Souverän und Märtyrer. Hugo von Hofmannsthals späte Trauerspieldichtung vor dem Hintergrund seiner politischen und ästhetischen Reflexionen 978-3826027895

Hofmannsthals späte Trauerspieldichtung wird einerseits als Ausdruck einer Resignation gegenüber der politischen Wirklic

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Souverän und Märtyrer. Hugo von Hofmannsthals späte Trauerspieldichtung vor dem Hintergrund seiner politischen und ästhetischen Reflexionen
 978-3826027895

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Niculm

Souverän und Märtyrer Hiuju von sJupminnsthak zpiitv rI'/auampialdIchiiuitj vur dam Hbita/yrund aalnar pulllhchan und dalhaihcdan Jlajlaxlunah

Königshausen & Neumann

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Nicolaus — Souverän und Märtyrer

EPISTEMATA WÜRZBURGER WISSENSCHAFTLICHE SCHRIFTEN Reihe Literaturwissenschaft

Band 506 — 2004

Ute Nicolaus

Souverän und Märtyrer Hugo von Hofmannsthals späte Trauerspieldichtung vor dem Hintergrund seiner politischen und ästhetischen Reflexionen

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Königshausen & Neumann

Arthur Henkel / Albrecht Schöne: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Ergänzte Neuausgabe. Sp. 1214f. (Emblem «NEC SCIRE FAS EST OMNIA.»). © 1990 (erstmals 1967/1968) J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

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© Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2004 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Umschlag: Hummel / Lang, Würzburg Bindung: Buchbinderei Diehl + Co. GmbH, Wiesbaden Alle Rechte Vorbehalten Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany

ISBN 3-8260-2789-2 www.koenigshausen-neumann.de www.buchhandel.de

Inhaltsverzeichnis Vorwort.9 Einleitung.11 1. Teil: Die politischen Reflexionen Hugo von Hofmannsthals.20 I. Hofmannsthal und der Forte-Kreis.20 1. Gründungsgeschichte und Programmatik des Forte-Kreises.20 2. Frederik van Eeden, Erich Gutkind und ihre Schrift Welteroberung durch Heldenliebe. 24 2.1. Heldenliebe - ein Appell an die geistige Aristokratie.26 2.2. Welteroberung durch einen neuen Begriff von .Persönlichkeit1.28 3. Gustav Landauer - ein Vorbild für Sigismund?.33 4. Rangs Kritik am Anarchismus: Das Problem der Gewalt.39 5. Martin Bubers Einwände gegen die erste Fassung des Turm.40 IE Von der ,österreichischen Idee1 zur ,Idee Europa1.42 1. Die österreichische Idee1.43 2. Hofmannsthals Begriff von .Nation1.46 3. Die ,Idee Europa1.48 4. Die Europäische Revue von Karl Anton Rohan.49 III. Carl Schmitts Souveränitätslehre und Der Turin.51 1. Hofmannsthals Lektüre von Carl Schmitt.51 2. Kernaussagen der Politischen Theologie..53 3. Ausnahmezustand und Entscheidung.53 4. Thomas Hobbes.55 5. Schmitts Soziologie des Souveränitätsbegriffes.56 IV. Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation.58 1. Entstehung und Inhalt der Münchner Rede.58 1.1. Hofmannsthals „Grausen vor dem Wort11.58 1.2. Der Inhalt der Münchner Rede.60 2. Die „Suchenden11. Hofmannsthals Typologie der Geistigkeit.63 2.1. Die Vorbilder des ersten Typus: Stefan George und Rudolf Pannwitz.64 2.2. Die Vorbilder des zweiten Typus: Max Weber und Eberhard von Bodenhausen.68 2.3. Josef Nadler.70 2.4. Die „Legion der Suchenden“.72 3. Eine Quelle der Münchner Rede: Florens Christian Rangs Schrift Das Reich.73 4. Der Begriff .konservative Revolution1 in der Münchner Rede.75 4.1. 4.2. 4.3. 4.4.

Paul Luwig Landsberg.75 Rudolf Pannwitz.76 Thomas Mann.77 Hofmannsthal und die .konservative Revolution1.78

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2. Teil: Ästhetische Reflexionen und Trauerspiel.82 I. ,Opfer1 als ästhetisches Prinzip in Hofmannsthals Werk.82 1. Der Begriff ,Opfer' in Ad me ipsum.83 2. Das Gespräch über Gedichte.85 II. Zeitgenössische Opfertheorien.92 1. Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie.92 2. Sigmund Freuds Totem und Tabu.95 3. Der mythisch-psychologische Opferbegriff C.G. Jungs.99 4. Herbert Silberer, Probleme der Mystik und ihrer Symbolik.103 III. Hofmannsthal und Florens Christian Rangs Opferbegriff und Tragödientheorie.109 1. Karneval und Tragödie. Rangs Historische Psychologie des Karnevals.109 2. „Wort-Opfer“: Rangs Deutung von Goethes Gedicht Selige Sehnsucht.115 Exkurs: Dreimal Goethe. Zur Chronologie des Gedankenaustausches

von Rang, Benjamin und Hofmannsthal.119 3. „Messianische Kritik“: Rangs Shakespeare-Buch.122 IV. Mythos und Geschichte. Hofmannsthals Bachofen-Rezeption.125 1. „Die Tragödie als Anfang der Geschichte“. Alfred Baeumlers Einleitung zu Der Mythus von Orient und Occident.126 2. Hofmannsthal und Bachofen.129 V. Die Gattung Trauerspiel.132 1. 2. 3. 4.

Hofmannsthal und Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels.132 Der Begriff ,Ursprung“ im Trauerspielbuch.136 Allegorie.141 Tragödie und Trauerspiel.146

5. Calderöns ,Welttheater“ und Hofmannsthals frühe Konzeption des Tragischen.151 3. Teil: Hofmannsthals späte Trauerspieldichtung: Die beiden Götter, Der Turm und Kaiser Phokas.155 I. Das Semzra/ms-Fragment.155 1. Der Opernentwurf von 1908/09. 155 1.1. Semiramis - Bachofens Herrscherin des gynaikokratischen Zeitalters.156 1.2. Ninyas/Ninus - Sohn des Dionysos.159 2. Diebeiden Götter (1917-1922). 159 2.1. Der Krieg und die Gewaltherrschaft der Semiramis.162 2.2. Die Amazone.163 2.3. Schwäche, der stärkste Feind.164 II. Der Turm - Sigismund als Souverän und Märtyrer.170 1. Die Idee der ,Präexistenz“ im Turm.170 1.1. Sigismunds präexistentieller Zustand.172

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1.2. Die Herkunft des Begriffes ,Präexistenz'.178 1.2.1. Die neuplatonische Tradition der Präexistenzidee.179 Exkurs: Präexisistenz und Entelechie. Sigismund und Faust.184 1.2.2. Die orientalische Tradition der Präexistenzidee. Lafcadio Hearns Buddhismus-Rezeption.190 1.2.3. Eine mystische Variation der Präexistenzidee: Baaders „Centrum naturae“.192 2. Die Vorstellung der Wiedergeburt im Turm.194 2.1. Durch Tod zum Leben - Initiation und Märtyrertod Sigismunds 194

2.2. Sigismunds mystische Offenbarung.197 2.3. Der Kinderkönig.198 2.3.1. Das Ideal der Androgynie.198 2.3.2. Das Renovatio-Motiv in der Darstellung Konrad Burdachs.200 2.3.3. Das Goldene Zeitalter.203 3. Melancholie und saturnische Trägheit.208 3.1. Der Melancholiebegriff in Benjamins Trauerspielbuch.208 3.2. Die melancholischen Vorbilder der Sigismund-Figur: Kaspar Hauser und Anton Reiser.209 4. Das Problem der Herrschaft im Turm.213 4.1. Sigismund als Märtyrer und Tyrann.213 4.1.1. Souveränität und Tat.213 4.1.2. Märtyrer und Tyrann. Sigismunds Janushaupt.214 4.2. Der Souveränitätsbegriff und politische Theorie im Barocktheater.216 4.3. Die Legitimation der Machtaspiranten im Turm.218 4.3.1. Monarch und Marionette: Basilius als Repräsentant der alten Ordnung.218 4.3.2. Julian: Der Mann der Tat.219 4.4. Charismatische Herrschaft und Dämonokratie.221 4.4.1. Das Charisma Sigismunds.221 4.4.2. Sigismunds ,dämonische Natur1.222 4.4.3. Dämonische Herrscher: Napoleon und Olivier.223 5. Die ,geistige Souveränität1 des Dichters.226 5.1. Die Verwandtschaft von Dichter und Herrscher.226 5.2. Das Symbol des Mantels und Sigismunds Sprachproblem.227 5.3. Die Paradoxie der Sigismund-Gestalt.230

III. Kaiser Phokas.231 1. Die Entstehung und das Verhältnis zur Vorlage von Calderon/Voltaire.231 2. Das ,Hauptthema1: Wahrheit und Wahn...234 3. Die Problematik der Gattung ,Biographie1.238 4. Lysipp und Phokas: ,Wortmensch‘ und Tatmensch1.240 5. Phokas als Herrscherfigur.244 5.1. Das Herrscherideal der aristotelischen .großen Seele1.246

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5.2. Der jagende Herrscher.248 5.3. Der ,Schicksalsmensch'.250 5.4. Die Krise des Kaisers.251 6. Die Erben.252 7. Die geschichtsphilosophische Dimension des Kaiser Phokas.256 Schluß.263 Literaturverzeichnis.267

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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Oktober 2002 am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertation eingereicht. Herzlich

danken möchte ich meinem Doktorvater Prof.

Dr.

Hans-Jürgen

Schings (Berlin) für die ermutigenden Gespräche im Rahmen der außergewöhn¬ lich langen Betreuungszeit. Hilfreiche Anregungen und Hinweise erhielt ich von dem 1996 verstorbenen Dr. Rudolf Hirsch (Frankfurt am Main). Ein besonderer Dank gilt meinen Berliner Freunden Dr. Jörg Paulus und Barbara Scholz für die sprachliche Überarbeitung des Textes. Nicht zuletzt danke ich meinen Eltern und meinem Ehemann für ihren Zuspruch und ihre Unterstützung. Gewidmet sei dieses Buch meinen Kindern Jacob, Victor und Fanny.

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Einleitung „Daß du nicht enden kannst, das macht dich groß

- Dieser in mancherlei

Hinsicht tröstliche Vers, mit dem Goethes Divan-Gedicht Unbegrenzt aus dem Buch Hafis beginnt,1 wird in der germanistischen Forschungsliteratur gern zi¬ tiert, wenn es um eine angemessene Beurteilung unvollendeter Werke, um eine ästhetische Begründung von Fragmenten geht.2 Innerhalb der Literatur zum Werk Hugo von Hofmannsthals hat sich im Hinblick auf diese Bewertung ein Wandel vollzogen: Während in früheren Aufsätzen - etwa zu dem Roman¬ fragment Andreas oder die Vereinigten - häufig noch von einem „Scheitern“ des Dichters die Rede ist,3 besteht spätestens seit der 1994 in Marbach am Neckar von der Hofmannsthal-Gesellschaft ausgerichteten Tagung zum Thema „Ästhe¬ tik des Fragmentarischen“4 wohl kein Zweifel mehr daran, daß - wie Achim Aurnhammer es formuliert - für Hofmannsthal die fragmentarische Form „we¬ niger mangelnde Vollendung als vielmehr ästhetisches Programm“ bedeutete.5 So fordert Mathias Mayer in seinem Vortrag, „die Grenze zwischen Fragment und Werk aufzuheben, den Fragmentcharakter des Werkes und dessen Umkehrung, den Werkcharakter des Fragments, ernstzunehmen“.6 In Anlehnung und Ab¬ grenzung zur Theorie der Intertextualität7 unternimmt es Mayer, die „unterirdi-

1 Johann Wolfgang von Goethe, West-östlicher Divan, in: Goethes Werke, Band II. Ge¬ dichte und Epen II, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Erich Trunz, München 1981, S. 23. 2 Karl Pestalozzi zitiert den Vers im Titel seines Aufsatzes „Dass du nicht enden kannst, das macht dich groß ..." Hofmannsthals Schwierigkeiten mit Dramenschlüssen, in: HofmannsthalsForschungen 7 (1983), S. 97-121. Beda Allemann verwendet das Zitat als Motto für seinen Auf¬ satz Die Schwierigkeiten zu enden, in: Jürgen Söring (Hrsg.), Die Kunst zu enden, Frankfurt am Main 1990, S, 125-144. 3 Achim Aurnhammer (s. Anm.5) gibt einen Überblick darüber, wie das „Scheitern“ des Andreas-Romans in der Forschung jeweils begründet wird, S. 282 f. 4 Einige der dort gehaltenen Vorträge sind im Hofmannsthal Jahrbuches für europäische Moderne Band 3/1995 veröffentlicht. 5 Achim Aurnhammer, Hofmannsthals ,Andreas. Das Fragment als Erzählform zwischen Tradition und Moderne, in: Hofmannsthal Jahrbuch zur europäischen Moderne 3/1995, S. 275296, hier S. 281. 6 Mathias Mayer, Zwischen Ethik und Ästhetik. Zum Fragmentarischen im Werk Hugo von Hofmannsthals, in: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne 3/1995, S. 251-274, hier S. 252. 7 Nach dem Gedanken der Intertextualität, so definiert Mathias Mayer in Anlehnung an Harald Bloom, ist „kein Text autark und begrenzt [...], sondern unabhängig vom Willen seines vermeintlichen Autors bereits einem Textuniversum eingeschrieben [...], indem er sich als Provokation, als Antwort anderer Texte liest oder zu lesen ist.“ Dieser Gedanke müsse „im Fall Hofmannsthals auch als Fluktuation zwischen Fragment und Werk verstanden werden“, May¬ er, a.a.O., S. 253. Indem Mayer mit einem Zitat Hofmannsthals zeigt, daß diesem jene „Fluk¬ tuation“ durchaus bewußt war, hält er an der Vorstellung eines „Autors“ fest und kann deshalb auf eine direkte Anleihe bei der Intertextualitätstheorie verzichten, auch wenn er deren Er¬ kenntnisgewinne ansonsten schätzt, s. Mayer, a.a.O., S. 252 f., bes. Anm. 8.

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sehen Übergänge“8 aufzudecken, die Hofmannsthal selbst zwischen seinen Kunstwerken, den fragmentarischen wie den vermeintlich vollendeten, sah.9 Auch Aurnhammer geht von einer „intertextuellen Methode Hofmannsthals“ aus und zeigt, indem er die narrativen Vorbilder des Andreas-Fragments ent¬ schlüsselt, wie Hofmannsthal mit seinem durchaus bewußten Bekenntnis zur „offenen Form“ einen eigenständigen Kompromiß zwischen Tradition und Mo¬ derne gefunden hat.10 Die Überlegungen von Mathias Mayer und Achim Aurnhammer haben ihre Gültigkeit auch für die in weiten Teilen fragmentarisch gebliebene Trauerspiel¬ dichtung der letzten Schaffensperiode Hofmannsthals. Wo Aurnhammer An¬ spielungen - beispielsweise die rätselhafte Begegnung Andreas’ mit Maria Mariquita in der Kirche, deren Vorbilder sich bei Friedrich Schiller und Hermann Bahr finden - als Teil eines intertextuellen Dialogs dechiffriert* 11 und Hofmanns¬ thals eigenwillige Fortschreibung der Tradition des Bildungsromans mit dem Verhältnis des Romanfragments zu Goethes fragmentarischem Ur-Meister er¬ klärt,12 müssen im Hinblick auf die Trauerspiele die Bezugspunkte in einem noch zu definierenden politischen Diskurs und in den dramentheoretischen Überle¬ gungen Hofmannsthals gesucht werden. Daß auch bezüglich dieser Gattung Hofmannsthal im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne steht, gilt es anhand der von ihm unternommenen Erneuerung des Barocktheaters zu zeigen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, Hofmannsthals bisweilen absichtlich verbor¬ gene Intentionen13 aufzudecken, die er an eine ebenso zeitgemäße wie traditions¬ reiche Form des Trauerspiels knüpfte. Neben dem Turm, der aufgrund seiner inhaltlich verschiedenen Fassun¬ gen,14 die Hofmannsthal immer für gleichwertig hielt,15 ebenfalls als „offenes

8 Von diesen Übergängen zwischen nicht als definitiv anzusehenden Kunstwerken spricht Hofmannsthal in einer Aufzeichnung „Über Kritik“ aus dem Jahr 1904, s. Mayer, a.a.O., S. 253. 9 Mayer folgt dabei vier, seinen Vortrag zugleich gliedernden Gesichtspunkten: „1. einer Betrachtung über die Fragmentarisierung als Prozeß, 2. der Kritik des Fragmentarischen, 3. der Ästhetik des Fragmentarischen und 4. der fragmentarischen Identität.“, a.a.O., S. 253. 10 Aurnhammer, a.a.O., S. 290. 11 A.a.O., S. 291-293. 12 A.a.O., S. 289 f. 13 Vgl. hierzu Christoph König, Zur modernen Komplizenschaft zwischen Poesie und Philo¬ logie, in: „Leuchtendes Zauberschloß aus unvergänglichem Material“. Hofmannsthal und Goethe, Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift, Frankfurter Goethe-Museum vom 12. November 2001 bis 13. Januar 2002, hrsg. v. Joachim Seng, S. 307-325, bes. S. 320. 14 Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke XVI.1 Dramen 14.1, Der Turm. Erste Fas¬ sung, hrsg. v. Werner Bellmann, Frankfurt am Main 1990 und Sämtliche Werke XVI.2 Dramen 14.2, Der Turm. Zweite und dritte Fassung, hrsg. v. Werner Bellmann in Zusammenarbeit mit Ingeborg Beyer-Ahlert, Frankfurt am Main 2000. Im folgenden werden Zitate aus dem Stück unmittelbar im Text mit den im Literaturverzeichnis angegebenen Siglen gekennzeichnet. Grundsätzlich dienen sowohl die erste, als auch die dritte, für die Bühne bestimmte Fassung als Textgrundlage, so daß je nach Kontext aus beiden Bänden zitiert wird. Zitate aus anderen Wer¬ ken Hofmannsthals, die noch nicht in der vom Freien Deutschen Hochstift veranstalteten Kri¬ tischen Ausgabe erschienen sind, werden den von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf

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Werk“ gelten kann,16 bilden die Fragmente Die beiden Götter und Kaiser Phokas die Textgrundlage der Interpretation. Für diese Auswahl innerhalb der späten Trauerspieldichtung waren drei Gründe ausschlaggebend: Erstens behandeln alle drei Stücke Stoffe des spanischen Barockdichters Calderön de la Barca. Der Turm entwickelt sich aus Hofmannsthals früherer Bearbeitung von Calderöns La vida es sueno (SW XV, Dramen 13; SW XVI. 1 Dramen 14.1 und SW XVI.2 Dramen 14.2.). Das Semiramis-Fragment, das später den Titel Die beiden Götter (SW VI Dramen 4) erhalten hat, geht auf die comedia La hija del aire zurück, und für den Kaiser Phokas (SW XIX Dramen 17) greift Hofmannsthal das The¬ ma des weniger bekannten Stückes Todo es verdad y todo mentira, das Voltaire ins Französische übertragen hatte,17 wieder auf. Der zweite Grund für die Wahl gerade dieser Stücke hegt in der Chronologie ihrer Entstehung, denn Der Turm, das bedeutendste Trauerspiel des letzten Lebensjahrzehnts, wird zeitlich durch die Arbeit an den beiden anderen Stücken gleichsam eingerahmt. Während Hofmannsthal den Semiramis-Stoff nach einigem Zögern schließlich doch zu¬ gunsten des Sigismund-Stückes fallen gelassen hat, drängt sich ihm noch wäh¬ rend des mühseligen Abschlusses der Bühnenfassung des Turm der Stoff des Kaiser Phokas mit großer Gewalt auf.18 Die Zusammenstellung der zeitweise also durchaus konkurrierenden Stücke ist allerdings wesentlich durch das sie verbin¬ dende Thema der Antinomie von Geist und Macht sowie der Frage nach der Rolle des Dichters in seiner Zeit gerechtfertigt. Aus den ursprünglich mythi¬ schen Stoffen entstehen bei Hofmannsthal gleichsam überpolitische Dramen, aus denen sich das Ringen des Dichters mit den Traditionsbrüchen der Zeitge¬ schichte herauslesen läßt. Nicht zuletzt die vollständige Dokumentation der Entstehung dieser Stücke mit den Varianten in der Kritischen Ausgabe zeigt, in welch hohem Maße Hof¬ mannsthal intertextuell vorging. Die Vielzahl der Quellen und Korrespondenzen weisen ihn als poeta doctus aus, dem das Gespräch mehr als ein bloßer Gedanken¬ austausch bedeutete.19 Ein schönes Zeugnis von Hofmannsthals dialogischen

Hirsch herausgegebenen Gesammelten Werken in zehn Einzelbänden, Frankfurt am Main 1979 f., entnommen und ebenfalls mit den entsprechenden Siglen direkt gekennzeichnet. 15 An Felix Braun schreibt Hofmannsthal am 6. Oktober 1927: „Ich meine nicht, dass die erste Fassung dadurch [durch die Bühnenfassung] zurückgenommen erscheinen soll. Sie kön¬ nen ruhig beide nebeneinander bestehen. Menschen wie Sie werden, hoffe ich, beide gelten las¬ sen.“, s. Klaus Peter Dencker, Aus unbekannten Briefen Hofmannsthals an Felix Braun, in: Jahr¬ buch des Freien Deutschen Hochstifts 1968, S. 390—424, hier S. 420 f. 16 Michael Hamburger, Das Fragment ein Kunstwerk?, in: Hofmannsthal-Jahrbuch zur eu¬ ropäischen Moderne V1995, S. 305-318, hier S. 310. 17 Die Übertragung Voltaires steht im Zusammenhang mit einem bis heute ungeklärten Urheberstreit: Calderön wird vorgeworfen, bei Corneilles Heraclius abgeschrieben zu haben, siehe unten 3. Teil, III.1. . 18 Vgl. Rudolf Hirsch, Hugo von Hofmannsthal/Theodora Von der Mühll-Burckhardt, in: Spiegelungen, hrsg. v. Werner Knopp, Mainz 1986, S. 279—301, hier S. 289. 19 „Jede neue bedeutende Bekanntschaft bewirkt auseinanderfallen und neue Integration“ (RA III 248). Ebenfalls im Buch der Freunde findet sich eine Variation dieses Satzes, die dem Sammelband Hugo von Hofmannsthal. Freundschaften und Begegnungen mit deutschen Zeitge¬ nossen, hrsg. v. Ursula Renner und G. Bärbel Schmid, Würzburg 1991, als Motto dient: „Jede

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Denk- und Arbeitsweise ist die Zitatensammlung Das Buch der Freunde (RA III 233-299). Im Hinblick auf seine politischen und ästhetischen Reflexionen zur Form des Trauerspiels nimmt Florens Christian Rang, Freund und Mentor Wal¬ ter Benjamins, eine Schlüsselrolle ein. Rang - wenn auch nicht er allein - machte Hofmannsthal mit den utopischen Ideen des Forte-Kreises bekannt und über¬ mittelte ihm später die frühen Schriften Walter Benjamins, zu deren Verbreitung Hofmannsthal dann maßgeblich beitrug.20 Durch Benjamins Habilitationsschrift Ursprung des deutschen Trauerspiels wiederum wurde Hofmannsthal möglicher¬ weise auf die Schriften Carl Schmitts aufmerksam, dessen Einfluß auf die Ent¬ stehung des Turm zwar nicht überschätzt werden sollte,21 der aber mit seinen Themen den Kern des Stückes, das „Problem der Gewalt“22, berührt. Im ersten Teil der Arbeit geht es um Hofmannsthals Auseinandersetzung mit diesen politischen Themen: dem Ideal einer sozialistisch-konservativen Syn¬ these, dem Problem der Gewalt und der Definition von Souveränität angesichts der politischen Krise während des ersten Weltkrieges und in der Folgezeit. Dabei ist zu berücksichtigen, daß Hofmannsthal auch nach eigenem Verständnis kein „homo politicus“ war. Obwohl er während des Krieges in zahlreichen, teilweise ausschließlich der Propaganda dienenden Artikeln für Österreich eintrat und mehrere Vortragsreisen in kulturpolitischer Mission unternahm,23 hielt er sich fern vom tagespolitischen Geschäft. In seiner Rede Grillparzers politisches Ver¬ mächtnis findet sich hierfür eine Erklärung: „Es gibt ein gewisses L’art pour l’art der Politik das viel Übel verschuldet hat: in die politische Rhetorik um der Rhe¬ torik willen, ist der Dichter, der als Politiker hervortreten will, zu verfallen in

neue bedeutende Bekanntschaft zerlegt uns und setzt uns neu zusammen. Ist sie von der grö߬ ten Bedeutung, so machen wir eine Regeneration durch“ (RA III 251).Vgl. außerdem die No¬ titz aus Ad me ipsum: „Freunde: Auflösung und Neu-geburt durch solche Beziehungen“ (RA III 620). 20 Hofmannsthal veröffentlichte Benjamins Essay über Goethes Wahlverwandtschaften und das Melancholie-Kapitel aus dem Trauerspielbuch in seinen Neuen Deutschen Beiträgen. 21 Einen allzu unmittelbaren Bezug unterstellt Ingeborg Villinger, Der Souverän verläßt den Turm. Hofmannsthals Dramatisierung des Verlustes politischer Einheit nach Carl Schmitt, in: Andreas Göbel, Dirk van Laak, Ingeborg Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen Grundfragen politischer Einheitsbildungen seit den 20er Jahren, Berlin 1995, S. 119-135. 22 Für die Programmzeitschrift des Hamburger Schauspielhauses schreibt Hofmannsthal: „In dem Trauerspiel Der Turm, das demnächst aufs Theater kommen soll, geht es um das Pro¬ blem der Herrschaft, der Führerschaft, das in fünf Gestalten abgewandelt wird, dem Monar¬ chen, dem zur Nachfolge berufenen Sohn, dem Kardinal-Minister, dem weltlichen Politiker, dem Revolutionsführer. Es könnte daran erinnert werden, dass Schillers Dramen vom Wallen¬ stein bis zum Demetrius sämtlich das Problem des legitimen Königtums zum Zentrum haben.“ Hofmannsthals Gewaltbegriff ist demjenigen Goethes nicht unverwandt; vgl. hierzu Ernst Osterkamp, Gewalt in Goethes Faust, in: Peter Stein inszeniert Faust von Johann Wolfganf Goe¬ the: Das Programmbuch. Faust I und II, hrsg. v. Roswitha Schieb unter Mitarbeit v. Anna Haas Köln 2000, S. 297-302. 23 Mathias Mayer, Hugo von Hofmannsthal, Stuttgart Weimar 1993, S. 161.

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ernster Gefahr“ (RA II 407). Hofmannsthal bezeichnete den Gehalt seines Trau¬ erspiels Der Turm als „Philosophie der Politik“ und „imaginäre Geschichte“.24 In der Forschung galt Hofmannsthal schon früh und für lange Zeit als Ver¬ treter einer konservativen Geisteshaltung.25 Die in seiner Dichtung unternom¬ mene Erneuerung des Barockdramas wurde als Bekenntnis zum Katholizismus altösterreichischer Prägung verstanden. Mit dem Untergang der k.u.k.-Monar¬ chie sei ihm die politische Heimat verloren gegangen, worauf er nur resignierend oder an restaurative Ideen anknüpfend reagieren konnte.26 In der jüngeren Lite¬ ratur ist diese nicht ganz falsche, aber sehr oberflächliche politische Etikettie¬ rung Hofmannsthals einem differenzierteren Bild gewichen.27 Heute wird Hof¬ mannsthal einem „ästhetischen Fundamentalismus“ zugeordnet28; er gilt - min¬ destens, was seine Haltung zu Beginn des ersten Weltkrieges betrifft - als poli¬ tisch naiv, was die teilweise peinlich pathetischen Propagandaartikel dieser Zeit offenbaren,29 oder gerät in den Verdacht einer Komplizenschaft mit national ge¬ sinnten Gelehrten seiner Zeit.30 Trotz eines berechtigten Vorbehalts gegenüber Hofmannsthals in selbstdeutender Absicht erstelltem Interpretationsvokabular

24 Vgl. Brief vom 10.Oktober 1925 an Josef Redlich, s. Hugo von Hofmannsthal/Josef Redlich, Briefwechsel, hrsg. v. Helga Ebner-Fußgänger, Frankfurt am Main 1971, S. 58. Den ge¬ schichtsphilosophischen Gehalt der Turm-Dichtung thematisieren Hermann Kunisch, Geist

oder Macht Hugo von Hofmannsthals abendländisch-christliches Geschichts- und Staatsbewußtsein in seinem Drama ,Der Turm', in: Jahres- und Tagungsberichte der Görres-Gesellschaft (1985), S. 22-49; Dieter Kimpel, Hugo von Hofmannsthal: Dramaturgie und Geschichtsverständnis, in: Reinhold Grimm (Hrsg.), Deutsche Dramentheorien II, 3. Auflage, Wiesbaden 1981, S. 129-153 und Peter Christoph Kern, Zur Gedankenwelt des späten Hofmannsthal, Heidelberg 1969. 25 Aus dem Jahr 1929 stammt Ernst Robert Curtius’ Aufsatz über Hofmannsthals deutsche

Sendung (in: Neue Schweizer Rundschau 22 (1929), S. 583-588), in dem er den Dichter in die Tradition der konservativen Denker und Staatstheoretiker Rivarol, Burke, Joseph de Maistre und Karl Ludwig von Haller stellt, a.a.O., S. 587. 26 Vgl. Gerhard Pickerodt, Hofmannsthals Dramen. Kritik ihres Gehalts, Stuttgart 1968, S. 241 ff., bes. S. 264; Hans Mayer, Der Repräsentant und der Märtyrer. Konstellationen der Lite¬

ratur, Frankfurt am Main 1971, S. 17; W. Gordon Cuncliffe, Hofmannsthal's ,Der Turm' and World War I, in: Monatshefte 67 (1975), S. 432-436, hier S. 434; W.G. Sebald, Das Wort unter der Zunge. Zu Hugo von Hofmannsthals Trauerspiel ,Der Turm', in: Literatur und Kritik (1978), S. 294-303, hierS. 301. 27 Daß die gängigen Urteile über Hofmannsthals Spätwerk („reaktionär“, „restaurativ“, „konservativ“, „traditionalistisch“, „resignativ“ etc.)

nicht gänzlich falsch seien, aber „nur

höchst unzulänglich einen Gedanken- und Formenkomplex [charakterisieren], der Hofmanns¬ thal selbst längst zum Problem geworden ist - in viel gründlicherer Weise als bei seinen Kriti¬ kern“, stellt Norbert Altenhofer fest in dem Aufsatz „Wenn die Zeit uns wird erwecken ...“.

Hofmannsthals ,Turm' als politisches Trauerspiel, in: Hofmannsthal-Forschungen 7 (1983), S. 117, hier S. 2. Zu diesen „Kritikern“ zählt auch Pickerodt (s. vorangehende Anmerkung), dessen Urteil über die zweite 7Ww-Fassung bereits von Peter Michelsen korrigiert wurde in dem Aufsatz Zeit und Bindung. Zum Werk Hugo von Hofmannsthals, in: Euphorion 68 (1971), S. 270-285, hierS. 284. 28 Stefan Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimo¬

demismus, Darmstadt 1995. 29 Mathias Mayer, Hugo von Hofmannsthal, a.a.O., S. 161. 30 Christoph König, Zur modernen Komplizenschaft zwischen Poesie und Philologie, a.a.O., S.320.

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in Ad me ipsumi] ist es nicht abwegig, seine Position mit dem von ihm selbst verwendeten Begriff als eine „über-pohtische

zu bezeichnen.

Das Präfix

„über“ erscheint in Hofmannsthals kulturpolitischem Wortschatz häufig. Es er¬ innert zunächst an das „Über-ich“, das der Dichter in jenen Notizen zur Selbst¬ deutung Ad me ipsum (RA III 599ff.) mehrfach erwähnt. Seine Vorstellung vom „Über-ich“ ist indes weniger als eine psychologische im Sinne Freuds zu verste¬ hen als vielmehr eine religiöse und in Verbindung mit einem präexistentiellen Seelenzustand stehende. Hofmannsthals Gesamtwerk wird oft mit der von ihm selbst geprägten, programmatischen Formel als ein „Weg aus der Präexistenz zum Sozialen“ (RA III 600 ff.) gedeutet. Im Turm gewinnt die Präexistenz, die im Frühwerk noch als ein „glorreicher aber gefährlicher Zustand“ problematisiert wurde,33 wieder ihren ursprünglich positiven Gehalt.34 Sie bedeutet jene geheimnisvolle Sphäre des „Sems“, nach welcher der Dichter zu fragen habe.35 Dieser Forderung an die eigene Zunft entspricht Hofmannsthals poetologisches Programm, das er mit dem Wort des griechischen Neuplatonikers Gregor von Nyssa als Motto seinen Aufzeichnungen Ad me ipsum voranstellt: „Quocirca supremae pulchritudinis amator quod jam viderat tamquam imaginem eius quod non viderat credens, ipso frui primitivo desiderabat“.36

Vor diesem Hintergrund gewinnt jenes „Über-“ eine geradezu ontologische Qualität, denn Hofmannsthals politische Vorstellungen können von seinem äs¬ thetischen Konzept nicht getrennt gesehen werden. Im ästhetischen wie im poli¬ tischen Bereich markiert dieses Präfix eine Kluft, deren Überwindung das Cha¬ rakteristische

des

Hofmannsthalschen

CEuvre

ausmacht.

Es

ist

die

Kluft

31 Christoph König hält Hofmannsthals Diktion in Ad me ipsum nur an der Oberfläche für neuplatonisch, a.a.O., S. 317 und ders., Hofmannsthal als Interpret seiner selbst: Das Ad me

ipsum, in: Euphonon 93 (1999), S. 61-73, bes. S. 72. 32 In seiner Züricher Rede auf Beethoven (RA II 69) spricht Hofmannsthal von Schiller, dem das Theater „moralische Anstalt“, also „Tribüne“ gewesen sei, und „der der Anwalt sein wollte der Menschheit vor einem freilich überpolitischen Forum“ (RA II 72). Auch Begriffe wie zum Beispiel „Europa“ nannte Hofmannsthal gern „über-politisch“ (RA II 79). In einem seiner ersten Briefe an Rudolf Pannwitz nennt Hofmannsthal seine kulturpolitischen Reisen eine „völlig ausserhalb des Moments liegende Politik (oder Nicht-politik)“, vgl. Aus Hof¬

mannsthals Briefen an Rudolf Pannwitz, in: Mesa 5 (1955), S. 23. Siehe auch den Brief an Tho¬ mas Mann vom 11. Januar 1925 in Hugo von Hofmannsthal/Thomas Mann, Briefwechsel, in Almanach/Fischer, Nr. 82, Frankfurt am Main, S. 25. 33 Vor allem Claudio aus dem lyrischen Drama Der Tor und der Tod (D I 279 ff.) be¬ kommt die Risiken dieses Zustandes zu spüren. 34 Dies bestreitet William Rey in seinem Aufsatz Tragik und Verklärung des Geistes in

Hofmannsthals,Der Turm', in: Euphonon 47 (1953), S. 161-172, hier S. 172. 35 „[...] denn um das geht es, dass die Welt, in welcher alles in ein Werden gefaßt wird, der Dichter nach dem Sein fragen muß“ erklärte Hofmannsthal in den Aufzeichnungen zu den

skandinavischen Reden (RA III 33). 36 RA III 599. „Er, der Liebhaber der höchsten Schönheit, hielt was er schon gesehen hat¬ te nur für ein Abbild dessen, was er noch nicht gesehen hatte und begehrte dieses selbst, das Urbild, zu genießen.“

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zwischen der in dem berühmten Brief des Lord Chandos (E 461 ff.) formulierten Klage und dem Willen, durch das Wort - insbesondere durch dessen Gestaltung auf der Bühne - gemeinschaftsstiftend zu wirken. Die nach dem Chandos-Brief symptomatisch für die Literatur der Jahrhundertwende benannte Sprachkrise ei¬ nerseits37 und die im Projekt der Salzburger Festspiele verwirklichte künstleri¬ sche Aufgabe andererseits bilden die beiden Pole, die Hofmannsthal mit seinen Anleihen aus dem neuplatonischen Gedankengut versöhnen wollte. Die Philoso¬ phie des Neuplatonismus eignet sich als theoretisches Stützwerk seines dichteri¬ schen Selbstverständnisses deshalb so gut, weil in ihr und insbesondere in ihren Nachwirkungen in der Patristik und in diversen häretischen Traditionen bereits eine in der Überwindung von Paradoxen ähnlich erfolgreiche, universalistische Versöhnung gelungen war, diejenige nämlich zwischen heidnischer Antike und Christentum. Das Erleiden der Sprachkrise wirkte allerdings bis in die letzten Lebensjahrzehnte nach und ließ Hofmannsthal das Schreiben mitunter zur Qual werden. Von diesem Dilemma zeugt die Mühe, die ihm das Abfassen der soge¬ nannten Münchner Rede Vom Schrifttum als geistiger Raum der Nation bereitete. Die Interpretation dieses oft mißverstandenen Textes bildet den Abschluß des ersten Teiles dieser Arbeit. Der zweite Teil widmet sich den ästhetischen Reflexionen Hofmannsthals, sofern sie um die Ursprünge des Tragischen kreisen und sich mit der zu erneu¬ ernden Form des barocken Trauerspiels auseinandersetzen. Sein Überlegungen, die zwar keine systematisch formulierte Dramentheorie, wohl aber den theoreti¬ schen Hintergrund seiner Stücke bilden, lassen sich anhand zweier Leitgedanken strukturieren. Das .Opfer1 als anthropologischer und psychologischer Begriff sowie die Frage nach der Bedeutung von Opferriten bei der Entstehung der anti¬ ken Tragödie bilden den ersten dieser beiden wiederkehrenden Gedankenkom¬ plexe. Im Kontext von zeitgenössischen Opfertheorien und später vor allem im Dialog mit Florens Christian Rang und Walter Benjamin läßt sich der Opferbe¬ griff Hofmannsthals als Kern seiner Vorstellung dessen, was die Form des Trau¬ erspiels zu leisten habe, herausarbeiten. Der zweite, mit dem ersten durchaus zu¬ sammenhängende Gedanke ist geschichtsphilosophischer Natur und kann mit dem von Hofmannsthal selbstgeprägten Bild des Ringens mit dem Dämon Zeit umschrieben werden.30 In Ad me ipsurn findet sich für diesen Kampf die Formu¬ lierung „Grundproblem: Werden und Sein: als dämonische Mächte welche über die Seele verfügen wollen“39. Hinter der sehr allgemeinen Frage, was er als schöp-

37 Die sogenannte „Chandos-Krise“ meint die Erfahrung, mit Sprache und Denken die Welt nicht mehr erfassen zu können. Lord Chandos zerfallen die Worte „im Munde wie mod¬ rige Pilze“ (E465).

_

.

38 An Carl Jacob Burckhardt schrieb Hofmannsthal im Jahr 1927, er habe sich „lebenslang mit dem was man ,Zeit‘ nennt (in mehreren Bedeutungen des Wortes) herumgeschlagen“ und er wolle „nicht sterben, ohne diesem Gegner, der etwas schlangenartig umschlingendes hat, noch mehr ins Gesicht gesehen zu haben.“, Hofmannsthal/Burckhardt,

Briefwechsel,

a.a.O.,

39 RA III 611. Oder auch: „zwei Antinomien waren zu lösen, die der vergehenden Zeit und der Dauer - und die der Einsamkeit und der Gemeinschaft. Ohne Glauben an die Ewigkeit kein wahrhaftes Leben möglich.“ (RA III 613).

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ferischer Mensch der Vergänglichkeit der Zeit als Bleibendes entgegenzusetzen habe, verbirgt sich eine bisweilen esoterische, geschichtsphilosophische Begrün¬ dung seines Werkes, die mit Hilfe einiger von Hofmannsthal rezipierter Schrif¬ ten nachgezeichnet werden soll. Bei diesen Schriften handelt es sich wiederum um Benjamins Trauerspielbuch, insbesondere um dessen Ausführungen zum Be¬ griff des ,Ursprungs“ und der ,Allegorie“, daneben aber auch um das Werk Jo¬ hann Jacob Bachofens bzw. um die umfangreiche Einleitung des Herausgebers von Bachofens Der Mythus von Orient und Occident, des später wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus umstrittenen Alfred Bäumler. Die Bäumler und Benjamin verbindende - wenn auch unterschiedlich beantwortete - Frage nach der Rolle der antiken Tragödie an der Schwelle zwischen mythischer und ge¬ schichtlicher Weltauffassung war mit ihren Implikationen für die eigenen tragi¬ schen Stücke für Hofmannsthal von großem Interesse. Das allgemein verbreitete Bewußtsein, in einer Zeitenwende, an der Schwelle zu einer neuen Zeit zu ste¬ hen, wurde auch von Hofmannsthal geteilt. Der dritte und letzte Teil der Arbeit versucht die Interpretation der oben genannten Stücke auf der Basis der vorangegangenen Erörterung der politischen und ästhetischen Positionen Hofmannsthals in seiner Epoche. Das „Problem der Gewalt“ bildet hier das durchgehende Thema. Darüberhinaus ergeben sich weite¬ re Schwerpunkte der Textanalyse aus den jeweiligen Trauerspielen selbst. So ist das Semiramis-Fragment nicht ohne die zentralen Thesen von Bachofens Mutter¬ recht zu verstehen. Bei der Interpretation des Turm muß für die Deutung des Protagonisten Sigismund bisweilen weit über die Analyse des Dramentextes hin¬ ausgegangen werden, etwa wenn es um den Hintergrund des Begriffes der Präe¬ xistenz geht, der für den Symbolgehalt der Gefangenschaft des Prinzen im Turm maßgeblich ist. Auch wird der Figur des Kinderkönigs aus der ersten Fassung ein ausführlicheres Kapitel gewidmet als der des siegreichen Oliviers des Bühnen¬ stückes, weil sie im Hinblick auf den geschichtsphilosophischen Gehalt des Trauerspiels die interessantere Gestalt ist. Der auch in der Forschung bislang weitgehend unbeachtete Kaiser Phokas kann im Hinblick auf die im Turm darge¬ stellten Aporien von Herrschaftsformen gleichsam als eine Fortsetzung des gro¬ ßen Stückes gelesen werden. Das Interesse verlagert sich hier vom Sohn auf den Vater, einen alternden Herrscher, der einst als Usurpator die Macht an sich ge¬ rissen hatte und sich nun mit der Frage seiner Nachfolge konfrontiert sieht, als er den leiblichen Sohn und den Sohn seines Vorgängers trifft, die beide in Un¬ kenntnis ihrer Herkunft in einem anderen Land von einem Zauberer aufgezogen worden sind. Während Der Turm zu Recht als das geistige Testament Hof¬ mannsthals verstanden wird, kann das Phokas-Fragment aufgrund dieses Per¬ spektivenwechsels als sein erstes echtes Alterswerk gelten. Obwohl der Krieg als geistig-politische Krise zweifellos Spuren im Werk Hugo von Hofmannsthals hinterlassen hat und insofern als Zäsur verstanden werden muß, sollte dennoch der Hinweis auf die „formidable Einheit des Wer¬ kes“ (RA III 620) ernstgenommen werden. Die nachfolgende Untersuchung stellt sich die Aufgabe, die in den Stücken und ihren jeweiligen Voraussetzungen liegenden Gründe für diesen auf Einheit zielenden Selbstentwurf ausfindig zu



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1. Teil: Die politischen Reflexionen Hugo von Hofmannsthals

I. Hofmannsthal und der Forte-Kreis 1. Gründungsgeschichte und Programmatik des Forte-Kreises Hugo von Hofmannsthal war kein Mitglied des Forte-Kreises. Er stand jedoch mit einigen Initiatoren dieses Kreises in freundschaftlichem Kontakt und teilte deren Idee einer „konservativ-sozialistischen Synthese“40. „Als wir paar Menschen im Juni zu unserm

Kreis

zusammentraten,

ge¬

schah es doch wohl in dem Gedanken, daß sich ein Band des Geistes, der aus dem Verstehen der Seelen kommenden Einheit um uns schlingen soll¬ te, damit einst die Menschheit eine Wirklichkeit werde: jedes Volk in sei¬ ner besonderen Nationalität (wie jeder Mensch in seiner besonderen Indi¬ vidualität) ein besonderes Amt an der Menschheit repräsentierend.“41

Der „Kreis“, dessen utopisches Anliegen Gustav Landauer hier wenige Wochen nach Ausbruch des ersten Weltkrieges in Worte faßt, existierte als ein hand¬ lungsfähiges Gremium nie. Es blieb bei der Idee, die allerdings durch eine Reihe von programmatischen Manifesten, durch die Protokolle der ersten, vorberei¬ tenden Zusammenkunft sowie durch die Briefe der Initiatoren gut dokumentiert ist.42 Inwieweit die utopischen Konzepte der Forte-Kreis-Gründer sich mit Hofmannsthals politischem Denken der Kriegs- und Nachkriegszeit berühren, gilt es in diesem Kapitel zu erörtern. Im Sommer 1914 trafen sich in Potsdam acht Europäer in der Absicht, ei¬ nen Kreis zu gründen: der schwedische Psychoanalytiker Poul Bjerre, der nieder¬ ländische Sinologe Henri Borei und dessen Landsmann, der Dichter und Sozial¬ reformer Frederik van Eeden, der Begründer des Kulturzionismus Martin Buber, der expressionistische Dichter Theodor Däubler, der theosophisch bewanderte Berliner Privatgelehrte Erich Gutkind, der einen „humanen Anarchismus“ ver¬ tretende Gustav Landauer und der preußische Staatsbeamte Florens Christian Rang. Assoziiert wurde Romain Rolland, der zum Zeitpunkt dieses vorbereiten¬ den Treffens verhindert war. In drei Tagen, vom 9. bis 12. Juni, besprach man die Koordinierung des geplanten Kreises und einigte sich auf die zukünftigen Mit¬ glieder, unter denen sich auch Ezra Pound, Rainer Maria Rilke, Wassily Kan-

40Hamburger, a.a.O., S. 32. 41 Gustav Landauer an Frederik van Eeden am 18. August 1914 in: Gustav Landauer,

Lebensgang in Briefen,

Siehe Christine Holste,

Versuchs,

Sein

hrsg. v. Martin Buber, Frankfurt am Main 1929, Bd. II, S. 1.

Der Forte-Kreis (1910—1915). Rekonstruktion eines utopischen

Stuttgart 1992. Aus soziologisch-historischer Perspektive - methodisch Georg Sim¬

mel und Wolfgang Eßbach

(Die Junghegelianer. Soziologie einer Intellektuellengruppe,

München

1988) folgend - stellt Holste die Entstehunggeschichte des Bundes unter Verwendung der bis¬ lang unveröffentlichten Archivalien dar und klärt seine Voraussetzungen anhand der intellek¬ tuellen Biographien der maßgeblichen Gründungsmitglieder.

