ nicht ungebrochen ist. Manche dieser Statements beschreiben, wie Alaras Eltern vor 43 Jahren vor ihrer Geburt mit den beiden älteren Geschwistern nach Deutschland gekommen sind. Alaras Vater wurde als Arbeitskraft für die Hamburger Stahlwerke angeworben, wollte eigentlich fünf Jahre bleiben und arbeitete dann dort bis zur Rente (1.1). Über viele Jahre hätten die Eltern die Absicht gehabt, mit den Kindern in die Türkei zurückzukehren, und diese erst Ende der 80er Jahre, nach einem letzten Anlauf, verworfen (1.3). Den größten Teil ihres Lebens hätten die Eltern schließlich in Deutschland verbracht und ihr Vater sage manchmal, „wenn er das gewusst hätte, wäre er nie gekommen“ (1.5). Andere Statements in diesem Bereich zwischen ‚Angekommen-sein‘ und Zuschreibungen kommen aus dem Themenfeld Kulturelle Identität. Hier betont Alara, dass sie die Werte, mit denen sie aufgewachsen ist, nicht alle für sich übernommen hat, sondern vieles auch „ganz anders“ mache (13.2). Für ihre „kulturelle Identität“ sei beides wichtig, das Deutsche und das Türkische, beides sei da und sie könne „keines verleugnen, nichts geht getrennt vom anderen“ (13.3). Da es für sie als Eltern kein großes Thema sei, ob sie Deutsche oder Türken sind, thematisiere es auch ihr Sohn nicht, so Alara (15.5). In einer „rein deutschen Umgebung“ gebe es bei ihr selbst jedoch immer Sachen, die anderen auffallen würden, dabei handele es sich um „Kleinigkeiten und Feinheiten“ die

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Alara selbst „gar nicht so gut auf den Punkt bringen kann“, die aber andere als Unterschiede bemerken würden (13.5). Unterhalb des Grundgedankens 2 über das „Angekommen-sein“ im „Sowohl-als-auch“ und jenseits des Übergangsbereichs, in dem die oben genannten Statements angeordnet sind, befindet sich der Grundgedanke 3: „Von außen werden wir mit Etikettierungen, kulturellen Zuschreibungen und Vorurteilen konfrontiert. Die türkische Sprache dient dann als Identifikationsanker, um eine eigene Position zu beziehen und mit der eigenen Identität selbstständig umzugehen.“ (Grundgedanke 3)

Diesem Grundgedanken ordnete Alara die zahlreichen Statements zu, die bei der Auswertung des Interviews im Themenbereich Zuschreibungen, Etikettierungen und Umgang damit zusammengefasst worden waren und die zur Formulierung dieses Grundgedankens geführt hatten. So hätten die Leute, wenn sie nur ihren Namen auf dem Papier kennen, „ein ganz bestimmtes Bild“ von ihr (14.1). Früher habe sie es meistens nicht gemerkt, dass sie „die ‚Quotenayse‘“ war, als sie es gemerkt habe, habe es sie geärgert, und jetzt amüsiere sie sich manchmal darüber und „spiele mit den Klischees“ (14.2). Jedoch könne sie es manchmal „gar nicht glauben, […] wie wenig die Leute über die Türken wissen […], mit welchen Vorurteilen die herumlaufen“ und mit welchen Fragen sie konfrontiert werde (14.3). Obwohl es so viele Türken im Stadtteil gebe, würden sich die Deutschen nicht mit ihnen auseinandersetzten und wüssten sehr wenig über sie (13.9). Auch würde sie noch regelmäßig danach gefragt, woher sie komme und ob sie irgendwann wieder zurückgehen werde (14.4). Die Tatsache, dass sie „von nirgendwo anders“ komme, bedürfe immer langer Diskussionen und Erklärungen, die auch ermüdend seien: „Ich habe keine Lust mehr, den Leuten die Welt zu erklären“ (14.5). Ebenso werde sie „immer mal wieder mit der Argumentation konfrontiert, dass ‚die Türken‘ so und so seien“ und sie sei aber ganz anders: „Dann sage ich, nein, ich bin auch so, ich gehöre auch zu denen. Ich bin mit einem anderen Kulturhintergrund und anderen Werten aufgewachsen und ich habe einen emotionalen Bezug dazu“ (14.7). Sowohl die Zuschreibung einer deutschen als auch die einer türkischen Identität sind für Alara nicht wirklich zutreffend: „Einige blenden das Türkische in mir einfach aus, weil es dann einfacher ist, mich einzuordnen. Andere machen das Gegenteil, etikettieren mich als Türkin und schreiben mir bestimmte Dinge zu“ (14.9). Dabei hält sie außerdem fest, dass „Menschen aus Frankreich, Spanien oder England […] als Ausländer“ im Gegensatz zu den Türken „in eine ganz andere Güteklasse einsortiert“ werden (14.10). Für ihre Selbstpositionierung, mir der sie derartigen Zuschreibungen

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entgegentritt, nutzt Alara auch die türkische Sprache: „Wenn ich mit Zuschreibungen konfrontiert werde, habe ich das Bedürfnis, meine nationale Identifikation noch mal besonders herauszustellen. Um zu zeigen, dass ich einen direkten Bezug zu meiner türkischen Herkunft habe, brauche ich die türkische Sprache als Identifikationsmittel“ (14.6). Diese Funktion der Sprachen für die Selbstpositionierung angesichts von Vorurteilen und Zuschreibungen bezieht sich für Alara auch auf die Sprachen der Kinder. So hat sie dem Grundgedanken 3 über Zuschreibungen und Positionierung auch Statements zum Thema Ziele der Spracherziehung zugeordnet, was zeigt, dass es ihr dabei nicht nur um Mehrsprachigkeit, sondern um Identität geht: Die Sprache solle die Kinder schützen, „damit sie sich nicht selbst in der Integration verlieren und stattdessen ihre Bezüge selbst kennen und sich positionieren können“ (7.7). „Damit sie von Zuschreibungen nicht überrascht und von den Füßen gerissen werden“, soll die Sprache „den Kindern als Anker dienen“ (7.8). Im Rahmen dieser Schutz- und Ankerfunktion geht es Alara, wie sie auch an anderer Stelle betont, darum, dass die Kinder „einen emotionalen Bezug haben zum Land ihrer Großväter und dass sie wissen, woher die irgendwann mal kamen und wie ihr Weg hierhergeführt hat“ (7.5), sowie darum, dass „die Kinder immer einen Bezug dazu haben, wo sie ursprünglich herkommen“ (7.6). Auch aus dem Themenbereich Kooperation mit der Kita gibt es Erfahrungen, die mit Zuschreibungen zu tun haben, und als Statements dem Grundgedanken 3 zugeordnet wurden: So seien sie in der Kita die einzige türkisstämmige Familie gewesen und das habe dazu geführt, dass „viele Eltern […] damit gar nichts anfangen“ konnten: „Die wussten nicht, wie sie uns einsortieren sollten und keiner hat sich getraut, zu fragen“ (12.4). Alara beschäftigt sich auch mit der Frage, ob es Unterschiede in den Erziehungsvorstellungen aufgrund der Herkunft der Familie gebe. So könne sie „im Vergleich zwischen deutschen Müttern und rein türkischen Müttern“ schon Unterschiede sehen, und der Unterschied zwischen ihr und einer „rein türkischen Mutter aus dem rein türkischen Kulturkreis“ sei groß, während „der Unterschied zwischen mir und einer deutschen Mutter ist nicht mehr so groß“ sei, da gebe es „nur noch diese Pünktchen, die dann ‚anatolisch‘ durchkommen“ (13.8). Dem Bereich mit den Grundgedanken 2 und 3, in dem es um die Situation der Familie in Bezug auf Sprache, Migration, Identität, Kultur und Zugehörigkeit geht und den Alara mit „Kultur“ markiert hat, steht auf der anderen Seite des zentralen Grundgedankens 1 über die eigene ‚Sprachigkeit‘ ein Bereich gegenüber, den Alara mit dem Wort „Emotion“ markiert hat, und der die Grundgedanken 4 und 5 enthält. Rechts oben hat Alara hier den Grundgedanken 4 platziert, der ausdrückt, wofür Sprache in Bezug auf die Kinder und auf den Umgang mit ihnen ihrer Meinung nach wichtig ist:

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„Sprache ist zentral für die Vermittlung von Gefühlen und Werten an die Kinder und für den Austausch mit Ihnen.“ (Grundgedanke 4)

Hier wurden Statements zum Bildungshintergrund von Alaras Eltern zugeordnet, der die Bedingungen ihres eigenen sprachlichen Aufwachsens prägte. So habe ihre Mutter in der Türkei keine Schule besucht, weil ihre Oma der Meinung war, Mädchen brauchten das nicht. Erst mit 55 Jahren habe die Mutter in Deutschland einen Alphabetisierungskurs besucht und Lesen und Schreiben gelernt (2.1). Ihr Vater sei nur vier Jahre in die Grundschule gegangen, weil ihr Opa meinte, „das reicht, mehr Bildung führt nur zu Flausen im Kopf“ (2.2). Ihre Eltern hätten aber immer „ein starkes Verlangen nach mehr Bildung“ gehabt und ihren „Bildungsmangel“ bedauert, daher sei für sie die Schule das Wichtigste gewesen, das für Alara und ihre Geschwister „an erster Stelle kommen sollte“ (2.3). Schreiben und Lesen seien für ihren Vater „etwas Heiliges“ und es sei ihm sehr wichtig gewesen, dass seine Kinder „Bildung bekommen“ (2.4). Ein weiteres Statement zeigt, wie Alara selbst im Anschluss an die Haltung ihrer Eltern zum Thema Bildung steht. Sie betont, dass jemand, der die Möglichkeit hat, „einen weiteren Bildungsweg zu gehen“, seinen Geist „auch für andere Dinge erweitern“ sollte und nicht nur für das eigene Fach. Viele Menschen seien „zwar bildungsnah aber doch so fern, und beleuchten die Dinge nicht von allen Seiten, obwohl sie die Möglichkeit dazu hatten“ (3.1). Auch die Statements über Sprache im Allgemeinen hat Alara diesem Grundgedanken 4 zugeordnet. So ist Sprache für sie „der Ausdruck von allem. Der Knoten aller Dinge“ (4.1) und ermögliche „die Vermittlung der eigenen Gefühle“ (4.2). Die sei vor allem in der Kindererziehung wichtig: „Mit der Sprache können wir den Kindern die Welt erklären“ (4.3), „durch Sprache vermitteln wir den Kindern unsere Werte und können ihnen erklären, warum wir Dinge so machen, wie wir sie machen und warum wir es auch von Ihnen so wollen“ (4.4). „Durch die Sprache können wir auch von unseren Kindern erfahren, was sie denken und uns in einem Kompromiss treffen“ (4.5). Da „Sprache […] wie ein Handwerkszeug“ sei, könne es außerdem nie schaden, eine Sprache mehr zu beherrschen. Die Zweisprachigkeit könne den Kindern „den Geist öffnen für weitere Sprachen“ (6.1). Außerdem wird der Grundgedanke 4 von Statements gestützt, die den Umgang von Alaras Sohn mit Sprache beschreiben. Demnach interessiere sich Talas „von sich aus für andere Sprachen, wenn er durch Kinder oder Eltern oder durch Medien damit in Kontakt kommt. Er findet interessante Wörter in anderen Sprachen und fragt nach, was das heißt, versucht, sie sich zu merken, und anzuwenden. Auch für die deutsche Sprache interessiert er sich sehr und ist sehr redege-

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wandt“ (10.2). Auch bei anderen Sprachen als Türkisch oder Deutsch frage Talas nach, aus welchem Land die Sprache komme und ob Alara ihm diese Sprache auch beibringen könne (10.3). Auch die Verbindung von Sprache und Identität wird in diesem Zusammenhang wieder angesprochen. Zwar habe Talas nur ein „minimales Bewusstsein“ darüber, „dass in seiner Familie etwas anders ist als bei anderen“, dieses ‚Anderssein‘ mache er aber am ehesten daran fest, „dass in seiner Familie noch eine weitere Sprache gesprochen wird“ (15.1). Allerdings verbinde Talas Türkisch nicht mit einer Art ‚türkischer Community‘ da die Familie eine solche nicht habe. Wenn er merke, dass auch andere Türkisch sprechen, sehe er sie deshalb „nicht als ‚welche von uns‘“ (15.4). Die Rolle der Kita bei der mehrsprachigen Erziehung wird von Alara nicht in einem eigenen Grundgedanken beschrieben. Ihre Vorstellungen über eine gute Spracherziehung in der Kita drückt sie jedoch in einem Statement aus, dass sie dem Grundgedanken 4 über die Rolle der Sprache in Bezug auf die Kinder zuordnet. Demnach wäre es ein gutes Angebot seitens der Kita, wenn dort jemand „durchgängig Türkisch mit den Kindern“ spreche (12.2). In diesem Rahmen wäre es für Alara auch „nicht so wichtig, wenn die deutschsprachigen Erzieherinnen nicht so gutes Deutsch sprechen, denn gutes Deutsch lernen die Kinder auch zu Hause“ (ebd.). Der Grundgedanke 4 ist eng mit dem Grundgedanken 5 verbunden, der unten im rechten Bereich des Theoriebildes platziert ist und der das zentrale Spracherziehungsziel Alaras ausdrückt: „Die Kinder sollen Türkisch als Sprache der Emotionen und der Familie lernen, ohne es als Ballast zu empfinden.“ (Grundgedanke 5)

Die enge Verbindung zwischen den Grundgedanken 4 und 5 wird dadurch deutlich, dass sehr viele Statements im Übergangsbereich zwischen den beiden Grundgedanken angeordnet sind, die erklären, wie und warum die Kinder Türkisch lernen sollen. Besonders betont wird die Verbindung von Familiensprache und emotionaler Bindung in folgenden Statements: „Die Sprache ist der emotionale Klebstoff, der uns an etwas bindet und einen stärkeren Bezug zum Land schafft. Wenn man die Sprache in der Familie gelernt hat, ist der Zugang emotionaler als wenn man sie in der Schule lernt“ (14.8); „Ich möchte, dass die Kinder sich auf Türkisch mit unseren Verwandten unterhalten können, die in Europa verteilt sind und andere Sprachen sprechen, sodass unsere gemeinsame Sprache Türkisch ist“ (7.3); „Mir ist es wichtig, dass die Kinder die türkische Sprache lernen und auch mit ihren Großeltern Türkisch sprechen, weil es für mich eine Emotionssprache ist“ (7.1); „Wir möchten es in einer schönen Form hinkriegen,

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dass die Kinder die türkische Sprache gut für sich annehmen, sie nicht als Ballast empfinden und damit umgehen mögen“ (7.4). Weiterhin wurden in den Übergangsbereich zwischen der Rolle der Sprache in Bezug auf die Kinder und dem Spracherziehungsziel Statements angeordnet, die die Spracherziehungsstrategien der Familie beschreiben: „Um Talas das Türkische wieder näher zu bringen, bin ich mit den Kindern für sechs Wochen in die Türkei gefahren und habe ihm angekündigt, dass er Türkisch üben muss, damit er sich dort verständigen kann“ (8.1); „Wir hören Musik auf Türkisch und die Kinder sehen Filme auf Türkisch. Manchmal behaupten wir, wir hätten den Film nicht auf Deutsch, nur auf Türkisch“ (8.6); „Damit die Kinder untereinander Türkisch sprechen, haben wir Talas erzählt, dass Ebru nur Türkisch versteht“ (8.2); „Talas spricht Ebru auf Türkisch an, weil er denkt, dass sie das besser versteht. Er hat noch nicht gemerkt, dass Ebru selbst auch Deutsch spricht“ (10.10); „Ich versuche regelmäßig, den ganzen Nachmittag nur Türkisch zu sprechen, und kündige das Talas auch so an“ (8.3); „Ich besorge mir türkische Kinderbücher in der Türkei. Wenn es Talas zu anstrengend ist, auf Türkisch Geschichten zu hören, übersetze ich ihm Dinge oder wir sprechen darüber“ (8.4); „Ich achte auch darauf, bei Talas Momente zu nutzen, wenn er in Lernstimmung ist, und ihn zu lassen, wenn der Schwamm gerade voll ist“ (8.5); „Ich bitte meine Geschwister und Freunde, mit den Kindern Türkisch zu sprechen, wenn sie zu Besuch kommen“ (9.5); „Wir hoffen, dass sich auch unsere Kinder mit den Kindern befreundeter Familien auf Türkisch unterhalten, was sie bisher aber noch nicht tun“ (9.6). Im Übergangsbereich zwischen dem Grundgedanken 5 zum Spracherziehungsziel, dem Grundgedanken 4 zur Rolle der Sprache in Bezug auf die Kinder und dem Grundgedanken 1 zur eigenen Sprachigkeit befinden sich außerdem Statements, die den Umgang von Alaras Sohn mit Sprache und ihre Sprachlernstrategien beschreiben. Der habe in den ersten Jahren nur Türkisch gesprochen und kein Deutsch gekonnt, als er in die Kita kam. Nach kurzer Zeit in der Kita habe er Deutsch gelernt und dann nur noch Deutsch gesprochen und das Türkische teilweise auch verweigert. Obwohl Alara und ihr Mann versucht hätten, mit Talas zu Hause viel Türkisch zu sprechen, sei Deutsch „zu seiner ersten Sprache geworden, die er heute viel besser spricht als Türkisch“, so antworte er meistens auf Deutsch, auch wenn die Eltern Türkisch sprechen (10.1). Anlässlich eines längeren Ferienaufenthaltes in der Türkei habe sich Talas dann bemüht, wieder mehr Türkisch zu sprechen, damit er sich dort verständigen könne. Durch den langen Urlaub in der Türkei sei er dann so „im Sprachfluss“ gewesen, „dass er auch alle Serien etc. auf Türkisch gesehen und verstanden“ habe (10.4). Anhand dieses Türkeiaufenthaltes mit knapp vier Jahren sei „Türkisch lernen, sprechen

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und üben“ für Talas „ein eigenes Arbeitsfeld“ geworden, „das er beackert“ (10.7). Für ihn sei es „ein Riesenthema, dass er wieder in die Türkei fahren möchte, um sein Türkisch zu verbessern“, er wisse, dass es ihm dort viel leichter falle (ebd.). Die türkische Sprache sei für Talas einerseits mit der Familie verbunden und andererseits mit „Strand und Meer […] und Sesamkringel und Mais“, sie bedeute für ihn „pures Vergnügen“ (15.3). So sei er heute auch „einverstanden, wenn wir einen Nachmittag versuchen, nur Türkisch zu sprechen, da er selbst auch üben möchte, damit er die Sprache nicht vergisst“ (10.5). Auch würde er mittlerweile im Alltag immer versuchen, „etwas auf Türkisch beizutragen, wenn jemand Türkisch spricht, und ist stolz auf seine Kenntnisse. Er freut sich, wenn jemand denkt, dass er ‚richtig gut‘ Türkisch kann“ (10.6). 8.1.4 Yves Auswahl des Untersuchungspartners und Interviewsituation Yves wurde als Untersuchungspartner über den Kontakt zu einer Kita gewonnen, in der ich das Dissertationsprojekt mit dem Ziel vorstellte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Eltern als Untersuchungspartnerinnen zu finden. Beim Erstkontakt mit Yves wurde deutlich, dass er das mehrsprachige Aufwachsen seiner Tochter selbst in einen Zusammenhang stellte mit seiner eigenen Migrationsgeschichte und seiner Situation in der Migrationsgesellschaft. Eine Rekonstruktion seiner subjektiven Theorie versprach daher weitere Erkenntnisse über die Art und Weise, wie Eltern die Spracherziehung mit der Positionierung der Familie in der Migrationsgesellschaft in Verbindung bringen. Gleichzeitig weist die Sprachenkonstellation in der Familie von Yves Unterschiede zu der der drei vorigen Untersuchungspartnerinnen auf, sodass dieser Fall auch neue Erkenntnisse im Hinblick auf die Vielfalt der sprachlichen Situation in mehrsprachigen Familien ermöglichte. Das Interview wurde in einem Café und die kommunikative Validierung in meinem Büro durchgeführt. Die beiden Termine lagen in einem Abstand von zwei Wochen und dauerten jeweils ca. zwei Stunden. Daten zur Familie und Einordnung der familiären Sprachpraxis Yves hat mit seiner Frau Maria eine Tochter namens Beatriz, die zum Zeitpunkt des Interviews zwei Jahre und zehn Monate alt war. Sie besucht die Kita seit sie ein Jahr alt ist. Yves ist französischer Staatsbürger wie seine Eltern, aber in Deutschland aufgewachsen. Yves‘ Eltern kommen aus Marokko (Vater) und Frankreich (Mutter), haben sich in den siebziger Jahren in Hamburg kennengelernt und leben seitdem hier. Zu Hause mit seinen Eltern hat Yves nur Französisch gesprochen, in der Kita hat er ab seinem dritten Lebensjahr Deutsch ge-

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lernt. Yves’ Frau Maria ist in Deutschland aufgewachsen, aber ihre Mutter ist Bolivianerin, weshalb sie zweisprachig Deutsch/Spanisch erzogen wurde. Mit ihrer Tochter spricht Maria Deutsch und Yves Französisch, untereinander sprechen die Eltern Deutsch. Auch die Eltern und die Schwester von Yves sprechen mit Beatriz Französisch, gehen allerdings häufig ins Deutsche über und müssen laut Yves gelegentlich an das Französischsprechen erinnert werden. Durch die Familie von Maria hat Beatriz außerdem Kontakt zum Spanischen, was sich allerdings eher auf einzelne Begriffe und Redewendungen beschränkt. Anhand der Typologie der Erwerbssituation von Reich (2010) lässt sich die Sprachpraxis der Familie als Typ I bezeichnen: Zwei Sprachen werden gleichmäßig gebraucht nach der Regel „one person-one language“. Argumentation in Grundgedanken und zugeordneten Statements Anhand der im Gespräch behandelten Themen und der dazu geäußerten Statements ließen sich sechs Grundgedanken formulieren, die die Eckpfeiler der Subjektiven Theorie Yves‘ darstellen und von ihm in der kommunikativen Validierung bestätigt wurden. Er ordnete sie am oberen und unteren Rand des Theoriebildes an, sodass jeweils drei Grundgedanken in einer Reihe platziert sind. In Yves‘ Theoriebild steht somit keiner der Grundgedanken im Zentrum. Seine Anordnung stellt eher einen Verlauf dar, bei dem jeweils der nächste Grundgedanke auf dem vorherigen aufbaut. Im Zentrum stehen drei Statements, mit denen er seine Identität definiert: „Ich bin Franzose“ (2.1); „Ich bin Franko-Marokkaner“ (2.2) und „Ich bin multikulturell“ (2.6). Bewusst hat Yves die drei Statements in dieser Reihenfolge angeordnet um zu zeigen, dass seine Identität nicht einfach und nicht unter Bezugnahme auf eine einzige Nationalität zu fassen ist. In der oberen linken Ecke hat Yves den Grundgedanken 1 über den Umgang mit der Kategorie ‚Migrationshintergrund‘ in Deutschland platziert, der auf seinen Erfahrungen fußt. Vom Grundgedanken 1 führt ein Pfeil zum Grundgedanken 2 in der unteren linken Ecke, in dem Yves die Wichtigkeit kritischer Reflexion betont. Unten in der Mitte, rechts neben dem Grundgedanken 2 zur kritischen Reflexion, liegt der Grundgedanke 3 über Yves‘ eigene (kulturelle) Identität. Vom Grundgedanken 3 über die eigene Identität führt ein Pfeil zu den drei Statements im Zentrum. Von ihnen wiederum führt ein Pfeil zum Grundgedanken 4 oben in der Mitte des Theoriebildes, der Yves‘ Verständnis von Sprache und Mehrsprachigkeit ausdrückt. Von hier führt ein Pfeil zum Grundgedanken 5 in der unteren rechten Ecke, der die mehrsprachige Erziehung in Yves‘ Familie beschreibt. Der Grundgedanke 5 über mehrsprachige Erziehung schließlich ist durch einen Pfeil mit dem Grundgedanken 6 in der oberen rechten Ecke verbunden, der seine Erwartungen an die Kita beinhaltet.

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Abb. 4: Theoriebild Yves

Den Ausgangspunkt von Yves‘ subjektiver Theorie stellt der Grundgedanke 1 in der oberen linken Ecke dar, in dem es darum geht, welche Bedeutung dem ‚Migrationshintergrund‘ Yves‘ Ansicht nach zugeschrieben wird: „In Deutschland wird der Migrationshintergrund so überbetont, dass es eigentlich immer ein Migrationsvordergrund ist.“ (Grundgedanke 1)

Diesem Grundgedanken ordnet er die Statements zur Migrationsgeschichte seiner Familie zu, aus denen hervorgeht, dass seine Eltern ursprünglich aus Marokko (Vater) und Frankreich (Mutter) kommen und sich in den 1970er Jahren in Hamburg kennengelernt haben und seitdem hier leben. Der Vater war vor dem Militärdienst in Marokko geflohen und mit einem Zirkus durch Europa gereist, bevor er nach Hamburg kam. Die Mutter hatte einige Jahre als Sekretärin in England gelebt und war nun als Au-pair in Hamburg, um danach nach Frankreich zurück zu gehen. Die Eltern blieben dann aber in Deutschland, weil die katholische Familie der Mutter in Frankreich Vorbehalte gegen den Vater hatte und die muslimische Familie des Vaters in Marokko Vorbehalte gegen die Mutter. Die Eltern haben beide die französische Staatsangehörigkeit, der Vater ist jedoch nicht in Frankreich aufgewachsen und hat laut Yves die französische Kultur

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nicht aufgenommen. Der Vater fühle sich im Grunde als Kosmopolit und danach gefragt, was er sei, frage er regelmäßig zurück wozu die Frage nach der Nationalität wichtig sein solle. Indem Yves die Statements über die Migrationsgeschichte seiner Eltern dem Grundgedanken 1 zur Überbetonung des ‚Migrationshintergrundes‘ zuordnet und nicht etwa dem Grundgedanken 3 über seine Identität, macht er deutlich, dass die Frage nach der Herkunft der Eltern nicht in erster Linie seine Frage ist, sondern zu den Fragen gehört, die von außen gestellt werden, um für ihn eine Schublade zu finden. Da ich selbst diese Statements in der probeweisen Anordnung vor der kommunikativen Validierung dem Grundgedanken 1 über Yves Identität zugeordnet hatte, wurde dieser Unterschied im Gespräch deutlich. Dabei wies Yves darauf hin, dass die Herkunft seiner Eltern vielleicht für die Einordnung seiner Person von außen relevant ist, nicht aber für ihn selbst und seine eigene Positionierung. Auch dem Grundgedanken 1 zugeordnet sind zwei Statements aus dem Themenbereich Meine (kulturelle) Identität, in denen er einerseits eine doppelte Staatsbürgerschaft als für ihn nicht passend bezeichnet (2.9), und andererseits seinen ‚Migrationshintergrund‘ bzw. -vordergrund als etwas Positives beschreibt: „Das Glück dieser Identität ist, dass ich Rosinen picken kann. Ich baue mir meine eigene Identität aus verschiedenen Einflüssen und kann die dann auch absolut vertreten, muss mich nicht verstellen“ (2.11). Damit zeigt Yves, wie er mit der Überbetonung des ‚Migrationshintergrundes‘ umgeht, indem er einerseits das Angebot der Schublade „doppelter Staatsbürger“ ablehnt, und andererseits für sich die Vorteile des von ihm so erlebten ‚Migrationsvordergrundes‘, das Rosinen-picken, wahrnimmt. Aus dem Themenbereich Reaktionen auf den Umgang mit meiner Identität sind fast alle Statements dem Grundgedanken 1 zugeordnet. Hier geht es darum, dass Yves häufig als Deutscher bezeichnet wird, was, wie er es wahrnimmt, zwar meistens freundlich gemeint ist („du bist einer von uns“), für ihn jedoch eine nicht-Anerkennung seiner Identität (als multikultureller Franko-Marokkaner) bedeute (3.4). Diese Aberkennung seiner Identität sei im Grunde rassistisch (3.3). Wenn er das Deutschsein dann dankend ablehne, würden das viele nicht verstehen und spätestens, wenn das Gegenüber Yves’ Ablehnung nicht akzeptieren wolle, befinde man sich auf dem Gebiet des Rassismus (3.4). Die Begriffe ‚Migrationshintergrund‘ und -vordergrund stellen die zentralen Elemente dieses Grundgedankens dar und Yves erklärt in einigen Statements seinen Umgang mit ihnen: Er habe seiner Ansicht nach keinen ‚Migrationshintergrund‘, da er Franzose sei, und in Frankreich spiele der Umstand, dass sein Vater aus Marokko kommt, keine Rolle (3.5). In Frankreich würde die Frage nach dem Hintergrund

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nicht gestellt. Er selbst habe also keinen Hintergrund, es könne höchstens sein, dass der Betrachter einen Hintergrund wahrnimmt. Die beim Betrachter vorhandene Konzentration auf die Herkunftsfrage und auf das Anders-Sein führe gleichzeitig dazu, dass das, was an ihm ‚anders‘ sei, nicht im Hintergrund stehe, sondern im Vordergrund: „Wenn sich jemand mit der Schublade ‚Franzose‘ nicht zufriedengibt und meint, ich hätte doch einen ‚Migrationshintergrund‘, dann sage ich, dass ich einen Migrationsvordergrund habe. Man sieht ganz klar, ich bin anders“ (3.6). Dieser Migrationsvordergrund führt laut Yves dazu, dass er, selbst wenn er das Angebot annehmen würde, Deutscher zu sein, nicht wirklich dazu gehören würde: „Für viele spielt es keine Rolle, dass ich viel besser Deutsch spreche als sie, viel mehr deutsche Literatur kenne als sie und mit der deutschen Kultur vertraut bin, trotzdem würden sie es mir absprechen, einfach Deutscher zu sein wie sie, weil meine Eltern es nicht sind“ (3.11). Yves stellt fest, dass viele auf seinen Umgang mit den Begriffen ‚Migrationshinter- und Migrationsvordergrund‘ mit Unsicherheit reagieren. Manche hätten Angst, dass sie etwas Rassistisches gesagt hätten (3.7). Für ihn sei das aber immer auch ein Spiel mit den Schubladen in den Köpfen der anderen (3.8). Der Grundgedanke 1 über den ‚Migrationshintergrund und -vordergrund‘ wird nicht nur durch Statements über Yves‘ Erfahrungen mit Zuschreibungen und Schubladen gestützt, sondern auch durch solche, die allgemeinere Gedanken über die Migrationsgesellschaft und seine Hoffnungen und Wünsche dazu betreffen. In Deutschland, so Yves, werde es bestimmt noch 30 bis 40 Jahre dauern, bis es selbstverständlich sei, dass Menschen, die selbst oder deren Eltern nicht hier geboren sind, multikulturell und trotzdem Deutsche sind (11.1). Gleichzeitig gebe es Gruppen, die, um innerhalb der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ in Deutschland eine eigene kulturelle Identität zu bewahren, Bräuche viel intensiver betreiben und andere als nicht zugehörig ausgrenzen. Das sei verständlich, weil es sehr schwierig sei, sich hier eine andere Kultur als Hafen zu bewahren (11.3). Er selbst hoffe allerdings, „dass irgendwann alle einfach nur Europäer sind. Oder noch besser, Weltbürger“ (11.2) und dass „immer mehr Menschen aus verschiedenen Herkünften kommen und sich alles mehr vermischt“ (12.1). Im Zusammenhang mit dem ‚Migrationshintergrund oder -vordergrund‘ betont Yves außerdem, dass es ganz normal sei, Ausländer zu sein, und dass das jeder in fast allen Ländern der Welt sei (12.2). Schließlich ordnet Yves dem Grundgedanken 1 noch ein Statement aus dem Themenbereich Meine Sprache zu: „Ich habe die ersten Jahre zu Hause nur Französisch gesprochen, meine Eltern konnten noch nicht gut Deutsch. Deutsch habe ich dann erst im Kindergarten gelernt“ (5.1). Vom Grundgedanken 1 in der oberen linken Ecke führt ein Pfeil zum Grundgedanken 2, den Yves in der unte-

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ren linken Ecke platziert hat. Damit macht er deutlich, dass die Erfahrungen, die er mit Etikettierungen und Schubladen in Bezug auf seinen ‚Migrationshintergrund oder -vordergrund‘ gemacht hat, maßgeblich zu seiner Überzeugung über pauschale Urteile beitragen, die im Grundgedanken 2 zum Ausdruck kommt: „Pauschale Urteile über andere aufgrund eines festen Werte- und Normensystems lehne ich ab. Zentral sind stattdessen die Reflexion und das Hinterfragen der Gründe.“ (Grundgedanke 2)

Die Verbindung der Grundgedanken 1 und 2, von eigenen Erfahrungen mit Etikettierungen und Schubladen und der Betonung kritischer Reflexion, wird auch dadurch deutlich, dass Yves dem Grundgedanken 2 zwei Statements aus dem Themenfeld Reaktionen auf dem Umgang mit meiner Identität zuordnet: „Ich sehe aus wie ein Franzose, weil ich einer bin. Jeder sieht wie das aus, was er ist, und man darf es ihm nicht absprechen, weil er vermeintlich anders aussieht, weil jemand ein anderes Bild davon hat“ (3.9); „Es den Menschen immer wieder klar zu machen, dass man ist, was man ist, das ist sehr anstrengend. Es ist aber wichtig, nicht frustriert zu sein und den Leuten trotzdem mit offenen Armen und lächelnd gegenüber zu treten und sie mitzunehmen anstatt zuzumachen und sie scheiße zu finden“ (3.10). Diese beiden Statements aus seinen Erfahrungen bewegen Yves dazu, pauschale Urteile abzulehnen. Auch Statements zu seiner eigenen Identität stützen den Grundgedanken 2. Hierzu gehört die Aussage, dass er sich in Frankreich zwar als Franzose, aber nicht wirklich als „einer von denen“ fühle (2.8). In seiner Identität mache die marokkanische Kultur 10%, die französische 70% und die deutsche 20% aus (2.5). Seine Wurzeln bezögen sich eben nicht auf ein bestimmtes Land, sondern vor allem auf seine Familie (2.10). Auch hier wird deutlich, wie Yves’ Selbstpositionierung zu der Überzeugung führt, dass man Menschen nicht pauschal einteilen und beurteilen sollte. Weiterhin hat Yves zwei Statements zu der Rolle, die Sprache für seine Identität spielt, dem Grundgedanken 2 zugeordnet. Sie zeigen, wie Yves die Sprache beim Umgang mit pauschalen Urteilen und Schubladendenken nutzt: Die Sprache helfe ihm hier, seine Identität als Franzose bei anderen nachzuweisen. Wenn jemand nicht glauben wolle, dass er kein Deutscher, sondern Franzose ist, werde meistens als nächstes gefragt, ob er auch Französisch spreche. Dass er dies dann bejahen könne, schaffe „eine Abkürzung für die Menschen“ (4.1), damit sie sich seiner Identität öffnen könnten: „Die Sprache ist wie ein Ticket, mit dem ich belegen kann, dass ich ‚wirklich‘ Franzose bin“ (4.2). Als Gegengewicht erscheint hier ein Statement über positive Erfahrungen: die Reaktionen auf die mehrsprachige Erziehung seiner Tochter seien durchweg

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positiv (17.2). Wenn er mit ihr Französisch spreche, bekomme er von anderen Erwachsenen eigentlich immer Zuspruch. Auch ein Statement aus dem Themenbereich Die Rolle der Sprache für die Identität, für die Kultur und für die Erziehung stützt diesen Grundgedanken: „Die Sprache ist das erste, womit Unterschiede und Gemeinsamkeiten deutlich (gemacht) werden. Wer so spricht wie ich, ist mir erstmal sympathischer. Wenn jemand gleich spricht, kann ich eher erwarten, dass er mich akzeptiert“ (9.5). Dies macht deutlich, wie wichtig für Yves die Sprache im Zusammenhang mit Urteilen und kritischer Reflexion ist. Weiterhin stützen einige Statements aus dem Themenfeld (Kulturelle) Identität von Beatriz den Grundgedanken 2, was zeigt, dass die Ablehnung pauschaler Urteile und die Wichtigkeit kritischer Reflexion auch einen Grundpfeiler seiner Erziehung darstellen. Wenn seine Tochter den Wunsch habe, „die Frage nach einer Schublade zu erfüllen“ und diesbezüglichen Erwartungen von außen zu entsprechen, würde er sie zuerst fragen, wie sie sich selbst fühlt und warum (7.8). Sie müsse selbst entscheiden, was die verschiedenen Einflüsse ihr bedeuten (7.4). Mit dem Französischen würde er ihr etwas anbieten, womit sie sich gegen pauschale Urteile wehren und ihre französische Identität ggf. mittels der Sprache verteidigen könne (7.6). Auch ein Statement zum Thema Ziele der Spracherziehung hat Yves diesem Grundgedanken über kritische Reflexion zugeordnet: „Ich möchte meiner Tochter vermitteln, dass sie ein ganz normales Kind ist und nicht überdurchschnittlich sein muss“ (13.7). Zentral für den Grundgedanken 2 sind schließlich die Statements aus dem Bereich Meine Weltsicht: Migrationsgesellschaft, Werte und Normen, Reflexion und Erziehungsziele. Hier führt Yves aus, dass aus seiner Sicht das Handeln anderer nicht zu beurteilen ist ohne sich zu fragen, warum jemand etwas tut. Wichtig sei es, sich am gesunden Menschenverstand zu orientieren statt an einem pauschalen Werte- und Normensystem (12.3.). Ganz schlimm sei es, wenn man richte und werte und sich „dadurch gegenüber anderen besser fühlt“ (12.4). Seiner Tochter möchte er daher vermitteln, „dass anders nicht gleich schlechter ist, sondern dass es die verschiedensten Möglichkeiten gibt und man alles hinterfragen muss“ (12.5). Der Wunsch, nicht pauschal beurteilt zu werden, bezieht sich auch auf die Zusammenarbeit mit der Kita. Ein Statement, das den Wusch ausdrückt, „dass sie meine Sichtweise ernst nehmen und in ihre Überlegungen stärker einbeziehen“ (16.9), ordnet Yves daher auch dem Grundgedanken 2 zu. Unten rechts neben dem Grundgedanken 2 zur kritischen Reflexion ist Yves’ Grundgedanke 3 über die eigene Identität platziert:

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„Ich bin Franzose. Aber ich habe keinen Ort, wo ich als Gleicher unter Gleichen zu Hause bin. Dennoch möchte ich als Franzose in meiner ganz persönlichen Mischung anerkannt werden.“ (Grundgedanke 3)

Ein Doppelpfeil, der mit „Reflexionsmomente“ beschriftet ist, verbindet die Grundgedanken 3 und 2. Dies soll zeigen, dass Yves’ Selbstpositionierung durch die Urteile von außen beeinflusst wurde und dass seine Erfahrungen dabei und die Reaktionen auf seine Selbstpositionierung wiederum seine Ansicht über pauschale Urteile prägen. Dem Grundgedanken 3 hat Yves zunächst Statements aus dem Bereich Meine kulturelle Identität zugeordnet, aus denen heraus dieser Grundgedanke hauptsächlich entstanden ist. Hier hält er fest, dass er einen französischen Pass hat (2.3) und dass er sich, obwohl er nicht in Frankreich aufgewachsen ist, „in Bezug auf Identität und Kultur als Franzose“ (2.4) fühlt. Das hänge zum großen Teil damit zusammen, dass er zu Hause nur Französisch gesprochen habe (ebd.). Er habe jedoch keinen Ort, wo er zu Hause ist: „Ich muss jeden Tag aufs Neue akzeptieren, dass ich nirgendwo Gleicher unter Gleichen bin und kein ganzes Land habe, wo ich nicht auffalle“ (2.7). Eine Art Fazit aus den verschiedenen Statements zu seiner Identität hat Yves über diesen Grundgedanken ins Zentrum der gesamten subjektiven Theorie gestellt. Wie bereits eingangs erwähnt heißt es hier: „Ich bin Franzose“ (2.1), „Ich bin FrankoMarokkaner“ (2.2) und „Ich bin multikulturell“ (2.6). Dies soll zeigen, dass er nicht in eine Schublade passt und seine Identität selbst je nach dem mit verschiedenen Etiketten bezeichnet. Diese drei Statements im Zentrum sind mit dem Grundgedanken 3 über seine Identität durch einen Pfeil verbunden. In seine Selbstpositionierung bezieht Yves auch seine Erfahrungen mit Reaktionen von außen ein. Dementsprechend ordnet er dem Grundgedanken 3 ein Statement zur Akzeptanz zu: „Dass ich Franzose bin, ist wichtig für meine Identität, daher möchte ich als Franzose akzeptiert werden“ (3.1). Ebenso ordnet er hier nochmal das Statement über sein Aussehen zu: „Ich sehe aus wie ein Franzose, weil ich einer bin. Jeder sieht wie das aus, was er ist, und man darf es ihm nicht absprechen, weil er vermeintlich anders aussieht, weil jemand ein anderes Bild davon hat“ (3.9). Dem Grundgedanken 3 über die eigene Identität ohne eindeutige Zugehörigkeit und dem Wunsch nach Anerkennung hat Yves auch viele Statements über Annahmen, Ziele und Wünsche zur Identität seiner Tochter zugeordnet. So nimmt er an, dass seine Tochter „nicht dieselben Identitätsprobleme haben wird“ wie er (7.1). Der Umstand, dass sie eine deutsche Mutter hat, könne ihr Sicherheit für ihre Identität geben. Von dort aus könne sie weitere „Identitätsanteile“ annehmen, die z.B. er ihr anbiete (7.2). So werde Beatriz’ Identität nicht zu 50%

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französisch sein, da „für das Deutsche und das Bolivianische ja auch noch Platz gemacht werden muss“ (7.3). Wenn seine Tochter gehänselt werden sollte, weil sie deutsch-bolivianisch-franko-marokkanisch ist, wünscht sich Yves, „dass sie ihre Identität als Weltbürgerin selbst gefunden hat und das nicht als Nachteil erlebt“ (7.5). Besonders aussagekräftig für Yves’ Selbstpositionierung und die Selbstpositionierung, die er sich für seine Tochter wünscht, ist das folgende Statement, das er auch diesem Grundgedanken zuordnet: „Wenn meine Tochter mich fragt, woher sie kommt, dann sage ich ihr: du kommst von zu Hause, von Mama und Papa“ (7.7). Yves hält fest, dass jeder individuell sein möchte, aber trotzdem zu einer Gemeinschaft dazu gehören will. Man habe ein Bedürfnis nach „einer Schublade, in die man gehört und in der man Gleicher unter Gleichen und in der Mehrheit ist“ (12.6). Seine Tochter möchte er dazu erziehen, dies zu reflektieren, damit sie darauf aufmerksam wird, dass es „mehr gibt als in ihrer eigenen Schublade“ (ebd.). Gleichzeitig ist er davon überzeugt, dass er kein Anrecht darauf hat, die Identität seiner Tochter zu formen. Sie müsse selber entscheiden, was ihr helfe, durchs Leben zu kommen (12.7). In Bezug auf ihre Identität wünscht er sich, dass sie – wie er – früh die Möglichkeit habe, „Rosinen zu picken“ und aus einer Vielfalt selber auszuwählen (13.3). Das Französische solle Teil dieser Vielfalt sein und gleichzeitig „das Angebot eines Ankers, eines Zuhauses für die Identität […], wie ein Hafen […], in den Beatriz immer zurück kann“ (13.2). Schließlich ordnet Yves dem Grundgedanken 3 über seine Identität auch noch Statements zu den Reaktionen auf die mehrsprachige Erziehung seiner Tochter zu, die einerseits zeigen, wie er sich positioniert: „Dass ich nicht ins Deutsche wechsele, wenn Erwachsene dabei sind, die kein Französisch können, liegt auch an meinem Ego und meinem Standing. Mir ist es egal, was andere denken. Ich bin es gewohnt, anzuecken“ (17.3), und andererseits, wie er positioniert wird: „Franzosen werden hier als Ausländer erster Klasse betrachtet. Daher bekomme ich nur positive Reaktionen darauf, dass ich mit Beatriz Französisch spreche. Entweder sie hören es gerne oder sie würden es auch so gut sprechen oder sie machen einfach mit“ (17.1). Oberhalb der Statements „Ich bin Franzose“ (2.1), „Ich bin Franko-Marokkaner“ (2.2) und „Ich bin multikulturell“ (2.6) im Zentrum des Theoriebildes hat Yves oben in der Mitte den Grundgedanken 4 über Sprache und Mehrsprachigkeit platziert: „Sprache ist ein zentrales Medium, mit dem Kultur und Identität transportiert werden. Mehrsprachigkeit fördert die Offenheit für Diversität und die Wertschätzung von Andersheit.“ (Grundgedanke 4)

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Mit diesem Grundgedanken und den zugeordneten Statements wird deutlich gemacht, wie Sprache Yves‘ Selbstpositionierung stützt und inwiefern Mehrsprachigkeit ein Mittel für die Umsetzung seiner Grundhaltung ist. Grundsätzlich hält er hier fest, dass Sprache das erste sei, womit „Identität transportiert“ werde (9.1) und als „Türöffner zur Identität“ (9.2) fungiere. Auch sei Sprache „das zentrale und unersetzliche Medium zum Transportieren einer Kultur“ (9.3) und für ihn auch „der Schlüssel zur deutschen Kultur“ (9.4), da ihm die Sprache, z.B. über deutsche Literatur, einen Zugang zur Gesellschaft eröffne. Unter den Grundgedanken 4 ordnet Yves auch mehrere Statements aus den Bereichen Meine Sprache und Meine Mehrsprachigkeit. Durch seine Mehrsprachigkeit denke er mehr über Kommunikation nach und habe ein größeres Interesse an Sprache: „Ich spiele gerne mit Sprache, vergleiche Sprachen und ihre Möglichkeiten“ (6.2). Das Deutsche biete die Möglichkeit, eigene Wörter zu konstruieren. Das sei ein „kulturelles Geschenk“, das er ohne die Mehrsprachigkeit nicht wahrgenommen hätte (6.3). Durch die Mehrsprachigkeit habe er auch metasprachliche Fähigkeiten, könne nicht nur vom Französischen, sondern auch vom Englischen simultan ins Deutsche übersetzen (6.1). Sein Deutsch sei eigentlich besser als sein Französisch, da er auf Deutsch Theater spiele, viel deutsche Literatur lese und ja auch hier arbeite (5.4). Im Deutschen könne er „noch viel mehr schimpfen und lieb sein als im Französischen“ (5.6). Sein aktiver Wortschatz sei im Deutschen viel größer. Wenn er aber Französisch höre, z.B. auf Französisch fernsehe, sei das für seine Ohren „wie Seide […], eine Tiefenentspannung, die […] [ihn] glücklich macht“ (5.9). In Bezug auf die Sprache und Mehrsprachigkeit seiner Tochter hält er in diesem Zusammenhang fest: „Die Sprache ist das Medium Nummer eins um meiner Tochter ein selbstständiges Auswählen für ihre Identität zu ermöglichen“ (9.6). Da das Medium der Sprache Reflexionsmomente schaffe, erhöhe Mehrsprachigkeit die Wahrscheinlichkeit für Offenheit und Reflexion (9.8). Er hofft, dass auch seine Tochter Vergleiche ziehen werde zwischen den Sprachen und Unterschiede und Gemeinsamkeiten reflektiert (13.5). Außerdem wünscht er sich, dass er später auch über die deutsche Sprache mit ihr sprechen wird, da er die deutsche Sprache und Literatur sehr mag (13.8). Schließlich betont Yves auch im Zusammenhang mit dem Grundgedanken 4 über Sprache und Mehrsprachigkeit, wie wichtig ihm das Moment der Offenheit für Vielfalt ist. Als Franzose könne man „angesichts der aktuellen politischen Lage eigentlich nicht stolz sein auf sein Land“, er wolle also keinen Nationalstolz vermitteln, sondern eine Sensibilität für Vielfalt (12.8). Vom Grundgedanken 4 über Sprache und Mehrsprachigkeit führt ein Pfeil mit der Beschriftung „will schenken“ zum Grundgedanken 5 über die Ziele der mehrsprachigen Erziehung, der in der unteren rechten Ecke platziert ist:

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„Unsere mehrsprachige Erziehung zielt vor allem auf eine Kultur der Vielfalt und Offenheit. Das Französische soll dabei ein möglicher Hafen für die Identität unserer Tochter sein.“ (Grundgedanke 5)

Damit verdeutlicht Yves, dass er mit der mehrsprachigen Erziehung eben diese Offenheit für Diversität und die Wertschätzung von Andersheit vermitteln und das Potenzial, das die Sprache für den Transport von Identität und Kultur hat, für seine Tochter nutzbar machen möchte. Außerdem ist der Grundgedanke 5 über die Ziele der mehrsprachigen Erziehung auch durch einen Pfeil mit dem Grundgedanken 2 über die Ablehnung von pauschalen Urteilen und die Notwendigkeit kritischer Reflexion verbunden, der mit „führte zu“ beschriftet ist. Dies soll deutlich machen, dass die Konfrontation mit pauschalen Urteilen und Schubladendenken, die Ablehnung dessen und der Grundsatz der kritischen Reflexion zu dem Entschluss geführt haben, die Tochter mehrsprachig zu erziehen, dies mit einer Kultur der Vielfalt und Offenheit zu verbinden und das Französische als Hafen anzubieten. Bei der Mehrsprachigkeit geht es Yves „vor allem um das Offene, die multikulturelle Identität, das wertfreie Angucken“ (10.2). Sprache sei das einfachste Mittel, „Beatriz gesellschaftliche Vielfalt zu vermitteln. Mehrsprachigkeit kann man überall praktizieren, auch über Distanz, es kostet nichts und sie kann es auch mit anderen teilen“ (9.7). Dementsprechend sind dem Grundgedanken 5 über die mehrsprachige Erziehung die meisten Statements aus dem Themenbereich Ziele der Spracherziehung zugeordnet: „Die Sprache soll das Medium sein für einen offenen Umgang mit Andersheit, sich Neues wertfrei anzuschauen und es zu hinterfragen. Mehrsprachigkeit soll auch vermitteln, dass es das ‚Normale‘ eigentlich gar nicht gibt“ (13.6). Durch die eigene Mehrsprachigkeit solle Beatriz lernen, dass sie, wie viele andere auch, aus „verschiedenen Bausteinen“ entstanden ist, und dass sie niemanden aufgrund dessen bewerten sollte (13.11). Es sei ihm nicht primär wichtig, dass seine Tochter die französische Kultur oder Identität aufnehme, so Yves. Es gehe ihm um eine „Kultur der Offenheit. Das bezieht sich auch z.B. auf Unterschiede in ökonomischer Hinsicht oder auf Behinderung etc.“ (13.9). Ganz im Sinne seines Grundsatzes der kritischen Reflexion wünscht sich Yves auch, dass er selbst von seiner Tochter kritische Rückmeldungen bekommt (13.15) und wäre zwar traurig, wenn sie sich irgendwann der französischen Sprache verweigern sollte, aber er „müsste es akzeptieren, weil es ihre Sache ist“ (13.13). Anders wäre das mit dem zentralen Anliegen der Mehrsprachigkeit, der „Kultur der Offenheit“. Hier hält Yves fest: „Wenn Beatriz irgendwann Vorurteile schüren oder pauschale Aussagen machen und Menschen unhinterfragt in Schubladen stecken würde, dann müsste ich mir eingestehen, dass ich mein Er-

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ziehungsziel der Offenheit, das ich mit der mehrsprachigen Erziehung erreichen wollte, verfehlt habe“ (13.14). Das würde er dann aber nicht einfach hinnehmen: „Wenn ich merken würde, dass Beatriz Menschen unfair und ungleich behandelt, so, wie ich selbst ausländerfeindliche Behandlung erfahren habe, dann würde ich meine Strategie ändern“ (14.16). Wie die Ziele der Mehrsprachigkeit in der Familie verfolgt werden, erläutern die Statements zu den „Spracherziehungsstrategien“, die Yves fast alle dem Grundgedanken 5 über mehrsprachige Erziehung zugeordnet hat. So hätten die Eltern bei der Geburt der Tochter bewusst entschieden, dass Yves Französisch mit ihr spricht und die Mutter Deutsch (14.1). Dies wurde zunächst auf Probe festgelegt mit der Option, es auch wieder zu ändern, wenn es nicht gut ginge (14.6). Maria spreche zwar fließend Spanisch, es sei jedoch nicht wirklich ihre Muttersprache und sie hätte sich der Tochter gegenüber „auf Spanisch nicht so ausdrücken können wie auf Deutsch, daher spricht sie zu 98% Deutsch mit ihr“ (14.7). Grundsätzlich möchte Yves „für Beatriz ein Leuchtturm sein, der Französisch leuchtet, an dem sie sich orientieren kann, wenn sie möchte“ (14.15). Wenn sie sich aber irgendwann weigern würde, Französisch zu sprechen, müsse er trennen zwischen seinem „Angegriffen-sein und dem wahren Grund dahinter“ (14.14). In seiner Spracherziehungspraxis lasse sich Yves von der „Methode ‚gesunder Menschenverstand‘“ leiten (14.4). Er spreche immer Französisch mit ihr, aber wenn sie müde oder überfordert sei, wiederhole er die Sätze auf Deutsch, da sie Deutsch besser verstehe (14.2). Er sage aber nie einen deutschen Satz, ohne gleich danach oder davor den französischen Satz zu sagen (14.3). Wenn Beatriz aber nicht müde oder überfordert sei, dann gehe sie auf das Französische ein und versuche durch Rückfragen (zeigen, wiederholen) zu verstehen, was er meine (8.2). Mehrsprachiges Aufwachsen könne für ein Kind auch eine zusätzliche Anstrengung bedeuten. Da sei es wichtig, „dass im Umfeld Zeit dafür da ist, das Kind in den Arm zu nehmen, wenn es sich nicht ausdrücken kann“ (10.3). Das wichtigste beim mehrsprachigen Aufwachsen sei, dass es nicht erzwungen werde (10.4). Schwierig seien für Beatriz vor allem abstrakte Aussagen auf Französisch, die sich auf Dinge beziehen, die nicht unmittelbar sichtbar sind (8.1). Während Beatriz im Deutschen schon Drei- bis Fünfwortsätze mache, sage sie im Französischen eher einzelne Wörter und den Rest des Satzes auf Deutsch (8.4). Insgesamt habe Beatriz später angefangen zu sprechen als andere Kinder und habe auch jetzt einen geringeren Wortschatz (8.5). Da es Yves wichtig ist, dass die Tochter so viele Ansprechpartnerinnen und -partner wie möglich hat und nicht nur mit ihm Französisch spricht (14.9), hat er auch seine Eltern und seine Schwester gebeten, mit ihr Französisch zu sprechen (14.8). Außerdem sei es wichtig, dass die mehrsprachige Erziehung ein System

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habe. Die Sprachen könnten zwar kontext- und situationsabhängig gewechselt werden, es solle aber keine Willkür bei der Sprachenmischung herrschen (14.5). Wenn Erwachsene dabei sind, die kein Französisch sprechen, wechselt Yves deswegen nicht ins Deutsche. Bei Kindern wiederholt er die Dinge aber auf Deutsch, wenn es sich an alle richtet (14.13). Zunächst reiche seine Ausdrucksfähigkeit im Französischen für ein dreijähriges Kind, so Yves, und sie sei auch in den letzten drei Jahren ‚mitgewachsen‘. Was er im Französischen nicht wisse, schlage er nach und lese auf Französisch, um sich seinen Vorsprung zu erhalten (5.7). Auch müsse er sich nicht zum Französischsprechen mit seiner Tochter aufrufen, sondern mache es mittlerweile automatisch (5.10), auch wenn es anfangs komisch für ihn gewesen sei, da ihn weder Beatriz noch Maria verstanden hätten (15.1). Zusätzlich nutzen sie französische Medien, Bücher und Filme, damit Beatriz eine weitere Sprachenquelle habe (14.12). Vom Grundgedanken 5 über die mehrsprachige Erziehung in der rechten unteren Ecke führt ein Pfeil zum Grundgedanken 6 in der rechten oberen Ecke, der zeigt, wie aus den Zielen, Strategien und Praxen der mehrsprachigen Erziehung, aber auch aus den grundsätzlicheren Vorstellungen über Vielfalt und kritische Reflexion Wünsche an die Kita und Vorstellungen über deren Rolle folgen: „Die Kita soll vor allem Vielfalt und Offenheit vermitteln, nicht in erster Linie Französisch.“ (Grundgedanke 6)

Dementsprechend hat Yves diesem Grundgedanken ein Statement zugeordnet, demzufolge Mehrsprachigkeit hilft, eine „Offenheit für Diversität zu vermitteln und die Überzeugung, dass es das ‚Normale‘ eigentlich nicht gibt“ (10.1). Dass die Kita genau diesen Ansatz auch verfolgt und „offen ist für Menschen aller Herkünfte und auch Kinder von Geflüchteten aufnimmt und […] [Beatriz] die Möglichkeit gibt, viel Verschiedenes wertfrei kennenzulernen“, findet Yves toll (16.5). Ursprünglich hätten sie die Kita ausgesucht, da es eine französisch sprechende Erzieherin gab, die nun aber leider schon lange nicht da sei (16.1). Die Erzieherinnen sprechen alle Deutsch und verschiedene andere Sprachen, mit Beatriz werde aber hauptsächlich Deutsch gesprochen (16.2). Eine französisch sprechende Ansprechpartnerin sei wünschenswert (16.3), grundsätzlich sei es ihnen bei der Kita aber wichtiger, dass die Tochter Vielfalt kennenlernt, als dass sie Französisch oder die französische Kultur lerne (16.4). Hierfür besucht Yves einen französischsprachigen Singkreis mit seiner Tochter (14.11) und fordere seine Eltern immer wieder dazu auf, mit ihr Französisch zu sprechen (15.4). Auch bei der Auswahl der Schule würde Yves mehr Wert darauf legen, dass Beatriz die Schule gefällt, als dass dort Französisch vermittelt werde (14.10).