21

dinsky, Dimitry Mereschkowski, Rabindranath Tagore, Max Scheler und der „Tat-Mensch“ Walter Rathenau befinden sollten.43 Das Potsdamer Treffen empfanden die Teilnehmer, wie man es dem Ta¬ gungsprotokoll und späteren Briefen entnehmen kann, als ein einmaliges „Erleb¬ nis“, das an Intensität einer religiösen Gemeinschaftserfahrung gleichkommt.44 Die Gespräche wurden im Freien geführt, wobei der genius loci idyllischer Gar¬ tenlandschaft offenbar nicht wenig zur harmonischen Verständigung der hete¬ rogenen Gruppe beitrug. Im Bewußtsein innerer Übereinstimmung, was die Zie¬ le des Kreises betraf, beschloß man, zwei Monate später im toskanischen Forte dei Marmi - daher rührt auch der Name ,Forte-Kreis145 - zu einer konstituieren¬ den Sitzung zusammenzukommen. Dieses zweite Treffen jedoch wurde durch den Ausbruch des Krieges verhindert. Der in Potsdam erreichte Konsens wich im Laufe des Jahres den wachsenden politischen Meinungsverschiedenheiten zwischen einzelnen Mitgliedern, so daß Gustav Landauers und Martin Bubers letzte Bemühungen, zum Jahreswechsel ein Wiedersehen der Initiatoren zu or¬ ganisieren, scheiterten.46 Vor allem die leidenschaftliche Kriegsbegeisterung des damals noch preußisch-konservativ gesinnten Florens Christian Rang47 veranlaßt den Pazifisten Landauer, im Sommer 1915 endgültig aus dem Kreis auszuschei¬ den.48 Zur Vorbereitung des Potsdamer Treffens verfaßten im März 1914 Buber, Gutkind, Rang und van Eeden Manifeste, die - skizzenartig zwar und von den jeweils persönlichen Erwartungen geprägt - die Programmatik des geplanten

43 Zwei vollständige Mitgliederlisten sind im Anhang bei Holste, a.a.O., S. 290-292, abge¬ druckt. 44 Fredenk van Eeden zum Beispiel schrieb im Protokoll: „Was geschehen ist, erscheint mir in der Erinnerung so groß und mächtig, so gewaltig, daß es fast den Atem raubt , s. Hol¬ ste, a.a.O.,

S.

292, und vgl. ferner das Kapitel Ortsbestimmung über das ,Erlebnis' der Grün¬

dungstagung, a.a.O., S. 32 ff. 45 Zugleich sollte das lateinische Adverb ,fortiter‘, ,mutig1 gleichsam als Motto die Hal¬ tung der Gruppe charakterisieren; vgl. Holste, a.a.O., S. 1. — Der Forte-Kreis wird auch nach dem Ort des vorbereitenden Treffens .Potsdamer Kreis“ genannt. Über den Forte-Kreis berich¬ teten früher neben Martin Buber in den Erläuterungen zu Landauers Briefen, a.a.O., S. 1 f., Hans Kohn, Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit, 2. Auflage, Köln 1961, S. 150/51 und, Adalbert Rang, im Portrait seines Vaters, in: Die neue Rundschau 70 (1959), S. 450 f. 46 Siehe den von Landauer und Buber Ende November 1914 gemeinsam verfaßten Brief an den Forte-Kreis, Landauer, a.a.O., S. 14-16. 47 Nach dem Krieg änderte Rang seine Einstellung und plädierte in seiner Schrift, Deutsche

Bauhütte, Sannerz und Leipzig 1924, für eine Wiedergutmachung der Deutschen gegenüber Frankreich und Belgien. 48 Vgl. Landauers Briefe vom 27. Juli und vom 22. August 1915, in denen er seinen Aus¬ tritt begründete, Landauer, Lebensgang, a.a.O., S. 54 ff. und S. 71 ff. Der ihm nahestehende Bu¬ ber verabschiedete sich am 8. September 1915 von dem gescheiterten Projekt mit den Worten: „[...] aber das Gespenst des Kreises, das ich einmal nahe daran war zu lieben, bleibe mit fern!“ s. Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, hrsg. v. Grete Schaeder, Bd. II, 1918-1938, Heidelberg 1973, S. 398.

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Kreises wiedergeben.45 Motiviert wurde ihre Initiative durch die von allen emp¬ fundene Spaltung der menschlichen Gesellschaft in eine „tatlose Seelenwelt“ und eine „seelenlose Tatwelt“, wie Florens Christian Rang es formuliert.50 Während Rang sich vorstellte, den Kreis nach dem Vorbild mittelalterlicher Ritterorden mit einem selbsternannten „Interrex“ als einen „Tempel für einen noch unbe¬ kannten Gott“ zu organisieren,5' lieferten Buber und Gutkind die esoterische Begründung des „Blut“-Bundes (Gutkind) und hielten sich mit konkreten Vor¬ schlägen zur Organisation eher zurück. Sie stimmten allerdings im religiösen Impetus mit Rang überein. Der pragmatischere van Eeden indes plädierte für die Anmietung einer mediterranen Villa als Tagungsort für zukünftige Treffen, wo die von einem „Comite“ Eingeladenen für die Dauer ihres Aufenthaltes Gele¬ genheit „zur Erholung, zur Arbeit und zum Verkehr mit verwandten Geistern“ haben sollten.52 Einhellig sprachen die Autoren sich gegen die Form einer Partei, eines politschen Interessen- oder sonstigen Zweckverbandes oder gar einer „Cli¬ que“ aus. Es gelte vielmehr, einen „Bund“53 zu schließen zwischen Menschen, „die noch metaphysische Substanz und transcendente Erlebnisse haben“54 und die sich als solche erkennen. Abgesehen von „noch unbekannten Wirkungen“, die aus ihrer Verbindung folgen mögen, hofften die Initiatoren, in einer orientie¬ rungslosen Welt zukünftig richtungsweisend aufzutreten.53 Dabei fühlten sie sich dem Wu Wei Laotses, dem .Wirken ohne Handeln1, verpflichtet. Buber und Landauer nennen in dem bereits erwähnten, gemeinsam verfa߬ ten Rundbrief56 die beiden zentralen Ziele des Kreises, wobei die Erfüllung des ersten zur Bedingung des zweiten erklärt wird: Zunächst müßten alle Mitglieder bereit sein, „trotz und wegen der Verschiedenheit [ihrer] Naturen und [ihres] Denkens in voller Achtung und Erwartung [sich] dem gegenseitigen Verkehr zu

49 Die sogenannten „Frühjahrs-Manifeste“ sind von Christine Holste im Anhang ihres Buches veröffentlicht, a.a.O., S. 277 ff. Rang war nach der Darstellung Adalbert Rangs, a.a.O., S. 451 an der Ausarbeitung des Programmes maßgeblich beteiligt. 50 Holste, a.a.O., S. 284 - Landauer spricht in seinen Thesen zur Gründungstagung von der Diskrepanz „zwischen dem klar geschauten Bilde der schönen Menschenwelt und unserem tatsächlichen Leben“, a.a.O., S. 278. 51 Holste, a.a.O., S. 285. 52 Holste, a.a.O., S. 287. 53 Zur religiösen Konnotation des „Bundes“ als einer besonderen Form von Gruppenbil¬ dung siehe Holste, a.a.O., S. 12 ff. 54 So Erich Gutkind, s. Holste a.a.O., S. 282. 55 „Die einzige Macht, die einer richtungslosen Menscheit gegenüberzutreten vermag, ist die Macht der Richtung.“ So lautet die erste These Martin Bubers, siehe Holste, a.a.O., S. 280. Florens Christian Rang formuliert die gleiche Überzeugung mit anderen Worten als Forderung an den Kreis: „Tendenzfrei in Hinsicht jeder Einzeltendenz [...] muß trotzdem die Vereini¬ gung die Gesamttendenz haben, tendenzbildend zu sein“ (Hervorhebung v. R.), Holste, a a O S. 284. Rundbriefe dieser Art gehörten mit zu den Vereinbarungen der Potsdamer Tagung. Nach dem Willen Rangs sollten diese Briefe während des Krieges als „kollektives Kriegstage¬ buch

weitergeführt werden, ein Plan, der nach der Auflösung des Kreises jedoch nicht ver¬

wirklicht wurde. Eine Veröffentlichung der 33 Kreisbriefe und der sie z.T. kommentierenden Privatbriefe steht noch aus, s. Holste, a.a.O., S. 4L

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überlassen“.57 Dann erst würde es sich erweisen, ob und wie das zweite Ziel er¬ reicht werden könne, welches darin bestehe, „daß aus diesem Verkehr eine Ge¬ meinschaft erwüchse, die von Bedeutung wäre für das Werden der Welt“.58 In seiner zweiten,59 ausführlich begründeten Absage an den Forte-Kreis60 rekapituliert Gustav Landauer die Thesen, auf die man sich bei der ersten Zu¬ sammenkunft des Kreises geeinigt hatte. Er erinnert daran, daß die Mitglieder sich vor allem darum bemühen wollten, trotz der zu erwartenden Sympathien und Divergenzen „die im einzelnen noch unbekannten Wirkungen zu erreichen, die sich aus der persönlichen Berührung und tieferen Verbindung der Einzelnen ergeben werden“.61 Die Gründungsmitglieder hätten „das Unbekannte, das in ih¬ rem Bunde geborgen liegt, [...] empfangen und zu seinem Wachstum [...] hel¬ fen“62 wollen. Aus den Dokumenten des Forte-Kreises spricht der Wille, vermittels einer in sich heterogenen geistigen Elite eine Versöhnung ideologischer Gegensätze zu erreichen, um gegebenenfalls durch eine breitere öffentliche Wirkung einen Bei¬ trag zur Verhinderung des heraufziehenden europäischen Krieges zu leisten. Ob Hofmannsthal von der Planung des Forte-Kreises wußte, kann nicht endgültig geklärt werden. In den Listen der zukünftigen Mitglieder des Kreises taucht sein Name jedenfalls nicht auf. Vielleicht waren ihm die Idee und das Scheitern des Kreises durch den befreundeten Rainer Maria Rilke, um den Frederik van Eeden vergeblich geworben hatte,63 zu Ohren gekommen, oder er hatte von Walter Rathenau,64 den er während seines dreimonatigen Aufenthaltes in 57 Landauer, a.a.O., S. 15 58Ebd. 59 Zum ersten Mal erklärte Landauer seinen Austritt aus dem Kreis in seinem Brief an die Gründungsmitglieder vom 27. Juli 1915, Landauer, Lebensgang, a.a.O., S. 54 ff. 60 Vgl. Brief vom 22. August 1915, Landauer, Lebensgang, a.a.O., S. 71-82. 61 Landauer, Lebensgang, a.a.O., S.72 f. 62 A.a.O., S. 73; gemeinsame Manifestationen des Kreises und die Regelung der Aufnahme neuer Mitglieder werden in der zweiten und dritten These festgelegt. “Rilke schien „der Plan [des Kreises] an sich zwar begreiflich, seine Verwirklichung aber nicht recht vorstellbar“, siehe seinen Brief an van Eeden vom 4. März 1914, zit. nach Holste, a.a.O., S. 288 ff. An anderer Stelle begründet Rilke seine Ablehnung einem Wort Paul Valerys folgend - „L’esprit abhorre les groupements“ - mit dem Unbeheimatetsein des Intellektuellen im Anschluß an dessen Monsieur Teste (Holste, a.a.O., S. 267 und 276). Diese Haltung hätte vemutlich auch derjenigen Hofmannsthals entsprochen, was dessen kompliziertes Verhältnis zu jenem anderen, berühmteren Kreis um Stefan George zeigt, vgl. hierzu Stefan Breuer, Ästheti¬ scher Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodemismus, Darmstadt 1995 und Jens Rieckmann, Hugc von Hofmannsthal und Stefan George. Signifikanz einer,Episode1 aus der Jahrhundertwende, Tübingen 1997. 64 Mit Walter Rathenau, den er über Harry Graf Kessler und Eberhard von Bodenhausen kannte, verband Hofmannsthal keine Freundschaft. Über dessen Reflexionen aus dem Jahr 1908 schreibt er an Kessler: „Was für ein raffiniert unangenehmes Buch! Welche Mischung von Pedanterie, Prätension und Snobism (bei der vollkommenen Abwesenheit von „Welt“) und ab¬ gestandener und wieder aufgekochter ,Deutschheit aus jüdischem Gemüt produziert. Hugo von Hofmannsthal/Harry Graf Kessler, Briefwechsel 1898-1929, hrsg. v. Hilde Burger, Frank¬ furt am Main 1968, S. 197. Bei einem späteren Buch Rathenaus, Von kommenden Dingen aus dem Jahr 1917 korrigierte Hofmannsthal gegenüber Bodenhausen sein ursprünglich negatives

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Berlin Anfang 1916 in der .Deutschen Gesellschaft 19141 getroffen haben könn¬ te,65 von den Plänen erfahren. In den über Jahre, wenn auch mit Unterbrechun¬ gen geführten Korrespondenzen mit Buber, Rang und Landauer finden sich al¬ lerdings

keine

direkten

Hinweise

auf

den

Kreis.

Trotz

dieser

spärlichen

Quellenlage lohnt der Blick auf das ambitionierte Projekt, denn mit den Inhalten und Zielen der Forte-Kreis-Gründer, die bereits vor 1911 mit ihren utopischen Entwürfen an die Öffentlichkeit getreten waren, läßt sich Hofmannsthals gei¬ stig-politischer Standort zu Beginn des ersten Weltkrieges durchaus beschreiben.

2. Frederik van Eeden, Erich Gutkind und ihre Schrift Welteroberung durch Hel¬ denliebe Der Niederländer Frederik van Eeden war gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein gefeierter Dichter in seinem Land.66 Als junger Medizinstudent - wie Siegmund Freud hatte er in Paris bei Charcot die moderne Therapie der Hypnose studiert schloß er sich der Schriftstellergruppe „Tachtigers“ („Die Achtziger“) an, in de¬ ren Lyrik Stefan George später seine Kunsttheorie vorweggenommen sah. In den Blättern für die Kunst veröffentlichte George bereits 1896 einige von van Eeden ins Deutsche übertragene Gedichte seines späteren Freundes Albert Verwey, ei¬ nem Schwager Frederik van Eedens, von Willem Kloos und Herman Gorter, „die im verein mit dem Schriftsteller van Deyssel bereits einige jahre vor uns in ihrem land die bewegung zu gunsten der wiedererwachten und verinnerlichten kunst begannen“67. Hofmannsthal, der seine Gedichte und lyrischen Dramen damals selbst regelmäßig in Georges Zeitschrift veröffentlichte, kannte van Eeden gewiß dem Namen nach, auch wenn George ihn in seinen Briefen aus Holland nicht erwähnte.68

Urteil: „Auf direkte Bitte von Nostitz, der sich mit mir darüber aussprechen wollte, las ich dann die letzten 120 Seiten des Buches und muß, wenigstens was diese Ausführungen betrifft (sie heißen Der Weg des Willens) mein Urteil, oder Vorurteil ganz zurücknehmen. Diese 120 Seiten sind consistent, gehaltvoll und scheinen mir sehr bemerkenswert. Sie geben einem et¬ was.“ Hofmannsthal/Bodenhausen, a.a.O., S. 230. Ausführlich legte Hofmannsthal seine Mei¬ nung über den Politiker und Menschen in seiner Antwort auf Kesslers Rathenau-Biographie dar: Ihn störe die Kombination jüdisch-preußisch und letztendlich „der völlige Mangel an Spontaneität“ in seinem Wesen. Er räumt jedoch ein, daß sein Urteil durch Bodenhausen und Rathenaus Vater beeinflußt sei; s. Hofmannsthals letzten Brief an Kessler vom 14.Dezember 1928, a.a.O., S. 407 f. 65 Zu Hofmannsthals Mitgliedschaft in diesem politischen Klub siehe Heinz Lunzer, Hofmannstbals politische Tätigkeit in den Jahren 1914-1917, Frankfurt am Main 1981, S. 169 ff., bes. S. 171. “Vgl. Holste, a.a.O., S. 127 f. 67 Stefan George in Blätter für die Kunst, 3. Folge, Bd. 3, Juni 1896, begr. v. dems., hrsg. v. Carl August Klein, Abgelichteter Nachdruck. Zum Jubiläumsjahr 1968, Düsseldorf, München 1967, Folge III und IV, S. 86 68 Über Verwey schreibt Hofmannsthal 1903 an George, daß sein Name ihm nicht glanzlos erscheine, „weil Sie ihn im Gespräch öfter nannten“, Hugo von Hofmannsthal/Stefan George, Briefwechsel, München 1953, S. 185. Vgl. hierzu auch Karlhans Kluncker, Wij beiden. Stefan George und Albert Verwey, in: Castrum Peregrini, 33. Jg. 1984, H. 161-162, S. 5-42.

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Im Jahr 1898 gründete van Eeden die nach lebensreformerischen Prinzipien organisierte Kolonie Waiden bei Bussum in der Nähe von Amsterdam, der er seinen Ruf als Sozialreformer und Utopist verdankte.6' Die naturnahe Lebens¬ gemeinschaft in einfachen Holzhütten70, verbunden mit nichtkapitalistischer Ar¬ beitsorganisation, zog zunächst vor allem Intellektuelle an, die van Eeden wäh¬ rend der ersten zwei Jahre, die er selbst in Waiden lebte, persönlich für seine Siedlung auswählte.71 Vermutlich war Hofmannsthal die Kolonie Waiden ein Be¬ griff, denn im Zuge der allgemeinen Siedlungsbewegung um die Jahrhundert¬ wende72 gehörte van Eedens Projekt zu den prominenteren. So erinnert die uto¬ pische Gesellschaft, die der Kinderkönig der früheren Turm-Fassung prophezeit, an eine Siedlung im Stile Waldens: „Wir haben Hütten gebaut und halten Feuer auf der Esse und schmieden die Schwerter zu Pflugscharen um. Wir haben neue Gesetze gegeben, denn die Gesetze müssen immer von den Jungen kommen.“ (SW XVI.1 138). Erich Gutkind, ein späterer Freund Walter Benjamins, veröffentlichte 1910 unter dem Pseudonym „Volker“73 ein umfangreiches theosophisches Werk mit dem Titel Siderische Geburt, Seraphische Wanderung vom Tode der Welt zur Taufe der Tat, welches in Deutschland eine rasche Verbreitung fand.74 Die theosophische Bewegung war vor allem durch die geheimnisumwobene Russin Helena Petrowna Blavatsky75 und Rudolf Steiner in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in Mode gekommen.76 Gutkinds Traktat stieß aui reges Interesse bei zahlreichen Zeitgenossen wie beispielsweise Wassily Kandinsky, Richard Dehmel, Hans Kohn, Walter Rathenau, Gershom Scholem und Theodor Däub-

69 Holste, a.a.O., S. 142 ff., be.s. S. 152-156. Den mythischen Namen „Waiden“ übernahm van Eeden von dem Amerikaner Henry David Thoreau, der in seinem Werk „Waiden or life in the woods“ (1854) sein zweijähriges Einsiedlerleben in einer Holzhütte beschreibt, um „dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten“, zit. nach Holste, a.a.O., S. 147. Der Forte-Kreis ist nach Holste die Nachfolge-Utopie der Kolonie „Waiden“, a.a.O., S. 152. 70 Gegen eine großstädtisch-kapitalistische, dem moralischen Zerfall ausgelieferte Gesell¬ schaft ließ sich das Hüttensymbol wirkungsvoll „als Demonstration zeitloser Schönheit des Natürlichen und sinnvoller Arbeit aufrichten“, Holste, a.a.O., S. 145. 71 Holste, a.a.O., S. 152. 72 Holste, a.a.O., S. 151 und vgl. allgemein zum Thema: Zurück, o Mensch, zur Mutter Er¬ de. Landkommunen m Deutschland 1890— 1933, hrsg. v. Ulrich Linse, München 1983. 73 „Volker“ wird im Allgemeinen als Anspielung auf Volker den Fiedler, den letzten Be¬ gleiter Hägens, verstanden, s. Holste, a.a.O., S. 28. 74 Verlegt bei Kad Schnabel, Berlin. 2. Auflage 1914, s. Holste, a.a.O., S. 72. 75 Zusammen mit H.C. Olcott gründete die Autorin von Isis unveiled (1877, dt. 1907), The secret doctrme (1888; dt. 3 Bde 1898 - 1906) und The key to theosophy (1889, dt. 1907) im Jahr 1875 in New York die erste „Theosophische Gesellschaft“. 76 Holste definiert die theosophische Bewegung, die durch Gutkind unmittelbar auf die Ziele des Forte-Kreises gewirkt habe, als „eine Großstadtsekte, die in Logen organisiert, eigene Verkehrsformen unter ihren Mitgliedern hervorbrachte, ein modernes Bedürfnis nach Bildung, Lebenslehre und Kenntnissen anderer Religionen steuerte und mit der Idee einer Bruderschaft zwischen Ost und West eine erhöhte Reflexionswelle unter ihren Mitgliedern auslöste.“ a.a.O., S. 272.

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ler.77 Auch Frederik van Eeden wurde durch die Siderische Geburt auf Erich Gut¬ kind aufmerksam. Drei Jahre vor dem Potsdamer Treffen verfaßten die beiden Männer gemeinsam eine Schrift, die in ihrem appellativ-programmatischen Cha¬ rakter die Zielvorstellungen des Forte-Kreises weitgehend vorwegnahm: Es han¬ delt sich um das „seltsame“78 Buch Welteroberung durch Heldenliebe, wobei Gut¬ kind auch hierfür sein Pseudonym „Volker“ verwendet.79 Mit dem Buch van Eedens und Volkers identifizierte sich Hofmannsthal in hohem Maße. Zahlreiche Anstreichungen und Randnotizen deuten auf eine in¬ tensive Lektüre des Buches in den Jahren 1912 und 1916 hin.80 Vieles übertrug Hofmannsthal in seine persönlichen Aufzeichnungen. Besonders die Reden, die er 1916 in kulturpolitischer Mission in Skandinavien hielt, zeigen eine weitge¬ hende inhaltliche Übereinstimmung.81 So kann das Buch Welteroberung durch Heldenliebe für Hofmannsthals politische Vorstellungen als ein Schlüsseltext gelten. Der Titel des schmalen Bandes Welteroberung durch Heldenliebe von Fred¬ erik van Eeden und Volker ist irreführend. Es handelt sich nicht um einen ein¬ heitlichen Text als Ergebnis einer gemeinsamen Arbeit der beiden Autoren, son¬ dern um zwei selbständige Schriften: Teil I: Heldenliebe von van Eeden, Teil II: Welteroberung von Gutkind alias Volker. Letzterer knüpft zwar gelegentlich an die „Königlichen vom Geiste“ an, die sein Mitautor zuvor anspricht, aber ein in¬ nerer Zusammenhang der beiden Abhandlungen, wie sie der Titel des Buches impliziert, liegt nicht vor. 2.1. Heldenliebe - ein Appell an die geistige Aristokratie Frederik van Eeden wendet sich in seiner Abhandlung Heldenliebe an Personen, die er „Königliche vom Geiste“ nennt.82 Er richtet seinen Apell an einen auserle¬ senen Kreis von Menschen, die über besondere geistige Merkmale verfügen. Daß sie zu diesen ,Königlichen“ zählten, sei ihnen bewußt, „so wie man weiß, daß man zu den Gesunden oder musikalisch Begabten gehört“.83 „Jeder dem es [van

77 Holste, a.a.O., S. 26. - Holste nennt in dieser Reihe an erster Stelle Hofmannsthal und führt als Beweis dessen „Grübeleien“ in Ad me ipsum an, die mit dem Hinweis auf „Volker“ versehen sind. Es handelt sich hierbei allerdings um Zitate aus dem späteren, gemeinsam mit van Eeden verfaßten Buch Welteroberung durch Heidenliebe. Daß Hofmannsthal auch die Side¬ rische Geburt kannte, ist wahrscheinlich, nicht aber - etwa durch ein Exemplar in der Nachla߬ bibliothek - verbürgt. 78 Hamburger, a.a.O., S. 32, und Sue Ellen Shupe Wright in der Selbstanzeige ihrer Dissertation in: Hofmannsthal-Blätter, Heft 8/9 (1972), S. 205. - Die Autorin behandelt den Einfluß dieses Buches auf Hofmannsthal ausführlich im vierten Kapitel ihrer - leider schwer zugänglichen - Arbeit: A Vision of Purified Freedom, S. 115 ff. 79 Berlin und Leipzig 1911 80 Diese Daten der Lektüre finden sich in Hofmannsthals Exemplar notiert, vgl. Hambur¬ ger, a.a.O., S. 32. 81 Vgl. die Notizen zu den beiden Reden Freiheit und Gesetz und Ein neues Europa (RA II 28-42) sowie Hamburger, a.a.O., S. 32-34. 82 Van Eeden/Volker, a.a.O., S. 9. 83 A.a.O., S. 16.

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Eedens Wort] gilt, wird es wissen. Wer zweifelt, dem gilt es nicht“.84 Die vom Autor für zukünftige Aufgaben konstituierte Leserschaft, „der Bund der freien königlichen Geister“,85 gemahnt geradezu an eine Geheimloge.86 Die ,Königlichen vom Geiste' zeichnen sich nach der Vorstellung van Ee¬ dens durch die Freiheit ihrer Gedanken aus, die weder von anderen übernommen seien noch in irgendeiner Weise von Umständen abhingen.87 Sie besäßen ein starkes Verantwortungsbewußtsein und fühlten sich deshalb zur Führung und Herrschaft berufen, allerdings nicht um der Herrschaft selbst willen. Ihre Macht beruhe nicht auf dem triebhaften „Willen zur Macht“, sondern auf dem „Willen zur Göttlichkeit“. Es sei eine beschützende und liebende Macht, nicht mit Eitel¬ keit verbunden, sondern bescheiden, nicht ererbt, sondern von „Gottes Gna¬ den“, nicht auf Gewalt gegründet, sondern entstanden „aus Anerkennung“.88 Die „Autorität des Geistes“, wie Gutkind die Herrschaft der ,Königlichen' später be¬ zeichnet, verlange keineswegs unbedingten Gehorsam und unterscheide sich dar¬ in von der Herrschaft der Kirche.89 Das höchste Gut eines ,Königlichen' sei die Wahrheit; um ihr näher zu kommen, fördere er die Widerrede und suche die Auseinandersetzung im Streitgespräch, in dem er indes nie gegen ritterliche Re¬ geln verstoße.90 Van Eeden geht davon aus, „daß die menschliche Gesellschaft auch in ihrer Beschaffenheit ein Herdenwesen ist“.91 Die Meinung eines durchschnittlichen Individuums in dieser Gesellschaft sei - anders als die Meinung eines .Königli¬ chen' - abhängig vom Einfluß seiner Umgebung. Gleichwohl sei die Menge, das Volk, nicht unmündig, denn im-Laufe der kulturellen Entwicklung sei „die große Idee der Gewissensfreiheit“92 zu einem „Herdenbegriff“93 geworden. Konservativ sei die Menge insofern, als sie sich mißtrauisch und abweisend gegenüber unab¬ hängigen Geistern verhalte.94 Sie bilde eine notwendige Kraft, welche dem .Kö¬ niglichen' zum Prüfstein seiner Qualitäten diene. Ziel der geistigen Führung der Menge durch den Bund der .Königlichen' sei „die innere Einigung zwischen Menschen“95, welche die Voraussetzung ist für die Lösung der drängenden Fragen der Zeit. Der Weg zur inneren Einigung führe durch das Wort: Das „Wort muß der Angriffspunkt seiner [des Königlichen] Tä-

84A.a.O„ S. 58. 85 A.a.O., S. 12. 86 Rang schwebte bei der Gründung des Kreises eine Art preußischer Orden vor. Holste, a.a.O., S. 193 ff. 87 Van Eeden/Volker, a.a.O., S. 9. 88 A.a.O., S. 14-19. 89 A.a.O., S. 29. 90 A.a.O., S. 18. 91 A.a.O., S. 10. 92 A.a.O., S. 11. 93 Vgl. Nietzsches Begriff vom .Herdeninstinkt' in der Genealogie der Moral, Friedrich Nietzsche, Werke II, a.a.O., S. 659, 678, 662 656. 94 Van Eeden/Volker, a.a.O., S. 10. 95A.a.O„ S. 23.

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tigkeit sein“.96 Aber weder Sprachkritik noch Philosophie seien die Aufgabe der .Königlichen“. Das Wort müsse mit neuer Kraft als „Gelenk“ zwischen „Geist und Leben“ zur Tat werden.97 Da ein einzelner diese Aufgabe nicht leisten kön¬ ne, müßten die ,Königlichen“ sich miteinander verbinden. Diese Thesen bilden die Kernaussage der Schrift Frederik van Eedensü Die Gründung des Forte-Kreises konnte der niederländische Sozialreformer als einen Schritt zur Verwirklichung seines „Bundes der Königlichen vom Geiste“ verste¬ hen. Hofmannsthal teilte die Auffassung van Eedens, der Lauf der Geschichte könne durch eine geistige Elite, die durchaus nicht mit den politischen Füh¬ rungskräften der Gesellschaft übereinstimmen müsse, beeinflußt werden. Er fühlte sich selbst dieser Elite zugehörig und zog später aus der damit verbunde¬ nen gesellschaftlichen Verantwortung sogar eine Legitimation seiner Berufung zum Dichter. Dieses Selbstverständnis beruht auf der Überzeugung, daß „nichts [...] im politischen Leben der Nation Wirklichkeit [is-t], das nicht in ihrer Litera¬ tur als Geist vorhanden wäre“ (RA III 27) - so formuliert Hofmannsthal es noch Jahre später in der sogenannten Münchner Rede Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation. „Jede materielle Tat hat einen geistigen Ursprung, und nie¬ mand kann genau zeigen, wo Gedanke aufhört und Tat beginnt“99, schreibt Frederik van Eeden gleich zu Beginn seiner Schrift Heldenliebe. In München un¬ ternahm Hofmannsthal den letzten Versuch, die geistige Elite, die zuvor von van Eeden charakterisiert und aufgerufen worden war, wachzurütteln. Van Eedens dramatischer Apell an die ,Königlichen“, das Wort zur Tat wer¬ den zu lassen, damit die Einigung der Menschheit vorangetrieben werden könne, entspricht dem „apokalytischen Ton“100 des ganzen Buches. Die immer stärker drängende soziale Frage und der übersteigerte Nationalismus gefährdeten zu¬ nehmend den inneren und äußeren Frieden in Europa. Das Bewußtsein einer großen „Not der Zeit“ war weit verbreitet. Mit einer anspruchsvollen Diagnose dieser ,Not“, der sich Hofmannsthal in seinen skandinavischen Reden explizit anschloß,101 beginnt Gutkind seinen Teil des Buches. 2.2. Welteroberung durch einen neuen Begriff von .Persönlichkeit“ Gutkind hält unter dem Pseudonym Volker eine „Notrede“102. Er unterscheidet zwischen einer „alten Not“, mit der er die niedere, materielle Not, die Armut,

96 A.a.O., S. 19. 97 Ebd. 98 Im folgenden erklärt er, warum andere Eignungsversuche, wie sie von Religion, Philo¬ sophie, Naturwissenschaft und Sozialökonomie versucht wurden, scheiterten. Ein Grund für Hofmannsthals Identifizierung mit dem Buch stellt gewiß die Beurteilung der Rolle des Geldes im Zusammenhang mit der Kritik an den Zielen des Sozialismus dar. Zu Hofmannsthals Lektü¬ re von Georg Simmels Philosophie des Geldes vgl. Hamburger, a.a.O., S. 34. "Van Eeden/Volker, a.a.O., S. 8. Vgl. auch Hamburger,a.a.O., S. 32. 100 Hamburger, a.a.O., S. 32. 101 Die Sätze, in denen Volker die „neue Not“ erklärt (Van Eeden/Volker, a.a.O., S. 93), hat Hofmannsthal markiert. Vgl. Hamburger, a.a.O., S. 33. 102 Van Eeden/Volker, a.a.O., S. 67.

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die Not der Nahrung meint, und einer „neuen, heiligen Not“103, die im „Hymnus der Modernität - „wir können nicht mehr leben“ - ausgesprochen sei und die Gutkind als „eine Not des Gebärens“ bezeichnet.104 Die „alte Not“ zu ignorie¬ ren, wie das manche täten, die unter der „neuen Not“ litten, stelle keine Lösung dar. Die „neue Not“ sei eine ersehnte Not, entstanden in „der Enge notloser Sattheit“, die der Wohlstand geschaffen habe. Daraus schließt Gutkind, daß das „Ziel der alten Nöte [...] nicht Wohlstand sein kann, sondern einzig die neue Not“.105 Die Epoche deutet der Autor als ein „zwiespältiges Hängen zwischen alten und neuen Nöten“106. Die proletarischen Revolutionen der Gegenwart verfolgten demnach ein falsches Ziel, da sie „die Bürgerlichkeit gar nicht überwinden wol¬ len, wie sie vorgeben, sondern nur bis ins ewige stabilisieren“107. Sie blieben gleichsam im Materialismus stecken und hätten den „metaphysischen Gehalt“ der niederen Not nicht erkannt. Volkers Welteroberung ist in der Tat „eine metaphysische Angelegenheit“106. Mit seiner „Stahlreligion“109, die die herkömmlichen religiösen und materialisti¬ schen Welterklärungsmodelle ablösen soll, prophezeit er ein Zeitalter des „Sozia¬ lismus“. Der von Gutkind vorhergesagte Sozialismus hat jedoch wenig mit den sozialistischen Utopien des 19. Jahrhunderts gemein. Hofmannsthal scheint von diesen Ausführungen beeindruckt gewesen zu sein. Die in seinen skandinavi¬ schen Reden vertretene These, die gegenwärtige Krisensituation mache die Er¬ neuerung der Welt durch die „Tat“ des Menschen notwendig,110 beruht auch auf einigen Voraussetzungen in Volkers Welteroberung, denen im folgenden nachgegangen werden soll. Volkers Sozialismus als Lösung der Krise kommt in man¬ cher Hinsicht dem nahe, was Hofmannsthal viel später „konservative Revoluti¬ on“ nennt. Die Krise der Menschheit deutet Volker als eine Art Ernüchterung der Welt:111 Das Ideale sei einer materiellen Weitsicht gewichen. Die herkömmlichen Disziplinen, die für die Sinnstiftung und Erklärung der Welt zuständig waren Kunst, Naturwissenschaft (die nichts anderes als Technik sei), aber auch Sprache

103 A.a.O., S. 68. 104 A.a.O., S. 83. 105 A.a.O., S. 69. ,06 A.a.O., S. 74. Hofmannsthal übernimmt diese Formulierung in seinen Aufzeichnungen zu den Reden ’in Skandinavien: „Zustand, - zwiespältiges Hängen zwischen alten und neuen Nöten. Überlebtheit alles Alten, Erschöpfung, Auflösung, - etwas muß anheben, so unerhört, daß es uns alles Alte als fast philiströs erscheinen läßt.“ (RA II 40). 107 A.a.O., S. 69. 108 A.a.O., S. 7. 109 A.a.O., S. 68. "°Vgl. Anm. 18 dieses Kapitels. 111 Damit nimmt er Max Webers These von der „Entzauberung der Welt“ vorweg. Vgl. Max Weber, Religionssoziologie /, Gesammelte Aufsätze (1920), hrsg. v. J.C.B. Mohr, 19. Aufla¬ ge 1988, S. 513 ff. Mit Oliviers Herrschaft bricht ein „nüchterner Tag“ (SW XVI.2 217) an.

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und Philosophie - , hätten sich als untauglich erwiesen und seien „am Ende“.112 Um die allgemeine Sehnsucht nach Erneuerung, die „Not des Gebarens“, zu er¬ füllen, müsse eine Alternative zu den materialistischen Tendenzen gefunden werden, eine „neue Religiosität“. Die darin manifeste Ablehnung einer materialistischen Weltdeutung zieht keineswegs eine Geringschätzung der Realität nach sich. Das Göttliche liegt für Gutkind nicht in einem transzendentalen Reich - es sei überhaupt nicht mit ir¬ gendeiner räumlichen Vorstellung zu begreifen, sondern allenfalls vergleichbar mit einer Kraft oder mit Energie. Der Autor spricht von „elektrischer Göttlich¬ keit“113. Das Göttliche definiert er als das „Ur-Revolutionäre, das Ohne-Starre [...], das grenzenlose Über-sich-hinaus-Schwingen, das Tanz-Gesetz aller Wirk¬ lichkeit, das, was nur leben kann, wenn es vergeht im Kreißen und Gebären des Höheren“.114 Grundlage dieser von Volker geforderten „neuen Religiosität“ ist die Überzeugung, daß „Transzendenz und Wirklichkeit [...] nicht Gegensätze, sondern eins [sind]“.115 „Realia sunt universalia“ lautet die skurril verdrehte phi¬ losophische Formel, auf die er in der Weiterführung der platonischen Ideenlehre sein neues Weltbild bringt. Platons Leistung bestehe darin, daß er den Ideen eine höhere Wirklichkeit zugesprochen habe als den Dingen. Seine Philosophie stellt für den Autor eine „Wende ohnegleichen in der Menschheitsgeschichte“116 dar. Volker geht über Platon hinaus, indem er die Idee des Dualismus von Gott und Welt ablöst durch die Vorstellung einer von „elektrischer Göttlichkeit“ durchzuckten Wirklichkeit. Damit plädiert er - offenbar in der Tradition Scho¬ penhauers - indirekt für die Integration asiatischen Gedankenguts in die abend¬ ländische Kultur. Hofmannsthal, der sich seit den neunziger Jahren mit den ori¬ entalischen Religionen beschäftigte, vor allem anhand der Bücher Lafcadio Hearns und Okakuros117, registrierte diese Intention Volkers.11* Ohne buddhi¬ stische Glaubensinhalte, von deren Einführung Hofmannsthal sich wie viele sei¬ ner Freunde1 19 einen Ausweg aus der stark empfundenen geistigen Not ver¬ sprach, ist auch die Bedeutung der Rede Volkers vom „weltlichen Ich“ nicht zu verstehen. Volker stellt Natur, Welt und Mensch in ein dynamisches Verhältnis zuein¬ ander. Die Natur sei nur „Organ der Allheit“ und werde eines Tages enden, was durch die Entdeckung des Entropiegesetzes erwiesen sei. Im Wissen um die Endlichkeit der Natur sieht Volker jedoch eine Chance für die Menschen, zu ei¬ nem neuen Weltverständnis zu gelangen. Erst dieses vermöge die Fragen der Zeit

112 Van Eeden/Volker, a.a.O., S. 78 ff. In Bezug auf Technik und Sprache ist auf Hofmannsthals Randbemerkungen zu verweisen, die Hamburger, a.a.O., S. 32, erläutert. "J A.a.O., S. 105; Shupe-Wright bemerkt, daß Hofmannsthal diesen „rather silly“ Begriff ignoriere, was für seinen guten Geschmack spreche, a.a.O., S. 132. 1,4 A.a.O., S. 74. 115 A.a.O., S. 109. 116 A.a.O., S. 110. 117Siehe unten 3. Teil, Kapitel II. 1.2.2. "“Siehe Hamburger, a.a.O. S. 33. Vor allem Rudolf Pannwitz in seinem Buch Krisis der europäischen Kultur, in: Werke Bd. 2, Feldafing 1921; siehe hierzu 1. Teil, Kapitel IV.2.1.

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zu lösen. Die Natur werde gestaltet durch das „Kreißen der Welt“120, wobei der Begriff ,Welt‘ eher ein dynamisches Prinzip meint als etwas Starres. „Welt ist Werkstätte, ist Ort der Gestaltung, Erneuerung, Wechsel“.121 Der Sinn der Welt ist für Gutkind „Lösung“. Die höchste Lösung der Welt sei erreicht, wenn der Mensch ,Welt‘ in seinem Bewußtsein habe.122 Der Mensch sei deshalb der Sinn der Welt.123 Hier wird die zentrale Rolle, die das ,Ich‘ bei der Gestaltung der Welt spielt, deutlich, denn alles muß sich im ,Ich‘ lösen: Natur, Welt, Göttlichkeit und Mensch sind ineinander verwoben, und das ,Ich‘ trägt gleichsam die Verantwortung für die Zukunft dieser „Allheit“: „Im Ich erst enträtselt sich das Wunder der Naturgestaltung.[...] jeder Halm, jeder See, jeder Fisch sind nur Etappen der Ich-Werdung, alle Man¬ nigfaltigkeit des Natürlichen hat sich gestaltet am wachsenden Ich, ohne das Natur nichts als gestaltlose, chaotische, göttliche Not wäre. Die ganze Natur ist nichts als der zerlegte chaoswärts gesehene Mensch.“124

Gutkind meint mit diesem ,Ich‘ offenbar keine menschliche Individualseele, sondern ein überpersönliches zeitliches Ich“. Das zeitliche Ich' ist nicht an das „Kausal-Gesetz“125 gebunden, sondern kann aufgrund des Willens, der nicht Trieb, sondern „tiefster Grund“ ist, freie Persönlichkeit werden. Hofmannsthal übernimmt diese an buddisthischen Vorstellungen orientier¬ te Konzeption des ,Ichs‘ in den Aufzeichnungen zu seinen skandinavischen Re¬ den. Dort heißt es: „Zielgedanke: das Ich als Manifestation von Kräften, sowohl in seinen Lei¬ den wie in seinen Taten, beide synthetisiert. - Welteroberung ist Icheroberung; Weltentfaltung durch das Ich. Dienen, Hingabe ... wem? - einem Höheren, das sich in der Person aussprechen will (Propheten des Alten Bundes). Geläuterter Begriff der Persönlichkeit: ein glühendes Kraft- und Liebeszentrum, Gleichgewicht, Selbstbeherrschung, Liebeskraft.“ (RA II

41) Bei Volker ist der Begriff der .Persönlichkeit' eng mit dem des .Sozialismus' ver¬ bunden. Im christlichen Abendland sei die Vorstellung von .Persönlichkeit' aus der trinitarischen Gottesvorstellung entstanden. Hinter diesen „Gewinn der Per¬ sönlichkeit“126, also ins „Vorpersönliche“, könne der Christ nicht mehr zurück. Die asiatischen Religionen seien insofern „vorpersönlich“, als sie anstatt der Vorstellung eines persönlichen (dreifältigen) Gottes die eines „persönlichen Kosmos“ kennten. Um zum „Sozialismus der Persönlichkeit“ zu gelangen, müsse jedoch der al¬ te Persönlichkeitsbegriff überwunden werden, da er nur „eigennützige, haßver-

120Van Eeden/Volker, a.a.O., S. 89. 121 A.a.O., S. 95. 122 A.a.O., S. 94. 123 A.a.O., S. 89. 124 Ebd. 125 A.a.O., S. 91 f. 126 A.a.O., S. 99.

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schlossene Enge“ bedeute. Persönlichkeit ist für Gutkind und ebenso für Hof¬ mannsthal per definitionem grenzenlos. Das Persönliche zerfließe im Kosmos: „Aber das höchste der Ichheit ist Gott. Gott ist das stärkste Persönliche und Überpersönliche zugleich.“ Der neue „elektrische Mensch“ suche „über das Vorpersönliche, das unmoralisch geworden ist, und über das Persönliche, das eng geworden ist, hinweg das Leben und die Universalität der Person in soziali¬ stischen Unendlichkeiten“.127 Aus den Aufzeichnungen für Reden in Skandinavien geht hervor, daß Hof¬ mannsthal wie Volker für ein neues Verständnis des Persönlichkeitsbegriffes eintreten. Die zum Teil wörtlichen Zitate aus Volkers Welteroberung bezüglich der Wandlung des Begriffes durch die Einbeziehung asiatischer Weltvorstellung (RA II 39) zeugen von einer grundsätzlichen Übereinstimmung. Nur in der Begrifflichkeit weichen Hofmannsthals Folgerungen von diesem Persönlichkeitsbegriff Gutkinds ab. Was Volker unter ,Sozialismus1 versteht, ergibt sich aus den vorangehenden Erläuterungen seiner Thesen. Der materialistische Sozialismus könne nicht lei¬ sten, was der Welt not tue, deshalb fordert der Verfasser der Welteroberung einen Sozialismus, in dem aufgrund der Erkenntnis des oben beschriebenen wahren Wesens der Persönlichkeit alle materiellen Egoismen überwunden werden könn¬ ten. Dieser Sozialismus könne sich nicht als Massenbewegung durchsetzen, da bislang nur wenige die „neue Not“ spürten. Er sei vielmehr von einzelnen, den ,Königlichen“ van Eedens, zu erringen. Diese „Heldenmetaphysiker“, wie Volker sie nennt, seien kraft ihrer „sozialistischen Menschenliebe“ dazu berufen, durch die Liebestat der Selbstopferung ihren Mitmenschen den Weg zu dem verkünde¬ ten Weltzustand des Sozialismus zu bereiten und damit seine Verwirklichung vo¬ ranzutreiben. Volker fordert auf der Grundlage des gewandelten Persönlichkeitsbegriffes einen „Sozialismus der Persönlichkeit“ als zukünftige Gesellschaftsordnung, während Hofmannsthal - den Begriff ,Sozialismus“ vermeidend - einen „geläu¬ terten Freiheitsbegriff“ und die „Idee der Ordnung“ als Überwindung der Idee der Freiheit, wie sie in der französischen Revolution geprägt worden ist, vor¬ schlägt. Dabei ist ihm der Begriff der „geläuterten Persönlichkeit“ die wichtigste Voraussetzung.128 Er entwickelt ihn aus den Ideen, die er in van Eedens und Vol¬ kers Buch vorfindet. Das an das Kausalreich gebundene und deshalb unfreie Ich, an dem die Ma¬ terialisten festhalten, soll für Hofmannsthal .Persönlichkeit“ werden, das heißt sich selbst als Gesetz erkennen. „Wer keinem anderen Gesetz gehorchen muß als dem Gesetz seiner eigenen Person, ist frei“ (RA II 39). Die Vorstellung vom Le¬ ben als der Verwirklichung der „persönlichen Sendung“, der Glaube an ein Schicksalsgesetz, ist nichts anderes als das ,Karma“ der asiatischen Religionen. Hofmannsthal und Volker setzen sich beide für einen Persönlichkeitsbegriff ein, mit dem nicht mehr Individualrechte verbunden werden, sondern die „All-

127 A.a.O., S. lOOf. 128 Shupe-Wright ist der Auffassung, der „geläuterte Freiheitsbegriff“ sei mit dem „geläu¬ terten Persönlichkeitsbegriff“ identisch, a.a.O., S. 146.

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Verwobenheit“ des einzelnen mit dem kosmischen Gesetz, das dieser als geistiges Wesen zu erkennen fähig ist. 3. Gustav Landauer - ein Vorbild für Sigismund? Hofmannsthals Korrespondenz mit Landauer datiert aus der Periode zwischen der Jahrhundertwende und dem Beginn des Krieges.12' Ihr gegenseitiges Interes¬ se gründete eher in ästhetischen als in politischen Fragen. Während Landauer Hofmannsthal in erster Linie als den Verfasser des Chandos-Bnefes (E 461 ff.) schätzte, sich aber später von ihm distanzierte, befürwortete Hofmannsthal zeit¬ lebens Landauers „humanen Anarchismus“, der wie sein eigenes Denken mysti¬ sche Elemente aufweist. „Es gab einmal einen Helden, der stürzte sich mitten in die feindlichen Speere, die er zu Häuf mit seinen Armen umfaßte und in sein Herz preßte, um den Brüdern die Bresche zu öffnen“.130 Mit dieser heroischen „Liebestat der Bresche“ ruft Volker am Ende seiner Schrift die ,Königlichen1 auf, den Sozialismus vorzubereiten. Er konnte bei der Niederschrift noch nicht wissen, daß einer der Mitbegründer des Forte-Kreises mit einer solchen „Liebestat der Bresche“ Ernst machen würde: eben jener am 2. Mai 1919 während der Münchner Räterepublik ermordete Gustav Landauer. Landauer, Gutkind und van Eeden trafen sich zum ersten Mal in Berlin im Jahr 1910. Sie verfolgten ähnliche utopische Ziele im Rahmen lebensreformerischer Siedlungsgründungen.131 Die Begegnung hatte u.a. die Veröffentlichung von Auszügen der Welteroberung durch Heldenliebe unter der bakunischen Lo¬ sung „Asien zivilisieren!“ in Landauers Zeitschrift Der Sozialist zur Folge.

Im

Sozialist, der Zeitschrift des von Landauer 1909 gegründeten .Sozialistischen Bundes“, erschienen später auch einige Manifeste des Forte-Kreises.133 Daß Landauer trotz seines Austritts aus dem Forte-Kreis an der Idee eines „Bundes der führenden Geister“ festhielt, zeigt sein 1918 kurz vor dem Aus¬ bruch der Revolution verfaßter Aufsatz über Goethes Politik134. Nach Landauer wünscht Goethe einen „Bund der Berufenen, der über die Grenzen von Zeiten und Ländern hinweg eine wirkende Einheit bildet“.135 Von einem solchen „inter¬ nationalen Bund, getragen von wahrhaften Repräsentanten der Völker“, hätte Goethes unvollendetes Gedicht Die Geheimnisse handeln sollen, das mit dem

129 Norbert Altenhofer, Hugo von Hofmannsthal und Gustav Landauer, in: Hofmannsthal Blätter 4, Heft 19/20 (1978), S. 43-72. 13°Van Eeden/Volker, a.a.O., S. 122. 131 Die drei Männer lernten sich durch den Schwager Landauers, Adolf Otto, kennen, der als „Mitbegründer der Deutschen Gartenstadtbewegung in Lebensreformkreisen hohes Anse¬ hen genoß“, s. Holste, a.a.O., S. 220. 132 Der Sozialist. Organ des sozialistischen Bundes. Jg. 4, Nr.17, S. 133; vgl. Holste, a.a.O, S. 220. 133 Holste, a.a.O., S. 183. 134 Gustav Landauer, Goethes Politik, in: ders., Der werdende Mensch, hrsg. v. Martin Buber, Potsdam 1921, S. 138-154. Siehe auch Holste, a.a.O., S. 184 f. 135 Landauer, Goethes Politik, a.a.O., S. 144.

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Vers beginnt: „Warum sucht ich den Weg so sehnsuchtsvoll / Wenn ich ihn nicht den Brüdern zeigen soll!“136. Auch in seinem Märchen aus den Unterhaltun¬ gen deutscher Ausgewanderter habe der Dichter dieser Überzeugung Ausdruck gegeben, wenn er den Alten mit der Lampe sagen läßt: „Ein Einzelner hilft nicht, sondern wer sich mit vielen zur rechten Stunde vereinigt“137. Der Hinweis von Christine Holste, diese Goethe-Zitate entsprächen Landauers Jahre zuvor an das Projekt des Forte-Kreis geknüpften Hoffnungen, ist wohl berechtigt. Gustav Landauer hat sich selbst als „antipolitisch“ charakterisiert,138 was an¬ gesichts seines Lebenslaufes erstaunen muß. Wegen diverser „Konflikte mit der Staatsgewalt“ war er schon als junger Mann mehrmals inhaftiert worden.L,v Nach eigener Aussage war er Anarchist gewesen, bevor er Sozialist wurde,140 doch dies nicht etwa aus politischen Gründen, sondern aufgrund einer intensiven Kunster¬ fahrung: Von Wagner,

Ibsen und Nietzsche erfuhr der frühe Kropotkin-

Anhänger einen prägenden Einfluß schon in der Jugend. Auch

Hofmannsthal

hegte

eine

tiefe

Abneigung

gegen

das

„Profan-

Politische“.141 Was die beiden Männer zusammenführte, waren denn auch eher ästhetische Fragen als politische. Im letzten Kapitel seines Buch Skepsis und My¬ stik preist Gustav Landauer Hofmannsthals Brief des Lord Chandos als „Manifest der jungen Poesie“, in welchem sich „die Abkehr von dem, was sich bisher Poe¬ sie nannte und was Rhetorik war“142, vollziehe. Hofmannsthals Trauerspiel Das gerettete Venedig nach dem gleichnamigen Stück Thomas Otways verstand Landauer noch ganz aus dem Blickwinkel der kunstkritischen Problematik, die durch den Chandos-Brief eingeleitet worden war: Es thematisiere die Unfähigkeit des Dichtertypus (Javier), der in seiner Selbstbespiegelung wie in einer Scheinwelt lebt, handelnd in die Wirklichkeit einzugreifen. Was für Hofmannsthal später einen Ausweg aus der .ChandosKrise“ darstellt, nämlich die Zusammenarbeit mit Richard Strauß und Max Rein¬ hardt,143 wird von Landauer als Verrat an dem radikalen Konzept des Briefes empfunden. Während nach 1908 Landauers wachsende Distanz zu dem einst be¬ wunderten Dichter zunächst nur insofern bemerkbar wird, als er den Namen

l3° Landauer, Goethes Politik, a.a.O., S. 145. Teile dieses Gedichtes sind in Goethes Zueig¬ nung eingegangen, die er später seinen Gedichtsammlungen voranstellte. 137 Zit. nach Landauer, Goethes Politik, a.a.O., S. 152. Vgl. auch Goethe, HA Bd. VI, S. 230. Kurz nach dem Satz, den Landauer zitiert, wird derselbe Gedanke noch einmal formu¬ liert: „Wir sind zur glücklichen Stunde beisammen, jeder verrichte, jeder tue seine Pflicht, und ein allgemeines Glück wird die einzelnen Schmerzen in sich auflösen, wie ein allgemeines Un¬ glück einzelne Freude versehrt.“, a.a.O., S. 231. 138 In Kürschners Deutschem Literaturkalenderjahrgang 1913, vgl. Altenhofer, a.a.O., S. 43. 139 Altenhofer, a.a.O.,S. 44. Im Rückblick zum 25. Regierungsjubiläum von Kaiser Wilhelm II. Vor fünfundzwanzig Jahren, in: Der Sozialist 5 (1913) Nr. 12 vom 15 Juni, siehe Altenhofer, a.a.O, S. 44. 141 Siehe Einleitung. Gustav Landauer, Skepsis und Mystik, Versuch im Anschluß an Mauthners Sprachkntik, Nachdruck der 2. Auflage von 1923, Münster, Wetzlar 1978, S. 73, zit. auch bei Altenhofer’ a.a.O., S. 47. 143 Altenhofer, a.a.O., S. 46.

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Hofmannsthals in seinen Aufsätzen nicht mehr besonders hervorhebt, greift er nach der Erfahrung des Krieges Hofmannsthal in einem Aufsatz Zw Tolstois Ta¬ gebuch144 direkt an, indem er ihm und anderen Dichtern vorwirft, er nehme sich heraus, „mit jedwedem Glaubensgebilde [zu] spielen“, statt sich zu einer Über¬ zeugung zu bekennen.145 Den Chandos-Brief, „auf den ich einmal glänzend he¬ reingefallen bin“, wertet er nunmehr als ein Dokument solcher Spielerei. „Aber die Dichter - spielen zuviel“ schreibt er schon 1915 in dem bereits erwähnten Brief, der seine endgültige Absage an den Forte-Kreis enthält.146 Hofmannsthal hatte von dieser Kritik höchstwahrscheinlich keine Kennt¬ nis.147 Er blieb Landauer, mit dem er, vermutlich durch die Vermittlung von Fritz Mauthner, im Jahr 1903 persönlich zusammengetroffen war, auch weiterhin wohlgesonnen. Das Buch Skepsis und Mystik, das er zweimal „mit wahrer geisti¬ ger Aufheiterung“ gelesen hatte,148 stand neben den von Landauer herausgegebe¬ nen Briefen aus der Französischen Revolution144 und dem von Martin Buber 1929 veröffentlichten Doppelband Gustav Landauer. Sein Lebensgang in Briefen in Hofmannsthals Bibliothek.1’0 Das Erscheinungsjahr der Briefe Landauers - 1929 - beweist, daß das Interesse Hofmannsthals an dem Ermordeten tatsächlich bis an sein Lebensende anhielt. Der Briefkontakt war zwar schon vor dem Krieg ab¬ gebrochen, doch geht aus verschiedenen Äußerungen gegenüber Dritten hervor, daß er Gustav Landauer und dessen politische Vorstellungen weiterhin schätzte. So schreibt Hofmannsthal am 19. März 1919, wenige Wochen vor Landauers Ermordung, an Efraim Frisch: „Sind Sie in Berührung mit Gustav Landauer? Seine Flugschrift [„Die Ver¬ einigten Republiken Deutschlands und ihre Verfassung“ Frankfurt am Main 1918] in die Hand zu bekommen, hat mich wirklich belebt. Vielleicht ist es Träumerei, Vagheit - ja, aber es ist das Einzige, das Einzige, dem das ermüdete Herz zufliegt.“151

Nach Landauers Tod finden sich dann die folgenden Sätze in einem Brief vom 14. September 1919 an den damaligen Intendanten des Burgtheaters Stefan Großmann, der ihm seinen Aufsatz über Landauer geschickt hatte: „Landauers gedenke ich oft, es ist eigen, wie auch wenige Begegnungen mit einem Menschen höherer Art in einem nachwirken. Wenn Sie mit seiner Witwe [vom Tod Hedwig Lachmanns am 21.2.1918 hatte Hofmannsthal keine Kenntnis] in Verbindung stehen [...], so sagen sie ihr bitte, daß ich

144 In: Die Weltbühne vom 9.Mai 1918, siehe Altenhofer, a.a.O., S. 57. 145 Zit. nach Altenhofer, a.a.O., S. 47. 146 Landauer, Lebenslauf, a.a.O., S. 79. 147 Altenhofer, a.a.O., S. 58. 148 An Maximilian Harden in einem Brief vom 23. April 1904, zit. nach Altenhofer, a.a.O., S. 48. 149 Frankfurt am Main 1919, 2 Bde. l50Vgl. Hamburger, a.a.O., S. 32, Anna. 10. 151 Zit. nach Altenhofer, a.a.O., S. 59.

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ihm beim stillen Herumgehen in der Landschaft oft und stark nachtrauere [-]“152

Norbert Altenhofer weist darauf hin, daß die Bekanntschaft des Dichters mit dem Werk und der Person Landauers sowohl im Turm als auch in der Münchner Rede ihren Niederschlag gefunden habe.153 Er fordert, die „vielfältigen Verknüp¬ fungen [des Stückes] mit anarchischen Denktraditionen“ zu klären, und stellt die These auf, Hofmannsthal sei „der Gedankenwelt eines humanen Anarchismus in keinem Werk näher gekommen als in diesem Trauerspiel, mit dessen Helden auch dem ermordeten Landauer ein Denkmal gesetzt ist.“134 Ohne dieser Aufforderung in dem hier gegebenen Rahmen vollständig Fol¬ ge leisten zu können, sei Hofmannsthals Verständnis von Anarchismus“ kurz er¬ läutert: Der Begriff .Anarchie“ ist bei Gustav Landauer nicht politisch, sondern in erster Linie mystisch zu verstehen. In seinem frühen Aufsatz Anarchische Ge¬ danken über Anarchismus'" definiert er Anarchie als eine „Grundstimmung [...], die in jedem über Welt und Seele nachdenkenden Menschen vorhanden ist“; sie sei der Drang, sich selbst noch einmal zur Welt zu bringen, sein eigenes Wesen zu formen und danach die Umgebung, seine Welt, zu gestalten, soweit man ihrer mächtig ist.“ Der utopische „Zustand der Anarchie“ kann nur durch die Verbin¬ dung einzelner entstehen, die „durch unerhörtes, stilles und abgründliches Erle¬ ben“, durch einen „mystischen Tod“ nämlich, zu „neuen Menschen“ wiederge¬ boren seien.156 Die Bedeutung der mystischen Wiedergeburt in Hofmannsthals Werk ist mit dem Hinweis auf seine eigene Formulierung in Ad me ipsum am prägnante¬ sten erfaßt: Der Weg aus dem Zustand der Präexistenz in die Existenz (RA III 601) ist nur vor dem Hintergrund mystischen Gedankenguts, des christlichen wie des asiatischen, zu verstehen. Der Übergang aus der Präexistenz in das Le¬ ben meint Wiedergeburt, eben jenen Gedanken, der auch für Landauers „huma¬ nen Anarchismus“ die grundlegende Vorstellung bildet.13 Ein Element von Landauers „humanem Anarchismus“ - in dem oben er¬ wähnten Aufsatz distanzierte er sich von terroristischen Spielarten des Anar¬ chismus158 - ist die Vorstellung, sich durch Wiedergeburt zu einem neuen, selbstbestimmten Menschen wandeln zu können, der die Möglichkeit einer bes¬ seren Gesellschaftsordnung birgt. Ein Anarchist in diesem Sinne ist auch Sigis¬ mund in der ersten Fassung des Stückes, als er die Herrschaft des Kinderkönigs

152 Zit. nach Altenhofer, a.a.O., S. 71, Anm. 37. 153 Ein Beispiel für die direkte Aufnahme von Landauers Revolutionsschriften in den No¬ tizen zum V. Akt des Turm (erste Fassung) bezüglich der Charakterisierung der Adeligen lie¬ fert Altenhofer selbst, a.a.O., S. 71 f. Anm. 40. 154 Altenhofer, a.a.O. S. 59. 155 In: Die Zukunft 10 (1901/02), Bd. 37, Nr. 4 vom 26. Oktober 1901, S. 134-140. 156 Zit. nach Altenhofer, a.a.O., S. 45. 157Siehe 3. Teil, Kapitel II.2. 158 Vgl. auch den im Sozialist erschienenen Artikel Landauers: Zur Geschichte des Wortes Anarchie, auch in: Gustav Landauer, Entstaatlichung für eine herrschaftslose Gesellschaft, hrsg. v. Heinz-Jürgen Valeske, Westbevern 1976, S. 1-19, hier S. 18.

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vorbereitet. Der Turm symbolisiert das „unerhörte, stille und abgründliche Erle¬ ben“, von dem Landauer spricht. Der Satz „[...] der Weg zu einer neuen, höhe¬ ren Form der Menschengesellschaft führt durch das dunkle, verhangene Tor un¬ serer Instinkte und der terra abscondita unserer Seele, die unsere Welt ist“159 kann geradezu als Programm der ersten Fassung gelesen werden. Im Münchner Vortrag Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation be¬ stimmt Hofmannsthal die „Suchenden“ als „Träger einer produktiven Anarchie“ (RA III 31), weil sie als das „geistige Gewissen der Nation“ (RA III 30) „mit neuem Mut und Glauben die Anarchie legitimiert und dadurch zu erkennen gibt, sie halte diese für die gültige Erscheinungsform des Produktiven in unserem gei¬ stigen Handel und Wandel“ (RA III 31). Höchstwahrscheinlich dachte Hof¬ mannsthal auch hier an den humanen Anarchismus Landauers. Als „Suchende“ bezeichnete Landauer sich und Gleichgesinnte bereits 1907 in seinen Dreißig Sozialistischen Thesen, die er in Maximilian Hardens Zeitschrift Die Zukunft veröffentlicht hatte.160 In diesen Thesen finden sich ferner Erklä¬ rungen, denen Hofmannsthal zwanzig Jahre später noch zugestimmt hätte. So etwa definiert Landauer „Volk“ als „ein Mischgebilde aus Nationalität, staatli¬ chen Grenzen und Wirtschafts- und Kultureinheit. Der Staat und seine Grenzen sind elende Zufallsprodukte der erbärmlichsten Erscheinungsformen sogenann¬ ter Geschichte.“161 Die „Nationalität“ eines Menschen, die auch Hofmannsthal nicht von Staatsgrenzen herleiten würde, ist nach Landauer „eine schöne und lie¬ benswürdige Wahrheit; ihre Verbindung mit dem Wirtschaftsleben ist eine Lü¬ ge.“162 Nicht nur für die Münchner Rede, sondern für Hofmannsthals geschichts¬ philosophische Reflexionen in den zwanziger Jahren überhaupt lassen sich Bezü¬ ge zu Landauers Schriften herstellen. In der Abhandlung Die Revolution, die in der von Martin Buber herausgegebenen Monographienreihe Die Gesellschaft als 13. Band erschien,163 definiert Landauer .Revolution“ als den Übergang von einer ,Topie‘ zur nächsten.164 Mit dem Begriff ,Topie‘ als Gegensatz zur Utopie meint der Autor das „allgemeine und umfassende Gemenge des Mitlebens [i.e. Staat,

159 Zit. Nach Altenhofer, a.a.O., S. 45. 160 „Suchende sind wir“ stellte Landauer für seine Zeitgenossen fest, s. Die Zukunft, Bd. 58 (1907) und in: Gustav Landauer, Erkenntnis und Befreiung. Ausgewählte Reden und Aufsätze, hrsg. v. Ruth Link-Salinger, Frankfurt am Main 1976, S. 22-40, hier S. 39. 161 Landauer, Erkenntnis und Befreiung, a.a.O., S. 26. 162 A.a.O., S. 28; auch zit. bei Holste, a.a.O., S. 214 f. Zu Hofmannsthals Begriff von Na¬ tion siehe unten 1. Teil, Kapitel II.3. „Revolution nennen wir die Zeitspanne, während deren die alte Topie nicht mehr, die neue noch nicht feststeht.“, Gustav Landauer, Die Revolution, 13. Band der Sammlung sozial¬ psychologischer Monographien, Die Gesellschaft, hrsg. v. Martin Buber,

Frankfurt am

Main 1907, S. 14. Buber wollte auch Hofmannsthal als Autor für die Gesellschaft gewinnen, was trotz dessen grundsätzlicher Zustimmung me zustande kam (s. Bubers Brief an Hofmannsthal vom 24. Februar 1906). In seinem Antwortschreiben vom 11. März 1906 bat Hofmannsthal je¬ doch um die regelmäßige Zusendung dieser Reihe, was Buber ihm umgehend zusicherte. Des¬ halb ist anzunehmen, daß Hofmannsthal auch Landauers Schrift in die Hände bekam. Vgl. Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, a.a.O., S. 235 ff. 164 Landauer, Revolution, a.a.O., S. 12.

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Ständeordnung, Religionsinstitutionen, Wirtschaftsleben, geistige Strömungen, Kunst, Bildung und Ausbildung] im Zustand relativer Stabilität“.1“ Auf jede Topie folge eine Utopie und auf diese wieder eine Topie und so weiter. Auf dieses Gesetz bringt Landauer vorerst - offenbar von Nietzsche geprägt - den Lauf der Geschichte. Der Reformation mißt er im folgenden eine besondere Bedeutung bei: Mit ihr beginne eine Revolution, die noch nicht zum Abschluß gekommen sei und in der „wir noch selbst mitten drin stehen“.166 Landauers Ausführungen entsprechen fast wörtlich dem, was Hofmannsthal in der Münchner Rede eine „konservative Revolution“ nennt. Von dieser Revolution, die im Zeitalter der Reformation begonnen habe, hofft Landauer, daß sie in der Zukunft sich zu einer „Regeneration“ wandeln würde.167 Landauer betont dabei den visionären Zug seiner These und hypostasiert die folgende Alternative: „Entweder kommt bald der Geist über uns, der nicht Revolution, sondern Regeneration heißt; oder wir müssen noch einmal ins Bad der Revolution steigen“.168 In der Siedlungsbewegung erkennt Landauer den „Punkt, wo die Revolution, von der wir bis hierher gesprochen haben, weiter geht in die, von der sich nichts sagen läßt, weil sie noch entfernt ist. Auch von der sozialen Regeneration, auf die hier nur hinzudeuten war, ist an dieser Stelle nichts zu sagen“.I6V Was Landauer im Jahr 1907 als ferne Zukunftsvision formulierte und wofür er den Begriff .Regeneration1 fand, glaubt Hofmannsthal zwanzig Jahre später als eine - wenn auch unscheinbare - Wirklichkeit zu erkennen. Mit einem fast ver¬ zweifelten Willen zum Optimismus faßt er, was ihm in der desolaten Nach¬ kriegszeit noch wertvoll erscheint, unter den Begriff der .schöpferischen Restau¬ ration1. Dieses in der Forschung häufig auf Hofmannsthals politische Reflexion angewandte Wort170 wird von ihm selbst in einem kurzen Artikel über Europa aus dem Jahr 1925 verwendet. Der Zusammenhang lautet: „Unsere Epoche ist eine Epoche der Wiederherstellung - obwohl der Aus¬ druck der Schwäche nie ohne Scham, und der Wille zur Desintegration nie so ungezügelt war. Hinter dem Treiben der Untergangspropheten und Bacchanten des Chaos, der Chauvinisten und Kosmopoliten der Anbeter des Moments und der Anbeter des Scheins, im großen ernsten Hinter¬ grund der europäischen Dinge sehe ich die wenigen über die Nationen ver-

165 Landauer, Revolution, a.a.O., S. 25. 166 „Die Revolutio, die nun durch die Jahrhunderte hin weiter geht, bis sie zu einem neuen sich schöpft und gestaltet und nicht mehr Revolution heißt, sondern Regeneratio“ a.a.O., S. 58. 167 Wobei die Revolution als „vorübergehende Regeneratio“, in der Brüderlichkeit, die die Menschen eine, lebensnotwendig sei, a.a.O., S. 108 f. 168 A.a.O., S. 117. 169 Ebd. 170 Dafür spricht vor allem Hofmannsthals Freundschaft mit Rudolf Borchardt, der zwei Monate nach seiner Rede über Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation ebenfalls in Mün¬ chen eine Rede mit dem Titel Die schöpferische Restauration hielt.

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streuten Individuen, welche zählen, sich auf einen großen Begriff einigen: den Begriff der schöpferischen Restauration.“171

4. Rangs Kritik am Anarchismus: Das Problem der Gewalt Gustav Landauers humaner Anarchismus erfuhr nicht nur im Scheitern des Forte-Kreis-Projektes eine Kritik durch den damals kriegsbegeisterten Florens Christian Rang. Rang distanzierte sich auch nach dem Krieg, nach seiner auf Versöhnung ausgerichteten Schrift Deutsche Bauhütte, von einem Anarchismus Landauerscher

Prägung,

obwohl

seinem

eigenen

Denken

ein

anarchischer

Grundzug nicht abzusprechen ist. In dem Kapitel Das Reich, das als Teil eines Buches über Shakespeares Sonette172 1926 im ersten Heft der Zeitschrift Die Kreatur zuerst herauskam173, findet sich eine Kritik des Anarchismus, die das Problem der Gewalt berührt, das auch in Hofmannsthals Spätwerk von großer Bedeutung ist. Das Kapitel Das Reich stellt eine wichtige Quelle für Hofmanns¬ thals Münchner Rede dar, weshalb es erst in diesem Zusammenhang ausführli¬ cher behandelt werden soll.174 Ausgehend von der These, daß der neuzeitliche Nationalismus keine zufrie¬ denstellende Gesellschaftsform schaffen konnte, definiert Rang hier den Zustand der Nachkriegsjahre als Anarchie. Im „Bankrott der bloß nationalistischen Idee [...] ist aufgebrochen offen Anarchie“175. Die Gesellschaft „notleidet an rechter Idee“, welcher näherzukommen das Bemühen des Autors darstellt. „Der Aus¬ weg, den Anarchismus aus Anarchie finden will, zeigt die falsche Richtung“, denn Anarchismus, „scheinbar zersetzendst, ist schlimm-konservativ“ insofern, als er eine Idee, die Idee der Gewaltlosigeit, zum System erhebe. Gewaltlosigkeit als Verzicht auf physische Gewaltanwendung, wie sie der Anarchismus nach der Auffassung Landauers fordert, sei nicht das eigentliche Problem. Die Wurzel des Übels sei vielmehr die Gewalt eines Geistes, der sich anmaße, mit „organisatori¬ schen Ideen“ zu herrschen. Diese Form der Gewalt aber werde gerade vom An¬ archismus praktiziert, wenn er die Idee der Gewaltlosigkeit zum System erhebt. Florens Christian Rang lehnt den gewaltlosen Anarchismus, für den Lan¬ dauer sich einsetzte, entschieden ab. Da das deutsche Wort ,Gewalt1 als solches und vor dem geistesgeschichtlichen Hintergrund seiner politisch-sozialen Ver¬ wendung äußerst vieldeutig ist176, kann Rang in seiner Polemik gegen den pazifi-

171P IV S. 242 f. 172 Florens Christian Rang, Shakespeare der Christ, hrsg. v. Bernhard Rang, Heidelberg 1954. 173 Florens Christen Rang, Das Reich, in: Die Kreatur 1 (1926/27), H. 1, S. 104-123, hier S. 105 f. In einem Brief an Martin Buber vom 19.12.1926 erklärt Hofmannsthal, daß er sich zur Vorbereitung für den Vortrag in München „wirklich ziemlich tief in den Aufsatz unseres toten Freundes [Rang]“ versenkt hätte. - Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, a.a.O, S. 275. 174 Siehe unten 1. Teil, Kapitel IV, 3. 175 Rang, Das Reich, a.a.O., S. 105 f. 176 Vgl. den etwa hundert Seiten umfassenden Artikel zu den Begriffen Macht,Gewalt in Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, H - M, hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Stuttgart 1982, S. 817 ff.

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stischen Anarchismus die dort vorherrschende Verwendung des Begriffes ,Ge¬ walt1 im Sinne von ,violentia‘ ausspielen, indem er ihm die Bedeutung von ,potestas‘ unterschiebt. Hofmannsthals Vorstellung von „produktiver Anarchie

hat

zunächst nichts mit dem Problem der Gewaltlosigkeit zu tun. Daß aber auch er es ernst nahm, zeigt die im Turm thematisierte Frage, ob legitime Herrschaft auf Gewalt gegründet sein könne. Die Antwort Hofmannsthals ist Sigismunds Ge¬ waltverzicht: Nachdem er erfolgreich die Macht an sich gerissen hat, wirft er das Schwert der Königsherrschaft von sich (SW XVI.2 182). Der Verzicht auf die Si¬ cherung seiner Herrschaft durch die Waffe führt jedoch sogleich zum Verlust der Macht: Sigismund wird überwältigt und erneut eingesperrt. Auf potentielle Gewalt im Sinne von ,violentia‘ kann ein Herrscher, unabhängig davon, wie er seine Macht darüberhinaus definiert, offenbar nicht verzichten. Die ersten Wor¬ te, die Sigismund über die Lippen bringt, als sich ihm Basilius zu erkennen gibt, benennen das Thema des ganzen Stückes: „Woher - so viel Gewalt?“ (SW XVI.2 177), die Frage nach der Legitimation von Herrschaft. Vieles spricht dafür, die Antwort Hofmannsthals, die er durch den Turm gibt, in die Tradition der politi¬ schen Romantik einzuordnen. In Deutschland ist diese vor allem durch Friedrich Schlegel, Adam Müller und Franz von Baader repräsentiert.1

Kennzeichnend

für das Machtverständnis der politischen Romantik sei erstens die „Unterschei¬ dung der ,Macht', die mit dem älteren Begriff der .Autorität1 umschrieben wur¬ de, von der physischen .Gewalt'; zweitens die Fundierung der Macht im Glauben bzw. in Gott; drittens die instrumentale Zuordnung der Zwangsgewalt auf die Macht; viertens - gewissermaßen als Negativ - Machtzerfall oder/und Terror als Folge der Konfundierung des geistig-theologischen Machtbegriffs mit dem phy¬ sisch-materialistischen Gewaltbegriff.“171’ Hofmannsthal der politischen Roman¬ tik zuzuordnen läßt allerdings die anarchisch-revolutionären Aspekte seines Werkes außer acht, die sich - wie oben dargelegt - etwa in seiner Beziehung zu Gustav Landauer zeigten. 5. Martin Bubers Einwände gegen die erste Fassung des Turm Hat in der ersten Fassung des Turm Landauers utopischer Sozialismus in der Fi¬ gur des Kinderkönigs noch deutliche Spuren hinterlassen, so versagt sich der Dichter in der Überarbeitung des Dramas für die Bühne jeglichen hoffnungsvol¬ len Ausblick. Die Änderungen des Dramenschlusses sind in erheblichem Maße durch kritische Bemerkungen Martin Bubers herbeigeführt worden. Die Reaktion Bubers auf Hofmannsthals Trauerspiel Der Turm, das der Dichter ihm in der Fassung von 1925 zugeschickt hat, fällt bis auf den Hinweis, daß er ihm gewisse Einwände gegen den Schluß des Stückes bei Gelegenheit mündlich erläutern wolle, positv aus: „Nun darf man wieder an die Existenz der Tragödie in unserer Zeit glauben“, heißt es in dem Antwortschreiben vom 11. April 1926, und, seine Kritik wieder taktvoll relativierend, fügt er am Ende des

177 Geschichtliche Grundbegriffe, a.a.O., S. 912 f. 178 Geschichtliche Grundbegriffe, a.a.O., S. 913.

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Briefes hinzu: „Aber sehr viel wichtiger als aller Einwand ist die Tatsache, daß es dieses Werk gibt und daß man zu ihm und zu Ihnen stehen muß.“174 Auf Hofmannsthals Drängen hin180 legt Buber ihm in seinem nächsten Brief dar, warum der fünfte Akt seiner Meinung nach nicht recht zum übrigen Verlauf des Dramas passe. Mit der von der Zigeunerin veranstalteten Geisterstunde und mehr noch durch die Figuren des Kinderkönigs und seiner Gefolgschaft gleite die Handlung des Dramas in eine andere Ebene, was ihm „atmosphärisch [nicht] glaubhaft“181 erscheine. Der Kinderkönig, der das Erbe des sterbenden Sigis¬ mund antritt, sei eine zu lyrische Gestalt, als daß sie in das dramatische Gesche¬ hen einbezogen werden könne, ohne zu einem Spannungsabfall zu führen. Die „Sicht der echten Tragödie“ werde „durch die einer liebreizenden, aber nicht wahrhaft tröstlichen Fiktion verdrängt“.182 Diese Kritik wird von Hofmannsthal dankbar aufgenommen.183 Bemer¬ kenswert ist, daß Bubers Einwand weniger den Inhalt des Stückes betrifft als vielmehr - darin der Kritik Reinhardts ähnlich184 - die Dramaturgie. Buber liest den Turm mit den Augen eines Freundes, aus seiner Kritik spricht auch die Sor¬ ge um die Publikumswirksamkeit des Stückes. Hofmannsthal teilt naturgemäß diese Sorge. Dem Wiener Politiker Josef Redlich schreibt er, nachdem dieser auf die Zusendung der ersten Fassung des Turm nicht gleich reagiert hat, daß er sich mit diesem Stück, „ein paar [ihm] sehr werten über Europa verstreuten Men¬ schen ins Gedächtnis rufen“ wolle.185 Selbstzweifel und Melancholie sprechen aus diesen Worten. Die Berühmtheit der Jugend gehört längst der Vergangenheit an.186 Martin Buber gibt um die Mitte der zwanziger Jahre zusammmen mit Jo¬ seph Wittig und Viktor von Weitzsäcker die Zeitschrift Die Kreatur187 heraus. Die drei Herausgeber verwirklichen damit einen Plan, der auf den 1924 verstor-

>n Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, a.a.O., S. 250. 180 Vgl. Hofmannsthal an Buber am 8.5.1926, in: Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehn¬ ten, a.a.O., S. 255. 181 A.a.O., S. 255. 182 A.a.O., S. 256. 183 Siehe Brief vom 19.12.1926, a.a.O., S. 274 f. 184 Hofmannsthal schrieb an Leopold von Andrian, Reinhardt „spreche nur als Theater¬ mann, der an das maximum möglicher Wirkung denke“; vgl. Georgina A. Clark, Max Reinhardt and the Genesis of Hugo von Hofmannsthal's „Der Turm“, in: Modern Austrian Literature 17 (1984), Nr. 1, S. 1-32, hier S. 6. 185 Vgl. Brief vom 10.10.1925 in: Hugo von Hofmannsthal/Josef Redlich, Briefwechsel, hrsg. v. Helga Fußgänger, Frankfurt a.M. 1971, S. 58. 186 In dem von der Zeitschrift Die Literarische Welt (vom 21. Mai 1926, Nr. 21/22) veröffentlichten Ergebnis einer Abstimmung über die Frage „Welche Dichter gehören in die Sektion für Dichtkunst der Akademie?“ rangierte Hofmannsthal nur im unteren Drittel, gleich nach Arno Holz, den er selbst als Dichter nicht schätzte. Wegen Holz lehnte Hofmannsthal seine Mitgliedschaft in der Berliner Akademie der Künste ab; vgl. Briefwechsel mit Thomas Mann, in: Almanach/Fischer, Nr. 82, Frankfurt am Main 1968, S. 38. 187 Die Kreatur, hrsg. v. Martin Buber, Joseph Wittig und Viktor von Weitzsäcker, Bde. 13, Berlin 1926 ff.

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benen Rang zurückgeht.188 Der Kreatur verdankt Hofmannsthal u.a. die postum veröffentlichten Schriften Florens Christian Rangs, darunter auch dessen ReichAufsatz, den er bei der Abfassung der Münchner Rede zu Rate zieht. So bildet die Kreatur gewissermaßen eine Fortsetzung der Ideen des Forte-Kreises mit an¬ deren Mitteln.

II. Von der .österreichischen Idee1 zur ,Idee Europa1 Die Verwirklichung des Forte-Kreises und seiner Ideen scheiterte am Ausbruch des ersten Weltkrieges. Der Gegensatz zwischen den Positionen Gustav Landau¬ ers und Florens Christian Rangs erwies sich als unüberwindbar. Während Pazifi¬ sten wie Landauer den Krieg als Lösung der internationalen sowie der politischgesellschaftlichen Konflikte Europas ablehnten, erhoffte sich die Mehrheit eine Klärung der Krise durch die Katastrophe.189 Auch Hofmannsthal begrüßte den Kriegsausbruch zunächst in eben dieser Hoffnung. An seine Freundin Ottonie von Degenfeld schrieb er am 28. Juli

1914 unmittelbar vor Antritt seines

Landsturmkommandos in Istrien, daß „wir alle hier, bis zum letzten Holz¬ knecht, in der Sache und in alles, was daraus werden möge, mit einer Entschlos¬ senheit, ja mit Freude hineingehen, wie ich sie nie erlebt habe, ja nie für möglich gehalten hätte“.190 Nicht minder euphorisch zitierte er Hermann Bahr in einem Brief an den Freund Eberhard von Bodenhausen: „Vierzig Jahre hat man gelebt und hat nicht gelebt, und nun lebt man.“191 Die Begeisterung blieb nicht ungetrübt. Schon Anfang August wurde er in das Kriegsfürsorgeamt des Kriegsministeriums nach Wien abkommandiert, wo ihm seine Tätigkeit Einblicke gewährte, „die das Eintreten für Österreich vom Beginn des Krieges an als sperare contra spem erscheinen lassen.“192 Im Mai des

188 Rangs Zeitschrift sollte den Titel Grüße aus den Exilen erhalten. „Ein Jude, ein Katho¬ lik und ein Protestant sollten sich dazu vereinen. So tun es die Herausgeber“; vgl. das Vorwort des ersten Bandes der Kreatur, S. 1. 189 Eine gute Zusammenfassung der unterschiedlichen Reaktionen von Intellektuellen auf den drohenden Krieg bietet Hanna Delf, „Prediger in der Wüste sein ...“. Gustav Landauer im Weltkrieg, in: Gustav Landauer Werkausgabe Band 3. Dichter, Ketzer, Außenseiter. Essays und Reden zu Literatur, Philosophie, Judentum, hrsg. v. Hanna Delf, Berlin 1997, S. XXIII ff. 190 Hugo von Hofmannsthal/Ottonie von Degenfeld, Briefwechsel, hrsg. v. Marie Theres Miller-Degenfeldt, 2. verb. u. erw. Aufl., Frankfurt am Main, S. 310 f.; auch zit. bei Werner Volke, Hugo von Hofmannsthal, Reinbeck bei Hamburg, S. 140. - Die Hervorhebung stammt von Hofmannsthal. 191 In diesem Brief vom 7. Oktober 1914 legte Hofmannsthal detailliert seine Erwartun¬ gen vom

Krieg und seine Einschätzung der Situation

Österreichs

dar,

s.

Hofmanns¬

thal/Bodenhausen, Briefe der Freundschaft, Berlin 1953, S. 169-172. Das nicht gekennzeichnete Bahr-Zitat wurde von Heinz Lunzer, a.a.O., S. 76 identifiziert. 'Volke, Hofmannsthal, a.a.O., S. 140 f. Werner Volke belegt diese Interpretation mit ei¬ nem Brief Hofmannsthals an den Wirtschaftspolitiker Gustav Stolper, worin er seinen vorder¬ gründigen „Optimismus“ und seinen Ekel vor den „Zufriedenen“ erklärte. Er wollte Stolper Einlaß zu einem politischen Diskussionskreis verschaffen, in dem „keine Gesinnung, außer der politisch unsittlichen, und keine Geistesart, außer der spezifisch österreichischen' ausgeschlos¬ sen“ sein sollte.

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folgenden Jahres gelang es ihm mit Hilfe des Freundes und einflußreichen Par¬ lamentariers Josef Redlich* von diesem militärischen Posten abberufen zu wer¬ den.1W Als Dichter zog es ihn gleichsam an die geistige Front, er intensivierte seine publizistische Tätigkeit194 und unternahm in kulturpolitischer Mission ver¬ schiedene Vortragsreisen ins verbündete und neutrale Ausland.195 Motiviert war dieser persönliche Einsatz durch die Liebe zu Österreich, mit dessen Schicksal er sich tief verbunden fühlt.196 1. Die .österreichische Idee1 Hofmannsthals Verhältnis zu Österreich ist in seiner geradezu existentiellen Be¬ deutung für den Dichter schon oft beschrieben worden.197 Sie geht weit über ei¬ nen landläufigen Patriotismus hinaus: Hofmannsthal sieht in .Österreich1 weni¬ ger den schon lange vor dem Weltkrieg zerbröckelnden Staat als ein Ideal, ein geistiges, bisweilen sogar mystisches Konzept,198 das dem nahekommt, was nicht nur Hofmannsthal selbst als .österreichische Idee1 bezeichnet hat.199

193 Bis April 1915 war Hofmannsthal für die Pressearbeit des Kriegsfürsorgeamt zustän¬ dig. 194 Siehe Artikel wie Apell an die oberen Stände, Boykott fremder Sprachen ?, Die Bejahung Österreichs, Bücher für diese Zeit, Aufbauen nicht Einreißen u.a.; alle in RA II. An Eberhard von Bodenhausen schrieb Hofmannsthal über seine Arbeit: „Seit ich in diese Dinge hineinsehe, für möglich halte, zu helfen, habe ich die Depression, nicht vor dem Feind zu stehen, überwunden. Man kann hier mehr tun.“, s. Hofmannsthal/Bodenhausen, a.a.O., S. 171. 195 Die im Zusammenhang mit dem Buch Welteroberung durch Heldenliebe erläuterten Re¬ den in Skandinavien sind ein Beispiel. 196 Bezeichnend hierfür ist eine Episode, die Hofmannsthal Carl Jakob Burkhardt berich¬ tete: „Einmal, an einem sehr heißen Abend ging ich durch Kalkburg; vor einem Gasthaus im Freien spielte ein halbzerlumpter Bursche einen Walzer, wie man lange nicht mehr spielen wird, ein paar Schritte weiter in einem armseligen Häusl spielten zwei Menschen wunderschön eine Beethovensonate und noch ein Stück weiter sang eine junge Frauenstimme zart und ge¬ fühlvoll, so völlig musikalisch; es war im letzten Kriegssommer, und das war einmal noch mein altes Österreich“. In diesem Wortlaut zitiert Burckhardt ihn in seinen Erinnerungen an Hof¬ mannsthal,, in: Helmut A. Fiechtner (Hrsg.), Hugo von Hofmannsthal. Der Dichter im Spiegel seiner Freunde, Wien 1949, S. 122. Im Briefwechsel von Hofmannsthal und Burckhardt lautet der letzte Halbsatz weniger pathetisch: „[...] ich freute mich über Österreich“; vgl. Hugo von Hofmannsthal/Carl Jakob Burckhardt, Briefwechsel, hrsg. v. C.J. Burckhardt und Claudia Mertz-Rychner, Frankfurt am Main 1991, S. 58. 197 Vgl. Frederick Ritter, Hugo von Hofmannsthal und Österreich, Heidelberg 1967. - Vik¬ tor Suchy, Die „österreichische Idee“ als konservative Staatsidee bei Hugo von Hofmannsthal, Ri¬ chard von Schaukal und Anton Wildgans, in: Staat und Gesellschaft in der modernen österreichi¬ schen Literatur, hrsg. v. F. Aspetsberger, Wien 1977, S. 21-43. - Shupe Wright, a.a.O., S. 152 ff. - Peter Pawlowsky, Die Idee Österreichs bei Hugo von Hofmannsthal, in: Österreich in Ge¬ schichte und Literatur 7 (1963), S. 175-186. - Michel Vanhelleputte, Le Patnotisme autnchien de Hugo von Hofmannsthal et la premiere guerre mondiale, in: Revue beige de philologie et d'histoire 35 (1957), S. 683-704. . ’98 Vgl. Ritter, a.a.O., S. 23 und Suchy, a.a.O., S. 25. Dem persönlichen Verhältnis zu Österreich kommt wahrscheinlich eine Stelle aus den Briefen eines Zurückgekehrten sehr nahe, wo der Autor der Briefe beschreibt, wie ihn auch in größter räumlicher Entfernung die Erinne-

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Mit dem Titel Die österreichische Idee ist ein ursprünglich in französischer Sprache verfaßter Artikel Hofmannsthals aus dem Jahr 1917 überschrieben.200 Hofmannsthal umreißt dort, vor allem zur Abwehr kriegsbedingter Vorurteile gegen Österreich im Ausland, das Wesentliche dieser Idee. Er will zeigen, inwie¬ fern gewisse Eigenschaften der alten Donaumonarchie für ein zukünftiges Euro¬ pa vorbildlich sein könnten. Das Habsburger Reich zeichne sich gegenüber anderen europäischen Staa¬ ten durch seine besondere geographische Situation und durch sein Alter aus. Die Lage an den „Ufern des größten Stromes, der Europa mit dem Orient verbindet“ (RA II 455), ermöglichte von je her einen regen Kulturaustausch. In der „inne¬ ren Polarität“, gleichzeitig Abschluß und fließende Grenze zwischen einem eu¬ ropäischen Imperium und dem halb europäisch, halb asiatischen Völkergemenge zu sein, liege das Wesen dieses Reiches, das sich Jahrhunderte lang in seiner Ei¬ genart nicht gewandelt habe. „Es ist nicht gleichgültig,“ schreibt Hofmannsthal, „ob man von gestern oder als Mark des Heiligen Römischen Reiches elfhundert Jahre oder als römische Grenzkolonie zweitausend Jahre alt ist [...]“ (RA II 455). Die Überzeugung, daß in der ,österreichischen Idee“ das Erbe des Heiligen Römischen Reiches fortlebt, hat Hofmannsthal auch später nie aufgegeben.201 Der Nationalismus des 19. Jahrhunderts habe dazu geführt, daß Europa die „ein¬ zige Aufgabe und raison d’etre Österreichs“ vergaß, nämlich den „Ausgleich der alteuropäischen lateinisch-germanischen mit der neu-europäischen Slawenwelt“ zu schaffen. Damit aber ein zukünftiges Europa den „polymorphen Osten“ ein¬ binden könne, bedürfe es der .österreichischen Idee“.202 Diese .österreichische Idee“ ist nicht nur von Österreichern beschworen worden. Der französische Dichter Paul Claudel lobt später das Habsburgerreich als ein „chef-d’oeuvre de l’art jesuite [...] ou baroque“203 und trifft den Kern der Idee in der folgenden Beschreibung:

rung an das Trinken aus einem Brunnen in Gebhartsstetten „für eines Blitzes Dauer“ an eben¬ diesen Ort versetzen konnte (E 547). '‘"Der Gedanke der .österreichischen Idee“ findet sich schon bei Metternich; vgl. Suchy, a.a.O., S. 22. 200 Im Original lautet die Überschrift La Vocation de l'Antriebe im ersten Heft der in Wien erscheinenden Revue Autrichien, kurz darauf in der Neuen Züricher Zeitung; siehe RA II 454458. 301 „Gefühl der Zugehörigkeit zum Heiligen Römischen Reich ungebrochen“ (RA III 622). 303 Hofmannsthal trat vor allem nach dem Krieg für die slawischen Völker und ihre Ein¬ bindung in Europa ein. Er bemühte sich später nachdrücklich um eine Übersetzung des Turm ins Tschechische, da er das Trauerspiel gerade auch auf osteuropäischen Bühnen gespielt haben wollte; vgl. Martin Stern, Hofmannsthal und Böhmen, in: Hofmannsthal-Blätter, Heft 3 (1969) S. 195-215. Paul Claudel, A la Louange de l'Autriche, in: Oeuvres Complete, tome 29, Proses et Poesie Diverses, S. 195-199, hier S. 196. Claudels Werk, insbesondere den Dramen Tete d'or und La Ville verdankte Hofmannsthal einige Anregungen zum Turm. Vgl. Hamburger, a.a.O., S. 67 f. und Hofmannsthal SW XVI. 1. 151. Ferner: Marianne Billeter-Ziegler, Hofmannsthal und Claudel, in: Hofmannsthal-Blätter 17/18 (1977), S. 311-325.

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„11 y a eu pendant des siede au centre de l’Europe un empire qui a realise sous le sceptre des souverains debonnaires cette espece de miracle federal et musical, une congregation de peuples aussi differents que possible par l’origine,

par les

traditions

et

par la

langue

et

cependant,

sauf les

froissements inevitables, vivant en paix et en joie autour de la meme table et du meme foyer.“204

In Anlehnung an den heiligen Stefan, der gesagt haben soll: „Faible et indigent est le royaume qui est constitue d’un seul peuple et d’une seule langue“205, begründet Claudel die Vorteile dieses Reiches gleichsam ästhetisch: „Pauvre et debile en verite est Part qui ne vit qu’un seul sentiment et d’une seule idee.“20 Das Wort des heiligen Stefan scheint auch Sigismund zu kennen, als er seinen großen Plan, der nun gescheitert ist, in seiner letzten Rede darlegt: „[...] ich will euch kleine Völker neu mischen in einem großen Mischgefäß“ (SW XVI.1 133). In seiner 1916 in Warschau gehaltenen Rede Österreich im Spiegel seiner Dichtung (RA II 13-25) betont Hofmannsthal die mystische Komponente der ,österreichischen Idee1: Sie sei der im Geistigen angesiedelte „geometrische Ort für alle möglichen (praktischen) Austriazismen“ und könne nur „wollend und glaubend“ erfaßt werden (RA II 25). Damit eine Völkergemeinschaft ihren „kulturellejn] Besitz [...] tiefer und lebendiger“ als gewöhnlich wahrnehmen könne, sei es nötig, sich über den Be¬ griff des .Wirklichen1 zu verständigen. Der Krieg habe erkennen lassen, daß das .Wirkliche“ dort zu finden ist, „wo die größte, unbedingteste, innerste, lauterste Kraft ist“ (RA II 24), womit Hofmannsthal das Volk meint. Er vergleicht die Geistigkeit der Gebildeten nach der Erfahrung des Krieges mit einer bekritzelten Tafel, während die Tafel des Volkes mit wenigen neuen Zeichen versehen sei, die zu deuten die wichtigste Aufgabe jener „geistig Mündigen“ darstelle.207 Diese Zeichen seien nicht mit „Reflexion und Erkenntnis“ zu begreifen. Die „österrei¬ chische Idee“ sei, wie auch die „dunklen Tiefen des Individuums, wo zwischen Geistigem und Leiblichem eine fließende Grenze aufgerichtet ist“, allein „wol¬ lend und glaubend“ zu erfassen; in der .österreichischen Idee“ verbinde sich ein „Hauch von geistigem Universalismus“ mit den verschiedenen konkreten For¬ men eines „praktischen Austriazismus . Nur in diesem Sinne könne ein zukünf¬ tiges Österreich gewollt und geglaubt werden (RA II 25). Eine solche Erkennt¬ nis durch Wollen und Glauben aber ist eine mystische Erkenntnisform in einer säkularen Welt. Damit ist eine Grundproblemtik, der sich Hofmannsthal im Turm stellt, paradigmatisch angesprochen.