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8.1.5 Olga Auswahl der Untersuchungspartnerin und Interviewsituation Olga wurde als fünfte Untersuchungspartnerin bei den Eltern ausgewählt, weil sie im Vergleich zu den anderen eine weitere Sprachenkonstellation und Migrationssituation der Familie mitbrachte und die Rekonstruktion mit ihr daher neue Erkenntnisse versprach. Da die Familie erst seit fünf Jahren in Deutschland lebt und Olga zudem Migrationserfahrungen in Spanien hat, schien es wahrscheinlich, dass die Spracherziehung mit diesen in Verbindung gebracht würde. Trotz der sprachlichen Barrieren, die durch meine Spanischkenntnisse ausgeglichen werden konnten, war es durch Olgas beruflichen Hintergrund und ihre Bildungsnähe wahrscheinlich, dass sie das anspruchsvolle Vorgehen bei der Rekonstruktion gut verstehen und nachvollziehen könnte. Die Auswahl schien also ein guter Kompromiss zu sein zwischen meinem Interesse an Eltern, die noch nicht lange in Deutschland leben, und der Notwendigkeit, das Verfahren sprachlich und vom Bildungshintergrund her mitgestalten zu können. Daten zur Familie und Einordnung der familiären Sprachpraxis Olga stammt aus der Ukraine, wo sie in Odessa, einer – wie sie sagt – russischen Stadt, aufgewachsen ist. Ihre Mutter ist Russin, ihr Vater Ukrainer. Vor ca. sieben Jahren ist Olga zu ihrem Mann nach Spanien ausgewandert und hat dort ihre heute sechsjährige Tochter Elena bekommen. In Spanien lebten sie ca. ein Jahr, bevor sie zusammen nach Deutschland umzogen, zuerst nach Essen, dann nach Offenbach und vor drei Jahren nach Hamburg. Vor vier Jahren kam Alana, Olgas zweite Tochter, zur Welt. Olga arbeitet als Chemielaborantin, ihr Mann ist IT-Ingenieur und arbeitet in der Schweiz, er ist nur einige Tage im Monat zu Hause. Olga und ihr Mann haben schon vor ihrer Heirat beschlossen, dass ihre Kinder mindestens zweisprachig aufwachsen werden. Olga spricht mit ihren Kindern Russisch, der Vater spricht mit ihnen Spanisch. Seit die Familie in Deutschland lebt, lernen die Kinder außerdem Deutsch in der Kita und sprechen auch untereinander Deutsch. Die Eltern haben anfangs untereinander Englisch gesprochen, mittlerweile sprechen sie untereinander Spanisch. In der Typologie von Reich (2010) könnte man die familiäre Sprachpraxis als Typ IIa einordnen, da ausschließlich die Herkunftssprache gebraucht wird, und dies aus bewusster Entscheidung heraus geschieht. Allerdings handelt es sich dabei nicht um die gemeinsame Herkunftssprache, sondern um zwei verschiedene Herkunftssprachen, Russisch und Spanisch.

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Argumentation in Grundgedanken und zugeordneten Statements Anhand der im Gespräch behandelten Themen und der dazu geäußerten Statements ließen sich fünf Grundgedanken formulieren, die die Eckpfeiler der Subjektiven Theorie Olgas darstellen. An den oberen Rand des Theoriebildes, über alle anderen Grundgedanken, hat Olga den Grundgedanken 1 platziert, in dem sie kulturelle Vielfalt als grundsätzlich positiv bewertet, aber auch die Probleme mit Unterschieden und die Notwendigkeit der Anpassung erwähnt. Darunter hat sie die vier anderen Grundgedanken von links nach rechts platziert. Der Grundgedanke 2, in der Mitte links, weist allgemein auf die Wichtigkeit von Sprachkenntnissen hin. Daneben liegt der Grundgedanke 3 über Mehrsprachigkeit und weiter rechts, etwas erhöht, der Grundgedanke 4 über Olgas Vorstellungen von guter Spracherziehung. Schließlich befindet sich rechts unten der Grundgedanke 5 über die Rolle von Kita und Schule bei der mehrsprachigen Erziehung.

Abb. 5: Theoriebild Olga

Der Grundgedanke 1 beschreibt Olgas grundsätzliche Haltung zu kultureller Vielfalt und ihre Erfahrungen damit und bildet den Hintergrund für ihre weiteren Gedanken über Sprache, Mehrsprachigkeit und Spracherziehung. Damit stellt er den Ausgangspunkt für ihre subjektive Theorie dar:

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„Kulturelle Vielfalt ist positiv. Es ist wichtig, das Neue anzunehmen. Manche Unterschiede in der Mentalität machen aber auch Probleme.“ (Grundgedanke 1)

Sie ordnet diesem Grundgedanken einige Statements zum Thema Migrationsgeschichte zu. Hierzu gehört, dass sie ursprünglich aus Odessa, einer russischen Stadt in der Ukraine, kommt, und dass ihre Mutter Russin, ihr Vater Ukrainer ist (1.1). Damit weist Olga darauf hin, dass kulturelle Vielfalt sie bereits seit ihrer Kindheit begleitet. Zur Migrationsgeschichte gibt es auch Statements, die zeigen, dass Zugehörigkeitsunterschiede in ihrer Heimat heute Probleme verursachen. So sagt sie, dass sie infolge des politischen Umbruchs und des Krieges in der Ukraine heute eigentlich keine Heimat mehr habe (1.2) und auf ihren ukrainischen Pass keinen Wert mehr lege (1.3). Diese beiden Statements hat sie aber nicht diesem und auch keinem anderen Grundgedanken zugeordnet. Das lässt vermuten, dass Olga ihre positive Haltung zu kultureller Vielfalt nicht bewusst oder direkt mit den für sie negativen Entwicklungen in ihrer Heimat verbindet. Stattdessen hat sie dem Grundgedanken über kulturelle Vielfalt Statements über ihre eigene Migration nach Spanien zugeordnet: „Vor ca. sieben Jahren bin ich zu meinem Mann nach Spanien gezogen, wo wir ein Jahr lang gelebt haben“ (1.4). Spanien sei allerdings nicht das Land, in dem sie leben möchte, da sie sich nicht an die spanische Mentalität gewöhnen könne (1.7). Dass sie es aber grundsätzlich für nötig hält, sich an die ‚Mentalität‘ des Landes, in dem man lebt, zu gewöhnen und das Neue anzunehmen, zeigt auch ein hier zugeordnetes Statement, in dem Olga betont, dass sie sich an die hiesigen Bräuche anpassen müsse, denn niemand habe sie eingeladen, nach Deutschland zu kommen (1.9). Wie Olga die ‚Mentalität‘ der Menschen in Spanien und im Unterschied dazu in Deutschland erlebt, zeigen Statements aus dem Bereich Erfahrungen mit Mentalitäten und kulturellen Unterschieden, die sie hier zugeordnet hat: „In Spanien sind die Leute zwar kommunikativ, aber nicht offen. Sie mögen keine Ausländer und haben viele Vorurteile. Das hat auch damit zu tun, dass sie wenig reisen und nicht gerne studieren“ (2.1); „Die Spanier sind sehr unselbstständig und erwarten immer Hilfe von ihren Eltern. Ich denke, wenn man erwachsen ist, sollte man eher seinen Eltern helfen, nicht umgekehrt“ (2.2). Die negativen Erfahrungen mit der spanischen ‚Mentalität‘ reichen bis hin zu Vorurteilen, die ihr selbst entgegengebracht wurden, und die sie auch hier zugeordnet hat: „In Spanien haben die Leute viel Angst vor Ausländern und auch von mir haben sie gedacht, weil ich aus der Ukraine komme, bin ich nur am spanischen Pass interessiert. Sie wundern sich, dass meine Mutter in der Ukraine in einer richtigen Wohnung lebt“ (4.2). Während die Statements über die Spanier die Probleme mit Unterschieden unterstreichen, weist das Statement über die

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Deutschen, das Olga ebenfalls diesem Grundgedanken zugeordnet hat, eher auf positive Aspekte der ‚Mentalität‘ in Deutschland hin, die sie gerne übernehmen möchte: „In Deutschland hingegen sind die Leute sehr selbstständig, lernen viel und wollen unabhängig sein“ (2.3). In den Statements aus dem Bereich Unterschiede in der Mentalität in Bezug auf Erziehung, die sie ebenfalls dem Grundgedanken 1 über kulturelle Vielfalt zugeordnet hat, zeigt Olga, wie sie zwischen für sie positiven und negativen Aspekten der Erziehungsvorstellungen in Deutschland abwägt: Sie mag demnach „die Disziplin, die Pünktlichkeit, die Selbstständigkeit, den Fleiß und das Bildungsinteresse der Deutschen. In der deutschen Erziehung geht es darum, dass man etwas alleine schafft, daher sind deutsche Kinder sehr selbstständig“ (3.1). Diese Eigenschaften und Erziehungsziele möchte sie auch für ihre Kinder übernehmen. Gleichzeitig findet Olga, dass den Kindern in Deutschland „zu früh zu viele Freiheiten gegeben“ werden. Auch mit der Sexualerziehung werde zu früh angefangen (3.2). Außerdem beobachtet sie Verhaltensweisen von Müttern gegenüber ihren Kindern, die sie als sehr kalt und abweisend empfindet: „Deutsche Eltern sagen ihren Kindern manchmal, sie wollen nicht reden, sie hätten keine Zeit. Das ist für mich sehr kalt, das würde ich nie machen. Ein zweites Mal kommt ein Kind dann vielleicht nicht zur Mutter“ (3.3). Ihre eigene Erziehung hingegen lehre sie, für die Kinder ein Freund zu sein. Für Freunde müsse man immer da sein und dürfe sie nicht abweisen (3.4). Aufgrund dieser Unterschiede würden sich viele russische Mütter in Deutschland Sorgen machen, vor allem wegen der Erziehung in der deutschen Schule. Sie selbst sei dennoch der Ansicht, da sie hierhergekommen seien, müssten sie die Regeln der deutschen Erziehung akzeptieren (3.5). Da sie aber auch Zweifel an der deutschen Erziehung habe, würde sie manchmal überlegen, doch aus Deutschland wieder weg zu gehen (3.7). Gleichzeitig betont sie, dass sie froh ist, dass die Kinder in Deutschland aufwachsen, wo man Erfahrungen mit Ausländern habe und Vielfalt positiv gesehen werde. In Hamburg gebe es wenig Rassismus, das sei gut für die Kinder (3.8). Für die Erziehung der eigenen Kinder versucht sie, die goldene Mitte zu finden, den Kindern nicht alles abzunehmen, damit sie selbstständig werden, sie aber auch nicht mit dieser Kälte zu behandeln, mit der sie die Deutschen manchmal ihre Kinder abweisen sieht (3.6). In diesen Statements spielgelt sich die Vielschichtigkeit des Grundgedankens 1 wider, der gleichzeitig Vielfalt lobt, Anpassung fordert und die Probleme mit einigen Unterschieden thematisiert. Olga genießt einerseits die kulturelle Offenheit in Hamburg und möchte positive Aspekte der ‚deutschen‘ Erziehungsgewohnheiten übernehmen. Auch Vorstellungen, die sie nicht für richtig hält, will sie akzeptieren, wie z.B. schulische Inhalte. Allerdings hält sie sich die Möglichkeit offen, das Land auch zu verlassen,

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wenn ihren eigenen Erziehungsvorstellungen zu stark widersprochen werden würde. Die positive Haltung zu kultureller Vielfalt bezieht Olga maßgeblich auch aus ihren Erfahrungen mit der Kita, was dadurch deutlich wird, dass sie dem Grundgedanken 1 auch vier Statements aus dem Themenbereich Die Rolle der Kita zugeordnet hat: „Ich finde es toll, dass die Kinder durch die verschiedenen Erzieherinnen auch noch Lieder und anderes in weiteren Sprachen lernen. So bekommen sie eine Idee von anderen Sprachen, haben mehr Fragen und lernen etwas über andere Länder“ (11.5); „Durch die verschiedenen kulturellen Hintergründe der Erzieherinnen lernen die Kinder auch unterschiedliche Mentalitäten kennen, das finde ich gut“ (11.6); „Ich finde die Vielfalt in der Kita auch deshalb gut, weil man die verschiedenen Mentalitäten für die Kinder nutzen kann. Für die Babys ist z.B. die liebe, mütterliche Erzieherin aus dem Iran am besten, für die Größeren die deutsche Erzieherin, die mehr Disziplin und Selbstständigkeit vermittelt“ (11.7); „Ich habe Alana in die Gruppe mit der deutschen Erzieherin gegeben, damit sie richtig Deutsch lernt und auch selbstständiger wird. Dadurch hat sie angefangen, mehr zu sprechen und auch allein auf die Toilette zu gehen“ (11.8). Hier zeigt sich auch, wie sich in Olgas Vorstellung Unterschiede in der ‚Mentalität‘ nutzbar machen und zu einer positiven Vielfalt zusammenfügen lassen. Unter dem Grundgedanken 1, der die Grundhaltung zu kultureller Vielfalt ausdrückt, hat Olga die vier anderen Grundgedanken platziert, die sich auf Sprache, Mehrsprachigkeit und Spracherziehung beziehen. Links am Beginn der Überlegungen steht der Grundgedanke 2: „Ohne Sprachkenntnisse fühlt man sich häufig sprachlos und schutzlos.“ (Grundgedanke 2)

Hier ordnet Olga zunächst zwei Statements aus dem Bereich Erfahrungen mit Mentalitäten und kulturellen Unterschieden zu, in denen sie einerseits betont, dass man die Regeln, Gewohnheiten und die Sprache in einem anderen Land akzeptieren müsse, wenn man dort leben wolle. Es habe keinen Sinn, skeptisch zu sein und man komme am besten rein, wenn man mitmache (2.4). Andererseits beschreibt sie, wie sprachlos sie manchmal in der Arbeit ist, wenn sie miterlebt, wie respektlos die Kollegen mit dem Chef sprechen. In ihrer Heimat würde man dem Chef niemals widersprechen, aber hier käme das durchaus vor (2.5). Auch Erfahrungen mit Ausgrenzung und Vorurteilen ordnet Olga diesem Grundgedanken zu. So beschreibt sie, wie ein deutscher Beamter mal zu ihr und ihrem Mann gesagt habe, die Tochter würde, obwohl sie einen spanischen Pass hat, nie wirklich Europäerin sein, da sie eine ukrainische Mutter habe (4.1).

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Auch und vor allem wegen der Sprache würde sie sich in Deutschland immer als Ausländerin fühlen, so Olga. Es sei auch manchmal vorgekommen, dass Leute über ihre sprachlichen Fehler lachen. Dann würde sie am liebsten weggehen und gar kein Deutsch mehr sprechen (4.3). Auch aus dem Themenfeld Meine Sprache hat Olga hier einige Statements zugeordnet. So berichtet sie, dass es kein Problem für sie gewesen sei, in der Schule Ukrainisch zu lernen, da das eigentlich keine fremde Sprache war (5.3). Als sie jedoch nach Spanien kam, habe sie sich große Sorgen gemacht, ob sie die Sprache lernen könne (5.4). Sie habe dort keinen Sprachkurs gemacht, sondern die Sprache hauptsächlich in der Praxis gelernt und durch spanische Filme (5.5). In Bezug auf das Erlernen einer Sprache berichtet Olga, dass sich dabei erste Eindrücke verlieren können. So klinge Deutsch zwar viel härter als Spanisch, je mehr man von der Sprache lerne, umso mehr verliere sich das Harte jedoch (5.8). Auch Russisch klinge härter als Spanisch, aber da es ihre Muttersprache sei, habe sie kein Gefühl dazu (5.8). In einem ebenfalls hier zugeordneten Statement beschreibt Olga das Gefühl der Sprach- und Schutzlosigkeit genauer: Ohne gute Sprachkenntnisse könne man sich nicht so gut verteidigen und wenn jemand z.B. seine schlechte Laune an einem auslasse, könne man nichts erwidern. Das würde sie dann jedes Mal sehr lange beschäftigen und sie würde am liebsten sofort weggehen, um nicht wieder in eine solche Situation zu geraten (5.9). Dem Grundgedanken 2 über die Sprachlosigkeit hat Olga auch drei Statements über die Sprache ihrer Kinder zugeordnet. Darin sagt sie, dass ihre Töchter Russisch, Spanisch und Deutsch sprechen, aber keine der drei Sprachen perfekt beherrschen. Es fehlte vor allem an Vokabular und sie hätten bis jetzt ein „Supermarktnievau“, mit dem man sich verständigen könne, das aber noch lange nicht perfekt sei (6.1). Damit das Deutsche und das Spanische entsprechend weiterentwickelt werden können, brauche die große Tochter jetzt „richtige“ Lehrer und müsse in beiden Sprachen lesen und schreiben lernen (8.2). Die jüngere Tochter mische die drei Sprachen noch sehr stark und spreche insgesamt sehr wenig, so Olga. Dass sie in ihrer Sprachentwicklung sehr langsam ist, würde der Tochter selbst aber gar kein Problem bereiten. Sie wäre ganz zufrieden, nur die Mutter würde eben sehen, dass die Sprachentwicklung sehr langsam voranschreitet (6.10). Aus den eigenen Erfahrungen mit der Sprach- und Schutzlosigkeit einerseits und aus ihren Beobachtungen der eigenen Töchter zieht Olga eine Erkenntnis, die sie in der kommunikativen Validierung als neues Statement formuliert: Dass Eltern häufig so sehr auf den Erwerb der deutschen Sprache bei ihren Kindern bedacht seien und dafür sogar die Herkunftssprachen vernachlässigten, habe mit deren eigenen Erfahrungen mit der Sprachlosigkeit zu tun (7.15). Als erwachse-

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ne Migrantinnen und Migranten hätten diese Eltern erlebt, wie schutzlos und handlungsunfähig man sich fühlt, wenn man die Sprache nicht beherrscht, und sie wollten ihren Kindern diese Erfahrung ersparen. Dabei würden viele jedoch übersehen, dass die Kinder selbst sich gar nicht sprach- und schutzlos fühlen, sondern mit fehlendem Vokabular in mehreren Sprachen und mit einer phasenweise gemischten Sprache gut zurechtkämen und in der Lage seien, mehrere Sprachen nach und nach zu erlernen. Die Konsequenz mancher Eltern, dem Deutschen auch zu Hause den Vorrang zu geben, sei daher falsch und unnötig. Im Grundgedanken 3, der neben dem Grundgedanken 2 platziert ist, beschreibt Olga dann ihre Sicht auf Mehrsprachigkeit und was dazu nötig ist: „Mehrsprachigkeit ist ein Geschenk. Für das Erlernen der Sprachen sind die Praxis und das Sprechen wichtig, aber auch Talent und gute Lehrer.“ (Grundgedanke 3)

Hier ordnet sie Statements über ihre eigene Sprache zu, die diesen Grundgedanken als Erfahrungen stützen: „Ich bin selbst auch mehrsprachig aufgewachsen. Zu Hause haben wir, wie die meisten Leute, Russisch gesprochen, aber in der Schule und in der Uni musste man Ukrainisch lernen“ (5.2); „Für das Spanischlernen war es wichtig, die Sprache einfach anzunehmen und mitzumachen und nicht zu viele Fragen zu stellen“ (5.6); „Ich habe immer noch das Gefühl, dass ich besser Spanisch spreche als Deutsch. Spanisch ist eine viel einfachere Sprache“ (5.7). Außerdem wird dieser Grundgedanke gestützt durch Statements über die Sprachen und die Mehrsprachigkeit ihrer Kinder. So berichtet Olga, dass das große Talent für Sprachen, was ihre große Tochter habe, eine wichtige Rolle spiele (6.2). Sie lerne die verschiedenen Sprachen dadurch schneller, während die Kleine weniger Talent habe und die Sprachen daher langsamer lerne (6.9). Die Große habe es aber auch dadurch leichter gehabt als ihre kleine Schwester, dass sie bis zu ihrem dritten Lebensjahr nicht in der Kita war und nur zwei Sprachen lernen musste, Spanisch und Russisch (6.3), während die Kleine früher in die Kita gekommen sei und schon ab ihrem ersten Lebensjahr mit drei Sprachen konfrontiert war. Als die große dann mit drei in die Kita kam, habe sie das Deutsche sehr schnell gelernt und konnte schon bald in die Gruppe für die vier- bis sechsjährigen Kinder wechseln (6.4). Die Betonung des Talents taucht auch in den Statements zum Thema Wie die Kinder Sprachen lernen wieder auf, die dem Grundgedanken 3 zugeordnet sind. Beim Aufwachsen mit mehreren Sprachen mache das Talent bestimmt 80% aus, so Olga (7.1). Mit dem Talent versucht Olga sich auch zu erklären, wieso es in ihrem Bekanntenkreis Kinder gibt, die fast kein Russisch könnten, obwohl ihre Eltern zu Hause nur Russisch sprechen. Es gebe eben Kinder, die weniger Talent

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hätten oder nicht so intelligent seien und denen das Lernen insgesamt mehr Mühe mache. Sie könnten dann Dinge vielleicht nur auf einer Sprache lernen und da sie in Deutschland zur Schule gingen, gehe die Muttersprache dann vielleicht deswegen verloren (7.3). Für die Mehrsprachigkeit sei es aber wichtig, alle Sprachen entsprechend zu fördern, und zu Hause z.B. Bücher anzugucken, um das Vokabular zu erweitern. Um das „Supermarktniveau“ zu verlassen, brauche ihre große Tochter bald richtige Lehrer, die die Weiterentwicklung der Sprachen begleiteten (7.5). Da die Praxis beim Erlernen von Sprachen eine wichtige Rolle spiele, sei es auch wichtig, regelmäßig in die Länder zu reisen, wo die Sprachen gesprochen werden (7.11). Auch in der Schule sei es eine gute Methode, eine Sprache zunächst anhand von Sprechpraxis zu lernen und später erst die Schrift. Analog zum Spracherwerb im Kleinkindalter könne man auf Imitation setzen und die Kinder zunächst zuhören und nachsprechen lassen (7.8). Auch für Erwachsene sei es leichter, eine Sprache zunächst durch Hören und Sprechen in der Praxis zu lernen. Wenn man dann später einen Kurs mache, könne man die Grammatik und die Schrift leichter lernen (7.9). Da Olga Mehrsprachigkeit als Geschenk ansieht, möchte sie, dass ihre Kinder ihre drei Sprachen auch dann weiterlernen, wenn die Familie aus Deutschland wegziehen würde. In diesem Fall möchte sie, dass die Kinder dann weiterhin eine deutsche Schule besuchen (8.6). Auch ein Statement aus dem Themenbereich (Kulturelle) Identität der Kinder hat Olga diesem Grundgedanken zugeordnet, da er den Geschenkcharakter der Mehrsprachigkeit unterstreicht: Die Kinder könnten selbst entscheiden, ob sie sich als Spanierinnen oder als Deutsche sehen, Olga selbst gebe es den Kindern nicht vor und sie halte es auch für unwahrscheinlich, dass die Kinder später Russinnen oder Ukrainerinnen sein wollten (9.4). Dass in der Kita durch eine spanischsprachige Erzieherin zwei der drei Sprachen ihrer Töchter gefördert werden, sieht Olga ebenfalls als Geschenk an. Das zeigt sich in einem ebenfalls hier zugeordneten Statement über die Frage, welche Sprache(n) in der Kita mit den Kindern gesprochen werden: „Da die Kita ja eigentlich eine ganz normale deutsche Kita ist, habe ich zuerst gefragt, ob Monica überhaupt Spanisch sprechen darf mit den Kindern“ (11.4). Aus ihrer Haltung zu Mehrsprachigkeit als Geschenk und ihren Vorstellungen, was der Mehrsprachigkeit grundsätzlich zuträglich sei, zieht Olga Konsequenzen für die Sprachpraxis und Spracherziehung im Elternhaus und für die Rolle von Kita und Schule. Im Grundgedanken 4 betont sie mit Blick auf die Eltern: „Eltern sollten unbedingt konsequent ihre Muttersprache mit den Kindern sprechen und keine Ausnahmen machen.“ (Grundgedanke 4)

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Da diese Haltung mit dem übereinstimmt, wie in Olgas Familie mit der Mehrsprachigkeit umgegangen wird, hat sie hier viele Statements aus dem Themenbereich Unsere Sprachpraxis zugeordnet. So spreche sie zu Hause mit den Kindern Russisch, der Vater spreche Spanisch mit ihnen und untereinander sprechen die Eltern ebenfalls Spanisch (10.1). Grundsätzlich bespreche sie mit den Kindern alles auf Russisch und mache dabei keine Ausnahmen. Lediglich wenn es wichtig sei, dass der Papa das Gesagte auch versteht, sage sie hin und wieder etwas auf Spanisch zu den Kindern. Ihr Mann würde aber die einfachen Sachen mittlerweile auch auf Russisch verstehen (10.3). Als Olgas ältere Tochter sie mal gefragt habe, wieso sie nicht auch mit ihr auf Spanisch spreche, habe sie der Tochter erklärt, dass sie mit ihr Russisch sprechen wolle, weil sie Russin sei und auch, damit sie später mit ihrer Oma in der Ukraine sprechen könne (10.5). Mittlerweile wolle Elena auch nicht mehr Spanisch mit der Mutter sprechen, sondern bitte sie, Russisch mit ihr zu sprechen (10.6). Untereinander sprechen die Töchter Deutsch, was Olga auch nicht unterbinde, da sie keinen Zwang ausüben möchte (10.4). Filme und Bücher würden zu Hause in allen drei Sprachen angesehen (10.7), die Kinder besuchen eine spanischsprachige Theatergruppe (10.8) und die Familie fährt ca. dreimal im Jahr nach Spanien und einmal in die Ukraine, um die Verwandten zu besuchen (10.9). Weiterhin wird der Grundgedanke 4 über Spracherziehung und Sprachpraxis im Elternhaus durch einige Statements über die Sprachen der Kinder gestützt. So beschreibt Olga, dass die ersten Worte ihrer großen Tochter auf Spanisch waren, obwohl ihr Mann damals auch schon wenig zu Hause war (6.5). Während eines längeren Aufenthaltes in Spanien, als die große Tochter drei Jahre alt war, habe diese gerade große Fortschritte in der Sprachentwicklung gemacht und sich dafür das Spanische ausgesucht. In dieser Zeit habe sie kein Russisch mehr mit der Mutter sprechen wollen (6.6). Über ihre kleine Tochter berichtet Olga, dass sie in allen drei Sprachen nur sehr wenig spricht und hauptsächlich Zweiwortsätze bildet. Sie würde die drei Sprachen zudem miteinander vermischen, da sie noch keine Ordnung im Kopf habe (6.8). Das habe aber auch damit zu tun, dass Alana von klein an mit drei Sprachen konfrontiert war nicht nur mit zwei, wie ihre große Schwester, daher sei ihre Sprachentwicklung langsamer (6.7). Wenn sie ihr etwas auf Russisch vorsage, könne die Kleine es zwar richtig nachsprechen, nur von allein würde sie keine längeren Äußerungen auf Russisch machen, so Olga (6.11). Aus dem Themenbereich Wie die Kinder die Sprachen lernen sind ebenfalls einige Statements diesem Grundgedanken zugeordnet. Hier geht es einerseits noch einmal um die Frage, wieso manche Kinder russischer Eltern, die hier zur Kita und zur Schule gehen, selbst kein Russisch können (7.2). Dass Olga dies beim Grundgedanken über die Eltern platziert hat, weist darauf hin, dass sie

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die Aufgabe, den Kindern die Muttersprache zu vermitteln, auch als Herausforderung sieht. Das beobachtete Nicht-Gelingen von mehrsprachiger Erziehung bei anderen führt bei ihr dazu, zu Hause besonders auf die Muttersprache zu achten. Dieses Thema gab in der kommunikativen Validierung noch einmal Anlass, den Vorgang genauer zu erklären und ein neues Statement zu formulieren. Die Mehrsprachigkeit geht demnach auch deswegen verloren, weil Kinder sich immer die Sprache aussuchten, in der sie sich mit den meisten Leuten verständigen könnten. In der Kita machten sie die Erfahrung, dass sie sich mit Deutsch am besten verständigen können, und so würden sie es dann auch zu Hause mit Deutsch versuchen. Wenn sie dann feststellten, dass die Eltern sie auch auf Deutsch verstehen, bestehe die Gefahr, dass sich die Kinder nicht mehr die Mühe machten, die Muttersprache zu benutzen (7.14). Dementsprechend betont Olga, das Wichtigste für die mehrsprachige Erziehung sei es, mit den Kindern immer die Muttersprache zu sprechen und keine Ausnahmen zu machen (7.10). Ihre eigenen Kinder lernten die Sprachen durch die Praxis, indem sie alle drei Sprachen hören und sprechen (7.4). Dafür, dass sie selbst keinesfalls mit den Kindern Deutsch sprechen dürfe, gebe es auch noch einen anderen Grund: Es sei auch deshalb nicht gut, weil sie Deutsch nicht richtig sprechen könne und ihren Kindern so nur Fehler beibringen würde (7.12). Das Deutsche und das Spanische würden zukünftig auch in der Schule weiterentwickelt, wo Elena dann lesen und schreiben lerne. Für die Schriftspracherziehung im Russischen müsse sie sich dann etwas überlegen, so Olga (7.6). Es wäre aber zu viel verlangt, dass Elena gleichzeitig auch die russische Schrift lernen würde. Das sei auch später sicherlich noch möglich (7.7). Über den Vorsatz, zu Hause nur die Mutter- bzw. die Vatersprache zu sprechen, seien sich auch Olga und ihr Mann immer einig gewesen. Schon vor der Heirat hätten sie beschlossen, dass die Kinder mindestens zwei Sprachen sprechen würden und keine der beiden Sprachen wichtiger als die andere genommen würde (8.3). In diesem Zusammenhang berichtet Olga von anderen Familien, in denen z.B. der deutsche Vater nicht möchte, dass die Mutter ihre Sprache mit den Kindern spreche, weil er sie nicht versteht. Das gäbe es bei ihnen nicht. Wenn ihr Mann das Russische nicht verstehe, sei das kein Problem und sie würde deshalb nicht ins Spanische wechseln (8.4). Olga akzeptiere umgekehrt auch, dass ihre große Tochter von sich selbst sagt, sie sei Spanierin. Sie habe einen spanischen Pass und auch ihre Oma würde darauf viel Wert legen, dass Elena Spanierin sei (9.1). Sie selbst würde den Kindern aber nicht vorschreiben, dass sie Russinnen oder Spanierinnen oder Deutsche seien, das sollten sie sich selbst aussuchen (9.4). In Ergänzung zu ihrer Empfehlung für die Eltern, mit den Kindern konsequent die Muttersprache zu sprechen, weist Olga in ihrem Grundge-

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danken 5 der Kita und der Schule die Aufgabe zu, die deutsche Sprache zu vermitteln. Gleichzeitig sollen hier aber auch kulturelle Vielfalt und Mehrsprachigkeit gefördert werden: „Für das Erlernen der deutschen Sprache sind Kita und Schule zuständig. Außerdem sollten dort auch Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt gefördert werden.“ (Grundgedanke 5)

Ihre Töchter würden eigentlich nur in der Kita Deutsch hören (10.2), daher sei es besonders wichtig, dass dort korrektes Deutsch gesprochen werde (11.2). Ursprünglich hätten sie und ihr Mann für ihre Kinder eine deutsch-spanische Kita gesucht, die wäre aber leider zu weit weg gewesen. Daher seien sie jetzt sehr glücklich, dass eine neue Erzieherin mit den Kindern Spanisch spricht, und gleichzeitig eine andere da ist, die ihnen korrektes Deutsch beibringt (11.3). Auch von der Schule wünscht sich Olga nicht nur eine Förderung des Deutschen, sondern gleichzeitig des Spanischen, daher ist sie froh, dass Elena einen Platz in einer spanisch-deutschen Grundschule bekommen hat, und nimmt dafür gerne einen weiteren Weg in Kauf (8.1). Von der Mehrsprachigkeit verspricht sich Olga auch, dass es den Kindern leichter fallen werde, noch weitere Sprachen in der Schule zu lernen (8.5). Was das Selbstkonzept der Kinder angeht, ist Olga sehr glücklich, dass Vielfalt in ihrer Kita als normal und positiv gelte (9.3). Es sei gut für die Kinder, dass sie in Deutschland aufwachsen, wo man Erfahrungen mit Ausländern habe, Vielfalt positiv sehe und es wenig Rassismus gebe (3.8). Ihre Kinder fühlten sich nicht als Ausländerinnen, da sie – auch durch die Kita – in der Vielfalt aufwachsen und viele andere Kinder auch mehrsprachig seien und Eltern aus anderen Ländern hätten (9.2).

8.2 HANDLUNGSLEITENDE VORSTELLUNGEN UND ORIENTIERUNGEN DER ELTERN Nach der Fallanalyse wurden die subjektiven Theorien der Eltern als Manifeste der sozialen Praxis einer übergreifenden Analyse mit dem Fokus auf die handlungsleitenden Vorstellungen und Orientierungen unterzogen (vgl. Kapitel 7.3). Diese Zusammenfassungen stellen eine fallübergreifende Verdichtung der Ergebnisse dar und orientieren sich an Fragen nach den Vorstellungen der Eltern über Sprache und ihre Rolle in der Erziehung (8.2.1), nach den Zielen der Eltern für die Spracherziehung (8.2.2), nach ihren Vorstellungen von guter Spracher-

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ziehung (8.2.3), nach ihrer Wahrnehmung der Mehrsprachigkeit ihrer Kinder (8.2.4) und nach der Rolle, die sie der Kita zuweisen (8.2.5). Besonders interessant ist für diese Aspekte außerdem, wie die Eltern ihre eigene(n) Sprache(n) beschreiben, welche Vorstellungen sie über den Zusammenhang von Sprache und Identität haben und mit welchen Herausforderungen sie bei ihrer mehrsprachigen Erziehung konfrontiert sind. Die Darstellungen anhand der o.g. Fragen beziehen sich direkt auf die konkreten Äußerungen der Untersuchungspartnerinnen und sind daher sprachlich eng an deren Texten entlang, d.h. nah an den jeweiligen Originalformulierungen verfasst. 8.2.1 Was bedeutet Sprache für die Eltern und welche Rolle spielt sie in der Erziehung? Ein zentraler Punkt in den Vorstellungen der befragten Eltern über Sprache und ihre Rolle in der Kindererziehung ist die Nutzung von Sprache als Kommunikationsmittel zur Lösung von Konflikten. Dies bezieht sich sowohl auf Konflikte zwischen Eltern und Kindern als auch auf Konflikte unter den Kindern, die diese mithilfe der Sprache ohne körperliche Gewalt bearbeiten könnten. Sprache helfe so auch gegen Ausgrenzung, Angst, und Gefühle der Wertlosigkeit, denen ein Kind, das sich nicht ausdrücken könne, leicht ausgesetzt sei. Ebenso bedeutsam ist Sprache aus Sicht aller befragten Eltern für die Vermittlung von Emotionen und Werten. So sei Sprache das wichtigste Mittel der Kindererziehung, da die Eltern den Kindern mit ihrer Hilfe ihre Sicht auf die Welt vermittelten und sie über Sprache zum Mitmachen bewegen könnten. Umgekehrt biete Sprache auch für die Kinder die Chance auf Mitbestimmung und das Äußern und Erklären ihrer Gefühle. Darüber hinaus wird Sprache von allen befragten Eltern als wichtiges Medium für ‚Kultur und Identität‘ bezeichnet. Sie könne einem „die Tür zu einer Kultur“ (Requena, G6) öffnen. Dabei sei die Beherrschung der Sprache noch kein Garant für Zugehörigkeit, aber sie sei jedenfalls unverzichtbar für die Teilhabe an einer Kultur und für den Zugang zu einem Land. Umgekehrt fühle man sich ohne Sprachkenntnisse „häufig sprachlos und schutzlos“ (Olga, G2). Zusätzlich zur Bedeutung von Sprache als Medium für ‚Kultur und Identität‘ wird Mehrsprachigkeit von einigen Eltern auch ausdrücklich als Medium für eine Erziehung zu Offenheit für Diversität und zur „Wertschätzung von Andersheit“ (Yves, G4) beschrieben. Sie sei das einfachste Mittel, um den Kindern „gesellschaftliche Vielfalt“ (Yves, 9.7) zu vermitteln. Vergleichsweise wenig wird Sprache in dieser allgemeinen Hinsicht explizit mit Bildungschancen in Verbindung gebracht. Nur Zefcan betont, Sprache sei

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wichtig für die Bildung und Bildung umgekehrt für die Sprache (Zefcan, 1.2). Dass die Sprache aus Sicht der befragten Eltern für den Bildungserfolg eine wichtige Rolle spielt, wird jedoch im Zusammenhang mit den genannten Zielen für die Spracherziehung deutlich, wo von einigen der Wunsch nach guten Deutschkenntnissen der Kinder besonders im Hinblick auf den Schuleintritt betont wird. 8.2.2 Welche Ziele haben die Eltern für die Spracherziehung? Von den befragten Eltern wird ausnahmslos betont, dass Mehrsprachigkeit das Ziel ihrer Spracherziehung ist. Sie wünschen sich grundsätzlich, dass ihre Kinder sowohl die deutsche als auch die weitere(n) Familiensprache(n) möglichst gut beherrschen. Im Rahmen dieser Zielsetzung gibt es verschiedenen Schwerpunkte, die sich auf Vorstellungen von Sicherheit durch Sprachbeherrschung, auf die Familiensprache als Sprache der Emotionen, auf die Funktion der Sprache(n) als „Anker für die Identität“ (Yves, 13.2) und auf die Funktion von Mehrsprachigkeit als Vermittlerin für Diversität beziehen. Sprachliche Fähigkeiten werden vor allem von Requena, Alara und Olga mit einem Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit für die Kinder in Verbindung gebracht (vgl. Requena, G2). Dies wird zwar auf alle Sprachen der Kinder bezogen, findet jedoch häufiger Erwähnung in Bezug auf das Deutsche. So bräuchten Kinder „altersgemäße sprachliche Fähigkeiten“, um sich z.B. in der Kita „sicher, wertvoll und zugehörig zu fühlen“ (vgl. Requena, 8.4). Ihre Tochter habe durch ihre Sprachkenntnisse im Deutschen das Gefühl, Deutsche zu sein, was ihr Sicherheit und Orientierung gebe, so Requena (Requena, 7.8). Auch von Alara werden die sprachlichen Fähigkeiten im Deutschen mit Sicherheit in Verbindung gebracht, wenn Sie das Deutsche für sich als „Sprache der 100%igen Ausdruckssicherheit“ bezeichnet (Alara, G1). Bei Olga findet sich die Verbindung von Deutschkenntnissen und Sicherheit, wo sie ihre Kehrseite erwähnt, dass man sich nämlich ohne sprachliche Fähigkeiten im Deutschen „schutzlos“ fühle (vgl. Olga, G2). So wünschen sich diese Mütter für ihre Kinder Mehrsprachigkeit, die sie auch als „Geschenk“ (vgl. Olga, G3) bezeichnen, und betonen gleichzeitig die Fähigkeiten im Deutschen, da sie damit ein Gefühl der Sicherheit im Rahmen der Umgebung verbinden, in der die Kinder aufwachsen. Eine weitere wichtige Verbindung, die sich in den Spracherziehungszielen widerspiegelt, besteht für die befragten Eltern zwischen der Familiensprache und den Emotionen. Hiermit wird begründet, warum das Erlernen der nichtdeutschen Familiensprache für die Eltern ein so wichtiges Ziel darstellt. So wird die nichtdeutsche Familiensprache z.B. als „emotionaler Klebstoff“ (Alara, 14.8) be-

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zeichnet, der für die Bindung an die Familie sorge, weshalb es den Eltern wichtig ist, dass die Kinder diese Sprache auch lernen und benutzen (vgl. Alara, G5). Im Anschluss an diese Rolle der nichtdeutschen Familiensprache als Sprache der Emotionen und der Familie betonen die Eltern, dass sie mit der Vermittlung dieser Sprache auch das Ziel verbinden, den Kindern einen „Hafen“ (vgl. Yves, G5) oder „Anker“ (vgl. Alara, G3) für deren Identitätsentwicklung zu geben. So wird im Hinblick auf die Ziele der Spracherziehung deutlich, dass Mehrsprachigkeit für die Eltern einen zentralen Faktor in Bezug auf die Identitätsentwicklung darstellt, die sich die Eltern für ihre Kinder wünschen, und die am ehesten als ‚ausgewogen‘ oder ‚ausbalanciert‘ beschrieben werden kann. Nur wenn die Kinder Sprachkenntnisse auch in der Herkunftssprache der Familie hätten, könnten sie ihre eigene Identität verstehen (vgl. Zefcan, 2.1) und die Herkunft der Familie nachvollziehen (vgl. Alara, 7.5; 7.6). Dieses Ziel der Ausbalancierung der eigenen Identität unter Einbeziehung der Herkunftssprache der Familie wird von den Eltern auch mit Zugehörigkeit und Geborgenheit verbunden. So werden zwar einerseits gute Sprachkenntnisse im Deutschen mit Sicherheit in Bezug auf Kita und Schule in Zusammenhang gebracht, gleichzeitig steht jedoch die Familiensprache für eine sichere Identität und für ein Gefühl der Geborgenheit und der Zugehörigkeit. Besonders deutlich und positiv werden das Ziel einer ausgewogenen Identität und die Rolle, die die Mehrsprachigkeit dabei spielt, von Alara zum Ausdruck gebracht. Sie beschreibt ihre eigene Identität mit „Angekommen im Sowohl-alsauch“ (Alara, G2) und begründet dies mit ihrer Sprache: „Uns fehlt im Deutschen nichts und durch das Türkische gewinnen wir ein Plus hinzu“ (ebd.). Zefcan hingegen beschreibt mit derselben Verbindung von Sprache und Identität, wie sie selbst das Ziel einer ausbalancierten Identität gerade aufgrund der fehlenden sprachlichen Sicherheit nicht erreicht. Da sie sich weder im Türkischen noch im Deutschen gut ausdrücken könne, bezeichnet sie sich „sprachlich und kulturell“ als „Mischung“, wodurch sie „weder türkisch noch deutsch“ sei und nirgends richtig hingehöre (vgl. Zefcan, G3). Beide Untersuchungspartnerinnen zeigen anhand ihrer eigenen Sprachigkeit, welche Rolle diese für Identität und Zugehörigkeitsgefühl spielt. Yves schließlich formuliert den Zusammenhang von Sprache und Identität im Hinblick auf seine Tochter: Für ihn ist die „Sprache das Medium Nummer eins“ um seiner Tochter „ein selbstständiges Auswählen für ihre Identität zu ermöglichen“ (Yves, 9.6). Auffällig ist, dass einige Eltern in das Ziel der Mehrsprachigkeit als Anker für die Entwicklung einer stabilen Identität auch die Notwendigkeit einbeziehen, die Kinder gegen Zuschreibungen von außen zu schützen. So sei es für die Kinder wichtig, mit der Herkunftssprache der Familie als „Identifikationsanker“

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(Alara, G3) eine eigene Position beziehen zu können, „damit sie von Zuschreibungen nicht überrascht und von den Füßen gerissen werden“ (Alara, 7.8). Angesichts von „Etikettierungen, kulturellen Zuschreibungen und Vorurteilen“ (Alara, G3), möchten sie den Kindern durch die Mehrsprachigkeit etwas mitgeben, womit sie sich ggf. gegen pauschale Urteile wehren (vgl. Yves, 7.6) und Anhand der eigenen Vielfalt einen Gegenentwurf zu bestehenden „Schubladen“ (Yves, 3.8) behaupten können. In diesem Sinne wird vor allem von Yves, Olga und Alara mit der Mehrsprachigkeit als Bezugspunkt für die Identitätsentwicklung auch das Ziel verbunden, den Kindern eine allgemeine Offenheit für Vielfalt zu vermitteln. Entsprechend der Bedeutung, die diese Eltern der Mehrsprachigkeit als Medium für Offenheit zuschreiben, verbinden sie mit dem Ziel der Mehrsprachigkeit auch das Ziel, dass die Kinder ein allgemeines Bewusstsein von Diversität und eine Wertschätzung von Unterschieden entwickeln. Besonders deutlich wird das durch Yves zum Ausdruck gebracht, der betont, dass seine Tochter durch die eigene Mehrsprachigkeit auch lernen solle, „dass sie, wie viele andere auch, aus ‚mehreren Bausteinen‘ entstanden ist, und dass sie niemanden aufgrund dessen bewerten sollte“ (Yves, 13.11). 8.2.3 Was verstehen die Eltern unter guter Spracherziehung? Neben der Bedeutung von Sprache an sich und den Zielen für die Spracherziehung war die Frage, wie die Eltern diese Ziele zu erreichen versuchen, in den Rekonstruktionen ein zentrales Thema. Dementsprechend enthalten die subjektiven Theorien Grundgedanken, die die Haltung der befragten Eltern bei der Spracherziehung ausdrücken oder auch konkrete Handlungsorientierungen beinhalten. Darüber hinaus wurde in den Gesprächen vielfach beschrieben, wie die Eltern die konkrete Sprachpraxis in der Familie gestalten. Ein zentrales Moment ist dabei bei allen befragten Eltern die Konsequenz, mit der aus ihrer Sicht die mehrsprachige Erziehung gestaltet werden müsse. So betont z.B. Zefcan in einem Grundgedanken, dass in der Familie „konsequent mindestens von einem Elternteil die Herkunftssprache gesprochen“ werden solle (Zefcan, G2). Requena ist der Meinung, dass es einer „guten Strategie“ bedürfe, die „konsequent“ verfolgt werden müsse (Requena, G3). Auch Olga hat hierfür einen eigenen Grundgedanken formuliert: „Eltern sollten unbedingt konsequent ihre Muttersprache mit den Kindern sprechen und keine Ausnahmen machen“ (Olga, G4). Yves und Alara haben zur Strategie der mehrsprachigen Erziehung keine eigenen Grundgedanken formuliert, aber in einigen Statements auch ihre Haltung bei der Spracherziehung beschrieben. So möchte Alara, dass die Kinder

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„Türkisch als die Sprache der Emotionen und der Familie“ lernen, jedoch ohne, dass sie es „als Ballast“ empfinden (Alara, G5) und Yves betont, dass er zwar konsequent Französisch mit seiner Tochter spricht, dass es ihm aber am wichtigsten sei, „dass es nicht erzwungen wird“ (Yves, 10.4). Diese Balance zwischen einem konsequenten Angebot in der nichtdeutschen Familiensprache und der Abwesenheit von Druck und Zwang ist für alle befragten Eltern ein Thema. Von allen wird berichtet, dass die Kinder zu einem bestimmten Zeitpunkt, meist in der Phase des Kitaeintritts, aber auch im Alltag, z.B. in Momenten von Müdigkeit und Erschöpfung, nicht bereit seien, die nichtdeutsche Familiensprache aktiv zu nutzen. Dazu werden verschiedene Erklärungen entwickelt, die das Zurechtfinden der Kinder in der mehrheitssprachlichen Umgebung thematisieren. So beschreibt Requena, dass ihre Tochter bei Eintritt in die Kita als einem neuen Umfeld, in dem sie ohne Eltern bestehen musste, ein großes Interesse entwickelte, die Mehrheitssprache Deutsch zu sprechen, um sich sicher und Zugehörig zu fühlen (vgl. Requena, G5). Olga vermutet, dass Kinder generell immer die Sprache wählen, in der sie sich mit den meisten Leuten verständigen können. Wenn sie also in der Kita die Erfahrung machten, dass sie mit Deutsch die meisten Personen erreichen, würden sie bei dieser Sprache bleiben, vor allem, wenn sie feststellen, dass die Eltern sie auch verstehen. Auch die anderen Eltern beschreiben, dass ihre älteren Kinder nach Eintritt in die Kita zunächst fast nur noch Deutsch gesprochen hätten und zu diesem Zeitpunkt – teilweise zum ersten Mal – Strategien nötig gewesen seien, um die nichtdeutsche Familiensprache zu stärken und es „in einer schönen Form“ zu erreichen, dass die Kinder sie „gut für sich annehmen, sie nicht als Ballast empfinden und damit umgehen mögen“ (Alara, 7.4). Hier wird deutlich, dass das Spracherziehungsziel der Mehrsprachigkeit vor allem im Hinblick auf die Erhaltung der nichtdeutschen Familiensprache eine Herausforderung für die Eltern darstellt. Die Frage nach den Spracherziehungsstrategien der Eltern zeigt, dass die nichtdeutsche Familiensprache nicht selbstverständlich ‚mitwächst‘, sondern dass sich die Eltern sehr viele Gedanken und z.T. Sorgen über den Erhalt dieser Sprache machen und dazu verschiedene Strategien entwickeln. Im Gegensatz dazu werden für den Erwerb des Deutschen keine speziellen Strategien beschrieben, außer der, für den Erwerb des Deutschen die Kita als Zuständig zu erklären (Requena, 4.3; Olga, 11.1). Indem der Deutscherwerb insgesamt nicht weiter thematisiert wird, erscheint er unproblematisch, auch da er ergänzend oder hauptsächlich in der Kita stattfindet. Einige Eltern berichten, dass sie bei anderen Familien aus ihrer Community beobachten, wie diese es nicht schaffen, den Kindern die nichtdeutsche Familiensprache zu vermitteln, und bedauern diesen Verlust. Als Erklärung dafür stellt Olga fest,

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dass Eltern, die selbst nach Deutschland eingewandert seien, unangenehme Erfahrungen mit der eigenen Sprachlosigkeit gemacht hätten. In der Spracherziehung würden sie dann diese Angst vor mangelnden Deutschkenntnissen auf ihre Kinder übertragen (Olga, 7.15) und versuchen, den Kindern die Erfahrung der Sprachlosigkeit zu ersparen, indem sie den Erwerb des Deutschen in den Fokus stellen. Dies führe häufig dazu, dass diese Eltern mit den Kindern Deutsch sprechen und die Herkunftssprache vernachlässigen. Das sei jedoch völlig falsch, so Olga. Die Kinder selbst fühlten sich nicht sprach- und schutzlos und kämen mit der Sprachenmischung gut zurecht. Dem Deutschen auch in der Familie den Vorrang zu geben sei im Gegenteil eher schädlich, da Eltern mit nichtdeutscher Muttersprache kein ‚richtiges‘ Deutsch vermitteln könnten (vgl. Olga, 7.12). Neben dem konsequenten Sprechen der nichtdeutschen Familiensprache werden von den Eltern als Strategien auch die Nutzung von Medien wie Büchern und Filmen in dieser Sprache und die Erweiterung des Sprecherkreises, z.B. durch weitere Familienmitglieder oder auch Sing- und Theatergruppen, genannt. Ein weiteres wichtiges Mittel, das mehrere Eltern ansprechen, sind Reisen in die Herkunftsländer der Familie, wo die Kinder durch das ‚Sprachbad‘ z.T. große Fortschritte machen und auch die Relevanz der Sprache noch mehr zu schätzen lernen (vgl. Alara, 10.4). Anhand der Beschreibung der Sprachpraxis der Eltern wird beim Vergleich von Requena und Yves ein interessantes Detail sichtbar, das zeigt, wie die Strategien der Eltern mit den Reaktionen der Umwelt korrespondieren. So räumt Requena ein, dass sie bei aller Konsequenz dennoch ins Deutsche wechselt, wenn sie mit ihren Kindern unter Leuten ist, die kein Spanisch verstehen. Diese würden sich sehr unwohl fühlen, wenn sie nicht verstehen könnten, was sie zu ihren Kindern sage, und daher spreche sie dann aus Rücksicht Deutsch (vgl. Requena, 5.3). Im Gegensatz dazu berichtet Yves von durchweg positiven Reaktionen der Umwelt, wenn er mit seiner Tochter Französisch spreche (vgl. Yves, 17.1). Dementsprechend wechsele er nicht ins Deutsche, wenn Erwachsene dabei seien, die kein Französisch könnten (vgl. Yves, 14.13), und begründet dies auch mit seinem „Standing“: Ihm könne es egal sein, was andere denken, und er sei es gewohnt, „anzuecken“ (vgl. Yves, 17.3). Anhand der Vorstellungen der Eltern über gute Spracherziehung und der Beschreibungen ihrer Sprachpraxis zeigen sich Unterschiede in der Bewältigung der Herausforderung der mehrsprachigen Erziehung und der Zufriedenheit damit. So formuliert Requena sehr deutlich: „Meine Strategie zur mehrsprachigen Erziehung ist aufgegangen“ (Requena, 6.2). Bereits zu Beginn des Interviews betont sie, die Sprachpraxis in ihrer Familie sei „genau so“, wie sie „es möchte“ (Requena, 6.1). Die „gute Strategie“ (Requena, G3), die Eltern für die mehrspra-

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chige Erziehung brauchen, und die konsequent verfolgt werden müsse, scheint in ihrem Fall zum Erfolg zu führen. Die problematische Phase des Kitaeintritts, als die ältere Tochter kein Spanisch mehr sprechen wollte, wurde mithilfe von Konsequenz und vorher überlegten Maßnahmen („Ich gebe dir eine Antwort, wenn du auf Spanisch sprichst.“ (Requena, 4.4)) überwunden. Heute spreche die Tochter sehr gut Spanisch und nutze die Sprache auch durchgehend mit ihr. Requena vermittelt somit eine große Zufriedenheit mit der familiären Sprachpraxis und mit den Ergebnissen im Hinblick auf die sprachlichen Fähigkeiten vor allem ihrer älteren Tochter, und führt dies auf ihre Spracherziehung zurück. Im Gegensatz dazu wird vor allem bei Zefcan deutlich, dass ihre Vorstellungen über gute Spracherziehung nicht mit der familiären Sprachpraxis übereinstimmen und dass dies als unbefriedigend erlebt wird. Ihr Grundsatz, mindestens ein Elternteil solle konsequent die Herkunftssprache sprechen, wird gestützt durch ihre Vorstellung, dass die Kinder besser Türkisch sprechen könnten, wenn die Eltern diese Regel eingehalten hätten. Tatsächlich hätten die Kinder jedoch im Türkischen „einen geringen Wortschatz und einen starken Akzent“, würden „Erklärungen […] besser auf Deutsch“ verstehen und „sich selbst auch mit allem auf Deutsch“ erklären (Zefcan, 11.1). Besonders seit dem Kitaeintritt des ältesten Sohnes und dadurch, dass die Kinder untereinander nur Deutsch sprechen, könnten sie sehr wenig Türkisch. Im Interview berichtet Zefcan, dass sie und ihr Mann sich „jedes Mal vornehmen, zu Hause eigentlich nur Türkisch zu sprechen“, was aber nicht gelänge: „Wir schaffen das nie“ (Interviewtranskript Zefcan). Diese Diskrepanz zwischen Ziel, Strategie, Umsetzung und Ergebnis gewinnt noch an Gewicht durch die Bedeutung, die Zefcan der Beherrschung der nichtdeutschen Familiensprache für die Ausbalancierung der Identität zuschreibt. Da die Kinder wenig Türkisch könnten, fühlten sie sich nicht als Türken (Zefcan, 12.1). Gleichzeitig wünscht sich Zefcan, dass die Kinder gut Türkisch könnten, damit sie „ihre türkischen Anteile kennen und verstehen“ können (Zefcan, 3.3). Eine ausbalancierte Identität könne jedoch nur von den Eltern vermittelt werden, wenn diese selbst beide Sprachen gut beherrschten (Zefcan, 2.2). Die Feststellung, dass die Eltern selbst „weder türkisch noch deutsch“ seien und daher „hier nicht zurecht [kommen] und dort auch nicht“ (Zefcan, 10.1), zeigt schließlich, dass der beschriebene Zustand eines sowohl sprachlichen als auch kulturellen ‚Weder-noch‘ als nicht zufriedenstellend erlebt wird. Da die Eltern es aber nicht schaffen, den Kindern durch mehr Input im Türkischen eine gleichmäßigere Mehrsprachigkeit zu vermitteln, wird demensprechend befürchtet, dass die Spracherziehung den Kindern eigentlich nicht die Chancen für eine Ausbalancierung ihrer Identität bietet, die sie gerne bieten möchte. Somit wird im Falle Zefcans am stärksten deutlich, wie weitreichend das Auseinanderfallen

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von Zielen der mehrsprachigen Erziehung und Sprachpraxis bzw. (momentaner) Zielerreichung sein kann. Die von ihr selbst als mangelhaft empfundene Vermittlung des Türkischen, die u.a. dem eigenen mehrsprachigen Unvermögen geschuldet ist, führt dazu, dass die Kinder ihre „türkischen Anteile“ (Zefcan, 3.3) nicht wirklich kennenlernen bzw. aktiv leben können. Die eigene, als ‚Wedernoch‘ erlebte sprachliche und kulturelle Mischung wird so an die Kinder weitergegeben, was angesichts des ursprünglichen Zieles einer ausbalancierten mehrsprachigen Identität als unbefriedigend erlebt wird. 8.2.4 Wie beschreiben die Eltern die Mehrsprachigkeit der Kinder? Die sprachliche Entwicklung der Kinder wird von den Eltern sehr unterschiedlich beschrieben, was u.a. mit der Unterschiedlichkeit der sprachlichen Konstellationen in den Familien und dem Alter der Kinder in Verbindung gebracht werden kann. Sowohl Zefcans als auch Alaras Kinder sprechen hauptsächlich Deutsch, wobei sich Alaras Sohn aus ihrer Sicht aktiv auch das Türkische erarbeitet. Auch die Tochter von Yves spricht hauptsächlich Deutsch, wobei sie den Vater auf Französisch versteht und einzelne französische Worte verwendet. In diesen drei Familien wird von einem oder beiden Elternteilen viel Deutsch gesprochen. Vor allem Requena berichtet hingegen, dass ihre ältere Tochter mit ihr ausschließlich Spanisch spricht. Gleichzeitig spreche sie auch gut Deutsch, so Requena. Auch Olgas ältere Tochter spricht mit der Mutter Russisch und außerdem mit dem Vater Spanisch und in der Kita Deutsch. Alle drei Sprachen beherrscht sie laut Olga auf einem „Supermarktniveau“ (Olga, 6.1). Damit scheint im Vergleich unter den Kindern bei den älteren Töchtern von Olga und Requena die Mehrsprachigkeit am stärksten ausgeprägt zu sein. Gleichzeitig nehmen Olga und Requena für die mehrsprachige Erziehung am ehesten auch außerfamiliäre Bildungseinrichtungen in Anspruch. So berichtet Requena, dass sie bewusst eine Kita gesucht habe, wo ihre Tochter gut Deutsch lernen konnte (Requena, 4.3), und Olga ist froh über den spanischen Input in der Kita und hat ihre Tochter auf einer spanisch-deutschen Grundschule angemeldet. Gemeinsam ist Olga und Requena außerdem im Gegensatz zu den anderen drei Untersuchungspartnerinnen, dass sie selbst nicht in Deutschland aufgewachsen sind, sondern mit fünf bzw. zehn Jahren erst vergleichsweise kurz in Deutschland leben. Als Einzige betont Olga als weiteren wichtigen Faktor für die Mehrsprachigkeit der Kinder auch deren Talent für das Erlernen von Sprachen. So habe ihre ältere Tochter auch deswegen weniger Mühe mit den drei Sprachen, weil sie mehr Talent habe als die jüngere. Wenn Kinder wenig Talent für Sprachen hät-

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ten, würden sie eher die Umgebungssprache lernen und die nichtdeutsche Familiensprache könne sich dann nicht so gut entwickeln, so Olga. Dass die Kinder mit weniger Talent sich auf die Umgebungssprache konzentrierten, liegt laut Olga daran, dass es für die Kinder wichtig sei, sich mit einer Sprache mit möglichst vielen Leute in ihrer Umgebung verständigen zu können. Gemeinsam ist allen Eltern, dass sie das Erlernen der deutschen Sprache nicht als problematisch für ihre Kinder beschreiben. Bis auf die Tochter von Yves wird über alle Kinder gesagt, sie hätten vor dem Eintritt in die Kita kein oder sehr wenig Deutsch gesprochen. Die Phase des Kitaeintritts wird jedoch von keinem Elternteil etwa als schwierige Phase der Sprachlosigkeit o.ä. dargestellt. Probleme, von denen die Eltern aus dieser Zeit berichten, beziehen sich, wie bereits erwähnt, eher auf den Rückgang der nichtdeutschen Familiensprache. Mehrere Eltern betonen, wie mühelos und schnell Kinder neue Sprachen aufnehmen würden. Dabei ist besonders Olgas Aussage interessant, die beobachtet, dass sich die Kinder selbst durch ihre Sprachenmischung und die unvollständige Beherrschung der Sprachen nicht eingeschränkt fühlen. Sie seien in der Lage, mehrere Sprachen nach und nach zu lernen und könnten mit dem jeweiligen Stand der Unvollständigkeit gut leben. Während sie z.B. bei ihrer jüngeren Tochter beobachte, dass sie sich alle drei Sprachen nur sehr langsam aneigne, habe diese selbst damit gar kein Problem und sei sehr zufrieden. Bei den Einschätzungen der Eltern über die Sprache(n) der Kinder wird wiederum deutlich, dass diese aus Sicht der Eltern eine wichtige Rolle für die Identität und das Selbstverständnis der Kinder spielen. So fühlen sich die Kinder von Zefcan ihrer Aussage zufolge als Deutsche und nicht als Türken, da sie nur wenig Türkisch sprechen. Auch Requena berichtet, dass sich ihre Tochter in erster Linie als Deutsche fühlt, und dies vor allem aufgrund ihrer sprachlichen Fähigkeiten im Unterschied zu Kindern, die nicht so gut Deutsch könnten. Alara betont, dass ihr Sohn nicht thematisiere, ob er Deutscher oder Türke sei, da diese Frage auch für die Eltern kein Thema sei. Allerdings berichtet auch Alara, dass ihr Sohn das „minimale Bewusstsein darüber, dass in seiner Familie etwas anders ist als bei anderen“ am ehesten daran festmacht, „dass in seiner Familie noch eine weitere Sprache gesprochen wird“ (Alara, 15.1). 8.2.5 Welche Rolle spielt die Kita aus Sicht der Eltern? Anhand der Ziele und Strategien der Eltern wurde deutlich, dass die mehrsprachige Erziehung den Eltern sehr wichtig ist und dass vor allem die Vermittlung und Erhaltung der nichtdeutschen Familiensprache eine Herausforderung für die Eltern darstellt. Die Kita tritt dabei zunächst vor allem als Vertreterin der Mehr-

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heitssprache Deutsch auf. So berichten fast alle Eltern, dass die Kinder bis zum Kitaeintritt fast ausschließlich die nichtdeutsche Familiensprache und durch den Kitaeintritt sehr schnell fast nur noch Deutsch gesprochen hätten. Bei einigen scheint somit die Herausforderung des Erhalts der Herkunftssprache überhaupt erst durch den Eintritt der Kinder in eine deutsche Kita entstanden zu sein. Teilweise wird die Kita als Vermittlerin des Deutschen aber auch aktiv in die mehrsprachige Erziehung eingebaut. So betont Requena, dass sie ihre Tochter bewusst drei Jahre lang zu Hause auf Spanisch erzogen habe, um dann gezielt eine Kita zu suchen, in der „akzent- und fehlerfrei“ Deutsch gesprochen werde (Requena, 8.3). Auch Olga sieht die Vermittlung des Deutschen vor allem als Aufgabe der Kita an (Olga, G5). Neben der Sprache wird der Kita von ihr auch eine Rolle bei der Vermittlung deutscher Bräuche und ‚Tugenden‘ (vgl. Olga 1.9; 3.1) zugeschrieben, was z.B. eine Erziehung zu Pünktlichkeit und Selbstständigkeit beinhalte. Auch Zefcan betont, dass es die Aufgabe der Kita sei, als „deutsche Institution“ nicht nur die deutsche Sprache zu vermitteln, sondern die Kinder auch in die „deutsche Kultur“ hineinwachsen zu lassen (Zefcan, G5). Im Gegensatz dazu wird die Kita besonders von Yves, aber auch von Olga als Vermittlerin von „Vielfalt und Offenheit“ (Yves, G6) gesehen. Olga hebt die Internationalität des Teams als besonderes Qualitätsmerkmal der Kita hervor, da die Kinder so ihren Horizont erweitern könnten und neue Fragen hätten (Olga,11.5). Auch seien die verschiedenen „Mentalitäten“ (Olga, 11.7) der Erzieherinnen hilfreich bei unterschiedlichen pädagogischen Anforderungen. Des Weiteren wünschen sich Yves, Olga und Requena explizit eine Unterstützung der Mehrsprachigkeit bzw. der nichtdeutschen Familiensprache von der Kita. Yves hätte in der Kita gerne eine französischsprachige Ansprechpartnerin für seine Tochter (Yves, 16.3), Requena überlegt, für ihre jüngere Tochter eine spanisch-deutsche Kita zu suchen (Requena, 8.5), und Olga empfindet es als großes Glück, dass es in der Kita ihrer Töchter neben einer deutschen auch eine spanischsprachige Fachkraft gibt (Olga, 11.3). Einen Kontrast zu dieser Erwartung an die Kita, neben dem Deutschen auch die Mehrsprachigkeit und die Interkulturalität zu fördern, stellt die Haltung von Zefcan dar, die zunächst betont, eine zweisprachige Erziehung in der Kita sei nicht nötig, da das Türkische Familiensache sei (Zefcan, 6.2). Auch bei Alara ist eine ähnliche Tendenz festzustellen, wenn auch nicht in dieser expliziten Form. Sie hat klare Vorstellungen über die mehrsprachige Erziehung im Elternhaus, bezeichnet das Türkische dabei immer wieder als Sprache der Familie und als „Familiending“ (Alara, 5.6) und betont, dass der Zugang zu einer Sprache „emotionaler“ sei, wenn man sie in der Familie und nicht in der Schule lerne (Alara, 14.8). Sie nennt es zwar ein „gutes Angebot“, wenn jemand in der Kita Türkisch

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sprechen würde (Alara, 12.2), formuliert dies jedoch eher allgemein und nicht als konkretes Bedürfnis in Bezug auf die Kita ihres Sohnes. Ihre Erziehung zur Mehrsprachigkeit versteht sie – ebenso wie Zefcan – als Aufgabe der Familie und richtet – anders als die drei anderen – in dieser Hinsicht keine Erwartungen oder Wünsche an die Kita.