204 Claudel, a.a.O., S. 195. 205 Ebd. 206 A.a.O., S. 198. . 207 Hofmannsthal gibt sich hier indirekt als Gegner der sensuahstischen Philosophie, die von der Seele des Menschen als einer tabula rasa ausgeht, zu erkennen. Er stimmt stattdessen mit asiatischen Überzeugungen überein, nach denen Erfahrungen aus früheren Leben auf der Tafel der Seele eingetragen seien. Vgl. Lafcadio Hearns, Kokoro, übersetzt von Berta Franzos, Frankfurt am Main 1905, S. 202. So sagt auch der Arzt von Julian im Turm, das Wort ,Acheronta movebo“ sei „von Geburt an auf der Tafel [seiner] Seele geschrieben“ (SW XVI.2 186).

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2. Hofmannsthals Begriff von .Nation1 In der Rede Österreich im Spiegel seiner Dichtung will Hofmannsthal sein Eintre¬ ten für einen „praktischen Austriazismus“ (RA II 25) nicht als Provinzialismus mißverstanden wissen. Ausgehend von einem Vergleich der klassischen deut¬ schen Literatur der „Pastorensöhne“ mit der volkstümlichen österreichischen Dichtung der „Bauernsöhne“, erläutert Hofmannsthal den Begriff ,Nation1 in seiner Anwendung auf den deutschsprachigen Kulturkreis. Diesen Begriff der ,Nation1 versteht Hofmannsthal nicht synonym mit „Nationalstaat“.20s In der oben erwähnten Rede mahnt er an, das Wort .Nation1 nicht zu überanstrengen. Er beruft sich auf Bismarck, der in seinen Memoiren erklärt hatte, daß der Begriff keine „scharfe Grenze der Anwendung“ habe, son¬ dern vielmehr als ein „ins Unendliche sich verlierender Hintergrund“ mitgedacht werden müsse. Für das deutsche Reich gelte, daß es auf „dem Dualismus der na¬ tionalen Motive“ beruhe, die sich „auf der Basis dynastischen Familienbesitzes gebildet“ hätten (RA II 22). Hofmannsthal erläutert im Anschluß hieran das besondere, auf einem „Dualismus der Gefühle“ beruhende Verhältnis Österreichs zum deutschen Reich sowie die Rolle, die sein Land innerhalb des deutschen Kulturkreises ein¬ zunehmen habe. Österreich dürfe sich nicht vollständig vom deutschen Wesen vereinnahmen lassen und müsse sich seiner integrierenden Funktion bezüglich der im Osten und Südosten angrenzenden Völker immer bewußt bleiben. Die al¬ te Idee des deutschen Wesens, die in der Jahrhunderte währenden Ausbreitung deutscher Kultur liege, offenbare sich nicht im deutschen Nationalstaat, sondern in der die Gegensätze vereinigenden Haltung, die Österreich repräsentiert. Das Prinzip der ,coincidentia oppositorum1, an das man sich hier erinnert fühlt, kennzeichnet zugleich eine spezifisch „österreichische Denkform“, die gerade Hofmannsthal eigen ist.209 Hofmannsthal verurteilt den modernen, ihm aufdringlich erscheinenden Nationalismus, der sich darin äußere, daß in allzu eindeutigen Worten erklärt werde, was „deutsch“ sei. Die Eigenart des deutschen Wesens sei es gerade, nicht so einfach in Worte gefaßt werden zu können wie etwa der Nationalstolz der Franzosen: „Deutsches Wesen offenbart sich durch Bescheidenheit im Glück - bis zur Dumpfheit, bis zur Zerfahrenheit - , durch unbedingten Aufschwung im Unglück. Sich selbst zu bereden, ist ihm widerstrebend.“ (RA II 23 f.)

208 Nach Oswalt von Nostitz leitet er den Begriff aus dem mittelalterlichen Reichsgedan¬ ken her und versteht ihn „etwa im Sinne des Volksbegriffs der Romantik“, Oswalt von Nostitz, Zur Interpretation von Hofmannsthals Münchner Rede, in: Für Rudolf Hirsch. Zum 75. Geburts¬ tag am 22. Dezember 1975, Frankfurt am Main 1975, S. 261-278, hier S. 262. Vgl. Suchy, a.a.O., S. 36. In eben dieser Idee der .Coincidentia oppositorum' erkennt Hartmut Heinze die Affinität von Hofmannsthal und Goethe: vgl. Hartmut Heinze, Hof¬ mannsthals Hinweise auf Goethe, in: Goethe-Jahrbuch, Weimar 103 (1986) S. 263.

S 257-265

hier

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Vor einem „engherzigen“ Nationalismus warnt er auch an anderer Stelle mit dem berühmten Wort von Grillparzer: „Von der Humanität durch die Nationalität zur Bestialität.“213 Durch eine Öffnung für dieses „im Glück bescheidene“ deut¬ sche Wesen müsse Österreich sich gegenüber Deutschland definieren. Nur in¬ dem es offen sei, aber nicht von ihm vereinnahmt werde, könne Österreich seine Identität wahren. Die Frage des Verhältnisses Österreichs zu Deutschland be¬ schäftigte Hugo von Hofmannsthal stark. Abgesehen davon, daß sich dieses Verhältnis auch in den persönlichen Beziehungen des österreichischen Dichters zu seinen deutsch-preußischen Freunden - Eberhard von Bodenhausen, Helene von Nostitz usw. - spiegelt,211 wird es von Hofmannsthal selbst oft genug zum Thema gemacht: Die in der Berliner Voss’schen Zeitung erstmals veröffentlichen Artikel Wir Österreicher und Deutschland (10.1.1915) und das Schema Preuße und Österreicher (25.12.1917), aber auch der Figur des Herrn Neuhaus aus dem Schwierigen vermitteln eindringlich das ambivalente Verhältnis des Österreichers zum Norddeutschen. Hofmannsthal begreift Österreichs Selbstverständnis damit aus der Bezie¬ hung zu Deutschland. Die Zugehörigkeit zur deutschen Kulturnation betont er dabei ebenso wie die politische Abgrenzung zum deutschen Nationalstaat.212 Hofmannsthal ist ein Gegner des Anschlusses von Österreich an Deutschland. Seinen Standpunkt zu dieser Frage begründet er 1919 ausführlich gegenüber Efraim Frisch. Der staatliche Anschluß würde aus Österreich und Deutschland einen modernen Massenstaat machen, der des Erbes des alten Reiches insofern unwürdig wäre, als er nicht wie dieses auf „geistiger Macht und Autorität“, son¬ dern „auf den Materialismus der Ziffer und des Vertrages gebaut“ wäre.213 Hof¬ mannsthals soll seine Gegnerschaft gegen den Anschluß einmal lakonisch mit dem Satz: „Wenn der Anschluß kommt, werde ich Schweizer!“ formuliert ha¬ ben.214 Vor diesem Hintergrund ist der Begriff „deutsche Nation“ - wie Hof¬ mannsthal ihn auch im Titel seiner Münchner Rede gebraucht - zu verstehen. Eine Besonderheit der deutschen Kulturnation ist nach Hofmannsthal deren Internationalität. Diese Überzeugung spricht er am deutlichsten in dem 1923 verfaßten Aufsatz Reinhardt bei der Arbeit (RA II 295 ff.) aus: Das deutsch¬ österreichische Theaterwesen, dem der Regisseur entstamme, sei mit seinem von je her international ausgerichtetem Repertoire möglicherweise der Grund für dessen weltweiten Ruhm. In der Oper stünden neben Gluck, Mozart und Wag-

210 In Bemerkungen (RA II 476). 211 Vgl. Volke, Hofmannsthal, a.a.O., S. 144. 212 Siehe den Anhang im Anschluß an den Aufsatz von Nostitz über die Münchner Rede, a.a.O., S. 277 f. 213 Zit. nach Nostitz, a.a.O., S. 277 - Hofmannsthal hat seine Einstellung zur Frage des Anschlusses in seinem letzten Lebensjahrzehnt offenbar nicht geändert. Dies ist jedenfalls nach dem, was Nostitz über gewisse Begleitumstände der Münchner Rede zu berichten weiß, hinreichend begründet: Eine gleichzeitig in München veranstaltete „österreichische Wehe , die „zur Vorbereitung des Anschlusses“ beitragen sollte, wurde von Hofmannsthal ebenso wie von Karl Vossler boykottiert. Nostitz, a.a.O., S. 278. 214 Nostitz, a.a.O., S. 277. Nostitz benennt Rudolf Borchardt und Leopold von Andrian als Zeugen dieses Satzes. Siehe auch Andnans Beitrag in: Fiechtner, a.a.O., S. 55.

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ner selbstverständlich Verdi und Berlioz; auf der Schauspielbühne würden Sophokles, Calderön und Moliere „neben Goethe und Schiller, neben Bernhard Shaw, Hauptmann, Ibsen oder Tolstoi“ (RA II 295) gespielt - von Shakespeare ganz zu schweigen. „[...] auch der starke Nationalismus in manchen Momenten des neunzehnten [Jahrhunderts], oder im jetzigen Augenblick, haben an dem universellen Geist der deutschen Bühne nichts wesentliches verändert“ (RA II 296). Ausgehend von diesen Sätzen über das Theater - Hofmannsthals eigentli¬ cher Wirkungssphäre - läßt sich am ehesten seine Trauer um das verlorene große Österreich verstehen, in dem er diese geistige Universalität repräsentiert sah. 3. Die ,Idee Europa1 „Meine Heimat hab ich behalten, aber Vaterland hab ich keins mehr, als Europa“, schreibt Hofmannsthal 1926 an Carl Jakob Burckhardt.213 Das „Vaterland“ ist das alte Österreich, das die österreichische Idee1 noch am ehesten verkörpert hat. Klein-Österreich kann all das, was Hofmannsthal in diese Idee gelegt hat, nicht mehr darstellen. Der Gedanke des Anschlusses an Deutschland kommt für ihn nicht in Frage, also muß die Zukunft in einem neuen Europa liegen. Nur in dieser Dimension kann der Gedanke des fruchtbaren Kulturaustausches unter den Völkern zum Ziel einer auch nach dem Krieg fortgesetzten kulturpolitischen Arbeit werden. Die ,Idee Europa“ ist für Hofmannsthal jedoch nicht bloß eine Konsequenz der österreichischen Idee“. Das Schicksal des Kontinents beschäftigt Hofmanns¬ thals nicht erst seit dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches. Erst in der Nachkriegszeit hingegen gewinnt die Zukunft Europas eine größere Aktualität. Die Übertragung der zuvor in Österreich gesetzten Hoffnungen auf Europa hilft ihm, den Verlust zu kompensieren.216 Hofmannsthal hält die gemeinsam mit Rudolf Borchardt21 konzipierte Re¬ de Die Idee Europa am 31. März 1917 in Bern. Eine schriftliche Ausarbeitung dieses Vortrages ist nicht überliefert, lediglich die Skizzen sind bekannt (RA II 43 ff.). Ausgehend von der Erfahrung des Weltkrieges als einer Krise, die geistesund kulturgeschichtliche Ursachen hat, versuchen die beiden Dichter, weniger konkret-politische als geistig-religiöse Richtlinien für ein neues Selbstverständ¬ nis der zukünftigen Europäer vorzuschlagen. Ungefähr die erste Hälfte der Notizen wird Rudolf Borchardt zugeschrie¬ ben.2KS Borchardt versteht den Begriff .Europa“ „nicht unpolitisch, sondern anti-

215 Hofmannsthal/Burckhardt, a.a.O., S. 210. 216 Gregor Streirn sieht in Hofmannsthals Kriegspublizistik „die .europäische Idee1 und die .österreichische Idee' [...] von Beginn an miteinander verknüpft“, a.a.O., S. 182 und hält beide Entwürfe „für weitgehend identisch“, a.a.O., S. 185. 217 Vgl. die bibliographische Notitz von Schoeller zur Rede Die Idee Europa, RA II 517. 2lbEbd. - Jürgen Prohl legt „die Zäsuren zwischen Borchardts und Hofmannsthals Noti¬ zen vom gedanklichen Gehalt her“ fest und nimmt vor allem Borchardts Vorliebe für Analo¬ gieschlüsse - etwa den Vergleich der Peloponnesischen Kriege und der Diktatur Caesars mit dem ersten Weltkrieg hinsichtlich ihrer vergleichbaren kulturgeschichtlichen Bedeutung - so¬ wie dessen humanistische Weltauffassung als Indiz für seine Zuordnung. Siehe Jürgen Prohl,

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politisch, bewußt unweltlich“ (RA II 46) und stellt diesem den politischen Be¬ griff des Kontinentes gegenüber, der vor allem im 19. Jahrhundert in der von den Machtinteressen der Nationalstaaten geprägten Politik manifest geworden war und sich im allgemeinen Bewußtsein durchgesetzt hatte. Aufgrund dieser Ent¬ wicklung sei „die gemeinsame europäische Mission“ in Vergessenheit geraten.21v Hofmannsthal vertieft die Thesen Borchardts, indem er den modernen in¬ dustriellen Fortschrittsglauben und die damit einhergehende Vorherrschaft ma¬ terialistischer Weltanschauung als Ursachen der Entfremdung von der alten eu¬ ropäischen Sendung ausmacht. Diesem modernen Europa der Vorkriegszeit, in dem „Individualismus, Mechanismus, Merkantilismus“ (RA II 51) das Leben be¬ stimmten, steht Hofmannsthal das Weltbild und die Religiosität der asiatischen Kulturen gegenüber.229 Den Krieg deutet er als eine Art mystischen Todes der Kultur, insofern danach das Überpersönliche wieder Wirklichkeit werden könne. Daraus ergebe sich die Hoffnung auf die Geburt einer neuen europäischen Idee (RA II 52). Diese Idee basiere auf einem „neuen europäischen Ich“, welches sich durch „ein geändertes Verhältnis [...] zum Dasein, zum Geld“ von der früheren Individualseele unterscheidet. „Sozialisierung des Staates: Realisierung von Ten¬ denzen von 1830“ seien die Folge (RA II 52). Verwirklicht werde diese neuartige europäische Idee durch einzelne, durch „eine stille Gemeinde“. Man fühlt sich deutlich an Frederik van Eedens und Volkers Welteroberung durch Heidenliebe erinnert. Wie schon in den Aufzeichnungen zu den Reden in Skandinavien fließen die zentralen Gedanken dieser Schrift ein: Materialismuskritik, Glaube an das Prinzip der mystischen Wiedergeburt, Integration asiatischer Kulturinhalte, Lö¬ sung der sozialen Frage durch die Führerschaft einer geistigen Elite, die die Notwendigkeit dieser Erneuerungen erkannt hat.221 Als Österreicher glaubt Hofmannsthal sich prädestiniert, die Idee des zu¬ künftigen Europas vorzustellen: „Wer sagt ,Österreich1, der sagt ja: tausendjäh¬ riges Ringen um Europa, tausendjährige Sendung durch Europa, tausendjähriger Glaube an Europa“ (RA II 54). 4. Die Europäische Revue von Karl Anton Rohan An der Überzeugung, daß die ursprüngliche .österreichische Idee1 für den Auf¬ bau eines neuen Europa wesentlich sei, hielt Hofmannsthal bis zum Ende seines Lebens fest. Zur Eröffnung des internationalen Kongresses der Kulturverbände in Wien am 18. Oktober 1926 hielt der Dichter eine kurze Rede, in der er einmal mehr an die ideelle Rolle Österreichs als dem „Träger einer übernationalen Idee“ (RA III 19), die „bis in die jüngste Zeit hinein eine lebende war“ (RA III 20), er-

Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt. Studien über eine Dichterfreundschaft, Bremen 1973, S. 221 ff. 219 Prohl, a.a.O., S. 223. Streims Analyse dieser „im Zeichen der organischen Staatstheorie der Romantik“ stehenden Europa-Kritik verweist auf die Parallelen zu Novalis’ Die Christen¬ heit und Europa, a.a.O., S. 184 f. 220 Er nennt Lafcadio Hearn und Kakuso Okakura (RA II 51), deren Büchern Hofmanns¬ thal maßgeblich seine Kenntnisse über den fernen Orient verdankt. 221 Siehe oben Kapitel I, 2.

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innerte. Österreich repräsentiere den Glauben, „daß sich Nationen verstehen, ih¬ re Kultur mit wechselseitiger Sympathie umfassen und über ihr nationales Da¬ sein hinaus sich in einer höheren Einheit zusammenfinden sollen und können“ (RA III 20). Daß der Gründer der „europäischen Föderation“ verschiedener Städte ein Österreicher sei, der ganz im Sinne Hofmannsthals die ,österreichi¬ sche Idee“ für Europa zu aktualisieren weiß, sei kaum verwunderlich, denn einem Österreicher müsse nach dem Zusammenbruch des alten Reiches „Europa ein verlorengegangenes großes Vaterland ersetzen“ (RA III 21). Bei dem Österrei¬ cher, von dem hier die Rede ist, handelt es sich um Prinz Karl Anton Rohan, dem Herausgeber der Zeitschrift Europäische Revue. Einen Monat vor dem Kongress, am 25. September 1926, erscheint in der Neuen Freien Presse ein Artikel von Hofmannsthal über Rohans Zeitschrift. Dar¬ in findet dieses Unternehmen die uneingeschränkte Zustimmung des Dichters. Rohans leitende Idee sei es, Geist und Politik in strenger, nüchterner Weise wie¬ der Zusammengehen zu lassen: durch die „Diskussion eines einzigen, politisch¬ übe rpolitischen Begriffes, des Begriffes Europa“. Zur Verwirklichung dieser Idee bedürfe es einer geistigen Elite, denn in einer Welt, in der „alle Maßstäbe höherer Ordnungen hinfällig“ geworden seien, besitze diese allein die Macht, „Begriffen das Pathos zu geben, das anderen Begriffe zum Schrecken und Schaden der Menschheit abhanden gekommen ist“ (RA III 80). Rohans Unternehmen sei kein - damals verschrieener - ,Internationalis¬ mus“, er verfolge vielmehr ein übernationales Ziel. Hofmannsthal zitiert ausführ¬ lich einen für die jüngeren „rechtsstehenden“ Mitarbeiter Rohans repräsentati¬ ven Autor der Zeitschrift. An

dessen Erklärungen über die Eigenart des

deutschen Nationalgefühls bewundert Hofmannsthal den Mut, „Spannungen dieser Art ins Auge zu sehen“. Darin erkennt er auch den Sinn der Rohanschen europäischen Föderationen, die dieser 1924 in den Hauptstädten einzuführen begann: Sie sollten darüber wachen, „daß die Spannungen in den nationalen Ei¬ genheiten (diese Spannungen, die .Europa liebenswert machen“) erkannt werden in ihrer Vereinbarkeit mit dem Bestehen einer geistigen Gemeinschaft - in ihrer Unvereinbarkeit (der Idee nach) mit den barbarischen Tendenzen der Machtas¬ piration“ (RA III 83). Wie kommt es, daß Hofmannsthal, der einige Jahre zuvor noch Grillparzers Wort „Von der Humanität durch die Nationalität zur Bestialität“ zitiert hat, sich hier für eine reaktionäre Zeitschrift einsetzt, deren unbekanntere Mitarbeiter zum großen Teil nationalistischen Gruppen angehören? In einem Begleitbrief an den Chefredakteur der Neuen Freien Presse erklärt Hofmannsthal die Gründe seines Eintretens für die Rohanschen Aktionen, über die er sich im Gespräch mit Josef Redlich klar geworden sei. Zur Person Rohans sagt er dort, daß er „ein ehrgeiziges und heute noch nicht ganz durchblickbares Individuum“ sei, aber er habe „schließlich mit Kraft und Zähigkeit etwas vor sich gebracht, das mir wesenhafter erscheint als die paneuropäische Agitation. Und ich muß mich an et¬ was, das von hier ausgeht, mit Österreich der Idee nach zusammenhängt, an¬ schließen,

oder ich

kann

hier nicht

länger

leben.

Mit

lauter

negativ

zu

Wertendem kann ich nicht existieren“ (RA III, 635). Wie oft in Äußerungen

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seiner letzten Lebensjahre,'22 spricht aus diesen Worten die Verzweiflung, mit der dieser im alten Österreich verwurzelte Dichter um eine neue Welt rang.

III. Carl Schmitts Souveränitätslehre und Der Turm 1. Hofmannsthals Lektüre von Carl Schmitt Zur Vorbereitung der Ansprache zur Eröffnung des Kongresses der Kulturverbände in Wien (RA III 19 ff.) las Hofmannsthal die Politische Theologie von Carl Schmitt.223 Aus einer im Nachlaß veröffentlichten Aufzeichnung (RA III 586 f.) geht das genaue Datum der Lektüre, 11. bis 13. Oktober 1926, hervor. Hof¬ mannsthal hatte in seinem persönlichen Exemplar dieser Schrift einen Halbsatz notiert, den er wörtlich in seine Rede aufnahm: Er sprach die Hoffnung aus, daß die zum Thema des Kongresses - „Die Rolle des geistigen Menschen beim Auf¬ bau Europas“ - eingeladenen Redner Paul Valery, Theodor Litt und Balbino Giuliano zeigen würden, zu „welcher vitalen Intensität die Reflexion fähig sein kann“.224 Anhand dieser Eröffnungsansprache, deren Inhalt im vorigen Kapitel kurz erläutert wurde,225 läßt sich jedoch nicht ermessen, welche Bedeutung der Lektüre der Politischen Theologie für den Turm, insbesondere für die Entstehung der Fassung von 1927, zukommt. Hierfür ist dagegen ein längerer Brief des Dichters an den schon erwähnten Josef Redlich aufschlußreich: Am 8. November 1926 schrieb Hofmannsthal dem mittlerweile an der Har¬ vard Universität in Boston lehrenden Politiker und Historiker, er sei im Begriff, die „letzte, nun wohl endgiltige Fassung [sjeines Trauerspieles“ zu beenden."6 Es falle ihm schwer, sich von den „Figuren, mit denen [er] seit 1920 lebe“, zu trennen. Auf ein früheres Angebot Redlichs, den Turm zu rezensieren, greift der Dichter gern zurück: Er schlägt ihm vor, über einen Vergleich der beiden Fas¬ sungen „diesen Hauch von Actualität bei einem poetisch-mythischen Werk“ er¬ kennbar zu machen.227 Die entscheidenden Änderungen bezüglich des Hand¬ lungsverlaufes des Stückes - vor allem die Weglassung des Kinderkönigs scheint Hofmannsthal zu diesem Zeitpunkt bereits vorgenommen zu haben: „Es wird Sie überraschen, wie sehr das Ganze sich verändert hat . Daß das Stück „in den tieferen Regionen sich gleich geblieben“ sei, relativiert allerdings wieder die Bedeutung dieser Veränderungen für die Kernaussage seines Trauerspiels.

222 „[...] ich bin noch nicht alt, ich hätte, wenn ich auch größere poetische Leistungen kaum mehr von mir erwarten darf, Zeit zu manchen Dingen, aber niemand fordert mich auf, niemand will, niemand erwartet etwas von mir.“ So Hofmannsthal gegenüber Rudolf Alexander Schroeder, vgl. Fiechtner, a.a.O., S. 94. Schärfer noch lautete die Antwort Hofmannsthals auf eine Frage Raoul Auernheimers: ,„Was soll er also tun der österreichische Dichter? [...] .Ster¬ ben“ kam im Falsett die Antwort.“ zit. nach Volke, a.a.O., S. 162. 223 Carl Schmitt, Politische Theologie, Vier Kapitel zur Lehre der Souveränität, 3. Auflage (unveränderter Nachdruck der zweiten Auflage von 1934), Berlin 1979. 223 Vgl. RA III 23 und Hamburger, Bibliothek, a.a.O., S. 35 225 Siehe oben Kapitel II, 5. 226 Hofmannsthal/Redlich, Briefwechsel, a.a.O., S. 76. 227 Ebd.

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In der Fortsetzung dieses Briefes am nächsten Tag empfiehlt Hofmannsthal dem Freund die Schriften des ,,Staatsrechtslehrer[s] der Universität Bonn, Carl Schmitt“, welche ihm „vor etlichen Wochen, durch einen Zufall völlig“228 vor Augen kamen: „Die Schrift die mir zuerst in die Hand fiel hieß Politische Theologie (= die Lehre von der Souveränität.) Was mich an den Ausführungen fesselt, ist eine gewisse vitale Intensität, und die Gesinnung oder besser Geisteshal¬ tung die auf Hobbes, Bonald, Cortes zurückgeht. Ganz natürlich ergibt sich daraus ein scharfer Gegensatz zu Kelsen, dem Mann des .relativisti¬ schen Formalismus“. Ein größeres Buch von ihm Die Diktatur fesselt mich gleichfalls. Er hat enorme geschichtliche Kenntnisse und Geschichte ist ihm Lebendiges, wie Ihnen und mir. Dort wo das Staatsrechtliche, das Po¬ litische und das Historische Zusammentreffen, siedelt er.“22'’

Der Gedanke, daß bei geistigen Menschen die geschichtliche Reflexion eine „vi¬ tale Intensität“ des Denkens bewirkt, die in der problematischen Zeit richtungs¬ weisend sein kann, hat Hofmannsthal im Herbst 1926 besonders beschäftigt. Er sieht eine potentielle Wirksamkeit des Geistes in den Schriften Carl Schmitts und appelliert mit dieser Hoffnung in der Eröffnungsansprache des Kongresses der Kulturverbände an das Verantwortungsbewußtsein herausragender Zeitge¬ nossen. Auch will er seine eigene Produktion, das Trauerspiel Der Turm, in die¬ sem Sinne verstanden wissen. Carl Schmitt, Paul Valery und ihm selbst gilt diese Hoffnung. Wie verschie¬ den aber, der Intensität und dem Inhalt nach, waren die tatsächlichen Wirkungen dieser drei Männer und ihrer Werke! Der deutsche Staatsrechtler wurde zum Wegbereiter der nationalsozialistischen Diktatur,

der französische Dichter,

schon längst als nationaler „heros intellectuel“ gefeiert, ging in den geistigen Wi¬ derstand,230 während der Österreicher seine Berühmtheit jedenfalls nicht mit dem Turm erlangte. Aus dem Brief an Josef Redlich, in dem Hofmannsthal zunächst von der veränderten Fassung des Turm berichtet, um am darauffolgenden Tag dem mög¬ lichen Rezensenten seine Lektüre der letzten Monate zu empfehlen,231 aus dieser vielleicht nicht zufälligen Kombination ergibt sich für die Untersuchung folgen¬ de Fragestellung: Inwiefern übten die dezisionistischen Thesen Carl Schmitts zum Problem der Souveränität einen Einfluß auf die in der Fassung von 1927 vorgenommenen Änderungen aus, und welche Schlußfolgerungen lassen sich

228 Bei diesem „Zufall“ könnte es sich um Walter Benjamins Habilitationsschrift über den Ursprung des deutschen Trauerspiels handeln, da dieser sich (auf S. 47 Anm. 14) ausdrücklich auf die Souveränitätstheorie von Carl Schmitt beruft. Siehe unten 3. Teil Kapitel II.4. 229 Hofmannsthal/Redlich, a.a.O., S. 76 f. 230 Als einen „premier acte de Hsistance“ gilt Valerys Grabrede für Henri Bergson 1942, vgl. Lagarde & Michard, XXe siede, S. 300 f. - Siehe auch: Peter Por, Valery und Hofmanns¬ thal: Interpretation eines Unverständnisses, in: ders., Der Körper des Turmes. Essays zur europäi¬ schen Literatur von Schiller bis Valery, Frankfurt am Main, Bern, New York 1988. 231 Im Anschluß an Carl Schmitts Bücher nennt er Max Webers Biographie, verfaßt von seiner Frau Marianne Weber, siehe Hofmannsthal/Redlich, a.a.O., S. 78.

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daraus auf die vom Dichter mehrmals angedeutete politische Aktualität des Stü¬ ckes232 ziehen? 2. Kernaussagen der Politischen Theologie In Anlehnung an den Humanisten Jean Bodin definiert Schmitt den Souverän in dem prägnanten Satz: „Souverän ist, wer im Ausnahmezustand entscheidet.“233 Der Souverän „steht außerhalb der normalgeltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann.“234 Die „Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung“ ist der Ausnahmezustand.235 Damit hat der Souverän das „Entschei¬ dungsmonopol“ im Staat inne.236 Im zweiten Kapitel wird dieser Souveränitäts¬ begriff „als Problem der Rechtsform und der Entscheidung“ diskutiert. „Die Entscheidung ist, normativ betrachtet aus dem Nichts geboren.“237 Sie ist kraft ihrer Existenz gerechtfertigt. „Der klassische Vertreter des [...] dezisionistischen Typus ist Hobbes.“238 Seine Maxime „auctoritas, non veritas facit legem“ stellt den Zusammenhang von Dezisionismus und Personalismus her. Souverän, höchster Entscheidungsträger, kann nur eine Person sein. Im dritten Kapitel, dessen Titel der gesamten Schrift den Namen gibt, formuliert Carl Schmitt die zweite große These: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind sä¬ kularisierte theologische Begriffe.“239 Er nennt die Feststellung einer solchen Identität, wie sie zwischen der Struktur ,,de[s] metaphysischen Bild [es], das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht“, und der „Form ihrer politischen Organisation“ besteht, „Soziologie des Souveränitätsbegriffes.“240 Im vierten Ka¬ pitel werden die absolutistisch-konservativen Staatstheorien von De Maistre, Bonald und Donoso Cortes referiert, die für unsere Fragestellung von nachran¬ giger Bedeutung sind. 3. Ausnahmezustand und Entscheidung In seinem Exemplar der Politischen Theologie notiert sich Hofmannsthal die Stichworte: „Arzt Entscheidung“241. Schmitts Dezisionismus kommt seiner ei-

232 Vgl. den erwähnten Brief an Redlich vom 8. bis 9. November 1926, a.a.O., S. 76 ebenso wie Hofmannsthals Bitte an Walter Brecht, den Turm seinen Studenten zu erläutern, denn aus dem ,Überhistorischen‘ ergebe sich, „daß die Figuren doch auch etwas anderes sind als Figu¬ ren“; siehe E. Brecht, Erinnerungen, a.a.O., S. 67. 233 Schmitt, Politische Theologie, a.a.O., S. 11. 234 A.a.O., S. 13. 235 A.a.O., S. 18. 236 A.a.O., S. 20. 232 A.a.O., S. 42. 238 A.a.O., S. 44. 239 A.a.O., S. 49. 240 A.a.O., S. 59 f. 241 Hamburger, a.a.O., S. 35. - Auch den Halbsatz „zu welcher vitalen Intensität die Re¬ flexion

fähig sein

kann“,

den

Hofmannsthal im oben

zitierten

Brief an

Redlich

zur

Charakterisierung Schmitts sowie in die ebenfalls schon erwähnte Eröffnungsrede aufnahm, findet sich hier notiert.

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genen Theorie der „Tat“242 entgegen. Basilius ist als Souverän untauglich, weil er sich von seinen Beratern abhängig gemacht hat und nicht mehr Herr seiner Ent¬ scheidungen ist. Der Arzt, der diesen Zusammenhang erkannt hat, kann kraft seines Amtes eine Entscheidung treffen, ohne die das Stück keine Handlung hät¬ te: „Man führe ihn [Sigismund] in seines Vaters Haus zurück, nicht übers Jahr, nicht über einen Monat, sondern morgen zur Nacht!“ (SW XVE2 145). Der Arzt ist kein Souverän; als instruierte Person befindet er sich indes schon beruf¬ lich in einer Entscheidungssituation.243 Als Arzt kann er auch entscheiden, wann er die ihm angetragene Verantwortung übernimmt und wann er sich verweigert: Er ist im dritten Akt abwesend, weil er nicht bereit ist, Sigismund auf den Befehl des Königs hin wieder zu betäuben. Diese knappe Randnotiz reicht indes nicht aus, den oben vermuteten Ein¬ fluß der Politischen Theologie auf die Änderungen in der T^rw-Fassung von 1927 zu begründen. Vielleicht fühlte sich Hofmannsthal durch die Schmitt-Lektüre angeregt, eine eindeutige Entscheidung im und zugleich über das Stück zu for¬ cieren, es nämlich konsequent ohne den hoffnungsvollen Ausblick als ein „ech¬ tes“ Trauerspiel enden zu lassen, wie schon Buber es ihm nahegelegt hatte.244 So könnte die Radikalisierung des Dramenschlusses als ein Zugeständnis an die dezisionistische Geisteshaltung gedeutet werden, die einerseits in ihrer Kompromißlosigkeit zur Gattung der Tragödie, aber andererseits nicht zu Hofmanns¬ thals Geisteshaltung paßte. 243 In dem oben zitierten Brief an Josef Redlich

242 Elektra beispielsweise vertritt (wie Hamlet) den Typus des „überbewußten Denkers und Zauderers“, ihr fehlt die Entscheidungskraft, weshalb ihr „Verhältnis zur Tat [...] mit Iro¬ nie behandelt“ (RA III 603) wird. Vgl. Wolfgang Nehring, Die Tat bei Hofmannsthal, Stuttgart 1966, S. 51. 243 In einer Aufzeichnung aus dem Jahr 1927 definierte Hofmannsthal u.a. die „ärztliche Funktion“ des Dichters: „durchs Gleichnis zu heilen (sich und die Welt)“ (RA III 590). Dich¬ ter und Arzt hätten eine ordnende Funktion - den Menschen und die Welt zu einander zu bringen -, die sie nur aufgrund ihrer geistigen Souveränität leisten könnten. Zur „geistigen Souveränität“ des Dichters siehe unten 3.Teil, Kapitel 11,5. 244 Siehe oben Kapitel I, 5. 243 Diesen Mentalitätsunterschied zwischen Schmitt und Hofmannsthal ignoriert Ingeborg Villinger in ihrem Aufsatz Der Souverän verläßt den Turm. Hofmannsthals Dramatisierung des Verlustes politischer Einheit nach Carl Schmitt, in: A. Göbel, D. van Laak, I. Villinger (Hrsg.), Metamorphosen des Politischen. Grundfragen politischer Einheitsbildung seit den zwanzi¬ ger fahren, Berlin 1995, S. 119 ff. Villinger gewinnt im Detail zwar interessante Erkenntnisse — etwa daß Julian als „souveräner Diktator“ und aufgeklärter Vertreter der Volkssouveränität ge¬ deutet werden kann - ; sie geht allerdings zu weit, wenn sie Hofmannsthal unterstellt, er sehe zwischen Julian und Olivier keinen prinzipiellen, sondern nur graduellen Unterschied. Julian bleibt bei allem Ehrgeiz der Lehrer Sigismunds, a.a.O., S. 126. Aber die allzu eindimensionale Verknüpfung von Hofmannsthals Turm mit den Gedanken Schmitts nimmt wenig Rücksicht auf die Spärlichkeit der Belege und blendet Hofmannsthals Reflexion über die Auflösung der Subjektivität und der überkommenen Sprachformen sowie die Vermittlerrolle Walter Benja¬ mins bei der Schmitt-Lektüre Hofmannsthals aus. So wird der Einfluß Schmitts auf den Turm politisch überschätzt.

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nannte er seine neue Fassung zwar die „wohl endgiltige“, aber verleugnet hat er die Kinderkönig-Fassung später nie.246 4. Thomas Hobbes Unter den wenigen während der Lektüre der Politischen Theologie angefertigten Exzerpten, welche Hofmannsthal zur Vorbereitung der Eröffnungsansprache des Kongresses der Kulturbünde notierte, findet sich auch das Wort von Thomas Hobbes: „Auctoritas, non veritas facit legem“ (RA III 587). Carl Schmitt, den Hofmannsthal in die Tradition des englischen Staatsphilosophen einreihte,247 nennt Hobbes den klassischen Vertreter des „dezisionistischen Typus“, weil er in dem oben zitierten Satz die radikalste Formulierung der „Antithese von autoritas und veritas“ gefunden habe.248 Ein zusätzliches Verdienst Hobbes’ liegt für Schmitt darin, daß er „ein ent¬ scheidendes Argument vorgebracht [habe], welches den Zusammenhang dieses Dezisionismus mit dem Personalismus“ enthalte.247 Hobbes lehnte die Forde¬ rung nach einer abstrakten Ordnung, der sich auch der souveräne Herrscher zu unterwerfen habe, ab. In seinen Augen war es unvereinbar, gleichzeitig von Hierarchisierung und Abstraktion zu sprechen: „For Subjection, Command, Right and Power are accidents, not of Powers but of Persons.“250 Der Engländer hat auch ein Beispiel parat, welches dem ,common sense‘ unmittelbar einleuchten muß: Eine Gewalt kann einer anderen unterworfen sein, so wie die Kunst des Sattlers der des Reiters unterlegen sein kann, ohne daß daraus die „Unterwer¬ fung“ eines einzelnen Sattlers unter einen bestimmten Reiter zwingend folgen müsse.251 Schmitts Ausführungen über den im 17. Jahrhundert ungewöhnlichen „personalistischen“ Standpunkt Hobbes’ in dieser Frage252 fanden höchstwahrschein¬ lich die Zustimmung Hofmannsthals. Jedenfalls läßt sich dies ex negativo bewei¬ sen. Olivier und seine anonyme Gefolgschaft,253 mit deren Herrschaft „ein

246 Vgl. Hofmannsthals Brief an den Kunsthistoriker Felix Braun vom 6.10.1927, in dem er die Zusendung der neuen 7Vmz-Fassung ankündigt: „Ich meine nicht, dass die erste Fassung dadurch zurückgenommen erscheinen soll. Sie können ruhig beide nebeneinander bestehen. Menschen wie Sie werden, hoffe ich, beide gelten lassen“; Klaus Peter Dencker, A«s unbekann¬ ten Briefen Hofmannsthals an Felix Braun, in: Jahrbuch des Deutschen Hochstifts 1968, S. 390424, hier S. 420 f.; Erika Brecht glaubt, die Bühnenfassung sei „eine von Reinhardt durchge¬ setzte [...] Es war ein schwerer Schaden, der so dem Werk geschah“, a.a.O., S. 70 ff. 247 Siehe den oben zitierten Brief an Redlich. 248 Ein Begriff, den Schmitt nach eigener Aussage selbst geprägt hat. Vgl. Schmitt, Politi¬ sche Theologie, a.a.O., S. 44. 249 Schmitt, Politische Theologie, a.a.O., S. 45. 250 Kapitel 42 des Leviathan, zit. nach Schmitt, a.a.O., S. 45. 251 Schmitt, Politische Theologie, a.a.O., S. 45. 252 Schmitt verwendet den Begriff ,Personalismus‘ in seinem allgemeinen Sinn als Wert¬ schätzung der Person, die nicht nur denkendes, sondern handelndes, wertendes und Stellung nehmendes Wesen ist. Im darauffolgenden Abschnitt erläutert er, wie er auf Hobbes’ Denken angewendet zu verstehen ist. Vgl. Schmitt, Politische Theologie, a.a.O.,S. 45 f. 253 „Das sind die ohne Namen“ (SW XVI.2 212).

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nüchterner Tag“ (SW XVI.2 217) über der Welt anbricht, führen die Konse¬ quenzen einer entpersonalisierten Herrschaftsform deutlicher vor Augen, als dies in der ersten Fassung möglich gewesen ist. Diese Entwicklung zur radikalen Darstellung einer Herrschaftsform, welche zugunsten eines nüchtern-abstrakten Weltverbesserungskonzeptes dem Personalismus eine Absage erteilt, könnte als ein Indiz für den Einfluß von Hofmannsthals Schmitt-Lektüre auf den Turm von 1927 gewertet werden. Zugleich ist der Ausdruck „nüchterner Tag“ den Säkularisierungs- und Entzauberungsthesen der Weimarer Zeit verwandt. 5. Schmitts Soziologie des Souveränitätsbegriffes Schon der programmatische Titel der Abhandlung Politische Theologie nimmt die zweite These Carl Schmitts vorweg, nach der „alle prägnanten Begriffe der mo¬ dernen Staatslehre [...] säkularisierte theologische Begriffe“ sind. Die Erörte¬ rung und der Beweis dieser - der Sache nach keineswegs neuen - Behauptung'34 bildet den Inhalt des Kapitels, welches mit dem Titel der Abhandlung über¬ schrieben ist. Für eine seine These beweisende „Soziologie von juristischen Be¬ griffen“ will der Verfasser die endgültigen und unwiderlegbaren Maßstäbe set¬ zen; der Begriff der Souveränität dient ihm als Beispiel. Im Gegensatz zu früheren Versuchen, in denen die Grundlagen für eine So¬ ziologie von Begriffen bestimmt worden sind, behauptet Carl Schmitt von seiner Definition dieser Disziplin, sie „allein [habe] Aussicht auf ein wissenschaftliches Resultat.“255 Für seine Soziologie von juristischen Begriffen fordert er, daß „hi¬ nausgehend über die an den nächsten praktischen Interessen des Rechtslebens orientierte juristische Begrifflichkeit, die letzte, radikal systematische Struktur gefunden und diese begriffliche Struktur mit der begrifflichen Verarbeitung der sozialen Struktur einer bestimmten Epoche verglichen“ werde.256 Neu an diesem Vorschlag ist die Radikalität, mit der die Begriffe auf ihre metaphysische Struktur präzisiert werden sollen. So lautet schließlich Carl Schmitts Definition der Soziologie des Souveränitätsbegriffes wie folgt:

„Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form ihrer politischen Organisation ohne weiters einleuchtet. Diese Feststellung einer solchen Identität ist die Soziologie des Souveränitätsbegriffes. Sie beweist, daß in der Tat, wie Edward Craig in seinem Buch über Auguste Comte gesagt hat, die Metaphysik der intensivste und klarste Ausdruck einer Epoche ist.“257 Auf der Grundlage dieser Definition erläutert Carl Schmitt im folgenden die analoge Entwicklung von Staatslehre und Theologie bzw. Metaphysik im 17., 18.

254 Schmitt referiert im dritten und vierten Kapitel die Thesen vor allem gegenreformatorischer Denker, welche sich mit der Analogie von weltlicher und geistiger Begrifflichkeit be¬ schäftigt haben. 255 Schmitt, Politische Theologie, a.a.O., S. 58 f. 256 A.a.O„ S. 59. 257 A.a.O., S. 59 f.

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und 19. Jahrhundert, welche man mit einem Wort als Säkularisierungsprozess bezeichnen könne. Der transzendente Gottesbegriff, der bis Ende des 18. Jahr¬ hunderts vorherrschend gewesen sei, werde allmählich von Immanenzvorstel¬ lungen verdrängt, die schließlich zum Atheismus führten. Für die Staatstheorie habe dies zur Folge, daß die theoretische Selbstständigkeit des Souveräns gegen¬ über dem Staat mehr und mehr an Evidenz verliere. Die Konsequenzen dieser Entwicklung seien neben der Entstehung von Sozialismus und Anarchismus (Theorien, die aus dem in Rousseaus „volonte generale“ wurzelnden Gedanken, die sich selbst bewußt werdende Menschheit müsse an die Stelle Gottes treten, hervorgegangen sind) einerseits alle demokratisch-rechtsstaatlichen Theorien25* und andererseits die Theorie der Diktatur, welche - so Schmitt - von „dem grö߬ ten Repräsentanten dezisionistischen Denkens“, Donoso Cortes, in der Nach¬ folge des 1848 unmöglich gewordenen Royalismus verteidigt wurde. Metaphysik und soziale Organisation werden von Carl Schmitt in seiner Soziologie des Souveränitätsbegriffes in ein eindeutiges Verhältnis gebracht. Die Spannweite zwischen den beiden Polen kann größer nicht bezeichnet werden: Evidenz, die „unmittelbar einleuchten“ müsse, auf der einen, und Metaphysik als strengstmögliche Begrifflichkeit auf der anderen Seite. Diese Struktur fand mit Sicherheit Hofmannsthals Zustimmung. Wenn er seinen Freund, den Germani¬ sten Walter Brecht, bat, seinen Studenten einmal das ,Überhistorische“ seines Trauerspieles zu erklären,259 dann liegt dieser Vorstellung ein ähnliches Anliegen zugrunde: Der Turm ist aufgrund der möglichst authentischen Wiedergabe der Atmosphäre des 17. Jahrhunderts unmittelbar verständlich und thematisiert doch auch ,Überhistorisches“, wie etwa das Problem der Herrschaft. Hier mag Hofmannsthals Bemühen deutlich werden, eine Orientierungshilfe und gültige Maßstäbe für die - eben gerade nicht mehr evidente - politische Organisation der Gesellschaft zu bieten. Hofmannsthal notierte sich Schmitts Definition der Soziologie des Souverä¬ nitätsbegriffes übrigens neben einem Satz von Friedrich Engels, den Schmitt im Zusammenhang mit der Erläuterung des veränderten souveränen Subjektes260 be¬ sonders hervorgehoben hat: „Das Wesen des Staates wie der Religion ist die Angst der Menschheit vor sich selber.“261 Der Kontext des Engels-Zitates bei Schmitt gibt Aufschluß darüber, wie Hofmannsthal diesen Satz verstanden ha¬ ben könnte und warum er ihn aufschrieb. Nach Schmitt bedeutet die Angst der Menschen vor sich selber, daß sie unfrei seien. Die Unfreiheit der Menschen fin¬ de ihren Ausdruck in Staat und Religion,262 die nur existierten, solange die Men¬ schen ihre Unfreiheit nicht erkannt hätten und sich an etwas festhalten wollten. Anarchismus weise den Wg aus dieser Unfreiheit, wobei Staat und Religion

258 Von Krabbe und Kelsen zum Beispiel; Schmitt, Politische Theologie, a.a.O., S. 63. 259 E. Brecht, a.a.O., S. 67. 260 An die Stelle Gottes trete die Menschheit, ein Gedanke, der zur Anarchie führen müs¬ se. 261 RA III 587 und Schmitt, a.a.O., S. 65. 262 Schmitt weist auf die soziologischen Gründe hin, die zum „Kampf gegen die überliefer¬ te Religiosität“ geführt hätten.

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überflüssig würden. Schmitt hebt den Satz des jungen Friedrich Engels beson¬ ders hervor. Er versteht ihn als Bestätigung seiner eigenen These. Marx und En¬ gels sei bewußt gewesen, daß das „Ideal einer sich selbst bewußt werdenden Menschheit in einer anarchistischen Freiheit enden müsse.“263 Hinter dem Ideal der sich selbst bewußt werdenden Menschheit stehe die Entwicklung, die in Rousseaus These von der Identität des Willens des Souveräns mit der volonte generale, worin implizit das Volk zum Souverän erklärt werde,264 ihren Aus¬ gangspunkt genommen habe. Durch Rousseau rücke an die Stelle des dezisionistisch-personalistischen Souveräns das souveräne Volk. Wenn allerdings die Souveränität des Volkes in „anarchistischer Freiheit“ enden muß - eine Erkenntnis, die Schmitt als das Verdienst der deutschen LinksHegelianer würdigt - dann ließe sich folgern, daß die „anarchische Freiheit“ nach dem Begriff Landauers265 als absolute Willkür früher im Souverän verkörpert war. Dies würde erklären, warum Sigismund gleichmaßen Souverän und Anar¬ chist sein kann.

IV. Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation 1. Entstehung und Inhalt der Münchner Rede 1.1. Hofmannsthals „Grausen vor dem Wort“ Am 10. Januar 1927 hielt Hugo von Hofmannsthal im Auditorium Maximum der Universität München eine Rede mit dem Titel Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (RA III 24-41). Der Romanist Karl Vossler, Rektor der Uni¬ versität München und ein Freund des Dichters, hatte im Auftrag der Veranstal¬ ter266 die Verbindung zu Hofmannsthal hergestellt. Dieser nahm die Einladung an, bereute jedoch bald darauf seine Zusage, da er sich außerstande fühlte, die Aufgabe den eigenen Ansprüchen gemäß erfüllen zu können.267 Carl Jakob Burckhardt, der sich zur Zeit der Abfassung der Rede in Rodaun aufhielt, erklärte später in einem Brief an Max Rychner Hofmannsthals Scheu, öffentlich zu sprechen, mit jenem „Grausen vor dem Wort, das ihn seit der Zeit des ,Briefes“ so häufig befiel. Er wurde fast krank darüber, schon hatte er das Te¬ legramm zur Absage aufgesetzt.“268 Erst im Gespräch269 gelang es Hofmannsthal,

263 Schmitt, Politische Theologie, a.a.O., S. 65. 264 A.a.O., S. 62. 265 Zwar spricht Landauer von „anarchistischer Freiheit“, doch trifft der Ausdruck „anar¬ chisch“ heute seine Intention besser, da er die politische Wertung fortnimmt und den Zustand der Herrschaftslosigkeit meint. 206 Die Veranstalter des Vortrages waren die Dichtervereinigung „Die Argonauten“ und die Münchner Goethe-Gesellschaft (RA III 632). 262 Vgl. Oswald von Nostitz, a.a.O., S. 262 und Roland Haltmeier, Zu Hofmannsthals Rede »Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“, in: Hofmannsthal-Blätter 17/18 (1977) S. 298— 310, hier S. 300. 268 Carl Jakob Burckhardt/Max Rychner, Briefe 1926-1965, Frankfurt/Main 1970, S. 24. Gegenüber Willy Wiegand und Martin Buber klagte Hofmannsthal, daß ihm die Initiatoren mit

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diese Hemmungen zu überwinden. Aus den dabei entstandenen Notizen soll sich der Aufbau der Rede beinahe wie von selbst entwickelt haben, so daß das Manuskript rechtzeitig fertiggestellt wurde, wenn auch nicht in einem genialen Wurf, wie man Burckhardts Darstellung verstehen möchte,270 sondern wieder¬ holt korrigiert und überarbeitet.271 Der hohe Anspruch an das eigene Wort klingt noch aus einem Schreiben des Dichters vom 19. Dezember 1926 an den Verleger Willy Haas. Er erklärt dar¬ in ausführlich, welches Ziel er mit seinem Vortrag verfolge und worin die Schwierigkeiten bei der Abfassung bestünden: „Man kann nicht über etwas .Spezielles' reden wenn man schon einmal öf¬ fentlich redet - dazu sind die Menschen heute zu ungeduldig und in zu großer Not. Wenn man sich aber auf das fruchtbare Gebiet des NichtSpeziellen, des Allgemeinen, unseres Zustandes, unserer Anarchie begibt was sich dann noch sagen läßt, dies durchzudenken, das unbegrenzte Thema einigermaßen abzugrenzen, in sich eine Fühlung herzustellen mit den wichtigsten Zeitgenossen (die keineswegs, das versteht sich von selbst die bekanntesten sind - im Gegenteil) doch eine Art von wir in sich zu konstituieren [...] blitzschnell kommt man auf die schwierigsten rätselhaf¬ testen Dinge, stößt auf Nominalismus und Realismus, müßte den Rickert, den Husserl, den Nietzsche frisch durchlesen, mit e i n e m durchdringen¬ den Blick, und das wäre erst wieder Schale und nicht Kern.“272

Diese Briefstelle entspricht einem frühen, inhaltlich noch nicht festgelegten Entwurf der Rede. Sie zeigt, wie Hofmannsthal mit seinem Vortrag der geistigen Not der Zeit gerecht werden wollte, indem er zunächst einen Konsens zwischen sich und einem elitären Personenkreis herstellte. Er fühlte sich als „Vermittler gemeinsamen Gedankengutes“273 und hoffte durch seinen Vortrag, den Zeitge¬ nossen eine geistige Orientierung zu bieten. Die Ähnlichkeit dieser Motive mit denen der Gründer des Forte-Kreises ist offenkundig.274 Das Dilemma zwischen sozialem Verantwortungsgefühl und Zweifel an der Wirksamkeit seiner Worte blieb für Hofmannsthal bestehen; es war der Grund für seine auch nach dem 10. Januar anhaltende zwiespältige Einstellung zu der Rede. An seinen Freund Leopold von Andrian schrieb Hofmannsthal am 24. Ja¬ nuar 1927 rückblickend:

dem Hinweis auf organisatorische Gründe eine Absage unmöglich machten. Siehe Haltmaier, a.a.O., S. 299. 269 Die Bedeutung des Gespräches für Hofmannsthal wird immer wieder von seinen Freunden betont, siehe Einleitung. 270 Burckhardt/Rychner, a.a.O., S. 24. 271 Davon zeugt das handschriftliche Konzept auf, welches in der Münchner Stadtbibhothek aufbewahrt wird. Vgl. Nostitz, a.a.O., S. 261. 272 Zit. nach RA III 632. Hugo von Hofmannsthal/Willy Haas, Ein Briefwechsel, Berlin 1968 S 71 Hervorhebung von Hofmannsthal auch zit. bei Haltmaier, a.a.O., S. 299. 273 Haltmeier, a.a.O., S. 300. 274 Siehe oben Kapitel I, 2.

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„Fast drei Wochen schrieb ich an einem Vortrag, den ich unvorsichtig auf mich genommen hatte und den zu halten (in München am lOten) mir schließlich keine Befriedigung brachte.“275

Andererseits sandte er seinen Vortrag, der im Oktober 1927 bei der Bremer Presse erschien, an zahlreiche Freunde und Bekannte.276 Dem Kunsthistoriker Felix Braun beispielsweise kündigte Ffofmannsthal seine Rede wie folgt an: „Sie empfangen in den nächsten Tagen eine Äußerung von mir, unzulänglich natür¬ lich, aber ernst, wie ich hoffe über ernste Dinge.“277 Dieser Ernst ist die beherr¬ schende Stimmung der letzten Lebensjahre des Dichters. 1.2. Der Inhalt der Münchner Rede Die Schwierigkeiten beim Abfassen der Rede haben in der gedruckten Fassung keine Spuren hinterlassen. Der Text stellt eine gegliederte Einheit dar: Einem kurzen einleitenden Abschnitt folgt, den beiden zentralen Thesen entsprechend, ein zweigeteilter Hauptteil, dem sich als Climax der visionär anmutende Schlu߬ satz von der konservativen Revolution“ anschließt. Hofmannsthal beginnt mit der Erläuterung des Titels seiner Rede und defi¬ niert die ,Nation“ als eine Gemeinschaft von Menschen, die durch ihre Sprache als dem wichtigsten Träger des Kulturerbes miteinander verbunden seien.278 Das schriftlich überlieferte Wort nennt er bewußt „Schrifttum“ und nicht „Litera¬ tur“, weil in letzterem ein Bildungsanspruch mitklinge, den er hier nicht gelten lassen wolle. Zum Schrifttum zählten „Aufzeichnungen aller Art“ (RA III 24): Briefe, Anekdoten, Zeitungsartikel und anderes mehr. Im benachbarten Frankreich hingegen bezeichne der Begriff .Literatur“ zu Recht das überlieferte geistige Erbe, denn Literatur sei im Französischen alles, was öffentlich gesagt oder geschrieben werde. Jeder, der sich in der französi¬ schen Sprache zu äußern verstehe, habe „teil an einer gewissen Würde“ (RA III 25). Der normative Charakter der Sprache ermögliche es, daß Vertreter konträ¬ rer Geisteshaltungen und divergierender politischer Überzeugungen im Ge¬ spräch unter den gleichen Voraussetzungen gegeneinander antreten könnten. In¬ sofern wirke die Sprache in Frankreich einheitsstiftend. Eine „wechselseitige Aufmerksamkeit und Rivalität“ (RA III 25) mache schließlich auch das „geselli¬ ge Element“ der französischen Literatur aus. Aufgrund der Weltlichkeit der

275 Briefwechsel, Hugo von Hofmannsthal mit Leopold von Andrian, hrsg. v. Walter Perl, Frankfurt am Main 1968, S. 392. 276 Die Rede war drei Monate vorher erstmals in der Neuen Rundschau gedruckt worden; siehe Haltmaier, a.a.O., S. 301. 277 Brief vom 6. Oktober 1927, abgedruckt in: Klaus Peter Dencker, Aus unbekannten Briefen Hofmannsthals an Felix Braun, Eine Materialiensammlung für die Jahre 1908 - 1929 mit einer bibliographischen Notiz über Felix Braun, Teil I, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hoch¬ stifts, 1968, S. 420. 278 Vgl. Kapitel 1,2.

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Sprache dieser „geselligsten Nation“ (RA III 25) könne sie, die Nation, als ganze „zum Autor und zum geistig Genießenden“ (RA III 26) werden.270 Während in Frankreich „jener Kreislauf zwischen dem Geistigen und Ge¬ sellschaftlichen“ (RA III 28) verwirklicht sei, was bis zu einem gewissen Grade sogar seine politische Geschichte, zumal die Revolution, erkläre,280 treffe man in Deutschland geradezu auf das Gegenteil: Der natürliche Ort des Geistigen sei hier nicht das Gespräch, sondern die Einsamkeit (RA III 26). Der geistig tätige Deutsche strebe nach „Originalität an und für sich“ (RA III 26) und nicht nach meisterhafter Beherrschung der Sprache. Deshalb erscheine alles Geistige in Deutschland vereinzelt und zusammenhanglos. Die Deutschen hätten nur sehr bedingt eine lebendige geistige Tradition (RA III 28) - den deutschen „Bildungsphilister“ (RA III 30) erkennt Hof¬ mannsthals nicht als Träger einer solchen Tradition an281 - , wohingegen in Frankreich alle Glieder der Sprachgemeinschaft teil am geistigen nationalen Be¬ sitz hätten; jeder einzelne repräsentiere die Nation. In Deutschland könne sich eine solche „verantwortliche Geselligkeit“ (RA III 29) gar nicht entwickeln, da das Ziel geistiger Produktion nicht das Gesellschaftliche, sondern die Widerle¬ gung des Gesellschaftlichen sei. Hofmannsthal stellt in diesem ersten Teil seiner Rede das aus dem besonde¬ ren Umgang mit ihrer Sprache resultierende Nationalbewußtsein der Franzosen als Vorbild der deutschen „Zerfahrenheit“ (RA III 27) gegenüber. Während die französische Nation mit ihrem geistigen Besitz im oben beschriebenen Sinne verantwortlich umgehe, spricht Hofmannsthal den Deutschen einen solchen ver¬ antwortlichen Umgang mit Kultur ab. Vielmehr suche der deutsche Intellektuel¬ le im Alleingang die „schwersten, ja religiösen Verantwortungen für die Gesamt¬ heit“ (RA III 29) auf sich zu nehmen. Diese Deutschen nennt Hofmannsthal mit dem von Nietzsche in seiner ersten Unzeitgemäßen Betrachtung geprägten Begriff „Suchende“. Zu den buchenden“ zählt in Anlehnung an die Definition jenes Philosophen „alles Hohe, Heldenhafte und auch ewig Problematische in der deutschen Geistigkeit.“282 Die .Suchenden1 stellten im Gegensatz zu dem im neunzehnten Jahrhundert verbreiteten und von Nietzsche angeprangerten Typus des „Bildungsphilisters“ das „geistige Gewissen der Nation“ (RA III 30) dar. Hofmannsthal findet dieses Gewissen - „geweckt und geschärft“ (RA III 30) - bei eigenen Zeitgenossen wieder. Sie verfochten mutig eine „produktive Anarchie“283 in der für die Zeit

279 Durch „die Soziabilität der Formen ist der Ring geschlossen zwischen Dichter und Na¬ tion, Schriftsteller und Leser, Sprecher und Hörer“ (RA III 26). Hofmannsthal zitiert seinen Gastgeber Karl Vossler, dem er diese Rede auch gewidmet hat. 280 Denn: „Nichts ist im politischen Leben der Nation Wirklichkeit, das nicht in ihrer Li¬ teratur als Geist vorhanden wäre.“ (RA III 27) Dies entspricht auch van Eedens Überzeugung, siehe oben Kapitel I, 2. 281 Schon hier deutet sich der im weiteren Verlauf der Rede explizit geäußerte Bezug zu Nietzsche an. 282 RA III 30 Das „Ewig-Problematische“ findet sich in der Charakterisierung Nietzsches nicht, vgl. Nostitz, a.a.O., S. 264. 283 Siehe oben Kapitel I, 4.

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charakteristischen „Atmosphäre geistiger Beunruhigung und Fragwürdigkeit“ (RA III 31). Im folgenden beschreibt Hofmannsthal die Eigenschaften der bei¬ den herausragenden Typen von .Suchenden1. Er nennt keine Namen, deutet aber auf einige Personen indirekt hin.284 Die Wirkung der .Suchenden1, die „Sektierer aller Sorten“ (RA III 36) an sich zögen, vergleicht der Dichter mit Kraft erzeugenden „Wirbeln“, ein Bild, welches nach Hofmannsthal schon Tolstoi und Dostojewski auf Napoleon an¬ gewandt hatten.2S:> Die zeitgenössischen, schöpferisch tätigen Deutschen seien in ihrer „titanischen Grundhaltung“ (RA III 38) ihren Vorläufern verwandt, den Stürmern und Drängern und den Romantikern, die von einem „Kultus des Ge¬ mütes“ (RA III 36) bestimmt gewesen seien. An die Stelle der unmündig kna¬ benhaften Verantwortungslosigkeit dieser früheren Generationen sei allerdings ein „strengeres, männlicheres Gehaben“ (RA III 37) getreten, welches sich mit einem tiefen „Mißtrauen gegen das unverantwortlich Spekulative und [...] Musikantische“ (RA III 37) darstelle. Dem „ausdauernd resignierte[n] Wesen der neuen .Suchenden“ hafte „etwas Fanatisches und Asketisches“ (RA III 37) an. „Denn nicht Freiheit ist es, was sie zu suchen aus sind, sondern Bindung“ (RA III 37), und zwar Bindung an eine höchste Notwendigkeit, an eine über allen Ordnungen stehende Satzung, „gleichsam der geometrische Ort aller denkbaren Satzungen“286. In dem Suchen der Deutschen nach Bindung erkennt Hofmannsthal ein ge¬ steigertes Ringen um Freiheit,287 ein „in tausend Seelen der Nation vor sich gehende[s] Ringen um wahren Zwang und Sichversagen dem nicht genug zwin¬ genden Zwang“ (RA III 38). Lichtenbergs Empfehlung an die Deutschen, ein englisches Sprichwort: „Als ein Ganzes muß der Mann sich regen“, sieht Hof¬ mannsthal in dieser Generation eingelöst.288 Da es „lebenslenkende Ideen“ (RA III 39) nicht geben könne, hätten sie erkannt,

284 Zur Identifikation dieser Personen vgl. das folgende Kapitel. 285 „Darum sehen die großen Russen in ihm [Napoleon] schlechtweg den Wirbel des Da¬ seins“ RA II 471. - Im Buch der Freunde findet sich der Vergleich ebenfalls: „Deutsche tun sich viel auf die Tiefe zugute, die nur ein anderes Wort ist für nicht realisierte Form. Nach ihnen müßte uns die Natur ohne Haut, als wandelnde Abgründe und Wirbel, herumgehen lassen “ (IIA III 275). m' RA III 37. Die Formulierung erinnert an den Definition der der „österreichischen Idee“, die der im Geistigen angesiedelte „geometrische Ort für alle möglichen (praktischen) Austriazismen“ (RA II 25) sei, siehe oben Kapitel II, 2. 287 Der sich hier abzeichnende Widerspruch zwischen dem „Ringen um Freiheit“ und der „Freiheit“, die ja gerade nicht gesucht werde, läßt sich nur über Hofmannsthals „geläuterten Persönlichkeitsbegriff“ lösen, der-wie in seinen skandinavischen Reden deutlich wird an einen „geläuterten Freiheitsbegriff

gebunden ist. Hofmannsthal meint mit dem „Ringen um Frei¬

heit“ die Freiheit, die derjenige besitzt, „der keinem anderen Gesetz gehorchen muß als dem Gesetz seiner eigenen Person“. Siehe oben Kapitel I, 2.2. An dieser Stelle ist Nostitz Interpretation, daß die Rede ein „Appell contra spem“ sei und deshalb auch im Hinblick auf Hofmannsthals didaktische Motivation zu deuten sei, plau¬ sibel. Vgl. Nostitz, a.a.O., S. 263 und S. 266. — Das Diktum „The whole man must move at once“, welches Hofmannsthal im ersten Brief des Zurückgekehrten (E 544 ff.) als Lebensideal aus¬ führlich

erörtert,

wird

von

Brian

Coghlan

als

Zusammenfassung

von

Hofmannsthals

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„daß ohne geglaubte Ganzheit zu leben unmöglich ist - daß im halben Glauben kein Leben ist, daß dem Leben entfliehen, wie die Romantik wähnte, unmöglich ist - daß das Leben lebbar wird nur durch gültige Bin¬ dungen.“ (RA III 39)

Der Gedanke der Ganzheit des Lebens, die geistige Überwindung aller „Zweitei¬ lungen, in die der Geist das Leben polarisiert hatte“ (RA III 40), wird für Hof¬ mannsthal die Grundlage eines Synthesegedankens, der die Möglichkeit einer Einigung der seit Jahrhunderten zerrissenen deutschen Nation birgt. Der „syn¬ thesesuchende Geist“ erreiche, daß „Geist Leben wird und Leben Geist“, daß die „politische Erfassung des Geistigen und der geistigen des Politischen, zur Bil¬ dung einer wahren Nation“2*9 gelingen könne. Diese angestrebte Synthese bilde sich „langsam und großartig“ in einem Prozeß heraus, einer ,,innere[n] Gegen¬ bewegung gegen [...]

Renaissance und Reformation“. Diesen Prozeß nennt

Hofmannsthal „konservative Revolution“ (RA III 41). Auf den Begriff der ,konservativen Revolution1 ist die Rede von vornherein angelegt. Mit den klassischen Mitteln der Rhetorik gestaltet Hofmannsthal den Schluß als retardatio, welche in der Chmax eine spannungsgeladene Lösung fin¬ det. Diese Spannung resultiert aus der scheinbaren contradictio in adiecto zwi¬ schen ,Revolution' und .konservativ*. Daß diese Rhetorik ihre Wirkung nicht verfehlt hat, beweist nicht zuletzt die Wirkungsgeschichte der Münchner Re¬ de.290



2. Die „Suchenden“. Hofmannsthals Typologie der Geistigkeit Wie es Hofmannsthals Brief an Willy Haas291 zu entnehmen ist, wollte er mit seiner Münchner Rede ein wir mit den „wichtigsten Zeitgenossen“ konstituie¬ ren. Er konnte annehmen, einige verständige Zuhörer im Publikum vorzufinden, die hinter seinen anonymen Typenbeschreibungen die Anspielungen auf be¬ stimmte Persönlichkeiten erkennen würden. Der damit von Hofmannsthal um¬ schriebene Adressatenkreis erinnert an die „Königlichen vom Geiste“ van Eedens und die „stille Gemeinde“ (RA II 53), die in der Rede Die Idee Europa angesprochen wurde.292 Hofmannsthals persönliches Ringen um die Sprache, die Überwindung der erfahrenen Sprachlosigkeit in der sogenannten Chandos-Krise,293 spiegelt sich gleichsam auf rhetorischer Ebene in seiner Methode der Verschleierung. Mit den

Persönlichkeitsbegriff verstanden, vgl. B.C., „The whole man must move at once“. Das Persönlichkeitsbild des Menschen bei Hofmannsthal, in: Hofmannsthal-Forschungen 8 (1983), S. 29-47. 289 RA III 40. Im Buch der Freunde findet man eine ähnliche Formulierung, in der wieder stärker die Skepsis des Dichters hervortritt: „Wenn die Deutschen jetzt das Geistige in die Po¬ litik einbeziehen wollen, so müssen sie vor allem lernen, zwei Begriffe scharf zu trennen, deren einer sich aufs nächste, der andere aufs Höchste bezieht: Zweck und Ziel.“ (RA III 273). 2,0Siehe unten 1. Teil, Kapitel IV. 4.4. 291 Siehe oben Kapitel IV. 1.1. 292 Siehe oben Kapitel II, 4. 2,3 Vgl. Paul Requadt, Sprachverleugnung und Mantelsymbolik im Werke Hofmannsthals, in: Deutsche Vierteljahresschrift 29 (1955), S. 255 ff.; siehe auch 3. Teil, Kapitel II.5.

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versteckten Anspielungen wendet sich der Redner an wenige und wird nur von wenigen verstanden. Dies erlaubt, die Münchner Rede in die Tradition der her¬ metischen Texte einzureihen. Hofmannsthal bietet bei allen Anleihen aus der Wirklichkeit nicht Portraits konkreter Menschen. Vielmehr geht es ihm um eine Typen-Beschreibung des .Suchenden1 in seinen verschiedenen Ausprägungen. Dies ist der Grund für die Vielschichtigkeit und Komplexität der Bezüge, die nie eine eindeutige Zuord¬ nung der Charakteristika auf eine der gemeinten Persönlichkeiten zulassen.294 2.1. Die Vorbilder des ersten Typus: Stefan George und Rudolf Pannwitz Stefan George ist eine der Persönlichkeiten, die für den ersten Typus das Vorbild in der Wirklichkeit abgaben. Er ist der ,Suchende“ „mit dem Anspruch auf Leh¬ rerschaft und Führerschaft“, die „gefährliche hybride Natur, Liebender und Has¬ sender, Lehrer und Verführer zugleich“, „mehr Prophet als Dichter“ (RA III 32). Er ist Schöpfer einer „unrealisierten Dichtung“ (RA III 32), in welcher um das Wort zwar gerungen wird, „aber nicht [um] mitzuwirken an der Schöpfung der Sprachnorm“ (RA III 33), sondern um der magischen Qualitäten der Spra¬ che willen. George war es, der seine starke Wirkung auf Jüngere nutzte, sich ei¬ nen elitären Kreis heranzuziehen, um mit sprachlichen Mitteln neue, unbedingte Ordnungen des Geistigen zu schaffen, die in bloßer Sprache jedoch nicht mehr gefaßt werden könnten. Die offensichtlichen Bezüge zu Stefan George lassen sich darüber hinaus mit dem Hinweis auf das nach Hofmannsthals erster Begeg¬ nung mit George im Jahr 1891 entstandene Gedicht Der Prophet2"15 belegen. An einer Stelle (RA III 33) in der Charakteristik des ersten Typus wurde von Interpreten der Münchner Rede ein Bruch bemerkt, da die Beschreibung nicht mehr wie im vorangehenden auf den „formstrengen, ganz im dichterischen Wort lebenden George“ passen will.296 Nostitz erkennt Rudolf Pannwitz in dem „erotischen Träumer“, der sich bisweilen auch zum Dichterischen herablasse und sich traditioneller literarischer Formen - „des Dramas, des Romans, der Parabel“ - bediene, „um sie zu transzendieren“ und den „Mythos des eigenen Ich“ oder auch „kosmische Geheimnisse“ zu offenbaren (RA III 33). Eine auffällig ähnliche Beschreibung von Pannwitz in einem Brief Hof¬ mannsthals an Florens Christian Rang297 läßt diese Deutung plausibel erschei¬ nen. Darüber hinaus wird sie durch einem Brief des Dichters an Max Rychner bestätigt, der mit Pannwitz „einige bedeutende und fast immer unangenehme

294 Vgl. Haltmeier, a.a.O., S. 302. 295 „Von seinen Worten, den unscheinbar leisen / geht eine Herrschaft aus und ein Ver¬ führen, / Er macht die leere Luft beengend kreisen / und er kann töten ohne zu berühren“ (D I 125) vgl. Nostitz, a.a.O., S. 266 f. 2% Nostitz, a.a.O., S. 267 - Für Werner Volke ist Pannwitz schon in den auf George be¬ zogenen Eigenschaften erkennbar, a.a.O., S. 152. 2,7 Im Brief vom 28.3.24 schrieb Hofmannsthal, Pannwitz sei zwar „dem Dichterischen nahe“, dieses „Dichterische“ aber werde aufgrund seiner ,,unheimliche[n], titanische[n] Er¬ scheinung“ von einem anderen, schwer zu benennenden „Element“ aufgezehrt; zit. nach No¬ stitz, a.a.O., S. 267.

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Züge der buchenden1“298 in Verbindung gebracht hatte. Hofmannsthal bestätigt Rychners Vermutung mit folgender Begründung: „Mit tiefstem Recht bringen Sie den Namen Pannwitz hier heran (ich nannte absichtlich diesen Namen, um davon abzulenken, daß er an einer anderen Stelle fast zu erkennbar hingezeichnet ist.)“292

Rudolf Pannwitz (1881-1969) entzieht sich jeder Festlegung auf einen bestimm¬ ten Beruf und jeglicher Einordnung in eine bestimmte geistige Tradition.300 Sein Gesamtwerk umfaßt Gedichte, Epen, Mythen, Prosadichtungen, zuweilen in Versform gehaltene philosophische Studien, wissenschaftliche Abhandlungen verschiedener Fachrichtungen, Zeitungsartikel und Literaturübersetzungen. In Marburg und Berlin studierte er u.a. bei Berthold Otto, Hermann Cohen, Georg Simmel und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff; mit dem befreundeten Leh¬ rer Otto zur Linde gab er die Zeitschrift Charon heraus. Ein vorübergehender Kontakt Pannwitz’ zum George-Kreis macht sich in seinem eigenwilligen Schreibstil bemerkbar, den er sich nach dem Vorbild Georges angeeignet hatte. Pannwitz hielt sich für den wahren Erben Nietzsches, den allerdings auch Hofmannsthal in ihm sah,301 und folgte dem Philosophen in einem bewußt antibürgerlichen Lebenswandel.302 Er besaß ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein, das zuweilen in hysterische Selbstüberhebung ausartete - er verglich sich dann mit Christus oder Napoleon.303 Im menschlichen Umgang wie im Denken war er aggressiv, was ein Zusammenleben, ja selbst eine Unterhal¬ tung erschweren konnte.304 Die Ambivalenz in Hofmannsthals Beschreibung des ersten buchenden1 „das ewig Problematische“, welches trotz aller positiven Eigenschaften hindurchklingt - rührt wohl auch von der sonderbaren Verbindung, die zwischen dem Dichter und Rudolf Pannwitz über einige Jahre hinweg Bestand hatte. Die Beziehung der beiden Männer gründete in einer gegenseitigen geistigen Faszina¬ tion, die allerdings keine freundschaftliche Vertrautheit aufkommen ließ. Von Anfang an empfand Hofmannsthal seine intensive Beziehung zu Pannwitz als ambivalent. In einem der ersten Briefe an den Jüngeren schrieb er

29SMax Rychner an Hofmannsthal; zit. nach Nostitz, a.a.O, S. 268. Zit. nach Nostitz, a.a.O., S. 268. — Hofmannsthal übernimmt einen Ausspruch von Pannwitz über Goethe, siehe RA III 28. 300 Alfred Guth, Rudolf Pannwitz, Paris 1973, S. 10. - Vgl. ferner Udo Rusker, Uber den Denker Rudolf Pannwitz. Mit einer Selbstbiograpbie von Pannwitz und einer Bibliographie, Mei¬ senheim am Glan 1970. 301 Vgl. Volke, Hofmannsthal, a.a.O., S. 155. 302 Seit etwa Anfang des Krieges - Pannwitz war aus gesundheitlichen Gründen nicht ein¬ gezogen worden - umgab ihn eine Art Hofstaat, der neben seiner ersten Frau, Helene Otto, aus dem Maler Friedrich Mauracher, ein oder zwei Geliebten und seinen zum geringeren Teil legitimen Kindern bestand; vgl. Guth, a.a.O., S. 735. 303 Vgl. Charles Andrew Weeks, Hofmannsthal, Pannwitz und „Der Turm“, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1987), S. 336-359, hier S. 339. 304 Als Pannwitz einmal auch am Mittagstisch nicht aufhörte, über Philosophie zu reden, soll Hofmannsthal ihn mit der Frage „Können Sie auch über etwas Banales sprechen?“ unter¬ brochen haben.

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bezüglich ihres zukünftigen Verhältnisses: „[...] ich fühle wir werden uns durch¬ aus und durchaus beschränken müssen, um an dem Zu-viel nicht zu leiden bis zur Verstörung.“305 In den Jahren ihrer Bekanntschaft unterstützte Hofmannsthal den Privatge¬ lehrten, der unter miserablen finanziellen Umständen lebte, so gut er konnte. In seinem Freundeskreis sammelte er Geld, damit Pannwitz in seiner geistigen Tä¬ tigkeit nicht durch materielle Sorgen eingeschränkt würde - eine Mühe, die die¬ ser ihm wenig dankte.306 Auch vermittelte ihm Hofmannsthal eine Arbeit, indem er ihn im Dezember 1917 im Rahmen einer gemeinsam mit Josef Redlich in die Wege geleiteten Mission nach Prag schickte. Er sollte sich dort mit führenden tschechischen Intellektuellen treffen, um sie für eine zukünftige europäische Zu¬ sammenarbeit zu gewinnen.307 Das gemeinsame Anliegen der Zukunft Europas hatte die beiden Männer auch zusammengeführt.30S Im Sommer 1917 erhielt Hofmannsthal von Pannwitz dessen gerade erschienenes Buch Die Krisis der europäischen Kultur.30v Schon der Titel des Buches dürfte Hofmannsthal neugierig gemacht haben, hatte er doch wenige Wochen zuvor in Bern über das gleiche Thema selbst gesprochen.310 Er war zutiefst beeindruckt von dem unbekannten Autor und empfand den Erhalt des Buches als ein Ereignis, das in seinem Leben „die größte Epoche“ gemacht

305 Aus Hofmannsthals Briefen an Rudolf Pannwitz, a.a.O., hier S. 26, zit. bei Volke, a.a.O., S. 155. Vgl. auch den Brief vom 11.August 1917 an Ottonie von Degenfeld, der er von dem „merkwürdigen Erlebnis“, das die Begegnung mit Pannwitz für ihn darstellte, berichtet: „Fast ist dies alles zuviel - es muß ein Gleichgewicht sein zwischen dem, was man empfängt und gibt, manchmal schwankt die Waage heftig.“ - Im Februar 1918 wurde Pannwitz durch die Vermittlung Hofmannsthals bei Ottonie von Degenfeld in Neubeuern aufgenommen. Nach¬ dem die Gräfin den außergewöhnlichen Gast zunächst enthusiastisch begrüßt hatte, änderte sie ihre Meinung, nachdem es zu einer „Affaire Pannwitz“

gekommen war

(vgl.

Degen-

feldt/Hofmannsthal, a.a.O., S. 373), was nicht ohne Folgen für das Verhältnis Hofmannsthals zu Pannwitz blieb, vgl. Degenfeld/Hofmannsthal, a.a.O., S. 382 f. 306 Vgl. den Briefwechsel mit Ottonie von Degenfeld, a.a.O., besonders die Briefe vom 27. Mai 1918 (S. 375 ff.), vom 30. Juni 1918 (S. 381 ff.) und vom 14. April 1919 (S. 398). 30;Vgl. Weeks, a.a.O., S. 340. - Zu Hofmannsthals größtenteils gescheiterten kulturpoliti¬ schen Initiativen für die slawischen Völker, insbesondere für das tschechische Volk, um dessen europäische Integration in Europa an der Seite Österreichs er sich sehr bemühte, vgl. Martin Stern, Hofmannsthal und Böhmen, a.a.O., S. 195-215. 308 Vgl. Gregor Streim, Deutscher Geist und europäische Kultur, a.a.O., S. 187 ff. m Die Krisis der europäischen Kultur ist der erste Band der Trilogie Die Freiheit des Men¬ schen und erschien erstmals im Verlag Hans Carl, Feldafing 1917. Der Verleger Carl stellt ein Beispiel dar für die Wirkung , die Pannwitz’ Charisma bisweilen hatte. Bis 1913 war Carl der Besitzer der wichtigen Fachzeitschrift Allgemeine Brauerei- und Hopfenzeitung. Nachdem er jedoch einige Artikel und Gedichte von Pannwitz gelesen hatte, gründete er eigens zur Veröf¬ fentlichung von dessen Schriften einen Verlag mit Sitz in Feldafing bei München. Vgl. Guth, a.a.O., S. 735. tel II.4.

Vgl. die zusammen mit Borchardt konzipierte Rede Die Idee Europa, siehe oben Kapi¬ F

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hat - „selbst die erste Begegnung 1892 mit George eingerechnet“, wie er es ge¬ genüber Redlich bekannte.311 Pannwitz’ Krisis der europäischen Kultur behandelt im Grunde die gleiche Problematik, von der auch Hofmannsthal, Borchardt und die Gründer des For¬ te-Kreises ausgingen: Die abendländische Geistes- und Kulturgeschichte sei in ihrer neuzeitlichen Entwicklung in eine Sackgasse geraten, deren Ende - sei es nun „Not der Zeit“ oder „Krise“ genannt - die geistig tätigen Menschen zum Nachdenken über mögliche Auswege zwinge. Wo Hofmannsthal in Überein¬ stimmung mit van Eeden und Gutkind zu einem neuen Gemeinschaftsgefühl über den „geläuterten Persönlichkeitsbegriff“312 gelangen will, fordert Pannwitz entsprechend die Integration orientalischen Gedankengutes zur Überwindung des individualistischen Menschenbildes der Aufklärung. Seine kulturkritische Studie, die in weiten Teilen eine Untersuchung europäischer Geistestraditionen darstellt, läuft auf das Postulat einer neuen „Sittlichkeit“ nach den Lehren Budd¬ has und Konfuzius’ hinaus, ohne die „die höchste sittenlehre der weit“, Nietz¬ sches „Zarathustra“ nämlich, nicht verstanden werden könne.313 Pannwitz hebt besonders die Übersetzung der Reden Gotamo Buddhos von Karl Eugen Neu¬ mann hervor, die Hofmannsthal später selbst positiv rezensierte.’14 Pannwitz1 Vorstellungen von einem neuem Europa, die man außer seiner Deutschen Lehre auch seinem siebten Flugblatt3n mit dem Titel Europa entneh¬ men kann, stimmen mit denen Hofmannsthals und Borchardts darin überein, daß von Deutschland aus eine geistige Macht zwischen den materialistischen Ge¬ sellschaftskonzeptionen Amerikas und der Sowjetunion zu begründen sei,316 wo¬ bei die europäischen Nationalitäten, den engstirnigen Nationalismus überwin¬ dend, sich auf ihre jeweils unterschiedlichen kulturellen Traditionen besinnen sollten, um vereint dieses neue Europa zu schaffen.317 Die Konzeption schließt

311 Zit. bei Nostitz, a.a.O., S. 268 und Weeks, a.a.O., S. 340. Auch gegenüber Pannwitz verwendete Hofmannsthal in seinem Antwortschreiben vom 31. Juli 1917 den Ausdruck „Epo¬ che machen“: „[...] dieses Buch berührt einen gleich beim Aufblättern blitzartig wie ein Ge¬ sicht

[...]

Ihr Buch macht in mir Epoche, das muß ich mir selber sagen“ Hofmanns-

thal/Pannwitz, a.a.O., S. 23, vgl. auch Volke a.a.O., S. 155. Hofmannsthal bediente sich dieser Wendung zwar nicht häufig, aber mehr als einmal. In der Münchner Rede selbst, zudem in be¬ zug auf den ersten Typus findet sich der Satz „[...] es wird keiner ihm begegnet sein, der nicht von dieser Begegnung in seinem inneren Leben Epoche datierte“ (RA III33). Nostitz wertet diese Parallele als Argument für die „Patenschaft“ Pannwitz’, a.a.O., S. 268. Josef Nadler und Walter Benjamins Essay über Goethes Wahlverwandtschaften machten ebenfalls „Epoche“ in Hofmannsthals Leben. 312 Siehe oben Kapitel 1.2. 313 Rudolf Pannwitz, Werke Bd. 2, Feldafing 1921, S. 221. 314 Siehe RA II 150 ff. Das Werk des Übersetzers der Lehren Buddhas ist nach Hofmannsthal „ein großer Besitz der Nation“ (RA II 150). 315 Neben seiner Deutschen Lehre, Nürnberg 1919, veröffentlichte Pannwitz von 1919 bis 1921 eine Reihe von Schriften, Flugblätter genannt, die auch für den in der Münchner Rede verwendeten Begriff der konservativen Revolution' von Bedeutung sind. 316Pannwitz, Europa, a.a.O., S. 6. 3l7A.a.O., S. 12.

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ein großdeutsches Reich unter der Vorherrschaft Preußens aus;3is vielmehr soll¬ ten in Mitteleuropa Staatenverbände auf der Grundlage der Stämme gebildet werden.319 Zum endgültigen Bruch zwischen Hofmannsthal und Pannwitz kam es im Jahr 1921. Pannwitz’ Größenwahn und seine antisemitischen Angriffe, die sich auch gegen Josef Redlich richteten, wurden Hofmannsthal unerträglich. Bereits Ende des Jahres 1920 brach er den Briefkontakt zu Pannwitz ab,320 blieb ihm ge¬ genüber allerdings geistig loyal.321 Für die Münchner Rede ist Pannwitz jedoch nicht nur als Vorbild für den ersten Typus der ,Suchenden‘ von Bedeutung. Seine Schriften, die in der Zeit der Bekanntschaft mit Hofmannsthal entstanden sind, haben Einfluß auf das Ver¬ ständnis des Dichters vom Begriff der .konservativen Revolution' gehabt. Neben George und Pannwitz waren möglicherweise auch der expressionisti¬ sche Dichter Alfred Brust322 und der Verfasser des im Zusammenhang mit der .konservativen Revolution' stehenden Epos Der Fränkische Koran, Ludwig Derleth323, Vorbilder für den ersten Typus der .Suchenden'. 2.2. Die Vorbilder des zweiten Typus: Max Weber und Eberhard von Bodenhausen Den zweiten Typus, den Hofmannsthal im „Gewühl der Suchenden“ (RA III 34) ausmacht, findet er „an einer der hohen, strengen Stätten der Wissenschaft, inmitten des aufgehäuften Geisteserbes“ (RA III 34) - kurz, an einer deutschen Universität. „Ein schwermütiger Ernst [...], aber geistige Leidenschaft“ (RA III 34) charakterisieren diesen Typus. Er besitze einen heroischen Willen zur Er¬ kenntnis und überspanne die Geisteskräfte, da er alle sittliche Verantwortung auf sich nehmen wolle. Dies führe zur tragischen Einsicht, daß „die Dignität der sitt¬ liche Norm uns erst im Vollzug zu erkennen gegeben sei.“324 Eine „Hybris des

318 A.a.O., S. 13. 319 Pannwitz plädierte für Salzburg als Hauptstadt einer bayerisch-österreichischen Regi¬ on, a.a.O., S. 15. 320 Der letzte Brief datiert vom 17. November 1920. Rudolf Hirsch sagte, daß Hofmanns¬ thal nach Erhalt dieses Briefes von Pannwitz Tränen kamen, weil er sich nach dessen antisemi¬ tischen Ausfällen u.a. gegenüber Redlich gezwungen sah, den Kontakt abzubrechen. 321 Weeks, a.a.O., S. 342. 322 Vgl. Haltmeier, a.a.O., S. 302 f. Alfred Brust erkennt auch Walter Benjamin unter den .Suchenden“, vgl. Benjamins Brief an Hofmannsthal vom 4. Dezember 1927, in: W.B., Briefe I, hrsg. v. Gershom Scholem und Theodor W. Adorno, Frankfurt am Main 1978, Frankfurt am Main 1966, S. 464. 323 In seinem Brief vom 22.1.1928 schrieb Hofmannsthal an Carl Jakob Burckhardt bezüg¬ lich Derleth: „Ich denke es ist einer von den 1001 falschen Propheten, die doch ein Körnchen von ewiger Wahrheit in sich tragen, ganz genau eine von den Figuren aus dem Münchner Vor¬ trag“ Hofmannsthal/Burckhardt, a.a.O., S. 273. - Auf diesen Satz verwies mich Rudolf Hirsch zum Verständnis der Münchner Rede. Dort wird die Interpretation der Münchner Rede von Alewyn und Nostitz bestätigt und Hofmannsthals ambivalentes Verhältnis gegenüber den .Su¬ chenden“ belegt. 324 RA III 34. Dieser Halbsatz ist in der Rede als Zitat gekennzeichnet und entstammt Marianne Webers Biographie ihres Mannes, siehe unten Anm. 295.

69

Dienenwollens“ umgebe ihn, wie die „Hybris des Herrschenwollens“ den ersten Typus. Die Wissenschaft, der er diene, sei hybrid geworden, weil - „vom Leben weggebrochen“ - sie doch eigentlich dem Menschen zu Dienste sein sollte:3"5 Diesen

Gelehrtentypus,

die

Verkörperung

des

„protestantischen

Arbeits¬

ethos“326, illustriert Hofmannsthal mit einem Zinzendorfschen Kirchenlied: „Wir wollen nach Arbeit fragen, / Wo welche ist, / Nicht an dem Amt ver¬ zagen / Und unsere Steine tragen / Aufs Baugerüst“ (RA III 35)

Auffällige Parallelen zwischen dem Text der Münchner Rede und Hofmanns¬ thals Besprechung der ein Jahr zuvor erschienen Weber-Biographie von dessen Frau Marianne Weber327 belegen die Annahme, daß das Vorbild für den zweiten Typus Max Weber war. Für die Beziehung zwischen Weber und Hofmannsthal findet sich in diesem Buch eine aufschlußreiche Information: Marianne Weber berichtet von der einzigen persönlichen Begegnung der beiden Männer im Som¬ mer 1918, die durch die Vermittlung von Alfred von Nostitz während Webers Gastprofessur in Wien zustande kam.328 Danach blieb es „bei einem oberflächli¬ chen Kontakt“329. Fraglich ist, inwieweit Hofmannsthal sich über die ausführli¬ che Biographie hinaus mit Max Webers Schriften direkt beschäftigt hat.330 Als Hofmannsthal ein Jahr nach der Münchner Rede versucht, eine Ge¬ denkschrift für seinen 1918 verstorbenen Freund Eberhard von Bodenhausen zu schreiben331, kommt ihm die Person Max Webers wohl nicht zufällig wieder in den Sinn: „Er [Bodenhausen] hatte Max Weber sterben sehen33" - das Vergebli¬ che auch solcher Opfer“ (RA III 160) und: „Parallel-Dasein mit einer Figur wie Max Weber. Nicht-Begegnung“ (RA III 165) lauten die Stichworte. Hofmanns¬ thal bemerkt offenbar eine Ähnlichkeit zwischen dem vertrauten Freund und dem berühmten Gelehrten, den er sozusagen aus zweiter Hand kannte - durch die Biographie seiner Frau nämlich. Der Münchner Rede zufolge scheinen bei¬ den, Weber und Bodenhausen, die „hohe Empfindlichkeit, höchste Forderung an sich selbst“, die „großartige Resignation“ angesichts des „Durchschauens eines

325 Der Geist dieses Umganges mit Wissenschaft ist wohl derselbe, der für Hofmannsthal das Leben in „Zweiteilungen“ polarisiert hat, wie es am Ende der Rede (RA III 40) heißt. 326 Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Ge¬ sammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, Tübingen 1920, S. 33 ff. und S. 84 ff. 327 Biographie (RA III 93 - 98) Nostitz stellt die entscheidenden Passagen gegenüber, a.a.O.,S. 268 f. 328 Max Weber schrieb nach Hause: „Gestern war ich beim sächsischen Gesandten (v. inostitz) mit Hugo von Hofmannsthal, ein kluger feiner Wiener, aber durchaus nicht so raffiniert kultiviert, wie der ,Tod des Tizian' vermuten läßt“, vgl. Marianne Weber, Max Weber. Ein Le¬ bensbild, Tübingen 1926, S. 626. Der Hörsaal war nach Marianne Webers Darstellung in den Vorlesungen ihres Mannes über Religionsphilosophie regelmäßig überfüllt; a.a.O., S. 616 f. Für eine Anwesenheit Hofmannsthals gibt es keine Belege. 329Nostitz, a.a.O., S. 269. 330 In Hamburgers Bibliotheksbericht wird keine Primärliteratur von Weber aufgeführt. 331 Ein Versuch, der zu seinem Leidwesen scheiterte. Lediglich die Aufzeichnungen sind überliefert, siehe RA III 155 ff. 332 Bodenhausen starb 1918, Weber 1920. Entweder Hofmannsthal irrt sich hier oder er versteht „sterben“ im übertragenen Sinne.

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Leer-gewordenen“ und eine gewisse „Sentimentalität [...] im Schwernehmen“ (RA III 156) gemein. „Seine [Bodenhausens] Art von Machtbegier. Zugleich fast eine Selbstaufopferung.“ (RA III 164) erinnert an das Bild, das Hofmannsthal von Weber gewonnen hat. Gemeinsam ist den beiden Männern der protestanti¬ sche Hintergrund mit dem damit verbundenen Leistungsethos: „Druck des pro¬ testantischen unfreien Weltbildes. Die vielen Dinge, die man leisten muß.“333 Hofmannsthal könnte also bei der Beschreibung des zweiten Typus der .Su¬ chenden1 außer an Max Weber auch an seinen Freund Bodenhausen gedacht ha¬ ben, weniger zwar, wenn er den Wissenschaftler beschreibt, denn Bodenhausen entspricht als Verwaltungsbeamter und später Industrieller trotz seiner umfas¬ senden kunsthistorischen Bildung334 wenig dem Typus des deutschen Professors. Aber wenn „hinter dieser heldenhaften Strenge mit eherner Schwermut die Töne des Zinzendorfschen Kirchenliedes“ (RA III 35) hervortönen, könnte auch die Erinnerung an den von Depressionen geplagten Freund333 der Anlaß für diesen Aspekt des deutschen .Suchenden1 gewesen sein. 2.3. Josef Nadler Wenn die .Suchenden1 im weiteren Verlauf der Münchner Rede in ihren höch¬ sten Augenblicken als „Deuter“ und „Seher“ (RA III 36) begriffen werden, wenn „das witternde ahnende deutsche Wesen“ in ihnen hervortritt, „witternd nach Urnatur im Menschen und in der Welt [...] deutend die Siedlung und den Stamm“ (RA III 36), dann hat Hofmannsthal den Verfasser der Literaturge¬ schichte der deutschen Stämme und Landschaften, Josef Nadler, vor Augen.336 Der aus Nordböhmen stammende Literaturhistoriker untersuchte in seinem während der Kriegsjahre begonnenen Lebenswerk den Bestand deutscher Litera¬ tur im Hinblick auf ihre regionalen und volkstümlichen Ursprünge. In Fachkrei¬ sen wurde dieser methodische Ansatz von Anfang an kritisiert. Man warf Nadler vor allem Mangel an Wissenschaftlichkeit zugunsten einer „schwülen Rhetorik“ vor.337 Mit dem 1941 erschienenen vierten Band über die Literatur der Gegen¬ wart - in der vierten Auflage lautet der Titel nun Literaturgeschichte des deutschen Volkes - wurde Nadler zu einem der Vordenker nationalsozialistischer völkischer Ideologie.338

333 RA III 164; Hervorhebungen von Hofmannsthal. 334 Der Berliner Museumsdirektor Wilhelm Bode wollte Bodenhausen als seinen Nachfol¬ ger sehen; vgl. Hofmannsthal/Bodenhausen, Briefe der Freundschaft, hrsg. v. Dora von Boden¬ hausen, Berlin 1953, S. 6. 335 Vgl. die beiden Briefe Hofmannsthals über Eberhard von Bodenhausens Depression an Ottonie von Degenfeld. 336 Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, 5 Bde, Re¬ gensburg 1912 ff. vgl. Werner Volke, Hofmannsthal und Josef Nadler in Briefen, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft XVIII (1974), S. 37-88, hier S. 37. Ferner erkennen Nostitz, a.a.O., S. 272, und Mattenklott, a.a.O., S. 16 ff. Nadler in der Münchner Rede. 337 Volke, Nadler, a.a.O., S. 43. 338 Zur Diskussion über Nadlers Rolle im Nationalsozialismus vgl. Volke, Nadler a.a.O. S. 48 Anm. 40 und S. 49 f.