8.3 SPUREN DES MIGRATIONSGESELLSCHAFTLICHEN KONTEXTES BEI DEN ELTERN Im Sinne der zweiten Fragestellung, die sich auf eine Untersuchung mehrsprachigen Aufwachsens im Kontext migrationsgesellschaftlicher Subjektivierungsprozesse bezieht, wurden die subjektiven Theorien der Eltern auch aus dieser Perspektive heraus analysiert. Die Ergebnisse zeigen, dass Sprache, Mehrsprachigkeit und mehrsprachige Erziehung in verschiedenerlei Hinsicht für eine Verortung im migrationsgesellschaftlichen Kontext bedeutsam gemacht und auch von den Untersuchungspartnerinnen selbst herangezogen werden. Als dominante Codes fallen in diesem Zusammenhang Begriffe wie ‚Identität‘, ‚Zugehörigkeit‘ und ‚Sicherheit‘ auf, die die Eltern in ihren subjektiven Theorien mit Mehrsprachigkeit und Spracherziehung in Verbindung bringen. 8.3.1 Sprache als ‚Identifikationsanker‘ und als Zeichen für Zugehörigkeit Bei der Analyse der handlungsleitenden Vorstellungen der Eltern (8.2) wurde deutlich, dass Sprache von den Untersuchungspartnerinnen in einen engen Zusammenhang mit Identität gestellt wird. Vor allem Zefcan, Alara und Yves, also diejenigen Eltern, die selbst in Deutschland als Kinder von Migrantinnen und Migranten aufgewachsen sind, schreiben der Sprache eine große Bedeutung für die Verortung ihrer eigenen Identität zu. Über ihre eigene Sprachigkeit definieren diese drei ihre Identität als hybrid, allerdings mit sehr unterschiedlichen Vorzeichen. Während Zefcan sich selbst als ‚Weder-noch‘ (vgl. Zefcan, G3) beschreibt, betont Alara ein erfolgreiches „Sowohl-als-auch“ (Alara, G2) und Yves beschreibt sich als „ganz persönliche Mischung“ (Yves, G3). Alle drei verweisen dabei auf ihre Sprachen bzw. thematisieren ihre Identität im Rahmen der ursprünglichen Frage nach der Bedeutung von Sprache. Dieser Zusammenhang wird von den Untersuchungspartnerinnen außerdem qualifiziert, indem bei Alara und Yves ihre als positiv erlebte Mehrsprachigkeit mit einer als positiv erlebten hybriden Identität einhergeht, während bei Zefcan eine als mangelhaft erlebte

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Beherrschung beider Sprachen damit in Verbindung gebracht wird, dass sie „nirgends richtig hin[gehört]“ (Zefcan, G3). Dominante Zugehörigkeitsordnungen des migrationsgesellschaftlichen Kontextes werden sichtbar, wo die Untersuchungspartnerinnen beschreiben, wie von außen versucht wird, sie einer natio-ethno-kulturellen Schublade zuzuordnen. Vor allem Yves und Alara beschreiben, wie sie immer wieder nach ihrer Zugehörigkeit gefragt werden. Bei Yves führt dies dazu, dass er den ‚Migrationshintergrund‘ als Migrationsvordergrund bezeichnet, da die nichtdeutsche Herkunft seiner Eltern von anderen regelmäßig in den Vordergrund gestellt werde (Yves, G1). Die Herkunft seiner Familie sei aber nicht in erster Linie für ihn ein Anhaltspunkt zur Selbstverortung, sondern diene anderen als Kriterium, um ihn zu positionieren. Auch Alara betont z.B., dass Unterschiede zwischen ihr und deutschen Müttern von ihr selbst gar nicht mehr wahrgenommen, wohl aber von anderen benannt würden (Alara, 13.5). Zudem nimmt sie eine klare Hierarchisierung wahr, der zufolge „Menschen aus Frankreich, Spanien oder England […] als Ausländer in eine ganz andere Güteklasse einsortiert“ (Alara, 14.10) werden als Menschen aus der Türkei. Um diesen als unpassend empfundenen Positionierungen von außen zu begegnen, setzen Alara und Yves ihre Sprachkenntnisse als Nachweis ein. Sie fühlen sich durch Nachfragen und Zuschreibungen aufgefordert, ihre Fähigkeiten im Deutschen und im Französischen bzw. Türkischen als Ausweis für ihre doppelte bzw. hybride Identität vorzuweisen. So braucht Alara „die türkische Sprache als Identifikationsmittel“, um zu zeigen, dass sie auch „einen direkten Bezug zu […] [ihrer] türkischen Herkunft“ hat (Alara, 14.6). Yves beschreibt, dass die französische Sprache ihm helfe, seine „Identität als Franzose bei anderen nachzuweisen“ (Yves, 4.1). Eine zweite Stufe dominanter Zugehörigkeitsordnungen zeigt sich, wo es nicht um die Frage geht, ‚echter Franzose‘ bzw. ‚echte Türkin‘ zu sein, sondern um die Frage, ob Yves und Alara ‚auch Deutsche‘ sind. Hier scheint die Sprachbeherrschung nicht auszureichen, um ‚wirklich‘ deutsch zu sein. Beide berichten, dass sie trotz ihrer sehr guten Deutschkenntnisse nicht als ‚richtige‘ Deutsche anerkannt werden: „Für viele spielt es keine Rolle, dass ich viel besser Deutsch spreche als sie, viel mehr deutsche Literatur kenne als sie und mit der deutschen Kultur vertraut bin, trotzdem würden sie es mir absprechen, einfach Deutscher zu sein wie sie, weil meine Eltern es nicht sind“ (Yves, 3.11). Alara beschreibt hierzu, dass es immer langer und ermüdender Diskussionen bedürfe, um zu erklären, dass sie „von nirgendwo anders“ kommt und nirgendwo hin zurückgehen wird (Alara, 14.4; 14.5). Auch bei Olga und Requena, den beiden selbst zugewanderten Müttern, zeigt sich, dass Sprachbeherrschung eine Bedingung für Zugehörigkeit und Identität

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ist, z.B., wenn Olga betont, dass sie sich aufgrund der Sprache in Deutschland immer „als Ausländerin“ (Olga, 4.3) fühle. Auch berichtet sie über herablassende Reaktionen auf ihre Sprache, aufgrund derer sie „am liebsten weggehen und kein Deutsch mehr sprechen“ wollte (ebd.). Requena ist der Meinung, die Sprache öffne einem die Tür zu einer Kultur. Allerdings weist auch sie darauf hin, dass selbst sehr gute Sprachkenntnisse nicht unbedingt eine vollwertige Zugehörigkeit ermöglichen, und betont: „Um die gleichen Möglichkeiten zu haben, muss man vielleicht sogar dort geboren sein“ (Requena, G6). Beide erwähnen auch weitere Erfahrungen, bei denen ihnen die Grenzziehungen der Migrationsgesellschaft deutlich gemacht wurden. So berichtet Requena, dass ihre berufliche Qualifikation als Erzieherin in Deutschland nicht anerkannt wird und sie hier sowohl ihren Schulabschluss als auch die Ausbildung wiederholen müsste, um in ihrem Beruf arbeiten und das gleiche Gehalt bekommen zu können (Requena, 1.7). Olga hat die Erfahrung gemacht, dass ihre eigene ukrainische Herkunft in Bezug auf ihre Tochter mehr wiegt als deren spanischer Pass: Zumindest in den Augen eines deutschen Meldebeamten wird ihre Tochter aufgrund der Herkunft der Mutter nie Europäerin sein können (Olga, 4.1). Auch für die Identitätsbildung der Kinder spielen Sprache und mehrsprachiges Aufwachsen aus Sicht der Eltern eine wichtige Rolle. So soll die Mehrsprachigkeit den Kindern eine Ausbalancierung ihrer Identität ermöglichen, indem Sie mit den verschiedenen Sprachen auch die unterschiedlichen Bezüge der Familie kennenlernen und ihnen die Türen zu den verschiedenen Kulturen offenstehen. Hier zeigen sich jedoch ebenfalls die Auswirkungen hierarchisierender Zugehörigkeitsordnungen auf die subjektiven Theorien der Eltern, wo sie eine Bedrohung dieses angestrebten Gleichgewichts befürchten. So ziehen Alara und Yves aus ihren eigenen Erfahrungen mit Etikettierungen und Zuschreibungen den Schluss, dass ihre Kinder für die Ausbildung einer selbstbestimmten hybriden Identität gestärkt werden müssen. Sie sollen „sich nicht selbst in der Integration verlieren“ (Alara, 7.7) und „von Zuschreibungen nicht überrascht und von den Füßen gerissen werden“ (Alara, 7.8). Die Mehrsprachigkeit soll den Kindern „als Anker dienen“ (Alara, 7.8) und ihnen helfen, „ihre Bezüge selbst [zu] kennen und sich positionieren [zu] können“ (Alara, 7.7). Yves möchte seiner Tochter mit der Mehrsprachigkeit etwas geben, womit sie ihre „Identität als Weltbürgerin“ (Yves, 7.5) ggf. gegen pauschale Urteile verteidigen kann. Der migrationsgesellschaftliche Kontext fließt also in Form von Zuschreibungen (‚richtiger‘ Deutscher bzw. ‚Ausländerin‘) in die Prozesse der Identitäts-

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bildung1 ein, indem Sprache und Sprachbeherrschung bedeutsam (gemacht) werden. Gleichzeitig wird diese Bedeutsamkeit von den Betroffenen übernommen, wenn sie ihre Sprachen für eine eigene Positionierung nutzen. Auch in Bezug auf die Kinder soll die Mehrsprachigkeit zur Entwicklung einer hybriden Sprachidentität verhelfen, die eine selbstbestimmte Positionierung ermöglicht. Damit werden in den subjektiven Theorien nicht nur Spuren machtvoller Ordnungen anhand von Sprache und Identität sichtbar, sondern es zeigt sich auch, wie diese Ordnungen von den Untersuchungspartnerinnen für eine eigene Positionierung umgedeutet werden können. Am deutlichsten zeigt sich bei Alara und Yves eine solche Resignifizierung dominanter Ordnungen anhand der eigenen Sprachigkeit. Beide beschreiben, dass sie manchmal von anderen als Deutsche bezeichnet werden, was ihnen aber ihrer Meinung nach nicht gerecht wird. Dabei würden die türkischen, französischen, marokkanischen Anteile bzw. ihre multikulturelle Identität als Ganzes „einfach aus[geblendet]“ (Alara, 14.9). Eine hierarchische Ordnung wird in dieser Erfahrung des Eingeordnetwerdens als Deutsche bzw. Deutscher auch sichtbar, wenn Yves z.B. berichtet: „Meistens ist es nett gemeint, mich als Deutschen zu bezeichnen: ‚Du bist einer von uns‘“ (Yves, 3.4). Zugehörigkeit wird hier durch Deutsch-sein vermittelt und gleichzeitig wird eine Wertigkeit eingebaut, indem erwartet wird, dass sich die so angerufenen drüber freuen. Es scheint es besser zu sein, als Deutsche bzw. Deutscher eingeordnet zu werden denn als Franzose, Marokkaner oder Türkin. Yves und Alara jedoch weisen solche Einordnungen zurück und erkennen damit auch die damit einhergehende Hierarchisierung nicht an. Indem sie stattdessen ihre Identität als Franzose bzw. Türkin anhand ihrer Sprachkenntnisse betonten, machen sie eine alternative Bewertung des ‚Nicht-deutsch-seins‘ geltend. Sie betonen: „ich bin auch so, ich gehöre auch zu denen“ (Alara, 14.7) bzw. „Ich bin multikulturell“ (Yves, 2.6) und bestehen damit auf einer positiven Anerkennung ihrer „ganz persönlichen Mischung“ (Yves, G3) von deutschen und nichtdeutschen Anteilen. 8.3.2 Sprache als Sicherheit und Schutz Auch anhand des Begriffspaares ‚Sicherheit‘ und ‚Schutz‘, das die Untersuchungspartnerinnen im Zusammenhang mit Sprache formulieren, kann der Ein-

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Identität wird hier als „Ergebnis machtvoller Prozesse einer Subjektivierung, die entlang zumeist binär strukturierter und hierarchisch organisierter Differenzordnungen realisiert wird“ (Mecheril 2014: 17) verstanden (vgl. auch Kapitel 5.1). Gerade anhand des hier beschriebenen Vorgangs wird besonders deutlich, was damit gemeint ist.

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fluss migrationsgesellschaftlicher Ordnungen aufgezeigt werden. So ist für Alara Deutsch „die Sprache der 100%igen Ausdruckssicherheit“ (Alara, G1), Requena betont, Kinder bräuchten „sprachliche Fähigkeiten, um sich sicher […] zu fühlen“ (Requena, G5) und Olga hält fest, dass man sich ohne Sprachkenntnisse „schutzlos“ fühle (Olga, G2). Diese Äußerungen deuten auf eine Unsicherheit bzw. Schutzlosigkeit hin, der man ohne ‚angemessene‘ Sprachkenntnisse ausgesetzt sei. Die Erwähnung von Schutz und Sicherheit bezieht sich dabei jeweils auf Sprachkenntnisse im Deutschen und nicht auf diejenigen in der nichtdeutschen Familiensprache. Während letztere in einen positiven Zusammenhang mit ‚Emotionen‘ und ‚Familie‘ und auch mit ‚Geborgenheit‘ gebracht werden, scheint es beim Deutschen vor allem darum zu gehen, handlungsfähig zu sein und sich sicher bzw. nicht schutzlos zu fühlen. Bezogen auf die Erwachsenen sind Berichte über eine Verunsicherung durch die deutschsprachige Umgebung, die Deutschkenntnisse nötig macht, bei Requena und Olga zu finden. So bedauert Olga z.B., dass sie sich „nicht so gut verteidigen“ könne, „wenn jemand seine schlechte Laune an […] [ihr] auslässt“ (Olga, 5.9) und sie hat schon häufiger erlebt, dass Deutsche über ihre sprachlichen Fehler lachen (vgl. Olga, 4.3). Auch Requena fühlt sich nach eigenen Angaben immer unsicher im Deutschen. Dennoch wechselt sie im Gespräch mit ihren Kindern ins Deutsche, wenn in der Umgebung jemand kein Spanisch versteht, weil sie glaubt, dass Angehörige der Mehrheitssprache dies von ihr erwarten (vgl. Requena, 5.3). Die Begriffe Schutz und Sicherheit werden auch in Bezug auf die Kinder mit Sprache verbunden. So ist das zentrale Anliegen von Requena, dass sich die Kinder „sicher, wertvoll und zugehörig“ (Requena, G5) fühlen. Wenn es dazu nötig sei, dass sich die Kinder eher als Deutsche fühlen, sei ihr das recht. Requena macht deutlich, wie wichtig Sprachkenntnisse in der Mehrheitssprache für die Kinder – spätestens ab dem Kitaeintritt – sind, und wie eng diese Notwendigkeit mit der Selbstwahrnehmung der Kinder als Deutsche zusammenhängen. Kinder, die im Kitakontext die Sprache nicht beherrschen, fühlen sich laut Requena „weniger wert“ und sind „aggressiv oder ängstlich“ (Requena, 1.3). Ihrer Tochter hingegen gebe es Sicherheit, dass sie – gerade im Vergleich zu anderen Kindern – sehr gut Deutsch spreche und sie fühle sich dadurch – vor allem im Kitakontext – eher als Deutsche denn als Bolivianerin. Im Interesse von Sicherheit und Zugehörigkeit findet es Requena in Ordnung, dass sich ihre Tochter nicht als Bolivianerin fühlt (Requena, 7.8). Hier zeigt sich einerseits, dass der migrationsgesellschaftliche Kontext – hier in Gestalt der Kita – Sprachkenntnisse im Deutschen einfordert, und andererseits, welche Wirkung diese Forderung auf Requena und ihre Tochter hat, die sie im Interesse von Sicherheit und Zugehörigkeit direkt übernehmen.

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Auch bei Olga wird dieser Zusammenhang sichtbar. Sie beschreibt, wie Kinder aus anderen russischen Familien nach dem Kitaeintritt nur noch Deutsch gesprochen, kein Russisch mehr gelernt und auch von ihren Eltern eine Kommunikation auf Deutsch verlangt hätten. Olga schließt daraus, dass diese Kinder in der Kita lernen würden, dass sie nur mit der deutschen Sprache ihre Ziele erreichen. Wenn sie darüber hinaus feststellten, dass auch die Eltern diese wirkungsvolle Sprache verstehen, würden sie schließlich gar nicht mehr in die nichtdeutsche Familiensprache wechseln. Der migrationsgesellschaftliche Kontext stellt sich so in beiden Beispielen als machtvoller mehrheitssprachlicher Rahmen dar, durch den Eltern und Kinder im Interesse von Sicherheit, Zugehörigkeit und Handlungsfähigkeit dazu bewegt werden, innerhalb dieses Rahmens auf Deutsch zu kommunizieren. Diese Übernahme der hierarchischen (Sprachen-)Ordnung beschränkt sich allerdings nicht auf den mehrheitssprachlichen Rahmen der Kita. Wie in beiden Beispielen deutlich wird, kann sich die Vorrangstellung des Deutschen auch in der Familieninteraktion und in der Selbstbeschreibung fortsetzen, wo sie andere Anteile – wie hier die Selbstbeschreibung als Bolivianerin oder die Kommunikation auf Russisch – teilweise verdrängt. 8.3.3 Mehrsprachigkeit als Strategie für eine selbstbestimmte Positionierung Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass und wie mehrsprachiges Aufwachsen als Teil migrationsgesellschaftlicher Subjektivierungsprozesse zu verstehen ist. Anhand der Begriffe Identität, Zugehörigkeit, Sicherheit und Schutz, die die Untersuchungspartnerinnen mit Sprache und Spracherziehung in Verbindung bringen, wurde vor allem deutlich, wie Sprache und sprachliche Fähigkeiten Zugehörigkeit und Identität konstruieren und dabei Schutz und Sicherheit vermitteln, aber auch Unsicherheit und Ausgrenzung bewirken können. Die Dominanz der deutschen Sprache außerhalb der Familie, aber auch Erfahrungen mit Zuschreibungen, Nichtanerkennung und abwertenden Äußerungen bewegen die Untersuchungspartnerinnen dazu, sprachliche Fähigkeiten im Deutschen mit Sicherheit und Handlungsfähigkeit zu verbinden. Anhand der subjektiven Theorien wird jedoch nicht nur die Rolle der Sprache als Vermittlerin subjektivierender gesellschaftlicher Ordnungen deutlich, sondern ebenso die Bedeutung von Sprache für die Konstruktion eigener Identitätsentwürfe im Kontext von Hybridität. So lassen sich zumindest vier der fünf subjektiven Theorien auch als Entwurf sprachlicher Identität lesen, der für sich in Anspruch nimmt, eine ‚ganz persönliche Mischung‘ abzubilden und diese auch den Kindern zu ermöglichen. Wie bereits im Hinblick auf Sprache als

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„Identifikationsanker“ (8.5.1) deutlich wurde, betonen besonders Alara und Yves die Hybridität ihrer Identität und belegen dies mit ihrer Mehrsprachigkeit. Yves beschreibt in diesem Zusammenhang, wie er sich seine „eigene Identität aus verschiedenen Einflüssen“ selbst zusammenbaut und sich daher „nicht verstellen“ muss (Yves, 2.11). Alara lehnt dementsprechend den Integrationsbegriff ab und hält fest, dass sie sich selbst „nie als Integrationsfall gesehen“ habe (Alara, 13.1). Auch den Kindern soll eine solche eigenständige Positionierung ermöglicht werden, die Yves als „Rosinen picken“ (Yves, 13.3) bezeichnet. Die Mehrsprachigkeit bzw. die nichtdeutsche Familiensprache dient dabei als „Hafen“ (Yves, G5), „Anker“ (Alara, G3) und „Leuchtturm“ (Yves, 14.15) einer selbstbestimmten Ausbalancierung der eigenen Identität. Yves bezeichnet Sprache als „Medium Nummer eins“ um seiner Tochter ein „selbstständiges Auswählen für ihre Identität zu ermöglichen“ (Yves, 9.6). Dabei geht es beiden auch darum, hierarchische Ordnungen, die als Zuschreibungen an sie herangetragen werden, zu entkräften und umzudeuten. Bei Requena und Olga spielt die Behauptung einer eigenen hybriden Identität anhand der Mehrsprachigkeit keine zentrale Rolle. Im Hinblick auf ihre Kinder wünschen aber auch sie sich, dass die Beherrschung der verschiedenen Sprachen sie in die Lage versetzt, sich im mehrheitssprachlichen Alltag zurecht zu finden und gleichzeitig ihre familiären Wurzeln aufzugreifen. Angesichts des migrationsgesellschaftlichen Kontextes, der den Eltern in Form von Zuschreibungen und Ausgrenzungen, von Möglichkeiten, aber auch Anforderungen und Bedingungen entgegentritt, bietet die mehrsprachige Erziehung Kindern und Eltern die Chance einer selbstbestimmten Positionierung, in der Vielfalt und Mehrfachzugehörigkeit positiv bewertet werden. Damit geht die Erziehung zur Mehrsprachigkeit für die Untersuchungspartnerinnen über das Ziel der Beherrschung mehrerer Sprachen weit hinaus. Die Tatsache, dass Alara, Yves, Olga und Requena eine Praxis mehrsprachiger Erziehung betreiben, die von differenzierten Vorstellungen, Zielen und Strategien getragen wird, und dass sie alle über ein (überwiegend) gutes Gelingen ihrer Spracherziehung berichten, zeigt, dass Mehrsprachigkeit hier als Strategie für die Behauptung von Hybridität und die Vermittlung von Vielfalt und Offenheit eingesetzt wird und diese auch weitgehend zu stützen vermag. Auch der Fall Zefcans unterstreicht den Zusammenhang von gelingender Mehrsprachigkeit und einer ausbalancierten hybriden Identität, allerdings zeigt sich hier besonders die Behinderung einer selbstbestimmten Positionierung über Sprache durch machtvolle Ordnungen im migrationsgesellschaftlichen Kontext. Auch Zefcan wünscht sich, dass ihre Kinder neben dem Deutschen die türkische Sprache lernen, damit sie „ihre türkischen Anteile kennen und verstehen“

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(Zefcan, 3.3). Gleichzeitig wird bei ihr besonders deutlich, wie schwierig es ist, die nichtdeutsche Familiensprache zu erhalten und die mehrsprachige Erziehung im Alltag konsequent zu verfolgen. Als einzige Untersuchungspartnerin beklagt sie die geringen Kenntnisse ihrer Kinder in der nichtdeutschen Familiensprache und das Nichtgelingen einer mehrsprachigen Praxis im Familienalltag („Wir schaffen das nie“; Interviewtranskript Zefcan). Darüber hinaus fällt bei ihr auf, dass sie, obwohl in Deutschland aufgewachsen, keine gelungene Hybridität im Sinne der ‚ganz persönlichen Mischung‘ im ‚Sowohl-als-auch‘ wie Alara und Yves für sich in Anspruch nimmt. Stattdessen beschreibt sie einen Zustand des ‚Weder-noch‘ und erklärt: „Wir sind sowohl sprachlich als auch kulturell eine Mischung, sind weder türkisch noch deutsch und gehören nirgends richtig hin“ (Zefcan, G3). Zwar bezeichnet sie sich und ihre Familie als „Deutsch-Türken“ mit einer „eigenen Kultur“ (Zefcan, 10.1), dies führe jedoch dazu, dass sie „weder türkisch noch deutsch“ (ebd.) seien und „hier nicht zurecht [kommen] und dort auch nicht“ (ebd.). Somit versteht auch Zefcan gelingende Mehrsprachigkeit als Mittel für eine ausbalancierte hybride Identität. In ihrem eigenen Fall jedoch bringt sie die nicht gelingende Mehrsprachigkeit mit einer als ‚Weder-noch‘ empfundenen Identität, mit fehlender Zugehörigkeit und einem ‚NichtZurechtkommen‘ in Verbindung. Sicherlich sind am Zustandekommen dieser Selbsteinschätzung verschiedene Faktoren beteiligt, über die teilweise nur spekuliert werden kann, was an dieser Stelle unterlassen wird. Der von Zefcan beschriebene Zustand des sprachlichen und kulturellen ‚Weder-noch‘ kann jedoch mit weiteren Besonderheiten in Zefcans subjektiver Theorie in Zusammenhang gebracht werden. So erwartet Zefcan trotz der beklagten Probleme mit der mehrsprachigen Erziehung in der Familie ausdrücklich keine Unterstützung seitens der Kita. Diese sei nicht für eine ergänzende Förderung der nichtdeutschen Familiensprache zuständig; vielmehr sei die Kita eine „deutsche Institution, wo die Kinder vor allem die deutsche Sprache sprechen und erweitern und in die deutsche Kultur hineinwachsen.“ (Zefcan, G5). Außerdem beschreibt sie als einzige Untersuchungspartnerin Erfahrungen mit expliziten Sprachverboten für die nichtdeutsche Familiensprache in Bildungseinrichtungen. In der Kita sei es den beiden älteren Kindern „strikt verboten“ (Interviewtranskript Zefcan) gewesen, Türkisch zu sprechen, und auch in ihrer eigenen Schulzeit habe sie sich durch Sprachverbote diskriminiert gefühlt (Interviewtranskript Zefcan). Interessant ist, dass Zefcan hier selbst einen Zusammenhang herstellt zwischen ihren Erfahrungen und ihrer Vorstellung, eine deutsche Kita sei nicht für Mehrsprachigkeit oder die Vermittlung der nichtdeutschen Familiensprache zuständig: „vielleicht, weil ich nichts anderes kenne, und vielleicht bin ich da auch deutsch erzogen worden von der deutschen

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Schule“ (Interviewtranskript Zefcan). Die migrationsgesellschaftliche Hierarchisierung der Sprachen, die sich in den Sprachverboten von Kita und Schule widerspiegelt, scheint sich als subjektivierende Ordnung in Zefcans Selbstverständnis eingeschrieben zu haben. Sie geht davon aus, dass in deutschen Bildungsinstitutionen kein Platz für nichtdeutsche Familiensprachen ist, deren Förderung allein Sache der Familie sei. Das Nichtgelingen der angestrebten Mehrsprachigkeit und die damit verbundene Selbstpositionierung im ‚Weder-noch‘ scheinen so ausschließlich in den Verantwortungsbereich der Familie zu fallen. Somit werden in Zefcans Fall machtvolle subjektivierende Ordnungen des migrationsgesellschaftlichen Kontextes, wie die Ausgrenzung der nichtdeutschen Familiensprache aus den Bildungsinstitutionen und ihr Verweis in den Familienbereich, übernommen, und es findet eine Verinnerlichung dieser Regeln statt. Die Erfahrung, im außerfamiliären Bereich nicht als mehrsprachig anerkannt worden zu sein, scheint zu einer Selbstwahrnehmung als ‚anders‘ in jedem Kontext, als ‚weder hier noch dort zugehörig‘ beigetragen zu haben, anstatt sich wie Yves oder Alara als erfolgreich mehrsprachig und somit als ‚sowohl-als-auch zugehörig‘ zu positionieren. Was bei Zefcan im Unterschied zu Alara und Yves nicht sichtbar stattfindet, ist Resignifizierung im Sinne eines Aufgreifens von Zuschreibungen und einer aktiven Veränderung der Bewertung. Zefcan ist somit die einzige Untersuchungspartnerin, für die Mehrsprachigkeit nicht als Strategie zur Behauptung von Hybridität funktioniert und die nicht anhand von Sprache eine selbstbestimme Positionierung im migrationsgesellschaftlichen Kontext vornimmt. Sichtbar wird bei ihr vielmehr, wie Zuschreibungen und Ausgrenzungen aufgrund hierarchischer Zugehörigkeitsordnungen verinnerlicht werden und dazu führen, sich selbst als nicht zugehörig und in Bezug auf die Mehrsprachigkeit als nicht erfolgreich zu erleben.

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8.4 SUBJEKTIVE THEORIEN DER FACHKRÄFTE Im Folgenden werden die subjektiven Theorien der Fachkräfte dargestellt, indem wiederum das jeweilige Theoriebild schematisch abgebildet und die Argumentationsstruktur aus Grundgedanken und Statements nachgezeichnet wird. Vorangestellt sind jeweils einige Informationen zur Auswahl der Untersuchungspartnerin und zum beruflichen und persönlichen Hintergrund sowie zur Einrichtung, in der die Fachkraft tätig ist. 8.4.1 Sandra Auswahl der Untersuchungspartnerin und Interviewsituation Im Rahmen meiner Vorstellung des Dissertationsprojektes in der Kita, in der Sandra tätig ist, hatte sie sich bereit erklärt, an der Untersuchung zu teilzunehmen. Von der Rekonstruktion ihrer subjektiven Theorie waren interessante Erkenntnisse zu erwarten, weil sie über eine langjährige Berufserfahrung verfügt und immer in Kitas mit vielen mehrsprachig aufwachsenden Kindern gearbeitet hat. Außerdem war Sandra über ihre normale Tätigkeit im Elementarbereich hinaus vier Jahre lang für die gesamte Kita als Sprachfördermultiplikatorin im Rahmen des Bundesprogramms „Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“1 tätig. Das Interview und die kommunikative Validierung wurden im Abstand von zwei Wochen in den Räumen der Kita durchgeführt.

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Im Rahmen des vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderten Bundesprogramms „Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration” wurden von 2011 bis 2015 bundesweit rund 4.000 sog. Schwerpunkt-Kitas gefördert, die einen besonderen Fokus auf die alltagsintegrierte sprachliche Bildung für Kinder unter drei Jahren legten. Das Programm richtete sich insbesondere an Einrichtungen mit einem hohen Anteil an Kindern aus bildungsbenachteiligten Familien oder Familien ‚mit Migrationshintergrund‘: „Die Schwerpunkt-Kitas wurden durch zusätzliche Fachkräfte mit Expertise in der sprachlichen Bildung unterstützt. Die sog. Sprachexpertinnen und Sprachexperten qualifizierten die pädagogischen Fachkräfte in den Kitas in der alltagsintegrierten sprachlichen Bildung von unter Dreijährigen. Außerdem begleiteten und berieten sie die Kita-Teams bei der sprachpädagogischen Arbeit mit den Kindern und der Zusammenarbeit mit den Familien. Zusätzlich unterstützten sie die Schwerpunkt-Kitas dabei, ihre Einrichtungskonzeption zum Thema sprachliche Bildung weiter zu entwickeln.“ (http://sprach-kitas.fruehe-chancen.de/programm/ ueber-das-programm/rueckschau-schwerpunkt-kitas/ zuletzt abgerufen am 26.05. 2019)

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Daten zum beruflichen und persönlichen Hintergrund Sandra war zum Zeitpunkt der Erhebung seit 35 Jahren als Erzieherin tätig. Ihre Ausbildung hat sie mit 17 Jahren nach Abschluss der Realschule in Hamburg absolviert. Nach der Ausbildung war sie ca. 20 Jahre lang in einer konfessionsgebundenen Kita in Hamburg-Altona tätig und arbeitet seit ca. 15 Jahren in einer anderen konfessionsgebundenen Kita im selben Hamburger Bezirk. Im Umfeld beider Kitas leben überdurchschnittlich viele Familien mit ‚Migrationshintergrund‘. Sandra hat selbst zwei Kinder, zum Zeitpunkt der Erhebung 23 und 26 Jahre alt. Sandra hat keinen ‚Migrationshintergrund‘ und ist monolingual deutsch aufgewachsen, allerdings im selben Stadtteil ihrer ersten Wirkungsstätte, d.h. in einem sprachlich und kulturell damals stark durchmischten Wohnumfeld. Zu ihrer Motivation für den Beruf sagt Sandra, dass sie schon immer mit Kindern arbeiten wollte und sich früh für diesen Beruf entschieden hatte. Allerdings sei sie sehr naiv gewesen und habe sich nicht vorgestellt, welche Tragweite der Beruf habe. Erst mit zunehmender Lebens- und beruflichen Erfahrung habe sie verstanden, was alles dazu gehöre. Im Laufe ihres Berufslebens hat Sandra viel und gerne an Weiterqualifikationen und Fortbildungen teilgenommen. Dazu gehören u.a. religionspädagogische und interkulturelle Fortbildungen, Zusatzqualifikationen aus dem musikpädagogischen Bereich, für die Kooperation mit Eltern und schließlich zum Thema Sprache und Sprachförderung, wozu eine mehrjährige Zusatzqualifikation zur Multiplikatorin für Sprachförderung gehörte. Schwerpunktmäßig arbeitet Sandra mit Kindern im Elementarbereich zwischen drei und sechs Jahren, mit Kindern im Krippenalter arbeitet sie ab und zu vertretungsweise oder in besonderen Schichten, wie z.B. dem Frühdienst. Daten zur Einrichtung In der Kita von Sandra werden ca. 120-130 Kinder in sechs Gruppen betreut. Die insgesamt ca. 40 Kinder unter drei Jahren sind in zwei Krippengruppen und einer Gruppe für Zwei- bis Vierjährige untergebracht, hinzu kommen zwei Elementargruppen und eine heilpädagogische Gruppe. Ca. 50% der Kinder sind mehrsprachig, sie sprechen außer Deutsch Türkisch, Russisch, Griechisch, Polnisch, Dari, Spanisch, Französisch und Arabisch. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kita sprechen außer Deutsch Französisch, Niederländisch, Russisch, Portugiesisch und Englisch. Allerdings werden diese Sprachen nicht regelmäßig im Alltag eingesetzt, sondern nur unterstützend genutzt, wenn es mit Eltern oder neuen Kindern Verständigungsprobleme im Deutschen gibt.

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Argumentation in Grundgedanken und zugeordneten Statements Am Termin der kommunikativen Validierung wurden von Sandra zunächst einige Statements umformuliert und ergänzt und es wurden auch weitere Statements hinzugefügt. Im Unterschied zu den bisherigen Untersuchungspartnerinnen unter den Eltern hatte Sandra noch relativ viel zu ergänzen, was ihrer Meinung nach im ersten Durchgang nicht deutlich genug geworden war. Hierbei wurden jedoch keine Grundgedanken oder Statements grundlegend verändert, sondern es handelte sich eher um leichte Verschiebungen und Ergänzungen. Die Tatsache, dass Sandra als Fachkraft im Gegensatz zu den Eltern relativ viele Ergänzungen und Umformulierungen hatte, könnte sich damit erklären lassen, dass sie ihre Äußerungen aus dem Interview kritischer geprüft und an fachlichen Maßstäben gemessen hat. So schienen ihr Aussagen überarbeitungsbedürftig, die sie zunächst alltagssprachlich ausgedrückt hatte, und die sie später noch einmal fachlich und sprachlich präzisieren wollte. Anhand der im Gespräch behandelten Themen und der dazu geäußerten Statements ließen sich sechs Grundgedanken formulieren, die die Eckpfeiler der subjektiven Theorie Sandras darstellen. Ins Zentrum ihrer Subjektiven Theorie hat Sandra die Grundgedanken 1 und 2 zusammengestellt. Sie erklären, was Sprache ist und welche Rolle sie für die Kinder spielt, und bilden damit Sandras Selbstverständnis für ihre Arbeit in Bezug auf Sprache ab.

Abb. 6: Theoriebild Sandra

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Oberhalb ihres Selbstverständnisses über Sprache und deren Rolle für die Entwicklung der Kinder hat Sandra links den Grundgedanken 3 und rechts den Grundgedanken 4 über Mehrsprachigkeit platziert. Sie betreffen die Bedingungen, unter denen mehrsprachige Kinder aus ihrer Sicht aufwachsen, und die Haltung, mit der sie mit ihnen arbeitet. Unterhalb des Zentrums mit den Grundgedanken 1 und 2 hat Sandra auf der linken Seite den Grundgedanken 5 zur Aufgabe der Kita platziert. Unten rechts neben dem Zentrum hat sie den Grundgedanken 6 als zweiten Grundgedanken zur pädagogischen Praxis platziert, der sich auf die Wünsche der Eltern mehrsprachiger Kinder bezieht. Den Ausgangspunkt von Sandras subjektiver Theorie bilden die Grundgedanken 1 und 2, die ihr Verständnis von Sprache und deren Rolle für die Entwicklung der Kinder darstellen: „Kinder brauchen Sprache für ihr Selbstvertrauen und um mit ihren Gefühlen und Wünschen, ihrem Wissen und ihren Fragen sichtbar zu werden. Daher brauchen Kinder eine sprachförderliche Umgebung.“ (Grundgedanke 1) „Sprache ist die Basis des zwischenmenschlichen Miteinanders. Man braucht sie, um seine Gefühle auszudrücken.“ (Grundgedanke 2)

Den Grundgedanken 1 hat Sandra in der kommunikativen Validierung um „ihrem Wissen und ihren Fragen“ erweitert, um deutlich zu machen, dass Sprache nicht nur für die Vermittlung von Gefühlen wichtig ist, sondern dass sie für Kinder auch zentral ist, um ihr Wissen anzuwenden und zu erweitern. Die Rolle, die Sprache aus Sandras Sicht spielt, wird in den zugeordneten Statements genauer beschrieben. Sprache sei „ein großer Schatz“ (3.2) und grundlegend, um mit anderen Menschen „in Kontakt zu kommen“ (3.3). Sprache habe eine „Schlüsselfunktion“ und sei die „Basis des Miteinanders“ (3.1). Auch für den Umgang mit Kindern sei sie zentral (3.4), da Kinder lernen müssten, ihre Gefühle auszudrücken, damit sie wahrgenommen würden und sagen könnten, was sie möchten und was nicht (4.1). Selbst wenn Sprache nicht verstanden würde, könnte sie helfen, z.B., wenn man mit einem Kind beruhigend rede, könne es den Sinn auch ohne Worte verstehen (3.5). Wenn ein Kind noch gar kein Deutsch spreche, versuchten die Fachkräfte, „mit viel Sensibilität ohne Worte etwas über die Gefühle herauszufinden“, um zu erfahren, „wie es dem Kind geht“ (8.7). Auch was Sandra unter einer sprachförderlichen Umgebung versteht, wird aus den hier zugeordneten Statements deutlich. Es gehe dabei vor allem darum, „die eigene Haltung zu verändern“ (12.6), an den Gedanken und Äußerungen der Kinder Interesse zu zeigen (5.8) und sie ernst zu nehmen (12.6). Dazu müsse

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man Sprachanlässe schaffen, sprachförderliche Situationen aufgreifen und sich Zeit dafür nehmen (ebd.). Gute Sprachförderung sei, „wenn die Kinder mit Spaß Sprache lernen und Lust bekommen, zu kommunizieren“ (5.11). Wichtig sei es auch, für einen vielfältigen Input zu sorgen, z.B. anhand von Vorlesen, kulturellen Erlebnissen und Ausflügen (5.9). Auch Musizieren und Singen seien wichtige Medien der Sprachförderung (1.10; 5.12). Dies schaffe Zugang zu Sprache und es bringe Kinder in Verbindung mit der Gruppe, ohne dass sie im Mittelpunkt stehen müssten (5.12). Schließlich weist Sandra noch auf die Problematik der zeitlichen Ressourcen hin, indem sie in einem Statement bedauert, dass sie „eigentlich zu wenig Zeit“ hat, „um täglich mit jedem Kind wenigstens einmal kurz wirklich zu reden“ (13.1). In den Grundgedanken 3 und 4, die Sandra auf der linken und auf der rechten Seite oberhalb ihres Selbstverständnisses über Sprache und deren Rolle für die Entwicklung der Kinder platziert hat, geht es um die Bedingungen, unter denen mehrsprachige Kinder aus ihrer Sicht aufwachsen, und um die Haltung, mit der sie selbst mit ihnen arbeitet. „Mehrsprachigkeit bedeutet das Ausbalancieren-Müssen von verschiedenen Welten, aber auch Reichtum und Vielfalt.“ (Grundgedanke 3)

Mehrsprachig aufwachsende Kinder seien „zu Hause mit Erziehungsnormen und Lebensstilen konfrontiert, die sich von denen der Kita unterscheiden“ (6.2), und das „Ausbalancieren der verschiedenen Welten“ sei für die Kinder anstrengend, so Sandra. Manchmal seien sie „sehr überrascht, wenn wir in der Kita anders reagieren, als sie es von zu Hause kennen“ (6.4). „In verschiedenen Welten aufzuwachsen“ sei jedoch auch „ein Reichtum für die Kinder, da sie dadurch ein größeres Spektrum“ (6.5) und „eine größere Chance“ haben, „offen für Neues zu sein“ (7.12). Hier wird deutlich, dass für Sandra die Sprache eng mit einem kulturellen Umfeld verbunden ist: „Da mit der Sprache der Hintergrund verbunden ist, bedeutet Mehrsprachigkeit auch, dass die Kinder zu Hause ein anderes Umfeld als in der Kita haben. Ihre Identität setzt sich aus verschiedenen kulturellen Einflüssen zusammen“ (6.1). Daher sei es wichtig, „dass die Kinder auch die Sprache ihrer Familie beherrschen, damit sie sich auch in der Herkunftskultur der Familie geborgen fühlen, ihren Wurzeln nicht fremd werden und sie leben können“ (7.2) Um den Kindern die Möglichkeit zu geben, „die Kultur ihrer Eltern und ihres Herkunftslandes“ kennenzulernen und „sich damit zu identifizieren“ solle Mehrsprachigkeit gefördert und erhalten werden (7.1). Dazu müsse auch die Kita den Kindern vermitteln, „dass beide Welten, in denen sie leben, gut und richtig sind“ (7.2). Auch viele Eltern legten „großen Wert darauf, dass die Kinder ihre Sprache auch lernen“ (11.5). Was ‚ihre‘ Sprache ist, führt Sandra

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in einem weiteren hier zugeordneten Statement aus: „Die Sprache der Eltern ist für mich auch die Sprache der Kinder. Die Sprache mehrsprachiger Kinder ist zwar auch Deutsch, ‚ihre‘ Sprache ist aber die Herkunftssprache, weil viele Familien ihre Kultur hier noch leben“ (7.3). Sandra beobachtet, dass mehrsprachige Kinder in emotionalen Situationen „manchmal plötzlich ihre Familiensprache“ sprechen. Wenn es aber „um ‚Sachliches‘ geht, rutschen sie wieder ins Deutsche“ (9.8). Über „Feste und Gebräuche in ihrer Kultur“ berichten die Kinder gerne, so Sandra (9.9). Manche würden z.B. auch Lieder vorsingen und sich dann über die Anerkennung der anderen freuen (ebd.). Zur Sprachpraxis in den Familien vermutet Sandra, „dass die Herkunftssprache in vielen Familien vor allem bei emotionalen Themen gebraucht wird, weil sie vertrauter ist“ (10.5). Das Modell ‚one person-one language‘ sei „für die mehrsprachige Erziehung zwar gut, aber im Alltag sicher nicht für alle praktikabel, da hier eine rationale Steuerung nicht immer möglich ist“ (7.9). Die verschiedenen Sprachen der Kinder würden beim Eintritt in die Kita mit einem Elternfragebogen ermittelt (8.1). Darüber hinaus erfahre man über die Migrationsgeschichten der Eltern erst über die Jahre etwas, wenn sich Vertrauen aufgebaut habe (11.8). Ihre Vorstellungen über Mehrsprachigkeit und deren Bedeutung für die Entwicklungsumwelt(en) der Kinder im Grundgedanken 3 ergänzt Sandra um den Grundgedanken 4, der ihr Hauptanliegen im Umgang mit mehrsprachigen Kindern ausdrückt: „Mehrsprachig aufwachsenden Kindern möchte ich vermitteln, dass beide Welten gleichwertig sind.“ (Grundgedanke 4)

Diesem Grundgedanken hat Sandra einerseits die Aufgabe, die die Kita aus ihrer Sicht hat, zugeordnet: „Die Kita muss den Kindern vermitteln, dass beide Seiten mit ihren Vor- und Nachteilen gleichwertig sind und dass sie verschiedene Möglichkeiten haben, die sie später aufgreifen können“ (7.5). Auch wird hier ausgedrückt, dass es den Kindern durchaus gelingt, in verschiedenen Welten zu leben: „Mehrsprachig aufwachsende Kinder lernen, die verschiedenen Welten, in denen sie leben, auszubalancieren“ (6.3). Auch in der grundsätzlichen Ablehnung von Sprachverboten spiegelt sich das Ziel der Wertschätzung wider: „Wir fordern die Kinder hier nicht auf, Deutsch oder eine andere Sprache zu sprechen. Sie dürfen hier jede Sprache sprechen, es gibt keine Sprachverbote“ (8.2). Andererseits sind hier viele Statements zugeordnet, die die tatsächliche (Nicht-)Nutzung der verschiedenen Sprachen in der Kita beschreiben. Demnach nutzen die Kinder ihre „nichtdeutschen Familiensprachen […] in der Kita auch untereinander kaum bis gar nicht“ (9.1). Obwohl es nicht verboten sei, „haben die Kinder Hemmungen, in der Kita ihre Familiensprache zu sprechen“ (9.2).

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Auch fiele es den Kindern schwer, „etwas vom Deutschen in ihre Sprache zu übersetzen“, und wenn sie darum gebeten würden, z.B. um für andere Kinder zu übersetzen, scheine ihnen das eher unangenehm zu sein (9.4). Wenn möglich würde mit neuen Kindern am Anfang „manchmal in ihrer Muttersprache“ gesprochen (8.3). Aber die Sprachen, die die Fachkräfte beherrschen, decken sich kaum mit den Familiensprachen der Kinder (2.4) und sie „werden im Kitaalltag nicht systematisch eingebaut“ (8.5). Es würde aber manchmal auf die Familiensprachen der Kinder eingegangen, indem man z.B. „Happy Birthday“ auf verschiedenen Sprachen singe (8.6). Zudem fragt Sandra die Kinder gelegentlich „nach Worten aus ihren Sprachen und nach Festen und Liedern aus ihrer Kultur“, sofern sie weiß, dass die Kinder etwas darüber wissen (8.9). Im Gespräch mit neuen Eltern, wenn diese noch nicht gut Deutsch könnten, würde manchmal versucht, ihnen, wenn möglich, auf ihrer Sprache entgegen zu kommen (8.4). Allerdings werde auch „in manchen Familien mit Migrationshintergrund […] nur Deutsch gesprochen“. Diese Familien würden „ihre Sprache“ gar nicht mehr sprechen (10.2). Im unteren Teil des Theoriebildes, unterhalb des Zentrums mit den Grundgedanken 1 und 2 über Sprache und deren Rolle für die Entwicklung der Kinder, hat Sandra links den Grundgedanken 5 zur Aufgabe der Kita platziert: „Die Aufgabe der Kita ist es, den Kindern Sicherheit im Deutschen zu vermitteln. Um in der Kita sprachförderlich zu arbeiten, kommt es vor allem auf die richtige Haltung der Fachkräfte an.“ (Grundgedanke 5)

Dieser Grundgedanke bezieht sich auf die Umsetzung von Sandras Selbstverständnis, auch vor dem Hintergrund der in den Grundgedanken 3 und 4 dargestellten Bedingungen mehrsprachiger Kinder. Hier sind viele Statements zugeordnet, die Sandras Orientierungen für eine sprachförderliche Arbeit in der alltäglichen Praxis beschreiben. So sei es wichtig, Kinder zu Gesprächen anzuregen, eine angenehme Gesprächsatmosphäre zu schaffen und keine Gespräche zu verbieten (5.7), außerdem müsse man im Kontakt sein mit den Kindern, sich Zeit nehmen für die Sprache, die Kinder ernst nehmen, ihnen zuhören und nicht über ihre Äußerungen hinweggehen (5.1). Eine stärkere Konzentration auf Sprache biete auch die Chance, „Situationen für Kinder angenehmer und beruhigender zu gestalten“ (12.8). Zunächst müssten Kinder „Selbstvertrauen gewinnen, damit sie sich überhaupt äußern mögen“ (4.2). Um Vertrauen aufzubauen, solle man keine Dinge fragen, die das Kind nicht beantworten könne (5.5) und „keinen Druck ausüben, stattdessen mit einem langen Atem abwarten und die Sicherheit vermitteln, dass man zuhört“ (5.4). Auch bei Kindern, die noch gar kein Deutsch

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können, würde man versuchen, durch beruhigenden Tonfall, Mimik und Gestik Vertrauen aufzubauen (8.8). Häufig liege es bei mehrsprachigen Kindern, die am Anfang nicht sprechen, aber eher daran, „dass sie erstmal warm werden müssen“ und nicht an fehelenden Deutschkenntnissen (9.7). Man müsse aber auch „erkennen, wenn Probleme bei der Sprachentwicklung auftreten und rechtzeitig Unterstützung organisieren (5.10). Dies sei auch durch eine Logopädin möglich, die Kinder berufstätiger Eltern in der Kita auf Rezept behandele. Bei dieser Behandlung würde aber nur an der Aussprache gearbeitet, nicht am Wortschatz oder am Vertrauen (12.13). Ebenfalls hier zugeordnet hat Sandra mehrere Statements zu ihrer Tätigkeit als Multiplikatorin für Sprachförderung, die ihre professionelle Haltung in Bezug auf Sprache maßgeblich geprägt hat. Im Rahmen dieser Tätigkeit führte sie mit insgesamt 20 Kindern pro Jahr in Kleingruppen eine additive Sprachförderung durch, in der sie Sprache mit sinnlicher Erfahrung und Bewegung verband. In den Gruppen seien viele Kinder gewesen, die sehr wenig Deutsch sprachen, oder die sich nicht getraut hätten (12.2). Neben der additiven Sprachförderung, der Beratung und der Durchführung von Eltern-Kind-Angeboten (12.1) sei es außerdem ihre Aufgabe gewesen, den Kolleginnen und Kollegen Empfehlungen für sprachförderliches Verhalten im Kitaalltag zu gegeben (12.4). Dabei sei es ihr wichtig gewesen, statt theoretische Grundlagen zu vermitteln, den Kolleginnen und Kollegen „Situationen aufzuzeigen, in denen sie sprachförderlich handeln können“ (12.5). Da der Kitaalltag von 6 bis 18 Uhr dauere, sei es „vor allem wichtig, alltagsintegrierte Sprachförderung zu machen und nicht nur additiv eine halbe Stunde am Tag“ (12.7). Durch ihre Anregungen sei das Team stärker mit dem Thema Sprache vertraut und achte mehr darauf, sprachförderlich zu handeln (12.9). Obwohl auch vorher schon alle viel mit den Kindern gesprochen hätten, sei seit der Implementierung der alltagsintegrierten Sprachbegleitung „eine reichere Sprachatmosphäre in der Kita geschaffen“ worden (12.10). Durch das Achten auf Sprache habe sich die ganze Atmosphäre verändert: „Die Kinder haben mehr Vertrauen und weniger Ängste“ (12.11). Auch nach dem Abschluss des Projektes werde die Sprachförderarbeit in den Kleingruppen weitergeführt (12.3), allerdings fehlten aktuell personelle Ressourcen, damit Sandra dies fortsetzen könne (13.2). U.a. durch viele Dokumentationsaufgaben, die im Grunde einen ganzen Arbeitstag in der Woche in Anspruch nehmen (13.3), fehle die Zeit, die Sandra gerne gerade den ruhigeren, unauffälligeren Kindern widmen würde, „damit sie sich auch gut entwickeln können“ (13.4). Rechts unten, dem Grundgedanken 5 über die Aufgabe der Kita gegenüber, hat Sandra den zweiten Grundgedanken zur pädagogischen Praxis platziert, der sich auf die Wünsche der Eltern mehrsprachiger Kinder bezieht:

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„Die Eltern mehrsprachiger Kinder sorgen sich vor allem darum, dass die Kinder bis zur Schule genug Deutsch lernen.“ (Grundgedanke 6)

Deutsch lernen stehe für die Eltern mehrsprachiger Kinder an erster Stelle, so Sandra. Von der Kita erhofften sie sich, dass dort alles getan werde, damit die Kinder in der Schule gut mitkommen (11.1). Sie hätten auch viele Ängste, dass die Kinder nicht genug Deutsch könnten oder lernen würden (11.2). Sandra bringt diese Wünsche und Ängste mit den Erfahrungen von Sprachlosigkeit bei den Eltern in Verbindung: „Viele Eltern haben schlechte Erfahrungen gemacht in der Zeit, als sie selbst wenig Deutsch konnten, und möchten ihren Kindern das ersparen“ (11.7). Die Eltern würden sie regelmäßig als Expertin für Sprachentwicklung ansprechen und sich nach der Entwicklung der Kinder erkundigten (11.3) und auch danach, wie sie die Spracherziehung zu Hause gestalten sollen (11.4), so Sandra. Je mehr Vertrauen vorhanden sei, umso häufiger werde sie angesprochen und bei Problemen um Rat gefragt (11.9). In der kommunikativen Validierung fügte Sandra noch hinzu, dass der Wunsch der Eltern, die Kinder mögen in der Kita alles lernen, was sie für die Schule brauchen, teilweise einen gewissen Druck erzeuge. Es gebe z.T. große Erwartungen, was die Kita in Bezug auf den Spracherwerb im Deutschen und auch auf andere schulrelevante Fähigkeiten leisten solle, auch als Ersatz für entsprechende Anregungen im Elternhaus. Diesen Druck verspüre sie seitens der Eltern, aber sie sei nicht bereit, ihn an die Kinder weiterzugeben. Lernen geschehe in der Kita nur spielerisch, es gebe keine unterrichtsähnlichen Einheiten, in der z.B. Sprache eingeübt werde oder ähnliches. Es sei eine schwierige Aufgabe, den Eltern zu vermitteln, dass Lernen auch ohne Druck und vom Kind aus gesteuert funktioniert. Sie würde ihnen außerdem empfehlen, „auf jeden Fall die Sprache mit den Kindern zu sprechen, die sie gut und sicher beherrschen“ (7.7). Es sei wichtig, dass die Kinder „nicht zu viel Zeit mit falsch gesprochenen Sprachen umgeben sind“ (7.10). Eltern wiederum berichteten ihr, dass manche Kinder auch zu Hause nicht die Sprache der Eltern, sondern nur Deutsch sprechen wollen (10.3) und auch die Eltern aufforderten, Deutsch zu sprechen (10.4). Nach Unterstützung in der Familiensprache hingegen gebe es keine Nachfragen von den Eltern, so Sandra. Eltern seien zwar dankbar, „wenn beim Erstkontakt jemand ihre Sprache spricht, für die Kinder wollen sie das aber in der Kita nicht“ (11.6). Wenn es um die Förderung der Herkunftssprache ginge, würden sich Eltern wahrscheinlich eher an eine Koranschule wenden oder andere Angebote ihrer Community wahrnehmen (10.7). Bei manchen Eltern habe sie den Eindruck, „dass sie wenig mit den Kindern spielen und wenig Zugang zu Büchern haben“ (10.6), so Sandra. Hier versuche die Kita, Unterstützung anzubieten, indem sie Sprachrucksäcke zum Ausleihen anbietet,

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„in denen (z.T. mehrsprachige) Bücher, Spiele und andere Dinge als Anregungen für sprachförderlichen Kontakt zwischen Eltern und Kindern sind“ (12.14). Auch einige Statements über die Sprachaneignung mehrsprachiger Kinder hat Sandra dem Grundgedanken 6 zugeordnet. So dauere dieser etwas länger und die Kinder brauchten etwas länger, „um richtig sprechen zu lernen“ (6.6). Unter mehrsprachigen Bedingungen würden Kinder auch langsamer korrektes Deutsch lernen, „weil sie weniger Gelegenheit haben, es richtig gesprochen zu hören“ (6.7). Eine klare Sprachaufteilung im Elternhaus mache das mehrsprachige Aufwachsen für die Kinder leichter (7.8). Mittlerweile kämen aber nur noch wenige Kinder mit drei Jahren in die Kita, die kein Deutsch könnten: „Viele kommen schon im Krippenalter oder sie haben zu Hause bereits Deutsch gelernt, durch ältere Geschwister oder die Eltern“ (9.5). Manche würden aber trotz älterer Geschwister und deutschsprechenden Eltern sehr spät anfangen, Deutsch zu sprechen (9.6). 8.4.2 Elena Auswahl der Untersuchungspartnerin und Interviewsituation Elena wurde als zweite Untersuchungspartnerin bei den Fachkräften gewählt, weil ihre Kita sich in ihrem Konzept ausdrücklich für die Unterstützung von Mehrsprachigkeit und Diversität ausspricht. Der Kontakt entstand im Zusammenhang mit einer meiner Lehrveranstaltungen und über die Vorstellung meines Dissertationsprojektes auf einer Teambesprechung in der Kita. Hierdurch konnte auch der Untersuchungspartner Yves bei den Eltern gewonnen werden. Interview und kommunikative Validierung fanden im Abstand von zehn Tagen in der Kita statt und hatten jeweils eine Länge von ca. zwei Stunden. Daten zum beruflichen und persönlichen Hintergrund Elena ist Ethnologin. Sie hat im pädagogischen Bereich keine grundständige Ausbildung, aber verschiedene Fortbildungen und Zusatzqualifikationen absolviert. Sie hat die Einrichtung im Jahr 1993 mitgegründet und arbeitet seitdem hier, zunächst in der Hausaufgabenbetreuung und in der Verwaltung, später im Hortbereich und seit 2008 im Elementarbereich. Seit die Kita auch Betreuung für Kinder unter drei Jahren anbietet, ist Elena im Leitungsteam ebenfalls für die pädagogische Konzeption der Krippe zuständig. Ihr Schwerpunkt ist die Naturund Umweltpädagogik. Elenas Motivation zur Gründung der Einrichtung entstand aus ihrer Unzufriedenheit mit der Betreuung der eigenen Kinder in deren damaliger Kita. Elena beschreibt im Interview, wie ihr nichtdeutscher Partner dort nicht einbezogen wurde und ihre afrodeutschen Kinder exotisiert und z.T.

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diskriminiert wurden. In Büchern und Spielmateriealien seien sie nicht repräsentiert gewesen, da die Kita kein Konzept für Diversität hatte. Mehrsprachigen Kindern wurde dort zudem verboten, ihre Familiensprachen zu sprechen. Abgesehen von der Absicht, für ihre Kinder und für Kinder mit einem ähnlichen Hintergrund ein besseres Angebot zu schaffen, habe sie als Ethnologin außerdem der interkulturelle Kontext interessiert. Daten zur Einrichtung In der Kita von Elena wurden zum Zeitpunkt der Erhebung ca. 33 Kinder betreut, 21 davon in der Elementar- und zwölf in der Krippengruppe. 27 der Kinder wachsen mehrsprachig und sechs einsprachig nur mit Deutsch auf. Die Sprachen der Kinder waren außer Deutsch Twi, Serbisch, Romanes, Spanisch, Französisch, Griechisch, Amarisch, Hindi und Russisch. Im Team sind außer Deutsch die Sprachen Englisch, Türkisch, Spanisch, Farsi, Bulgarisch, Albanisch und Französisch vertreten. Durch Praktikantinnen und Praktikanten kommen zeitweise weitere Sprachen hinzu. Die Fachkräfte, die zum größten Teil selbst einen ‚Migrationshintergrund‘ haben, verwalten die Kita gemeinsam als Leitungsteam. Dies soll dazu führen, dass die verschiedenen Erfahrungen und Qualifikationen als gleichwertig eingebracht werden, was als eigenes Diversity-Management verstanden wird. Es wird weiterhin im Konzept der Kita betont, dass sie sich als Bildungseinrichtung versteht, in der sich Kinder, Fachkräfte und Eltern mit Migrationsgeschichte willkommen und ernst genommen fühlen sollen. Argumentation in Grundgedanken und zugeordneten Statements Anhand der im Gespräch behandelten Themen und der dazu geäußerten Statements ließen sich fünf Grundgedanken formulieren, die die Eckpfeiler der subjektiven Theorie Elenas darstellen. Im Zentrum von Elenas subjektiver Theorie steht das Verständnis des Kitateams von Mehrsprachigkeit, das im Grundgedanken 1 ausgedrückt wird. Vom Zentrum aus führt ein Pfeil zum rechts danebenliegenden Grundgedanken 2, der das Ziel der Kita beschreibt, den Kindern mit all ihren Bezügen die Entwicklung eines starken Selbstbewusstseins zu ermöglichen. Ein weiterer Pfeil führt vom Grundgedanken 1 im Zentrum zum Grundgedanken 3, der ebenfalls rechts neben dem Zentrum platziert ist und Elenas Verständnis von Sprache als einem Format des Denkens ausdrückt. Unterhalb des Zentrums und ebenfalls durch einen Pfeil mit dem Grundgedanken 1 verbunden, liegt der Grundgedanke 4 über die Eltern, die größtenteils selbstbewusst mit ihrer Mehrsprachigkeit umgehen. Links neben dem Zentrum liegt der Grundgedanke 5, in dem Elena den leistungsorientierten Druck beschreibt, der vonseiten der Schule auf Eltern und Kita ausgeübt wird.

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Abb. 7: Theoriebild Elena

Ein Pfeil vom Zentrum aus macht hier deutlich, dass die Kita mit ihrem eigenen Verständnis versucht, diesem Druck zu begegnen. Den Ausgangspunkt von Elenas subjektiver Theorie stellt der Grundgedanke 1 dar, den sie mit „unser Verständnis“ überschrieben und ins Zentrum gestellt hat: „Die Sprachen der Kinder repräsentieren ihre Identität. Mehrsprachigkeit ist für die Kinder wichtig, damit sie ihre Identität entwickeln und die verschiedenen Facetten ihrer Welt vermitteln können.“ (Grundgedanke 1)

Elena betont, dass mehrsprachige Kinder nicht in unterschiedlichen Welten leben, sondern in einer Welt, die verschiedene Bezüge und Facetten hat (4.1). Wichtig sei es, dass man mehrsprachigen Kindern ermöglicht, ihre verschiedenen Sprachen auch in der Kita zu nutzen, damit sie sich von Anfang an sicher fühlen (7.2) und auch von ihrer Welt außerhalb der Kita berichten können (4.3). Umgekehrt könnten Kinder, denen eine Sprache in der Kita verboten würde, Teile ihrer Identität nicht vermitteln und einbringen. Daher bemühen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Kinder in ihren Familiensprachen anzusprechen, vor allem, wenn sie noch wenig Deutsch können. Sobald es ihnen möglich sei, würden die Kinder von selbst ins Deutsche wechseln (7.3). Die Kita vermittelt

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den Kindern, dass ihre Familiensprachen genauso anerkannt sind wie das Deutsche (5.1). In der kommunikativen Validierung baute Elena allerdings in dieses Statement noch ein „bei uns“ ein. Die Familiensprachen seien in der Kita anerkannt, man könne den Kindern jedoch nicht vermitteln, dass sie allgemein genauso anerkannt seien wie das Deutsche. Durch den anerkennenden Umgang in der Kita würden sich auch Kinder, die noch nicht viel Deutsch sprechen, trauen, in ihren Familiensprachen z.B. vom Wochenende zu berichten (8.3). Elenas Verständnis, dass die Anerkennung und das Aufgreifen der Mehrsprachigkeit grundlegend für die Identitätsentwicklung der Kinder seien, schlägt sich in ihrer subjektiven Theorie auch in der Formulierung eines grundlegenden Zieles der Einrichtung nieder. So lautet Grundgedanke 2, der rechts neben dem Grundgedankens 1 platziert ist: „Unser Ziel ist es, dass die Kinder mit all ihren verschiedenen Bezügen und Sprachen ein starkes Selbstbewusstsein entwickeln.“ (Grundgedanke 2)

Vom Grundgedanken 1 über Mehrsprachigkeit und Identitätsentwicklung führt ein mit „Persönlichkeitsentwicklung“ beschrifteter Pfeil zu diesem Grundgedanken, der deutlich macht, inwiefern die Mehrsprachigkeit für dieses Ziel der Persönlichkeitsentwicklung wichtig ist. Die Sprache könne den Kindern in diesem Zusammenhang auch als Waffe dienen, um sich Anerkennung und Respekt zu verschaffen und um eine Stimme zu haben (3.6). Um das Selbstbewusstsein der Kinder zu stärken, werden im Kitaalltag nicht nur über Sprache, sondern auch über Spielmaterialien und Bücher die verschiedenen Bezüge der Kinder einbezogen. Die Entscheidung der Kita, nur Kinder ‚mit Migrationshintergrund‘ aufzunehmen, dient ebenfalls diesem Ziel und soll einen Schutzraum bieten, in dem die Kinder nicht exotisiert oder ausgegrenzt werden, sondern sich als ‚ganz normal‘ und nicht als Minderheit erleben können (11.6). Elena stellt fest, dass die Kinder, wenn sie Anerkennung für ihre Sprachen bekommen, auch sehr stolz darauf sind und ihre Kenntnisse gerne nutzen und präsentieren (6.4). Das gelte auch für Kinder, die aufgrund von Sprachentwicklungsstörungen nur schwer verständlich sprechen könnten, denen aber genauso wertschätzend zugehört werde wie den anderen, und die sich ebenfalls gerne an Gesprächen beteiligten (6.6). Auch in der Kommunikation mit ihren Eltern würden die Kinder eher die Familiensprache aufgreifen, wenn diese in der Kita anerkannt und verwendet würde (8.1). In anderen Einrichtungen habe sie schon erlebt, dass Kinder nicht auf die Ansprache ihrer Eltern reagierten oder sich für deren Sprache schämten und die Familiensprache in der Öffentlichkeit ganz verweigerten, weil sie schon gelernt hätten, dass diese nicht so angesehen ist wie das Deutsche (8.2). Das Ziel, den

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Kindern ein starkes Selbstbewusstsein mit auf den Weg zu geben, und dafür ihre Sprachen und ihre familiären Bezüge anzuerkennen und aufzugreifen, sieht Elena auch darin betätigt, dass die ehemaligen Kinder, die nach Schuleintritt in den Herbstferien nochmal in die Kita eingeladen werden, einen zufriedenen und sicheren Eindruck machen (8.5). Auch von älteren Ehemaligen der ersten Generation hört Elena, dass sie durch die Zeit in der Kita in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gestärkt wurden und immer noch davon profitieren (8.6). Nicht nur im Hinblick auf die Persönlichkeitsentwicklung, sondern auch im Hinblick auf die kognitive Entwicklung spielt die Anerkennung der Mehrsprachigkeit in Elenas subjektiver Theorie eine wichtige Rolle. So ist der Grundgedanke 1 zu Mehrsprachigkeit und Identitätsentwicklung auch durch einen Pfeil mit dem rechts daneben platzierten Grundgedanken 3 verbunden, der die Wichtigkeit von Sprache für die kognitive Entwicklung betont: Sprache ist ein Format2 des Denkens. Wenn man Kindern ihre (Erst-)Sprache verbietet oder sie nicht anerkennt, behindert man ihre kognitive Entwicklung.“ (Grundgedanke 3)

Dazu führt Elena näher aus, dass mit ca. drei Jahren das erzählende Denken beginnt, bei dem Kinder die Sprache immer stärker als Werkzeug des Denkens benutzen, als Schlüssel für Neues und als Transportmittel, um etwas zu vermitteln. Wenn man Kindern, die mit drei Jahren in die Kita kommen, dort sage, dass sie ihre Sprache nicht benutzen dürften, würden grundlegende Prozesse im Hirn abgeschnitten, die auch wichtig wären, um eine zweite Sprache zu lernen (3.4). Frühestens mit dem sechsten Lebensjahr würden Kinder beginnen, abstrakt zu denken, davor würden sie in ihrer Vorstellungswelt immer auf selbst Erfahrenes und selbst Gesehenes zurückgreifen (3.5). Mit dem gestalterischen Denken, das vor dem dritten Lebensjahr vorherrsche, könnten die Kinder Erlebtes zum Ausdruck bringen, indem sie etwas malen oder bauen, aber sie könnten es damit noch nicht unbedingt anderen verständlich machen (3.2). Sprache hingegen sei ein Satz an allgemeingültigen Symbolen, die auch das Gegenüber versteht, mit denen man Dinge vermitteln könne, die nicht unmittelbar hier und jetzt sichtbar seien (3.3). Das narrative Denken, das im dritten Lebensjahr einsetze und Sprache als Medium des Begreifens nutze, sei ein ganz wichtiger Schritt hin zum

2

Der Begriff „Format“ wurde in der kommunikativen Validierung eingefügt und ersetzte den Begriff „Werkzeug“. Die Bezeichnung „Format des Denkens“ ist aus der Reggio-Pädagogik entlehnt, in der das „Narrative Denken“ bzw. das „Denken in Geschichten“, das auf die Sprache aufbaut, als eines von vier Formaten des Denkens beschrieben wird (vgl. Schäfer 2011; Lingenauber 2009).

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abstrakten Denkvermögen (3.1). Daher sei Sprache so grundlegend für die Entwicklung der Kinder, nicht nur in Bezug auf das Selbstbewusstsein und die Auseinandersetzung mit anderen, sondern auch in Bezug auf die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten. Die Fachkräfte in der Kita bezögen deshalb Sprachbildung immer in die von ihnen bearbeiteten Bildungsbereiche explizit ein und gäben den Kindern die Möglichkeit, ihren Wortschatz zu erweitern und ihre Erfahrungen sprachlich auszudrücken. Dabei komme es auf formale Korrektheit, wie z.B. den richtigen Artikel, nicht so an (6.4). Außerdem würde die Entwicklung der Sprache bei den Kindern in Einzelbeobachtungen untersucht und ausgehend von der aktuellen Ebene des Denkens würden die Fachkräfte den Kindern Anregungen geben, um sich weiterzuentwickeln (6.9). Im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit, Persönlichkeits- und kognitiver Entwicklung sind in Elenas subjektiver Theorie auch die Eltern ein wichtiger Faktor. Dementsprechend platziert sie unterhalb des mit „unser Verständnis“ überschriebenen Zentrums den Grundgedanken 4: „Wenn Eltern selbstbewusst mit ihren Sprachen und ihrer Identität umgehen, dann haben sie auch weniger Fragen zum Spracherwerb und sind hier nicht so unsicher.“ (Grundgedanke 4)

Die Eltern der Kinder in der Einrichtung würden unterschiedlich stark an dem hängen, was sie durch die Migration verlassen hätten. Einige Eltern gingen hier neue Wege, entwickelten eine neue Identität und hätten nicht das Gefühl, sich selbst zu verleugnen, wenn sie Neues annehmen. Andere Eltern seien sehr mit der Trauer um die alte Heimat oder ihrer Glorifizierung beschäftigt (9.6). Für die meisten Eltern sei es aber selbstverständlich, dass sie zu Hause ihre Familiensprachen sprechen (9.2). Es sei wichtig, die Eltern für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder auch in Bezug auf Sprache „ins Boot zu holen“, was Elena mit einem beschrifteten Pfeil vom Grundgedanken 1 über Mehrsprachigkeit und Identität hin zum Grundgedanken 4 deutlich macht. Dazu gehöre es, die Eltern dazu anzuregen, in der Familiensprache mit den Kindern über den Kitaalltag zu sprechen, um auch den Wortschatz in der Familiensprache zu erweitern. In der Kita würden dazu Fotodokumentationen und Entwicklungsfotoalben angeboten, um Gespräche zwischen Eltern und Kindern über den Kitaalltag anzuregen (10.7). Bereits beim Aufnahmegespräch würde Elena den Eltern empfehlen, mit den Kindern weiterhin die Familiensprache zu sprechen, da das das Beste sei, was sie den Kindern mitgeben könnten (10.2). Sprachentwicklung sei außerdem auch auf Elternabenden Thema und es seien dazu auch schon externe Referentinnen eingeladen worden (10.3). Der Einrichtung sei es wichtig, Eltern und

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Kindern zu vermitteln, dass es nicht schlimm ist, wenn man nicht so gut Deutsch spreche (5.6). Bei Elternabenden werde sichergestellt, dass jemand für die Eltern übersetzen kann und sie sich auch in ihren nichtdeutschen Sprachen einbringen können. Das werde von den Eltern gut angenommen (10.8). Insgesamt machten die Eltern Mehrsprachigkeit, Spracherwerb im Deutschen oder den Erhalt der Herkunftssprache in der Kita aber eher nicht zum Thema und hätten wenig Fragen dazu (9.5). Sie würden die Fachkräfte sehr selten als Expertinnen und Experten für Sprachentwicklung ansprechen und fragten eher nicht danach, ob die Kinder schnell genug Deutsch lernten (9.1). Dass die Eltern nach Elenas Ansicht trotzdem gestärkt werden sollten, da von anderer Stelle erheblicher Druck auf sie ausgeübt werde, macht sie im Grundgedanken 5 deutlich, den sie auf der linken Seite des Theoriebildes platziert und mit „von außen“ überschrieben hat: „Das leistungsorientierte und ökonomisierte Bildungsverständnis von Schule und Behörde widerspricht unseren Zielen, setzt sowohl uns als auch die Eltern unter Druck und verunsichert sie.“ (Grundgedanke 5)

In der Bildungspolitik gehe es immer mehr darum, wie verwertbar die Menschen seien, die aus Bildungsinstitutionen herauskämen (11.5). So verpflichte die Behörde die Kita, alles zu tun, um die Kinder „schulreif abzugeben“ (11.1), und versuche auch, ihr vorzuschreiben, was sie dazu tun müsse. Die Kita solle z.B. Sprachförderung mit Kärtchen und am Tisch sitzend durchführen. Das mache aber keinen Spaß und bringe auch nichts (ebd.). Ein starkes Druckmittel sei auch die Viereinhalbjährigenuntersuchung3 in der Schule. Dabei würden andere Maßstäbe angelegt als in der Kita, um die Entwicklung der Kinder zu beurteilen, und es werde den Eltern signalisiert, dass die Kita nicht genug tue, um die Kinder für die Schule vorzubereiten (11.2). Auch werde durch die Viereinhalbjährigenuntersuchung großer Druck auf die Eltern ausgeübt, die Kinder in der Vorschule anzumelden, damit sie später in der Schule gut mitkommen. Eltern hätten dann die Sorge, dass dem Kind in der Kita nicht mehr genug geboten werde (11.7). Zudem möchten viele Eltern die Beobachtungsbögen, die in der Kita über die Entwicklung der Kinder angefertigt werden, nicht mit zur Viereinhalbjährigenuntersuchung nehmen, wenn dort nicht alles bestmöglich bewertet sei. Sie hätten Angst, dass das Kind dann in der Schule gleich schlechter eingestuft werde

3

Gemeint ist das „Vorstellungsverfahren der Viereinhalbjährigen“, das seit 2005 in Hamburg durchgeführt wird und bei dem alle Hamburger Kinder mit ihren Eltern zu einem Beratungs- und Informationsgespräch in ihre zuständige Grundschule eingeladen werden (vgl. IfBQ 2018).

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(11.3). Die Unterschiede im Bildungsverständnis seien ihr auch bei einer Hospitation in der Vorschule wiederholt deutlich geworden, so Elena. Hier habe sie eine starke Leistungs- und Unterrichtsorientierung beobachtet (11.10). Ein weiteres Indiz für einen weniger offenen und wertschätzenden Umgang mit Mehrsprachigkeit seien die Elternabende in der Schule, bei denen keine Übersetzung oder Kommunikation in andere(n) Sprachen als Deutsch angeboten würde. Eltern würden dann häufig versichern, dass sie alles verstehen, auch wenn das nicht der Fall sei (11.9). Eine weitere Quelle, aus der Druck auf die Eltern ausgeübt und diese verunsichert würden, seien Kinderärzte, die häufig Sprachentwicklungsstörungen auf mehrsprachiges Aufwachsen zurückführten, was aber nicht richtig sei, so Elena (11.4). Die Kita versuche, die Eltern gegen diesen Druck, der durch ein leistungsorientiertes und ökonomisiertes Bildungsverständnis ausgeübt werde, zu stärken. Vom Grundgedanken 4 über den selbstbewussten Umgang der Eltern mit Mehrsprachigkeit führt ein mit „Eltern stärken“ beschrifteter Pfeil zu einigen Statements, die Eltern beschreiben, die dem Druck besonders ausgesetzt seien, was wiederum mit einem Pfeil „übt Druck aus“ vom Grundgedanken 5 zu dieser Statementgruppe deutlich gemacht wird. Hierzu gehörten vor allem Eltern, mit denen man aufgrund ihres eigenen Bildungshintergrundes keine tiefgreifenden pädagogischen Gespräche führen könne, egal auf welcher Sprache (10.1). Auch Elternteile mit deutscher Partnerin oder deutschem Partner vernachlässigten in der Familie eher ihre Herkunftssprache und sprächen sie dann vielleicht in anderen Netzwerken, aber weniger mit den Kindern (9.8). Gerade Väter mit deutschen Partnerinnen neigten dazu, ihre Herkunftssprache aufzugeben und mit dem Kind auf Deutsch zu sprechen, weil es dann schneller und leichter reagiere. Mütter mit nichtdeutscher Herkunftssprache gäben sich mehr Mühe, ihre Sprache auch dem Kind zu vermitteln (9.4). Die Kita möchte dem Druck vonseiten weiterführender Bildungseinrichtungen mit ihrer eigenen Qualitätsentwicklung begegnen, wie Elena deutlich macht. Zwischen dem Bereich „unser Verständnis“ mit dem Grundgedanken 1 und dem Bereich „von außen“, mit dem Grundgedanken 5 hat sie daher einige Statements angesiedelt, die diese eigene Qualitätsentwicklung präzisieren. Hierzu gehört die ursprüngliche Motivation von Elena, eine eigene Einrichtung zu gründen, da sie mit der Betreuung ihrer eigenen Kinder unzufrieden war. In der von ihr mitgegründeten Einrichtung sollte es daher ein eigenes Konzept für Diversität geben, sodass Kinder nicht exotisiert oder ausgegrenzt und Vielfalt und Mehrsprachigkeit anerkannt würden (1.3). Die Kita habe zudem ein eigenes Sprachbildungskonzept entwickelt, das bewusst nicht Sprachförderungskonzept genannt werde. Es beinhalte, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über Spracherwerb Be-

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scheid wüssten und die Kinder möglichst in all ihren Sprachen begleitet werden (5.5). Im Team seien die Sprachen Englisch, Türkisch, Spanisch, Farsi, Bulgarisch, Albanisch und Französisch vertreten. Durch Praktikantinnen und Praktikanten kämen zeitweise weitere Sprachen hinzu, wie z.B. momentan Kisuaheli (2.3). Ebenfalls zur Qualität der Einrichtung gehöre, dass sie eine mehrsprachige Offenheit vermitteln wolle. Man könne zwar nicht alle Sprachen abdecken oder alle Sprachen fördern, aber Mehrsprachigkeit als Normalität vermitteln (5.2). Mit den Kindern werde in diesem Zusammenhang eine entsprechende Gesprächs- und Wertschätzungskultur eingeübt, wenn z.B. die Kinder im Morgenkreis zum Erzählen angeregt werden und ihnen dabei vermittelt wird, „dass das auf allen Sprachen ok ist“ (6.5), oder wenn auch Kinder, „die aufgrund von Sprachentwicklungsstörungen z.B. in Phantasiesprachen oder schwer verständlich sprechen“, zum Erzählen angeregt werden und auch ihnen „aktiv zugehört“ wird (6.6). Schließlich betrifft die eigene Qualität, mit der die Einrichtung dem Druck von außen begegnet, auch große Teile der Elternschaft. So hält Elena fest, dass Eltern, die sich für die Kita entscheiden, eher in ihren Communities vernetzt seien, ihre Mehrsprachigkeit als selbstverständlich ansehen, ein gewisses Selbstbewusstsein als Migrantinnen und Migranten haben und nicht so unter Druck stehen (9.3). 8.4.3 Meriem Auswahl der Untersuchungspartnerin und Interviewsituation Meriem wurde als dritte Untersuchungspartnerin bei den Fachkräften ausgewählt, weil sie im Gegensatz zu den beiden ersten Fachkräften einen ‚Migrationshintergrund‘ und keine einschlägige formale Berufsqualifikation, aber ebenfalls eine langjährige Berufserfahrung im Kitabereich hat. Zudem arbeitet sie, anders als die beiden ersten, in der Krippe, und ist selbst mehrsprachig. Interview und kommunikative Validierung hatten eine Länge von ca. eineinhalb Stunden und wurden im Abstand von neun Tagen im Café der Kita von Meriem durchgeführt. Daten zum beruflichen und persönlichen Hintergrund Meriem ist 2004 aus dem Iran nach Deutschland eingewandert. Sie hat im Iran Gebärdensprache studiert und eine Ausbildung als Gebärdensprachdolmetscherin absolviert. Da vier ihrer acht Geschwister gehörlos sind, ist sie bimodal mit

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Persisch4 und Gebärdensprache aufgewachsen. Meriem hat im Iran für den dortigen Gehörlosenverband gearbeitet und 1991 in Teheran die erste Krippe für gehörlose Kinder eingerichtet, die sie bis zu ihrer Auswanderung nach Deutschland leitete. In Deutschland hat sie seit 2005 in der Kita eines Nachbarschaftszentrums in Hamburg gearbeitet und auch privat Kinder betreut. Zum Zeitpunkt des Interviews war sie seit elf Jahren in derselben Kita tätig und arbeitete schwerpunktmäßig mit unter Dreijährigen. Ihr Realschulabschluss und ihre beruflichen Qualifikationen als Gebärdensprachdolmetscherin sind in Deutschland anerkannt worden. Für die Arbeit im pädagogischen Bereich hat sie keine formale Berufsqualifikation, jedoch in Deutschland verschiedene Fortbildungen absolviert. Meriem hat zwei Töchter, die zum Zeitpunkt der Auswanderung aus dem Iran 14 und 18 Jahre alt waren. Daten zur Einrichtung In der Kita von Meriem wurden zum Zeitpunkt der Erhebung 57 Kinder im Alter von null bis sechs Jahren in drei altersgemischten Familiengruppen betreut. 31 der Kinder waren mehrsprachig und 26 wuchsen einsprachig mit Deutsch auf. Die Sprachen der Kinder waren neben Deutsch Portugiesisch, Polnisch, Albanisch, Spanisch, Russisch, Französisch, Türkisch, Kurdisch, Twi, Englisch, Persisch, Arabisch, Dari und Tigrinja. Im Team arbeiteten zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit und fünf ohne ‚Migrationshintergrund‘. Ihre Sprachen waren neben Deutsch Englisch, Spanisch, Türkisch, Kurdisch, Arabisch, Persisch, Russisch, Japanisch, Portugiesisch und Albanisch. Das Konzept der Kita sieht vor, dass im Team Fachkräfte und ‚qualifizierte Mütter‘ zusammenarbeiten und die Fachlichkeit der einen und die Lebenserfahrung der anderen gleichwertig zusammenwirken sollen. Die Kita ist Teil eines Nachbarschaftszentrums, das sich als offene Begegnungsstätte für Menschen verschiedenster Herkunft, Alter und sozialer Situation nach dem Prinzip der Selbsthilfe versteht. Argumentation in Grundgedanken und zugeordneten Statements Anhand der im Gespräch behandelten Themen und der dazu geäußerten Statements ließen sich fünf Grundgedanken formulieren, die in der kommunikativen Validierung von Meriem bestätigt wurden und die Eckpfeiler ihrer subjektiven Theorie darstellen. Unten in der Mitte hat Meriem den Grundgedanken 1 über ihre Migration platziert. Der Grundgedanke 2 ist in der oberen linken Ecke platziert und bezieht sich auf Respekt und Anpassung im Aufnahmeland. Darunter

4

Meriem benutzt selbst durchgehend die Bezeichnung „Persisch“ für ihre Muttersprache.

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hat Meriem links unten den Grundgedanken 3 platziert, der entsprechendes Handeln in der Spracherziehung von den Eltern fordert. Dem Grundgedanken 3 gegenüber auf der rechten Seite liegt der Grundgedanke 4, der betont, dass das Hineinwachsten in die deutsche Sprache, die Kultur und die Werte für Kinder das Wichtigste sei, und dass dafür auch die Kita zuständig sei. Darüber auf der rechten Seite schließlich liegt der Grundgedanke 5, der Meriems Verständnis der Rolle von Sprache im Umgang mit Kindern ausdrückt.

Abb. 8: Theoriebild Meriem

Den Ausgangspunkt von Meriems subjektiver Theorie stellt der Grundgedanke 1 über ihre persönlichen und beruflichen Erfahrungen im Iran und die Gründe ihrer Migration dar. Sie hat ihn unten in der Mitte platziert um zu zeigen, dass die Umstände ihrer Migration und des Lebens, das sie davor geführt hat, die Basis ihrer persönlichen Haltung sind und ihre professionellen Orientierungen prägen: „Ich habe im Iran sehr viel kämpfen müssen, um meine Arbeit machen zu können. Ich habe mein Land verlassen, um frei zu sein, und bin Deutschland sehr dankbar.“ (Grundgedanke 1)

Dem Grundgedanken 1 hat Meriem Statements zugeordnet, in denen sie beschreibt, wie sie als erste und einzige weibliche Gebärdendolmetscherin im Iran

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(2.3) diskriminiert wurde und große Schwierigkeiten überwinden musste, um z.B. beruflich ins Ausland reisen zu dürfen (2.8) oder bei ihrer Arbeit keinen Tschador tragen zu müssen, der die Gebärdensprache behindere (2.10). Sie berichtet von kleinen Erfolgen und von ihrem Einsatz für die Verbesserung der Situation gehörloser Kinder. Gehörlose hätten im Iran sehr viele Nachteile und bräuchten viel Hilfe (2.6). Sie habe 1991 die erste Krippe für gehörlose Kinder in Teheran gegründet und ihre erfolgreiche Arbeit auch in anderen Städten vorgestellt. Sowohl in ihrem Engagement für gehörlose Kinder als auch in ihrer Arbeit als Dolmetscherin habe sie aber als Frau stets sehr viel kämpfen müssen (2.4) und sei mit vielen Widerständen und auch mit Bedrohungen konfrontiert gewesen. Trotz aller Kämpfe habe sie jedoch nicht genug erreichen können, habe sich darüber hinaus nie frei gefühlt (3.4) und sei „nach all den Jahren […] total kaputt“ gewesen (2.9). Schließlich habe der Präsident des Irans ihr bei einem beruflichen Termin sogar persönlich gesagt, sie solle ausreisen, da sie nicht in den Iran gehöre (3.6). Um frei zu sein, habe sie ihr Land schließlich verlassen (3.4). Meriems berufliche und private Erfahrungen im Iran und schließlich ihre Migration und die Erlangung von persönlicher Freiheit in Deutschland bilden den Hintergrund für ihren Grundgedanken 2 über Respekt und Anpassung, den sie im Theoriebild oben links platziert hat: „Respekt vor der Sprache, der Kultur, den Werten und den Menschen sind das Wichtigste, wenn man in ein neues Land kommt. Mit Respekt lernt man, sich anzupassen und einzufügen.“ (Grundgedanke 2)

Gestützt wird dieser Grundgedanke durch Statements, in denen Meriem beschreibt, wie gut es ihr in Europa schon bei ihrem ersten Besuch gefallen habe (3.7), wieviel Dank sie für Deutschland und die Deutschen empfindet, weil sie hier aufgenommen wurde (3.10) und wie sie sich von Anfang an bemüht hat, die deutsche Sprache zu lernen und auch ihren Kindern Respekt und die Wichtigkeit des Lernens und des Sich-Anpassens vermittelte (3.11). Weiterhin gehören für Meriem zu diesem Grundgedanken die Tatsache, dass ihre schulischen und beruflichen Qualifikationen aus dem Iran in Deutschland anerkannt wurden (4.5) und ihr Grundsatz, die Dinge, für die sie Verantwortung übernimmt, auch unbedingt zuverlässig zu erledigen (4.4). Im Zusammenhang mit ihrer Grundhaltung des Respekts für die Sprache, Kultur und Werte Deutschlands und der Forderung nach Anpassung, die sie an Neuankömmlinge stellt, betont Meriem auch, dass in Deutschland durch Migration eine kulturelle Mischung entstehe, die aber durch die Deutschen kontrolliert werden müsse (7.7).

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Meriem ordnet dem Grundgedanken 2 außerdem zwei Statements zu, die eher Werte beschreiben, die sie, wie sie selbst sagt, aus ihrer Herkunftskultur mitgebracht hat. Hierzu gehört einmal, dass sie den Kindern vermittelt, herzlich mit ihren Großeltern umzugehen und ihren Eltern dankbar zu sein (7.4), und zweitens, dass sie den Kindern beibringt, zu teilen, auf die Kleineren zu achten und ihnen den Vortritt zu geben (7.5). Hieran wird deutlich, dass sich der Respekt, den Meriem in vielen Interviewpassagen erwähnt, nicht nur auf die deutsche Sprache, Kultur und Werte bezieht, sondern dass es sich dabei um eine noch grundsätzlichere Haltung handelt, die auch unabhängig von Fragen von Migration und Anpassung wichtig für sie ist. Das Erziehungsziel des Respekts (hier vor Älteren und Kleineren) wird verbunden mit ihrer grundsätzlichen Forderung nach Respekt, die sie in Bezug auf Migration und Anpassung im Grundgedanken 2 formuliert. Dabei scheint ihre Forderung nach Anpassung nicht mit der Übernahme von bestimmten Werten aus ihrer Heimat in Konflikt zu geraten. Unterhalb des Grundgedankens 2 über Respekt und Anpassung platziert Meriem den Grundgedanken 3, der eine aus dem Grundgedanken 2 abgeleitete Forderung an Eltern mehrsprachig aufwachsender Kinder enthält: „Eltern sollten sich bemühen, ihren Kindern die deutsche Sprache, Werte und Kultur zu vermitteln. Die Herkunftssprache und Kultur des Herkunftslandes sind weniger wichtig.“ (Grundgedanke 3)

Dass diese Forderung an die Eltern untrennbar mit der Migrationsgeschichte Meriems verbunden ist, macht sie deutlich, indem sie hier mehrere Statements aus ihrem Themenbereich Meine Migrationsgeschichte (und kulturelle Identität) zuordnet. Dazu gehört, dass ihre Kultur im Iran mit der islamischen Revolution zerstört worden sei und dass das, was heute im Iran stattfinde, nicht ihre Kultur sei, weswegen sie nichts habe, woran sie festhalten müsse (3.2). Sie habe mit 16 Jahren einen strenggläubigen Mann heiraten müssen und mit ihm ein Leben geführt, das gar kein Leben gewesen sei (3.3). Aufgrund dieser Erfahrung sei sie überzeugt, dass das Tragen eines Kopftuchs nicht freiwillig sein könne (3.5). Sie sei zwar ein „Moslem“, aber „ein moderner Moslem“ und ihre Töchter seien keine Moslems (3.13). Meriem betont vor dem Hintergrund ihrer Migrationsgeschichte, wie sehr sie die Freiheit in Deutschland genieße und wie sehr sie die hiesige Kultur schätze. Sie und ihre Kinder würden vor allem die Vorteile sehen, die Deutschland biete, und wären deshalb bereit, alles aufzunehmen (3.8). Aus dieser Erfahrung heraus fordert sie von Eltern ‚mit Migrationshintergrund‘, dass auch sie die Vorteile eines freien Aufwachsens in Deutschland erkennen und ihre Kinder im Sinne der deutschen Kultur erziehen sollten. Auch ihre schnelle In-

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tegration in das damalige Nachbarschaftszentrum, für das sie bis heute in der Kinderbetreuung arbeitet und in dem sie Deutsch gelernt habe (4.1), ordnet sie dem Grundgedanken 3 zu. Meriems Forderung an die Eltern, die auf ihrer eigenen Migrationsgeschichte fußt, wird durch Statements aus dem Themenbereich Ziele für Erziehung, Kultur und Sprache gestützt, die auch dem Grundgedanken 3 zugeordnet sind. Hierzu gehört die Überzeugung, dass die Kinder die Zukunft eines Landes sind, und dass es daher das Wichtigste sei, dass sie durch die deutsche Sprache in die deutsche Kultur und die deutschen Werte hineinwachsen (7.1). Dies gebe den Kindern auch die Möglichkeit, sich zu beteiligen, und schütze sie davor, außen vor zu bleiben (7.3). Die nichtdeutsche Muttersprache sei für in Deutschland aufwachsende Kinder hingegen nicht so wichtig. Sie könne zu Hause vermittelt werden, sollte aber auch dort nicht ausschließlich gesprochen werden (7.2). Wer nicht bereit sei, deutsche Werte und Kultur zu übernehmen, sondern lieber seine Herkunftskultur behalten wolle, solle in seinem Heimatland bleiben (7.8). Vor dem Hintergrund der Frage, wie die deutsche Kultur und ihre Werte durch Migration beeinflusst werden, und wie wichtig ihre Übernahme durch Neuzugewanderte sei, hat Meriem auch ein klares Statement zum Thema Flüchtlinge, das sie ihrer Forderung an die Eltern zuordnet: Demnach sollten nicht zu viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen, damit das europäische Wertesystem nicht durcheinanderkomme. Vor allem die Männer sollten in ihren Ländern bleiben, um diese zu schützen und aufzubauen (7.9). Konkretisiert wird Meriems Forderung an die Eltern noch in den Statements zum Themenbereich Eltern, die sie alle dem Grundgedanken 3 zugeordnet hat: So sollten Eltern, auch wenn sie kein korrektes Deutsch können, zu Hause mit den Kindern zumindest teilweise Deutsch sprechen (9.1), sie sollten sich bemühen, selbst gut Deutsch zu lernen und auch die deutschen Werte und Kultur zu kennen. Wenn Kinder etwas darüber von ihren eigenen Eltern lernen können, sei das sehr wertvoll und mache die Kinder stolz (9.2). Wenn Eltern hingegen die deutsche Sprache und die Kultur nicht kennen, sei das respektlos. Diejenigen, die ihren Kindern sogar verbieten, zu Hause Deutsch zu sprechen, sollten lieber in ihre Heimat zurückkehren (9.3). Auch für die Zusammenarbeit mit der Kita sei es von Nachteil, wenn Eltern nicht genug Deutsch könnten. Um sich z.B. an Elternabenden beteiligen zu können, sollten sie sich bemühen, Deutsch zu lernen (9.4). Allerdings gäbe es auch viele Eltern, die sich Sorgen machten, ob die Kindere genug Deutsch lernen, und die möchten, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kita nur Deutsch mit den Kindern sprechen (9.5). Auf einer Höhe mit dem Grundgedanken 3, der sich an die Eltern richtet, hat Meriem auf der rechten Seite den Grundgedanken 4 platziert, der ihre Grundhaltung zu Respekt

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und Anpassung aus dem Grundgedanken 2 im Hinblick auf Erziehung und auf die Aufgabe der Kita präzisiert: „Für die Kinder ist es das Wichtigste, dass sie in die deutsche Sprache, die Kultur und die Werte hineinwachsen, da sie die Zukunft des Landes sind. Dafür ist die Kita zuständig, aber auch die Eltern.“ (Grundgedanke 4)

Auch dieses Erziehungsziel ist eng mit Meriems Erfahrungen im Iran und ihrer Migrationsgeschichte verbunden. Das wird dadurch deutlich, dass sie diesem Grundgedanken zwei Statements aus dem Themenfeld Meine Migrationsgeschichte (und kulturelle Identität) zugeordnet hat. Sie beschreiben einerseits den Beginn ihres Leidens in der Heimat, als sie im Zuge der islamischen Revolution von heute auf morgen nur noch mit einem Kopftuch zur Schule gehen konnte. Sie wollte daraufhin nicht mehr zur Schule gehen, aber ihr Vater habe von ihr verlangt, sich anzupassen, damit sie weiter lernen konnte (3.1). Andererseits unterstreicht sie hier nochmals ihre Haltung dem neuen Land gegenüber, in dem sie wieder frei leben konnte: Das wichtigste sei demnach der Respekt vor der Sprache, der Kultur, den Werten und den Menschen, wenn man in ein neues Land komme, da man auch dessen Vorteile nutze. Mit Respekt lerne man, sich anzupassen und sich einzufügen (3.9). Die Forderung nach und Rechtfertigung von Respekt und Anpassung in zwei völlig unterschiedlichen Situationen weist wiederum darauf hin, dass Respekt und Anpassung schon vor der Migration für Meriem wichtige Werte waren. Wurde beim Grundgedanken 2 bereits deutlich, dass Erziehungsziele aus der Heimat durchaus übernommen werden, wo sie den Respekt vor den Älteren und den Kleineren betreffen, und dass dies problemlos der Forderung nach Anpassung an eine neue Kultur zugeordnet werden kann, zeigt sich hier wieder, dass die Forderung nach Respekt und Anpassung bereits in der frühesten Jugend eine Rolle spielte und derselben Forderung in Bezug auf die Kindererziehung in Deutschland im Grundgedanken 4 zugeordnet wird. Die Forderung, dass Kinder vor allem die deutsche Sprache, Kultur und Werte vermittelt bekommen sollten, erweitert Meriem in einem Statement, das sie ebenfalls diesem Grundgedanken über die Erziehungsziele und die Rolle der Kita zuordnet. Hier sagt sie, dass Kinder auch andere europäische Sprachen lernen sollten, wie z.B. Englisch. Es gehe ihr um die Vermittlung von „europäischen Werten […] wie Ordnung, Pünktlichkeit und Kontrolle“ (7.6). Dabei wird deutlich, dass für Meriem auch das Lernen an sich einen Wert darstellt. Sie betont mehrmals, dass sie das meiste Deutsch von den Kindern gelernt habe, dass sie gerne von ihnen lernt und ihnen dafür sehr dankbar sei (5.1). Schließlich verbindet Meriem ihr Erziehungsziel der Anpassung und des Respekts für deutsche

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Werte und Sprache noch mit der Situation von Kindern in ihrer Heimat. Manchmal erzähle sie den Kindern in der Kita, dass viele Kinder dort arm seien und nicht wie sie schöne Spielsachen, Kleider oder Urlaub hätten (8.3). Neben ihre grundsätzliche Forderung nach Respekt und Anpassung im Grundgedanken 2 hat Meriem in die obere rechte Ecke den Grundgedanken 5 platziert, der ihr grundsätzliches Verständnis der Rolle von Sprache im Umgang mit Kindern ausdrückt: „Sprache muss nicht unbedingt gesprochen werden. Auch ohne Sprache5 kann man verstehen, was Kinder brauchen und möchten.“ (Grundgedanke 5)

Dieser Grundgedanke wird gestützt durch zwei Statements aus dem Themenbereich Mein beruflicher Hintergrund aus dem Iran, in denen sie beschreibt, dass sie dort damit angefangen habe, gehörlose und hörende Kinder zusammen zu betreuen, damit sie miteinander in Kontakt kämen (2.5). Dabei habe sie festgestellt, dass auch hörende Kinder, die noch nicht sprechen konnten, die Gebärden lernen und sich damit gut ausdrücken konnten (2.11). Dies trägt für sie zu der Erkenntnis bei, dass Sprache nicht (laut) gesprochen werden muss, und dass auch die vorsprachlichen Äußerungen von Kindern verständlich sind. Auch zwei Statements aus dem Themenbereich Mein beruflicher Werdegang in Deutschland hat Meriem diesem Grundgedanken zugeordnet, die beschreiben, wie lange sie hier schon mit Kindern arbeitet (4.3), und dass sie auch hier angefangen hat, gehörlose und hörende Kinder zusammen zu betreuen (4.2). In Deutschland angekommen habe sie begonnen, auch die deutsche Gebärdensprache zu lernen (5.3). Die Statements aus dem Themenbereich Sprache sind alle diesem Grundgedanken 5 zugeordnet und beschreiben Meriems Bild, dass Sprache einerseits eine sehr komplizierte Kunst sei (6.1), andererseits aber auch einfach sein könne, da sie nicht gesprochen werden müsse, sondern auch vom Körper, den Augen oder den Bewegungen abgelesen werden könne (6.2). Im Umgang mit Kindern sei gesprochene Sprache nicht das Wichtigste, vielmehr könne man auch bei Kindern, die noch nicht sprechen, verstehen, was sie brauchen und möchten (6.4) und umgekehrt wüssten auch die Kinder, die die Sprache nicht verstünden, genau, wer es gut mit ihnen meint und wer nicht (6.3). Kinder könnten aber eine neue Sprache sehr schnell lernen (6.5). Das Verhältnis von gesprochener und nicht gesprochener bzw. von Laut- und Gebärdensprache wird auch in einem Statement über das Einsetzen von Implantaten bei Gehörlosen thematisiert, das Meriem diesem Grundgedanken zugeordnet hat. Hier beschreibt sie, dass sich Gehörlose, die

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Mit „Sprache“ ist hier Lautsprache gemeint.

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durch ein Implantat hörend werden, wie zwischen den Stühlen fühlen6. Sie würden dann weder der Welt der gesprochenen Sprache noch der der Gebärdensprache richtig zugehören und würden schließlich das Implantat häufig wieder entfernen, um der gehörlosen Community anzugehören (6.6). Dieses Statement zeigt, wie eng Sprache auch für Meriem mit Zugehörigkeit verbunden ist, egal, ob es sich um Lautsprache oder Gebärdensprache handelt. Zwei Statements, die beschreiben, wie sie ihre persische Muttersprache in den Kitaalltag einbringt, hat Meriem auch diesem Grundgedanken zugeordnet. So spreche sie mit neuen Kindern, die Persisch oder Farsi können, auch mal Persisch, damit sie sich sicher fühlen und gut ankommen. Nach der Eingewöhnung wechsele sie jedoch ins Deutsche (8.1). Ebenso baue sie persische Worte in den Kitaalltag ein, singe Schlaflieder auf Persisch und habe früher auch manchmal persisches Frühstück für die Kinder gemacht (8.4). Die Verwendung des Deutschen und des Persischen, jeweils auch mit Kindern, die die Sprache nicht verstehen, scheint für Meriem eben deshalb zu funktionieren, weil die Kinder ihrer Ansicht nach nicht nur auf die gesprochene Sprache angewiesen sind, sondern von ihr auch andere Signale bekommen, an denen sie sich orientieren können, und durch die sie z.B. das persische Wort „Azizam“ für „mein Schatz“ verstehen, wenn es mit entsprechender Stimmlage, Gesten etc. gesagt wird. Da sich aus Meriems Grundgedanken und Statements – anders als bei den meisten anderen Untersuchungspartnerinnen – einige Widersprüche zu ergeben schienen, wurden diese Punkte in der kommunikativen Validierung gezielt thematisiert. Hierbei ging es zunächst um das Verhältnis von Anpassung an deutsche Werte und Erziehungsziele, die Meriem einfordert, einerseits und dem Festhalten an Elementen aus ihrer Herkunftskultur andererseits. Dazu betonte

6

Gemeint ist hier der Einsatz von Cochlea-Implantaten, elektronische medizinische Geräte, die die Funktion der beschädigten Teile des Innenohrs (der Cochlea) übernehmen, um Audiosignale an das Gehirn zu übertragen. Dabei erfasst ein Soundprozessor, der hinter dem Ohr oder am Körper getragen wird, Audiosignale und wandelt sie in digitale Codes um. Die digital codierten Signale werden durch die seitlich am Kopf befindliche Sendespule an das Implantat unter der Haut übertragen. Das Implantat wandelt die digital codierten Audiosignale in elektrische Impulse um und leitet sie an den Elektrodenträger in der Cochlea (die Teil des Innenohres ist) weiter. Die Implantatelektroden stimulieren den Hörnerv in der Cochlea, von wo aus die Signalimpulse an das Gehirn weitergeleitet werden. Dort entsteht dann eine Hörwahrnehmung. (vgl. http://www.cochlear.com/wps/wcm/connect/de/startseite/hoeren-und-hoerverlust/ hoeren-und-hoerverlust/behandlungsmoeglichkeiten/cochlea-implantate zuletzt abgerufen am 26.05.2019)

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Meriem, dass es richtig sei, gute Elemente aus einer anderen Kultur einzubauen, dass man aber sehr gut aufpassen müsse, damit es nicht zu viel werde. Das ‚pure‘ Deutsche dürfe nicht verlorengehen. Auch in Deutschland gebe es schlechte Elemente, die man als Neuzugewanderte und Neuzugewanderter einfach auch weglassen und ignorieren könne. Grundsätzlich sei es für die Einzelne und den Einzelnen ausschlaggebend, wie die Familie sei. Wer gute Gewohnheiten und einen guten Charakter im Herkunftsland hatte, würde diese auch nach der Migration in einem neuen Land behalten. Auch die Identität mehrsprachig aufwachsender Kinder wurde angesichts von Meriems ausdrücklicher Forderung nach Anpassung nochmal hinterfragt. Werden mehrsprachig aufwachsende Kinder Deutsche, oder haben sie eine irgendwie ‚gemischte‘ Identität? Meriem berichtet hier, dass es viele Kinder gebe, die sich selbst als Deutsche sehen, aber deren Eltern ihnen sagen, sie wären Araber, oder Iraner, entsprechend der Herkunftskultur der Eltern, und ihre Kinder z.B. auch in die entsprechende Nachmittagsschule schicken. Das hinge hauptsächlich von den Eltern ab. Eine Mischung, z.B. eine Identität als DeutschTürke, findet Meriem problematisch. Kinder würden die Herkunftskultur der Eltern eher ablehnen und die Eltern sollten dies akzeptieren. Man könne nicht immer an dem Alten festhalten, sondern müsse das Neue hereinlassen. In vielleicht 20 Jahren würden Eltern es vielleicht leichter akzeptieren, dass ihre Kinder in die deutsche Kultur hineingewachsen sind. Diese Kinder würden dann selbst noch deutscher werden und z.B. ihren Kindern erlauben, deutsche Partnerinnen oder Partner zu heiraten. Dies sieht Meriem als einen sehr positiven Prozess. 8.4.4 Karin Auswahl der Untersuchungspartnerin und Interviewsituation Karin wurde als vierte Untersuchungspartnerin bei den Fachkräften gewählt, weil sie im Krippenbereich arbeitet, eine einschlägige Berufsausbildung und keinen ‚Migrationshintergrund‘ hat. Zudem hat sie im Vergleich zu den anderen Untersuchungspartnerinnen eher wenig Berufserfahrung. In Bezug auf ihr Profil als Fachkraft, die zwar eine fachliche Qualifikation, aber keinen besonderen Schwerpunkt im Bereich Sprache hat, die ausschließlich mit unter Dreijährigen arbeitet, von denen viele mehrsprachig sind, die aber selbst keine Migrationserfahrungen hat, vertritt sie am ehesten die Mehrheit der Fachkräfte in Kitas7. Die

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Laut Mikrozensus hatten im Jahr 2014 rund 88% der Erwerbstätigen in der frühen Bildung keinen ‚Migrationshintergrund‘ (Autorengruppe Fachkräftebarometer 2017:

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Gespräche fanden im Abstand von zwei Wochen in den Räumen der Kita statt und dauerten jeweils ca. eineinhalb Stunden. Daten zum beruflichen und persönlichen Hintergrund Karin ist in Deutschland monolingual deutsch aufgewachsen und hat keinen ‚Migrationshintergrund‘. Sie hat nach ihrem Realschulabschluss eine zweijährige Ausbildung zur sozialpädagogischen Assistentin mit dem Ziel gemacht, im Anschluss eine dreijährige Erzieherinnenausbildung zu absolvieren. Nach Abschluss beider Ausbildungen hat Karin für sechs Monate in Costa Rica in einer Gastfamilie gelebt, bevor sie in Hamburg anfing, als Erzieherin zu arbeiten. Nach einer kurzen Tätigkeit im Elementarbereich einer anderen Kita arbeitet sie nunmehr seit 2012 in der Krippe einer konfessionsgebundenen Kita im Hamburger Bezirk Altona. Karin hat in dieser Zeit verschiedene Fortbildungen gemacht, aber keine weiteren formalen Zusatzqualifikationen erworben. Im Jahr 2015 hat Karin an einem vierwöchigen Austausch des Kitaträgers teilgenommen und in Portugal in der Kita einer deutschen Schule mit Drei- bis Fünfjährigen gearbeitet. Daten zur Einrichtung In der Kita von Karin werden insgesamt ca. 120-130 Kinder in sechs Gruppen des Krippen- und Elementarbereichs betreut. In Karins Krippengruppe wurden zum Zeitpunkt der Erhebung zwölf Kinder zwischen null und drei Jahren betreut, von denen sieben mehrsprachig aufwuchsen. Die Sprachen der Kinder waren neben Deutsch Arabisch, Englisch, Russisch, Türkisch, Serbisch und Portugiesisch. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kita sprechen außer Deutsch Französisch, Niederländisch, Russisch, Portugiesisch und Englisch. Allerdings werden diese Sprachen nicht regelmäßig im Alltag eingesetzt, sondern nur unterstützend genutzt, wenn es mit Eltern oder neuen Kindern Verständigungsprobleme im Deutschen gibt. In Karins Gruppe sind unter den Fachkräften keine weiteren Sprachen außer Deutsch vertreten, hier arbeitet Karin mit einer Kollegin zusammen, die ebenfalls keinen ‚Migrationshintergrund‘ hat und monolingual deutsch aufgewachsen ist. Beide arbeiten in Vollzeit. Argumentation in Grundgedanken und zugeordneten Statements Anhand der im Gespräch behandelten Themen und der dazu geäußerten Statements ließen sich vier Grundgedanken als Eckpfeiler der subjektiven Theorie

171). Zur Diskussion dieser Situation siehe auch Gereke u.a. (2014) und FuchsRechlin (2010).