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Das Erscheinen des ersten Bandes der Literaturgeschichte im Jahr 1916 erntete den enthusiastischen Beifall Hofmannsthals. Nadlers Buch zählte zu den wenigen Ereignissen, von denen der Dichter sagte, sie hätten in seinem Leben „wahrhaft Epoche gemacht.“334 Nachdrücklich setzte er sich für die berufliche Laufbahn des Germanisten und die Verbreitung seines Werkes ein.340 Immer wieder betonte er in Briefen an Freunde und Bekannte, welch „ein ungeheurer für die nächste Generation wichtigster Besitz der Nation“341 Nadlers Literaturge¬ schichte darstelle. Von größter Bedeutung für Hofmannsthal war der 1918 erschienene dritte Band der Literaturgeschichte, da er ein Kapitel über den bayerisch-österreichi¬ schen Barock enthielt.342 In diesem wenig erforschten Gebiet der Germanistik besaß Hofmannsthal keine weitreichenden Kenntnisse; jedenfalls ist eine inten¬ sive Primärlektüre deutscher Barockdramen nicht durch entsprechende Notizen belegt.343 Allerdings suchte der Dichter in diesem dritten Band weniger konkrete literarischen Quellen als vielmehr den Geist des barocken Süddeutschland.344 Während der zweite Band, der ein Kapitel über Grimmelshausen enthält, später direkten Einfluß auf den Turm genommen hat - Oliviers Vorbild war der gleich¬ namige Gegenspieler des Simplizissimus -, dürfte der dritte Band nicht nur beim Plan der Salzburger Festspiele, sondern auch bei der Wiederaufnahme des Stoffes von La vida es sueno eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben. Wie ernst Hofmannsthal die von Nadler aufgezeigten Zusammenhänge nahm, „die wirklich tiefer sind als das Literarische“,345 geht nicht zuletzt aus den zwischen 1924 und 1928 entstandenen Aufzeichnungen zu dessen Buch hervor (RA III 147-151). Gerade das, was Fachkollegen an Nadlers Methode kritisier¬ ten, zog Hofmannsthal an: Die „ungeheure Lebenswärme“346 und das „freudig Ideelle“ (RA III 149) der Darstellung lassen ihn zu dem Schluß kommen, daß für ihn die „deutsche Literaturgeschichte“ (RA III 151) durch Nadler existiere. Aber auch eine Skepsis gegenüber Nadlers theoretischem Ansatz ist in diesen Aufzeichnungen zu bemerken: „Bedenklicher Determinismus - alles Höhere des Menschen aus seinem Niedersten entwickeln

[...]

Das Theorem, These, Ausgangspunkt ist

fruchtbar, solange es sich um allgemeine Gesichtspunkte handelt - die an¬ schaulich. Sobald es sich des Individuums .bemächtigen will1, muß die

339 So Hofmannsthal in einem Brief vom 22. Mai 1918 an August Sauer, dessen Bespre¬ chungen in der Österreichischen Rundschau zwischen 1911 und 1914 er auch die Bekanntschaft mit Nadlers Werk verdankte; vgl. Volke, Nadler, a.a.O., S. 52 ff. 340 Volke, Nadler, a.a.O, S. 52. 341 Siehe Brief an Elsa und Hugo Bruckmann vom 23. November 1919, abgedruckt bei Volke, Nadler, a.a.O., S. 57. 342 Josef Nadler, Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, III. Band, S. 3-109. 343 George C. Schoolfield, Nadler, Hofmannsthal und „Barock“, in: Vierteljahresschnft Adalbert Stifter Institut 35 (1968), S. 157-170, hier S. 166. 344 Schoolfield, a.a.O., S. 169. 345 Zit. nach Schoolfield, a.a.O., S. 169. J46Volke, Nadler, a.a.O., S. 45.

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Theorie falsch und entstellend werden: das höhere Recht des Individuums besteht in der Überwindung der Gebundenheiten. Es wäre Literaturge¬ schichte gegen die Stimme des aus höherem göttlichem Gesichtspunkt Ge¬ rechtfertigten“ (RA III 150). Hofmannsthal betont, daß sich mit Nadlers Theorie nicht alle großen Dichter in ihrer Genialität erklären ließen, so zum Beispiel Lessing, dessen „Bedeutung für die Nation [...] in seinem Widerspruch zu ihr“ (RA III 142) liege. Diese Kritik schränkt jedoch weder Hofmannsthals grundsätzliche Zustimmung noch seine Verehrung für Nadler ein. Sogar nach einer vorübergehenden Verstimmung an¬ läßlich Nadlers Beitrag in der Festschrift Eranos zu Hofmannsthals 50. Geburts¬ tag347 versicherte der Dichter dem Germanisten noch „seinen nie erkaltenden Anteil an Ihrem geistigen Dasein“348. 2.4. Die „Legion der Suchenden“ Die Eigenschaften des deutschen ,Suchenden4 treffen für Hofmannsthal auf eine ganze Reihe von Zeitgenossen zu, die er sich nicht scheut, als „Legion“ zu be¬ zeichnen (RA III 35). Den „zum frühen Tode bestimmten Jüngling“ (RA III 35) identifiziert Nostitz als den 1916 achtundzwanzigjährig gefallenen Norbert von Hellingrath, an dessen Hölderlin-Studien Hofmannsthal großen Anteil genom¬ men hatte.349 In dem „Sechzigjährigen“ (RA III 35) erkannte schon Walter Benjamin den 1924 verstorbenen gemeinsamen Freund Florens Christian Rang wieder,330 des¬ sen Vermittlung Hofmannsthal und Benjamin ihre Bekanntschaft verdankten. Hinter den „fast Gleichaltrigen“, die sich mit Rang zusammengefunden haben, „daß sie mit Jünglingseifer ihre Erfahrungen aufeinanderlegen, die Erfahrung ih¬ rer Wissenschaft, ihres Arzttums, ihres geistlichen Amtes, ihrer Jugendbildner¬ schaft, ihres Künstlerstrebens“ (RA III 35), stehen, nach Nostitz,351 Walter Ben¬ jamin, der Anglist Theo Spira sowie Martin Buber und Ernst Michel. Für konkrete Vorbilder dieser Gruppe hält Jäger indes die Autoren und Herausgeber des ersten Bandes der Zeitschrift Die Kreatur.352 3. Eine Quelle der Münchner Rede: Florens Christian Rangs Schrift Das Reich In diesem ersten Band der Kreatur ist der Aufsatz Das Reich von Florens Chri¬ stian Rang postum veröffentlicht. Es handelt sich dabei um einen Auszug aus

347 Nadler hatte in seinem Aufsatz für die - ohnehin von Hofmannsthal schlecht aufgenommene - Festschrift das Große Welttheater mit Jakob Wassermanns Wahnschaffe in Verbindung gebracht; vgl. Volke, Nadler, a.a.O., S. 41.

Christian

348 Zit. nach Volke, Nadler, a.a.O., S. 42 bzw. S. 78. 349 Nostitz, a.a.O., S. 270. 350 Siehe Benjamins Brief an Hofmannsthal vom 4. Dezember 1927, Walter Benjamin, Briefe Bd. I, a.a.O., S. 453 und S. 464 f., vgl. auch Haltmaier, a.a.O., S. 303. 351 Nostitz, a.a.O., S. 271. 352 Lorenz Jäger, Neue Quellen zur Münchner Rede und zu Hofmannsthals Freundschaft mit Florens Christian Rang, in: Hofmannsthal-Blätter (1984), Heft 29, S. 3-29, hier S. 4. - Zur Krea¬ tur siehe oben, Kapitel I, 5.

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dem umfangreichen achten Kapitel Freundschaft Reich Kirche des bis heute nicht vollständig vorliegenden Shakespeare-Buches von Rang.353 Schon im Jahr 1923 hatte dieses Kapitel die Aufmerksamkeit Hofmannsthals erregt. Er wollte es in seinen Neuen Deutschen Beiträgen veröffentlichen - ein Plan, der letztlich am Umfang des Textes scheiterte.354 Zur Vorbereitung seines Vortrages in München „versenkte“ sich Hofmannsthal dann „ziemlich tief“ in Rangs Schrift, die ihm im ersten Band der Kreatur vorlag.355 Das Reich handelt wie die Schrifttum-Rede Hofmannsthals von der Sonder¬ stellung Deutschlands innerhalb der anderen europäischen Völker. Auch Rang sieht einen Ausweg aus der geistigen Krisensituation nach dem verlorenen Krieg in einem neu zu konstituierenden Gemeinschaftsgefühl, das sich von dem un¬ heilvollen Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts unterscheiden müsse. Der Kapitelauszug beinhaltet einige zentrale Thesen, die dem gesamten Shakespeare-Werk zugrunde liegen: Rang postuliert eine „Lehre vom Logos“,356 in der die Erfolgsaussicht jeglichen Versuches, die Welt systematisch zu erfassen, geleugnet wird. Den ordnenden Geist versteht er als Anmaßung: „Alle organisa¬ torischen Ideen sind überheblich; von oben her weltordnend aufspielt sich der Mensch als Gott.“357 Einer statisch-doktrinären Ideenlehre stellt Rang seine pneumatische Weltdeutung entgegen, in der ,Einheit“ nicht geleugnet wird: Der „pneumatische Weg ist der immer neue vergebliche gottlose Versuch, daseiende Welt zum Reich Gottes zu machen [...] Denn allerdings hat Geist-Wehen die Richtung auf Einheit; die Ideen aber tragen keine Richtung in sich.“35,5 Dem Idealismus hält Rang vor, sein Geist habe die Welt um ihre höchste Idee, „um ih¬ re apokalyptische“ gebracht und sie damit um das Wunder ihrer Wiedergeburt betrogen.359 Dieser radikalen Religiosität ist ein anarchisches Element eigen, das freilich wegen seiner Radikalität mit dem doktrinären Anarchismus unvereinbar

353 Vgl. Jäger, Neue Quellen, a.a.O., S. 26 Anm. 4, und Uwe Steiner, Die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst. Untersuchungen zum Begriff der Kritik in den frühen Schriften Walter

Benjamins, Würzburg 1989, S. 323. 354 Vgl. Hugo von Hofmannsthal/Florens Christian Rang, Briefwechsel, in: Die neue Rundschau 70 (1959), S. 402-448, S. 432 und S. 438; Jäger, Neue Quellen, a.a.O., S. 3. 355 Siehe oben Kapitel 1.4. Zit. auch bei Jäger, Neue Quellen, a.a.O., S. 4. 356Jäger, Neue Quellen, a.a.O., S. 5. 357 Rang, Das Reich, a.a.O., S. 107. 358 A.a.O., S. 110. 359 A.a.O., S. 108. 360 A.a.O. S. 106 f. - Siehe dazu den Vergleich mit Landauers Anarchismus im Kapitel I, 4 _ Rangs bisweilen paradoxe Formulierungen resultieren aus der uneinheitlichen Verwendung seiner Begriffe, können aber als Teil seiner „Lehre“ gelten. Es liegt nahe, seine These etwa durch die Antinomien „nationalistische Idee“ - „Reich-Idee oder „Geist (als „OrdnungSystem“) - „Pneuma“ wiederzugeben. Solche Zuordnungen widersprechen jedoch seinem Ge¬ brauch dieser Begriffe in anderen Zusammenhängen. Deshalb ist es verwirrend, wenn Jäger Rangs Shakespeare-Buch als „Ideenlehre“ bezeichnet, obwohl Rang sich doch ausdrücklich ge¬ gen eine solche verwehrt. Ähnliches geschieht mit dem Begriff Theologie“: Jäger sagt von Rang, es gehe ihm um die Erneuerung des Sprachdenkens „von der Theologie her , und zitiert gleich im Anschluß daran einen Satz aus dem Reich-Knhztz, in dem Rang behauptet, es gäbe

74

Durch die Gegenüberstellung einzelner Textpassagen des Aez'H>-Kapitels und der Schrifttum-Rede zeigt Jäger, daß Hofmannsthal zunächst in seinem Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland auf Thesen Rangs zurückge¬ griffen hat: Beide sind der Auffassung, die nationale Befürwortung der Revoluti¬ on sei u.a. auch mit der „skeptischen Geisteshaltung“ der Franzosen zu erklären und die französische Nation bilde als „Glaubensgemeinschaft“ „das gedrungene Gegenstück zur deutschen Zerfahrenheit“.361 Jägers ansonsten überzeugende Methode der vorwiegend kommentarlosen Gegenüberstellung von Textausschnitten erweist sich in seinem letzten Beispiel für Hofmannsthals „Anleihen“ bei Rang als unzulänglich.363 Hofmannsthal übernimmt das Rangsche Verdikt, es gebe keine „lebenlenkenden Ideen“ (RA III 39). Die Konsequenz, welche der Verfasser des Reich-Kapitels aus dieser Er¬ kenntnis zieht, unterscheidet sich jedoch von derjenigen, die Hofmannsthal vor¬ schlägt. Während Rang nämlich die Alternative aufstellt, „ideenlos zu leben [...] oder aber durch das Leben ein Neues ins Leben zu heben, das voll Rechts und Wahrheit“ sei, kommt Hofmannsthal in der Münchner Rede zu dem Schluß, „daß das Leben nur lebbar wird durch gültige Bindungen“ (RA III 39). Wenn auch die „gültigen Bindungen“ sich letztlich wenig von Rangs nicht weiter kon¬ kretisiertem Begriff des ,Neuen1 unterscheiden, so ist doch die Wahl des Wortes ,Bindung“ an der für die Aussage der Rede entscheidenden Stelle bemerkenswert. Das 1927 in der Münchner Rede formulierte Bekenntnis Hofmannsthals zur „geglaubten Ganzheit“, ohne die zu leben unmöglich sei (RA III 39), unter¬ streicht noch einmal, was Hofmannsthal und Rang einige Jahre zuvor anläßlich des Konzeptes der Neuen Deutschen Beiträge als das sie „Trennende“ festgestellt haben:363 Während Rang an Hofmannsthals Zeitschrift eine allzu große Vielsei¬ tigkeit auf Kosten des „Höchsten“, der geistigen „Not“ der Zeit364 kritisiert, di¬ stanziert sich der Herausgeber in der Anmerkung zum dritten Heft von den „wahre[n] Deutschen“, welchen „einzig nur das Bewußtsein der gemeinsamen Not ihr zersplitterndes Bewußtsein zur Einheit bindet“ (RA II 201), und hält diesen „Verzweifelten“ seine „Sendung“ entgegen: „Können wir irgendwo Ge¬ staltetes mit Glauben und Liebe umfangen, dort ist für uns schon ein Festes“ (RA II 202).

„keine Theo-Logie“, sie sei „Gotteslästerung“ (wobei immerhin einschränkend das Stichwort „Systematische Theologie

folgt). An diesen Beispielen wird deutlich, wie schwierig es ist, die¬

sen „katholischen Protestanten“, der sich von seinem Priesteramt befreite, indem er es sich wie ein Kettenhemd vom Leib riß (vgl. Hofmannsthal/Rang, a.a.O., S. 403), in eine geistesge¬ schichtliche Tradition einzuordnen. Für jede Festlegung ließe sich ein einschränkendes Argu¬ ment finden. 36i Jäger, Neue Quellen, a.a.O., S. 8. - Der Autor identifiziert auch das Zitat, das Hof¬ mannsthal quasi als Programm der Kreatur-Autoren in der Münchner Rede (RA III 35) an¬ führte, als eine Formulierung aus dem Reich-Aufsatz. '‘"Jäger, Neue Quellen, a.a.O., S. 9.

163 Zu

Rangs Kritik an Hofmannsthals Beiträgen vgl. Steiner, a.a.O., S. 229-231, und Jäger, Neue Quellen, a.a.O., S. 10 f. sowie unten 2. Teil, Kapitel III.

364 S. 422.

Vgl. Rangs Brief an Hofmannsthal vom 20.3.1923 in: Hofmannsthal/Rang, a.a.O.,

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Hofmannsthals Charakterisierung der ,,wahre[n] Deutschen“ gleicht der späteren Beschreibung des deutschen Typus in der Schrifttum-Rede und zeigt, daß der Münchner Appell an die ,Suchenden1 nicht mit einem Vertrauen Hof¬ mannsthals in die deutsche Geistesart verwechselt werden sollte. 4. Der Begriff ,konservative Revolution' in der Münchner Rede 4.1. Paul Luwig Landsberg Als Carl J. Burckhardt seinem Freund Max Rychner kurz nach Hofmannsthals Tod in dem bereits erwähnten Brief vom 21. August 19 2 9 365 ausführlich berichte¬ te, unter welchen Schwierigkeiten der Dichter die Münchner Rede verfaßt hatte, war der Anlaß für seine Erklärungen ein in der Neuen Schweizer Rundschau er¬ schienener Aufsatz von Ernst Robert Curtius über Hofmannsthals deutsche Sendung.ibb Darin stellt Curtius aufgrund des in der Münchner Rede verwendeten Begriffes der .konservativen Revolution' Hofmannsthal in die Tradition der Re¬ staurationsdenker „Rivarol, Burke, Joseph de Maistre, Karl Ludwig von Hal¬ ler“.367 Gegen diese Einordnung wendet Burckhardt entschieden ein, daß da¬ durch „die politische Haltung des V. Aktes Turm erste Fassung und deren ganze Perspektiven weggeräumt und beschlagnahmt“ würden.368 Burckhardt hatte das Ringen Hofmannsthals um diesen Akt miterlebt.369 Er wußte, welche entschei¬ dende Rolle der fünfte Akt von Goethes Egmont - dem zum Tode verurteilten Egmont erscheint die Allegorie des Friedens in Gestalt des geliebten Klärchens für Hofmannsthals Kinderkönig-Fassung spielte.370 Dies mag der Grund für Burckhardts Kritik an Curtius’ Einordnung gewesen sein.371 Burckhardt nennt in diesem Brief an Rychner auch Hofmannsthals Quelle für den Begriff der .konservativen Revolution': Es sei das Buch Das Mittelalter und wir von Paul Ludwig Landsberg.37" Landsberg war ein Schüler Max Schelers und gerade einundzwanzig Jahre alt, als er seine geschichtsphilosophische Studie über die Bedeutung der mittelal¬ terlichen Kultur für die Gegenwart schrieb. Er stellt in seiner Untersuchung eine Gesetzmäßigkeit der abendländischen Geschichte fest, welche er als Entwick-

365 Burckhardt/Rychner, a.a.O., S. 23 f., siehe oben Kapitel IV.1.1. 366 Ernst Robert Curtius, Hofmannsthals deutsche Sendung, in: Neue

Schweizer Rundschau

2 (1929), S. 583-588. 367 Curtius, Hofmannsthals deutsche Sendung, a.a.O., S. 587.

368 Burckhardt/Rychner, a.a.O., S. 24. 369 Vgl. Burckhardts Erinnerungen an

Hofmannsthal, in: Fiechtner, a.a.O., S. 130. - Die

Entstehung des Trauerspiels kann man in Hofmannsthals Briefwechsel mit Burckhardt verfol¬ gen, siehe Ausgabe von 1956, a.a.O., S. 95 f., S. 138, S. 167, S. 192, S. 208, S. 234, S. 239.

370 Der

gespenstische Zauber der Zigeunerin und das märchenhafte Auftreten des Kinder¬

königs wären ohne Goethes ebenso phantastisch gestaltetes Dramenende vielleicht nicht ent¬ standen. Vgl. Hofmannsthal/Burckhardt, Briefwechsel (1956), S. 57, und Hofmannsthal, SW XVI, S. 159. 371 Nostitz hält Burckhardts Kritik für berechtigt, a.a.O., S. 272. 372 Paul Ludwig Landsberg, Das Mittelalter und wir. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über den Sinn des 'Zeitalters, Bonn 1922.

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lung, „von der Ordnung zur Gewohnheit und von der Gewohnheit zur Anar¬ chie, um dann von der Anarchie wieder zur Ordnung zu gelangen“, beschreibt.373 Für die sich orientierungslos darstellende Gegenwart wollte der Autor den mit¬ telalterlichen ,ordo‘-Gedanken374 aktualisieren, denn „dem Zeitalter als ganzem tut Bindung und nicht Lösung not. Es torkelt, es braucht einen Halt.“37’ Er en¬ det enthusiastisch mit der Prognose einer .konservativen Revolution“: „Die kon¬ servative Revolution, die Revolution des Ewigen ist das Werdende und schon Seiende der gegenwärtigen Stunde. Die in ihr Stehenden sind die, mit denen mein Titel mich als ,Wir“ zusammenfassen soll.“376 Daß Landsbergs Schrift der unmittelbare Grund für Hofmannsthals Ver¬ wendung des Begriffes .konservative Revolution“ in seiner Rede darstellte,377 ist ein Indiz für das geschichtsphilosophische Verständnis, das der Dichter mit die¬ sem Begriff verband.378 Landbergs Buch wird bemerkenswerterweise in der Lite¬ ratur zur .konservativen Revolution“ nicht erwähnt. Selbst in Armin Möhlers gründlichem Handbuch379 erscheint der Name des 1944 im Konzentrationslager Oranienburg ermordeten Autors nicht.380 4.2. Rudolf Pannwitz Hofmannsthal ist mit der Idee der .konservativen Revolution“ allerdings nicht erst durchs Landsbergs Studie, sondern bereits durch seinen intensiven Gedan¬ kenaustausch mit Rudolf Pannwitz nach dem Krieg in Berührung gekommen. Pannwitz, dessen Person ohnehin in der Schrifttum-Rede präsent ist, hat schon in den zwischen 1919 und 1922 erschienenen Flugblättern und in seiner Deutschen LehreiS' die konservativ-revolutionäre Synthese als eine Notwendigkeit verkün¬ det. In dem bereits kurz erwähnten 7. Flugblatt Europa fordert Pannwitz die „geistige deutsche jugend jugend der kraft und nicht des alters“ auf, „radikal“ die

373 Landsberg, a.a.O., S. 114. 37,1 Landsberg orientiert sich vor allem an Augustinus’ De ordine. 375 Landsberg, a.a.O., S. 76. 376 Landsberg, a.a.O., S. 112. 377 Nostitz’ Hinweis auf Landsberg, a.a.O., S. 273, schließt sich

auch Haltmeier, a.a.O.,

S. 305, an.

378 Vgl. Nostitz, a.a.O., S. 261. 379 Armin Möhler, Konservative

Revolution in Deutschland, 1918-1932. Ein Handbuch, 3.

erw. Aufl., Darmstadt 1986, zuerst erschienen 1951. Möhlers Buch wird aus verschiedenen Gründen kritisiert: Max Rychner vermißt in der Fülle des zusammengestellten Materials die inhaltliche Strukturierung und qualitative Differenzierung (Max Rychner, Die konservative Re¬ volution, in: Sphären der Bücherwelt. Aufsätze zur Literatur, ausgew. v. Walther Meier, Zürich 1966, S. 189 ff.), während Karl Prümm Möhler vorwirft, er ignoriere die politische Funktion und beschäftige sich nur mit den geistigen Aspekten der .konservativen Revolution“ (K. Prümm, Die Literatur des soldatischen Nationalismus der zwanziger Jahre (1918-1933), Kronberg 1974, S. 1 ff.).

380 Landsberg wurde allenfalls durch sein im KZ geschriebenes Buch Die Erfahrung des Todes bekannt, vgl. Nostitz, a.a.O:, S. 273. 381 Haltmeier,

a.a.O., S. 305 ff.

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von ihm beschriebene Vision eines neuen Europas zu schaffen. Sie sollten „revo¬ lutionärer als die revolutionäre konservativer als die konservativen“ sein.382 Am Ende eines weiteren Flugblattes, des neunten, welches den Titel Aus dem Chaos zur Gemeinschaft183 trägt, erklärt Pannwitz ausführlich, was es mit dem Konservativ-Revolutionären auf sich habe:

„konservativ und revolutionär wird nur angewendet zur Bezeichnung von parteien ist aber nicht parteihaft [...] revolution und reaktion ist kein gegensatz reaktion ist jede bewegung die mechanisch der gegensatz der vori¬ gen ist ohne spontan oder ohne Synthese zu sein also gibt es revolutionäre und konservative reaktion. evolution ist der darwinismus auf die geistesgeschichte übertragen und gänzlich nichtig, revolution dagegen kann wo sie groszen Stil hat die urwurzeln entblöszen aus ihnen das urieben erheben solche revolution ist konservativer als alles konservative sie geschieht un¬ hörbar unmerkbar oft erweisen sie erst kommende Jahrhunderte an unge¬ heuren Wirkungen nur die gröszten einzelnen die schöpferischsten geister liebevollsten menschen können wahrhaft revolutionäre sein [...]“38+ Da Hofmannsthal während der Abfassung seiner Rede Rudolf Pannwitz im Geiste vor Augen hatte, ihn sogar unter Angabe seines Namens zitierte, erinner¬ te er sich höchstwahrscheinlich auch an dessen konservativ-revolutionären Lö¬ sungsvorschläge. Deshalb können Pannwitz’ Flugblätter als eine Quelle für Hofmannsthals Verständnis dieses Begriffes gelten. 4.3. Thomas Mann Thomas Mann wird häufig als ein frühes Beispiel für den Gedanken der konser¬ vativ-revolutionären Synthese angeführt. 385 Er verwendet das Begriffspaar in Be¬ zug auf Nietzsches Philosophie in der 1921 erschienen Einleitung zur Russischen Anthologie: „[...] und Nietzsche selbst war von Anbeginn, schon in der Unzeit¬ gemäßen Betrachtungen, nichts anderes als konservative Revolution“.386 Ob Hofmannsthal diese Stelle aus dem Vorwort kannte, bleibt ungewiß, aber eine Begebenheit macht es wahrscheinlich, daß auch Mann bzw. Nietzsche, aus dessen Unzeitgemäßen Betrachtungen Hofmannsthal ja auch die Bezeichnung .Suchende“ übernahm, indirekt zu Hofmannsthals Verständnis der .konservati¬ ven Revolution“ beigetragen haben: Thomas Mann schreibt am 4. Dezember 1946 an Karl Vietor: „Gut erinnere ich mich, daß, als Hofmannsthals [Münch¬ ner] Rede erschien, ich ihn gesprächsweise warnte vor dem Heraufziehenden, dem er in gewisser Weise Vorschub leistete. Mit einiger Nervosität ging er dar-

382 Pannwitz, Europa, a.a.O., S. 16. 383 Pannwitz, Aus dem Chaos zur Gemeinschaft, Feldafing 1921. 384 Pannwitz, Gemeinschaft, a.a.O., S. 46 f. ausführlich zitiert auch

bei Haltmeier, a.a.O.,

S. 306.

385 Vgl.

Shupe-Wright, a.a.O, S. 1 ff., die darüber hinaus auf die frühe Verwendung des

Begriffes bei dem faschistischen Führer der Action Franqaise Charles Maurras in seinem Enqu¬ ete sur la Monarchie hinweist. 386Thomas Mann, Aufsätze, Reden, Essays, Bd. III (1919-1925), Berlin 1986.

78

über hinweg.“3'37 Über diese Unterhaltung gibt es keine weiteren Zeugnisse, wes¬ halb auch nicht endgültig entschieden werden kann, ob Mann und Hofmannsthal tatsächlich

über eine

,konservative

Revolution“

sprachen.

Die

Behauptung

Manns, er habe Hofmannsthal gewarnt, wirkt allerdings durch einen Umstand plausibel: Drei Tage vor Hofmannsthals Münchner Vortrag am 10. Januar 1927 erschien von Thomas Mann in der Literarischen Welt ein Appell an die Jugend, worin er ausdrücklich den Wert der Freiheit betonte und die junge Generation ermahnte, diesen nicht zu vergessen.3SS Es ist durchaus denkbar, daß Thomas Mann angesichts der Hofmannsthalschen These von der „Suche nach Bindung“ das Mißverständnis vorprogrammiert sah und Hofmannsthal auf die Gefahr ei¬ ner Fehlinterpretation hingewiesen hat. Beim Vortrag selbst, am 10. Januar 1927, fehlt Thomas Mann bezeichnenderweise, obwohl er in München lebt.’39 4.4. Hofmannsthal und die konservative Revolution“ Angesichts der Verschiedenheit der Personen und Gruppen, die den Begriff der konservativen Revolution“3'30 in der Zeit zwischen den Weltkriegen in Anspruch nahmen, ist es schwierig, diesen Begriff im Sinne einer einheitlichen ideologi¬ schen Bewegung zu verstehen.391 Da Hofmannsthal den in Rede stehenden Be-

337 Vgl. Klemens von Klemperer, Konservative Bewegungen. Zwischen Kaiserreich und Na¬ turalismus, München 1962, S. 17 f. Anm. 16. '“Thomas Mann, Worte an die Jugend, in: Die Literarische Welt, Nr. 15, Freitag, 7. Januar 1927. 3S) Haltmeier, a.a.O., S. 301. Haltmeier weist auf die Parallelität von Manns Betonung der „Bedeutung des Schrifttums für die Nation“ mit dem Titel der Münchner Rede hin; vgl. Manns Brief an Hofmannsthal vom 14. November 1927 in: Almanach/Fischer, Nr. 82, Frankfurt am Main 1968, S. 32.

390 Der

gedankliche Ursprung des Begriffes liegt wohl in der Goethezeit, während der Be¬

griff selbst anscheinend auf Nietzsche zurückgeht; vgl. Möhler im Vorwort zur ersten Ausga¬ be, a.a.O., S. XXVIII. Vor Nietzsche verwendete ihn allerdings schon Friedrich Engels in einer Rede zum zweiten Jahrestag des Krakauer Aufstandes von 1846 auf der Gedenkfeier in Brüssel am 22. Februar 1848. Er kommt darin auf den polnischen ,Novemberaufstand1 von 1830 zu sprechen. Mit ihm habe die polnische Aristokratie „die Rechte, die sie sich errungen hatte, ge¬ gen den Zaren behaupten“ wollen. Dies sei „weder eine nationale Revolution, noch eine soziale oder politische Revolution“ gewesen; „das war eine konservative Revolution“. Auf diese Stelle verweist Bernhard Gajek in einem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienenen Leser¬ brief, in dem er die Formulierung, Hofmannsthal habe den Begriff der konservativen Revolu¬ tion1 „mitgeprägt“, in dem am 11. Juli 1997 ebenfalls in der FAZ erschienenen Artikel über Dichtung in den Zeiten der Unruhe - Hofmannsthals Umkreis: Die Sammlung von Rudolf Hirsch im Freien Deutschen Hochstift durch diesen begriffsgeschichtlichen Hinweis ergänzt. Den Versuch, die ,konservative Revolution

zu definieren, unternehmen u.a. Keith

Bullivant, Außruch der Nation. Zur „konservativen Revolution", in : Keith Bullivant (Hrsg.), Das literarische Leben in der Weimarer Republik, Königstein/Taunus 1978, S. 28-49. Allgemeine Darstellungen neben den bereits erwähnten (Auswahl): Peter Gay, Die Republik der Außensei¬ ter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit 1918-1933, Frankfurt am Main 1970, bes. S. 112 ff.; Panajotis Kondylis, Konservatismus, Stuttgart 1986; Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Den¬ ken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des Nationalsozialismus zwischen 1918 und 1933, München 1962, bes. S. 268 ff. Ein Beispiel für die Willkür, mit welcher der Begriff der konservativen Revolution' verwendet wird, ist Peter Bumrns Dissertation Drama und Theater

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griff in seiner Münchner Rede - wenngleich in dem oben erörterten geschichtsphilosophischen Verständnis - verwendete, soll hier kurz der Versuch unter¬ nommen weiden, das Verhältnis des Dichters zur sogenannten .konservativen Revolution1 zu untersuchen.392 In der politologischen, historischen und germanistischen Forschungslitera¬ tur zur .konservativen Revolution1 ist die Meinung verbreitet, Hofmannsthal ha¬ be den Begriff der .konservativen Revolution1 durch seine Münchner Rede im deutschen Sprachraum „eingeführt“.393 Dieser zuweilen nur durch pauschale For¬ mulierung entstandene Irrtum394 beruht maßgeblich auf Armin Möhlers Urteil in seinem Handbuch zur .konservativen Revolution , der Begriff sei durch Hof-

der konservativen Revolution, München 1971, die das Theater des Nationalsozialismus zum Gegenstand hat. In den neunziger Jahren hat der Begriff in Kreisen der sogenannten „neuen Rechten“ (Umkreis der Zeitschrift Criticön) Konjunktur. Als jüngste wissenschaftliche Er¬ scheinung zum Thema brachte erst Stefan Breuers Anatomie der konservativen Revolution, Darmstadt 1993, Klarheit in die Materie. Breuer plädiert dafür, den Begriff .konservative Revo¬ lution1 „aus der Liste der politischen Strömungen der zwanziger Jahre“ zu streichen, da dieser als „unhaltbarer Begriff [...] mehr Verwirrung als Klarheit stiftet“, a.a.O., S. 181. Ferner siehe auch Rolf Peter Sieferle, Die konservative Revolution, Frankfurt am Main 1995.

392

Eine ausführliche Darstellung von Hofmannsthals Verhältnis zu seinen .konservativ¬

revolutionären1 Zeitgenossen bietet Shupe-Wrights verdienstvolle, leider schwer zugängliche Dissertation. In ihrem ersten Kapitel weist sie die Verwendung des Begriffes u.a. bei Thomas Mann, Rudolf Pannwitz (s.o.) und Moeller van den Bruck nach und führt ihn - in Verbindung mit dem älteren Topos des „Dritten Reiches“, der in dieser Zeit mit dem .konservativ¬ revolutionären1 Gedankengut eng verknüpft war - auf den antimaterialistischen Impetus dieser Denker zurück. Die Rezeption der .konservativen Revolution1 in der wissenschaftlichen Litera¬ tur nach dem zweiten Weltkrieg (Sontheimer, Möhler, Golo Mann) wird von Shupe-Wright ebenso berücksichtigt wie der vom marxistischen unterschiedene Entfremdungsbegriff der .konservativen Revolutionäre1, der von Talcott Parsons in der Tradition Emile Dürkheims ent¬ wickelt wurde. Den Begriff .konservative Revolution1 hält auch Shupe-Wright für „bothersome, since it at no time represented a specific body of fairly orthodox dogma, such as one rnight find in strictly Fascit or Communist groups.“, a.a.O., S. II.

393

Walter Hof, Hugo von Hofmannstbal: „Die Konservative Revolution“, in: ders., Der

Weg zum heroischen Realismus. Pessimismus und Nihilismus in der deutschen Literatur von Hamerling bis Renn, Tübingen-Bebenhausen 1971, S. 220. Martin Greifenhagen schreibt, Hof¬ mannsthal sei zwar nicht der erste, der den Begriff verwendet habe, aber durch seine Münchner Rede habe er ihn „in Deutschland heimisch gemacht“, ders., Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, München 1971, S. 243, Anm. 8. Kurt Sontheimer meint, Hofmannsthals Be¬ griff der .konservativen Revolution1 sei „weiter und tiefer als die vorschnellen Dogmatismen der politischen Vertreter“, a.a.O., S. 397, während Peter Gay die „Verschwommenheit“ der Münchner Rede selbst schon als ein Politikum ansieht, a.a.O., S. 116 f.

394

Paul Kluckholm zitiert Hofmannsthal ohne weiteren Kommentar, vgl. ders., Die kon¬

servative Revolution in der Dichtung der Gegenwart, in: Zeitschrift für deutsche Bildung 9 (1933), S. 177 ff. Heinz Kindermanns Buch Des deutschen Dichters Sendung in der Gegenwart, Leipzig 1933, ist ein Beispiel für den propagandistischen Mißbrauch der Münchner Rede, a.a.O., S. 7. Noch in Kurt Lenks Buch Deutscher Konservatismus, 1990, S. 110 f., findet sich die irreführen¬ de, wenn auch vorsichtige Formulierung, die „Popularität“ des Begriffes ginge „vermutlich“ auf Hofmannsthals Münchner Rede zurück.

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mannsthals „programmatische Verwendung“ im deutschen Sprachraum „viru¬ lent“ geworden.395 Nostitz wendet in seiner Interpretation der Münchner Rede346 gegen Möh¬ ler ein, daß nicht durch Hofmannsthal, sondern durch Moeller van den Bruckj9/ der Begriff in den politischen Sprachgebrauch der Rechten eingeführt worden sei. Möhlers Formulierung habe dazu geführt, daß auch in der HofmannsthalLiteratur die Münchner Rede fehlinterpretiert wurde und in der Folge gleichsam als Manifest der ,konservativen Revolution1 gelte.398 An der Verwirrung sei letzt¬ lich das Buch von Hermann Rauschning, Die konservative Revolution3", schuld, da dieser seiner Exilschrift Hofmannsthals Schlußsatz der Münchner Rede über die .konservative Revolution1 als Motto vorangestellt habe.4"0 In den Worten des Dichters habe Rauschning eigene Motive formuliert gesehen, die ihn veranlaßt hätten, im - schon bald als falschen Weg erkannten - Nationalsozialismus eine Lösung zu suchen.401 Nostitz folgt mit seiner Deutung der Münchner Rede als einem „Appell contra spem“402 der früheren Beurteilung dieses Vortrages durch Richard Alewyn: Hofmannsthal habe sich „an die jungen Deutschen gewendet [...], die Nietzsche-Deutschen, die ewig-Morgigen, die täglich eine Welt aus den Angeln heben, während sie

395

Möhler, a.a.O., S. 10, vgl. auch Nostitz, a.a.O., S. 272. Noch Ann Kathrin Rücken

übernimmt Möhlers Einschätzung kritiklos in: Politik und Privatrecht in der „konservativen Revolution“, Rechtshistorische Reihe Bd. 163, Frankfurt am Main, Berlin u.a. 1997, S. 12.

39,1 Nostitz a.a.O., S. 272 f. 397 Weder zu diesem noch

zu zu Edgar J. Jung als dem vielleicht prominentesten

„konservativen Revolutionär“ hatte Hofmannsthal Kontakt.

398 Nostitz

sah sich zu seiner Interpretation veranlasst durch das Buch von Hermann Ru¬

dolph, Kulturkritik und konservative Revolution, Tübingen 1971. Rudolph folgt methodisch dem wissenssoziologischen Ansatz Karl Mannheims und übersieht Hofmannsthals eigentliche Quelle für den Begriff der .konservativen Revolution1, das Buch Paul Ludwig Landsbergs. Peter Christoph Kern deutet in Zur Gedankenwelt des späten Hofmannsthals, Heidelberg 1969, S. 93, die Münchner Rede als „Testament“ des Dichters. Hofmannsthals letzte Schaffensperiode nach dem ersten Weltkrieg wird allerdings auch von anderen unter den Begriff der .konservativen Revolution' gestellt: Walter Hinck behandelt Hofmannsthals späte Fest- und Lustspiele im fünften Kapitel seines Buches Das moderne Drama in Deutschland. Vom expressionistischen zum dokumentarischen Theater, Göttingen 1973, S. 116-130 unter der Überschrift „Konservative Revolution“. Vgl. auch Ruthard Stäblein, Kulturkonservatismus oder konservative Revolutionf Karl Jaspers’ und Hugo von Hofmannsthals Erkundungen einer authentischen Existenz, in: Diet¬ rich Hart (hrsg.), Karl Jaspers. Denken zwischen Wissenschaft, Politik und Philosophie, Stuttgart 1989, S. 111-137.

399 Hermann Rauschning, Die konservative Revolution. Versuch und Bruch mit Hitler, New York 1941. 400 Nostitz

erwähnt nicht den Aufsatz von Detlev Schumann, Gedanken zu Hofmannsthals

Begriff der „konservativen Revolution", der schon 1939 (in PMLA 54 , S. 853-899) den Begriff der .konservativen Revolution' auf Hofmannsthals Werk anwendete und damit ein Beispiel für die frühe Rezeption der Münchner Rede darstellt.

401 Vgl. Rauschnings Vorrede in dem oben genannten Buch. 402 Nostitz, a.a.O., S. 266. Dieser Interpretation schließt sich S. 302.

auch Haltmeier an, a.a.O.,

81

schon die nächste im Schoße tragen, alle diese - hinter denen doch schon die Barbaren und die Bestien lauerten - ruft er in der Rede an, aber so wie man Dämonen anruft, um sie zu bannen, tapfer sein Entsetzen verbergend und Segen dort suchend, wo ihn grauste, indem er sich überredet im Chaos etwas zu erkennen, das Form gewinnen will, etwas Männliches, Nüchter¬ nes und Verantwortungsbewußtes.“4 ' Als ein jüngeres Beispiel für die Beurteilung des Begriffes der konservativen Re¬ volution' bei Hofmannsthal sei Jacques Le Riders Aufsatz L’idee Autricbienne de Reich centre-Europeen, selon Hugo von Hofmann sthaH* erwähnt.

Le Rider

definiert die .konservative Revolution' Hofmannsthals als den Versuch einer „restauration culturelle et politique du Sainte-Empire, du ,altes Reich' fidele au catholicisme romain, seul capable d’unir la nation allemande et d’introduire un ordre en Europe centrale.“403 Eine solche Utopie besitze heute gewiß nicht mehr Gültigkeit als gestern. „Mais les evenements qui, depuis la fin de la pax sovietica, font peser sur la Mitteleuropa la menace de la „Balkanisation“ et de la guerre, rendent l’utopie hofmannsthalienne et avec eile certaines formulations du mythe habsbourgeois

intellectuellement moins

inacceptables et, en tout cas, plus

sympathiques.“40'’

403 Richard

Alewyn, Hofmannsthal und diese Zeit (1949), in: Ders., Über Hugo von Hof-

mannsthal, 4. verm. Auflage, Göttingen 1964, S. 11. 404 In: Austriaca. Cahiers universitaires d'information sur l'Autriche, Numero 37 (1993), S. 137-153. 405 Le Rider, a.a.O., S. 150.

406 Ebd.

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2. Teil: Ästhetische Reflexionen und Trauerspiel I.,Opfer“ als ästhetisches Prinzip in Hofmannsthals Werk Aus zweierlei Gründen liegt es nahe, sich mit Hofmannsthals ästhetischer Refle¬ xion über die Idee des Opfers zu beschäftigen: Zum einen stellt der Opferbegriff einen zentralen Gedanken in Hofmannsthals Selbstdeutung Ad me ipsum dar, welcher sich für seine frühen Gedichte, Dramen und fiktive Prosa als wichtiges Interpretament erweist, zum anderen bildet er den Kern des Konzepts, an das er in seiner letzten Schaffenszeit die Form des Trauerspiels knüpft. Die Idee des Opfers hängt eng mit der Vorstellung der ,Wiedergeburt1 zusammen; beide ent¬ stammen einem stark mythisch bzw. mystisch bestimmten Kontext. Die mysti¬ sche oder hermetische Denktradition wiederum bildet die Folie, vor der Hof¬ mannsthals poetologische Positionen erkennbar werden407. Hofmannsthals Aufzeichnungen Ad me ipsum stammen aus dem Jahr 1916, dem zweiten Kriegsjahr also, als er seine Einstellung zum Krieg, den er wie viele seiner Zeitgenossen zunächst begrüßt hatte, zu ändern begann. Der Krieg hat Spuren in Hofmannsthals Denken hinterlassen, die gerade auch an seinem Um¬ gang mit dem Opfergedanken abzulesen sind. Der Opferbegriff bleibt in seinem mystischen Gehalt für Hofmannsthal bis in die letzten Werke hinein gültig, aber der moralische Umgang mit der Idee des Opfers, das Prinzip der poetischen Indienstnahme derselben, hat sich nach dem Krieg deutlich gewandelt. Wie diese Wandlung sich vollzog, soll in diesem Kapitel, ausgehend von Hofmannsthals früherem Opferbegriff, behandelt werden, um von hier aus möglicherweise neue Einblicke in die nach dem Krieg entstandenen Dramen zu gewinnen. Dabei wird zunächst eine repräsentative Auswahl zeitgenössischer Opfertheorien vorge¬ stellt, die psychoanalytischen, mystischen und ethnologischen Denkmustern entstammen. Die beiden interessantesten Gesprächspartner des Dichters im Zu¬ sammenhang mit der Idee des Opfers nach dem Krieg waren Florens Christian Rang und Walter Benjamin. Als sich Hugo von Hofmannsthal und Florens Christian Rang im Mai 1909 in Rodaun das erste und einzige Mal in ihrem Leben trafen, redeten sie offenbar ausführlich über das Thema ,Opfer'408. Noch Jahre nach Kriegsende kommt Rang in seinen Briefen auf diese Unterhaltung zu sprechen:

407 Diese Feststellung ist der Hofmannsthal-Forschung keineswegs neu: Allein der Um¬ fang an mystischer Literatur in der Bibliothek des Dichters, die Michael Hamburger zum grö߬ ten Teil unter die Rubrik der psychologischen Bücher faßt, verweist auf Hofmannsthals lebens¬ lange Auseinandersetzung mit Mystikern (im weitesten Sinne), Hamburger, a.a.O., S. 26 ff. Stellvertretend für spätere Ausleger Hofmannsthals sei hier nur Richard Alewyn genannt, der den Einfluß mystisch-psychologischer Schriften auf Hofmannsthal Werk am Beispiel des An¬ dreas-Fragments in auch heute noch gültiger Weise nachgewiesen hat, vgl. R. Alewyn, Über

Hugo von Hofmannsthal, 4. Aufl., Göttingen 4. Auflage 1967 (zuerst 1958), S. 128-130. 408 Rang befand sich in Süddeutschland auf einer Vortragsreise, die ihn auch nach Wien führte, wo er in der „Soziologischen Gesellschaft“ über die Historische Psychologie des Karne¬

vals sprach. Hofmannsthal war beim Vortrag Rangs anwesend, vgl. Christine Holste, Der For¬ te-Kreis 1911-1915. Rekonstruktion eines utopischen Versuchs, Stuttgart 1992, S. 256.