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Karins formulieren. In der kommunikativen Validierung hat Karin einen Grundgedanken und 14 Statements in ihren Formulierungen geändert oder ergänzt. Außerdem formulierte sie noch drei zusätzliche Statements. Karin ordnete ihre vier Grundgedanken in den vier Ecken des Theoriebildes an und gab ihnen jeweils noch eine Überschrift. Links oben platzierte sie ihren Grundgedanken 1 über Sprache und überschrieb diesen Bereich mit „was ich vermitteln möchte“. In der rechten oberen Ecke liegt der Grundgedanke 2 über Mehrsprachigkeit, den sie mit „meine Meinung“ überschrieben hat. Links unten liegt der Grundgedanke 3 über die Kita mit der Überschrift „Einrichtung“ und rechts unten der Grundgedanke 4 über die Eltern, überschrieben mit „Eltern Umgang“.

Abb. 9: Theoriebild Karin

Den Ausgangspunkt von Karins subjektiver Theorie stellt ihr Verständnis von Sprache dar, das sie im Grundgedanken 1 formuliert hat: „Sprache, in gesprochener oder in nonverbaler Form, ist sehr wichtig, damit die Kinder Grenzen und Bedürfnisse zeigen und harmonisch miteinander kommunizieren können.“ (Grundgedanke 1)

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Dieser Grundgedanke drückt Karins Grundverständnis von Sprache in Bezug auf ihre Arbeit aus und benennt gleichzeitig ihr zentrales Ziel im pädagogischen Alltag. Im Unterschied zu den beiden Fachkräften aus dem Elementarbereich betont Karin ebenso wie Meriem, dass Sprache nicht gesprochen sein muss, sondern dass in ihrer Arbeit ebenso eine nonverbale Sprache mit Gesten, Bewegungen, Berührungen wichtig ist, mit der sich die Kinder ausdrücken (5.16). Vor allem aufgrund der Tatsache, dass man mit Kindern unter drei Jahren noch nicht richtig sprechen könne, wollte Karin zunächst nicht im Krippenbereich arbeiten. Seit ihren ersten Praktika im U3-Bereich könne sie sich aber nichts Anderes mehr vorstellen (1.3). Kinder unter drei Jahren würden untereinander ihre eigene Kindersprache benutzen, ganz unabhängig davon, welche Sprache sie zu Hause sprechen, und damit würden sie sich untereinander weitgehend verstehen (4.12). Meistens würden sie auch einzelne Signale wie z.B. „Stopp“ verstehen (4.3). Ihre Aufgabe sei es, die Kommunikation der Kinder untereinander und mit den Erwachsenen soweit zu entwickeln, dass die Kinder ausdrücken können, was sie möchten und was nicht, und auch die Grenzen der anderen verstehen (3.3). Gerade im Falle von Kindern, die noch kein Deutsch sprechen, sei es das Wichtigste, dass sie lernen, ihre Grenzen zu zeigen und Bedürfnisse auszudrücken (3.5). Das müsse aber nicht unbedingt auf Deutsch geschehen, es gehe eher um eine allgemeinere, grundsätzliche Ausdrucksfähigkeit. Manchmal sei es dabei schwierig zu beurteilen, ob ein Kind sie auf Deutsch verstehen könne oder nicht oder ob es vielleicht gerade nichts verstehen wolle (5.11). Das sei allerdings auch bei einsprachig deutschen Kindern so, die gerade erst sprechen lernten. In der Gruppe von Karin sprechen die Kinder abgesehen von ihrer Kindersprache miteinander Deutsch und nutzen ihre Familiensprachen nicht untereinander. Das liege aber vor allem daran, dass jedes Kind in der Gruppe eine andere Familiensprache habe. Es gäbe Kinder, die mit anderen aus der Nachbargruppe in ihrer Familiensprache sprechen (4.2). Karin stellt fest, dass sich mehrsprachige Kinder sehr darüber freuen, wenn sie von Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern, die ihre Familiensprache beherrschen, auf dieser angesprochen werden (5.14). Dieses Statement ordnet Karin ihrem Grundgedanken 1 über Sprache zu, weil es zeige, wie wichtig Sprache sei und dass sie eine besondere Verbindung zwischen den Sprecherinnen und Sprechern herstelle. Mit den Eltern versuche man allerdings soweit es gehe, auf Deutsch zu kommunizieren (6.5). Dass Karin dieses Statement auch dem Grundgedanken über Sprache zuordnet, zeigt, wie wichtig ihr eine gemeinsame Sprache ist, um Grenzen und Bedürfnisse auszudrücken und eine gelingende Kommunikation zu ermöglichen. Karins Grundgedanke 1 über die Wichtigkeit von Sprache für das Ausdrücken eigener Bedürfnisse und Grenzen beinhaltet auch ihr Ziel für die pädagogi-

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sche Arbeit. Ihre Beschreibung der täglichen Praxis in den Statements zeigt, welche wichtige Rolle Sprache für die Erreichung des Ziels eines friedlichen Miteinanders spielt. Am äußeren Rand hat Karin diesem Grundgedanken auch noch ein Statement zugeordnet, das darauf hinweist, wie mühsam ihre Arbeit auch sein kann, ohne dass dies mit der Mehrsprachigkeit zu tun hätte. So sei ihre Arbeit auf einer vollen Stelle vor allem dann anstrengend, wenn ihre Kollegin krank sei oder noch Spätdienste oder Elternabende hinzukämen (1.8). Oben rechts, gegenüber dem Grundgedanken über Sprache und das Ziel der pädagogischen Arbeit hat Karin ihren Grundgedanken 2 über Mehrsprachigkeit platziert: „Mehrsprachigkeit ist für Kinder positiv und negativ. Am Anfang eine Herausforderung und am Ende ein Vorteil und eine Bereicherung.“ (Grundgedanke 2)

In den hier zugeordneten Statements betont Karin, dass Mehrsprachigkeit ein großer Schatz sei. Unabhängig von den einzelnen Sprachen werde dadurch auch das Erlernen weiterer Sprachen erleichtert (4.8). Es sei es nicht hinderlich, wenn Kinder zu Hause noch andere Sprachen außer Deutsch sprechen (5.7). Auch die kulturelle und religiöse Vielfalt, in der mehrsprachig aufwachsende Kinder lebten, sei ein Reichtum (8.4). Allerdings hätten mehrsprachige Kinder in der Kita anfangs mehr zu verarbeiten (4.11) und erst nachdem sie in der Kita etwas Deutsch gelernt hätten, könne man auch andere Sachen mit ihnen einüben (4.9). So käme es, dass z.B. Einjährige, die ohne Deutschkenntnisse in die Kita kämen, zuerst die sprachlichen Fähigkeiten entwickeln und bei der Entwicklung anderer Fähigkeiten, wie z.B. dem selbstständigen An- und Ausziehen, zunächst noch etwas langsamer seien als die einsprachig deutschen Kinder. Spätestens mit drei Jahren hätte sich die Entwicklung dann aber angeglichen. Außerdem spielten beim Entwicklungstempo auch viele andere Faktoren eine Rolle (4.10). In der ersten Zeit seien für Kinder, die noch kein Deutsch könnten, andere Kommunikationswege wichtig, wie z.B. Lieder (5.15). Auch lerne jedes Kind Sprache anders, was sehr spannend sei (4.5). Manchmal seien auch die Kinder, die bereits in die Mehrsprachigkeit hineingewachsen sind, ein gutes Vorbild und eine Motivation für ihre Eltern in Bezug auf das Deutschlernen (7.9). Dem Grundgedanken 2 über Mehrsprachigkeit hat Karin auch Statements über ihre Ausbildung zugeordnet, in der Mehrsprachigkeit nur theoretisch ein Thema gewesen sei. In der Praxis stelle sie sich ganz anders dar, da jedes Kind anders sei (1.4). Und auch ihre eigenen interkulturellen Erfahrungen ordnet sie hier zu, durch die sie nachvollziehen könne, wie es ist, sich nicht sprachlich verständigen zu können (1.5; 1.10). So gehören auch ihre Erfahrungen in der Kita einer deutschen Schule in Portugal für sie zu diesem Grundgedanken, da sie dort

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gesehen habe, wie einsprachige Kinder von mehrsprachigen gelernt hätten (4.6), aber auch, wie schwierig es für Kinder sein könne, nach einem Ortswechsel in eine völlig neue Umgebung zu kommen (8.2). Auch in die portugiesische Kultur habe sie dort Einblicke gewonnen, was für ihr Verständnis der portugiesischen Familien in ihrer Kita in Hamburg interessant gewesen sei (8.3). Außerdem betont sie, dass sie sich überhaupt sehr für verschiedene Kulturen interessiere (1.12). Schließlich stützt auch ein Statement über einsprachige Kinder diesen Grundgedanken: Für die einsprachig aufwachsenden würde sie sich manchmal wünschen, dass sie in der Kita auch die Chance bekämen, noch eine weitere Sprache zu lernen (5.12). Überschrieben hat Karin den Grundgedanken 2 mit „Meine Meinung“, was deutlich machen soll, dass dieser Grundgedanke mit seinen Statements ihre persönliche Haltung zu Mehrsprachigkeit ausdrückt. Dass sie ihn neben den Grundgedanken 1 in die obere Reihe platziert hat, zeigt, dass diese Haltung in einem wichtigen Zusammenhang mit ihrem Ziel der harmonischen Kommunikation in ihrer pädagogischen Praxis steht. Auf der linken Seite, unterhalb des Grundgedanken 1 über Sprache und das pädagogische Ziel, hat Karin den Grundgedanken 3 über den Auftrag der Kita platziert: „Unsere Kita ist als deutsche Institution zuständig für den Erwerb der deutschen Sprache und das Hereinwachsen der Kinder in die deutsche Kultur.“ (Grundgedanke 3)

Bei diesem Grundgedanken wurde das ursprüngliche „Die Kita“ von Karin in der kommunikativen Validierung umformuliert in „Unsere Kita“, da sie nicht meine, dass generell jede Kita (nur) für das Deutsche zuständig sei, sondern dies nur für die Kita feststellt, in der sie arbeitet. Sie überschrieb den Grundgedanken 3 außerdem noch mit „Einrichtung“ und betonte in der kommunikativen Validierung, dass dieser Grundgedanke das Haus betreffe, während der Grundgedanke 2 über Mehrsprachigkeit eher ihre persönliche Meinung wiedergebe. Somit werden hier zwei Haltungen deutlich, einerseits die der Einrichtung und andererseits die persönliche von Karin. Sie müsse sich zwar daran halten, was hier passiere, könnte aber nur authentisch arbeiten, wenn sie sich an ihrer eigenen Haltung orientiere, und würde damit auch wiederum die Arbeit des Hauses mitgestalten oder verändern. In den Übergangsbereich zwischen dem Grundgedanken 1 über Sprache und dem Grundgedanken 3 über den Auftrag der Kita hat Karin einige Statements platziert, die den Umgang mit Sprache und Mehrsprachigkeit in der Praxis beschreiben. Hierzu gehören das Ziel, dass durch Sprache in der Gruppe weniger gebissen, gekratzt und gehauen werde (3.4), die Ausweitung des Begriffs Sprache auf nonverbale Formen (3.1), und die Praxis, dass mit Kindern, die noch

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kein Deutsch sprechen, zuerst am (deutschen) Spracherwerb angesetzt werde, um die Kommunikation in der Gruppe zu erleichtern, und andere Lernschritte eventuell etwas später einsetzen (5.8). Außerdem liegt hier am Übergang zwischen Sprache und Einrichtung das Statement über die sprachliche Zusammensetzung der Gruppe (4.1) und das Statement, dass die Kinder schneller Deutsch lernen, wenn die Eltern auch daran interessiert sind, selbst Deutsch zu lernen (7.1). Dieser Übergangsbereich zeigt, wie der Grundgedanke 1 über die Rolle der Sprache, der Grundgedanke 2 über Mehrsprachigkeit und der Grundgedanke 3 über den Auftrag der Kita miteinander zusammenhängen: Für alle Kinder und für den Kitaalltag ist Sprache zentral und um die Kommunikation und das Miteinander zu ermöglichen, und bei allen hat die Kita den Auftrag, sie beim Hineinwachsen in die deutschen Sprache und Kultur zu begleiten. Direkt dem Grundgedanken 3 über den Auftrag der Kita sind Statements zugeordnet, die die Kita beschreiben, wie z.B., dass dort die christliche Religion gelebt wird, es den Kindern gleichzeitig aber nicht verboten sei, „ihre Kultur“ von zu Hause mitzubringen (2.1). Auch über die Arbeitsbelastung gibt es hier Statements, wie z.B., dass die Zeit für Dokumentation und Vorbereitung wegfällt, wenn die Kollegin krank ist (2.5), und dass besonders kleine Kinder viel Aufmerksamkeit brauchen und es manchmal schwer sei, allen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden (2.3). Auch Statements über den Umgang mit Mehrsprachigkeit stützen diesen Grundgedanken. So stellt Karin fest, dass es nicht sinnvoll wäre, in der Kita mehrsprachig zu erziehen, da die Kinder so viele verschiedene Sprachen mitbringen (5.13). Daher würden auch die Familiensprachen der Kinder nicht in den Kitaalltag einbezogen (5.9) und Karin selbst singe z.B. keine Lieder in anderen Sprachen, weil dies für sie nicht authentisch sei (5.10). Da es in Deutschland wichtig sei, Deutsch zu können, sei die Kita für den Deutscherwerb zuständig. Wenn die Kinder mit drei Jahren oder früher in die Kita kämen, hätten sie aber auch noch genug Gelegenheit, die deutsche Sprache zu lernen (9.1). Für den Deutscherwerb sei es hilfreich, wenn die Kinder acht Stunden in der Kita wären. Sie würden es dann schneller lernen, als wenn sie nur fünf Stunden da seien (5.4). Die Eltern würden bei Kitaeintritt meistens nicht explizit nach dem Spracherwerb im Deutschen fragen, aber das Hineinwachsen ins Deutsche sei für sie ebenso ein Motiv für den Kitabesuch wie das Hineinwachsen in den Kitaalltag an sich (7.5). Die Eltern hätten aber nicht die Erwartung, dass auch die Familiensprachen in der Kita gefördert würden (7.6). Auch würden sich die Eltern überwiegend bewusst für eine christlich orientierte Kita entscheiden und hätten wenig Interesse daran, Elemente aus ihrer eigenen Kultur oder Religion einzubringen (7.8). Mehrsprachige Kinder würden zu Hause ihre Kultur leben und in der Kita die Kita- bzw. die christliche Kultur

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(8.5). Gleichzeitig betont Karin, in der Kita würden alle Kulturen friedlich miteinander leben und es funktioniere gut (8.6). Karin selbst allerdings fände es schön, wenn die Kinder mehr aus ihrer eigenen Kultur einbringen würden (8.7). Zwei Statements aus dem Themenfeld Die Sprache und die Mehrsprachigkeit der Kinder beschreiben näher, wie sich das ‚Hineinwachsen‘ mehrsprachiger Kinder in die deutsche Kita aus Karins Sicht vollzieht. So betont sie, dass ihr Kinder, die ganz ohne Deutschkenntnisse in die Krippe kämen, immer ein bisschen leidtäten, „weil sie ohne Eltern in einer fremden Welt stehen und keiner sie versteht“ (4.4). Auch das Statement über die Entwicklung mehrsprachiger Kinder, die zunächst Deutsch lernen müssten und daher in anderen Entwicklungsschritten zunächst etwas hinter den einsprachigen Kindern liegen würden (4.10), ist hier nochmal zugeordnet. Da Karin im Interview an mehreren Stellen betonte, dass Kinder, die ohne Deutschkenntnisse in die Kita kommen, ihr in ihrer Verlorenheit immer ein bisschen leidtäten, fragte ich sie in der kommunikativen Validierung, ob die Herausforderungen für die Kinder bei Kitaeintritt ihrer Meinung nach wirklich durch deren Mehrsprachigkeit entstehen, oder durch das Nichtaufgreifen der Mehrsprachigkeit in der Kita. Hier räumte Karin ein, dass die Hürden für mehrsprachige Kinder natürlich niedriger wären, wenn das Erlernen der Sprache wegfallen würde, was in ihrer Vorstellung allerdings nur dann der Fall wäre, wenn die Kinder bei Kitaeintritt bereits Deutsch könnten. Die Möglichkeit, Hürden abzubauen, indem mehrsprachige Fachkräfte den Kindern in ihren Familiensprachen entgegenkommen, wurde von ihr auch auf diese Nachfrage hin nicht erwähnt. Stattdessen ging Karin nochmal auf ihre Bezeichnung der Kita als „deutsche Institution“ ein und führte aus, dass die Kita gerade aufgrund der hohen Zahl an Kindern mit ‚Migrationshintergrund‘ ihren Charakter als deutsche Institution betont und den Kindern, die zu Hause eine andere Kultur lebten, das Leben einer deutschen „Kita-Kultur“ vermitteln wolle. Wenn mehr deutsche Kinder da wären, würden vielleicht stärker andere Kulturen erkundet und vermittelt. Das sei aber nicht nötig, weil die Kinder der Kita schon so viele andere Kulturen mitbringen würden. Auch die Eltern würden von der Kita vor allem die Vermittlung der deutschen Kultur erwarten. Angesprochen auf einzelne Statements, die einen Widerspruch zwischen den Grundgedanken 2 und 3, also zwischen der Wertschätzung von Mehrsprachigkeit einerseits und der Einsprachigkeit der Kita andererseits, andeuten, räumte Karin einen Zwiespalt zwischen dem Vermitteln der deutschen Sprache und Kultur und dem Wertschätzen der Mehrsprachigkeit ein. Für deutsche Kinder sei es schade, dass sie nicht von der Mehrsprachigkeit anderer Kinder profitierten. Immerhin würden sie mitkriegen, dass es andere Kulturen und andere Sprachen

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gebe und dass Vielfalt ganz normal sei. Hier formuliert Karin auch nochmal den Wunsch, dass die Eltern mehr kulturelle Elemente einbringen würden. Sie entwirft aber keine Idee, wie die Kita von sich aus die Eltern dazu ermutigen könnte. In die untere rechte Ecke hat Karin den Grundgedanken 4 zur Zusammenarbeit mit den Eltern in Bezug auf Spracherziehung platziert und mit „Eltern Umgang“ überschrieben: „Den Eltern kann man zur Spracherziehung keine generellen Tipps geben. Man kann ihnen nur dabei helfen, eine eigene Lösung zu finden, die authentisch ist.“ (Grundgedanke 4)

Hier hat Karin die Statements über einen Fall in ihrer Gruppe zugeordnet, in dem ein Mädchen „zu Hause mit Englisch und einer afrikanischen Sprache aufwuchs und hier Deutsch lernen sollte und bei dem wir den Eindruck hatten, sie versteht keine der drei Sprachen“ (5.1). Das habe ihrer Meinung nach an dem „Durcheinander der Sprachen, die zu Hause unsystematisch gemischt wurden“ gelegen (ebd.). In vielen Gesprächen sei den Eltern empfohlen worden, „die Vielfalt zu reduzieren und nicht zu stark zu mischen, also die afrikanische Sprache zurückzustellen und mit der Tochter erstmal nur Deutsch oder Englisch zu sprechen“ (6.1). „Durch eine bessere Systematik der Sprachen zu Hause und durch eine Verlängerung der Betreuungszeit in der Kita von fünf auf acht Stunden“ habe das Mädchen „mittlerweile perfekt Deutsch gelernt“ (5.3). Es sei hilfreich, wenn die verschiedenen Sprachen an bestimmte Situationen gebunden wären (5.5), wobei die Eltern intuitiv entscheiden und sich nicht an starre Vorgaben halten sollten (5.6). Generell gebe Karin den Eltern lieber keine allgemeinen Tipps, sondern versuche, mit ihnen zusammen eine Lösung zu finden (6.3). Auch finde sie nicht, dass die Eltern zu Hause unbedingt Deutsch sprechen müssten (6.4). In Gesprächen versuche sie, die Eltern darauf vorzubereiten, dass die Kinder, wenn sie anfangen, Deutsch zu lernen, die Sprachen mischen oder die Familiensprache weniger sprechen und dass die Eltern sich darüber keine Sorgen machen sollten (6.7). Manchen Eltern sei es sehr wichtig, mit den Kindern auch die Familiensprache zu sprechen, und sie täten das auch in der Kita (7.2). Konflikte mit Eltern seien sehr selten und sie würden schließlich geklärt. Über die Spracherziehung hätte es allerdings noch gar keine Konflikte gegeben (7.4). Ein Statement zu diesem Grundgedanken, zeigt, dass der ansonsten sehr harmonische Umgang mit den Eltern zum Thema Mehrsprachigkeit auch Fragen aufwirft: Eine Mutter, die nur sehr wenig Deutsch könne, würde Sachen nur verstehen, wenn Karin sie ihr mehrmals sage. Zu Elternabenden wäre diese Mutter noch nie erschienen, da sie in der großen Runde vielleicht Hemmungen habe. Allerdings komme sie zu

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Bastelnachmittagen (6.6), bei denen sie sich ja dann mit ihrer Tochter unterhalten könne. 8.4.5 Gülcan Auswahl der Untersuchungspartnerin und Interviewsituation Gülcan wurde als fünfte Untersuchungspartnerin bei den Fachkräften gewählt, weil sie, wie Meriem, selbst mehrsprachig ist und einen ‚Migrationshintergrund‘ hat. Ebenso verfügt sie über eine langjährige Berufserfahrung und arbeitet mit Krippenkindern, ist aber anders als Meriem und Elena ausgebildete Erzieherin. Das Interview und die kommunikative Validierung wurden im Abstand von neun Tagen im Café der Kita durchgeführt und hatten eine Länge von jeweils ca. eineinhalb Stunden. Daten zum beruflichen und persönlichen Hintergrund Gülcan ist Kurdin und migrierte Anfang der 1990er Jahre aus der Türkei nach Deutschland. Sie erhielt hier Asyl und verfügt mittlerweile über die deutsche Staatsbürgerschaft. Über die Umstände und Gründe ihrer Migration spricht sie nicht gerne und bat mich, die Details nicht zu dokumentieren. Es wurde jedoch deutlich, dass es sich um eine sehr schwierige und schmerzhafte Migrationsgeschichte handelt, deren Folgen sie bis heute zu verarbeiten hat. Nachdem Gülcans Antrag auf Asyl bewilligt war, wollte sie nach eigener Aussage zuerst Deutsch lernen und besuchte sechs Monate lang einen Deutschkurs, in dem sie jedoch nicht viel gelernt habe. Gleichzeitig arbeitete Gülcan in einem internationalen Treff im Hamburger Bezirk Harburg und betreute dort Kinder. Auch in der Türkei hatte sie bereits mit Kindern gearbeitet. Um die Sprache zu erlernen, besuchte sie dann einen Deutschkurs in einer Frauenbegegnungsstätte. Außerdem machte sie an der Abendschule ihren Realschulabschluss, da ihr Abschluss aus der Türkei nicht anerkannt wurde. In der Frauenbegegnungsstätte wurde ihr dazu geraten, eine Ausbildung zur Krankenpflegerin zu machen. Diese Ausbildung brach sie jedoch nach einem Jahr ab und erhielt dann die Möglichkeit, an der Fachschule für Sozialpädagogik die Aufnahmeprüfung für die Erzieherinnenausbildung für Frauen mit Zuwanderungsgeschichte zu machen. Hier konnte sie schließlich 1999 eine vierjährige Ausbildung zur Erzieherin beginnen. Während der Ausbildung arbeitete sie bereits in der Kita, in der sie bis heute als Erzieherin tätig ist.

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Daten zur Einrichtung In der Kita wurden zum Zeitpunkt der Erhebung 57 Kinder im Alter von null bis sechs Jahren in drei altersgemischten Familiengruppen betreut. 31 der Kinder waren mehrsprachig und 26 wuchsen einsprachig nur mit Deutsch auf. Die Sprachen der Kinder waren neben Deutsch Portugiesisch, Polnisch, Albanisch, Spanisch, Russisch, Französisch, Türkisch, Kurdisch, Twi, Englisch, Persisch, Arabisch, Dari und Tigrinja. Im Team arbeiteten zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit und fünf ohne ‚Migrationshintergrund‘. Ihre Sprachen waren neben Deutsch Englisch, Spanisch, Türkisch, Kurdisch, Arabisch, Persisch, Russisch, Japanisch, Portugiesisch und Albanisch. Das Konzept der Kita sieht vor, dass im Team Fachkräfte und ‚qualifizierte Mütter‘ zusammenarbeiten und die Fachlichkeit der einen und die Lebenserfahrung der anderen gleichwertig zusammenwirken sollen. Die Kita ist Teil eines Nachbarschaftszentrums, das sich als offene Begegnungsstätte für Menschen verschiedenster Herkunft, Alter und sozialer Situation nach dem Prinzip der Selbsthilfe versteht. Argumentation in Grundgedanken und zugeordneten Statements Anhand der im Gespräch behandelten Themen und der dazu geäußerten Statements ließen sich vier Grundgedanken formulieren, die die Eckpfeiler der subjektiven Theorie Gülcans darstellen.

Abb. 10: Theoriebild Gülcan

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In der kommunikativen Validierung ordnete sie ihre Grundgedanken im Theoriebild als Viereck an. Dabei platzierte sie als erstes den Grundgedanken 1 über Sprache als Identität eines Menschen in der oberen linken Ecke. Auf der linken Seite unten platzierte sie den Grundgedanken 2 über Mehrsprachigkeit. In die Mitte, zwischen den Grundgedanken 1 und 2 links und den Grundgedanken 3 und 4 rechts legte Gülcan eine Reihe von Statements, die ihren beruflichen Werdegang und ihre Haltung zu Religion beschreiben. Auf der rechten Seite liegt oben der Grundgedanke 3 über die elterliche Spracherziehung und unten der Grundgedanke 4 über die Aufgabe der Kita. Den Ausgangspunkt ihrer subjektiven Theorie stellt Gülcans Grundgedanke 1 dar, in dem sie Sprache auch als den Anfang des Aufwachsens beschreibt: „Die Sprache ist die Identität eines Menschen. Sie ist die Wurzel, aus der sich alles entfaltet.“ (Grundgedanke 1)

Diesem Grundgedanken ordnete sie alle Statements aus dem Themenbereich Meine Sprache zu. Hierin berichtet sie, dass sie selbst bis zu ihrem sechsten Lebensjahr, wie alle in ihrem Dorf, nur Kurdisch gesprochen habe (3.1) und dann in der Schule unter den Schlägen des Lehrers Türkisch lernen musste und kein Kurdisch mehr sprechen durfte (3.2). Auch zu Hause habe man im Grunde kein Kurdisch sprechen dürfen (3.3) und die Gewalt und Überwachung, die damit einhergingen, seien eine sehr schlimme Erfahrung für alle Kinder gewesen. Auch heute sei es in der Türkei so, dass in der Schule kein Kurdisch unterrichtet würde und die Kinder es weder lernen noch in der Öffentlichkeit sprechen dürften (3.4). Ihre Sprache sei eine unterdrückte und verbotene Sprache, die man in der Türkei nur im Geheimen sprechen könne (3.6). In Deutschland hingegen könne sie heute ganz offiziell einen Kurs in Kurmandschi8 an der Uni besuchen, was sie sehr freue (3.5). Da es sieben kurdische Dialekte gebe, sei es für sie manchmal schwierig, etwas aus dem Kurdischen zu übersetzen (3.8). Insgesamt liebe sie Sprachen sehr und lerne sehr gerne neue Sprachen (3.7). Die Zuordnung dieser Statements zeigt, wie sehr die eigene Erfahrung mit einer unterdrückten und verbotenen Muttersprache den Grundgedanken, die Sprache mache die Identität aus und sei die Wurzel alles Anderen, prägt. Aus dem Themenbereich Sprache hat Gülcan hier zwei Statements zugeordnet, die direkt in die Formulierung des Grundgedankens 1 eingingen: „Die Spra-

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Kurmandschi ist eine der drei kurdischen Sprachen, die von etwa 65 % aller Kurden gesprochen wird und in der Türkei, in Syrien, Irak und Iran sowie in Armenien, im Libanon und in einigen ehemaligen Sowjetrepubliken verbreitet ist.

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che ist sehr wichtig. Sie ist die Wurzel eines Menschen“ (4.1) und „Die Sprache ist deine Identität“ (4.2). In einem weiteren Statement zum Thema Sprache, das dem Grundgedanken 1 zugeordnet ist, kommt außerdem nochmal die schmerzhafte Geschichte der eigenen Sprache zum Ausdruck: „Die Muttersprache ist die Sprache, die du schon im Bauch verstanden hast. Wenn du dann auf die Welt kommst, und dir wird diese Sprache verboten, dann tut das sehr weh“ (4.3). Außerdem hat Gülcan zwei Statements aus dem Themenbereich Meine Migrationsgeschichte diesem Grundgedanken zugeordnet die zeigen, welche Konsequenzen die verbotene Muttersprache in Gülcans Geschichte letztendlich hatte: „Ich habe mir immer gesagt, ich muss es schaffen, hier zu leben, und mir viel viel Mühe geben. Und ich habe es geschafft.“ (2.4); „Vielleicht werden wir irgendwann freie Menschen sein. Wir warten ab, vielleicht 100 Jahre“ (2.5). Ein Statement aus dem Themenbereich Mehrsprachigkeit ist ebenfalls hier zugeordnet, das darauf hinweist, wie sich Gülcans subjektiver Theorie zufolge aus der Wurzel der (Mutter)Sprache die Mehrsprachigkeit entfalten kann: „Einsprachigkeit ist wie ein Baum ohne Äste, an dem keine Äpfel wachsen. Bei mehrsprachigem Aufwachsen entfaltet sich die Wurzel und man bekommt mehr Obst und Gemüse.“ (5.1) Dass dieser Hinweis auf die Entwicklung von der Muttersprache zur Mehrsprachigkeit bereits dem Grundgedanken 1 zugeordnet wurde, zeigt, wie eng für Gülcan die Bedeutung der (Mutter)Sprache als Identität und Wurzel mit der Entfaltung von Mehrsprachigkeit zusammenhängt. Bei der Wichtigkeit, die sie der (Mutter-)Sprache als Wurzel beimisst, geht es nicht darum, diese Sprache als einzige zu pflegen. Der Schwerpunkt liegt vielmehr auf der Ermöglichung von Vielfalt durch den Erwerb der Mutter- oder Erstsprache. So hat sie den Grundgedanken 2 auf der linken Seite unter den Grundgedanken 1 platziert, was auch der Chronologie des Aufwachsens in ihrer subjektiven Theorie entspricht: „Mehrsprachigkeit ist wie ein Regenbogen. Ein Reichtum, der unbedingt gefördert werden sollte.“ (Grundgedanke 2)

Diesem Grundgedanken hat Gülcan zwei Statements über den Zusammenhang von Muttersprache, Identität und dem Erlernen von weiteren Sprachen zugeordnet: „Wenn man die eigene Muttersprache beherrscht, lernt man auch andere Sprachen leichter.“ (4.4) und „Wenn du deine eigene Sprache nicht lernst, bist du nichts und kannst auch andere Sprachen nicht lernen.“ (4.5). Des Weiteren hat Gülcan dem Grundgedanken 2 alle Statements über Mehrsprachigkeit zugordnet, bis auf das Statement über den Baum ohne Äste (5.1). Das Statement 5.2 ging direkt in die Formulierung des Grundgedanken 2 ein: „Mehrsprachigkeit ist wie ein Regenbogen, das ist sehr schön.“ Mehrsprachige Kinder würden außer-

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dem schneller lernen und auch die Grammatik anderer Sprachen sei für sie später leichter zu erwerben (5.3). Da mehrsprachige Kinder sehr schnell lernen, würden sie auch das Deutsche häufig schon in wenigen Monaten aufholen (5.6). Für viele Kinder sei Mehrsprachigkeit zwar auch eine Herausforderung, da sie viel überlegen und übersetzen müssten (5.4), aber dennoch sei Mehrsprachigkeit gut für die Kinder (5.5). Dabei sei es nicht in Ordnung, dass europäische Sprachen wie Englisch, Französisch oder Spanisch mehr wert seien als andere Sprachen. Die Hierarchie unter den verschiedenen Sprachen sei ein Zeichen von Ungerechtigkeit und Beherrschung (5.7). Durch die Zuordnung von Statements aus dem Bereich Mehrsprachigkeit in der Kita zum Grundgedanken 2 wird deutlich, dass Gülcans Wertschätzung für Mehrsprachigkeit auch mit ihrer Praxis zusammenhängt. So betont sie im Hinblick auf den Kitaalltag, wenn alle ihre Sprachen mitbrächten, würden die Erwachsenen von den Kindern lernen und die Kinder von den Erwachsenen und voneinander und das sei sehr schön (6.4). Sie selbst könne beispielsweise auch ein bisschen Afghanisch und vor allem neue Kinder würden sich darüber freuen, dass sie sich mit ihnen auf Afghanisch verständigen könne (6.6). Grundsätzlich fände sie bilinguale Konzepte gut, in denen einige Erziehrinnen nur Deutsch sprechen und andere nur z.B. Türkisch oder Spanisch (6.13). Eine weitere Erfahrung aus dem Kitaalltag, die ihren Grundgedanken über Mehrsprachigkeit stützt, ist die, dass kurdische Eltern, die selbst wenig Kurdisch sprechen, Gülcan bitten, mit den Kindern Kurdisch zu sprechen, damit sie es lernen (7.9). Auch zwei Statements aus dem Themenbereich Sprache, Kultur und Religion stützen für Gülcan den Grundgedanken über Mehrsprachigkeit: Ihrer Ansicht nach gehöre zur Sprache auch die Kultur und jeder Mensch habe eine eigene Kultur, die man, genau wie den Menschen selbst, respektieren müsse (8.1). In einer mehrsprachigen Kita sollten daher nicht nur die verschiedenen Sprachen einbezogen, sondern auch kulturelle Feste und Bräuche erklärt werden (8.2). Während auf der linken Seite des Theoriebildes Gülcans Grundgedanken über Sprache und Mehrsprachigkeit angeordnet sind, hat sie auf der rechten Seite ihre Ansicht über das richtige Handeln der Eltern und die Aufgabe der Kita platziert. Damit ließe sich ihre Anordnung auch als Darstellung von Theorie und Praxis verstehen, so Gülcan, in der auf der linken Seite ihre Theorie über Sprache und Mehrsprachigkeit stünde und auf der rechten Seite ihre Implikationen daraus für die Praxis der Eltern und die der Kita. In die Mitte, zwischen den Grundgedanken 1 und 2 links und den Grundgedanken 3 und 4 rechts platzierte Gülcan eine Reihe von Statements, die ihren beruflichen Werdegang und ihre Haltung zu Religion beschreiben. Damit stellt sie sich als Fachkraft an die Verbindungsstelle zwischen ihrer Theorie, ausgedrückt

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in den Grundgedanken 1 und 2 über Sprache und Mehrsprachigkeit einerseits, und ihrer Praxis, ausgedrückt in den Grundgedanken 3 und 4 über die Spracherziehung in Elternhaus und Kita andererseits. Diese Statements in der Mitte, die sie zwischen ihre Gedanken und ihre Haltung in der Praxis platziert hat, bilden das Gerüst von Gülcans professioneller Identität. Dazu gehören der Bericht über ihren ersten Deutschkurs (1.5), über die Tätigkeit in der Kinderbetreuung des Internationalen Treffs (1.2), über den zweiten Deutschkurs und die berufliche Orientierung in der Frauenbegegnungsstätte (1.6), über das Nachholen des Realschulabschlusses an der Abendschule (1.9) und über die Ausbildung zur Erzieherin (1.8) mit der Tätigkeit im Nachbarschaftszentrum (1.10). Außerdem fügt Gülcan hier an, dass sie bereits in der Türkei mit Kindern gearbeitet habe und in Deutschland mittlerweile insgesamt seit über 20 Jahren mit Kindern arbeite (1.1). Wichtig ist für Gülcan im Zusammenhang mit ihrem beruflichen Weg auch, dass sie immer in multikulturellen Teams und mit Familien aus verschiedenen Ländern gearbeitet habe (1.3). Außerdem hat sie Statements über ihre Haltung zur Religion hier platziert, da diese Haltung offensichtlich für ihre professionelle Identität wichtig ist und in der Kita auch hinterfragt wird: „Ich bin nicht religiös. Ich finde es wichtig, anderen zu helfen und das tue ich auch, aber dafür brauche ich keine Religion.“ (8.4); „Die Kinder fragen mich manchmal, warum ich kein Kopftuch trage. Ich kann nicht religiöse Regeln vermitteln, an die ich selbst nicht glaube, daher sage ich einfach, manche möchten ihre Haare nicht zeigen, aber ich möchte sie zeigen, daher trage ich kein Kopftuch.“ (8.5) und „Ich respektiere religiöse Leute und ich erwarte auch Respekt von ihnen, obwohl ich nicht religiös bin.“ (8.6) Neben den Statements im Zentrum zu ihrem beruflichen Weg hat Gülcan schließlich rechts oben den Grundgedanken 3 platziert, der ausdrückt, was aus ihrer Haltung zu Sprache und Mehrsprachigkeit ihrer Ansicht nach für die Spracherziehung im Elternhaus folgt: „Eltern sollten auf jeden Fall ihre Sprachen mit den Kindern sprechen. Das Deutsche kommt durch die Kita und die Schule von selbst dazu.“ (Grundgedanke 3)

Dementsprechend hat Gülcan diesem Grundgedanken viele Statements aus dem Themenbereich Eltern und Mehrsprachigkeit zugeordnet. Hierzu gehört zunächst grundsätzlich, dass Eltern mit ihren Kindern immer ihre „eigene“ Sprache sprechen sollten (7.1), denn wenn man nicht die Muttersprache spreche oder alle Sprachen mische, sei das nicht schön (7.6). Hinzu kommen zwei Statements, die die Erfahrungen mit den Kita-Eltern beschreiben: „Alle Eltern mit Migrationshintergrund legen sehr viel Wert darauf, dass die Kinder Deutsch lernen. Die eigene Sprache steht häufig erst an zweiter Stelle.“ (7.2) und „Viele Eltern spre-

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chen mit ihren Kindern auch Deutsch, obwohl sie es gar nicht richtig können. Aus Sorge, das Kind könnte nicht genug Deutsch lernen, vernachlässigen sie ihre eigene Sprache.“ (7.3) Es gäbe aber auch andere Gründe für die Eltern, ihre Herkunftssprache zu vernachlässigen, so hätten kurdische Eltern z.B. stark verinnerlicht, dass sie die eigene Sprache nicht sprechen dürfen, und sprächen deshalb mit den Kindern kein Kurdisch, sondern ein Gemisch aus Türkisch, Deutsch und Kurdisch. Auch das sei sehr schade. (7.8). Dabei freue sie sich, selbst mit diesen Kindern Kurdisch zu sprechen und dadurch die Möglichkeit zu haben, ihr Kurdisch um andere Dialekte zu erweitern (6.9). Grundsätzlich sage sie den Eltern, dass die Kinder, bis sie sechs sind, auf jeden Fall genug Deutsch lernen. Darum bräuchte man sich keine Sorgen zu machen (7.5). Schließlich ordnet Gülcan diesem Grundgedanken noch ein Statement aus dem Themenbereich Sprache, Kultur und Religion zu: Man solle mit den Kindern auch über verschiedene Religionen sprechen, da sie dadurch viel über die Geschichte der verschiedenen Länder lernen könnten (8.3). Diese Zuordnung weist darauf hin, dass mehrsprachige Erziehung für Gülcan nicht nur den Spracherwerb im engeren Sinne betrifft, sondern auch eine Erziehung zur Vielfalt bedeutet. Über die Hintergründe der Eltern erfahre man in der Kita jedoch eher wenig, so Gülcan. Gerade die Eltern mit Fluchtgeschichte würden meistens gar nichts über ihre Migration erzählen. Wahrscheinlich wollten sie die Vergangenheit vergessen und nicht, dass beim Erzählen alles wieder hochkomme. Das könne sie aus eigener Erfahrung auch verstehen (7.10). Unterhalb des Grundgedankens 3 hat Gülcan auf der rechten Seite den Grundgedanken 4 platziert, der zeigt, wie sie ihre Haltung zu Sprache und Mehrsprachigkeit im Rahmen der Kita in die Praxis umsetzen möchte: „In der Kita sollten alle Sprachen der Kinder aufgegriffen werden und auch die Fachkräfte sollten ihre Sprachen an die Kinder vermitteln.“ (Grundgedanke 4)

Grundsätzlich sei Sprache in der Kita wichtig, damit sich die Kinder verständigen könnten und nicht handgreiflich würden. Wenn Kinder sich nicht ausdrücken könnten, seien sie frustriert und versuchten, sich durch Gewalt Aufmerksamkeit zu verschaffen (4.6). Bei mehrsprachigen Kindern sei es sehr wichtig, dass man ihnen in ihren Muttersprachen entgegenkomme, und dass sie ihre verschiedenen Sprachen in den Kitaalltag einbringen könnten (6.2). Sie selbst habe jeweils einige Worte in den Muttersprachen der Kinder gelernt, um sie z.B. auf diesen Sprachen begrüßen zu können, worüber sich die Kinder immer sehr freuen würden (6.3). Am Beispiel von zwei neuen kurdischen Kindern beschreibt Gülcan, wie wichtig es sein kann, die Muttersprache der Kinder zu beherrschen und auch einzusetzen. Diese Kinder seien mit ihrer Familie vor der „Verskla-

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vung durch den sog. Islamischen Staat“ geflohen. Eine Geschichte, die auch für Gülcan gefühlsmäßig sehr schwer anzuhören sei, aber durch die gemeinsame Sprache habe sie sehr schnell das Vertrauen der Kinder gewonnen und habe so die Möglichkeit, ihnen Sicherheit und ein Stück Geborgenheit in der Kita zu geben (6.7). Wenn die Kinder noch kein Deutsch verstehen und Gülcan deren Muttersprache nicht beherrsche, müsse sie andere Wege finden, um ihnen Dinge zu erklären. Sie arbeite dann mit Körpersprache, Berührungen und zeige ihnen Dinge, damit die Kinder die Worte lernten (6.1). Eltern hätten oft Angst oder Sorgen, dass die Kinder nicht schnell genug bis zur Schule Deutsch lernen, und wären daher häufig dafür, dass die Kinder nur Deutsch sprechen (7.4). Dabei würden die Kinder neue Sprachen viel schneller lernen als Erwachsene (6.5) und das Deutsche häufig schon in wenigen Monaten aufholen (5.6) Wenn sie dann schon bald ein bisschen Deutsch gelernt hätten, seien alle sehr froh. Es würde aber auch gezielt Sprachförderung gemacht und es gebe Vorschularbeit, sodass die Kinder bis zum Schuleintritt auf jeden Fall genug Deutsch lernten (6.14). Grundsätzlich würde Gülcan Mehrsprachigkeit in der Kita gerne noch mehr fördern und auch das mehrsprachige Potenzial der Fachkräfte stärker im Kitaalltag nutzen (6.11). So könnten die Fachkräfte ihre Sprachen z.B. in kleinen „Unterrichtseinheiten“ regelmäßig an alle Kinder vermitteln (6.10). Ein Vorteil davon wäre auch, dass die Kinder, wenn sie in der Kita schon mit mehreren Sprachen vertraut gemacht würden, im Fremdsprachenunterricht in der Schule Vorteile hätten (6.12). Auch beim Thema Spracherziehungspraxis der Kita zeigt sich, dass Gülcans Eintreten für Mehrsprachigkeit nicht auf den bloßen Spracherwerb beschränkt ist. So würden in der Kita zwar Bräuche aus der christlichen Religion, wie z.B. Weihnachten und Ostern erklärt, aber nicht solche aus anderen Religionen. Entsprechend einer Erziehung zur Vielfalt wäre es eigentlich schön, so Gülcan, wenn auch Bräuche aus anderen Religionen, wie z.B. der Ramadan und das Fastenbrechen erklärt und gefeiert würden (8.7).

8.5 HANDLUNGSLEITENDE VORSTELLUNGEN UND ORIENTIERUNGEN DER FACHKRÄFTE Auch die subjektiven Theorien der Fachkräfte wurden als Manifeste der sozialen Praxis einer übergreifenden Analyse unterzogen. Hierbei wurde, wie bei den Eltern, nach den Vorstellungen über Sprache und ihre Rolle in der Erziehung gefragt (8.5.1), nach den Zielen für die Spracherziehung (8.5.2), nach den Vorstellungen von guter Spracherziehung (8.5.3), nach der Wahrnehmung der Mehr-

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sprachigkeit der Kinder (8.5.4) und nach der Rolle, die die Kita aus Sicht der Fachkräfte hat (8.5.5). Auch bei der Darstellung der handlungsleitenden Vorstellungen und Orientierungen der Fachkräfte handelt es sich um fallübergreifende Verdichtungen, die sich direkt auf die konkreten Äußerungen der Untersuchungspartnerinnen beziehen und eng an den Originaltexten entlang formuliert sind. 8.5.1 Was bedeutet Sprache für die Fachkräfte und welche Rolle spielt sie in der Erziehung? Bei der Frage, was Sprache bedeutet und welche Rolle sie in der Kindererziehung spielt, zeigen sich bei den Fachkräften verschiedene Schwerpunkte. Erstens wird Sprache als zentrales Mittel beschrieben, um die eigenen Gefühle und Bedürfnisse auszudrücken. Besonders Sandra betont, dass Kinder Sprache brauchen, um sich den Fachkräften anvertrauen zu können und sich sicher zu fühlen, und dass mit wachsenden sprachlichen Kompetenzen auch das Selbstvertrauen der Kinder wachse (vgl. Sandra, G1; G2). Für die Fachkräfte sei Sprache das zentrale Mittel, um pädagogische Situationen für die Kinder angenehm zu gestalten und auf sie einzugehen. Zweitens wird Sprache als wichtige Voraussetzung für ein harmonisches Miteinander beschrieben. Besonders Karin, die in der Krippe tätig ist, betont, dass es den Kindern durch das Sprechen möglich wird, Konflikte ohne Gewalt zu lösen und Bedürfnisse und Grenzen zu zeigen. Auffällig ist, dass Karin hier auch Sprache in nonverbaler Form einbezieht (vgl. Karin, G1). Noch stärker betont Meriem, die ebenfalls mit Krippenkindern arbeitet, die Möglichkeiten einer nonverbalen Sprache. Ihrer Ansicht nach sei die gesprochene Sprache nicht unbedingt nötig, um die Bedürfnisse von Kindern zu verstehen und auf sie einzugehen (Meriem, G5). Besonders ihre Erfahrungen mit der Gebärdensprache scheinen Meriem Wege der Kommunikation und des Eingehens auf die Bedürfnisse von kleinen Kindern aufzuzeigen, die jenseits von gesprochener Sprache liegen. Als dritter Aspekt wird von einigen Fachkräften die Rolle der Sprache für die Erweiterung des Wissens und den Austausch über die eigenen Gedanken hervorgehoben. Neben Sandra betont besonders Elena diesen Punkt, indem sie Sprache als „Format des Denkens“ (Elena, G1) bezeichnet. Sprache sei zentral für die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten, da sie beim „narrativen Denken“ (Elena, 3.1) als Medium des Begreifens eingesetzt werde und so den Kindern dazu verhelfe, abstrakte Dinge zu verstehen und zu vermitteln.

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Viertens wird Sprache von Elena und Gülcan explizit als Repräsentation der Identität bezeichnet. Für Gülcan ist dies die zentrale Funktion von Sprache, die sie vor allem auf die Muttersprache bezieht. Diese sei die Wurzel, aus der sich alles entfalte (Gülcan, G1). Auch Elena betont die Wichtigkeit der Sprache für die Identität vor allem in Bezug auf mehrsprachige Kinder. Sie bräuchten ihre verschiedenen Sprachen, um alle Facetten ihrer Identität entwickeln zu können (Elena, G2). 8.5.2 Welche Ziele haben die Fachkräfte für die Spracherziehung? Entsprechend der Rolle, die Sprache für die Fachkräfte spielt, gehört zu ihren wichtigsten Zielen für die Spracherziehung die Fähigkeit, die eigenen Gefühle und Bedürfnisse auszudrücken. Besonders Sandra und Karin betonen, in der Kita verfolge man das Ziel, dass alle Kinder ihre Wünsche und ihre Grenzen benennen könnten und dadurch auch ein harmonischeres Miteinander ohne Handgreiflichkeiten unter den Kindern möglich werde (Sandra, 4.1; Karin, 3.4). Dieses Ziel eines friedlichen Miteinanders durch eine gemeinsame Sprache verbinden einige Fachkräfte mit dem Ziel des „Erwerb[s] der deutschen Sprache“ und des „Hineinwachsen[s] der Kinder in die deutsche Kultur“ (Karin, G3). Vor allem für Karin und Meriem steht dies im Vordergrund, wobei Meriem die Priorität der deutschen Sprache und Kultur von allen am stärksten betont. Hauptsächlich mit Blick auf Familien ‚mit Migrationshintergrund‘ fordert sie, dass sich diese anpassen sollten, und benennt den „Respekt vor der Sprache, der Kultur [und] den Werten“ Deutschlands als wichtiges Erziehungsziel (Meriem, G2). Während Sandra, Karin und Meriem vor allem den Erwerb des Deutschen und das Hineinwachsen in die deutsche Kultur als Ziele der Spracherziehung benennen, spielt bei Elena und Gülcan die Mehrsprachigkeit eine zentrale Rolle bei den Spracherziehungszielen. Elena betont die Entwicklung eines starken Selbstbewusstseins der Kinder als zentrales Ziel ihrer Arbeit (Elena, G3) und hält es dazu für wichtig, alle ihre Sprachen und familiären Bezüge anzuerkennen und aufzugreifen. Gerade angesichts der Überbetonung des Deutscherwerbs und des Drucks, der vonseiten der Schule auf mehrsprachige Familien ausgeübt werde, möchte Elena Diversität fördern und die Familien in ihrer Mehrsprachigkeit unterstützen. Auch Gülcan verfolgt explizit das Ziel einer Erziehung zur Diversität und sieht die Unterstützung des Erwerbs der nichtdeutschen Familiensprache als Mittel für die Ermöglichung von Vielfalt. Dementsprechend sieht sie Mehrsprachigkeit als „Reichtum, der unbedingt gefördert werden sollte“ (Gülcan, G2). Auch bei Sandra findet sich eine explizite Wertschätzung der Mehrsprachigkeit,

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wenn sie angibt, dass sie den Kindern vermitteln wolle, dass „beide Welten, in denen sie leben, gut und richtig“ seien (Sandra, 7.2). Damit die Kinder „sich auch in der Herkunftskultur der Familie geborgen fühlen“ sei es wichtig, dass sie auch die Sprache ihrer Familie beherrschen (ebd.). Wie später noch deutlich wird, ist dies jedoch für Sandra kein Ziel ihrer eigenen Spracherziehungsarbeit in der Kita, sondern ein Ziel, das ihrer Ansicht nach eher im Elternhaus verfolgt wird. Somit lassen sich in den Spracherziehungszielen der Fachkräfte, wo sie sich auf die Bildungsarbeit der Kita beziehen, zwei unterschiedliche Schwerpunkte ausmachen. Einerseits werden von einigen der Erwerb der deutschen Sprache und das Hineinwachsen in die deutsche Kultur als zentrale Ziele genannt und mit dem Ziel eines harmonischen Miteinanders in der Kita und der Möglichkeit, die eigenen Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen auszudrücken, in Verbindung gebracht. Damit die Kinder sich in der Kita wohlfühlen und sich gut entwickeln können, müssen sie in erster Linie lernen, in der Mehrheitssprache zu kommunizieren. Ein zusätzliches Motiv für diese Ziele ist – allerdings nur bei Meriem – die Anpassung an und der Respekt für die Aufnahmegesellschaft. Andererseits werden ein starkes Selbstbewusstsein, Erziehung zur Vielfalt und die Wertschätzung der verschiedenen Bezüge und Sprachen der Kinder sowie explizit Mehrsprachigkeit als wichtigste Ziele für die Spracherziehung in der Kita genannt. Das Ziel, die Kinder mögen sich in der Kita wohl und zugehörig fühlen, soll hier nicht in erster Linie durch Deutschkenntnisse, sondern durch die Anerkennung und das Aufgreifen ihrer (sprachlichen) Diversität erreicht werden. 8.5.3 Was verstehen die Fachkräfte unter guter Spracherziehung? Entsprechend der beiden unterschiedlichen Schwerpunkte bei den Spracherziehungszielen, die sich einerseits auf die Förderung des Deutschen und andererseits auf die Unterstützung der Mehrsprachigkeit beziehen, lassen sich auch in den Vorstellungen über gute Spracherziehung zwei unterschiedliche Ansatzpunkte ausmachen. So werden einerseits Spracherziehungsstrategien beschrieben, die sich auf die Förderung des Deutscherwerbs beziehen, und andererseits Strategien, die die Förderung von Mehrsprachigkeit und Diversität zum Ziel haben. Die Förderung des Deutschen ist vor allem bei Sandra mit besonders konkreten und differenzierten Vorstellungen über gutes Spracherziehungshandeln der Fachkräfte verbunden. Dies lässt sich in erster Linie dadurch erklären, dass Sandra in ihrer Kita als Sprachfördermultiplikatorin im Rahmen des Projekts

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„Frühe Chancen“ tätig war und in diesem Rahmen auch eine mehrjährige Zusatzqualifikation absolviert hat. Obwohl Sandra die Wertschätzung der Mehrsprachigkeit und den Erwerb der nichtdeutschen Familiensprache als Ziele betont, beziehen sich ihre Vorstellungen über gute Spracherziehung in der Kita fast ausschließlich auf den Erwerb des Deutschen. Sie betont, dass die Fachkräfte eine sprachförderliche Umgebung herstellen müssten, in der die Kinder ernst genommen und in der Sprachanlässe geschaffen werden, damit die Kinder sich ausdrücken lernen und Vertrauen in ihre sprachlichen Fähigkeiten gewinnen können. Das wichtigste sei es, an den Gedanken und Äußerungen der Kinder Interesse zu zeigen, ihnen wirklich zuzuhören und sich Zeit für Gespräche zu nehmen. Neben der additiven sei vor allem eine alltagsintegrierte Sprachförderung wichtig, für die sie auch ihren Kolleginnen immer Anregungen gegeben habe. Hierzu sei ein vielfältiger Input wichtig und durch eine sprachförderliche Grundhaltung könnten auch z.B. Ausflüge, kulturelle Erlebnisse oder das Musizieren sowie alltägliche Situationen als Anlässe für sprachförderliches Handeln aufgegriffen werden. In Bezug auf mehrsprachige Kinder betont Sandra, dass es in der Kita keine Sprachverbote geben dürfe. Sie möchte mehrsprachigen Kindern vermitteln, dass alle ihre Sprachen wichtig sind, äußert sich aber nicht über konkrete Maßnahmen zur Förderung nichtdeutscher Familiensprachen oder eines mehrsprachigen Repertoires. Mehrsprachigkeit erscheint in ihrer subjektiven Theorie eher als besondere Bedingung für den Erwerb des Deutschen, die besondere Rücksichtnahme und Einfühlungsvermögen erfordere. So müsse man gerade Kindern, die noch wenig Deutsch könnten, gut zuhören, sie ermutigen und dürfe keinen Druck ausüben (Sandra, 5.4). Ein ähnliches Bild von Mehrsprachigkeit als besonderer Bedingung für den Erwerb des Deutschen zeigt sich in Karins Vorstellungen von guter Spracherziehung, auch wenn diese weniger differenziert sind. Auch sie bezieht sich im Hinblick auf mehrsprachige Kinder hauptsächlich auf den Erwerb des Deutschen. So wäre es grundsätzlich gut, wenn Kinder, die ohne Deutschkenntnisse in die Krippe kämen, mindestens acht Stunden hier verbrächten (Karin, 5.4). In der pädagogischen Arbeit werde dann vor allem am Spracherwerb im Deutschen angesetzt (Karin, 5.8). Mit Blick auf die Eltern hält Karin fest, dass diese nicht unbedingt auch zu Hause Deutsch sprechen müssten, allerdings sei es förderlich, wenn auch sie sich bemühten, Deutsch zu lernen, und wenn zu Hause nicht zu viele verschiedene Sprachen gemischt würden (Karin, 7.1; 5.1). Auch Meriem fokussiert in ihren Vorstellungen über gute Spracherziehung den Erwerb des Deutschen. Im Gegensatz zu Karin fordert sie jedoch, dass auch die Eltern mehr-

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sprachiger Kinder diesen vor allem das Deutsche vermitteln sollten. Die Herkunftssprache sei dagegen „weniger wichtig“ (Meriem, G3). Von Elena und Gülcan hingegen wird die Förderung der Mehrsprachigkeit als zentrales Element guter Spracherziehung angesehen. Vor allem Elena äußert hier differenzierte Vorstellungen ausgehend von dem Ziel, den Kindern die Entfaltung ihrer mehrsprachigen Identität zu ermöglichen. So würden die Fachkräfte in ihrer Kita sich bemühen, Kinder, die noch wenig Deutsch sprechen, in ihrer Familiensprache zu verstehen und anzusprechen, damit sie sich von Anfang an sicher fühlen (Elena, 7.2). Durch das spezielle Sprachbildungskonzept der Kita seien alle Fachkräfte für Sprache sensibilisiert und sprachliche Bildung werde in alle Bildungsbereiche einbezogen (Elena, 6.4). Damit wird eine ähnliche Fokussierung auf sprachliche Bildung wie bei Sandra deutlich, hier allerdings mit dem expliziten Schwerpunkt der Förderung von Mehrsprachigkeit. Dazu gehört, dass die Kita den Spracherwerb nicht nur im Deutschen, sondern in allen Sprachen beobachtet und begleitet und die Kinder anregt, alle ihre Sprachen zu nutzen. Dabei werden auch die Eltern einbezogen, denen empfohlen wird, zu Hause weiterhin die Familiensprache zu sprechen. Um die Kommunikation und die Erweiterung des Wortschatzes auch in der Familiensprache zu unterstützen, gibt die Kita z.B. Anregungen durch Fotodokumentationen über den Kitaalltag oder verleiht mehrsprachige Bücher zum Gebrauch in der Familie. Auch Gülcan betont, dass die Eltern zur Unterstützung der Mehrsprachigkeit weiterhin die Familiensprache sprechen sollten (Gülcan, G3). Ihre Vorstellungen über gute Spracherziehung sind weniger differenziert als die von Elena, sie orientieren sich jedoch auch am Ziel der Förderung von Mehrsprachigkeit und Vielfalt. So ist sie dafür, dass alle Kinder ihre verschiedenen Sprachen in die Kita mitbringen, sodass sie auch voneinander lernen könnten (Gülcan, 6.2; 6.4). Das Aufgreifen der Familiensprachen in der Kita, z.B. durch eine Begrüßung in der Familiensprache, findet sie sehr wichtig, da sie feststellt, dass die Kinder sich sehr darüber freuen (Gülcan, 6.3). Wie bei Elena wird auch bei Gülcan deutlich, dass gute Spracherziehung für sie nicht nur Erziehung zur Mehrsprachigkeit bedeutet, sondern auch Erziehung zur Diversität. So fordert sie, dass nicht nur die verschiedenen Sprachen in der Kita thematisiert und aufgegriffen werden sollten, sondern ebenso die verschiedenen kulturellen Bezüge (Gülcan, 8.2; 8.3). Über den Erwerb des Deutschen hingegen müsse man sich keine Sorgen machen, da die Kinder in der Kita bis zum Schuleintritt auf jeden Fall genug Deutsch lernen würden (Gülcan, 7.5).

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8.5.4 Wie beschreiben die Fachkräfte die Mehrsprachigkeit der Kinder? Auch in der Art und Weise, wie die Fachkräfte die Mehrsprachigkeit der Kinder wahrnehmen und beschreiben, werden verschiedene Aspekte und Schwerpunkte deutlich. Ein zentraler Unterschied besteht hier zwischen der Beschreibung mehrsprachiger Kinder von Sandra und der von Elena, obwohl beide die Wertschätzung der Mehrsprachigkeit wichtig finden. So hebt Sandra hervor, dass die verschiedenen Sprachen der Kinder für die verschiedenen Welten stehen, in denen sie leben, und dass sie mehrsprachigen Kindern vermitteln wolle, „dass beide Welten gleichwertig sind“ (Sandra, G5). Sie stellt fest, dass viele mehrsprachige Kinder in der Kita mit neuen „Erziehungsnormen und Lebensstilen konfrontiert“ (Sandra, 6.2) sind und dass sie die verschiedenen Welten „ausbalancieren“ (Sandra, G4) müssen. In der Kita arbeitet Sandra mit mehrsprachigen Kindern an ihren Fähigkeiten im Deutschen und vor diesem Hintergrund berichtet sie von Kindern, die sich nicht trauen zu sprechen, die länger brauchen, „um richtig sprechen zu lernen“ (Sandra, 6.6), und die „erstmal warm werden müssen“ (Sandra, 9.7). Vor allem in emotionalen Situationen würden mehrsprachige Kinder manchmal die Familiensprache verwenden und bei ‚sachlichen‘ Themen wieder ins Deutsche wechseln (Sandra, 9.8). Bemerkenswert ist ihre Feststellung, dass Kinder häufig Hemmungen hätten, in der Kita ihre Familiensprache zu benutzen, obwohl das dort nicht verboten sei. Untereinander nutzten die Kinder ihre Familiensprachen kaum bis gar nicht und wenn sie aufgefordert würden, etwas für andere Kinder zu übersetzen, scheine ihren das sogar unangenehm zu sein (Sandra, 9.1; 9.2; 9.4). Auch teilten manche Eltern ihr mit, dass die Kinder zu Hause nicht mehr die Familiensprache, sondern nur noch Deutsch sprechen möchten und auch die Eltern dazu aufforderten (Sandra, 10.4). Elena hingegen betont, dass mehrsprachige Kinder „nicht in unterschiedlichen Welten leben, sondern in einer Welt, die verschiedene Bezüge und Facetten hat“ (Elena, 4.1). Sie sieht die verschiedenen Sprachen der Kinder nicht als Stellvertreter für verschiedene Welten an, sondern versteht die Mehrsprachigkeit als zentralen Bestandteil der einen Lebenswelt, die in ihrer Vielfalt die Identität der Kinder prägt. Ausgehend von dieser Perspektive auf mehrsprachige Kinder finden sich bei Elena andere Beschreibungen der Kinder und ihrer Mehrsprachigkeit als bei Sandra. So würden sich Kinder, die noch nicht viel Deutsch könnten, bei entsprechender Ermutigung gerne in ihrer nichtdeutschen Familiensprache äußern (Elena, 8.3) und von selbst ins Deutsche wechseln, sobald es ihnen möglich sei (Elena, 7.3). Auch später seien die Kinder, wenn man ihre mehrsprachige Identität anerkenne und fördere, sehr stolz auf ihre Sprachkennt-

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nisse in den nichtdeutschen Familiensprachen und nutzten diese auch gerne in der Kita (Elena, 6.4). Zwar kennt auch Elena Berichte von Eltern, deren Kinder nicht mehr die Familiensprache mit ihnen sprechen wollten, allerdings eher aus anderen Einrichtungen. Sie bringt das mit einer Abwertung der nichtdeutschen Familiensprache in Verbindung, die auch die Kinder schon wahrgenommen hätten, weswegen sie sie vor allem in der Öffentlichkeit nicht mehr nutzen wollten (Elena, 8.2). Durch die Anerkennung und Nutzung der Familiensprachen in ihrer Kita hingegen würden die Kinder auch mit den Eltern eher die Familiensprachen aufgreifen und sie nicht ablehnen, so Elena (Elena, 8.1). Insgesamt finden sich in den Beschreibungen von Elena im Gegensatz zu Sandra weniger Berichte von Kindern, die etwas ausbalancieren müssen, die sich nicht trauen, oder die langsam lernen. Stattdessen scheint das Deutsche in der Kita mühelos ‚nachzuwachsen‘ und der Fokus der Beschreibungen liegt auf dem Selbstvertrauen der Kinder in ihre mehrsprachigen Kompetenzen, die sie im Kitaalltag weiterentwickeln und gerne einsetzen. Die Perspektive auf Mehrsprachigkeit als Herausforderung, die sich bei Sandra findet, wird auch bei Karin deutlich. Sie bezeichnet Mehrsprachigkeit vor allem am Anfang eher als „negativ“ und erst später, wenn die Kinder genug Deutsch könnten, als eine „Bereicherung“ (Karin, G2). In ihren Beschreibungen liegt der Fokus auf den Bedingungen der Kommunikation zwischen Kitafachkräften und Kindern, die auf Deutsch stattfinde, weswegen mehrsprachige Kinder in der Kita „anfangs mehr zu verarbeiten“ (Karin, 4.11) hätten. Sie betont, dass ihr Kinder, die ohne Deutschkenntnisse in die Krippe kämen, immer ein bisschen leidtäten, da sie „in einer fremden Welt stehen und keiner sie versteht“ (Karin, 4.4). Auch andere Entwicklungsschritte würden von ihnen später vollzogen, da sie zuerst Deutsch lernen müssten (Karin, 4.10). Gleichzeitig stellt sie fest, wie sehr sich Kinder freuen, wenn sie, was selten vorkomme, von den Fachkräften in ihrer Familiensprache angesprochen werden (Karin, 5.14). Interessant ist auch, dass Karin andererseits beobachtet, wie die Krippenkinder untereinander „ihre eigene Kindersprache“ benutzen, in der sich alle Kinder, „unabhängig davon, welche Sprache sie zu Hause sprechen“ (Karin, 4.12) weitgehend verstehen würden. Karin beschreibt somit Mehrsprachigkeit – zumindest in der Phase des Eintritts in die Krippe – vor allem als Hürde für die Kinder. In den Beschreibungen der Mehrsprachigkeit der Kinder bei Gülcan hingegen liegt der Fokus wiederum auf der Bereicherung, die diese darstellt (Gülcan, G2). So würden mehrsprachige Kinder insgesamt schneller lernen und auch weitere Sprachen seien später leichter für sie zu erschließen (Gülcan, 5.3). Der Erwerb des Deutschen stellt in ihrer Wahrnehmung keine große Herausforderung für mehrsprachige Kinder dar, die in der Kita schon nach einigen Monaten das

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Deutsche aufgeholt hätten (5.6). Allerdings betont auch Gülcan, wie schön es für Kinder mit nichtdeutscher Familiensprache sei, wenn die Fachkräfte ihnen in ihrer Familiensprache entgegenkommen, und dass man ihnen damit Geborgenheit und Sicherheit vermitteln könne (Gülcan, 6.7). 8.5.5 Welche Rolle spielt die Kita aus Sicht der Fachkräfte? Die unterschiedlichen Schwerpunkte in den Vorstellungen der Fachkräfte über Sprache, Spracherziehungsziele, gute Spracherziehung und über die Mehrsprachigkeit der Kinder setzen sich fort in ihren Vorstellungen zur Rolle der Kita beim mehrsprachigen Aufwachsen. So bestehen auch hier grundsätzliche Unterschiede in den subjektiven Theorien, die mit den jeweiligen oben beschriebenen Vorstellungen der befragten Fachkräfte zusammenhängen. Die Vorstellungen der Fachkräfte über die Rolle der Kita implizieren außerdem verschiedene Annahmen über die Eltern und deren Wünsche. So ist die Kita aus Sicht von Sandra, Meriem und Karin im Hinblick auf Sprache eindeutig vor allem dafür zuständig, den Kindern das Deutsche zu vermitteln. Bei Meriem und Karin wird die Vermittlung des Deutschen zudem eng mit einem „Hineinwachsen der Kinder in die deutsche Kultur“ (Karin, G3; vgl. auch Meriem, G4) verbunden, das ebenfalls Aufgabe der Kita sei. Bei Sandra liegt der Schwerpunkt stärker auf rein sprachlichen Aspekten und sie betont eher die Vermittlung von „Sicherheit im Deutschen“ (Sandra, G3) und die Unterstützung der Fähigkeit, im Deutschen Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen ausdrücken zu können. Außerdem gehört für Sandra im Gegensatz zu Karin und Meriem auch explizit eine Wertschätzung der Mehrsprachigkeit und der ‚verschiedenen Welten‘ der Kinder zu den Aufgaben der Kita. Die Eltern seien dementsprechend eher für die nichtdeutsche Familiensprache zuständig und viele Eltern würden auch großen Wert darauf legen, dass die Kinder diese Sprache lernen, so Sandra (Sandra, 11.5). Allerdings gebe es auch viele Familien, in denen hauptsächlich Deutsch und kaum noch die nichtdeutsche Familiensprache gesprochen werde. Die Überzeugung, die Kita habe vor allem eine Rolle als Vermittlerin des Deutschen zu erfüllen, wird bei Sandra, Meriem und Karin auch gestützt durch die Wahrnehmung der Wünsche der Eltern, für die der Erwerb des Deutschen in der Kita an erster Stelle stehe. So stellen Sandra und Meriem fest, dass sich viele Eltern mehrsprachiger Kinder Sorgen machen, ob die Kinder bis zum Schuleintritt genug Deutsch lernen (Sandra, G6; Meriem, 9.5), und dass es aus Sicht der Eltern die Aufgabe der Kita sei, den Kindern Deutsch und weitere schulrelevante Fähigkeiten zu vermitteln. Sandra nimmt diese Erwartungen als Druck vonseiten

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der Eltern wahr, den sie jedoch nicht an die Kinder weitergeben wolle. Auch würden die Eltern sie häufig als Expertin für Sprachentwicklung ansprechen und nach Tipps für die Spracherziehung zu Hause fragen (Sandra, 11.3; 11.4). An einer Unterstützung der nichtdeutschen Familiensprache durch die Kita werde jedoch von Elternseite kein Interesse bekundet (Sandra, 11.6). Diese Erfahrungen mit den Wünschen und Sorgen der Eltern korrespondiert mit Sandras Rollenverständnis der Kita als Vermittlerin des Deutschen. Auch Karin berichtet, dass mehrsprachige Eltern von der Kita vor allem eine Vermittlung der deutschen Sprache und Kultur erwarten. Das „Hineinwachsen ins Deutsche“ (Karin, 7.5) sei für die Eltern ein zentrales Motiv für den Kitabesuch im Krippenalter. An einer Förderung der nichtdeutschen Familiensprache oder am Einbringen von Elementen aus ihrer Kultur oder Religion hätten die Eltern hingegen kein Interesse, so auch Karin (Karin, 7.6; 7.8). Dementsprechend sieht Karin ihre Rolle in Bezug auf die Eltern auch als Beraterin zum Thema Spracherwerb im Deutschen und sie versucht, den Eltern die Sorgen zu nehmen und individuelle Lösungen für das mehrsprachige Aufwachsen mit ihnen zu finden. Auch Elena nimmt die Sorgen von mehrsprachigen Eltern im Hinblick auf die schulrelevanten Fähigkeiten der Kinder wahr (Elena, G5). Viele Eltern in ihrer Kita gingen zwar sehr selbstbewusst mit ihren Sprachen und ihrer Identität um und hätten daher auch weniger Fragen und Unsicherheiten in Bezug auf das mehrsprachige Aufwachsen. Durch den Druck, den die Schule mit ihrem Bildungsverständnis ausübe, machten sich jedoch immer wieder Eltern Sorgen, ob die Kinder in der Kita genug lernen und gut auf den Schulbesuch vorbereitet würden (Elena, 11.7). Elena leitet hieraus jedoch nicht den Auftrag an die Kita ab, hier vor allem das Deutsche als schulrelevante Fähigkeit zu fördern. Stattdessen nimmt sie den Druck, der von Seiten der Schule auf die Eltern ausgeübt werde, zum Anlass, Eltern und Kinder in der Kita gerade in Bezug auf Mehrsprachigkeit und Diversität zu stärken. Im Unterschied zu Sandra, Karin und Meriem ist es für Elena und auch für Gülcan eine zentrale Aufgabe der Kita, die Kinder in der Entwicklung ihrer mehrsprachigen Identität zu unterstützen, indem hier nicht nur das Deutsche, sondern auch die nichtdeutschen Familiensprachen aufgegriffen werden. Elena betont, dass den Kindern in der Kita ermöglicht werden soll, ein starkes Selbstbewusstsein zu entwickeln und sich in ihrer Diversität „ganz normal“ zu fühlen (Elena, 11.6). Sie untermauert ihre Vorstellungen über diese Rolle der Kita auch durch Annahmen über die kognitive Entwicklung, in deren Rahmen Sprache ein zentrales „Werkzeug des Denkens“ (Elena, 3.4) sei. Um die kognitive Entwicklung gerade im Alter zwischen drei und sechs Jahren nicht zu behindern, müsse man den Kindern in der Kita ermöglichen, ihre Gedanken und Erkenntnisse mit

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den sprachlichen Mitteln auszudrücken, über die sie verfügen, und diese parallel zu ihren „Denkformaten“ (vgl. Elena, G1) weiterzuentwickeln. Eine Abwertung von Teilen ihres sprachlichen Repertoires oder ein Zwang zur einsprachigen Kommunikation in der Kita würde somit die Kinder nicht nur verunsichern, sondern sie auch in ihrer kognitiven Entwicklung stören und die Entfaltung einer mehrsprachigen Identität behindern. Die Rolle der Kita sieht Elena daher nicht in erster Linie in der Vermittlung der deutschen Sprache und Kultur, sondern in der Unterstützung von Mehrsprachigkeit und einer Kultur der Anerkennung und Vielfalt. Auch Gülcan sieht die Kita in der Rolle als Vermittlerin von verschiedenen Kulturen und Sprachen. Sie betont vor allem den Austausch von sprachlichen und kulturellen Bezügen, der durch die Vielfalt in der Kita möglich sei und genutzt werden solle. Neben dem Deutschen sollten die Fachkräfte auch weitere Sprachen vermitteln und die Sprachen der Kinder aufgreifen (Gülcan, 6.2; 6.4; 6.10). Ihre Vorstellungen sind weniger von Überlegungen zur kognitiven Entwicklung geprägt; stattdessen sind für sie Anerkennung und die Vermittlung von Sicherheit durch das Entgegenkommen in der Familiensprache zentral. Außerdem beschreibt Gülcan die Kita als Lernort für alle, an dem durch den kulturellen und sprachlichen Austausch Kinder und Erwachsene voneinander lernen und von der Vielfalt profitieren könnten. Noch stärker als Elena und ähnlich wie Sandra nimmt Gülcan die Sorgen mehrsprachiger Eltern wahr, die Kinder würden bis zum Schuleintritt eventuell nicht genug Deutsch lernen. Aus dieser Sorge heraus stünde die nichtdeutsche Familiensprache für viele Eltern nur an zweiter Stelle und sie versuchten manchmal sogar selbst, auch zu Hause nur Deutsch zu sprechen, obwohl sie das Deutsche nicht richtig beherrschten (Gülcan, 7.2; 7.3; 7.4). Anstatt jedoch aufgrund dieser Ängste der Eltern die Kita hauptsächlich in der Rolle der Deutschvermittlerin zu sehen, versucht Gülcan, den Eltern ihre Sorgen zu nehmen, und sie, ähnlich wie Elena, dazu zu ermutigen, den Kindern ihre Sprachen zu vermitteln und diese auch in die Kita einzubringen (Gülcan, 7.1; 7.5).

8.6 SPUREN DES MIGRATIONSGESELLSCHAFTLICHEN KONTEXTES BEI DEN FACHKRÄFTEN Wie bei den Eltern wurde auch bei den Fachkräften in einem zweiten Schritt die Analyseperspektive erweitert, sodass die Vorstellungen und Orientierungen auch im Rahmen ihres migrationsgesellschaftlichen Kontextes und der sich ihn ihm vollziehenden Subjektivierungsprozesse betrachtet werden konnten. Als Ergeb-

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nis dieser Analyse lassen sich in den subjektiven Theorien der Fachkräfte erstens eine deutliche Orientierung an einer sprachlichen Normalität herausarbeiten, die als monolingual deutsch vorgestellt wird (8.6.1), zweitens gibt es Hinweise darauf, wie sich diese Normalitätsvorstellungen subjektivierend auf die Entwicklung mehrsprachiger Kinder auswirken können (8.6.2), und drittens zeigen sich Möglichkeiten der Resignifizierung, indem Mehrsprachigkeit als Ressource für eine hybride und ausbalancierte Identität betrachtet und gefördert wird (8.6.3). Darüber hinaus wird viertens deutlich, wie sich eigene Migrationserfahrungen in den Vorstellungen und Orientierungen der Fachkräfte niederschlagen und inwiefern sich dies auch als Subjektivierungsprozesse anhand hierarchischer Ordnungen fassen lässt. Gleichzeitig lassen sich bei den Fachkräften ohne ‚Migrationshintergrund‘ Verbindungen zwischen ihrer Position als ‚Mehrheitsangehörige‘ und entsprechenden Vorstellungen und Orientierungen in Bezug auf ‚Normalität‘ herausarbeiten (8.6.4). 8.6.1 Orientierung an einer monolingual deutschen Normalität Besonders in den Vorstellungen von Sandra und Karin wird Sprache als zentrales Mittel der Verständigung und des Ausdrucks der eigenen Bedürfnisse dargestellt. Zudem seien wachsende sprachliche Kompetenzen auch entscheidend für die Stärkung des Selbstvertrauens der Kinder. Bei Sandra finden sich ausdifferenzierte Kenntnisse und Überlegungen dazu, wie wichtig Sprache für Kinder ist und wie die Fachkräfte im Kitaalltag sprachförderlich handeln können und sollten. Mit Sprache meinen Sandra und Karin in Bezug auf ihre Praxis die deutsche Sprache, eine Norm, an der sich ihre Vorstellungen orientieren. Mehrsprachigkeit stellt dabei einen Sonderfall dar, eine besondere Herausforderung für die Kinder, die mit geringeren Deutschkenntnissen einhergeht und dazu führt, dass sich die Kinder (zunächst) nicht so gut in der Kita zurechtfinden. Obwohl Sandra und Karin feststellen, dass sich die Kinder sehr freuen, wenn sie in ihrer nichtdeutschen Familiensprache angesprochen werden, wird dies nicht systematisch als mögliche Maßnahme aufgegriffen. Nichtdeutsche Sprachen, die im Team vertreten sind, werden in der Arbeit mit den Kindern kaum bis gar nicht genutzt. So wird Mehrsprachigkeit als Hürde verstanden, die den Kindern den Einstieg in die Kita erschweren kann, ein Entgegenkommen in der nichtdeutschen Familiensprache wird jedoch nicht als Mittel in Erwägung gezogen, um diese Hürde abzubauen. Stattdessen wird daran gearbeitet, dass die Kinder möglichst bald Deutsch lernen, damit sie in der Kita gut zurechtkommen. Sandra und Karin vermitteln ein Bild von mehrsprachigen Kindern, die beim Eintritt in die Kita verloren wirken, die Fachkräfte nicht verstehen und sich zunächst nicht trauen,

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zu sprechen. So bezeichnet Karin Mehrsprachigkeit denn auch vor allem am Anfang eher als „negativ“ und erst später, wenn die Kinder genug Deutsch könnten, als eine „Bereicherung“ (Karin, G2). Der migrationsgesellschaftliche Kontext wird hier sichtbar als Vorstellung von einer sprachlichen Normalität, die monolingual deutsch ist. Mehrsprachigkeit wird dabei zu einer Abweichung von dieser Normalität. Sie wird mit geringeren bzw. fehlenden Kenntnissen im Deutschen gleichgesetzt und erscheint somit als ‚normalisierungsbedürftig‘. Obwohl sowohl Sandra als auch Karin eine grundsätzliche Wertschätzung von Mehrsprachigkeit betonen, spiegelt sich dies nicht etwa in Beschreibungen einer Mehrsprachigkeit fördernden Praxis wider. Stattdessen findet eine Konzentration auf den Erwerb der ‚Mehrheitssprache Deutsch‘ statt. Beide vertreten so die migrationsgesellschaftliche Ordnung einer sprachlichen Hierarchie, die nicht Mehrsprachigkeit, sondern Sprachkenntnisse im Deutschen als vorrangiges Ziel setzt. In diesem Sinne kann auch ein Beispiel verstanden werden, das Karin in Bezug auf die Beratung von Eltern anbringt. Den Eltern eines Mädchens, das zu Hause Englisch und eine afrikanische Sprache lernte, und das in der deutschsprachigen Krippe den Anschein machte, „keine der drei Sprachen“ (Karin, 5.1) zu verstehen, riet sie, „das Durcheinander der Sprachen“ (ebd.) zu reduzieren, und die afrikanische Sprache mit dem Kind nicht mehr zu sprechen. „Durch eine bessere Systematik der Sprachen zu Hause und durch eine Verlängerung der Betreuungszeit in der Kita von fünf auf acht Stunden“ habe das Mädchen mittlerweile „perfekt Deutsch“ gelernt (5.3). Dies wird von Karin als Erfolg verbucht. Aus migrationsgesellschaftlicher Perspektive werden hier eine Hierarchisierung der Sprachen zum Vorteil des Deutschen und das Bestreben einer ‚Normalisierung‘ der Mehrsprachigkeit im Sinne ihrer Reduktion und Fokussierung auf das Deutsche deutlich. Damit geht einher, dass erstens aus der anfänglichen Sprachlosigkeit des Kinders der Schluss gezogen wird, dies läge an seiner Mehrsprachigkeit, die als ‚Durcheinander‘ beschrieben wird. Zweitens wird eine Hierarchie erstellt, in der nicht nur das Deutsche die erste Stelle einnimmt, sondern das Englische an die zweite Position gebracht und ‚die afrikanische Sprache‘, die zudem nicht näher spezifiziert wird, als zu vernachlässigen positioniert wird. Indem abschließend betont wird, das Kind habe mittlerweile durch diese Maßnahmen ‚perfekt deutsch‘ gelernt, wird drittens nahegelegt, dass erst die Reduktion des mehrsprachigen Inputs (mehr Stunden in der Kita) und die Reduktion der Sprachen (Weglassen der unnötigen afrikanischen Sprache) das ‚Durcheinander‘ verringere und dem Kind ermögliche, ‚perfekt‘ Deutsch zu lernen. Dass sprachliche Normalisierung im Sinne der Mehrheitssprache das oberste Ziel darstellt, zeigt sich in diesem Beispiel auch durch das, was nicht themati-

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siert wird. So wird die Sprachlosigkeit des Kindes beim Eintritt in die Krippe nicht darauf zurückgeführt, dass ihm dort niemand in einer seiner Sprachen entgegenkommt. Stattdessen wird das ‚Durcheinander‘ der Mehrsprachigkeit als Problem identifiziert. Weiterhin wird nicht thematisiert, wie sich die Normalisierungsstrategie und ihr ‚Erfolg‘ auf die sprachliche Entwicklung des Mädchens jenseits des Deutschen auswirkt. Ebenso wenig wird reflektiert, welche Auswirkungen ein möglicher Verlust einer der nichtdeutschen Familiensprachen auf die familieninterne Kommunikation und die Beziehungen innerhalb der Familie gehabt haben könnte. Somit wird an diesem Beispiel deutlich, dass die Orientierung an einer monolingual deutschen Normalität weitreichende Konsequenzen haben kann, auch wenn es scheinbar nur darum geht, dass die Kinder sich in der Kita gut zurechtfinden und ihre Bedürfnisse äußern können. Eltern und Kindern wird signalisiert, dass ihre Sprachen unterschiedlich wertig bzw. wichtig sind, dass mehrere Sprachen zu einem ‚Durcheinander‘ und zu Nachteilen für die Kinder führen können, und dass der Primat des Deutschen, der in der Kita (mit möglichst vielen Betreuungsstunden) gilt, auch in der Familie insofern berücksichtigt werden muss, als dass die Aneignung der anderen Sprachen und die möglicherweise damit verbundene Gestaltung von Beziehungen nachrangig zu behandeln sind. Die Fokussierung der Kita auf das Deutsche bezieht sich jedoch nicht nur auf die Sprache. In der Vorstellung von Karin ist die Kita für ein Hineinwachsen der Kinder in die deutsche Sprache und Kultur zuständig (Karin, G3). Sandra beschreibt zudem mehrsprachig aufwachsende Kinder als ‚in zwei Welten lebend‘ die sie ausbalancieren müssten (Sandra, G4). In diesem Zusammenhang bezeichnet sie die nichtdeutsche Familiensprache auch bei Kindern, die mehrsprachig sind, die also auch Deutsch sprechen, als „ihre“ Sprache, so als wäre die nichtdeutsche Familiensprache ihre ‚eigentliche‘ Sprache (Sandra, 7.3). Die nichtdeutsche Familiensprache scheint zudem dazu zu führen, dass die Kinder zu Hause in einer anderen, nichtdeutschen Welt leben, sie wird mit „Erziehungsnormen und Lebensstilen“ in Verbindung gebracht, „die sich von denen der Kita unterscheiden“ (Sandra, 6.2), sodass die Kinder in der Kita neben der deutschen Sprache auch noch deutsche Werte und deutsche Kultur lernen müssten. In dieser Vorstellung scheint die Kita nicht nur sprachlich, sondern auch kulturell eine ‚mehrheitsgesellschaftliche Normalität‘ zu vertreten, die in Form von deutscher Sprache, aber auch von deutscher Kultur über die nichtdeutsche Normalität gestellt wird, mit der die Kinder mutmaßlich zu Hause konfrontiert sind. Obwohl Sandra betont, „dass beide Welten gleichwertig sind“ (Sandra, G5), wird die ‚andere‘ Welt mehrsprachiger Kinder in der Kita nicht aufgegriffen. Karin erklärt das zudem gerade damit, dass die Kita von so vielen Kindern ‚mit Migrati-

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onshintergrund‘ besucht werde, die zu Hause eine ‚andere Kultur‘ lebten. Dies mache eine Vermittlung der ‚deutschen Kultur‘ in der Kita nötig. Ein Aufgreifen der ‚anderen Kulturen‘ sei hingegen nicht nötig, da die Kinder davon zu Hause genug erführen. Schade sei es nur für die Kinder ‚ohne Migrationshintergrund‘, dass sie nicht mehr über ‚andere Kulturen‘ lernten. Somit wird die Vermittlung nichtdeutscher kultureller Hintergründe ins Elternhaus verlegt, wobei ‚Kulturen‘ in ihrer Zugehörigkeit als eindeutig identifizierbar und trennbar vorgestellt werden. Das Aufgreifen der Diversität der Lebenswelt der Kinder als Normalität oder die Vermittlung von Vielfalt bzw. Transkulturalität ist für die Kita in der Vorstellung dieser beiden Fachkräfte kein Thema. Sandra und Karin orientieren sich somit in ihrer Arbeit an einer monolingualen und monokulturellen deutschen Norm, die auch mehrsprachigen Kindern, die dieser Norm nicht entsprechen, vermittelt werden soll. Damit greift der migrationsgesellschaftliche Kontext mit seinen hierarchischen Ordnungen über die Orientierungen dieser Fachkräfte nicht nur auf die Sprache, sondern auch auf weitere Bereiche der Entwicklung und Erziehung zu. Die Vermittlung der deutschen Normalität anhand von Sprache und Kultur ist jedoch für Sandra und Karin kein Selbstzweck. In ihren Beschreibungen wird sowohl Mitgefühl für Kinder, die sich zunächst in der Kita aufgrund ‚sprachlicher und kultureller Fremdheit‘ unsicher fühlen, deutlich, als auch große Empathie bei der Sprachförderung. Im Grundsatz geht es ihnen darum, dass sich die Kinder in der Kita wohl und sicher fühlen und die besten Bildungschancen für die Zukunft bekommen. Gleichzeitig soll ein reibungsloser Kitaalltag ermöglicht werden, in dem Konflikte ohne Handgreiflichkeiten gelöst werden und Kinder und Fachkräfte barrierefrei miteinander kommunizieren können. Auffällig im Sinne einer Analyse migrationsgesellschaftlicher Ordnungen ist jedoch, dass für das Erreichen dieser Ziele wie selbstverständlich die Beherrschung der deutschen Sprache zur Bedingung gemacht und von den Kindern darüber hinaus gefordert wird, dass sie in eine für sie ‚andere Welt‘ eintreten, um in die deutsche Kultur hineinzuwachsen und in der Kita zurechtzukommen. Dass die Bedingungen der Kommunikation, die für einige Kinder besondere Hürden darstellen, nicht durch deren Mehrsprachigkeit entstehen, sondern von der Kita mit ihrer monolingualen und monokulturellen Normalitätsvorstellung gestellt werden, wird von diesen Fachkräften nicht reflektiert. Auch die Berichte der Fachkräfte über Wünsche und Sorgen der Eltern weisen Spuren einer migrationsgesellschaftlichen Ordnung auf, die den Erwerb des Deutschen an die erste Stelle stellt. So berichten Sandra und Karin, aber auch Gülcan und Elena davon, dass Eltern mehrsprachiger Kinder von der Kita vor allem erwarten, dass sie den Kindern gute Kenntnisse in der deutschen Sprache

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vermittelt. Nicht zufällig wird dies vor allem von denjenigen Fachkräften besonders betont, die hauptsächlich im Elementarbereich bzw. mit Kindern über drei Jahren arbeiten. In diesem Alter sind die Anforderungen der Schule und die bestmögliche Vorbereitung der Kinder durch die Kita für die Eltern bereits ein wichtiges Thema. Besonders Sandra betont, dass sich viele Eltern große Sorgen machen, ob die Kinder bis zum Schuleintritt genug Deutsch lernen, und dass sie sich bemüht, diesen Druck nicht an die Kinder weiterzugeben. Sie vermutet, dass viele Eltern selbst Erfahrungen mit einer als Hilflosigkeit erlebten Sprachlosigkeit gemacht haben, die sie ihren Kindern ersparen möchten. Die Wünsche der Eltern werden außerdem von Sandra und Karin herangezogen, um das Nichtaufgreifen der nichtdeutschen Familiensprache in der Kita zu begründen. Sie geben an, dass die Eltern kein Interesse an der Förderung ‚ihrer‘ Sprachen anmelden würden. Sandra berichtet hier, dass sich die Eltern für eine Förderung der nichtdeutschen Familiensprache eher nicht an die Kita, sondern an Einrichtungen ihrer Community, wie z.B. Koranschulen o.ä. wenden. Dementsprechend scheint die Konzentration auf das Deutsche nicht nur dem Normalitätsverständnis der Fachkräfte zu entsprechen, sondern auch den Erwartungen vieler Eltern. Letztere scheinen jedoch eng mit dem Druck verbunden zu sein, den die Schule als weiterführende Bildungsinstitution ausübt. Angewandt wird die Vorrangstellung des Deutschen in der Kita von Sandra und Karin aber nicht nur in Bezug auf die Kinder, sondern auch im Umgang mit den Eltern selbst, indem mit ihnen in der Kita grundsätzlich nur in auf Deutsch kommuniziert und nur in ganz seltenen Ausnahmefällen auf andere Sprachen ausgewichen wird. Besonders deutlich wird dieser Umgang mit den Eltern in einer Schilderung von Karin illustriert. Sie berichtet, dass eine Mutter, die nur sehr wenig Deutsch versteht, nicht zu Elternabenden erscheine, da sie sich dort wahrscheinlich unwohl fühle. Als Möglichkeit der Integration dieser Mutter wird nicht etwa eine mehrsprachige Kommunikation in Erwägung gezogen, sondern es wird stattdessen berichtet, dass diese Mutter an Eltern-Kind-Angeboten, wie z.B. Bastelnachmittagen, durchaus teilnehme, da sie sich ja dabei dann mit ihrer Tochter unterhalten könne. So zeigt sich einerseits in den Berichten über die Wünsche der Eltern, dass diese sich trotz ihrer eigenen Mehrsprachigkeit ebenfalls weitgehend an einer monolingual deutschen Norm orientieren, deren dominante Geltung sie zumindest für die außerfamiliären Bildungsbereiche akzeptieren. Da sie die Aneignung ‚schulreifer‘ Deutschkenntnisse als oberstes Ziel der sprachlichen Bildung übernommen haben, melden die Eltern in der Kita kein Interesse an einer Förderung von nichtdeutschen Familiensprachen an. Außerdem wird sichtbar, wie das Übernehmen und Festhalten an der monolingual deutschen Norm durch die In-

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teraktion der Fachkräfte mit den Eltern unterstützt wird. Indem auch im Umgang mit den Eltern nicht auf nichtdeutsche Familiensprachen eingegangen wird, wird die Annahme der Eltern, die Kita sei ein monolingual deutscher Raum, bestätigt und unterstrichen. Auch die Eltern werden dazu aufgefordert, die Regeln des deutschen Sprachregimes im Sinne einer normativen Regulierung von Sprache, die auch Ungleichheit in Bezug auf Ressourcen und Macht einschließt (vgl. Kapitel 5.4), zu erfüllen. Wer dazu nicht in der Lage ist, bleibt außen vor, wie sich an dem Beispiel von Karin zeigt. Eine Mutter, die nur sehr wenig Deutsch versteht, nimmt nicht an Elternabenden teil, da sie sich dort unwohl fühlt. Ihre einzige Möglichkeit zur Teilhabe in der Kita sind Situationen, in denen sie mit ihrer Tochter spricht (Bastelnachmittage), während sie von der Kommunikation mit den Erwachsenen und dem darin enthaltenen Informationsaustausch ausgeschlossen ist. Hier wird deutlich, wie das monolinguale Sprachregime, das von allen Beteiligten weitgehend akzeptiert wird, durch die Handlungen der Fachkräfte reproduziert wird, und wie diese Reproduktion einerseits zur Bekräftigung seiner Regeln und andererseits zum Ausschluss derer führt, die seine Forderungen nicht erfüllen können. 8.6.2 Subjektivierung anhand von Sprache Anhand der subjektiven Theorien der Fachkräfte wird jedoch nicht nur deutlich, wie das monolinguale Sprachregime der Migrationsgesellschaft reproduziert und in Form von Normalitätsvorstellungen und Normalisierungsmaßnahmen angewandt wird, sondern auch, wie dieses Sprachregime auf die Kinder wirkt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Vorstellungen von einer sprachlichen Norm, in deren Rahmen Mehrsprachigkeit eine Abweichung darstellt, einhergehen mit der Vorstellung, mehrsprachige Kinder würden zu Hause in einer ‚anderen Welt‘ leben. Dabei wird Eltern und Kindern vermittelt, ihre nichtdeutsche Familiensprache sei mit einer nichtdeutschen Lebenswelt verbunden, und beides sei zwar irgendwie wertvoll, angesichts der von der Kita vertretenen ‚deutschen Normalität‘ jedoch ‚anders‘ bzw. abweichend. Indem für diese, den Kindern zugeschriebene, ‚andere Welt‘ in der Kita keine Anknüpfungspunkte angeboten werden, wird zumindest implizit verlangt, dass sie zu Hause verbleibt. Damit wird ihr im Bildungskontext der Kita ein Platz in der Bedeutungslosigkeit zugewiesen, während hier die deutsche Normalität in Form von Sprache, aber auch von Kultur und Erziehungsnomen erlernt und angenommen werden soll. Letzteres wird teilweise soweit in den Vordergrund gerückt, dass andere Entwicklungsschritte im Krippenalter, wie z.B. das selbstständige An- und Ausziehen, zeitlich nach hinten verschoben werden. So stellt z.B. Karin fest: Erst, wenn die Kinder etwas

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Deutsch gelernt haben, „funktionieren auch andere Sachen“ (Karin, 4.9). Meriem bezieht die Vorrangstellung des Deutschen sogar direkt auch auf den häuslichen Bereich, indem sie den Eltern nahelegt, auch zu Hause Deutsch zu sprechen (Meriem, 7.2). Das Wohlbefinden, das Sicherheitsgefühl und eine positive Entwicklung der Kinder stehen zwar auch für diese Fachkräfte unumstritten im Mittelpunkt, zudem wird, zumindest von Sandra und Karin, auch eine allgemeine Wertschätzung von Mehrsprachigkeit ausgedrückt. Dennoch werden besondere Hürden deutlich, die es für mehrsprachige Kinder auf dem Weg zur Erreichung von Wohlbefinden, Sicherheit und positiver Entwicklung zu überwinden gilt. Diese Hürden werden als eine Art ‚Anpassungsschwierigkeiten‘ gedeutet, die die Kinder nur überwinden können, indem sie in die deutsche Sprache und Kultur ‚hineinwachsen‘. Um sich ebenso wohl zu fühlen und gut zu entwickeln wie einsprachig deutsche Kinder, müssen diese Kinder die – vermeintlich durch die Mehrsprachigkeit errichteten – Hürden selbst überwinden, indem sie lernen, auf Deutsch zu kommunizieren, und indem sie die deutsche Kultur als Normalität übernehmen. Es wird in diesem Zusammenhang nicht reflektiert, welche Rolle die monolingual deutsche Normalitätserwartung der Kita beim Entstehen der ‚Anpassungsschwierigkeiten‘ spielt, und ob z.B. auch ein Entgegenkommen in der Familiensprache ein Mittel wäre, die Hürden abzubauen. Dass sich diese Herausforderung auf das Wohlbefinden der Kinder auswirkt, legen Beobachtungen von Sandra und Karin nahe. Sie beschreiben, dass Kinder, die der monolingualen Norm nicht entsprechen, ihr Mitleid erregen, „weil sie ohne Eltern in einer fremden Welt stehen und keiner sie versteht“ (Karin, 4.4). Sie nehmen wahr, dass es für mehrsprachige Kinder nicht einfach ist, die ‚verschiedenen Welten‘ auszubalancieren (Sandra, G4) und dass sie sich manchmal nicht trauen, sich zu äußern. Umso erstaunlicher ist es, dass sowohl Sandra als auch Karin im Kitaalltag sogar feststellen, wie sehr sich die Kinder freuen, wenn sie in ihrer Familiensprache angesprochen werden, dies aber dennoch für sie keinerlei Ansatzpunkt darstellt. Es ist zu vermuten, dass sich die Erfahrung, sprachlos in einer fremden Welt zu stehen und aus dieser Situation heraus einen ‚Balanceakt‘ zwischen einer gültigen und einer nicht gültigen Welt beginnen zu müssen, subjektivierend in das Selbstverständnis mehrsprachiger Kinder einschreibt. Vorstellbar ist, dass sie sich nicht als Kinder erleben, die eine weitere Ressource mitbringen, sondern als Kinder, die ein Defizit aufholen und sich möglichst schnell anpassen müssen. Aus einer Perspektive, die die Aneignung von Sprache vor allem als Erweiterung der adäquaten sprachlichen Mittel versteht, die das Ziel hat, handlungsfähig zu sein, lässt sich außerdem vermuten, dass mehrsprachige Kinder im Rahmen dieser Notwendigkeit zur Anpassung ih-

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re nichtdeutsche Familiensprache als nutzlos und vielleicht sogar als hinderlich erleben. Dass die Sprache außerdem mit der Zugehörigkeit zu einer ‚anderen Welt‘ gleichgesetzt wird, könnte das Bedürfnis, diese Zusammenhänge eher zu kaschieren, noch verstärken. Beobachtungen von Sandra scheinen die Vermutung, dass dieser migrationsgesellschaftliche Subjektivierungsprozess einer Anpassung nicht ohne Folgen für das Selbstverständnis der Kinder bleibt, zu bestätigen: Sie beschreibt, dass sich mehrsprachige Kinder in ihrer Kita sehr unwohl fühlen, wenn sie aufgefordert werden, ihre nichtdeutsche Familiensprache zu sprechen: Obwohl es nicht verboten sei, „haben die Kinder Hemmungen, in der Kita ihre Familiensprache zu sprechen“ (9.2) und wenn sie für andere Kinder „etwas vom Deutschen in ihre Sprache zu übersetzen“ sollen, scheint ihnen das „unangenehm zu sein“ (Sandra, 9.4). Auch die Tatsache, dass Eltern berichten, die Kinder wollten zu Hause nicht mehr die Familiensprache, sondern nur noch Deutsch sprechen und forderten dazu auch die Eltern auf (Sandra, 10.4), kann in diesem Sinne gedeutet werden. Beide Beobachtungen legen die Vermutung nahe, dass die betreffenden Kinder das monolinguale Normalitätsverständnis der Kita, das den Primat des Deutschen vertritt, in ihr Selbstverständnis übernommen haben. Die nichtdeutsche Familiensprache wird von ihnen selbstständig aus dem Kitaalltag ausgegrenzt und die Aufforderung, sie zu benutzen, löst Irritation aus. Die Berichte der Eltern zeigen außerdem, wie die Vorrangstellung des Deutschen aus der Kita von manchen Kindern auch auf ihre ‚andere Welt‘ übertragen wird. Letzteres widerspricht zudem dem Bild der zwei Welten, in denen die Kinder mutmaßlich leben, und zeigt, dass die Kinder selbst gar keine so deutliche Trennung zwischen der ‚Welt der Kita‘ und der des Elternhauses vornehmen. Auch Elena berichtet von Kindern, die mit ihren Eltern nicht mehr die nichtdeutsche Familiensprache sprechen möchten. In anderen Einrichtungen habe sie schon erlebt, dass Kinder nicht auf die Ansprache ihrer Eltern reagierten oder sich für deren Sprache schämten (Elena, 8.2). Im Unterschied zu Sandra äußert sie jedoch keine Verwunderung darüber, sondern verweist auf die subjektivierende Wirkung, die ein monolinguales Sprachregime auf diese Kinder habe: Weil sie schon gelernt hätten, dass ihre nichtdeutsche Familiensprache nicht so angesehen ist wie das Deutsche, verweigerten sie die Familiensprache in der Öffentlichkeit (Elena, 8.2). Elena bedauert dieses Ergebnis ausdrücklich und nimmt es zum Anlass, eine Anerkennung der translingualen Sprachidentitäten von Kindern und Eltern zu fordern.

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8.6.3 Anerkennung translingualer Sprachidentitäten Vor allem in der Haltung von Elena und Gülcan lassen sich aus migrationsgesellschaftlicher Perspektive eine kritische Reflexion dominanter Ordnungen und ein alternatives Normalitätsverständnis finden. Im deutlichen Unterschied zu Sandra betont Elena, dass mehrsprachige Kinder nicht in zwei verschiedenen Welten leben, sondern genau wie einsprachige Kinder in einer Welt, die vielfältige Bezüge hat (Elena, 4.1). Im Anschluss daran betrachtet sie es als ihre zentrale Aufgabe, den Kindern „mit all ihren verschiedenen Bezügen und Sprachen“ dazu zu verhelfen, „ein starkes Selbstbewusstsein“ zu entwickeln (Elena, G2). Damit widerspricht Elena sowohl dem monolingualen Normalitätsverständnis als auch dem Primat des Deutschen in der sprachlichen Bildung der Kita. Nicht die Anpassung an eine von der Kita vertretene ‚deutsche Welt‘ ist ihr Ziel, sondern das Aufgreifen der verschiedenen Bezüge, die die Kinder mitbringen. In diesem Zusammenhang kritisiert sie auch den Druck, der u.a. von der Schule in Bezug auf eine ‚Normalisierung‘ von Mehrsprachigkeit ausgeübt werde. Sie möchte die Kinder in ihrer mehrsprachigen Entwicklung stärken und bezeichnet die Sprache der Kinder in diesem Zusammenhang sogar als „Waffe“, mit der sich die Kinder „Anerkennung und Respekt verschaffen können und eine Stimme haben“ (Elena, 3.6). Damit bezieht Elena Position im Sinne einer Resignifizierung von Zugehörigkeitsordnungen und subversiver Selbstpositionierung. Ähnlich wie Alara und Yves auf Seiten der Eltern weist Elena die Annahme zurück, dass durch die Mehrsprachigkeit eine bestimmte Zugehörigkeit (zu einer ‚anderen Welt‘) ablesbar sei. Auch lehnt sie die Etikettierung von Mehrsprachigkeit als Hinweis auf sprachliche Defizite ab, sondern erklärt sie, wiederum ähnlich wie Alara und Yves, zu einer Möglichkeit, sich selbst jenseits von monolingualer Normorientierung als vielfach zugehörig zu positionieren. Die verschiedenen sprachlichen und kulturellen Bezüge der Kinder sieht sie als Repräsentationen ihrer Identität an und indem sie sie aufgreift und ihre Entwicklung unterstützt, möchte sie die Kinder dazu befähigen, ihre hybride (Sprach-)Identität zu entfalten (Elena, G1). Das Aufgreifen der Mehrsprachigkeit ist in Elenas Vorstellung jedoch nicht nur für die Entwicklung des Selbstbewusstseins grundlegend, sondern auch für die kognitive Entwicklung. So würden Kinder Sprache als ein Werkzeug des Denkens benutzen, das ihnen als Schlüssel für Neues und für die Vermittlung von Gedanken diene. Wenn also mehrsprachige Kinder in der Kita ihre Sprache nicht benutzen dürften oder könnten, würden grundlegende Prozesse im Gehirn abgeschnitten (Elena, 3.4). Eine monolinguale ‚Normalisierung‘ von Mehrsprachigkeit vermittele Dreijährigen in der Kita, dass ihr bisheriges Format des Den-

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kens ungültig sei, was sie in der Entwicklung ihrer kognitiven Fähigkeiten behindern könne. Elena stellt das sprachliche Handeln (und Denken) der Kinder in den Mittelpunkt, anstatt allein den Erwerb des Deutschen zu fokussieren. Damit schließt sie an ein Verständnis von Sprachaneignung und Mehrsprachigkeit an, das nicht von einem Erwerb getrennter Sprachsysteme ausgeht, sondern von einer translingualen Aneignung von Sprachigkeit, die sich aller vorhandenen sprachlichen Bezüge bedient und bei der ein gesamtsprachliches Repertoire entwickelt wird. Dieses Verständnis von Mehrsprachigkeit als Teil einer translingualen Sprachidentität, das bei Elena sichtbar wird, spiegelt sich auch im Umgang mit den Eltern und in der Wahrnehmung ihrer Wünsche wider. So wird in Elenas Kita, anders als in der Kita von Sandra und Karin, auch mit den Eltern mehrsprachig kommuniziert, die Eltern werden zur Nutzung der nichtdeutschen Familiensprache mit den Kindern angeregt und es wird betont, „dass es nicht schlimm ist, wenn man nicht so gut Deutsch spricht“ (Elena, 5.6). In Bezug auf den Druck seitens der Schule und die Sorgen der Eltern um die schulreifen Deutschkenntnisse ihrer Kinder beobachtet Elena, dass Eltern, die selbstbewusst mit ihrer Mehrsprachigkeit umgehen, weniger Sorgen und Ängste in Bezug auf den Deutscherwerb ihrer Kinder hätten (Elena, G4). Damit kritisiert Elena einmal mehr das dominante Sprachregime, das sie im Bildungsverständnis der Schule sieht, und setzt ihm die Stärkung der Eltern in ihrer mehrsprachigen Erziehung entgegen (vgl. Elena, G5). Auch Gülcan widerspricht einer Vorrangstellung des Deutschen und hebt hervor, wie wichtig der Erhalt der nichtdeutschen Familiensprache ist. In ihrer Kritik des dominanten Sprachregimes hebt sie auch die Hierarchisierung der Sprachen hervor, in der neben Deutsch andere europäische Sprachen wie Englisch, Französisch oder Spanisch höher bewertet würden als außereuropäische Sprachen (Gülcan, 5.7). Auch sie nimmt die Sorgen der Eltern wahr, dass die Kinder bis zum Schuleintritt nicht genug Deutsch lernen könnten. Anstatt dies zum Anlass für eine verstärkte Konzentration auf das Deutsche zu nehmen, betrachtet sie jedoch die Zusammenhänge in der Motivation der Eltern genauer. So stellt sie fest, dass manche Eltern aus der Angst heraus, die Kinder könnten in der Schule nicht richtig mithalten, ihre nichtdeutsche Familiensprache vernachlässigen und selbst versuchen, Deutsch mit den Kindern zu sprechen (Gülcan, 7.2; 7.3; 7.4). Indem Gülcan diese Angst der Eltern an mehreren Stellen betont und berichtet, wie sie aufgrund dessen ihre nichtdeutsche Familiensprache selbst an die zweite Stelle stellen, zeigt sie, welche Wirkung das dominante Sprachregime der öffentlichen Bildungseinrichtungen auf die Selbstwahrnehmung der Eltern und auf die familieninterne Kommunikation hat. Dass die Eltern bereit sind,

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eine Sprache mit den Kindern zu sprechen, die sie selbst nicht richtig beherrschen, legt die Vermutung nahe, dass sie ihre nichtdeutsche Familiensprache bereits selbst als ‚weniger wert‘ betrachten. Sie nehmen eine Verengung der Kommunikation mit den Kindern auf ein lückenhaftes Repertoire im Deutschen in Kauf, um die Forderungen des öffentlichen Sprachregimes (vermeintlich) zu erfüllen. Gülcan bezeichnet dies als „schade“ und „nicht schön“ (Gülcan, 7.8; 7.6). Zusätzlich führt Gülcan diese Bereitschaft, auch zu Hause Deutsch zu sprechen und die nichtdeutsche Familiensprache zu vernachlässigen, bei einigen Eltern auf Erfahrungen mit anderen dominanten Sprachregimen zurück. So gebe es Eltern, die selbst schon in ihrer Heimat die Erfahrung gemacht hätten, dass ihre Muttersprache verboten oder weniger Wert sei als die Mehrheitssprache. Als Beispiel nennt sie hier ein kurdisches Elternpaar, das das in der Türkei herrschende Verbot ihrer Sprache so stark verinnerlicht habe, dass sie sich auch in Deutschland schwertun würden, den Kindern die kurdische Sprache zu vermitteln (Gülcan, 7.8). Mit diesen Beschreibungen der Ängste und Erfahrungen der Eltern stellt Gülcan einen Zusammenhang her zwischen der Sprachpraxis und der Spracherziehung im Elternhaus und herrschenden (migrations-)gesellschaftlichen Ordnungen, die auf die Eltern wirken. Da sie selbst als Kurdin und als Migrantin sowohl Erfahrungen mit dem Sprachregime in der Türkei als auch mit dem Sprachregime der deutschen Migrationsgesellschaft gemacht hat, kann sie die Haltung der Eltern nachvollziehen. Anstatt sie jedoch in einer Strategie der Anpassung zu bestätigen, versucht Gülcan, die Eltern zur Beibehaltung und zur Förderung der nichtdeutschen Familiensprache zu ermutigen. Somit zeigt sich auch bei Gülcan eine Haltung, die das dominante monolinguale Sprachregime kritisiert und seine subjektivierende Wirkung auf Eltern und Kinder reflektiert. Ebenso wie Elena geht sie von Mehrsprachigkeit als Reichtum und von einem translingualen Sprachgebrauch aus, bei dem sich die verschiedenen sprachlichen Bezüge ergänzen und in einer individuellen Sprachigkeit zusammenwachsen. Die Wertschätzung von Mehrsprachigkeit und Anerkennung der verschiedenen (auch kulturellen) Bezüge der Kinder ist zudem bei Elena und Gülcan kein Lippenbekenntnis, sondern sie beschreiben Maßnahmen aus ihrer Praxis, bei denen die verschiedenen Sprachen und anderen Bezüge der Kinder tatsächlich aufgegriffen und einbezogen werden.