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„Erinnerte ich Sie schon einmal an den Anfang unseres ersten Gesprächs in Rodaun? Ich begann: ,Wir haben uns Gemeinsames zu sagen, obwohl wir auch noch auseinanderstehen; im Gedanken des Opfers werden wir uns vielleicht treffen.1 - Sie: ,Ich habe me ein anderes Wort als von Opfer ge¬ sagt.“' Die Emphase der Behauptung Hofmannsthals, er habe „me ein anderes Wort als von Opfer gesagt“410, bestätigt die Vermutung, daß in der Idee des Opfers ein zentraler Gedanke seines Denkens vorliegt. Zugleich ist Rangs Hinweis auf Ge¬ meinsamkeiten und Unterschiede ein Wegweiser, der Komplexität des Opferbe¬ griffes gerecht zu werden und seinen poetologischen bzw. weltanschaulichen Implikationen auf die Spur zu kommen. Mit der Rekonstruktion des Gedanken¬ austausches, an dem später auch Walter Benjamin beteiligt war, lassen sich zu¬ gleich wesentliche Grundlagen von Hofmannsthals Nachdenken über die Gat¬ tung des Trauerspiels klären. 1. Der Begriff ,Opfer' in Ad me ipsum Ein großer Teil der Aufzeichnungen Ad me ipsum betrifft den in Hofmannsthals Werk immer wieder neu variierten Gedanken vom Weg der Seele aus dem präexi¬ stentiellen Zustand in die Existenz, zum Leben oder zum Sozialen. In diesem Zusammenhang spielt auch der Begriff ,Opfer' eine Rolle. Er taucht zunächst in einer Notiz über die „Intro-version als Weg in die Existenz“ (RA III 601)411 auf. Die „Introversion“ ist für Hofmannsthal „der mystische Weg“, den außer Lord Chandos, dem „Mystiker ohne Mystik“ (RA III 601), auch die Dramenfiguren Ödipus, Elektra, der Kaiser aus dem Einakter Der Kaiser und die Hexe und Elis Froböm, der Held aus dem Bergwerk zu Falun, beschreiten - sie alle sind „Aus¬ erwählte, zum Opfer bestimmte, Gekrönte“ (RA III 601). Hofmannsthal ver¬ steht die ,Introversion“ im Sinne Herbert Silberers, auf dessen Probleme der My¬ stik und ihrer Symbolik er sich hier explizit beruft.412

41W Rang an Hofmannsthal im Brief vom 28. Dezember 1923, s. Hugo von Hofmannsthal/Florens Christian Rang, Briefwechsel 1905-1924, in: Die Neue Rundschau 70 (1959), S. 402-448, hier S. 404. Tatsächlich hatte Rang Hofmannsthal schon einmal an dieses Gespräch erinnert, in dem langen Brief über Hofmannsthals Frau ohne Schatten vom 11. Juli 1921 schrieb er: „[...] die ganze Frage von Schatten- und Wahrleben, von Opfer des Lebens als Lebensemp¬ fang ( vielleicht erinnern Sie sich, daß unser damaliges Gespräch in Rodaun, 1909, sich vorzüg¬ lich hierauf hinhielt )“, a.a.O., S. 410. - Das Gespräch wird auch von Rangs Sohn Bernhard, dem Herausgeber des fragmentarischen Shakespeare Buches, im Nachwort erwähnt, vgl. Florens Christian Rang, Shakespeare der Christ. Eine Deutung der Sonette, hrsg. v. Bernhard Rang, Heidelberg 1954, S. 203. - Vgl. ferner Holste, a.a.O., S. 254. 410 Der oben zitierten Darstellung Rangs hat Hofmannsthal im übrigen nie widerspro¬ chen. Allerdings kommen die Korrespondenten in den folgenden Briefen auch nicht mehr auf ihre persönliche Begegnung zurück; vgl. Hofmannsthal/Rang, a.a.O., S. 407 ff. 411 Da der Band Ad me ipsum und Aufzeichnungen in der kritischen Ausgabe noch nicht er¬ schienen ist, zitiere ich nach der unkommentierten Taschenbuchausgabe. 412 Wien 1914, 2. unveränderte Aufl. Darmstadt 1961. Silberer seinerseits übernimmt den Terminus .Introversion' von Carl Gustav Jung, Wandlungen und Symbole der Libido. Beiträge

zur Entwicklungsgeschichte des Menschen, Nachdruck der Erstausgabe von 1912, München 1991,

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Das mythische Schicksal des Ödipus dient Hofmannsthal - neben dem der Alkestis - noch an anderer Stelle als Beispiel für den „Weg zum Leben und zu den Menschen durchs Opfer“ (RA III 602, 610). In dieser Ad me zpszzw-Notiz wird das Opfer als „Selbst-aufgabe“ definiert, welche an sich „schon im Über¬ gang von einem zum anderen Moment“ (RA III 602) bestehe. Unmittelbar dar¬ auf folgt - wenn auch durch einen Querstrich abgesetzt - die Erläuterung des Weges zum Sozialen „als Weg zum höheren Selbst“ mit seinen drei Möglichkei¬ ten: ,,a) durch die Tat b) durch das Werk c) durch das Kind“ (RA III 602). Die lakonische Erklärung „Tun ist sich aufgeben“ im Hinblick auf „den Weg durch die Tat“ und wiederum die Beispiele Alkestis, Ödipus und Elektra geben indirekt Aufschluß über die Qualität des „Opfers“, dem die genannten Protagonisten sich unterziehen: Denn wenn „Tun sich aufgeben“ bedeutet und die Selbstaufga¬ be eine nähere Bestimmung des .Opfers“ ist, dann hat der emphatische .Opfer'Begriff bei Hofmannsthal nichts mit Passivität oder gar Unschuld zu tun. Die sich Opfernden sind Handelnde413 und werden durch ihr Handeln schuldig. Of¬ fenbar verwendet Hofmannsthal das Wort .Opfer“ sowohl im Sinne von .sacrificium“ als auch in der Bedeutung von .victima'; sogar mehr als das: Er nutzt be¬ wußt die nur dem deutschen Begriff innewohnende Ambivalenz. Ödipus ist .vic¬ tima“ seines Schicksals und Überwinder desselben, indem er es - anders als bei Sophokles und Freud - triumphierend annimmt; zugleich kann sein Leben, als Opferhandlung - .sacrificium“ - verstanden, die Grundlage einer neuen Weltord¬ nung bedeuten. In diesem Sinne wird auch der Tod der Hofmannsthalschen Elektra vor dem Hintergrund von Bachofens Mutterrecht als Vorbereitung der patriarchalen Ordnung interpretiert. Von einer entsprechenden Ambivalenz wird auch der von Hofmannsthal synonym für .Opfer“ verwendete Begriff ,Selbst-aufgabe“ geprägt: In der schein¬ bar widersprüchlichen Verbindung von .Auflösung“ und .Schöpfung“ ist das Selbst- und Weltverständnis des Dichters paradigmatisch repräsentiert. Dahinter stehen Goethes „Stirb und Werde“, der Wechsel von „Systole“ und „Diastole“ der hermetischen Tradition414, ebenso wie der mystische Gedanke der .Wieder¬ geburt“, der etwa von Herbert Silberer415 und Konrad Burdach416 in verschiede-

S. 155. Bei beiden steht der Begriff in einem Zusammenhang mit den psychischen Vorausset¬ zungen von ,Opfer', weshalb ihnen unten je ein Kapitel gewidmet sein wird. Die Bedeutung von Silberers Buch insbesondere für die Abfassung von Ad me ipsum hat Richard Alewyn in seiner Deutung des Andreas-Fragments nachgewiesen, vgl. Alewyn, a.a.O., S. 136. 413 „Ich war der Priester, der das Messer schwingt, / Und ich zugleich war auch das Opfer¬ tier“ weiß Hofmannsthals Oedipus (D II 395), während Elektras Verhältnis zur Tat, die sie ja nicht selbst vollbringt, „freilich mit Ironie behandelt“ sei (RA III 603). „In jeder unserer Taten sind wir Priester und Opfer zugleich“; dem „Priester-Opfer“-Symbol als „Chiffer des Han¬ delnden“, des Lebens überhaupt, geht bereits Grete Schaeder nach in ihrem Aufsatz Hugo von Hofmannsthals Weg zur Tragödie. Die drei Stufen der Turm-Dichtung, in: DVjS Bd. XXIII (1949), S. 306-350, hier S. 323 f. 414 Siehe hierzu Rolf Christian Zimmermann, Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts, Bde. 1 u. 2, München 1969 - 79, bes. Bd. 1 S. 15, 140, 187, 214 u. 229. 415Vgl. Anm. 6.

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nen Initiationsriten beschrieben wird, sowie nicht zuletzt das Evangelium vom Tod und der Auferstehung Christi. Der Weg aus der Präexistenz ins Leben ist als Initiation zu verstehen, und die Werke, in denen Hofmannsthal diesen Weg seiner Protagonisten beschreibt, handeln von den Ängsten und Erlebnissen, die in Initiationsriten bewußt provoziert und kanalisiert werden. Auch in Hofmannsthals Aufzeichnungen, die nicht das Werk, sondern das Persönliche betreffen, ist der im Opferbegriff angelegte paradoxe Gedanke viru¬ lent: In Ad me ipsum heißt es: „Freunde: Auflösung und Neu-geburt durch sol¬ che Beziehungen“ (RA III 620) und entsprechend im Buch der Freunde: „Jede neue bedeutende Bekanntschaft zerlegt uns und setzt uns neu zusammen. Ist sie von der größten Bedeutung, so machen wir eine Regeneration durch.“ (RA III 251) Den Begriffen .Regeneration1, .Wiedergeburt' und .Opfer' ist die Dialektik von Auflösung und Schöpfung gemeinsam. Die dargelegten Zusammenhänge reichen an sich schon aus, um Hofmannsthals Betonung des Begriffs .Opfer' in der Unterhaltung mit Rang zu verstehen: Zu Recht kann er behaupten, er habe „nie ein anderes Wort als von Opfer gesagt“, wenn er dabei an die in seinem Werk so häufig thematisierte Auseinandersetzung der präexistentiellen Seele mit dem Leben denkt. Den in Ad me ipsum dargelegten Zusammenhängen entspre¬ chen in Hofmannsthals Werk Beschreibungen „tatsächlicher“ Opferhandlun¬ gen.417 Hinsichtlich der poetologischen Bedeutung ist hier das Schlachtopfer aus dem „Gespräch über Gedichte“ (1903) aufschlußreich. 2. Das Gespräch über Gedichte Hofmannsthal entwirft in dem fiktiven Gespräch über Gedichte eine Dichtungs¬ und Symboltheorie, die vermeintlich in einem rituellen Tieropfer ihren Ursprung hat. Die beiden Gesprächspartner Gabriel und Clemens kommen bei der Be¬ trachtung einiger Gedichte auf die Frage nach der Herkunft und der Bedeutung des Begriffes .Symbol', der laut Gabriel erst von der „Lehmkruste“ (SW XXXI 80) seiner konventionellen Verwendung befreit werden muß, um seinen eigentli¬ chen Gehalt wieder sichtbar werden zu lassen. Ein Symbol sei kein spezifisch poetisches Element, vielmehr sei Symbolisches der Sprache überhaupt eigen. Das Symbol stehe nicht für etwas anderes, ein bestimmtes Gefühl etwa, welches man auch mit anderen Worten beschreiben könne, sondern sei Chiffre, die „aufzulö¬ sen die Sprache ohnmächtig ist“ (SW XXXI 80), und Zeichen einer existentiellen Erfahrung. Eine solche existentielle Erfahrung habe nach Gabriels These derjeni-

416 Konrad Burd-ch, Sinn und Ursprung der Worte Renaissance und Reformation, in: K.Burdach, Reformation Renaissance Humanismus. Zwei Abhandlungen über die Grundlage mo¬ derner Bildung und Sprachkunst, Berlin 1918. 417 Eine Deutung der Tier- und Menschenopfer in Hofmannsthals Werk legte Renate Bö¬ schenstein in ihrem Aufsatz Tiere in Hofmannsthals Zeichensprache, in: Hofmannsthal-Jahr¬ buch 1 (1993), S. 137-164, bes. S. 157 ff., vor. Ihre interessanten Beobachtungen zum Opfer, auf die im einzelnen noch zurückzukommen sein wird, verdankt sie allerdings nicht ihrem me¬ thodischen Ansatz, nach welchem sie Hofmannsthals Verdienst an der Erweiterung der semiotischen Kategorie der „mythologie du reel“ (Michel Riffaterre) festmachen will.

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ge Mensch durchlebt, der als erster ein Tieropfer darbrachte, um seine Götter zu besänftigen. Im Akt des Tötens nämlich habe sich dieser Mensch mit dem Tier identifiziert, also eigentlich ein Selbstopfer dargebracht. Insofern sei die Opfer¬ handlung der erste symbolische Akt, die „Wurzel aller Poesie“ (SW XXXI 81). Berühmt ist die Kritik Theodor W. Adornos an dieser These. Adorno sieht in Hofmannsthals Spekulation über den Ursprung des Symbols aus dem Opfer eine „blutrünstige Theorie des Symbols, welche die finsteren politischen Mög¬ lichkeiten der Neuromantik einbegreift“4ls. Die Angst vor den Göttern, die den archaischen Menschen motiviert habe, eine grausame Opferhandlung zu vollzie¬ hen, entspreche der Furcht des modernen Dichters vor „feindlichen Lebensmächte[n]“, denen Hofmannsthal unter Preisgabe der eigenen Subjektivität be¬ reitwillig den Mund geliehen habe. Mit seiner Deutung des Gesprächs macht Adorno Hofmannsthal die folgenschwere Kapitulation des Geistes vor irrationa¬ len Gewalten zum Vorwurf.419

418 Theodor W. Adorno, George und Hofmannsthal. Zum Briefwechsel: 1891-1906, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd 10.1, Kulturkritik und Gesellschaft I, Prismen, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1977, S. 195-237, hier S. 234. 419 In die gleiche Richtung wie Adornos Kritik zielen die Beiträge der Religionswissen¬ schaftlerin Hildegard Cancik-Lindemaier zur literarischen Rezeption archaischer Opferriten (siehe dies., Opferphantasien. Zur imaginären Antike der ]ahrhundertwende in Deutschland und Österreich, in: Der Altsprachliche Unterricht 30.3 (1987), S. 90-104, und dies., Opfer. Religions¬ wissenschaftliche Bemerkungen zur Nutzbarkeit eines religiösen Ausdrucks, in: Der Krieg in den Köpfen. Beiträge zum Tübinger Friedenskongress . Krieg - Kultur - Wissenschaft, hrsg. v. HansJoachim Althaus, H. Canzik-Lindemaier, Kathrin Hoffmann-Curtius u. Ulrich Rebstock, Tü¬ bingen 1988, S. 109-120). Aus der Perspektive der Friedensforschung kritisiert sie grundsätz¬ lich die zur Sakralisierung von Gewalt beitragende Spekulation über antike Opferbräuche in der Literatur des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Die „Opferphantasien“ Hofmannsthals, Borchardts und Hauptmanns hätten, indem sie das persönliche Selbstopfer (wie Hofmannsthal in seinem Alkestis-Drama) glorifizierten, die allgemeine Kriegsbereitschaft vor dem ersten Weltkrieg maßgeblich gefördert. Dem stehe die seit der Antike geübte Kritik an archaischen Opferritualen entgegen. Erst durch Augustinus sei der Mißbrauch des Wortes Opfer möglich geworden. So notwendig Canzik-Lindemaiers Korrektur der literarischen Vorstellungen über ,Opfer“ aus religionswissenschaftlicher Perspektive und als Idiologiekritik auch sein mag (es sei hier an die Diskussion über die Formulierung „Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“ in der 1993 eingerichteten nationalen Gedenkstätte in der Berliner „Alten Wache“ erinnert), für das Verständnis des Opferbegriffes bei Hofmannsthal sind ihre Ausführungen wenig auf¬ schlußreich. Zudem führt sie mehrfach gerade solche Texte an, die zur Begründung ihrer These wenig oder gar nicht geeignet sind: Hofmannsthals späte Rede Das Vermächtnis der Antike (1926) dokumentiert für sie eine aus der Opfermetaphorik resultierende Rechtfertigung von Gewalt (s.Canzik-Lindemaier, Oferphantasien, a.a.O., S. 95). Daß aber Hofmannsthal gerade in diesem Text in Passagen, die die Verfasserin nicht zitiert, vor den „Abgründen der Gegenwart“ warnt, läßt Cancik-Lindemaier außer acht. Auch liegt zu diesem Zeitpunkt - Mitte der zwanzi¬ ger Jahre - mit seinem Trauerspiel Der Turm eine klare Absage Hofmannsthals an Gewalt im Sinne von .violentia“ als Mittel politischer Machterhaltung vor. Die Begriffe .Opfer“ und .Ge¬ walt“ haben in Hofmannsthals Werk einen komplexeren Gehalt, als ihnen Cancik-Lindemaier in ihrer Kritik beimißt.

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Adornos Kritik bleibt in der Forschung nicht unwidersprochen.420 Renate Böschenstein etwa läßt in ihrem bereits erwähnten Aufsatz über Tiere in Hof¬ mannsthals Zeichensprache die Kritik des Frankfurter Philosophen nicht uneinge¬ schränkt gelten421. Zwar lege er „in der Tat den Finger auf eine schwache Stelle der Argumentation“, aber die Analogie, die Adorno zwischen dem Opfernden und dem modernen Dichter herstellt, hält sie nicht für überzeugend, „denn das vom Dichter erschaute Symbol stirbt ja nicht anstelle des Subjekts wie das Op¬ fertier anstelle des Opfernden, sondern gewährt gerade den in der Natur wahr¬ genommenen Symbolen das Weiterleben im Text.“422 Die Charakterisierung der Theorie als einer „blutrünstigen“ Abdankung des Subjekts sei übertrieben. Auch übersehe Adorno, daß Hofmannsthal im Gespräch über Gedichte jene Theorie selbst schon relativiere, indem er ihr eine andere Poesie - eine Lyrik, die der Klarheit des Gedankens entsprungen sei - gegenübergestellt habe.423 Damit ver¬ wechselt Renate Böschenstein allerdings die Worte Clemens’, der für diese ,Ge¬ dankenlyrik' eintritt, mit der Auffassung Hofmannsthals; ihre Kritik am Vor¬ wurf Adornos trifft nicht, da sie selbst auf einer Fehlinterpretation des Gesprächs basiert. Gabriels emphatischer Satz: „Das ist die Wurzel aller Poesie“, welcher unmittelbar im Anschluß an die Herleitung des Symbols aus dem Opfer folgt, hat in der Forschung und Kritik dazu geführt, daß das Gespräch über Gedichte gewöhnlich auf diese Theorie reduziert wird. Um zu zeigen, was an Adornos Verdikt ungerechtfertigt ist, und um die Irrtümer seiner Kritikerin zu klären, scheint es notwendig, Hofmannsthals fiktiven Dialog noch einmal genauer zu le¬ sen.

420 Siehe zuletzt Hans-Jürgen Schings, Lyrik des Hauchs. Zu Hofmannsthals ,Gespräch über Gedichte\ in: Hofmannsthal-]ahrbuch 11 (2003), S. 311-339. 421 Böschenstein, a.a.O., S. 157 422 Ebd. 423 Die „Verwirrung in diesem Text“ erklärt Böschenstein mit der Überlagerung von „zwei ganz verschiedene[n] Diskurse[n]“: Hofmannsthal befinde sich an der Schwelle zwischen dem herkömmlichen „goethisch-ontologischen Symbolbegriff“ und der damals verpönten Allegorie; das Bild des Tieropfers sei hier weniger für die Erklärung des Symbols im älteren Sinne auf¬ schlußreich (weil diese auf der Einheit von Bild und Sinn basierende Symbolik durch den Um¬ stand, daß im Opfer gerade ein Wesen für das andere einsteht, unterlaufen würde), sondern in¬ teressiere Hofmannsthal „als solches“, als Zeichen nämlich „für eine bestimmte Relation von Tier und Mensch“, a.a.O., S. 157. Mit ihrer semiotischen Fragestellung glaubt Böschenstein, den Schlüssel für die Deutung der Tieropfer in Hofmannsthals Werk gefunden zu haben. Un¬ ter anderem am Beispiel der fragmentarischen Erzählung Knabengeschichte deutet sie die Tat des pubertierenden Euseb, der einen Sperber quält und tötet, als Tieropfer, in welchem symbo¬ lisch ein Vatermord, ein Selbstmord, ein Mord an einem Menschen überhaupt vollzogen und damit verhindert würde. Hofmannsthals Leistung bestünde - abgesehen von der Erweiterung des modernen Realitätsbildes im Sinne einer „mythologie du reel“ (Michael Riffaterre) - in ei¬ ner das Problem der Gewalt integrierenden Weltdeutung. Mit Riffaterres „glücklichem“ Aus¬ druck „mythologie du reel“ sei ein „durch intersubjektiven Konsens geschaffenes Realitätsbild“ gemeint, auf das allein sich sprachliche Zeichen beziehen könnten, nachdem eine „außerhalb der Subjekte gelegene Realität“ nicht mehr angenommen werden könne; vgl. R. Böschenstein, a.a.O., S. 139.

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Gabriels und Clemens’ Unterhaltung beginnt mit der Rezitation einiger Gedichte aus Stefan Georges Zyklus Das Jahr der Seele. Während Clemens wie¬ derholt fordert, Gabriel möge doch „das Ganze“ lesen, dann eine kühne Meta¬ pher deutet und sich schließlich in die Rolle des Fragenden fügt, nimmt Gabriel, offenbar ein Experte in Fragen der Dichtkunst,4'4 diese bewunderten Verse zum Anlaß, ein allgemeines Kriterium für wahre Poesie aufzustellen. Es erinnert an die Lehre Ernst Machs, wenn er die Jahreszeiten und Landschaften, von denen die Gedichte handeln, definiert als „die Träger des Anderen ‘ (SW XXXI 76), all dessen, was außerhalb des „Selbst“ ist: „Wir sind nicht mehr als ein Tauben¬ schlag“ (SW XXXI 76), lautet seine Umschreibung des neuen Menschenbildes, in welchem die Einheit des Subjekts aufgelöst ist, das „Ich“ sich vielmehr aus Eindrücken, die es von der Außenwelt empfängt, konstituiert.4"3 Diese „Verfas¬ sung des Daseins“ komme der Poesie entgegen, denn so dürfe sie „statt in der engen Kammer des Herzens, in der ganzen ungeheuren, unerschöpflichen Natur wohnen“ (SW XXXI 76). Die einzige Grenze der Poesie sei die menschliche Sprache. Damit formuliert Gabriel eine endgültige Absage an die empfindsame und genialische Poesie des 18. Jahrhunderts, die allerdings in der Lyrik des 19. Jahrhunderts, von den französischen Symbolisten etwa, längst vollzogen war.426 Gabriels Thesen stellen also weniger ein avantgardistisches Programm dar als vielmehr eine Art Bestandsaufnahme zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, in welcher der Status quo lyrischer Dichtungstheorie als Ergebnis einer Entwick¬ lung des zurückliegenden Jahrhunderts beschrieben wird. Für diese Deutung sprechen die Quellen, die Hofmannsthal für sein Gespräch heranzog und die im entsprechenden Band der Kritischen Ausgabe zugänglich gemacht wurden427: Vor allem in Goethes West-östlichem Divan, den Noten und Abhandlungen dazu, in Hebbels Tagebüchern und Briefen sowie in Edgar Allen Poes The Poetic Principle fand er die wesentlichen Aussagen über Gedichte vor, an welche er seine poetologischen Forderungen anknüpfte, die er in Georges Jahr der Seele einge¬ löst sah.428

424 Dagegen ist Clemens der Amateur von Gedichten. Adorno bezeichnet ihn zurecht als den Schüler Gabriels, auch wenn der Text keine eindeutigen Hinweise auf ein pädagogisches Verhältnis der beiden enthält. Böschenstein ignoriert diese Konstellation und überschätzt des¬ halb Clemens’ Ansichten, wenn sie darin eine Relativierung der „blutrünstigen“ Theorie erken¬ nen will. 425 An der .Auflösung des Ichs‘ war neben der Philosophie Ernst Machs auch die drei Jah¬ re vor Hofmannsthals Gespräch erschienene Traumdeutung Sigmund Freuds beteiligt. Noch für Sigismund, der, als er aus dem Turm entlassen wird und die Hand des Arztes auf seiner Stirn spürt, fragt „Bin ich jetzt in der Welt?“, war diese Seelenvorstellung Machscher Provenienz gewissermaßen vorausgesetzt. 426 Vgl. Hugo Friedrich, Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart, Hamburg 1956. 427 SW XXXI, S. 316 ff. 428 Bereits 1898 plante Hofmannsthal einen Aufsatz über Georges Jahr der Seele (vgl. Brief an George v. 13. Oktober 1898, Bw 137). Umgesetzt hat er diese Idee aber erst fünf Jahre spä¬ ter - im Gespräch über Gedichte -, nachdem ihm aufgegangen war, „wie viel, wie unerschöpflich viel es [Das Jahr der Seele] enthält“ (Brief v. 10 Juni 1903 an George, BW 192), zit. nach SW XXXI, S. 336.

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An Hebbels Gedicht Die Schwäne, welches Clemens in voller Länge zitiert, entzündet sich zwischen den Gesprächspartnern die Frage, was ein Symbol sei, und daraus wiederum wird die Kontroverse über ein Kriterium für wahre Poesie entwickelt. Während Clemens eilfertig die symbolische Bedeutung der Schwäne erklären möchte, unterbricht ihn Gabriel mit der Bemerkung, sie seien „lebendi¬ ge, geheimnisvolle Chiffren, mit denen Gott unaussprechliche Dinge in die Welt geschrieben“ habe (SW XXXI 80). Den Begriff .Symbol1 will er - wie oben be¬ reits erläutert - nur gereinigt, im Sinne jener Urerfahrung des ersten Opfernden verstanden wissen: „Er starb in dem Tier und wir lösen uns auf in den Symbolen“ (SW XXXI 81), faßt Clemens Gabriels Theorie schließlich zusammen. Nur gibt er sich damit nicht zufrieden und wendet ein, es gebe auch schöne Gedichte, welche nicht dieser „schwüle[n] Bezauberung“ (SW XXXI 82) bedürften, Lie¬ der, die „leicht sind wie ein Hauch und einfach wie eine Mozartsche Melodie“ (SW XXXI 82). Er fordert Gabriel auf, Gedichte der antologia graeca zu erläu¬ tern, in denen er selbst jene andere Schönheit erkennt. Gabriels Kommentar dieser antiken Gedichte und Lieder bildet einen we¬ sentlichen Teil seiner Symboltheorie, die in der Rezeption oft nur auf den .blut¬ rünstigen1 Teil reduziert wird. Die knappe Paraphrase einzelner Gedichte, die ihm in Erinnerung geblieben sind, zeigt, daß es in nahezu jedem seiner Beispiele um Opfer geht - weniger blutig, dafür aber sinnlich: Da ist vom Opfer eines Gärtners die Rede, einem Früchtekorb mit einem „Granatapfel, de [nt] aufge¬ sprungenen, dem das feuchte, zitternde, purpurne Fleisch die tausend süßen Kerne enthüllt“ (SW XXXI 82), mit Trauben, Quitten, einer reifenden Nuß und sogar „saftgeschwellte[n] Gurken“ (SW XXXI 82). Die Zauberin Niko bringt ebenfalls ein Opfer dar, ihren mit „purpurner Wolle“ (SW XXXI 82) umsponne¬ nen Zauberkreisel, mit dem sie Männer und Mädchen verführen kann. Ein Opfer ist auch der von Fischen angefressene Mensch, den Fischer in ihrem Netz aus dem Meer gezogen haben und zusammen mit den Fischen begraben, „daß die Erde ihn ganz zurücknehme“42'. Noch prägnanter geht Gabriels These aus der Erläuterung des zuletzt be¬ trachteten Gedichtes hervor. Es handelt vom Weinkeltern: Die Menschen, die badend und tanzend im „roten Saft, dessen Hauch schon trunken macht“ (SW XXXI 83), die Trauben auspressen, fühlen sich dem Gott Bacchus gleich, den sie unter sich wähnen. So halten sie eine junge Frau, deren vom „Blut der Trauben (SW XXXI 83) durchtränktes Gewand an ihrem Körper haftet, für die Göttin der Liebe. „Unter Schreien“ werden sie Zeugen der Geburt der Aphrodite aus dem „Purpurschaum“ (SW XXXI 83). In Opfertod und Liebesakt, den ekstatischen Polen des Lebens, wird das Unbegreifliche für den Menschen erfahrbar. Die nur für die Dauer eines Augen¬ blicks währende Entgrenzung des Menschen, die unio mystica mit dem Göttli-

SW XXXI 82. Die Vorstellung des Opfers an die Erde und der daran geknüpfte Glaube an eine Wiedergeburt findet sich auch bei Friedrich Hebbel: „Der erste Mensch legt aus Dank¬ barkeit und zum Opfer das Innerste der Frucht, den Kern, in die Erde, die sie hervorbrachte. Und die Erde treibt einen neuen Baum!“, Tagebücher 1835-1843, Bd I, hrsg. u. m. Anm. vers. v. Karl Pörnbacher, München 1984, S. 144.

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chen, mache das Symbol aus.430 Diese mystische Erfahrung zeichnet sich - wie es der amerikanische Psychologe und Begründer der vergleichenden Religionswis¬ senschaften, William James, in seinen Vorlesungen lehrt - durch die Unmöglich¬ keit ihrer Vermittlung aus.431 Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn Gabriel den Moment der mystischen Ekstase des Menschen im Stöhnen und im Schrei ausmacht.432 Mit der Auflösung der Individuation löst sich auch die Sprache auf; nur der Laut bleibt von ihr übrig. Für die Poesie impliziert dieses Verständnis des Symbols die Forderung, Träger jener unbeschreiblichen Grenzen des Lebens zu sein. Jedes gelungene Gedicht vermag es, die im mystischen Augenblick erfahrbaren Extreme des Le¬ bens aufleuchten zu lassen. An dieses Kriterium reicht Clemens’ Anspruch an ein schönes Gedicht, „geformter Gedanke“ (SW XXXI 84) zu sein, nicht heran. Zwar stimmt ihm Gabriel zu, daß der Gedanke den „Glanz des Lebens“ verviel¬ fältigt, daß er wie eine Perle „den feuchten Schimmer der nackten Haut in sich saug[t] und zehnfach widerstrahl[t]“ (SW XXXI 84), aber von eigentlichem Wert sei der Gedanke nur in mythischer Zeit, in einer „frühe[n] dumpfe[n] Welt“ (SW XXXI 85) gewesen. In der Gegenwart hingegen herrsche eine gewis¬ se Inflation des Gedankens: „Wir aber sind reicher an Gedanken, als der endlose Meeresstrand an Muscheln. Was uns not tut, ist der Hauch“ (SW XXXI 85), fordert Gabriel. Sein Einwand ist folglich keine Widerlegung der Position des Freundes, sondern eine Fortführung, was sich an einem Vers Goethes zeigt, auf den sich beide Gesprächspartner in ihren Argumentationen berufen und den Hofmannsthal in seinen Notizen zum Gespräch mehrfach zitiert: „Bilde Künst¬ ler! Rede nicht! Nur ein Hauch sei dein Gedicht“.433 Zitiert Clemens Goethe als den Gewährsmann für die Lyrik des „geformten Gedankens“, indem er auf dieses Wort anspielt: „Fühlte er sich nicht dem Bildner näher verwandt als dem Red-

430 Vgl. Herbert Silberer, Probleme der Mystik, a.a.O., S. 226: „Man vergesse nicht [...], daß nämlich der Sexualgenuß auch als eine Art Vernichtung betrachtet sein will; er ist ein Zu¬ stand des Rausches und des Vergessens oder Vergehens. Diese Seite des Sexualvorganges ist es nun, die die Symbolik der Unio mystica vorzüglich betont.“ Auf die Bedeutung des Augen¬ blicks in Hofmannsthals Symboltheorie weist Uwe Steiner besonders hin, a.a.O., S. 227. Das „Augenblickhafte“, das „mystische Nu“ - wie später Walter Benjamin im Trauerspielbuch diese Qualität des Symbols nennen wird - „verleiht dem Symbolischen im Verständnis Hofmanns¬ thals den Charakter einer Epiphanie“ (ebd.). Noch Karl Heinz Bohrers Theorie der Plötzlich¬ keit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt am Main 1981, basiert auf diesem Sym¬ bolbegriff, dessen Ursprung in Hofmannsthals Gespräch über Gedichte der Autor allerdings nicht erwähnt. 431 William James, Varieties of Religious Experiences, London 1905, S. 380. 432 Jener erste Mensch, der den Widder opferte, mußte „einen Augenblick lang“ geglaubt haben, „es sei sein eigenes Blut, einen Augenblick, während ein Laut des wollüstigen Trium¬ phes aus seiner Kehle sich mit dem ersterbenden Stöhnen des Tieres mischte, muß er die Wol¬ lust gesteigerten Daseins für die erste Zuckung des Todes genommen haben [...]“. Die trunke¬ nen Kelternden des griechischen Gedichtes werden „im dunstigen Dunkel, unter Schreien, unter taumelndem Fackelschein, unterm Sprühen des Blutes der Traube“ Zeugen der dionysi¬ schen Geburt der Aphrodite. 433 Vorsatz der unter „Kunst“ zusammengestellten Gedichte Goethes, WA 12 S 167 Vgl SW XXXI 325.

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ner?“ (SW XXXI 84), so beruft Gabriel sich bei seiner Forderung nach dem „Hauch“ auf den zweiten Teil des Verses und bringt damit wieder das Leben ins Spiel. Er fährt fort: „Wovon unsere Seele sich nährt, das ist das Gedicht in wel¬ chem [...] zugleich ein Hauch von Tod und Leben zu uns herschwebt [...]“ (SW XXXI 85). Hofmannsthal notiert sich im Anschluß an jenes Goethe-Wort:

ein

Hauch das ist unendlich viel“ (SW XXXI, 325) und kurz darauf: „Ein Hauch aber ist so viel. Das Athmen der Vorfrühlingsluft, wie gering ist das Schauen ge¬ gen das Athmen. So legt die brahmanische Geisterwelt dem Athmen entschei¬ dende Bedeutung bei: Ein ganzer Zweig des Yoga bezieht sich auf das Athmen [...]“ (SW XXXI, 326). Für den Opferbegriff indes finden sich in den Aufzeich¬ nungen Hofmannsthals vergleichsweise wenig Hinweise; eine philosophisch nachweisbare Quelle scheint es für die Beschreibung jener ersten Opferhandlung nicht zu geben. Weder Goethe, Hebbel, noch Poe haben den Gedanken des Op¬ fers so drastisch dargestellt wie Hofmannsthal im Gespräch. Gleichwohl weisen diese Dichter den Weg zur Entstehung des Hofmannsthalschen Opferbegriffes. Festzuhalten bleibt, daß Hofmannsthals poetische Indienstnahme des Op¬ fers für die Darstellung einer Symbol- und Dichtungstheorie nicht auf das Pro¬ blem der Gewalt im Sinne von ,violentia‘ reduziert werden kann. Nicht auf die Ausübung von Gewalt kommt es Hofmannsthal beim Opfer an, sondern auf den „Hauch“, auf das Unaussprechliche des Lebens, dem unmittelbar nur die aufge¬ löste Sprache, der Schrei, entspricht. Die moralische Frage nach dem Umgang mit Gewalt steht auf einem anderen Blatt und ist von Hofmannsthal erst nach der Erfahrung des Krieges gestellt worden. Der Turm ist das berühmteste Zeug¬ nis für die ernsthafte Auseinandersetzung des Dichters mit dem komplexen Problem der Gewalt.434 Adornos moralischer Vorwurf, Hofmannsthals Symboltheorie käme einer folgenreichen Preisgabe der Subjektivität an irrationale Mächte gleich, ist dann berechtigt, wenn man ihn als Kritik an einem Aspekt des Fin de siede versteht. In der von Nietzsche geprägten Epoche stand die ,Moral' auf der Suche nach neuen Grenzen hintenan - man denke an den Kult neurotischer Reizbarkeit der Decadence-Helden von Joris-Karl Huysmans oder Oscar Wilde. Aber diese Kri¬ tik an Hofmannsthals Gespräch über Gedichte festzumachen und dabei nur die eine Hälfte der darin formulierten Symboltheorie zu interpretieren scheint nach dem Ergebnis unserer Interpretation nicht gerechtfertigt. Deshalb sitzt auch der „Stachel des Vorwurfs“, den Renate Böschenstein nicht vergessen kann, so tief nicht, sondern zielt einfach nur daneben. Böschensteins Versuch, Hofmannsthal

434 Man mag einwenden, daß - wie oben behauptet - die Ausklammerung der „morali¬ schen Frage der Gewalt“ im „Gespräch“ eben jenen Fehler, das Frühwerk auf den Ästhetizis¬ mus festzulegen, wiederholt. Aber das wäre nicht gerecht, denn es macht einen Unterschied, ob man das Frühwerk isoliert - sozusagen aus einer schon zu Hofmannsthals Lebzeiten ge¬ zimmerten Schublade - herausnimmt und betrachtet, oder es als Teil eines Gesamtwerkes auf¬ faßt und Hofmannsthals Enttäuschung angesichts der Er an os Festschrift, die man ihm zum 50. Geburtstag überreichte und in der er von seinen engsten Freunden fast ausschließlich als der Autor seines außerordentlichen Frühwerkes gewürdigt wurde, ernst nimmt.

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gegen Adorno zu verteidigen, muß fehlschlagen, weil auch sie das Gespräch ein¬ seitig interpretiert. Daß Clemens’ Einwände und poetologische Überlegungen keineswegs ein von Hofmannsthal beabsichtigtes Gegengewicht zu Gabriels Er¬ klärung des Symbols bilden, wie Böschenstein meint,435 beweist nicht zuletzt ein Zitat Hebbels, das sich unter Hofmannsthals Notizen zum Gespräch findet und das vielleicht am besten die Aussage dieses Textes zusammenfaßt: „Dieß ist das grauenhafte Schicksal des lyrischen Dichters: die größten Anstrengungen, die er macht, die schwersten Opfer, die er bringt, indem er sich kein Gedicht erlaubt, was nicht zart und unkörperlich wäre, wie ein Hauch, dankt ihm Niemand, wo¬ gegen die ganze Welt den Unberufenen, der philosophische Gedanken mit wohl¬ feilen Metaphern umgiebt und in fütternde Verse bringt, bewundert und be¬ klatscht.“ (Hervorhebung im Original, SW XXXI, 317 f.)

II. Zeitgenössische Opfertheorien Wie schon Hofmannsthals berühmter Brief des Lord Chandos bald als exemplari¬ scher Ausdruck der allgemein empfundenen Sprachkrise der Epoche galt,436 stell¬ te auch die Verknüpfung der Frage nach dem Ursprung von Poesie mit einer Opfertheorie keine ungewöhnliche These dar. Der Begriff des Opfers hat gleich¬ sam Konjunktur in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts.437 Dieser Umstand relativiert das von Rang und Hofmannsthal angeschnittene Ge¬ sprächsthema, denn ist einmal der Horizont der zeitgenössischen Diskussion über den Ursprung von Poesie - über den Ursprung der Tragödie dann als Spe¬ zialfall - abgesteckt, erweist sich die von Rang beschworene Gemeinsamkeit als eine weit verbreitete. 1. Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie Auch wenn in Nietzsches Werk eine Opfertheorie im engeren Sinne nicht vor¬ kommt,438 ist sein Einfluß auf Hofmannsthals und Rangs Überlegungen zu dem Begriff des Opfers nicht zu leugnen. Seine Abhandlung Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik enthält verschiedene Thesen, ohne die der emphatische Opferbegriff der beiden Adepten nicht denkbar wäre.

435 Die „blutrünstige Theorie“ werde „zunächst dadurch relativiert, daß im .Gespräch1 selbst der .schwülen Bezauberung1 so entstandener Poesie die Klarheit einer anderen entgegen¬ gesetzt wird [...]“, a.a.O., S. 157. 436 Für die Wirkung des Chandos-Briefes ist Gustav Landauers Rekurs im letzten Kapitel seiner im Anschluß an Fritz Mauthners Sprachkritik verfaßten Schrift Skepsis und Mystik ein gutes Beispiel. 437 Vgl. hierzu die in der obigen Anmerkung genannten Beiträge von Hildegard CanzikLindemaier. 438 In Karl Schlechtas Index zu Nietzsches Gesamtwerk wird unter dem Stichwort .Opfer1 bzw. .Opfern1 lediglich auf zwei Stellen aus Morgenröte (I 1115) und den Nachlaß der achtzi¬ ger Jahre (III 803) verwiesen, in denen der Begriff nicht im Zusammenhang mit dem kulti¬ schen, rituellen Opfer steht. Auch das „Menschenopfer“ spielt bei Nietzsche unmittelbar nur eine untergeordnete Rolle: Wiederum im Nachlaß wird die Bereitschaft Menschenopfer zu bringen, synonym für „große Leidenschaft“ verwendet (III 533).

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Im Hinblick auf Hofmannsthals Gespräch über Gedichte sind zunächst Nietzsches Ausführungen zum Lyriker in der Geburt der Tragödie interessant. Nietzsche erklärt vor dem Hintergrund seiner eingangs erläuterten „ästhetischen Metaphysik“439, in welcher er der Kunsterfahrung des Rausches - dem Dionysi¬ schen - das apollinische Kunstprinzip des Traumes oder Scheines gegenüber¬ stellt, wie es um die von der zeitgenössischen Ästhetik beschworene .Subjektivi¬ tät'

des

lyrischen

Künstlers

steht.

Als

Beispiel

für

den

dionysischen

Künstlertypus dient Nietzsche der erste griechische Lyriker Archilochus, den er als Antipoden des apollischen Epikers Homer ansieht. Ausgehend von Schillers Diktum, der Prozeß des Dichtens habe seinen Ursprung in einer „musikalischen Stimmung“440, behauptet Nietzsche die Identität des Lyrikers mit dem Musiker, dem dionysischen Künstler par exellence. Das Ich des lyrischen Künstlers im Gedicht läßt Nietzsche nicht als den Ausdruck bloßer subjektiver Erfahrung gel¬ ten, wie das die zeitgenössische Ästhetik seiner Meinung nach tut, sondern be¬ stimmt es als Objektivation der „einzige [n] überhaupt wahrhaft seiende [n] und ewige [n] im Grunde der Dinge ruhenden .Ichheit'“441. Im „lyrischen Genius“ vollziehe sich der gleiche Vorgang, der später die attische Tragödie hervorbrach¬ te: Das vollständige, allein im dionysischen Schlaf mögliche Eintauchen in das „Ur-Eine“, in dem der Mensch seinen Schmerz und Widerspruch - als Resultat der Weisheit des Silen442 - erfährt, wird im apollinischen Schein erlöst und so überhaupt erst mitteilbar.443 Das Ich des Lyrikers ist nicht das Ich des Menschen Archilochus, sondern Ausdruck des Weltgenius, der die Wahrheit des ewigen Seins, den vom Silen benannten Urwiderspruch des Menschen, kennt. Um die .Subjektivität' des Dichters geht es auch in Hofmannsthals Ge¬ spräch. Die .Auflösung' des Menschen im mystischen Augenblick bedeutet, wie Adorno zutreffend bemerkt, die .Aufgabe' der Subjektivität, das gänzlich Eins¬ werden mit dem „Ur-£inen“, um es in Nietzsches Terminologie zu formulie¬ ren.444 Hinter der „Ichheit“ des dionysischen Lyrikers und der momentanen Auflösung der Subjektivität des Menschen in der umo mystica, um die es Hof¬ mannsthal in seiner Symboltheorie geht, steht ein und dieselbe Erfahrung. Sie ist nicht erst von Hofmannsthal in seinem Gespräch über Gedichte mit dem Symbol in Verbindung gebracht worden, sondern bereits von Nietzsche, was aus einer anderen Stelle der Geburt der Tragödie hervorgeht:

439 Friedrich Nietzsche, Werke /, hrsg. v. Karl Schlechta, Nachdruck der 6. durchges. Auf¬ lage , München 1969, S. 37. 440 Ebd. 441 Nietzsche, Werke /, a.a.O., S. 38. 442 Der Sage nach erhält König Midas auf die Frage, was denn das Allerbeste für den Men¬ schen sei, die höhnische Antwort des weisen Silen: „Das Allerbeste ist für dich gänzlich uner¬ reichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich — bald zu sterben.“ Nietzsche, Werke I, a.a.O., S. 30. 443 „Die dionysisch-musikalische Verzauberung des Schläfers sprüht jetzt gleichsam Bil¬ derfunken um sich, lyrische Gedichte, die in ihrer höchsten Entfaltung Tragödien und dramati¬ sche Dithyramben heißen.“ Nietzsche, Werke I, a.a.O., S. 37. 444 „Er ist zuerst, als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden [...]“, ebd.

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In Nietzsches Erklärung des dionysischen Kunstprinzips spielt das Symbol eine entscheidende Rolle. Im Dithyrambus, dem musikalischen Ausdruck dieses Kunsttriebes, „wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symboli¬ schen Fähigkeiten gereizt“445. Anders als im apollinischen Traumkunstwerk soll sich im dionysischen Rausch „das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbo¬ le ist nötig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik der Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen symbo¬ lischen Kräfte die der Musik in Rhythmik, Dynamik und Harmonie plötz¬ lich ungestüm. Um diese Gesamtentfesselung aller symbolischen Kräfte zu fassen, muß der Mensch bereits auf jener Höhe der Selbstentäußerung an¬ gelangt sein, die in jenen Kräften sich symbolisch aussprechen will: der dithyrambische Dionysosdiener wird somit nur von seinesgleichen ver¬ standen!“446

Die Selbstentäußerung im dionysischen Rausch ist für Nietzsche wie später für Hofmannsthal die Auflösung im mystischen Augenblick - die Voraussetzung für das Verständnis eines Symbols. Sowohl Nietzsches als auch Hofmannsthals Symbolbegriff wurzeln in der esoterischen Erfahrung der unio mystica.447 Freilich geht es Nietzsche in der zitierten Passage um die spezifische Symbolik des dio¬ nysischen Künstlers, in welcher vor allem die Gebärde, der Tanz, einbegriffen sein soll, während Hofmannsthal den Begriff Symbol in seinem Wesen zu erfas¬ sen sucht. Dennoch ist die Nähe ihrer Vorstellungen vom Ursprung künstleri¬ schen Schaffens nicht zu übersehen. Wenn auch der Begriff ,Opfer‘ in der Geburt der Tragödie nicht vorkommt, so verbirgt sich doch die Idee des Opfers in einer zentralen These der Abhand¬ lung: Laut Nietzsche hat die attische Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nämlich nichts anderes als die „Leiden des Dionysos“445 zum Gegenstand - die Leiden, die im Mythos des Dionysos Zagreus der eleusinischen Mysterien überliefert sind. Von diesem Dionysos heißt es, er sei als Knabe von den Titanen zerstückelt worden. Diese Zerstückelung symbolisiere eine Umwandlung in die vier Ele¬ mente. Schopenhauer folgend, deutet Nietzsche diesen Mythos dahingehend, daß der Ursprung des Leidens im Zustand der Individuation liege. Das Lächeln dieses Dionysos habe die olympischen Götter, seine Tränen die Menschen her¬ vorgebracht. Ihm sei in jener Existenz eine Doppelnatur eigen: die eines „grau¬ samen verwilderten Dämons und eines milden sanftmütigen Herrschers“449. In den eleusinischen Mysterien hoffte man auf die Wiedergeburt eines dritten Dio¬ nysos, in welchem die Leiden der Individuation überwunden würden. Seiner An-

44:1 Nietzsche, Werke I, a.a.O., S. 28. 446 Ebd. 447 Nietzsche selbst verwendet den Ausdruck „mystische Selbstentäußerung“ synonym für den dionysischen Rausch, Werke /, a.a.O., S. 26. 448 Nietzsche, Werke /, a.a.O., S. 61 f. 449 Nietzsche, Werke /, a.a.O., S. 62.