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8.6.4 An- und Abwesenheit von Migrationsgeschichten als Hintergrund Ebenso wie bei den Eltern (vgl. 8.3) lassen sich schließlich auch in den Migrationserfahrungen der Fachkräfte Spuren des migrationsgesellschaftlichen Kontextes ausmachen, die ihre Vorstellungen über Sprache und gute Spracherziehung prägen. Dies zeigt sich einerseits bei Meriem, die ein ‚Hineinwachsen in die deutsche Sprache und Kultur‘ ins Zentrum stellt, und andererseits bei Gülcan, die eine Erziehung zu Mehrsprachigkeit und Vielfalt betont. Gleichzeitig kann vermutet werden, dass auch die Abwesenheit von Migrationserfahrungen bei Sandra, Elena und Karin und ihre damit verbundene Position als ‚Mehrheitsangehörige‘ Einfluss auf ihre Vorstellungen und Orientierungen hat. Im Vergleich zu Sandra und Karin fordert Meriem explizit und besonders vehement eine Vorrangstellung deutscher Sprache und Kultur in der Erziehung ein. Sie bezeichnet das Hineinwachsen der Kinder in die deutsche Sprache, Kultur und Werte als „das Wichtigste“ (Meriem, G4) und hält die Herkunftssprache und -kultur für „weniger wichtig“ (Meriem, G3). Dadurch entstünden für die Kinder Möglichkeiten der Beteiligung, während sie ohne die Übernahme der deutschen Kultur „außen vor“ blieben (Meriem, 7.3). Auch Eltern sollten Deutsch lernen, so Meriem, da sie sonst z.B. nicht an Elternabenden beteiligt werden könnten (Meriem, 9.4). Dass die stärksten Forderungen nach einer Fokussierung der Spracherziehung auf das Deutsche und nach gleichzeitiger Vermittlung ‚deutscher Normen und Werte‘ von einer zugewanderten Fachkraft stammen, die sogar fordert, auch alle Eltern sollten mit ihren Kindern Deutsch sprechen und daran arbeiten, dass die Kinder möglichst „wie Deutsche“ würden (Interviewtranskript Meriem), lädt zu einer genaueren Betrachtung des Kontextes ein. Meriem bezieht sich bei der Rekonstruktion ihrer Vorstellungen und Orientierungen zur Spracherziehung sehr stark auf ihre Erfahrungen in ihrem Herkunftsland Iran und auf ihre Migration nach Deutschland. Sie beschreibt ihr Leben im Iran als sehr schwierig und von Verboten und Einschränkungen geprägt. Ihre Migration nach Deutschland ermöglichte ihr ein selbstbestimmteres Leben und sie verleiht ihrer Dankbarkeit darüber an vielen Stellen Ausdruck. Ihre große Bereitschaft zur Übernahme von Sprache und ‚kulturellen Merkmalen‘ der Aufnahmegesellschaft scheint sich somit aus verschiedenen Quellen zu speisen. Erstens lässt sie sich mit der großen Dankbarkeit und Erleichterung begründen, die Meriem angesichts der Möglichkeit empfindet, in Deutschland ein neues Leben führen zu können. Die Anerkennung ihrer schulischen und beruflichen Qualifikationen aus dem Iran stellt hier vielleicht ein nicht unerhebliches Detail dar,

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dass seinen Beitrag zu Meriems Zufriedenheit mit ihrer Aufnahme in Deutschland leistet. Der migrationsgesellschaftliche Kontext stellt sich so in erster Linie als Rahmen dar, der Meriem ein selbstbestimmtes Leben überhaupt erst ermöglicht hat, und in dem sie auch mit ihren bisherigen (hart erarbeiteten) Qualifikationen Anerkennung fand. Zweitens betont Meriem, dass es aufgrund der politischen Situation und der Zerstörung der ‚ursprünglichen Kultur‘ im Iran nichts mehr gebe, an dem sie festhalten wolle (Meriem, 3.2). Die Forderungen der Aufnahmegesellschaft nach Anpassung werden damit von Meriem nicht als Zumutung erlebt, sondern als Angebot einer ‚neuen kulturellen Identität‘, während sie in ihrem Herkunftsland ohnehin keine kulturellen Anknüpfungspunkte mehr findet. Drittens berichtet Meriem, wie ihr in ihrer Kindheit, nach dem Sturz des Schahs, als Mädchen nur noch mit Kopftuch zur Schule durften, nur die Unterordnung unter die neuen Regeln ermöglichte, weiter zur Schule zu gehen (Meriem, 3.1). Die Anpassung an und der Respekt vor der dominanten Ordnung dienten Meriem in dieser Situation als Strategie, um wenigstens begrenzt handlungsfähig zu bleiben. Auch diese Erfahrung im Rahmen einer anderen dominanten Ordnung trägt womöglich zu Meriems Bereitschaft, sich in Deutschland anzupassen, bei. Die Dominanz herrschender Ordnungen zu akzeptieren und sich an sie anzupassen stellt für sie eine erfolgreiche Strategie dar, erst recht, wenn es im Vergleich mit ihrem Herkunftsland um weit weniger rigide Regeln geht, die ihr einen viel größeren Handlungsspielraum versprechen. Auch dieser Aspekt ihrer Migrationsgeschichte könnte also dazu beitragen, dass Meriem die Forderung der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ nach Anpassung bereitwillig aufgreift. Bei der Analyse von Meriems subjektiver Theorie fällt außerdem auf, dass drei Themen mit großer Emotionalität und viel Nachdruck behandelt werden. Dies ist zum einen ihr früheres Leben im Iran, von dem sie ein Bild zeichnet, das von Unterdrückung, Angst und der Behinderung beruflicher und persönlicher Entfaltung geprägt ist. Im Interview nehmen die Beschreibung ihrer damaligen beruflichen und privaten Situation und ihrer Beweggründe, den Iran zu verlassen, viel Raum ein. Das zweite Thema, bei dem Meriems Emotionen sehr deutlich zum Ausdruck kommen, ist ihre Ankunft in Deutschland und ihr privates und berufliches ‚Hineinwachsen‘ in ein neues Leben. Hier betont Meriem an vielen Stellen ihre große Erleichterung, das Glück über die neugewonnene Freiheit und ihre Dankbarkeit gegenüber Menschen, die ihr bei der Integration geholfen haben. Das dritte Thema, das von Meriem sehr emotional und mit viel Nachdruck behandelt wird, ist ihre Forderung nach Anpassung an Sprache, Kultur, Werte und Normen der deutschen Aufnahmegesellschaft, die sie auch von anderen Migrantinnen und Migranten, wie den Eltern mehrsprachiger Kitakinder,

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verlangt. Wer seine Kultur behalten wolle, solle doch in seinem Heimatland bleiben, so Meriem (Meriem, 7.8). Dass gerade diese drei Themen für Meriem eine besondere Bedeutung zu haben scheinen, weist darauf hin, dass sie in besonderer Weise miteinander zusammenhängen. Meriems Schilderungen ihres Lebens im Iran machen deutlich, dass sie ihre Heimat verlassen musste, um frei leben zu können. Die Erleichterung nach der Migration, die sie beschreibt, bestätigt diese Entscheidung. Beides macht aber auch offensichtlich, dass Meriem auf die Aufnahmegesellschaft in besonderer Weise angewiesen ist. Für sie ist es existenziell wichtig, in der Aufnahmegesellschaft aufzugehen, nicht nur, um akzeptiert zu werden und dazuzugehören, sondern auch, um neue Anknüpfungspunkte für die verlorenen Anteile der (kulturellen) Identität zu erhalten. In der Haltung von Meriem lassen sich mithin Hinweise auf einen besonderen Bedarf nach Zugehörigkeit und Aufnahme finden. Dies führt möglicherweise dazu, dass eine dominante Ordnung wie die der monolingualen Normorientierung von ihr besonders bereitwillig übernommen wird und in einer besonders vehementen Forderung nach einer Vorrangstellung deutscher Sprache und Kultur in der Erziehung mündet. Eine kritische Reflexion der Erhebungssituation selbst unterstützt die Vermutung, dass dominante migrationsgesellschaftliche Ordnungen vielleicht auf Meriem in ihrer Situation als jemand, die nicht selbstverständlich zugehörig ist, aber zugehörig sein möchte (bzw. muss), in besonderer Weise wirken, zusätzlich. So könnte das Interview über ihre Vorstellungen zur Spracherziehung von Meriem als ein Anlass gedeutet worden sein, bei dem von ihr als Migrantin eine ‚besonders deutsche‘ Haltung erwartet wird. Bezieht man die Schieflage in der Interviewsituation mit ein, verstärkt sich diese Vermutung. So stand ich Meriem nicht nur als Angehörige der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ gegenüber, die die Gesprächssituation des Interviews strukturierte, sondern auch als Erziehungswissenschaftlerin, die mit akademischem Wissen über Meriems Beruf ausgestattet ist. Angesichts ihrer Position als zugewanderter Quereinsteigerin in den Erzieherinnenberuf, die außerdem die deutsche Sprache nach eigener Einschätzung nicht ‚perfekt‘ beherrscht, könnte diese Schieflage dazu geführt haben, dass Meriem vor allem Standpunkte betont hat, die sie für besonders anerkannt in fachlicher, (migrations-)politischer oder allgemein gesellschaftlicher Hinsicht hält. Folgt man dieser Vermutung, so kann die Forderung Meriems nach einer Vorrangstellung deutscher Sprache und Kultur in der Erziehung als Hinweis auf entsprechende migrationsgesellschaftliche Ordnungen und ihr Wirken gedeutet werden. Diese Forderung wäre dann vor allem ein Spiegel dessen, was Meriem selbst in der Migrationsgesellschaft als gültig erfahren hat. Aus dieser Perspektive rückt die Tatsache in den Mittelpunkt, dass jemand, die oder der im migrati-

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onsgesellschaftlichen Kontext als nicht (selbstverständlich) zugehörig positioniert ist, unter einem besonderen Druck steht, sich anzupassen, und aus dieser Notwendigkeit heraus z.B. die herrschende Ordnung eines monolingualen Sprachregimes reproduziert, obwohl sie selbst dessen Forderungen gar nicht erfüllt. Während Meriem die Vorrangstellung deutscher Sprache und Kultur in der Erziehung betont, fordert Gülcan eine Erziehung zur Mehrsprachigkeit und eine Wertschätzung und Förderung von Vielfalt. Auch ihre subjektive Theorie lässt indes Zusammenhänge mit ihrer Migrationsgeschichte und dem migrationsgesellschaftlichen Kontext sichtbar werden. Ebenso wie Meriem bezieht auch Gülcan Berichte über ihre Migrationsgründe und Migrationserfahrungen in die Rekonstruktion ihrer subjektiven Theorie mit ein. Bei ihr stehen das Verbot ihrer Muttersprache, des Kurdischen in der Türkei, und die schmerzliche Erfahrung, die Gülcan selbst mit diesem Sprachverbot gemacht hat, im Vordergrund. Aufgrund dieser Erfahrungen spielt für Gülcan die Muttersprache auch in Bezug auf mehrsprachige Kinder in ihrer Praxis eine besondere Rolle und sie betont die Wichtigkeit ihres Erhalts und ihrer Anerkennung. Darüber hinaus ist sie durch ihre Geschichte sensibilisiert für hierarchisierende Ordnungen und dominante Sprachregime. Ihr Eintreten für eine Erziehung zur Vielfalt und für die Anerkennung von Diversität kann vor diesem Hintergrund auch als Ergebnis ihrer Erfahrungen mit ausgrenzenden Ordnungen verstanden werden, die im aktuellen Kontext in einer Ablehnung eines hierarchisierenden monolingualen Normalitätsverständnisses münden. Anhand der subjektiven Theorien von Meriem und Gülcan wurde deutlich, wie die Ordnung des migrationsgesellschaftlichen Kontextes und Erfahrungen mit weiteren dominanten Ordnungen aus ihren Herkunftsländern in ihre unterschiedlichen Vorstellungen und Orientierungen zur Spracherziehung einfließen. Während Gülcan ihre Erfahrungen mit dem Sprachverbot zum Anlass nimmt, sich gegen ein monolinguales Sprachregime zu wenden und entsprechende Hierarchisierungen zu kritisieren, hat Meriem die Erfahrung gemacht, dass sie durch Anpassung handlungsfähig bleibt, und übernimmt daher die Forderungen des dominanten Sprachregimes. In den Rekonstruktionen mit Sandra, Elena und Karin fehlt das Kapitel der Migrationsgeschichte zwar, allerdings lassen sich in ihren subjektiven Theorien Hinweise darauf finden, dass migrationsgesellschaftliche Zugehörigkeitsordnungen auch auf Angehörige der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ subjektivierend wirken und sich in ihren Vorstellungen und ihrem Selbstverständnis niederschlagen. Wie in den Abschnitten 8.6.1 und 8.6.2 deutlich wurde, fällt bei Sandra und Karin deren starke Orientierung an der monolingualen Norm auf, von der sie sich auch nicht

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abbringen lassen, wenn sie sehen, wie verunsichert Kinder mit nichtdeutschen Familiensprachen zunächst in der Kita sind oder wie sehr sich diese Kinder freuen, wenn sie doch mal in ihren Familiensprachen angesprochen werden. Zusätzlich konnte gezeigt werden, wie Sandra und Karin die Mehrsprachigkeit mit einer ‚anderen Welt‘, in der die Kinder zu leben scheinen, gleichsetzten, wie Mehrsprachigkeit als Gefahr eines ‚Durcheinanders‘ der Sprachen und als besondere Herausforderung für die Kinder verstanden wird, die auch dazu führen könne, dass andere Entwicklungsschritte sich verzögerten. Demgegenüber wird das Beherrschen der deutschen Sprache und das Hineinwachsen in die deutsche Kultur als einziger Weg für die Kinder gesehen, um sich in der Kita zurechtzufinden und wohlzufühlen. Sprache, im Sinne der deutschen Mehrheitssprache, wird in diesem Zusammenhang von Sandra als das grundlegende Mittel zur Äußerung von Bedürfnissen und Gefühlen und zur Erlangung von Selbstvertrauen beschrieben (Sandra, G1). Die Tatsache, dass Sandra und Karin nicht über einen ‚Migrationshintergrund‘ verfügen und sich selbst daher stets als Angehörige der Mehrheit und in diesem Sinne als ‚normal‘ verstehen konnten, spiegelt sich in diesen Überzeugungen wider. So sind der Primat der deutschen Sprache und Kultur, die deutsche ‚Welt der Kita‘, für Sandra und Karin so selbstverständlich und normal, dass sie mit Sprache unausgesprochen die deutsche Sprache meinen und für ein funktionierendes Miteinander selbstverständlich die (nicht nur) sprachliche Ordnung des Deutschen voraussetzen. Dass die (sprachliche) ‚Welt der Kinder‘ nicht immer gleich zur (sprachlichen) ‚Welt der Kita‘ passt, ist für sie ein vorübergehender Zustand, der durch die einseitige Anpassung der Kinder überwunden werden kann. Somit zeigt sich die dominante Ordnung des migrationsgesellschaftlichen Kontextes in den Vorstellungen von Sandra und Karin, indem sie als Mehrheitsangehörige wie selbstverständlich fordern, die ‚andern‘ mögen sich anpassen, und selbst nicht wirklich in Erwägung ziehen, sich – über das Bekenntnis der Wertschätzung hinaus – auch zu verändern. Die Vorstellungen einer ‚anderen Welt‘ und eines ‚Durcheinanders‘ der Sprachen in Familien, die mehr als eine Sprache sprechen, zeigen außerdem, dass Sandra und Karin die Gegebenheiten in Familien, die nicht der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ angehören, sehr ‚fremd‘ und fern erscheinen. Die Berichte über entsprechende Eltern geben keine Hinweise auf Gemeinsamkeiten mit der eigenen Lebenssituation. So geben denn auch beide an, sehr wenig über die Migrationsgeschichten der Familien der von ihnen betreuten Kinder zu erfahren. Dass die migrationsgesellschaftlichen Zugehörigkeitsordnungen auch auf Angehörige der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ subjektivierend wirken und wie nachhaltig diese Wirkung ist, zeigt sich auch daran, wie wenig Sandra und Karin eigene

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interkulturelle Erfahrungen, über die sie dennoch verfügen, in ihr berufliches Selbstverständnis einbauen. So berichtet Karin von einem sechsmonatigen Aufenthalt in Costa Rica nach Abschluss ihrer Ausbildung und von einem vierwöchigen Einsatz in einer deutschen Schule in Lissabon im Rahmen ihrer jetzigen Tätigkeit. In Costa Rica habe sie erfahren, wie es ist, „wenn man in einer Welt ist, wo man sich nicht sprachlich verständigen kann“ (Karin, 1.5). Aufgrund dieser Erfahrung könne sie sich auch in manche Kinder ihrer Gruppe hineinversetzen. In Portugal habe sie interessante Einblicke gewonnen, die ihr ein besseres Verständnis der portugiesischen Familien ermöglichten, mit denen sie in ihrer Kita zu tun habe (Karin, 8.3). Da sie sich für andere Kulturen interessiert, bedauert Karin außerdem, dass die Kinder und Familien in ihrer Kita nicht mehr von ‚ihrer Kultur‘ in den Kitaalltag einbringen. Trotz dieser Erfahrungen und Einblicke und trotz des Interesses an ‚anderen Kulturen‘ gibt Karin keine Hinweise auf eine grundsätzliche Reflexion bestehender Zugehörigkeitsordnungen und ‚mehrheitsgesellschaftlicher Normalitätsvorstellungen‘. So führt z.B. das Nachvollziehen-Können des Gefühls der Sprachlosigkeit in einer fremden Umgebung (Costa Rica) nicht zu konkreten Überlegungen, wie diese Situation für die Kinder von der Kita aus verändert werden könnte. Ebenso wenig wird analysiert, warum Eltern nicht mehr von ‚ihrer Kultur‘ einbringen oder was getan werden könnte, um sie dazu zu motivieren oder um selbst transkulturelle Momente im Kitaalltag aufzuspüren und hervorzuheben. Auch Sandra hatte durch ihr eigenes Aufwachsen in einem von Einwanderung geprägten Stadtteil und ihre langjährige berufliche Erfahrung in zwei Einrichtungen mit vielen mehrsprachigen Kindern stets viel Kontakt zu Menschen ‚mit Migrationshintergrund‘. Ihre Orientierung an einer ‚Kita-Welt‘, die sprachlich und kulturell die deutsche ‚Normalität‘ repräsentiert, gibt indes Hinweise darauf, wie dieser Kontakt größtenteils beschaffen gewesen sein mag. Die Vorstellung von zwei Welten, in denen nicht nur verschiedene Sprachen gesprochen werden, sondern auch unterschiedliche (und z.T. gegensätzliche) Normen und Werte herrschen, scheint durch Sandras Erfahrungen im Rahmen dieses Kontaktes nicht abgelöst worden zu sein. Möglicherweise ist dieses Bild sogar erst im Zuge der verbreiteten migrationsgesellschaftlichen Vorstellung eines ‚mehrheitsgesellschaftlichen Wir‘, dem ‚die anderen‘ als fremd gegenüberstehen, entstanden. Sowohl die Selbstverständlichkeit, mit der Sandra die deutsche Normalitätsvorstellung anwendet, als auch die Fremdheit und Distanziertheit, mit der sie von ‚der anderen Welt‘ spricht, obwohl diese eigentlich stets in ihrer unmittelbaren Umgebung gegenwärtig war, geben einen Hinweis darauf, wie tief der Graben zwischen Zugehörigen und Nicht-(wirklich)Zugehörigen in der Migrationsgesellschaft ist, und wie er reproduziert wird.

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Auch bei Elena lässt sich ein Zusammenhang zwischen eigenen Erfahrungen im migrationsgesellschaftlichen Kontext und ihren Vorstellungen und Orientierungen ausmachen. Dazu gehört in erster Linie der Bericht über die Diskriminierung und Nichtbeachtung ihres nichtdeutschen Partners und ihrer afrodeutschen Kinder im Rahmen der damaligen Kita. Dass ihre Kinder im Kitaalltag und der dort herrschenden Normalitätsvorstellung nicht repräsentiert gewesen seien, stellte für Elena eine wichtige Motivation für die Gründung der Kita dar, in der sie heute tätig ist. Elenas Ziel, die verschiedenen Sprachen und Bezüge der Kinder im Kitaalltag aufzugreifen und sie in der Entfaltung einer hybriden Identität zu unterstützen, und ihre Kritik an der herrschenden Ordnung der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ lässt sich somit zwar nicht auf ihre Migrationsgeschichte, wohl aber auf persönliche Erfahrungen mit Ausschluss im Rahmen einer dominanten Ordnung zurückführen. In der Tatsache, dass sie von allen befragten Fachkräften die vehementeste Vertreterin von Diversität und Mehrsprachigkeit ist, die diese Ziele zudem am ausführlichsten mit fachlichen Analysen und konkreten konzeptionellen Vorstellungen untermauert, zeigt sich aber noch ein weiteres entscheidendes Merkmal ihrer Position. Da sie nicht – wie Gülcan – von der Position einer Zugewanderten, sondern von der Position einer Angehörigen der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ aus argumentiert, tut sie dies möglicherweise ausgestattet mit einer anderen Sicherheit und mit größeren Möglichkeiten zur Kritik und Infragestellung der herrschenden Ordnung. Ihre Zugehörigkeit steht zu keinem Zeitpunkt zur Disputation, weshalb sie aus der Position der ‚Mehrheitsangehörigen‘ womöglich weiter und stärker ausholen kann. Im nun folgenden Vergleich der verschiedenen Vorstellungen von Eltern und Fachkräften wird dieser Zusammenhang zwischen Position und Orientierung bei den einzelnen Untersuchungspartnerinnen noch einmal aufgegriffen und diskutiert (8.7.5).

8.7 ERGEBNISSE VON ELTERN UND FACHKRÄFTEN IM VERGLEICH Durch den Vergleich der Vorstellungen und Orientierungen von Eltern und Fachkräften lassen sich die Ergebnisse aus den Analysen der subjektiven Theorien zusammenfassen, wobei anhand von Unterschieden und Gemeinsamkeiten einige Ergebnisse nochmal besonders deutlich werden. Hierzu gehört, dass die Eltern in ihrer Spracherziehung die Mehrsprachigkeit der Kinder als Ziel verfolgen, während dies nur von einigen Fachkräften genauso gesehen wird (8.7.1). Weiterhin wird sichtbar, dass sich die Fachkräfte, bei denen eigentlich professionelle Begründungsmuster für ihre Spracherziehungsziele zu erwarten wären, in

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dieser Hinsicht kaum von den Eltern unterscheiden (8.7.2). Ebenso zeigt sich, dass Eltern und Fachkräfte aus einer unterschiedlichen Perspektive auf das mehrsprachige Kind blicken und dementsprechend Unterschiedliches wahrnehmen. Allerdings verläuft hier die Trennlinie nicht eindeutig zwischen Eltern und Fachkräften, sondern eher zwischen denen, die ein monolinguales Normalitätsverständnis vertreten bzw. übernommen haben, und denen, die für eine Erziehung zur Mehrsprachigkeit stehen (8.7.3). Gleiches gilt auch für unterschiedliche Einschätzungen in der Frage, wofür Elternhaus bzw. Kita in der Spracherziehung zuständig sind (8.7.4). Auch im Hinblick auf die Spuren des migrationsgesellschaftlichen Kontextes, die in den subjektiven Theorien sichtbar werden, lässt ein Vergleich der Untersuchungspartnerinnen bestimmte Zusammenhänge noch einmal deutlich hervortreten. So können Unterschiede in den Vorstellungen und Orientierungen mit Unterschieden in der Position der Befragten im Rahmen migrationsgesellschaftlicher Zugehörigkeitsordnungen in Zusammenhang gebracht werden. Und auch hier zeigt der Vergleich, dass sich nicht Eltern und Fachkräfte grundsätzlich unterscheiden, sondern dass die Unterschiede eher entlang eines Kontinuums von ‚mehrheitszugehörig und monolingual orientiert‘ über ‚nichtzugehörig und (gerade deshalb) monolingual orientiert‘ bis hin zu ‚nichtzugehörig und deshalb kritisch‘ deutlich werden (8.7.5). 8.7.1 Die Rolle der Sprache und die Ziele der Spracherziehung Sowohl Eltern als auch Fachkräfte schreiben der Sprache eine wichtige Rolle für die Vermittlung von Gefühlen, für die Lösung von Konflikten und für die Weitergabe von Werten und Normen zu. Auch das Gefühl der Sicherheit, Geborgenheit und Zugehörigkeit wird sowohl von den Eltern als auch von den Fachkräften mit Sprache in Verbindung gebracht. Während indes die Eltern Mehrsprachigkeit als Ziel ihrer Spracherziehung angeben, verfolgen nur zwei der fünf Fachkräfte ebenfalls dieses Ziel und drei der Fachkräfte konzentrieren sich in ihrer subjektiven Theorie auf die Aneignung des Deutschen. Das Potenzial der Mehrsprachigkeit, die verschiedenen Bezüge der Kinder und ihrer Familien zu integrieren und ihnen zu einer selbstbestimmten Positionierung zu verhelfen, das die Eltern mehrheitlich betonen, wird somit nur von einigen Fachkräften aufgegriffen. Die Eltern verbinden das Ziel der Mehrsprachigkeit mit dem Wunsch nach der Entfaltung einer hybriden Identität der Kinder. Die Fachkräfte nehmen zwar ebenfalls diesen Zusammenhang von Sprache und Identität wahr, aber nur zwei von ihnen sehen es als ihre Aufgabe, die verschiedenen Bezüge der Kinder auch in der Kita aufzugreifen, um ihnen eine ausgewogene Identitätsentwicklung zu ermöglichen. Bei den anderen Fachkräften liegt der Schwerpunkt auf einem

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Ausschnitt der Lebenswelt der Kinder, in dem es darum geht, Deutsch zu lernen und in die deutsche Kultur hineinzuwachsen. Allerdings zeigt sich auch bei zwei Elternteilen diese Vorstellung eines zwar mehrsprachigen Aufwachsens, das aber getrennt in einem deutschen und einem nicht deutschen Bereich stattfindet. 8.7.2 Begründungen für die Ziele der Spracherziehung Im Vergleich zwischen Eltern und Fachkräften fällt weiterhin auf, dass die Spracherziehung für die Eltern sehr eng mit der eigenen Sprachigkeit und mit den familiären Beziehungen in Verbindung steht. Der Wunsch nach einem mehrsprachigen Aufwachsen der Kinder wird mit der sprachlichen Situation der Familie begründet, mit dem Bedürfnis, den Kindern ihre Wurzeln zugänglich zu machen und ihnen eine selbstbestimmte Positionierung zu ermöglichen. Ziele und Strategien werden dabei nicht fachlich begründet, sondern von eigenen Erfahrungen und von Beobachtungen in anderen Familien abgeleitet, und entstehen aus dem, was in der alltäglichen Praxis erforderlich bzw. möglich ist. Blickt man auf die Fachkräfte, so fällt auf, dass der Umstand, dass sie Spracherziehung nicht im familiären, sondern im professionellen Kontext gestalten, nicht unbedingt dazu führt, dass ihre Vorstellungen stärker von fachlich-theoretischen Aspekten geleitet sind als die der Eltern. Wie die Eltern nehmen auch die Fachkräfte in ihren Vorstellungen von Sprache und in ihren Zielen und Strategien bei der Spracherziehung relativ wenig Bezug auf fachliche Aspekte, wie z.B. Erkenntnisse der Sprachaneignungs- und Mehrsprachigkeitsforschung, oder auf die Bildungsdimension von Sprache. Stattdessen überwiegen auch hier emotionale Aspekte, wie das Ziel, die Kinder mögen ihre Bedürfnisse äußern und sich sicher fühlen, oder funktionale Aspekte, wie das Ziel eines ‚reibungslosen‘ Ablaufs und einer gewaltfreien Konfliktlösung in der Kita. Zusätzlich spielen, wie in Kapitel 8.6.4 gezeigt werden konnte, auch bei den Fachkräften biographische Aspekte eine große Rolle, wie z.B. die Erfahrung von Anpassung als erfolgreicher Strategie oder die schmerzhafte Erfahrung des Verbotes der Muttersprache. Lediglich die Fachkraft Elena greift mit der Bedeutung der Sprache für die kognitive Entwicklung eine fachbezogene Erkenntnis auf und stützt damit ihre Forderung, auch in der Kita das gesamtsprachliche Repertoire der Kinder zu fördern. Wo ansonsten die Bildungsdimension der Sprache angesprochen wird, geschieht dies nur im Hinblick auf die Schule und ihre Anforderungen an die Fähigkeiten der Kinder im Deutschen. Die Fachkraft Sandra, die ebenfalls betont, dass Sprache zentral sei für die Vermittlung von Gefühlen und Bedürfnissen, fügt erst in der kommunikativen Validierung noch ein, dass Sprache auch wichtig sei, damit die Kinder ihr Wissen und ihre Fragen ausdrücken könnten (Sandra, G1). Somit heben nicht

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nur die Eltern, sondern erstaunlicherweise auch fast alle Fachkräfte die emotionalen Aspekte der Sprache hervor, während ihre Bedeutung für die kognitive Entwicklung, für Wissen und Bildung, im Hintergrund bleibt bzw. auf die Funktion schulreifer Kompetenzen im Deutschen reduziert wird. 8.7.3 Subjektivierungen und der Blick auf das mehrsprachige Kind Der Vergleich von Eltern und Fachkräften macht außerdem einmal mehr deutlich, wie weit ein von der Kita vertretenes monolinguales Sprachregime in die Sprachpraxis der Familie und das Selbstverständnis der Kinder hineinreichen kann. So zeigte sich bei Sandra und Karin die Vorstellung, dass mehrsprachige Kinder bei Kitaeintritt in eine ‚andere Welt‘ kommen, die sich nicht nur in Bezug auf die sprachlichen Regeln, sondern auch auf die geltenden Normen und Werte von der ‚familiären Welt‘ unterscheidet. Obwohl die Kinder der befragten Eltern nicht diese spezielle Kita besuchen, zeigt sich auch in den subjektiven Theorien der Eltern, dass die Kinder ein großes Bedürfnis haben, sich der ‚neuen Welt‘ der Kita anzupassen, um in ihr bestehen zu können. So wird von allen Eltern berichtet, dass die Kinder nach dem Kitaeintritt zeitweise auch zu Hause nur noch Deutsch sprechen wollten und die nichtdeutsche Familiensprache teilweise verweigerten. Wie Kinder unter dem monolingualen Sprachregime in der Kita leiden können, zeigt sich zwar nicht am Beispiel eigener Kinder der befragten Eltern, wird aber von Requena beschrieben, die damit eine Entsprechung zu den Beobachtungen von Sandra und Karin liefert. Sie berichtet, dass Kinder, die neu in die Kita ihrer Tochter kamen und kein Deutsch konnten, entweder ängstlich oder aggressiv gewirkt hätten und sich offensichtlich „weniger wert“ (Requena, 1.3) fühlten. Erst mit zunehmenden Fähigkeiten im Deutschen hätten diese Kinder einen sichereren und zufriedeneren Eindruck gemacht. Die Tatsache, dass Fähigkeiten im Deutschen eine Bedingung für Zugehörigkeit, Sicherheit und Wohlbefinden in der Kita darstellen, spiegelt sich also sowohl in den Haltungen einiger Fachkräfte als auch in den Berichten von Eltern wider. Interessant ist, dass ansonsten die Gefühlslage der mehrsprachigen Kinder beim Kitaeintritt und ihr Umgang mit den neuen Anforderungen von Eltern und Fachkräften ganz unterschiedlich wahrgenommen und beschrieben werden. Bei Sandra und Karin überwiegt hier die Beobachtung von verunsicherten Kindern, die sich zunächst nicht verständigen können, die in einer ‚fremden Welt‘ stehen und nur langsam ins Deutsche ‚hineinwachsen‘. Von den Eltern hingegen wird der Einstieg ins Deutsche im Rahmen des Kitaeintritts bei den eigenen Kindern nicht als problematisch beschrieben. Stattdessen betonten alle Eltern, dass ihre

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Kinder in der Kita sehr schnell Deutsch gelernt hätten, oder wo dies nicht der Fall sei, wie z.B. bei der jüngeren Tochter von Olga, dass diese selbst mit ihren unvollkommenen Fähigkeiten in drei Sprachen gar kein Problem habe. Nun lässt sich dieser Widerspruch nicht auf ein konkretes Beispiel beziehen, da kein Kind der befragten Eltern die Kita von Karin und Sandra besucht hat. Dennoch gibt die Tatsache, dass die verschiedenen Perspektiven (Eltern und Fachkräfte) auf Kinder, die beim Kitaeintritt eine neue Sprache lernen, so unterschiedliche Beobachtungen hervorbringen, Anlass zu einer weitergehenden Interpretation. So könnte diese Unterschiedlichkeit damit in Verbindung gebracht werden, dass die Eltern einen anderen Ausschnitt des Kindes und seiner sprachlichen Situation im Moment des Kitaeintritts wahrnehmen, als die Fachkräfte. Während die Fachkräfte – zumindest diejenigen mit einem monolingualen Normalitätsverständnis – ein Kind mit nichtdeutscher Familiensprache vor allem als Kind ‚ohne Sprache‘ wahrnehmen, sehen die Eltern ihr Kind als eines, das in der Familiensprache handlungsfähig ist und seine Ziele erreicht und durch den Kitaeintritt noch eine weitere Sprache hinzulernt. Diese unterschiedliche Sichtweise auf Kinder, die mit dem Kitaeintritt beginnen, sich eine zweite (oder dritte) Sprache anzueignen, macht noch einmal deutlich, wie ein monolinguales Normalitätsverständnis dazu führen kann, mehrsprachig aufwachsende Kinder mit einem defizitorientierten Blick wahrzunehmen und die Ressourcen, die sie mitbringen, zu übersehen. 8.7.4 Herausforderungen in der Spracherziehung und die Rolle der Kita Als Folge dieses Übersehens der sprachlichen Ressourcen mehrsprachiger Kinder wird von den monolingual orientierten Fachkräften auch nicht weiter beachtet, was für die Eltern im Zentrum ihrer Überlegungen zur sprachlichen Erziehung steht, nämlich der Erhalt der nichtdeutschen Familiensprache. In den subjektiven Theorien der Eltern wurde deutlich, dass die Beibehaltung der nichtdeutschen Familiensprache gerade nach dem Eintritt der Kinder in die Kita, wo sie mühelos das Deutsche annehmen und es bald zu ihrer Hauptsprache machen, für die Eltern die größte Herausforderung in der Spracherziehung darstellt. So bezogen sich die von den Eltern beschriebenen Strategien hauptsächlich auf den Erhalt und den Ausbau der nichtdeutschen Familiensprache und Erfolge in dieser Hinsicht wurden mit großer Zufriedenheit beschrieben. Diese Dimension der sprachlichen Entwicklung der Kinder entgeht jedoch denjenigen Fachkräften, die sich ausschließlich auf den Sprachstand und den Kompetenzzuwachs im Deutschen konzentrieren. Somit wird ein Bereich, der für Kinder, Eltern und die wei-

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tere Familie (z.B. Großeltern) sowie wie für die innerfamiliären Beziehungen gerade in der Zeit des Eintritts in die Kita eine so wichtige Rolle spielt und in dem sich große Veränderungen vollziehen können, von Fachkräften mit monolingualer Perspektive kaum wahrgenommen. Im Unterschied dazu weisen die Vorstellungen der Fachkräfte Elena und Gülcan einige Parallelen zu den Vorstellungen der Eltern auf. Ebenso wie die Eltern sehen diese beiden die Sprachen der Kinder als verschiedene Facetten ihrer Welt und möchten dementsprechend Mehrsprachigkeit als Ressource für eine hybride Identität fördern und alle sprachlichen Bezüge der Kinder aufgreifen. Ebenso wie die befragten Eltern machen auch sie sich keine großen Sorgen um den Deutscherwerb der Kinder und betonen, dass Kinder, die ohne Deutschkenntnisse in die Kita kämen, diese ganz schnell und in den meisten Fällen mühelos aufholten. Ebenso passt die Einschätzung von Elena, dass sich Eltern, die ihre eigene Mehrsprachigkeit selbstbewusst leben, weniger Sorgen um die Spracherziehung der Kinder machten, auf die Mehrzahl der hier befragten Eltern. Diese gehen selbstbewusst mit ihrer Mehrsprachigkeit um und machen sich gleichzeitig zwar Gendanken, aber wenig Sorgen um die Spracherziehung der Kinder. Die einzige Untersuchungspartnerin unter den Eltern, die ihre eigene Mehrsprachigkeit nicht selbstbewusst lebt, sondern sich sprachlich und kulturell als ‚Weder-noch‘ beschreibt, ist auch diejenige, die am ehesten Sorgen um die Mehrsprachigkeit der Kinder zum Ausdruck bringt und deren Kenntnisse in der nichtdeutschen Familiensprache als sehr gering einschätzt. Die beiden Fachkräfte Elena und Gülcan nehmen außerdem – ebenso wie die Eltern und im Unterschied zu den anderen drei Fachkräften – die Problematik des Erhalts der nichtdeutschen Familiensprache wahr und sehen dieselben Schwierigkeiten, die auch die Eltern in ihren subjektiven Theorien beschreiben. Dies nehmen sie zum Anlass, die mehrsprachige Erziehung der Eltern zu unterstützten, indem sie z.B. die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern in der nichtdeutschen Familiensprache anregen und die nichtdeutschen Familiensprachen auch im Kitaalltag aufgreifen. Damit scheinen sie dem großen Thema, das der Erhalt der nichtdeutschen Familiensprache mit ihren Implikationen für Identität, Selbstpositionierung und Zugehörigkeit für die Eltern darstellt, eher gerecht zu werden als die Fachkräfte mit einem monolingualen Normalitätsverständnis. Aber nicht für alle Eltern ist die Unterstützung der Mehrsprachigkeit eine Aufgabe der Kita. Wie bereits deutlich wurde, ist Mehrsprachigkeit zwar für alle Eltern ein Ziel der Spracherziehung, dennoch gibt es auch bei den Eltern die Position, dass die Kita ausschließlich für die Vermittlung des Deutschen zuständig ist, während die nichtdeutsche Familiensprache Sache der Familie sei. Hier macht der Vergleich zwischen Eltern und Fachkräften besonders deutlich, dass

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| Empirischer Teil

die Trennlinie nicht zwischen diesen beiden Gruppen verläuft, sondern eher zwischen Zefcan, (Alara), Sandra, Karin und Meriem auf der einen Seite, die die Kita in der Rolle der Vermittlerin von deutscher Sprache und Kultur sehen, und Yves, Olga, Requena, Elena und Gülcan auf der anderen Seite, die eine zentrale Aufgabe der Kita in der Vermittlung von Vielfalt als Normalität sehen. Ein Erklärungsansatz für diese Aufteilung ergibt sich aus der vergleichenden Analyse der Spuren des migrationsgesellschaftlichen Kontextes, die in den subjektiven Theorien sichtbar werden. 8.7.5 Der Zusammenhang zwischen Vorstellungen und Orientierungen zur Spracherziehung und der Position im migrationsgesellschaftlichen Kontext Auch die Wirkung des migrationsgesellschaftlichen Kontextes, dessen dominante Zugehörigkeitsordnungen sich in die subjektiven Theorien einschreiben und in der Spracherziehung subjektivierend wirken, lässt sich durch den Vergleich zwischen Eltern und Fachkräften nochmal deutlich hervorheben. So zeigte sich, dass das dominante monolinguale Sprachregime und die ‚mehrheitsgesellschaftlichen‘ Vorstellungen von Normalität, die sich nicht nur auf Sprache, sondern auch auf Zugehörigkeit, Werte, Normen und ‚kulturelle Merkmale‘ beziehen, für alle Untersuchungspartnerinnen spürbar und wirksam sind. Bei der Frage, in welcher Weise der migrationsgesellschaftliche Kontext wirkt und wie unterschiedlich mit diesen Einflüssen umgegangen wird, verläuft indes die Trennlinie wiederum nicht in erster Linie zwischen Fachkräften und Eltern. Es zeigt sich, dass sich die Untersuchungspartnerinnen vielmehr anhand des Zusammenhangs zwischen ihrer Zugehörigkeit und ihrer Haltung zum monolingualen Sprachregime unterscheiden und entlang einer Art Kontinuum verorten lassen. Als im migrationsgesellschaftlichen Sinne am zweifelsfreisten zugehörig könnten dabei Sandra und Karin gelten, die beiden Fachkräfte ohne ‚Migrationshintergrund‘ und ohne (auf natio-ethno-kulturelle Differenzmerkmale bezogene) Diskriminierungserfahrungen. Ihre Zugehörigkeit zur ‚Mehrheitsgesellschaft‘ verbindet sich mit ihrer Selbstpositionierung als Vertreterinnen einer monolingualen ‚Normalität‘. In Kapitel 8.6.4 konnte gezeigt werden, dass die unreflektierte Zugehörigkeit von Sandra und Karin dazu führt, dass für beide der Primat der deutschen Sprache und Kultur, die ‚deutsche Welt der Kita‘, so selbstverständlich und normal sind, dass sie mit ‚Sprache‘ unausgesprochen die deutsche Sprache meinen und für ein funktionierendes Miteinander in der Kita selbstverständlich die sprachliche Ordnung des Deutschen voraussetzen. Zu den Vertreterinnen des monolingualen Sprachregimes gehört jedoch auch Meriem, eine

Eltern und Fachkräfte im Vergleich

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Fachkraft ‚mit Migrationshintergrund‘, die den Primat des Deutschen noch vehementer vertritt, indem sie z.B. fordert, dass auch die Eltern mehrsprachiger Kinder mit diesen Deutsch sprechen sollen. Die Anpassung, die von Sandra und Karin eher implizit von mehrsprachigen Kindern und Eltern gefordert wird, verlangt Meriem explizit von den ‚anderen‘. Blickt man jedoch auf die Zugehörigkeit, so ist Meriem eindeutig anders positioniert als Sandra und Karin, da sie nicht der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ angehört, sondern erst vor einigen Jahren zugewandert ist. In Kapitel 8.6.4 wurde deutlich, dass Meriem gerade aufgrund ihrer Position als nicht-Zugehörige eine besonders starke Motivation haben könnte, sich der Normalitätsvorstellung der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ und ihren Forderungen anzuschließen (oder dies zumindest im Gespräch mit einer ‚mehrheitsangehörigen Expertin‘ zu betonen). Sie ist aufgrund ihrer Migrationsgeschichte besonders auf Zugehörigkeit in der Aufnahmegesellschaft angewiesen und zudem war Anpassung an dominante Ordnungen für sie auch schon vor der Migration eine Strategie zum Erhalt der eigenen Handlungsfähigkeit. Zu den Vertreterinnen der Vorstellung, die Kita sei ausschließlich für das Deutsche zuständig, gehören aber nicht nur Fachkräfte, sondern mit Zefcan auch eine Vertreterin der Eltern, die zwar Mehrsprachigkeit als Spracherziehungsziel anstrebt, dafür aber nicht die Kita in Anspruch nehmen will. Auch bei ihr ließ sich zeigen, dass der migrationsgesellschaftliche Kontext beim Zustandekommen dieser Haltung eine wichtige Rolle spielt. Ihre Erfahrungen mit der Ausgrenzung der nichtdeutschen Familiensprache im Rahmen von Bildungsinstitutionen (Sprachverbote in Kita und Schule) und ihr Verweis in den Familienbereich haben zu einer Verinnerlichung dieser Regeln geführt. Im Hinblick auf ihre Position im migrationsgesellschaftlichen Kontext wurde zudem deutlich, dass die Erfahrung, im außerfamiliären Bereich nicht als mehrsprachig anerkannt worden zu sein, zu einer Selbstwahrnehmung als ‚anders‘ in jedem Kontext, als ‚weder hier noch dort zugehörig‘ beigetragen hat. Wie Meriem ist also auch Zefcan eine Vertreterin des monolingualen Sprachregimes, die gerade aufgrund ihrer nichtZugehörigkeit den Primat des Deutschen in der Kita unterstützt. Im Gegensatz dazu lassen sich am anderen Ende des Kontinuums Eltern und Fachkräfte verorten, die eine kritische Haltung zum monolingualen Sprachregime haben bzw. auf einen eigenen Entwurf von Sprachigkeit und Normalität setzen und dafür auch Unterstützung von der Kita erwarten. Ein Blick auf die Position dieser Untersuchungspartnerinnen im Hinblick auf Zugehörigkeit zeigt, dass auch hier ein enger Zusammenhang besteht zwischen ihren Erfahrungen mit nicht-Zugehörigkeit im migrationsgesellschaftlichen Kontext und ihrer Haltung. So lässt sich die Fachkraft Elena als die vehementeste Vertreterin einer Erziehung zu Vielfalt und Mehrsprachigkeit bezeichnen, die auch die bestehende

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Ordnung, wie z.B. das Sprachregime und den Druck der Schule, am schärfsten kritisiert und ihre Kritik am stärksten mit fachlichen Erkenntnissen und einem alternativen Konzept in ihrer Kita untermauert. Gleichzeitig hat Elena zwar durch die Diskriminierung ihres nichtdeutschen Partners und ihrer afrodeutschen Kinder eine Positionierung als nicht-Zugehörige erlebt, aber sie gehört dennoch als deutsche nicht Zugewanderte der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ an. Hier wird also ein Zusammenhang sichtbar zwischen Diskriminierungserfahrungen im migrationsgesellschaftlichen Kontext bei einer gleichzeitig in Bezug auf Zugehörigkeit relativ ‚sicheren‘ Position und einer selbstbewusst vorgetragenen Kritik am monolingualen Sprachregime sowie der Behauptung eines alternativen Normalitätsverständnisses. Aber auch bei einigen Eltern zeigt sich, dass sie gerade ihre nichtZugehörigkeit zum Anlass nehmen, sich nicht anzupassen, sondern eine eigene Position zu behaupten und damit die dominante Normalitätsvorstellung zu kritisieren und in Frage zu stellen. So zeigt sich bei Yves und Alara, dass auch sie sich intensiv mit erlebten Etikettierungen und Zuschreibungen auseinandersetzen und selbstbewusst ein alternatives Normalitätsverständnis vertreten, in dessen Rahmen sie ihre mehrsprachige Erziehung als Mittel nutzen, um eine eigene Position als Mehrfachzugehörige zu behaupten und dies auch ihren Kindern zu ermöglichen. Auch bei ihnen lässt sich anhand eigener Aussagen indes gleichzeitig feststellen, dass sie, wie Elena, in der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ gut verankert sind. Obwohl ihre Zugehörigkeit immer wieder hinterfragt wird, betonen sie z.B. im Deutschen eine ‚100%ige Ausdruckssicherheit‘ (Alara, G1), betrachten sich als angekommen (Alara G2), haben ein sicheres ‚Standing‘ (Yves 17.3). Beide sind in Deutschland aufgewachsen, verfügen über eine akademische Berufsausbildung und einen festen Job in ihrem Beruf und beide beschreiben ihren Freundeskreis als nicht auf eine bestimmte Community beschränkt, sondern sind auch hinsichtlich ihrer sozialen Kontakte in der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ gut vernetzt. Folgt man dem Bild des Kontinuums von ‚mehrheitszugehörig und monolingual orientiert‘ (Sandra und Karin) über ‚nicht-zugehörig und (gerade deshalb) monolingual orientiert‘ (Meriem und Zefcan) bis hin zu ‚nicht-ganz-zugehörig, dabei aber selbstpositioniert und kritisch‘ (Elena, Alara und Yves), so lassen sich schließlich auch Gülcan, Requena und Olga verorten. Olga und Requena machen mit ihren Aussagen deutlich, dass sie sich in Deutschland nicht 100%ig zugehörig fühlen. So vermutet Requena, dass man wahrscheinlich hier geboren sein müsste, um wirklich dazu zu gehören (Requena G6), und Olga betont, dass sie sich aufgrund ihrer Sprachkenntnisse und auch aufgrund der Reaktionen von außen immer als Ausländerin fühlt (Olga, 4.3). Zwar nehmen Olga und Requena nicht wie Yves und Alara für sich selbst eine hybride Identität in Anspruch, aber

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auch sie wünschen sich für ihre Kinder eine Position als Mehrfachzugehörige jenseits von dominanten Normalitätsvorstellungen. Ebenfalls als kritisch und als nicht-Zugehörige mit einer alternativen Perspektive auf sprachliche Normalität lässt sich Gülcan hier verorten. Auch sie betont Mehrsprachigkeit als Spracherziehungsziel und möchte alle Bezüge der Kinder einbeziehen, damit die Kinder Vielfalt als normal erleben. Im Vergleich zu Elena ist Gülcan aber weniger kritisch, z.B. den Erwartungen der Schule gegenüber, und betont stattdessen hier, dass man diese Erwartungen natürlich erfüllen wolle und könne (Gülcan, 6.14). Sowohl Olga und Requena als auch Gülcan lassen sich also im Vergleich zu Yves, Alara und Elena als eher weniger zugehörig und gleichzeitig auch als weniger kritisch verorten, wobei sie dennoch deutlich eine alternative Normalitätsvorstellung in Bezug auf Sprache vertreten. Sicherlich wird nun die Verortung der Untersuchungspartnerinnen in dem vorgestellten Kontinuum von ‚mehrheitszugehörig und monolingual orientiert‘ über ‚nicht-zugehörig und (gerade deshalb) monolingual orientiert‘ bis hin zu verschiedenen Abstufungen von ‚nicht-ganz-zugehörig, dabei aber selbstpositioniert und kritisch‘ keineswegs allen Aspekten der verschiedenen subjektiven Theorien gerecht. Ihre Rekonstruktion und Analyse zielte ja gerade darauf ab, möglichst viele unterschiedliche Aspekte aufzunehmen und die Vorstellungen und Orientierungen in ihrer Vielfalt und Verschiedenheit darzustellen. Dennoch macht der hier angestellte Vergleich der Untersuchungspartnerinnen im Hinblick auf die Spuren des migrationsgesellschaftlichen Kontextes etwas Grundlegendes deutlich: Es zeigt sich nicht nur, dass dominante Zugehörigkeitsordnungen des migrationsgesellschaftlichen Kontextes im Zusammenhang stehen mit den Vorstellungen und Orientierungen der Untersuchungspartnerinnen. Vielmehr haben diese Zugehörigkeitsordnungen auch einen Einfluss darauf, welchen Spielraum die durch sie Positionierten für Resignifizierung und die Behauptung einer alternativen (hybriden) Position und (Sprach-)Identität haben. So weisen die hier untersuchten Beispiele und ihr Vergleich untereinander darauf hin, dass nichtZugehörigkeit, je umfassender sie ist, zu einem besonderen Anpassungsdruck an dominante Ordnungen führen kann. Gleichzeitig können Erfahrungen mit nichtZugehörigkeit auch gerade ein Anlass sein, die dominante Ordnung in Frage zu stellen. Dies wiederum scheint jedoch leichter zu fallen, je weniger umfassend die eigene nicht-Zugehörigkeit ist.

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Schlussbetrachtung

Die vorliegende Untersuchung hat sich zum Ziel gesetzt, die Gestaltung mehrsprachigen Aufwachsens anhand der Vorstellungen und Orientierungen von Eltern und Fachkräften näher zu beleuchten und dabei auch Spuren des migrationsgesellschaftlichen Kontextes sichtbar zu machen. Die Auswertung des Forschungsstandes in den Bereichen Ausbau, Inanspruchnahme und Qualität frühpädagogischer Bildungs- und Betreuungsangebote sowie familiale Entwicklungsumwelten haben gezeigt, dass es vertiefter Erkenntnisse über die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern ‚mit Migrationshintergrund‘ bedarf, um eine Defizitperspektive zu vermeiden, um die notwendige Weiterentwicklung der Betreuungsqualität und ihrer Maßstäbe zu erreichen und um mehr Familien eine Teilhabe am Angebot zu ermöglichen. Bereits hier wurde deutlich, dass die Aneignung von Sprache, sprachliche Bildung und der Umgang mit Mehrsprachigkeit in diesem Zusammenhang zentrale Themen sind. So ist die sprachliche Bildung nicht nur ein wichtiger Faktor in den Erwartungen an frühpädagogische Einrichtungen im Hinblick auf eine gerechtere Verteilung von Bildungschancen. Gleichzeitig manifestieren sich heterogene kulturelle Bezüge in Familie und Kita über Sprache und Sprache dient den Eltern zur Weitergabe von Bedeutungssystemen und Wertvorstellungen sowie zur Vermittlung von Bezügen für die Identitätsbildung der Kinder. Passend dazu zeigen die Ergebnisse zur Inanspruchnahme der U3-BBE, dass sich mehr Eltern ‚mit Migrationshintergrund‘ für eine Teilnahme entscheiden würden, wenn hier die kulturellen Bezüge – eben auch in Form der Mehrsprachigkeit und der Herkunftssprachen der Familie – stärker berücksichtigt würden. Die Auswertung des Forschungsstandes zum Thema sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit machten zudem deutlich, dass die verbreitete Vorstellung von getrennten Sprachsystemen und die dominante Orientierung an einer monolingualen Norm, die eine forcierte Förderung (nur) des Deutschen nach sich zieht, der tatsächlichen Situation mehrsprachiger Kinder nicht gerecht wird und nicht zu einer ganzheitlichen Unterstützung der Spracha-

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neignung führt. Eine sprachliche Bildung, die im Gegensatz dazu das gesamte Repertoire mehrsprachiger Kinder fördern soll, ist allerdings angewiesen auf Informationen über die familiären Sprachpraktiken, über die Entwicklung der Kinder in allen ihren Sprachen und über die Bedeutung und die Funktion(en), die die Sprachen in der Familie haben. Darüber hinaus wurde durch den Blick auf Sprache und sprachliche Bildung aus einer migrationspädagogischen Perspektive die Rolle der Sprache im Rahmen von Zugehörigkeitsordnungen und entsprechenden Subjektivierungsprozessen deutlich. Die verbreitete Orientierung an der monolingualen Norm in der sprachlichen Bildung lässt sich so in einem größeren Zusammenhang als migrationsgesellschaftliche Sprachpolitik verstehen. Gleichzeitig lässt sich aus dieser Perspektive auch das subversive Potenzial von Sprache sichtbar machen, das in der Möglichkeit hybrider Sprachidentitäten und Selbstpositionierung durch Sprachigkeit besteht. In diesem Zusammenhang wurden auch Untersuchungen zum Umgang mit Mehrsprachigkeit in der Kita ausgewertet, die sich ebenfalls für die strukturellen Kontexte und die Reproduktion sozialer Ordnungen interessieren. Hier zeigte sich, wie sich ein monolinguales Sprachregime in den Handlungen und Orientierungen der Fachkräfte manifestiert, wie es subjektivierend auf mehrsprachige Kinder einwirkt und welche Möglichkeiten es andererseits für eine translinguale Förderung der Aneignung von Sprache jenseits eines monolingualen Normalitätsverständnisses gibt. Aus der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Ergebnissen der entsprechenden Forschungsbereiche ergab sich für die empirische Untersuchung einerseits die Frage nach der Gestaltung mehrsprachigen Aufwachsens aus Sicht von Eltern und Fachkräften jenseits einer defizitorientierten Perspektive. Im Sinne einer praxeologischen Forschungslogik wurde die Gestaltung sprachlicher Entwicklungsumwelten gemeinsam mit denjenigen rekonstruiert, die hier maßgeblich wirken. Damit sollte ein Blick in die Tiefendimensionen der Spracherziehung ermöglicht werden, der auch zutage fördert, mit welchen Erfahrungen, Haltungen, Wünschen und Vorstellungen die Orientierungen in der Spracherziehung verbunden sind. Breits in der ersten Rekonstruktion wurde deutlich, dass es hierbei auch um Erfahrungen von nicht-Zugehörigkeit und das Ringen um Anerkennung und Positionierung in der Migrationsgesellschaft geht. Daher wurden die subjektiven Theorien in einem zweiten Schritt aus einer diskurstheoretischen Perspektive heraus auf dominante Codes im Rahmen migrationsgesellschaftlicher Ordnungen hin untersucht. Aus den in Kapitel 8 vorgestellten Ergebnissen der empirischen Untersuchung sollen hier abschließend drei zentrale Erkenntnisse noch einmal hervorgehoben werden. Erstens haben die Rekonstruktionen der subjektiven Theorien

Schlussbetrachtung

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über mehrsprachiges Aufwachsen gezeigt, wie weit die Vorstellungen und Orientierungen der Untersuchungspartnerinnen über das Thema der bloßen Aneignung von Sprache(n) hinausgehen und wie eng sie mit Fragen der Identitätsbildung und Selbstpositionierung – sowohl in Bezug auf die Kinder als auch auf die Untersuchungspartnerinnen selbst – verbunden sind. Zweitens wurde deutlich, dass in den subjektiven Theorien über mehrsprachiges Aufwachsen ein monolinguales Normalitätsverständnis eine große Rolle spielt, wobei es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, sich dazu zu positionieren. Sowohl die Selbstpositionierung über Sprache als auch der Umgang mit dem monolingualen Sprachregime machen außerdem die Anwesenheit wirkmächtiger migrationsgesellschaftlicher Ordnungen sichtbar, die wiederum weit über das Thema des mehrsprachigen Aufwachsens hinausgehen. Drittens zeigen die Rekonstruktionen, wie eng die Vorstellungen und Orientierungen über mehrsprachiges Aufwachsen mit der eigenen Biographie zusammenhängen. Es wurde deutlich, dass verschiedene biographische Erfahrungen mit der Herausbildung ganz unterschiedlicher Überzeugungen in Verbindung gebracht werden können, und dass es unterschiedliche Strategien gibt, sich im Kontext dominanter Ordnungen selbst zu positionieren und entsprechend zu handeln. Die Reflexion der eigenen Sprach- und Bildungsbiographie sowie weiterer biographischer Erfahrungen erscheint damit als fruchtbare Möglichkeit, das professionelle Handeln in Bezug auf Mehrsprachigkeit und Spracherziehung weiterzuentwickeln. Im Folgenden werden die genannten drei Aspekte auch unter Einbezug von Erkenntnissen aus dem Forschungsüberblick aus den Kapiteln 2 bis 5 diskutiert. Zunächst geht es um die Verbindung von Sprache und Spracherziehung mit Identitätsentwicklung und Selbstpositionierung (9.1) sowie um das monolinguale Normalitätsverständnis und das Spannungsfeld, in dem sich sprachliche Bildung in der Kita befindet (9.2). Anschließend werden Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung des pädagogischen Handelns vorgestellt und die Bedeutung von biographischer Arbeit im Kontext von Professionalisierungsprozessen aufgegriffen (9.3). Den Abschluss bildet eine Reflexion der Untersuchungsmethodik und ihrer Grenzen sowie ein Ausblick auf mögliche Anschlussuntersuchungen (9.4).

9.1 DIE ROLLE DER SPRACHE FÜR IDENTITÄTSBILDUNG UND SELBSTPOSITIONIERUNG Die Rekonstruktion und Auswertung der subjektiven Theorien der Eltern hat deutlich gemacht, dass Sprache für sie ein wichtiges Medium für die Vermitt-

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lung von Identität und Zugehörigkeit ist. In Verbindung mit der nichtdeutschen Familiensprache heben die Eltern besonders die Emotionen und die Bindung an die Familie hervor, im Zusammenhang mit dem Deutschen vor allem Handlungsfähigkeit und Schutz vor Ausschluss. Mehrsprachigkeit soll den Kindern dazu verhelfen, ihre hybride Identität auszubalancieren, sich selbstbestimmt zu positionieren, sie vor Zuschreibungen von außen schützen und ihnen eine Offenheit für Vielfalt vermitteln. Diese Bedeutung von Sprache entsteht für die Eltern auch durch ihre eigene sprachliche Situation und deren Verbindung mit ihrer Position. Besonders deutlich wird dies im Unterschied zwischen den Untersuchungspartnerinnen Zefcan und Alara. So zieht Zefcan aus der sprachlichen Situation in ihrer Familie den Schluss, dass sie „weder türkisch noch deutsch“ seien und daher „hier nicht zurecht [kommen] und dort auch nicht“ (Zefcan, 10.1). Alara macht denselben Zusammenhang mit umgekehrten Vorzeichen deutlich, indem sie betont, sie seien „im Sowohl-als-auch“ angekommen, da ihnen „im Deutschen nichts“ fehle und sie „durch das Türkische […] ein Plus hinzu“ gewinnen (Alara, Grundgedanke 2). Das Gelingen der Mehrsprachigkeit wird von den Untersuchungspartnerinnen mit dem Gelingen der Ausbalancierung der Identität in Verbindung gebracht. Dies bezieht sich vor allem auf die Kinder, aber auch auf die eigene Identität, wobei letzteres am stärksten bei denjenigen Untersuchungspartnerinnen sichtbar wird, die selbst in Deutschland aufgewachsen sind. Vor dem Hintergrund des in Kapitel 3 vorgestellten Forschungsüberblicks zu heterogenen Entwicklungsumwelten bestätigt sich hier zunächst die Erkenntnis, dass elterliche Erziehungsvorstellungen immer „im Zusammenhang und in ihrer Funktionalität in einem gegebenen ökokulturellen Kontext“ zu verstehen sind (Demuth u.a. 2015: 44). Die Vorstellungen der befragten Eltern beziehen sich nicht nur auf Spracherziehung im engeren Sinne, sondern sind verbunden mit einem weiterreichenden Selbstverständnis und entsprechenden Zielen. Auch die von Leyendecker und De Houwer (2011) betonten Entwicklungsaufgaben für zugewanderte Familien spiegeln sich in den subjektiven Theorien der Eltern wieder. So können die Vorstellungen über Spracherziehung auch als Akkulturationsstrategien verstanden werden, in denen versucht wird, ein Festhalten an der ‚Herkunftskultur‘ mit einem Aufgreifen der Aufnahmegesellschaft zu verbinden. So zeigt sich auch in der vorliegenden Untersuchung, dass sich die Eltern für ihre Kinder „Akkulturation im Sinne von Akkommodation“ wünschen, d.h. einen „funktionalen und adäquaten Umgang mit der Aufnahmegesellschaft […] bei gleichzeitig hoher emotionaler Identifikation mit der Herkunftsgesellschaft“ anstreben (ebd.: 191). Prägend für die Identitätsbildung in diesem Spannungsfeld

Schlussbetrachtung

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ist laut Leyendecker und De Houwer auch die Frage, wie mit Diskriminierungserfahrungen umgegangen und dieser Umgang an die Kinder vermittelt wird. Dies wird auch bei den Untersuchungspartnerinnen deutlich, die ihre Sprachigkeit auch deshalb mit ihrer Position und ihrer Identität in Verbindung bringen, weil sie immer wieder erleben, wie sie von außen aufgrund ihrer Sprache als ‚nicht wirklich zugehörig‘ positioniert und hierarchisiert werden. Gleichzeitig wird Sprache von den Untersuchungspartnerinnen aktiv genutzt, um sich selbst jenseits binärer Zugehörigkeitslogiken in der Hybridität (‚Sowohl-als-auch‘) zu positionieren. Hierbei fällt auf, dass die Identifikation z.B. als ‚auch Türkin‘ (Alara) oder als ‚auch Franko-Marokkaner‘ (Yves) anhand der türkischen oder französischen Sprachkenntnisse von außen noch eher akzeptiert wird als die Identifikation als Deutsche bzw. Deutscher anhand der deutschen Sprachkenntnisse. So berichten Yves und Alara, dass sie trotz ihrer Sprachkenntnisse und obwohl sie in Deutschland aufgewachsen sind, nie als ‚wirkliche Deutsche‘ akzeptiert werden. Ein Vergleich der Untersuchungspartnerinnen machte außerdem deutlich, dass eine selbstbestimmte Positionierung jenseits dominanter Zugehörigkeitsordnungen sowie eine Kritik dieser Ordnungen eher von denen vollzogen wird, die sich selbst als ‚nicht wirklich zugehörig‘ erleben. Gleichzeitig zeigte sich, dass eine selbstbestimmte Positionierung und kritische Haltung gegenüber dominanten Ordnungen leichter zu fallen scheint, je weniger ‚nicht-zugehörig‘ man sich erlebt. Bei den Untersuchungspartnerinnen Meriem und Zefcan wurde deutlich, wie gerade aufgrund einer häufig oder stark erlebten nichtZugehörigkeit die dominante Ordnung der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ übernommen und (im Fall von Meriem) besonders vehement vertreten wird. Somit scheint der Grad der Zugehörigkeit den Spielraum für Kritik und alternative Standpunkte maßgeblich zu beeinflussen. Es zeigt sich anhand der subjektiven Theorien nicht nur, dass Sprache in einem engen Verhältnis zur Identitätsbildung steht, sondern auch, inwiefern Identität als „Ergebnis machtvoller Prozesse einer Subjektivierung, die entlang zumeist binär strukturierter und hierarchisch organisierter Differenzordnungen realisiert wird“ (Mecheril 2014: 17) verstanden werden kann. Mit der Rolle der Sprache für die Identitätsbildung ist also auch ihre Rolle im Rahmen migrationsgesellschaftlicher Subjektivierung und Positionierung (vgl. Kapitel 5.2 und 5.3) verknüpft. So soll die mehrsprachige Erziehung den Kindern ermöglichen, sich trotz dominanter Zugehörigkeitsordnungen eigenständig zu positionieren. Die Eltern ziehen ihre Sprache als ‚Identifikationsanker‘ heran, um eine selbstständige Positionierung als Mehrfachzugehörige zu behaupten und dies auch ihren Kindern zu ermöglichen. Wie schwierig die Behauptung einer hybriden Sprachigkeit und Identität sein kann, zeigt der Fall von Zefcan, an dem die subjekti-

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vierende Macht eines dominanten Sprachregimes und dominanter Zugehörigkeitsordnungen besonders deutlich wird. Zefcan berichtet von Sprachverboten für das Türkische, die sie im Rahmen von Kita und Schule erfahren hat. Gleichzeitig betont sie, dass auch in ihren Augen die Kita ausschließlich für die Vermittlung deutscher Sprache und Kultur zuständig und das Türkische Familiensache sei. Außerdem bedauert Zefcan ihre eigene ‚weder-noch-Zugehörigkeit‘ und die nicht gelingende mehrsprachige Praxis in ihrer Familie. Zuschreibungen und Ausgrenzungen anhand hierarchischer Zugehörigkeitsordnungen scheinen hier verinnerlicht worden zu sein und zu einer Selbstpositionierung nicht als ‚sowohlals auch‘, sondern als ‚nicht zugehörig‘ geführt zu haben. Die fehlende Anerkennung der eigenen Mehrsprachigkeit im migrationsgesellschaftlichen Kontext scheint dazu beigetragen zu haben, dass eine eigene Positionierung ebenso wie die mehrsprachige Erziehung der Kinder erschwert und als nicht erfolgreich erlebt wird. Diese Interpretation macht auch noch einmal deutlich, was gemeint ist, wenn im Rahmen von migrationsgesellschaftlicher Subjektivierung davon gesprochen wird, dass das Subjekt nach Anerkennung seiner eigenen Existenz in Kategorien suche, die es nicht selbst hervorgebracht hat (Mecheril/Rose 2014: 141; vgl. Kapitel 5.1). Zu den zentralen Erkenntnissen der Untersuchung gehört somit auch, dass die Eltern mit Zuschreibungen und Positionierungen als ‚nicht-Zugehörige‘ konfrontiert sind, bei denen ihre Sprachigkeit eine wichtige Rolle spielt. Im Hinblick auf ihre Kinder nehmen sie das Sprachregime der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ wahr und wünschen sich gute Deutschkenntnisse für die Kinder, damit sich diese „sicher, wertvoll und zugehörig“ (Requena, G5) fühlen können. Im Interesse von Sicherheit, Zugehörigkeit und Handlungsfähigkeit wird die hierarchische Sprachenordnung (der Kita) übernommen, womit einhergeht, dass sich die Vorrangstellung des Deutschen z.T. in der Familieninteraktion und der Selbstwahrnehmung der Kinder (als Deutsche) fortsetzt, was von den Eltern auch akzeptiert wird. Somit wird ein Widerspruch sichtbar zwischen der identitätsstiftenden Rolle der Mehrsprachigkeit für die angestrebte Mehrfachzugehörigkeit und dem Primat des Deutschen in der ‚Welt der Bildungsinstitutionen‘. Dies zeigt sich auch in der Herausforderung, die der Kitaeintritt für die familiäre Spracherziehung darstellt. Die intensive Auseinandersetzung der Eltern mit den Möglichkeiten zum Erhalt der nichtdeutschen Familiensprache angesichts der großen Bedeutung, die das Deutsche mit Eintritt in die Kita erlangt, macht deutlich, wie sich das monolinguale Sprachregime auf die familiäre Spracherziehung auswirkt. Neben der Rolle der Sprache für Identitätsbildung und Selbstpositionierung, die vor allem auf Seiten der Eltern deutlich wird, stellt somit die Abbildung des dominanten monolingualen Normalitätsverständnisses in den subjektiven Theorien

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ein weiteres zentrales Ergebnis der Untersuchung dar. Es prägt die Vorstellungen und Orientierungen einiger Fachkräfte sehr stark und ist Teil eines Spannungsfeldes, in dem sich das professionelle Handeln in der sprachlichen Bildung der Kita befindet.

9.2 MONOLINGUALES SPRACHREGIME UND NORMALITÄTSVORSTELLUNGEN IM PROFESSIONELLEN HANDELN Vor allem in den subjektiven Theorien zweier Fachkräfte zeigte sich, dass sie sich stark an einem monolingualen Normalitätsverständnis orientieren und unter sprachlicher Bildung in der Kita ausschließlich die Förderung des Deutschen verstehen. Ihre Haltung passt zur Ausrichtung bildungspolitischer Empfehlungen, die die sprachliche Bildung als zentralen Faktor für die Verbesserung von Bildungschancen identifizieren, mit sprachlicher Bildung indes hauptsächlich die Förderung der Fähigkeiten im Deutschen meinen (vgl. Kapitel 4.3). Erkenntnisse der Mehrsprachigkeitsforschung zeigen jedoch im Gegensatz dazu, dass sich eine angemessene Sprachförderung an der tatsächlichen Sprachenvielfalt der Kinder und ihren sprachlichen Handlungsanforderungen orientieren sollte. In diesem Zusammenhang stellt Reich (2008a) fest, dass ein Spannungsfeld besteht zwischen einer monolingualen gesellschaftlichen Normalitätserwartung und der generellen Kompetenzorientierung in der Elementarpädagogik. Die von wissenschaftlichen Erkenntnissen gestützte Forderung nach einer Orientierung an der tatsächlichen Sprachenvielfalt der Kinder steht demnach dem sprachlichen Einheitlichkeitsinteresse des öffentlichen Bildungswesens gegenüber. Die Sprachbildungskonzeption einer Kita ist daher laut Reich gefordert, diese Widersprüche auszuhalten und ihre „möglichen schädlichen Folgen für die Kinder“ (Reich, 2008a: 256) zu mildern. Anstatt eine forcierte Deutschförderung in der Kita zu betreiben müsse man hier die sprachliche Bildung auch als „Weiterführung der familiären Spracherziehung“ (Reich 2008b: 44) verstehen, ohne eine Konkurrenz der Sprachen zu konstruieren. Die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen, dass sich die Untersuchungspartnerinnen in genau dem Spannungsfeld befinden, das Reich (2008a: 250) theoretisch aufzeigt. Die befragten Fachkräfte lassen sich in diejenigen unterscheiden, die sich auf ein monolinguales Normalitätsverständnis beziehen und entsprechende Erwartungen an die sprachliche Bildung haben, und diejenigen, die dem monolingualen Sprachregime ein eigenes Sprachbildungskonzept entgegensetzen, das Mehrsprachigkeit als Ressource aufgreift und fördert. So übernehmen

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die Fachkräfte Sandra und Karin die Forderung nach einer Normalisierung von Mehrsprachigkeit im Sinne eines (schulreifen) monolingualen Repertoires. Von ihnen wird nicht die Weiterführung der familiären Spracherziehung in der sprachlichen Bildung der Kita betrieben, sondern es wird stattdessen von den Kindern verlangt, dass sie ihre ‚andere Welt‘ verlassen und in eine neue ‚Welt der Kita‘ eintreten, in der es in erster Linie gilt, die Mehrheitssprache zu erwerben. Hierbei geht es zudem nicht nur um den Erwerb der deutschen Sprache, sondern es wird eine von der Normalität der Kita abweichende familiale Welt mit ‚anderen‘ Normen und Erziehungsvorstellungen konstruiert, die die Kinder in der Kita ablegen sollen. Das Beispiel von Karins Elternberatung, in der sie mehrsprachigen Eltern empfiehlt, das ‚Durcheinander‘ der Sprachen zu reduzieren und eine der drei Sprachen wegzulassen, zeigt zudem, dass tatsächlich von einer Konkurrenz der Sprachen ausgegangen wird. Zudem wird eine Hierarchisierung der Sprachen deutlich, in der das Deutsche an der ersten Stelle, das Englische an der zweiten und eine ‚afrikanische‘ Sprache als vernachlässigbar positioniert wird. Auch die von Reich (2008b) empfohlene Kooperation der Kita mit den Eltern im Hinblick auf den Einbezug der Familiensprachen wird von diesen Fachkräften nicht betrieben. Stattdessen wird auch mit den Eltern ausschließlich auf Deutsch kommuniziert, was z.T. dazu führt, dass erhebliche Kommunikationsbarrieren entstehen. Ebenso verhält es sich hier mit dem von Reich (ebd.) empfohlenen Einsatz mehrsprachiger Fachkräfte. So sind zwar mehrsprachige Fachkräfte vorhanden, aber ihre nichtdeutschen Sprachen kommen in der Kita von Karin und Sandra nicht zum Einsatz. In den subjektiven Theorien dieser Fachkräfte wird die Vorstellung deutlich, dass ein mit einer nichtdeutschen Familiensprache aufwachsendes Kind in der Kita zunächst und vor allem die deutsche Sprache lernen müsse, während die Entwicklung der nichtdeutschen Sprache und auch andere Entwicklungsschritte hintenangestellt werden könnten. Dies widerspricht zentralen Erkenntnissen der Mehrsprachigkeitsforschung, wie sie in Kapitel 4 dargestellt wurden. So zeigt ein Verständnis der kindlichen Sprachaneignung anhand der sieben Basisqualifikationen nach Ehlich (2009), dass an der Aneignung von Sprache jeweils alle Sprachen beteiligt sind, mit denen das Kind Kontakt hat. Zudem steht die Sprachaneignung auch mit weiteren kognitiven und sozialen Entwicklungsschritten in einer Wechselbeziehung und kann von diesen nicht getrennt betrachtet und gefördert werden (vgl. Kapitel 4.1). Die Bedeutung der Sprache für die kognitive Entwicklung, mithin die Bildungsdimension der Sprache, wird von den Fachkräften ebenfalls mehrheitlich nicht angesprochen. Lediglich die Fachkraft Elena erwähnt Erkenntnisse zur Wechselbeziehung der Sprachaneignung mit anderen Entwicklungsschritten im

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kognitiven und sozialen Bereich. Sie betont, dass die Entwicklung der Sprache im Zusammenhang mit der Entwicklung des narrativen Denkens steht. Ihre Vorstellung, dass ein Nichtaufgreifen der bisher genutzten Sprache(n) der Kinder in der Kita zentrale Prozesse der kognitiven Entwicklung abschneiden würde, entsprechen den wissenschaftlichen Erkenntnissen über den Zusammenhang der Aneignung von Sprache mit anderen Entwicklungsbereichen, die u.a. List (2010; vgl. auch Kapitel 4.1) darlegt. Zudem teilt Elena die Kritik an der Vorstellung von mehrsprachigem Aufwachsen als Erwerb getrennter Sprachsysteme (vgl. Panagiotopoulou 2016) und plädiert ebenfalls für die Förderung des translingualen sprachlichen Repertoires der Kinder. Auch die Berichte der Eltern unterstreichen, dass die Vorstellung von getrennten Sprachsystemen, die nacheinander oder unabhängig voneinander in verschiedenen Räumen angeeignet werden, nicht haltbar ist. Stattdessen wurde deutlich, dass in den Familien quersprachig gehandelt wird und Mehrsprachigkeit als ein gesamtsprachliches Repertoire zu verstehen ist, das sukzessive in den verschiedenen Handlungsfeldern der Kinder angeeignet wird. Die Tatsache, dass die Bedeutung der Sprache für die kognitive Entwicklung von den meisten Fachkräften nicht weiter beachtet wird, weist darauf hin, dass ein eigenständiges Bildungsverständnis in Bezug auf Sprache bei diesen Fachkräften nur sehr schwach ausgeprägt ist. Zudem wird die Bildungsdimension der Sprache hauptsächlich dort angesprochen, wo es um schulreife Kompetenzen im Deutschen geht, sodass es den Anschein hat, dass die Vorstelllungen über den Zusammenhang von Sprache und Bildung dem sprachlichen Einheitlichkeitsinteresse der Schule untergeordnet werden. Sprache erscheint somit vor allem deshalb wichtig, weil Deutschkenntnisse in der Schule unabdingbar sind, und daher findet sprachliche Bildung als Förderung des Deutschen statt. Dabei finden sich in den subjektiven Theorien der Fachkräfte durchaus Gedanken zur Bedeutung von Sprache, die jenseits ihrer Funktionalität im Rahmen schulischer Anforderungen liegen. So betonen sie, dass Sprache zentral sei für die Äußerung von Gefühlen, für das Wohlbefinden, das Sich-in-Beziehung-Setzen zu anderen und das Lösen von Konflikten. Gerade diese Vorstellungen von Sprache als Medium für das soziale Handeln und Lernen und für die Ich-Entwicklung könnten eigentlich ein eigenes Bildungsverständnis in Bezug auf Sprache begründen, das sich von dem der Schule absetzt. Richtig deutlich wird ein solches alternatives Bildungsverständnis jedoch nur bei der Fachkraft Elena, deren Kita eine eigene Sprachförderkonzeption entwickelt hat, die alle Sprachen der Kinder aufgreift und sie in ihrer translingualen Sprachaneignung unterstützt. Im Zusammenhang mit diesem alternativen Bildungsverständnis und der darauf aufbauenden Sprachförderkonzeption wird auch

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das Spannungsfeld, in dem sich die sprachliche Bildung der Kita laut Reich (2008a) befindet, wieder deutlich. So lassen sich Vorstellungen und Orientierungen von Elena, aber auch von der Fachkraft Gülcan als kritische Reflexion und als konkretes Engagement im Rahmen dieses Spannungsfeldes verstehen. Elena stellt z.B. fest, dass die Erwartungen der Schule in Bezug auf die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder Druck auf die Eltern ausüben und dass diese sich um die ‚schulreifen‘ Deutschkenntnisse ihrer Kinder sorgen. Der Druck seitens der Schule im Interesse sprachlicher Einheitlichkeit wird hier kritisch aufgegriffen und ihm wird eine alternative Vorstellung von sprachlicher Normalität entgegengestellt, die das gesamte sprachliche Repertoire der Kinder einbezieht. Indem Elena außerdem in diesem Zusammenhang das narrative Denken als Verbindung von sprachlicher und kognitiver Entwicklung erwähnt, weist sie auch darauf hin, wie schädlich ein Nichtaufgreifen der Sprachen der Kinder als Behinderung der kognitiven Entwicklung sein kann. Dies ist ein Hinweis darauf, dass hier auch die „schädlichen Folgen“ einer Übernahme monolingualer Normalisierungsvorstellungen in die Kita im Sinne von Reich (ebd.: 256) kritisch reflektiert werden. Die möglichen Auswirkungen einer dominanten monolingualen Sprachpolitik in der Kita wurden auch im Kapitel 5.4 anhand der Untersuchungen von Brandenberg u.a. (2017), Panagiotopoulou (2016; 2017), Kuhn/Neumann (2017) und anderen aufgezeigt. Hierbei wurde deutlich, wie der Herausforderung, die Mehrsprachigkeit für die sprachliche Bildung in der Kita darstellt, mit einer monolingualen Normalisierung begegnet wird. Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit werde hier mit Skepsis betrachtet, so Panagiotopoulou (2016), und Eltern und Kindern werde vermittelt, sie könne zum „Risikofaktor für eine erfolgreiche Bildungskarriere“ werden (ebd.: 20). Zudem werde aufgrund der Mehrsprachigkeit eine „abweichende Sozialisation im Rahmen einer angeblich einsprachigen Gesellschaft“ (ebd.: 12) konstruiert. In den subjektiven Theorien der Fachkräfte Sandra und Karin wird ebenfalls eine solche Vorstellung von Einsprachigkeit als Normalfall, eine Konstruktion von einer ‚anderen Welt‘ mehrsprachiger Kinder und eine auf den Erwerb des Deutschen verengte sprachliche Bildung sichtbar. Ebenso findet sich die Vorstellung, Mehrsprachigkeit sei (zumindest zunächst) ein Problem und führe dazu, dass Kinder es in der Kita zunächst schwerer hätten. Als positiv kann aus dieser Perspektive Mehrsprachigkeit erst gelten, wenn ein Kind nach einiger Zeit in der Kita „perfekt Deutsch gelernt“ (Karin, 5.3) hat. Dass sich dabei möglicherweise die Vielfalt der Sprachen des Kindes reduziert, wird ebenso wenig kritisch reflektiert wie die möglichen Folgen einer Vorrangstellung des Deutschen für die Beziehungen innerhalb der Familie.

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Eine solche Erziehung zur Einsprachigkeit in der Kita führt laut Panagiotopoulou (2016) zur (Re-)Produktion von Ungleichheit, kann das Verstummen von mehrsprachigen Kindern zur Folge haben und dazu führen, dass sie selbst ihre eigene Mehrsprachigkeit verleugnen, um nicht als ‚anders‘ positioniert zu werden. Auch hierfür finden sich in den subjektiven Theorien von Sandra und Karin Beispiele. So lassen sich die Berichte von mehrsprachigen Kindern, die sich zunächst nicht zu sprechen trauen, als Fälle von Silencing verstehen. Da diese Kinder in der Kita keinerlei Anknüpfungspunkte für ihre bisher angeeignete Sprachigkeit finden, verstummen sie, bis sie selbst diese Hürde überwunden und genug Deutsch gelernt haben, um an der monolingualen Interaktion teilzunehmen. Sandra berichtet außerdem von Kindern, die sich unwohl fühlen, wenn sie aufgefordert werden, ihre nichtdeutsche Familiensprache zu sprechen. Im Sinne von Panagiotopoulou lässt sich daraus schließen, dass diese Kinder ihre nichtdeutsche Familiensprache durch das Sprachregime der Kita als weniger wert wahrnehmen und nicht mehr mit ihr identifiziert werden möchten. Die Irritation bei der Aufforderung, die nichtdeutsche Familiensprache doch zu sprechen, könnte auch damit erklärt werden, dass die Sprachpraxis in der Kita einem impliziten Sprachverbot gleichkommt und die Kinder irritiert sind, wenn diesem von den Fachkräften zuwidergehandelt wird.

9.3 MÖGLICHKEITEN EINER WEITERENTWICKLUNG DER PÄDAGOGISCHEN PRAXIS Im dritten Schritt geht es um Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung des pädagogischen Handelns angesichts der bisherigen Ergebnisdiskussion. Es zeigt sich, dass die subjektiven Theorien verschiedene Aspekte enthalten, die im Rahmen von Professionalisierungsprozessen aufgegriffen werden können. Hierzu gehören erstens die kritische Reflexion bestehender sprachlicher Ordnungen und die Etablierung eines alternativen Normalitätsverständnisses, zweitens der aktive Einbezug der Elternperspektive, drittens die Reflexion der Funktion von Sprache im Rahmen eines eigenständigen Bildungsauftrags der Kita und viertens die Erarbeitung von Fachwissen über Mehrsprachigkeit. Eine besondere Rolle im Rahmen von Professionalisierungsmaßnahmen könnte außerdem fünftens die Arbeit mit biographischen Erfahrungen in Bezug auf Sprache, Sprachigkeit und Bildung spielen.

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Kritische Reflexion bestehender sprachlicher Ordnungen und Etablierung eines alternativen Normalitätsverständnisses Studien über die Orientierungen von Fachkräften im Hinblick auf Mehrsprachigkeit (Reich 2008a; Kirsch/Aleksic 2018; Kratzmann u.a. 2017) haben gezeigt, dass es zwar eine recht verbreitete Wertschätzung für Mehrsprachigkeit und eine Offenheit für ihre Förderung gibt, dass die Fachkräfte jedoch über wenig Wissen dazu verfügen und in Bezug auf die Umsetzung eher unsicher sind (vgl. auch Kapitel 4.3). Ähnliches wurde auch in den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung deutlich. Mehrsprachigkeit wird von allen Fachkräften grundsätzlich als wertvolle Ressource bezeichnet, fachliche Erkenntnisse aus der Mehrsprachigkeitsforschung hingegen sind nur sehr wenig verbreitet. Berichte über die alltägliche Praxis zeigen zudem zumindest in drei Fällen, dass die sprachliche Bildung monolingual ausgerichtet ist und nicht auf die Entwicklung eines mehrsprachigen Repertoires abzielt oder einen translingualen Sprachgebrauch fördert. Fragen nach Möglichkeiten des Einbezugs der Mehrsprachigkeit machten außerdem deutlich, dass einige Fachkräfte z.B. keine Vorstellung darüber haben, wie sich die große Vielfalt der nichtdeutschen Familiensprachen einbeziehen ließe. Dennoch bieten die hier untersuchten subjektiven Theorien durchaus einige Anhaltspunkte für die Weiterentwicklung der sprachlichen Bildung in der Kita. So zeigen die Vorstellungen und Orientierungen der Fachkräfte Elena und Gülcan, dass eine Unterstützung der Aneignung eines gesamtsprachlichen Repertoires in der Kita jenseits von monolingualen Normalisierungserwartungen möglich ist, und wie sie umgesetzt werden kann. Wichtige Schritte sind hier die Beschäftigung mehrsprachiger Fachkräfte und die Nutzung ihrer sprachlichen Ressourcen sowie der Einbezug der Eltern in die sprachliche Bildung. Ein zentraler Punkt, der ebenfalls bei diesen beiden Fachkräften deutlich wurde, ist die kritische Reflexion bestehender sprachlicher Ordnungen und eine bewusste Etablierung eines alternativen Normalitätsverständnisses für Sprachigkeit sowie bei Elena die Erarbeitung einer eigenen Sprachbildungskonzeption unter Einbezug des gesamten Teams. Einbezug der Elternperspektive Die Erkenntnisse zur Bedeutung von mehrsprachiger Erziehung auf Elternseite machen außerdem deutlich, dass eine intensive Auseinandersetzung mit der familiären Sprachigkeit wichtige Anhaltspunkte für die sprachliche Bildung in der Kita bieten kann. Die subjektiven Theorien der eher monolingual orientierten Fachkräfte zeigen, dass das für Eltern wichtige Thema des Erhalts der nichtdeutschen Familiensprache weitgehend ausgeblendet wird, während an Mehrsprachigkeit orientierte Fachkräfte den Bedürfnissen der Eltern hier eher gerecht

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werden. Gerade für die Entwicklung einer eigenen sprachlichen Bildungskonzeption jenseits des monolingualen Bildungsverständnisses der Schule wäre es hilfreich, die Vorstellungen und Orientierungen von Eltern aufzugreifen und an deren Ziele für die Spracherziehung anzuknüpfen. Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass Sprache und Spracherziehung für die Eltern weit mehr bedeutet, als die Aneignung mehrerer Sprachen, und dass mehrsprachiges Aufwachsen stattdessen ein zentraler Faktor ist im Rahmen von Identitätsentwicklung und Selbstpositionierung, gewinnt dieser Aspekt eine zentrale Bedeutung in Bezug auf die Weiterentwicklung des professionellen Handelns. Um die kulturelle Öffnung frühpädagogischer Bildungs- und Betreuungsangebote voranzutreiben, die auch im Zusammenhang mit der Qualitätsentwicklung gefordert wird (vgl. Kapitel 2 und 3), ist es unerlässlich, dass sich Fachkräfte im Hinblick auf die Weiterentwicklung ihres professionellen Handelns in der sprachlichen Bildung mit den Motiven und Vorstellungen der Eltern auseinandersetzen. Diese Aufgabe ist Teil der Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Kita, deren Intensivierung u.a. aufgrund der Ergebnisse der Qualitätsforschung gefordert wird (vgl. Tietze u.a. 2013; Kapitel 2.4). Zentrale Bestandteile dieser Zusammenarbeit sind ein stetiger Austausch über Erwartungen, Ziele und Aufgaben sowie „eine wertschätzende, anerkennende und Eltern unterstützende Haltung von Erzieher/innen“ (Lengyel/Salem, 2016: 11). Dazu gehört laut Lengyel und Salem auch „die Reflexion der eigenen Familien- und Elternerfahrungen sowie des eigenen Handelns“ (ebd.: 11), was auch ein kritisches Hinterfragen von „Machtasymmetrien, Fremdbilder[n] und Stereotype[n]“ (ebd.: 14) einschließe. Unter Bezugnahme auf verschiedene Studien betonen Lengyel und Salem, dass die „Professionalisierung von Fachkräften im Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität“ (ebd.: 11) ein grundsätzliches Entwicklungsfeld darstellt, in dem einerseits Wissen über die Heterogenität von Familien mit und ohne ‚Migrationshintergrund‘ angeeignet und andererseits eine Reflexion eigener Normalitätsannahmen und -erwartungen stattfinden müsse. Als Prämissen einer interkulturellen Perspektive auf die Zusammenarbeit mit Eltern nennen Lengyel und Salem Biographiebezug, Lebenswelt- bzw. Sozialraumorientierung, Orientierung an Familienkulturen, Anerkennung und Kommunikation. Besonders bei schwer erreichbaren Eltern, aber auch generell sei ein Ansetzen an den konkreten Lebenssituationen hilfreich. In diesem Sinne ist die hier vorgeschlagene Auseinandersetzung von Fachkräften mit elterlichen Vorstellungen und Orientierungen zur Spracherziehung, in deren Rahmen auch eigene Normalitätsvorstellungen und dominante Sprachenordnungen reflektiert werden, ein wichtiger Bestandteil einer Weiterentwicklung der Kooperation zwischen Elternhaus und Kita. Das gemeinsame Ziel von Eltern und Fachkräften, dass sich die Kinder in

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der Kita ‚gut zurechtfinden‘, wie es in den subjektiven Theorien deutlich wurde, müsste in diesem Rahmen unter Einbeziehung der Elternperspektive, der Bedeutung von Sprachigkeit und einer kritischen Reflexion von Normalitätsvorstellungen und Sprachenordnungen ausbuchstabiert werden. Für einen solchen intensivierten Einbezug der Elternperspektive bietet sich der Bereich der U3-BBE aus verschiedenen Gründen besonders an. Einerseits findet hier häufig anlässlich der Eingewöhnung der Kinder in die Krippe (zeitlich begrenzt) eine besonders enge Zusammenarbeit mit den Eltern statt. Zudem beginnt zum Zeitpunkt des Eintritts in die U3-BBE für die Kinder eine besonders wichtige Phase der Sprachaneignung, da das sprachliche Repertoire an die neuen Handlungsanforderungen angepasst werden muss. Hier liegen die Themen Familiensprache, sprachliches Repertoire und Spracherziehungsziele von Eltern und Kita eigentlich auf der Hand und der intensive Kontakt zwischen Eltern und Fachkräften in dieser Zeit ließe sich nutzen, um die Perspektive der Eltern zu erkunden und stärker einzubeziehen. Sprache im Rahmen eines eigenständigen Bildungsauftrags der Kita Auch bei denjenigen Fachkräften aus der vorliegenden Untersuchung, die sich bisher an einem monolingualen Normalitätsverständnis orientieren, sind indes Anknüpfungspunkte für eine Weiterentwicklung der pädagogischen Praxis zu finden. So wurde bei Sandra und Karin deutlich, dass sie durchaus beobachten, wie wichtig Sprache – jenseits von einzelnen Sprachsystemen – für die Entwicklung der Kinder und für das Miteinander in der Kita ist. Besonders Sandra bringt zum Ausdruck, dass sie Kinder durch sprachliche Bildung dazu befähigen möchte, mit ihren Wünschen und Gefühlen sichtbar zu werden, sich zu anderen in Beziehung zu setzen, Konflikte zu lösen und Selbstvertrauen zu gewinnen. Es zeigt sich somit, dass die Fachkräfte durchaus eine Vorstellung der Bedeutung von Sprache jenseits ihrer Funktionalität im Rahmen schulischer Anforderungen haben. An dieser Rolle der Sprache als Medium für das soziale Handeln und Lernen und für die Ich-Entwicklung könnte angesetzt werden, um die Entwicklung eines translingualen Verständnisses von Sprache und alternativer Sprachbildungsvorstellungen bei den Fachkräften zu unterstützen. Hierzu würde die Förderung sorgfältiger Beobachtungen des sprachlichen Handelns der Kinder in der Kita gehören, ebenso wie eine bewusste Besinnung auf die Bildungsdimension der Sprache in Bezug auf das soziale Lernen, auf die Entwicklung des Selbstkonzeptes und auf die kognitive Entwicklung im Rahmen der Elementarpädagogik. Anhaltspunkte dazu liefert z.B. Lengyel (2009), die empfiehlt, den Blick der Fach-

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kräfte für die Entwicklung des sprachlichen Handelns der Kinder in der Interaktion und für die dabei ablaufenden sprachlich-kognitiven Prozesse zu schärfen. Im Rahmen einer intensivierten Dokumentation und Begleitung der sprachlichen Entwicklungsprozesse der Kinder und ihrer qualitativen Veränderungen im sozialen Austausch könne man Sprachlerngelegenheiten gezielt anbahnen und das Interaktionsgeschehen in der Kita stärker steuern, so Lengyel. Dies sei z.B. durch bestimmte Spiel- und Aktivitätsformen möglich, die mit sprachlichinteraktiven und sprachlich-kognitiven Prozessen in Verbindung stehen. Mit verschiedenen Modellierungstechniken und einem Modellverhalten könnten die Fachkräfte die Sprachaneignung bewusst inszenieren und die Aufmerksamkeit der Kinder auf bestimmte Formen lenken, die diese aus dem Input herausfiltern und imitieren. Dabei sei es sowohl sinnvoll, Elemente aus der nichtdeutschen Familiensprache der Kinder aufzugreifen und mit dem Deutschen zu verbinden, als auch quersprachige Kompetenzen zu fördern, indem man die unterschiedlichen sprachlichen Register zum Anlass des Nachdenkens über die Vielfalt der Sprache nehme. In diesem Zusammenhang sei es auch wichtig, dass die Fachkräfte ihr eigenes sprachliches Verhalten reflektieren, eigene Normen und Maßstäbe kritisch hinterfragen und ihre Sprache als Werkzeug für die gezielte Förderung der Kinder verstehen und einsetzen. Weitere Anregungen für ein Sprachbildungshandeln, das das translinguale Repertoire der Kinder fördert, finden sich auch in den Beispielen von Panagiotopoulou (2016; vgl. auch Kapitel 5.4) und in den Weiterbildungsmaßnahmen im Rahmen des Luxemburger Projektes MuLiPEC (Kirsch/Aleksic 2018; vgl. auch Kapitel 4.3). Hier lernen Fachkräfte, wie sie Kinder darin unterstützten können, ihr gesamtes sprachliches und nicht-sprachliches Repertoire einzusetzen, um zu lernen und zu kommunizieren. Dazu werden verschiedene Settings vorgestellt, wie z.B. das Durchführen von naturwissenschaftlichen Experimenten mit Kindern, in denen die Erwachsenen die Kinder als Dialogpartner einbinden, sich an ihren mündlichen Kompetenzen orientieren und sie zum Sprechen und Denken motivieren. Die Auseinandersetzung mit Sprache ist dabei jeweils zentral und wird durch die Gestaltung von Erzählsituationen, das Anstoßen von Verhandlungsprozessen und die Schaffung von Gelegenheiten für kooperatives und symbolisches Spiel sowie durch mehrsprachige Materialien gefördert. Erarbeitung von Fachwissen über Mehrsprachigkeit Hieran schließt ein weiterer wichtiger Aspekt für die Professionalisierung der sprachlichen Bildung an, der die Vermittlung von Fachwissen über die Aneignung eines mehrsprachigen Repertoires betrifft. So betonen z.B. Kratzmann u.a. (2017), dass das Fachwissen der pädagogischen Fachkräfte im Vergleich zu ih-

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ren Einstellungen eine eigenständige Bedeutung in Bezug auf ihr Handeln im pädagogischen Alltag hat. „Wissen zur Sprachentwicklung mehrsprachiger Kinder und didaktisches Wissen in Bezug auf mehrsprachige Kinder“ seien somit nötig, „um das pädagogische Handeln auf ein fachwissenschaftliches Fundament zu stellen“ (ebd.: 255). In der vorliegenden Untersuchung zeigte sich, dass sich die Fachkräfte in ihren Vorstellungen und Orientierungen kaum bis gar nicht auf Erkenntnisse der Mehrsprachigkeitsforschung beziehen. Zur Entwicklung eines eigenständigen Verständnisses von Mehrsprachigkeit und einer eigenen Sprachbildungskonzeption der Kita jenseits der monolingualen Bildungserwartungen der Schule gehört also auch ein fach- und wissenschaftsbezogenes Bewusstsein von mehrsprachigem Aufwachsen unter Heranziehung von aktuellen Erkenntnissen der Mehrsprachigkeitsforschung. Nutzung der biographischen Dimension Neben der Erarbeitung und Weiterentwicklung von Fachwissen spielt jedoch auch die Reflexion von Erfahrungswissen eine entscheidende Rolle für die Einstellungen von Fachkräften (vgl. ebd.). Dies weist darauf hin, dass auch biographische Erfahrungen für die Weiterentwicklung des professionellen Handelns stärker nutzbar gemacht werden könnten. In der vorliegenden Untersuchung konnte durch die Verbindung der praxeologischen Forschungslogik mit einer diskurstheoretischen Perspektive herausgearbeitet werden, wie die Vorstellungen und Orientierungen über Spracherziehung mit grundsätzlicheren Überzeugungen z.B. über die Rolle der Sprache oder die Aufgabe der Kita verbunden sind. Gleichzeitig wurde deutlich, dass in die subjektiven Theorien auch migrationsgesellschaftliche Erfahrungen einfließen, wie z.B. die Selbst- und Fremdpositionierung im Rahmen dominanter Ordnungen. So tragen Diskriminierungs- und Hierarchisierungserfahrungen bei Elena und Gülcan zu einer kritischen Haltung in Bezug auf ein monolinguales Sprachregime und zur Entwicklung eines alternativen Normalitätsverständnisses bei. Ebenso wurde bei Meriem sichtbar, wie ihre Forderung nach sprachlicher Anpassung mit ihren Migrationserfahrungen zusammenhängt. Dieser Aspekt beleuchtet zudem ein Ergebnis näher, das auch in der bereits erwähnten quantitativen Studie von Kratzmann u.a. (2017) über die Einstellungen von Fachkräften zu Mehrsprachigkeit deutlich wurde: Eigene Mehrsprachigkeit steht demnach nicht in einem direkten positiven Zusammenhang mit einer multilingual-pädagogischen Einstellung. Stattdessen würden pädagogische Fachkräfte mit Kenntnissen in einer anderen Sprache sogar häufiger assimilatorische und kompensatorische Einstellungen befürworten (ebd.: 253). Indem in der vorliegenden Untersuchung auch die biographische Dimension der Vorstellungen und Orientierungen der Fachkräfte einbezogen wurde, konnte ge-

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zeigt werden, wie eine solche assimilatorische Einstellung gerade bei mehrsprachigen Fachkräften zustande kommen kann. Auch zeigte sich, wie durchaus vorhandene interkulturelle Erfahrungen z.B. bei Sandra und Karin nicht dazu geführt haben, dass sie ihr monolinguales Selbstverständnis in Frage stellen. Die biographischen Bezüge bei den Fachkräften und ihr (Nicht-)Einbezug durch sie machen deutlich, wie unterschiedlich Erfahrungen verarbeitet werden und dass hier nicht von einer eindimensional fachlichen Ausbildung professionellen Selbstverständnisses ausgegangen werden kann. Indem gerade durch die hier angewandte Erhebungsmethodik der gemeinsamen Rekonstruktion sichtbar gemacht werden konnte, dass biographische Bezüge für die handlungsleitenden Vorstellungen und Orientierungen in der Spracherziehung eine entscheidende Rolle spielen, lassen sie sich auch als grundsätzlichen Ansatzpunkt für ihre Weiterentwicklung heranziehen. So könnte eine Selbstreflexion der Fachkräfte in Bezug auf Sprache und Sprachigkeit, auf die eigene Sprach- und Bildungsbiographie sowie auf Erfahrungen mit Zugehörigkeit und nicht-Zugehörigkeit und mit dominanten (migrations-)gesellschaftlichen Ordnungen einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Haltung der Fachkräfte zu professionalisieren. Dies gilt auch und gerade für diejenigen Fachkräfte, deren Position durch ihre Mehrheitsangehörigkeit eher selten infrage gestellt wird und die sich selbst ebenso wie ihre Sprache als ‚normal‘ bzw. nicht zur Disposition stehend erleben. In einer solchen biographiebezogenen Arbeit ließe sich einerseits herausarbeiten, aus welchen Bestandteilen sich die eigene Sprachigkeit zusammensetzt und mit welchen biographischen Erfahrungen die Aneignung von Sprache verbunden ist. Ebenso ließe sich die biographische Arbeit auf Aspekte der eigenen Zugehörigkeit und Positionierung im (migrations-)gesellschaftlichen Kontext beziehen und mit berufsbiographischen Aspekten wie der Reflexion der eigenen Rolle im Erziehungsprozess und der eigenen Funktion im Rahmen der (Sprach-)Erziehung in Verbindung bringen. In diesem Zusammenhang könnte auch ein weiterer Aspekt aufgearbeitet werden, der in den subjektiven Theorien einiger Fachkräfte Thema ist. Gemeint ist die Vorstellung über ‚Kultur(en)‘ und ihren Zusammenhang mit Sprache. So wurde besonders bei Karin und Sandra deutlich, dass sie Mehrsprachigkeit mit der Angehörigkeit der Kinder zu einer ‚anderen Kultur‘ gleichsetzen, was vermeintlich dazu führt, dass die Kinder zwischen ‚zwei Welten‘ pendeln müssen. Diese Vorstellung von Kultur als einem abgeschlossenen und abgrenzbaren Gebilde erleichtert die Einordnung der Herausforderungen, mit denen Kinder und Fachkräfte konfrontiert sind, als ‚Anpassungsprobleme‘ seitens der Kinder aus ‚anderen Kulturen‘. Ein solches eindimensionales Kulturverständnis und die einseitige Anpassungsforderung an die Kinder werden jedoch ihrer Lebenswelt und

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ihren vielfältigen Bezügen nicht gerecht. Ebenso wie die biographische (Selbst-) Reflexion der eigenen Sprachigkeit könnte hier eine Reflexion des Kulturbegriffs und der eigenen kulturellen Bezüge helfen, einen flexibleren und dynamischeren Begriff von Kultur und entsprechende Vorstellungen der kulturellen Bezüge der Kinder und ihres Einbezugs zu entwickeln. Die Erfahrungen aus den hier durchgeführten Rekonstruktionen zeigen, dass ein solches Arbeiten an den eigenen Bezügen, Bedeutungen und Motivationen von den Beteiligten als sehr gewinnbringend erlebt wird. So äußerten sich alle Untersuchungspartnerinnen nach der Rekonstruktion ihrer subjektiven Theorie sehr zufrieden und bestätigten, dass sie durch die Arbeit viel über ihre eigene Haltung und deren Hintergründe gelernt hätten und ihnen diese Zusammenhänge vorher nicht so deutlich gewesen seien. Besonders ermutigend war die Reaktion von Gülcan, die eigentlich kein Interesse an einer Mitarbeit als Untersuchungspartnerin hatte, sich dann aber überreden ließ, und die am Ende betonte, dass sie sich richtig darüber freue, ihre subjektive Theorie nun so ausgearbeitet zu haben, da sie sich dadurch über vieles klarer geworden sei.

9.4 GRENZEN DER UNTERSUCHUNG UND AUSBLICK AUF MÖGLICHE ANSCHLUSSUNTERSUCHUNGEN Abschließend muss darauf hingewiesen werden, dass die Ergebnisse der vorliegenden Studie nicht ohne weiteres verallgemeinerbar oder auf andere Eltern und Fachkräfte übertragbar sind. Die Grenzen der Arbeit ergeben sich vor allem aus der angewandten Methodik und dem Vorgehen bei der der Auswahl der Untersuchungspartnerinnen und werden im Folgenden erläutert. Die Zirkularität des Forschungsprozesses hat außerdem dazu geführt, dass während der Untersuchung neue Forschungsfragen entstanden sind, denen im Rahmen von Anschlussstudien nachgegangen werden könnte. Auch auf sie soll abschließend noch einmal eingegangen werden. Bei der Sichtung des bisherigen Forschungsstandes zur Heterogenität familialer Entwicklungsumwelten, zu Mehrsprachigkeit und Spracherziehung sowie zum professionellen Handeln in der sprachlichen Bildung und zur Zusammenarbeit mit Eltern wurde deutlich, dass es mehr qualitativer Studien bedarf, die die Perspektiven von Eltern und Fachkräften „vor dem Hintergrund sprachlicher, kultureller und ethnischer Heterogenität beleuchten“ (Lengyel/Salem 2017: 8; vgl. auch Otyakmaz/Karakaşoğlu 2015; Leyendecker/De Houwer 2011; Kapitel 3). Die vorliegende Studie erarbeitet daher einen Einblick in die Tiefendimensionen mehrsprachigen Aufwachsens, der die Vorstellungen und Orientierungen

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der Handelnden vor dem Hintergrund familiärer, biographischer, professioneller und migrationsgesellschaftlicher Bezüge sichtbar macht. Um möglichst viel von dem Netz der verschiedenen Einflussfaktoren auf die Vorstellungen und das Handeln in der Spracherziehung sicht- und nachvollziehbar zu machen, schien die Methodik des Forschungsprogramms Subjektive Theorien vor allem aufgrund seiner Offenheit für die Herstellung verschiedenster Bezüge durch die Untersuchungspartnerinnen selbst als besonders geeignet. Es handelt sich dabei allerdings um eine Rekonstruktion von Theorien, was bereits zwei Limitationen mit sich bringt. So bilden die visualisierten subjektiven Theorien in der vorliegenden Studie wahrscheinlich nur einen Teil der Motive und Einflussfaktoren ab, die die individuelle Gestaltung der Spracherziehung prägen. Es ist anzunehmen, dass weitere Beweggründe im Dunkeln geblieben sind, z.B. aufgrund einer fehlenden Frage dazu oder auch aufgrund von sozialer Erwünschtheit oder weil sie im Rekonstruktionsprozess aus einem anderen Grund nicht bewusstgeworden sind. Während z.B. im Laufe des Erhebungsprozesses der Frage nach der Migrationsgeschichte mehr Raum gegeben wurde, da sie in den ersten Rekonstruktionen als bedeutsam aufgefallen war, sind sicherlich andere Zusammenhänge nicht zur Sprache gekommen und damit nicht in die Abbildung der subjektiven Theorien eingeflossen. Die Tatsache, dass es sich bei den erhobenen Daten um subjektive Theorien handelt, führt dazu, dass keineswegs das tatsächliche Handeln von Eltern und Fachkräften abgebildet wurde. Es ist vorstellbar, dass das alltägliche Spracherziehungshandeln weit von dem abweicht, was die Untersuchungspartnerinnen in ihren Theorien vorstellen. Dabei ist es nicht nur denkbar, dass die Spracherziehungspraxis nicht mit den genannten Zielen übereinstimmt, sondern auch, dass es zusätzlich zu den genannten Zielen auch noch weitere Ziele des (pädagogischen) Handelns gibt, die in der Praxis vielleicht mit den Spracherziehungszielen kollidieren und diesen übergeordnet werden. Die subjektiven Theorien über mehrsprachiges Aufwachsen sind somit keinesfalls als Abbilder mehrsprachiger Erziehung zu betrachten. Sie bilden allerdings Handlungsorientierungen und -begründungen der befragten Eltern und Fachkräfte ab und stellen damit aussagekräftige Hinweise darauf dar, worauf die Spracherziehung der Untersuchungspartnerinnen aufbaut, auch wenn damit weder die Spracherziehung selbst, noch alle Einflussfaktoren auf sie sichtbar gemacht werden. Weiterhin sind die vorliegenden Ergebnisse aufgrund der Auswahl der Untersuchungspartnerinnen nur bedingt auf andere Eltern und Fachkräfte übertragbar. Wie in Kapitel 7.2 beschrieben, wurden die Untersuchungspartnerinnen anhand eines theoretischen Sampling ausgewählt, bei dem die jeweiligen Erkenntnisse aus der Untersuchung eines Falls Kriterien für die Auswahl des nächsten

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Falls bilden. Dabei ist zu beachten, dass die Sammlung von Kriterien für die Auswahl des nächsten Falls sicherlich niemals vollständig ist und außerdem nicht bei jeder Auswahl komplett erfüllt werden konnte. Ausgehend von einem untersuchten Fall bestehen immer mehrere Möglichkeiten für die Auswahl des nächsten. Die Auswahl war zudem, wie ebenfalls in Kapitel 7.2 beschrieben, neben den methodischen und inhaltlichen Kriterien von praktischen Kriterien bestimmt, was weitere Einschränkungen in Bezug auf die Ergebnisse mit sich bringt. So waren an der Studie nur solche Eltern und Fachkräfte beteiligt, deren sprachliche Fähigkeiten es ihnen ermöglichten, das Interview und die kommunikative Validierung auf Deutsch durchzuführen. Hierdurch wurden mögliche Untersuchungspartnerinnen ausgeschlossen, deren Kinder zwar mehrsprachig aufwachsen, die selbst aber über geringere Kenntnisse im Deutschen verfügen und solche, die nicht in der Lage oder bereit wären, ihr Handeln in diesem Ausmaß zu reflektieren und/oder ihre Reflexion zu offenbaren. Die Tatsache, dass die Untersuchung sehr persönliche und familiäre Themen berührt und die Bereitschaft der Untersuchungspartnerinnen voraussetzt, hier Einblick zu gewähren, schränkte die Auswahl zusätzlich ein. Die meisten Untersuchungspartnerinnen wurden daher über bereits bestehende Kontakte gewonnen, was wiederum dazu führt, dass Ergebnisse nicht ohne weiteres übertragbar sind. Gleichzeitig bot die Bekanntschaft ‚zumindest über einige Ecken‘ die Chance, dass im Gespräch ‚von Mutter zu Mutter‘ bzw. von ‚Pädagogin zu Pädagogin‘ eine vertrautere Atmosphäre entstand und mehr Offenheit erreicht werden konnte. Es ist allerdings bedauerlich, dass im Rahmen der Studie keine Elternteile erreicht werden konnten, die in Bezug auf Sprache, Bildung und Zugehörigkeit noch weniger der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ entsprechen und deren Vorstellungen und Orientierungen somit noch weniger in die Gestaltung von öffentlich verantworteter Bildung, Betreuung und Erziehung einfließen. Um Eltern ‚mit Migrationshintergrund‘ zu erreichen, die wenig Deutsch sprechen und die nicht daran gewöhnt sind, ihre Erziehungsvorstellungen gegenüber Personen zu erläutern, die ihnen als Angehörige der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ und zudem in der Position der Wissenschaftlerin gegenüberstehen, müssten sicherlich andere Erhebungsmethoden gefunden werden. Interessant wäre der Versuch, das Forschungsprogramm Subjektive Theorien entsprechend anzupassen und hier weitere, z.B. ethnographische Methoden anzuwenden. Denkbar wären auch Gruppendiskussionen, in denen Eltern, die sich gegenseitig kennen und vertrauen, miteinander über Sprache und Spracherziehung ins Gespräch kommen. Hier würden sich z.B. niedrigschwellige Eltern-Kind-Angebote, z.B. im Rahmen von offenen Gruppen in Eltern-Kind-Zentren oder Elternschulen, als Forschungsfeld anbieten.

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Aus der Untersuchung ergeben sich aber auch anschließende und weiterführende Fragestellungen und Untersuchungsperspektiven. Zum Abschluss dieser Arbeit wurden alle Untersuchungspartnerinnen noch einmal eingeladen, um ihnen die Ergebnisse zu präsentieren. Bei den meisten lag der Zeitpunkt der Rekonstruktion schon lange zurück, zudem hatte es bisher keinen Austausch unter den Untersuchungspartnerinnen über die verschiedenen subjektiven Theorien gegeben. Besonders beeindruckend war bei der Diskussion der Ergebnisse und der heutigen Situation, dass wiederum die Fremd- und Selbstpositionierung im Rahmen dominanter Zugehörigkeitsordnungen, Zuschreibungen und Etikettierungen sowie die Vorbereitung der Kinder auf eine Gesellschaft, in der sie nicht wirklich zugehörig sind, die bestimmenden Themen waren. Gerade bei den beiden Müttern mit türkischem ‚Migrationshintergrund‘, die selbst in Deutschland aufgewachsen sind, war die Kritik an diesen Punkten fast noch deutlicher als in der Rekonstruktion. Die beiden selbst zugewanderten Mütter hingegen hatten einen deutlich zuversichtlicheren Blick auf Fragen von Zugehörigkeit und Integration. Dieses Ergebnis bestätigt einerseits die vorliegenden Erkenntnisse und regt gleichzeitig weitere Untersuchungen der Zusammenhänge an, wobei es interessant wäre, noch genauer nach den Umständen der Migration und den Migrationserfahrungen zu differenzieren. Eine weitere Anschlussfragestellung bezieht sich auf die in Kapitel 9.3 beschriebenen Möglichkeiten der Professionalisierung der sprachlichen Bildung. So wäre es interessant, entsprechende Weiterbildungen von Fachkräften zusammen mit einer Begleitforschung durchzuführen, die die Professionalisierungsprozesse dokumentiert und untersucht. Hierzu wäre es vorstellbar, im Rahmen eines Weiterbildungsprogramms über einen längeren Zeitraum regelmäßig Gruppendiskussionen mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchzuführen, die sich mit der Umsetzung des Gelernten in die Praxis beschäftigen. Ebenso wären in einem solchen Rahmen Praxis- und Selbstreflexionsgespräche mit Einzelnen denkbar oder auch Beobachtungen der (sich evtl. verändernden) Praxis der sprachlichen Bildung unter Einbezug ethnographischer Methoden. Die Verknüpfung der subjektiven Perspektive auf mehrsprachiges Aufwachsen mit migrationsgesellschaftlichen Ordnungen, die sich als Subjektivierungen in die individuellen Vorstellungen einschreiben, regt außerdem Untersuchungen in zwei weitere Richtungen an. So wirft einerseits die große Bedeutung der eigenen Sprachigkeit für die Vorstellungen und Orientierungen der Eltern und einiger Fachkräfte die Frage nach dem subjektiven Erleben und emotionalen Empfinden des sprachlichen Repertoires auf. In Anlehnung an Begriffe wie Heteroglossie (Bachtin 1979), innere Mehrsprachigkeit (Wandruszka 1979) und an die Vorstellung von Mehrsprachigkeit als Erstsprache (vgl. Busch 2017) könnten

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eingehendere Untersuchungen hier auch die Idee eines translingualen sprachlichen Repertoires stärken. Sprache und ihre Aneignung könnte so mit Busch vor allem „als intersubjektives, soziales Geschehen“ verstanden und jenseits „vereinfachender Dichotomisierungen wie jener zwischen Herkunfts- und Zielsprache, Familien- und Umgebungssprache, Minderheits- und Mehrheitssprache“ (ebd. 2017: 46) untersucht werden. Andererseits ließe sich an den engen Zusammenhang der Selbstwahrnehmung der Sprachigkeit mit Zuschreibungen und Positionierungen von außen und mit Fragen von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit anschließen. Hier wäre es interessant, die Begriffe Sprachpolitik und Sprachregime im Sinne von Busch (2017) ins Zentrum weiterer Untersuchungen zu stellen, und so die Rahmenbedingungen der Spracherziehung und des mehrsprachigen Aufwachsens in der frühen Kindheit noch näher zu beleuchten. Hier bieten die ethnographischen Untersuchungen zur Produktion von Differenz und Ungleichheit über die Regulierung sprachlicher Praktiken im frühpädagogischen Feld, die in Kapitel 5.4 vorgestellt wurden, interessante Anknüpfungspunkte.

Literatur

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Pädagogik Anselm Böhmer

Bildung als Integrationstechnologie? Neue Konzepte für die Bildungsarbeit mit Geflüchteten 2016, 120 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3450-1 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3450-5 EPUB: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3450-1

Nadja Köffler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer, Peter Stöger (Hg.)

Bildung und Liebe Interdisziplinäre Perspektiven 2018, 412 S., kart., 11 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4359-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4359-0

Monika Jäckle, Bettina Wuttig, Christian Fuchs (Hg.)

Handbuch Trauma – Pädagogik – Schule 2017, 726 S., kart., 13 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-2594-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2594-7

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Pädagogik Elisabeth Kampmann, Gregor Schwering

Teaching Media Medientheorie für die Schulpraxis – Grundlagen, Beispiele, Perspektiven 2017, 304 S., kart., 5 SW-Abbildungen 24,99 € (DE), 978-3-8376-3053-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-3053-8

Markus Deimann

Open Education Auf dem Weg zu einer offenen Hochschulbildung Januar 2019, 260 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4496-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4496-2

Stefan Thomas, Madeleine Sauer, Ingmar Zalewski

Unbegleitete minderjährige Geflüchtete Ihre Lebenssituationen und Perspektiven in Deutschland 2018, 254 S., kart., 26 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4384-8 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4384-2

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