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kunft galt der „brausende Jubelgesang der Epopten“450. Die Aussicht, Dionysos noch einmal zu gebären, gibt der angesichts der in der Individuation zerstückel¬ ten Welt trauernden Fruchtbarkeitsgöttin Demeter - die in den eleusinischen Mysterien verehrt wird - Anlaß, sich wieder zu freuen. Nietzsche deutet diesen Kult als „Mysterienlehre der Tragödie“, als „die Grundkenntnis der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des Übels, die Kunst als die freudige Hoffnung, daß der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ah¬ nung einer wiederhergestellten Einheit.“451

Diese Deutung des Dionysos-Mythos weist Analogien zu Hofmannsthals Idee des Opfers auf. Im Schicksal des zerstückelten Dionysos, auf dessen Wiederge¬ burt die Epopten hoffen, findet Hofmannsthal den Vorgang vor, den er - wie oben ausführlich erläutert wurde - in Ad me ipsum in variierter Form zu einem ästhetischen Prinzip erhebt: durch Auflösung des Selbst neu geboren zu wer¬ den.452 Die Entstehung der Tragödie aus Opferritualen herzuleiten wird in der Nachfolge Nietzsches vor allem in kulturpsychologischen und ethnologischen Studien versucht. Dabei gilt der Erforschung von Männerbünden und deren In¬ itiationsriten, denen durchweg die Idee des Opfers zugrundeliegt, die stärkste Aufmerksamkeit. Die Rituale archaischer Männerbünde bieten Deutungsmuster, anhand derer sich nicht nur der Ursprung des Dramas, sondern auch die Bildung des Staatswesens erklären lassen. Für letzteres stellt Freuds Theorie der Urhorde in Totem und Tabu das wohl berühmteste Beispiel dar.453 Da Hofmannsthal diese zuerst 1912/13 in der von Freud herausgegebenen psychologischen Fachzeit¬ schrift Imago erschienene Schrift höchstwahrscheinlich kannte,454 soll im folgen¬ den näher auf sie eingangen werden. 2. Sigmund Freuds Totem und Tabu Die vier in Imago zunächst getrennt veröffentlichten und erst später unter dem Titel Totem und Tabu zusammengefaßten Kapitel der Schrift behandeln nachein¬ ander den Totemismus, die Funktion des Tabus und den Animismus in soge-

450 Ebd. 451 Ebd. 452 Siehe oben Kapitel 1.1. Der Begriff Opfer in Ad me ipsum. 453 Siegmund Freud, Totem und Tabu, in: Siegmund Freud, Kulturtheoretische Schriften, hrsg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Frankfurt am Main 1974 = Band IX Fragen der Gesellschaft/Ursprünge der Religion der S. Freud Studienausgabe, Frank¬ furt am Main 1994, S. 287-444. 454 Freuds Totem und Tabu erschien nach der Erstveröffentlichung in Imago bereits 1922 in dritter Auflage beim Internationalen Psychoanalytischen Verlag, Leipzig, Wien und Zürich, was für die Verbreitung der Studie zu diesem Zeitpunkt spricht. Hinzu kommt, daß Freud selbst sie für seine bestgeschriebene Arbeit hielt (gegenüber James Strachey um 1921, vgl. die editorische Vorbemerkung zu Totem und Tabu in Freud, Kulturtheoretische Schriften, a.a.O., S. 289) und wiederholt aus ihr zitierte.

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nannten „primitiven“455 Kulturen sowie im letzten Kapitel eine auf der Basis die¬ ses ethnologischen Befundes und der Psychoanalyse gewonnene Gesellschafts¬ theorie, die im Hinblick auf das Thema ,Opfer1 hier vor allem interessiert. Freuds Leistung in diesem vierten Kapitel besteht in der Kombination disparater ethnologischer Forschungsberichte und Kulturtheorien - J. Frazers Totemism and Exogamie (1910), W. Robertson Smiths The Religion of the Semites (1894) und Darwins Theorie der Urhorde bilden seine Hauptquellen - mit dem von ihm entdeckten ,Ödipus-Komplex“, den er von der Individualpsychologie auf die Völkerpsychologie überträgt. Seine zentrale These lautet, daß der bei den mei¬ sten Naturvölkern der Erde vorkommende Totemkult, der immer auf zwei fun¬ damentalen Tabus gründet - „das Totemtier nicht zu töten und den sexuellen Verkehr mit dem Totemgenossen des anderen Geschlechts zu vermeiden“436 auf ein grausames Verbrechen zurückzuführen sei: Eine Brüderschar, die von ih¬ rem eifersüchtigen und autoritären Clanvater vertriebenen wurde, rächt sich an diesem, indem sie ihn tötet und verspeist. Das Motiv dieser ungeheuren Tat liege in dem von der Psychoanalyse entdeckten Konkurrenzkampf zwischen Sohn und Vater um die Liebe der Mutter begründet, wofür das Schicksal des Ödipus sym¬ bolisch die Erklärung liefert. Der von den Söhnen gemeinsam vollbrachte Va¬ termord ziehe Schuldgefühle nach sich, die später zur Verehrung des Vaters im Totemtier führten; die Mitschuld aller bilde das gemeinschaftsstiftende Moment. In den von Frazer, Robertson Smith u.a. beobachteten Totemmahlzeiten und Opferfesten457 werde diese Ur-Tat rituell nachvollzogen, um eine tatsächliche Wiederholung derselben zu vermeiden. Auch die mit dem Totemismus verbun¬ dene Exogamie als Resultat des Inzestverbotes ist nach Freud eine Konsequenz des Mordes am Vater, denn aufgrund des psychoanalytisch nachgewiesenen am¬ bivalenten, zwischen Liebe und Haß, Achtung und Todeswunsch schwankendenVerhältnisses des Sohnes zu seinem Erzeuger verzichteten die Brüder in „nachträglichem Gehorsam“45!! auf den im Unterbewußtsein gehegten Wunsch des sexuellen Verkehrs mit den Frauen ihres Clans. Freud erkennt in dieser Theorie trotz aller vorsichtigen Einschränkungen434 „die Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst“460 - ein An-

455 So die Terminologie Freuds und seiner Zeitgenossen, während man sich nach dem zweiten Weltkrieg in der Völkerkunde auf den Begriff „Naturvölker“ nach der Definition von W.E. Mühlmann „Völker mit geringen Mitteln zur Naturbeherrschung, d.h. geringen techni¬ schen Mitteln“ (zit. n. dem Fischer Lexikon Völkerkunde, hrsg. V. Herbert Tischner, Frankfurt am Main 1959) geeinigt hat. 456 Freud, Totem und Tabu, a.a.O., S. 323 f. 457 Opferrituale sind den ethnologischen Befunden zufolge kulturgeschichtlich jünger als Totemismus, vgl. Freud, Totem und Tabu, a.a.O., S. 417. 458 Freud, Totem und Tabu, a.a.O., S. 427. 459 „die Unbestimmtheit, die zeitliche Verkürzung und inhaltliche Zusammendrängung der Angaben in meinen obenstehenden Ausführungen darf ich als eine die Natur des Gegen¬ standes geforderte Enthaltung hinstellen. Es wäre ebenso unsinnig, in dieser Materie Exaktheit anzustreben, wie es unbillig wäre, Sicherheiten zu fordern“, schreibt Freud am Ende einer län¬ geren Anmerkung zum Kern seiner Theorie, a.a.O., S. 426. 4(’°Freud, Totem und Tabu, a.a.O., S. 439.

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Spruch, dem viele beipflichteten. Thomas Mann zum Beispiel, der Totem und Tabu im Hinblick auf seine Joseph-Romane las, rühmte die Studie nicht nur als ein „Meisterwerk der Essayistik“, sondern bekannte auch, daß er beim Namen des Verfassers, dem er immerhin zwei wichtige Aufsätze gewidmet hat, zuerst an diese Schrift dachte.461 In Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte (19 2 9 ) 462, worin er den Naturwissenschaftler gleichsam als Mythenforscher in aufklärerischer Absicht würdigt und in ihm einen Gesinnungsgenossen auf der Suche nach einem angemessenen Umgang mit dem Mythos im Kampf gegen den präfaschistischen Irrationalismus erkennt, spricht Mann scheinbar paradox von einer „selbständigen Abhängigkeit“ Freuds von der deutschen Romantik - dabei denkt er vor allem an Novalis - und einer „unbewußten Herkunft“ des Seelen¬ forschers von Nietzsche; bei beiden, dem Dichter und dem Philosophen, sieht er einige Thesen Freuds vorweggenommen, ohne daß deren Schriften für die Ent¬ deckung der Psychoanalyse Quellen dargestellt hätten.41’3 Bestätigen läßt sich Thomas Manns Beobachtung bereits am Beispiel von Totem und Tabu. Leitet Freud seine Vatermordtheorie ein mit der detaillierten Wiedergabe von Robertson Smiths Forschungsergebnissen zum Opferwesen, auf die im einzelnen noch zurückzukommen sein wird, so dient ihm im Anschluß an seine These eine bestimmte „Situation der Geschichte der griechischen Kunst“464 als weiteres Argument für die Plausibilität seiner Gesellschaftstheorie. Mit dieser „Situation“ meint er die älteste Form der griechischen Tragödie. Den Chor deu¬ tet er als Transformation jener schuldbeladenen Brüderschar, den tragischen Helden als den Urvater. Im Grunde seien die Chorgenossen die Verursacher der Leiden des Helden, aber, indem sie dessen Leidensweg klagend begleiteten, über¬ trügen sie die eigene Schuld auf diesen einzelnen. Die griechische Tragödie ist nach Freud eine völkerpsychologische Verarbeitung jener Urschuld, die am An¬ fang menschlicher Kulturgemeinschaften stand. Mit diesem Exkurs über die griechische Tragödie begibt Freud sich auf das Forschungsgebiet Nietzsches, dessen Geburt der Tragödie er allerdings mit keinem Wort erwähnt. Die These Thomas Manns von der „unbewußten Herkunft“ des Psychoanalytikers von Nietzsche scheint hiermit belegt,463 zumal Freud unmittelbar vor den Ausfüh-

^6I Vgl. Kommentar, in: Thomas Mann, Essays, Band 3, Musik und Philosophie, hrsg. v. Hermann Kurzke, Frankfurt am Main 1978, S. 286. 462 Thomas Mann, Essays, Band 3, a.a.O., S. 153-172. 463 Mann geht sogar soweit, Freuds Libidolehre als eine „der Mystik entkleidete, Naturwissenschaft gewordene Romantik“ zu bezeichnen, a.a.O., S. 170 f. Die „Rettung

der

Romantik und Nietzsches vor dem Mißbrauch durch zeitgenössische Irrationalismen scheint ihm in diesem Aufsatz über Freud besonders wichtig gewesen zu sein. 464Freud, Totem und Tabu, a.a.O., S. 438. 465 Allerdings wurde Nietzsches Geburt der Tragödie als philologische Forschungsarbeit von der Fachwelt nicht anerkannt. Bekanntlich lehnte die Baseler Universität die Schrift, die Nietzsche als Habilition eingereicht hatte, ab. Freud beruft sich bei seinen Ausführungen über die griechische Tragödie ausschließlich auf das Werk des französischen Religionswissenschaft¬ lers S. Reinach, Cultes, mythes et religions (1905-1912), worin sich auch ein Kapitel über La mort d'Orphee befindet, dem er die entscheidende Anregung für seinen Vergleich zwischen Kulturtheorie und Tragödie verdankte, vgl. Freud, Totem und Tabu, a.a.O., S. 436 u. 438.

98 rungen über die Tragödie die Erbsünde aus den Mysterien, dem Mythos des Dionysos Zagreus, herleitet.466 Im Hinblick auf unsere Frage, wie verbreitet und welcher Art das Interesse an Opfertheorien zu Beginn des 20. Jahrhunderts war, um Hofmannsthals Be¬ schäftigung mit diesem Thema bewerten zu können, ist es sinnvoll, auf die be¬ reits erwähnte ,Quelle“ Freuds, die Forschungen Robertson Smiths, die er in sei¬ nem Werk über die Religion der Semiten darlegte, näher einzugehen. Robertson Smith definiert in seinem „ausgezeichneten Buch“467 das Opfer als „an act of so¬ cial fellowship between the deity and his worshippers“468, als eine heilige Hand¬ lung, also eine „Darbietung an die Gottheit, um sie zu versöhnen oder sich ge¬ neigt zu machen [...] ein Akt der Geselligkeit, eine Kommunion der Gläubigen mit ihrem Gotte“46V. Die Nebenbedeutung des Begriffs „Opfer“ als „Selbstent¬ äußerung“ sei - so Freud an anderer Stelle - erst auf einer späteren Kulturstufe entstanden, als die Gottheit abstrakter wurde und man sich ihr nur durch die Vermittlung eines Priesters nähern konnte.476 Alter als die Darbringung von ve¬ getabilischen Opfern sei das Tieropfer, welches die Menschen mit der Gottheit gemeinsam verzehrten, während Früchte ausschließlich als Tribut an den Herrn des Bodens verstanden wurden und erst mit dem Ackerbau aufkamen. Auch hing die Art des Opfers von der Gottesvorstellung ab, die sich im Taufe der Zeit wandelte. Ursprünglich glaubte der Mensch, sein Gott verzehre die ihm darge¬ brachte Nahrung tatsächlich; erst mit der abstrakteren Vorstellung der Gottheit wurde das Opferfleisch verbrannt und statt des ursprünglichen Trinkopfers, dem Blut des geopferten Tieres, das „Blut der Rebe“, wie die Alten den Wein nannten und „wie ihn unsere Dichter jetzt noch heißen“471, gereicht. Auf die Unterscheidung der verschiedenen Entwicklungsstufen in der Ge¬ schichte des Opferwesens - wie hier etwa die Feststellung, daß das Tieropfer äl¬ ter sei als andere Opfergaben - legt Freud großen Wert, da er zur Bekräftigung seiner These vom Ursprung der Kulturgemeinschaft im Vatermord eine Ent¬ wicklung annehmen muß, in welcher der Totemismus die älteste, das Opferwe¬ sen eine jüngere Stufe darstellt. Die Vorstellung einer Entwicklung - ganz im Sinne Darwins, nur von der Biologie übertragen auf Kultur - in Freuds Betrach¬ tung des Opferwesens unterscheidet ihn von den anderen Autoren, die hier bei¬ spielhaft zeitgenössische Opfertheorien der Jahrhundertwende vertreten, denn sowohl bei Nietzsche als auch bei Jung und Silberer und nicht zuletzt bei Hof¬ mannsthal selbst liegt das Hauptinteresse auf der mystischen Bedeutung des Op¬ fers im Rahmen der Individualpsychologie. Eine mystische Einheitserfahrung ist in jenem vierten Kapitel von Totem und Tabu jedoch ausgespart. Die nur für die 466 Auch hier war Reinach seine Quelle, s. Freud, Totem und Tabu, a.a.O., S. 436 f. 467 Freud bedauert in seiner verkürzten Wiedergabe der Ausführungen Robertson Smiths über die Bedeutung des Opferritus, der „Luzidität“ und „Beweiskraft der Darstellung im Ori¬ ginal“ nicht hinreichend gerecht werden zu können, a.a.O., S. 418. 468 Zit. n. Freud, ebd. 469 Ebd. 470 Freud, Totem und Tabu, a.a.O., S. 433. 471 Daß diese Symbolik des Weines noch bei Hofmannsthal eine entscheidende Rolle spielt, hat die Analyse des Gesprächs über Gedichte gezeigt.

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Dauer eines Augenblicks verwirklichte umo mystica einer Menschenseele mit dem Kosmos, dem „Ur-Einen“ oder dem Göttlichen, worauf es - wie oben erläu¬ tert - Hofmannsthal und Nietzsche ankam, interessierte Freud weniger als die Beweiskraft der Opferriten für seine Kulturtheorie. 3. Der mythisch-psychologische Opferbegriff C.G. Jungs Carl Gustav Jungs Buch Wandlungen und Symbole der Libido. Beiträge zur Ent¬ wicklungsgeschichte des Menschen aus dem Jahr 1912 gilt als das Werk, mit dem der Schweizer Psychologe sich von seinem Lehrer Sigmund Freud lossagte.472 Anders als Freud versteht Jung den Begriff „Libido“ nicht vorwiegend sexuell, sondern als „psychische Energie“ des Menschen schlechthin, weshalb Jungs ,Li¬ bido' dem Schopenhauerschen Begriff ,Wille' nicht unverwandt ist.473 Jung be¬ trachtet psychische Phänomene474 zugleich individualpsychologisch und histo¬ risch-mythologisch, was aus der Einsicht, daß jedes Seelenleben mythische Wurzeln in sich trage, resultiert: „Die Seele ist nicht von heute!“475. So ist sein Buch für Hofmannsthal „interessant durch das viele Zusammengetragene aus der Religionsgeschichte und ältere [n] Dichtung“476. Das letzte Kapitel des zweiten Teiles widmet Jung dem Thema Opfer, aller¬ dings nicht wie Freud in Totem und Tabu vorwiegend im Hinblick auf die völ¬ kerpsychologische Funktion von Opferriten in der Entwicklung von Kultur. Jung versteht den Begriff ,Opfer' zunächst individualpsychologisch als „das Aufgeben der Mutter“477, als Überwindung des in der „Introversion“ gesuchten

472 Rückblickend erschien Jung der begriffliche Rahmen Freuds „unerträglich eng“. Eine seiner Hauptabsichten sei es gewesen, „die medizinische Psychologie von dem damals vorherr¬ schenden subjektiven und personalistischen Charakter ihrer Anschauungsweise wenigstens soweit zu befreien, daß es möglich wurde, das Unbewußte als eine objektive und kollektive Psyche zu verstehen.“ So sei „dieses Buch ein Markstein [geworden], gesetzt an die Stelle, wo sich zwei Wege trennten“; vgl. Jungs Vorrede zur vierten Auflage aus dem Jahr 1950, abge¬ druckt in der im Deutschen Taschenbuch Verlag wieder zugänglich gemachten Erstausgabe (München 1991), aus welcher im folgenden zitiert wird. 473 Jung, Wandlungen, a.a.O., S. 139. Im zweiten Teil seines Buches, im Kapitel über das Opfer, gelangt Jung allerdings zu der Auffassung, die Libido sei nicht etwa nur „ein unaufhalt¬ sames Vorwärtsstreben, ein endloses Leben und Aufbauen wollen, als welches Schopenhauer seinen Weltwillen formuliert hat, wobei der Tod und jegliches Ende eine von außen herantre¬ tende Tücke und Fatalität ist; sondern die Libido will, dem Sonnengleichnis entsprechend, auch den Untergang ihrer Bildung.“ Die Libido stelle einen Gegensatz in sich selbst dar, „ein Vorwärtsstreben und ein Zurückstreben in einem“, a.a.O., S. 408. 474 Ausgangspunkt seiner Untersuchungen sind die Aufzeichnungen einer gewissen Miss Frank Miller (Pseudonym), „Phänomene vorübergehender Suggestion oder momentaner Au¬ tosuggestion“. Die Übersetzung des im Original französischen Textes hrsg. v. Theodore Flournoy, in: Archives de Psychologie 5, Genf 1906, S. 36-51, ist im Abhang der verwendeten Ausgabe wiedergegeben, a.a.O., S. 415-426. 475 Jung definiert den Mythos mit dem Wort eines Kirchenvaters „Quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditur est“. Motiviert sei sein Buch von dem Bedürfnis, sich über den eigenen vorbewußten Mythos Klarheit zu verschaffen, a.a.O., S. 9 f. 476 Hofmannsthal/Burckhardt, a.a.O., S. 279. 477Jung, Wandlungen, a.a.O., S. 293.

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Zieles der Vereinigung mit dem Mutter- oder Vater-Imago478, von dem der Mensch sich lossagen muß, um zu eigener Reife zu gelangen,479 um „wiedergebo¬ ren“ zu werden im Sinne einer Selbstschöpfung480. Die Sehnsucht nach der .Mut¬ ter1, welche die „Introversion“, den „Gang nach Innen“, auslöst, entspringe dem Wunsch nach der Wiederherstellung des .narzißtisch1481 befriedigten Zustandes im Mutterleib bzw. in der frühen Kindheit. Letzlich resultiere diese Sehnsucht aus der Trägheit des Menschen. „Das faule Träumen ist die Mutter der Todesangst, der sentimentalen Beklagung des Gewesenen und der vergeblichen Zurückstel¬ lung der Uhr“482. Der Introversionsvorgang berge Gefahren, weil er immer eine Flucht vor der .Weit1 bedeute483 und weil er, wird er nicht als vorübergehende Kraftquelle für die Wiedergeburt begriffen, in einen Zustand der Geisteskrank¬ heit führt. Die „Mutter“ sei auch die tötende, die „wahnsinnsspendende Mut¬ ter11.484 Während Fausts Gang zu den Müttern als gelungene Introversion zu ver¬ stehen sei, spiegele sich in der Dichtung Hölderlins die vernichtende Kraft der Introversion, die den Dichter im Wahnsinn enden läßt.48' Das individualpsychologische „Problem der Opferung infantiler Sehnsüch¬ te“ weitet sich für Jung in Anbetracht der uralten, mythischen Symbole der von ihm angeführten Introversionsbeispiele zu einem allgemeinen, die Menschheit insgesamt betreffenden Problem.486 Wie der einzelne durch das Opfer der Mut¬ terlibido sich selbst schafft, so entstehen Weltbilder aus „kosmischen Opfer[n]11, die in vielen Mythen durch das Motiv des zu tötenden Drachens, aus dessen Leichnam Himmel und Erde entstehen, dargestellt werden. Jung führt Beispiele aus dem altindischen Rigvedalied487 und der Lehre der Upanishaden488 an.

478 Zum Begriff ,Imago', den Jung dem Begriff .Komplex' vorziehi, weil darin eine größere Autonomie zu Ausdruck komme, siehe a.a.O., S. 59, Anm. 7. 479 „Durch das Opfer wird eine Fülle der Macht erlangt, die an die Macht der .Eltern' her¬ anreicht. So hat das Opfer auch die Bedeutung des psychologischen Reifungsprozesses.“ a.a.O., S. 395. 480 An eine solche Selbstschöpfung knüpft Jung die Definition des Helden: „Ein Held ist, wer sich durch seine Mutter wieder zu erzeugen vermag“, a.a.O., S. 308. 481 Auch wenn Jung diesen Freudschen Begriff nicht verwendet, ist er hier am Platze. 482 Hervorhebung im Original. „Wird der Libido ein vorwärtsstrebendes Leben, das alle Gefahr und alles Untergehen auch will, nicht ermöglicht, dann schlägt sie den anderen Weg ein und wühlt sich in die eigene Tiefe, hinuntergrabend zu der alten Ahnung der Unsterblichkeit alles Lebens, zur Sehnsucht nach der Wiedergeburt.“ Jung, Wandlungen, a.a.O., S. 371. 483 Die Trägheit als gefährlicher Motivationsgrund der Introversion erinnert an die acedia des Melancholikers, dessen Symptome insgesamt als der von Jung und Herbert Silberer (siehe unten) beschriebene Weg einer „gescheiterten Introversion“ aufgefaßt werden können. 484Jung, Wandlungen, a.a.O. S. 380. 485 Jung interpretiert neben einigen anderen Gedichten Hölderlins Patmos in diese Rich¬ tung, a.a.O., S. 371 ff., bes. S. 380 ff. 486Jung, Wandlungen, a.a.O., S. 388 f. 487Jung, Wandlungen, a.a.O., S. 389 ff. Die Opferung des Urwesens Purusha durch „Göt¬ ter“ und „Weise“ deutet Jung als „psychologische Kosmogonie“: „Die Welt entsteht, wenn der Mensch sie entdeckt. Er entdeckt sie, wenn er die Mutter opfert, das heißt wenn er sich aus den Nebeln seines Unterbewusstseins in der Mutter befreit hat.“ Im Hinblick auf Hofmannsthals Gespräch über Gedichte ist vielleicht erwähnenswert, daß gleich nach der Schöpfung der Tiere aus dem „mit Schmalz gemischte [n] Opferseim'' des verbrannten Opfertieres Purusha die Ent-

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Die Jungsche Psychologie dürfte Hofmannsthal in den Grundzügen be¬ kannt gewesen sein. Neben Jungs Psychologischer Typenlehre aus dem Jahr 1921 hat sich auch die Erstausgabe der 'Wandlungen und Symbole der Libido in Hof¬ mannsthals Bibliothek erhalten.48V In Anbetracht dessen verwundert zunächst die folgende, den Autor der Wandlungen betreffende Bemerkung Hofmannsthals in einem Brief an Carl Jakob Burckhardt vom 19. Dezember 1928: „Der ganze Mensch ist bedeutend - ist er denn ein Schweizer? Kennen Sie ihn?“490 Dieser späten Lektüre des gerade erst von Burckhardt ausgeliehen Werkes geht offenbar ein früheres Studium voraus, denn Hofmannsthal fällt „das Ausseer Gespräch gleich ein und ganze Ketten von Gesprächen aus verschiedenen Jahren [,..]“491. Im gleichen Brief, unmittelbar vor der Frage nach der Herkunft C.G. Jungs, be¬ urteilt Hofmannsthal die Wandlungen positiv: „Unter dem Buch von Jung hatte ich mir dem Titel nach etwas völlig ande¬ res vorgestellt - so eine Art von modernem Theophrast oder La Bruyere, die Charaktergemälde des Machtgierigen, des Ehrsüchtigen, des Geldgei¬ zigen u.s.f. - aber so wie es ist, ist es interessant durch das viele Zusam¬ mengetragene aus der Religionsgeschichte und älterer Dichtung; manche Zitate führen sehr weit, so hat mich neulich eines aus dem Augustin wirk¬ lich den Geisteszustand jener Welt wie unter einem Blitz ahnen lassen, vor allem die Bedeutung des Circus - und das Christentum als eigentlichen Gegenspieler des Circus. Auch die Rede, die Jung auf dem letzten Rohanschen Congress gehalten hat, ist interessant und zeigt Sinn für das Wesent¬ liche — auch Maß.“492

stehung der Dichtkunst folgt: „Aus ihm [Purusha] als ganz verbranntem Opfertier / Die Hymnen und Gesänge sind entstanden / Aus ihm auch die Prunklieder allesamt, / Und was an Opfersprüchen ist vorhanden ...“, a.a.O., S. 390. 488 Hier ist das Opfertier ein Pferd. Für Deussen, dessen Übersetzung Jung hier heran¬ zieht, bedeute das Rossopfer eine „Entsagung auf das Weltall“; Jung selbst erkennt in dem Pferd wiederum ein Symbol der Mutter-Libido: „Durch die Opferung des Rosses kann also nur wieder ein Introversionszustand erzeugt werden, der dem vor der Weltschöpfung gleicht.1 Jung, Wandlungen, a.a.O., S. 395 ff. 489 Hamburger, Bibliothek, a.a.O., S. 27. 490 Hofmannsthal/Burckhardt, a.a.O., S. 279. 491 Hofmannsthal/Burckhardt, a.a.O., S. 278. Über den konkreten Inhalt dieser Gespräche läßt sich freilich nur spekulieren; fest steht allerdings, daß Jungs Themen einige wichtige Fra¬ gen berühren, denen schon früher Hofmannsthals Interesse galt und die er mit anderen Ge¬ sprächspartnern bzw. in Auseinandersetzung mit deren Büchern erörtert hatte. So handelt Das Lied von der Motte, ein „hypnagogisches“ Gedicht der Miss Frank Miller, dessen reminiszenten literarischen Einflüssen Jung ein ganzes Kapitel widmet (a.a.O., S. 85-119), von den gleichen Bildern wie Goethes Divan-Gedicht Selige Sehnsucht, welches Florens Christian Rang in einem in Hofmannsthals Neuen Deutschen Beiträgen erschienenen Aufsatz deutete. Hierauf ebenso wie auf Herbert Silberers den Jungschen Thesen sehr nahestehendes Buch Die Probleme der Mystik wird im Verlauf der Arbeit ausführlicher eingegangen. Da Hofmannsthals Jung-Lektüre offensichtlich sehr spät erfolgte und die Wandlungen eher einen hohen Wiedererkennungswert denn einen Quellencharakter im engeren Sinne besitzen, werden die einschlägigen Aspekte der Opferthematik anhand der erwähnten Texte Rangs und Silberers erörtert. 192 Hofmannsthal/Burckhardt, a.a.O., S. 279.

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Mit dem „letzten Rohanschen Congress“ ist der „Internationale Kongress der Kulturverbände“ des Jahres 1928, eine Veranstaltung des von K. A. Rohan 1924 gegründeten .Kulturbundes1, gemeint.493 Über welches Thema Jung auf diesem Kongress

sprach,

ließ sich

nicht ausfindig machen.

Allein

Hofmannsthals

Kenntnis dieser Rede zeigt, daß ihm der Schweizer Psychologe nicht gänzlich unbekannt gewesen ist, wie man aus der erwähnten Frage zunächst schließen könnte. Die gleichsam im .mystischen Nu‘ gewonnene Erkenntnis über die „Bedeu¬ tung des Circus“ bezieht sich auf eine Stelle aus Augustins Bekenntnissen, an welcher der Kirchenvater ausführlich und mit dem ihm eigenen psychologischen Feinsinn von den Erlebnissen seines jungen Freundes Alypius berichtet.494 Die¬ ser sei zunächst durch die Weisheit seines Lehrers Augustins von der Leiden¬ schaft für die in Karthago üblichen, brutalen Zirkusspiele geheilt worden, erlag jedoch trotz guter Vorsätze erneut der Faszination der Gladiatorenkämpfe, als Kommilitonen ihn während seiner Studienzeit in Rom zu einem Besuch der Spiele überredeten. Augustinus

deutet den entscheidenden Moment

dieses

Rückfalls als Folge überschätzten Vertrauens in die eigene Standhaftigkeit: „Und seine Seele ward von schwererer Wunde getroffen als jener [Gladia¬ tor] am Körper, den er zu sehen begehrte, und er sank elender als jener, bei dessen Falle das Geschrei entstand, das durch seine Ohren eindrang und seine Augen aufschloß, so daß eine Blöße entstand, durch welche er ge¬ troffen und niedergeworfen werden konnte, im Gemüt mehr dreist als stark und umso schwächer, als er auf sich vertraute, nicht wie er gesollt, auf Dich.“495

Die spätantiken Zirkusspiele bildeten eine dekadente Ausartung agonistischer Darbietungen, die nicht nur in der griechischen Tragödie, in den Umzügen der Dionysos- und anderer Mysterienkulte, sondern in nahezu allen menschlichen Kulturen in Form von Initiationsriten an bestimmten Festtagen üblich gewesen seien. Nicht so sehr der Grad der Brutalität und Gewalt unterscheide die Gladia¬ torenkämpfe von den älteren Agonen, die ja bisweilen ebenfalls Menschenopfer kannten, sondern der Verlust der religiösen Rückbindung an eine Gottheit. Die Spiele, deren Faszination Alypius erlag, fanden jederzeit statt, sie seien nicht an den Ritus gebunden gewesen, dessen Sinn in der Kanalisierung der düsteren menschlichen Triebe liegen soll. Breche der metaphysische Überbau des Schau¬ spiels weg, erliege der Mensch hilflos seiner Sucht. Der Erfolg der neuen christli¬ chen Religion, die - wie Jung im Zusammenhang mit dem Augustinus-Zitat aus-

493 Bei der Wiener Tagung der Kulturverbände 1926 hielt Hofmannsthal als Vorsitzender die Begrüßungs- und Schlußrede, s. RA III 17-23. Zu Hofmannsthals Verhältnis zu Karl An¬ ton Rohan, siehe oben 1. Teil II.5. 494 Vgl. Jung, Wandlungen, a.a.O., S. 76 f. Das längere Zitat stammt aus dem 7. und 8. Ka¬ pitel des 6. Buches (nicht des 4. Buches, wie in der Jung-Ausgabe irrtümlich angegeben) der Bekenntnisse Augustins, siehe Aurelius Augustinus, Bekenntnisse, hrsg. v. Wilhelm Thimme, München 1986 (4. Aufl.), S. 146 ff. 495 Zitiert nach Jung, a.a.O., S. 77.

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führt — im Mithras-Kult eine bedeutende Konkurrenz hatte,496 verdanke sich wohl auch dem religiösen Vakuum der spätantiken Gesellschaft. Hofmannsthals Interesse an den verschiedenen kulturellen Opferriten als Kern der Tragödie oder des Schauspiels überhaupt nährt sich möglicherweise aus diesem Anspruch an die eigene Kunst: Welche dramatische Form kann im zwanzigsten Jahrhun¬ dert nach der ausgebliebenen kathartischen Wirkung des Krieges das entstandene geistige Vakuum füllen? Gründlich las Hofmannsthal die Wandlungen und Symbole der Libido C.G. Jungs offenbar erst in seinem letzten Lebensjahr. Vieles darin mag ihm vertraut vorgekommen sein,497 denn einige Schriften, mit denen Jung sich auseinanderge¬ setzt hat, kannte er gut. 4. Herbert Silberer, Probleme der Mystik und ihrer Symbolik Silberers Buch Probleme der Mystik ist eines der Werke, „das dem Dichter [Hofmannsthal] die Welt hermetischer Mystik erschloß“498. Es hat deutliche Spuren in Hofmannsthals Selbstdeutung Ad me ipsum hinterlassen; ein ausführli¬ ches Zitat Silberers liefert die ersten Indizien für Hofmannnsthals Opferbe¬ griff499. Hofmannsthal rekurriert in seiner Reflexion über den „mystischen Weg“ aus der Praeexistenz ins Leben auf Silberers Begriff der „Introversion“, den die¬ ser seinerseits von C.G. Jung übernommen hat. Silberer definiert „Introversion“ zunächst wie folgt: „Der Terminus ,Introversion“ rührt von C.G. Jung her. Er bedeutet das Versinken der eigenen Seele: das Zurückweichen des Interesses von der Außenwelt,

das Aufsuchen der Freuden, welche die Innenwelt bieten

kann.“500 Der Begriff sei von Jung im Rahmen der Neurosenpsychologie geprägt und deshalb ursprünglich als krankhafte Entwicklung verstanden worden, die nicht selten zur Dementia Praecox führe, zur Schizophrenie als dem Geisteszu¬ stand, in dem der Innenwelt, der Phantasie ein größerer Realitätswert beigemes¬ sen werde als der äußeren Wirklichkeit. Freud habe den Begriff mit einigen Ein¬ schränkungen von Jung übernommen.501 In der besagten Notitz aus Ad me ipsum (RA III 601) zitiert Hofmannsthal in Auszügen Silberers Formulierung des problematischen Kerns der „Introversi¬ on“. Um den Sinn seiner fragmentarischen Wiedergabe genau zu erfassen, müs-

496Vgl. a.a.O., S. 79 f. 497 In der Tat lesen sich einzelne Aspekte des Buches fast wie ein Kommentar zum Turm. 498 Richard Alewyn, Über Hugo von Hofmannsthal, a.a.O., S. 136. - Alewyn wertet die sich in Silberers Buch findenden Aufzeichnungen zu Andreas oder die Vereinigten aus. Probleme der Mystik gilt neben William James’ Varieties of Religious Experience und Morton Prince's Dissociation of a personality als die aufschlußreichste Quelle für das Romanfragment. 499 „Die Intro-version als Weg in die Existenz ...“ (RA III 601) 500 Silberer, Probleme der Mystik, a.a.O., S. 155. 501 So sehr Silberers Ausführungen auf den Erkenntnissen der Psychoanalyse beruhen, bil¬ ligt er ihr doch keinen endgültigen heuristischen Wert zu: „[...] wenn die Psychoanalyse auch begreiflich macht, daß wir Menschen von diesen und jenen .titanischen“ Urkräften getrieben, auf diese und jene Idee verfallen mußten; wenn also damit aufgeklärt wird, was uns die Idee finden ließ: so ist über den Erkenntniswert des Gefundenen noch nichts ausgemacht.“, a.a.O., S. 232.

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sen zunächst der Zusammenhang und zumindest kurz der Inhalt von Silberers Studie erläutert werden. Ausgangspunkt und Anlaß dieser Schrift ist eine Parabel aus dem Ende des 18. Jahrhunderts in Altona erschienenen Werk Geheime Figu¬ ren der Rosenkreuzer aus dem 16ten und Uten Jahrhundert5”2, in welcher die phantastischen Abenteuer und Erlebnisse eines „Wanderers“, wie Silberer den Helden nennt,503 berichtet werden. Der Untertitel der einem Traum gleichenden Parabola verrät, daß es sich um eine rosenkreuzerische Anweisung zur Auffin¬ dung des hermetischen Steins der Weisen handelt.3"4 Silberer legt im ersten, .ana¬ lytischen1 Teil seines Buches die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten vor: Der psychoanalytischen Interpretation der Parabola folgt die Auslegung der Symbole nach alchemistischen, hermetischen, rosenkreuzerischen und maurerischen Ge¬ sichtspunkten. Silberers Darstellung der Geschichte der Rosenkreuzer und Freimaurer sowie deren Verhältnis zueinander bietet eine durch Klarheit und umfangreiche Quellenkenntnis überzeugende Zusammenfassung des Geheim¬ bundwesens im 18. Jahrhundert.505 Der erste Teil des Buches schließt mit einem Kapitel über das „Problem der mehrfachen Deutung“, welches nach Silberers Auffassung darin besteht, daß die Ergebnisse der psychoanalytischen Deutung denen der „anagogischen“ Deutungsmöglichkeiten - der Auslegung des Textes nach der hermetischen Symbolik der Rosenkreuzer und Freimaurer5"1’ - diame¬ tral entgegengesetzt sind: Nach den Regeln der Psychoanalyse stehen die Sym¬ bole der Parabel für den inzestuösen Wunsch des „Wanderers“ nach der sexuel¬ len Vereinigung mit der Mutter, um sich selbst neu zu zeugen, während dieselben Symbole, als hermetische verstanden, den Helden Prüfungen bestehen lassen, die ihn in den Besitz des Steins bringen, d.h. die ihm sein wahres Menschsein offenbaren. Anagogisch gedeutet handelt die Parabola von einer In¬ itiation. Im zweiten, .synthetischen' Teil versucht Silberer, das Problem der mehrfa¬ chen, widersprüchlichen Deutungen mit Hilfe der aus der Psychoanalyse über¬ nommenen Unterscheidung von „materialer“ und „funktionaler“ Symbolik zu lösen:507 Materiale Symbole richteten sich auf „Gedankeninhalte“ der Traumbil¬ der, und da diese meist Wunschvorstellungen seien, stünden die Symbole dieser Kategorie oft für „vorgestellte Befriedigungserlebnisse“. Der funktionalen Kate-

502 Die Quelle gibt Silberer erst im Anschluß an die vollständige Wiedergabe der Parabola an, um eine unvoreingenommene Lektüre zu ermöglichen, s. Silberer, Probleme, a.a.O., S. 7-18. 503 A.a.O., S. 20. 504 „Ein güldener Tractat vom Philosophischen Steine. Von einem Lebenden, doch unge¬ nanten Philosopho, den Filiis doctrinae zur Lehre, den Fratibus aurea crucis aber zur Nachrichtung beschrieben. Anno M.D.C.XXV.“, a.a.O., S. 18. 505 Sie läuft auf die Erkenntnis hinaus, daß bei den späten Rosenkreuzern sektiererische Varianten und Scharlatanerie häufiger auftraten als in den Freimaurerlogen dieser Zeit. 506 Als

neutrale

Deutung steht

die

„alchemistische“

oder „naturwissenschaftliche“

Interpretation zwischen der psychoanalytischen und der anagogischen; sie nimmt die Symbole als chemische Anweisungen zur Herstellung von Gold (vgl. Kapitel „Alchemie“ S. 73 ff.) und interessiert Silberer hier weniger, da sie indifferent ist und damit nicht das Problem der Wider¬ sprüchlichkeit berührt, s. a.a.O., S. 138 f. 507 A.a.O., S. 149 ff.

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gorie indes gehörten Symbole an, die etwas über den Zustand, die Struktur oder die Leistungsfähigkeit des Traumbewußtseins verraten. Silberer veranschaulicht diese Differenzierung anhand von zwei Beispielen seiner persönlichen Erfah¬ rung. Als er einmal schlaftrunken über für alle Menschen („transsubjektiv“) gül¬ tige „Urteile“ nachdachte, habe ihm von einem schwebenden Kreis geträumt, in den die Köpfe von Menschen hereinragen. Dieses Symbol gehöre der materialen Kategorie an. Ein andermal geriet er mit zunehmender Müdigkeit auf „gedankli¬ che Nebenwege“, die ihn vom Gegenstand seiner Reflexion ablenkten und ihn schließlich von einer Berglandschaft träumen ließen, in der er sich verirrte - dies sei ein Beispiel für funktionale Traumsymbolik. Freilich ließen sich die Symbole in den wenigsten Fällen eindeutig einer der beiden Kategorien zuordnen. Viel¬ mehr bestünde zwischen ihnen - wie die jüngsten Ergebnisse der Traumfor¬ schung gezeigt hätten - meist ein wesentlicher Zusammenhang: Im Verlauf einer über einen längeren Zeitraum praktizierten Traumanalyse würden aus anfangs unwesentlich scheinenden materialen Symbolen nicht selten „typische Figuren“, die etwas über eine seelische Strömung - wie Liebe, Haß, Leichtsinn, Grausam¬ keit o.ä. - des Träumenden verrieten. Dieser Weg von der materialen zur funk¬ tionalen Symbolik ist nach Silberer der einer „Verinnerlichung“508. Mit der Klä¬ rung dieses Zusammenhanges gelingt es ihm, die Gemeinsamkeiten der zunächst unvereinbar erscheinenden psychoanalytischen und anagogischen Deutung zu zeigen. Auf der Basis des oben erläuterten Jungschen Begriffes der „Introversi¬ on“ erklärt Silberer in diesem synthetischen Teil die innere Verwandtschaft von Träumen mit mystischen und religiösen Praktiken aller Kulturen sowie deren Märchen und Mythen, indem er die disparate Symbolik seiner Beispiele auf den Gedanken der Introversion und Wiedergeburt - die selbstständige Neuschöp¬ fung des Menschen durch die Vereinigung mit der „Mutter“ - zurückführt. Im folgenden sollen einige Beispiele Silberers besprochen werden, die der Erläute¬ rung von Hofmannsthals Opferbegriff dienen. Eine Introversion par excellence stellt Fausts Gang zu den Müttern dar.50 Silberer will am Beispiel dieser Szene die möglichen Gefahren der Introversion aufzeigen, Gefahren, die auch Hofmannsthal - wie der Kontext des SilbererZitats in Ad me ipsum verrät - beschäftigen. So verheißungsvoll das Reich der Mütter auch sein mag, Mephisto weiß, „die Gefahr ist groß , denn die „Mütter bedeuten auch den Tod. „Bleibt die Libido im Wunderreich der inneren Welt hängen, so ist der Mensch für die Oberwelt zum Schatten geworden [...]. Ge¬ lingt es aber der Libido sich wieder loszureißen und zur Oberwelt emporzudrin¬ gen, dann zeigt sich ein Wunder: diese Unterweltsfahrt war ein Jungbrunnen für sie gewesen und aus ihrem scheinbaren Tode erwacht neue Fruchbarkeit.“510 Der

508 A.a.O., S. 153 f. 509 Faust II, I. Akt Finstere Galerie, Silberer, Probleme, a.a.O., S. 152 u. 172. - Daß Faust „stampfend“ zu den Müttern gelangt, hat symbolische Bedeutung: Das „Treten“ im Mythos steht für Fruchtbarkeit, vgl. auch C.G. Jung, Wandlungen, a.a.O., S. 301. 510 Silberer führt unmittelbar anschließend den auch von Jung (im Jahrbuch für psychoana¬ lytische und psychologische Forschungen IV, S. 334 f.) erwähnten indischen Mythos von der Ge-

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Erfolg des Sichwiederlosreißens hänge allein von dem Neophythen ab; ihm wer¬ de die Entscheidung nicht abgenommen, was Silberer ausdrücklich betont: „Die Gefahr wird augenfällig, indem der Held zumeist einen scheinbar ganz kleinen Fehltritt tut und dann unerhörter Mühen bedarf, um diesen einzigen kleinen Fehler wieder gut zu machen. Noch ein Unrechter Schritt und alles wäre verloren gewesen“, lauten die letzten Worte jenes Abschnitts, den Hofmannnsthal sich notiert.511 Das selbstgenügsame Verharren des Helden in der Introversion einer¬ seits und die aus eigener Kraft bewerkstelligte Rückkehr zum Leben andererseits stellt für Silberer und mehr noch für Hofmannsthal eine entscheidende morali¬ sche Herausforderung an den geistigen Menschen dar. Von hier aus läßt sich auch die in Ad me ipsum wiederholt genannte Definition der Präexistenz als eines ,,glorreiche[n], aber gefährliche[n] Zustand[es]“ (RA III 599, 605) besser verste¬ hen. Eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Introversion spielt die Trägheit des Menschen. Wiederum beruft sich Silberer hier auf die Beobachtungen Jungs, der der Libido von vornherein zwei Strömungen, eine vorwärtstreibende und ei¬ ne rückwärtsgerichtete Kraft, beimißt.51' Letztere bedeutet die Sehnsucht nach den Bequemlichkeiten der frühen Kindheit in der Obhut der fürsorglichen Mut¬ ter. Der unbewußte Inzestwunsch sei nicht zuletzt von der Trägheit des Men¬ schen motiviert, die - wie schon La Rochefoucauld bemerkt habe - deshalb eine so gefährliche „Leidenschaft“ darstelle, weil sie - paradoxerweise - große Kraft und Gewalt besitze und allzu leicht unterschätzt werde.5,3 Die Introversion sei „ein prächtiger Zugang zum faulen Phantasieren in retrograder Richtung.“314 Silberers bildhafte Formulierung des trägen Ausharrens in der Introversion - „Man steigt da hinab, um die Waffen zu frischem Kampf zu schleifen, läßt sie aber lie¬ gen

erinnert an die acedia des Melancholikers.515 Silberer unterscheidet drei mögliche Folgen der Introversion, von denen

zwei gefährliche Lösungen der Verinnerlichung darstellen.516 Die richtig verstan¬ dene Mystik, welche den Menschen zur „Arbeit“ und „Sittlichkeit“ führt, sei das positive Ergebnis einer gelungenen Introversion. Dagegen hält er „Zauberei“ und „Schizophrenie“ für die negativen, gefährlichen Resultate der Introversion. Als aktiver Ausweg führe die Zauberei zum Verbrechen, während die passive Folge, die Schizophrenie, den zumindest geistigen Selbstmord nach sich ziehe. Die bei¬ den gefährlichen Folgen der Introversion bezeichnet Silberer mit Joseph Görres als „dämonische Mystik“.517

burt des Brahma aus Visnu, dem Verlust und der Wiedergewinnung der Veda, als weiteres Bei¬ spiel an, a.a.O., S. 172. 5I'RA III 601. 512 A.a.O., S. 174 f. und Silberers Anmerkung D im Anhang, a.a.O., S. 260. 513 Jung sieht diese „gefährlichen Leidenschaft“ hinter der Maske der Inzestsymbole, „von der uns die Inzestangst wegzutreiben hat, und die unter dem Bilde der .furchtbaren Mutter* vor allem zu überwinden ist“, zit. nach Silberer, Probleme, a.a.O., S. 175. 5U A.a.O., S. 174. 515 S. 3. Teil, Kapitel 1.3. 516 A.a.O., S. 177 ff. 517 Im Gegensatz zur „göttlichen Mystik“, a.a.O., S. 178.

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Die Eingebungen der ,göttlichen“ und der ,dämonischen“ Mystik seien für den Mysten nicht leicht voneinander zu unterscheiden; eben darin liege das Ge¬ fährliche der Introversion. Silberer zitiert ausführlich eine Introversionsanlei¬ tung der „Scala Perfectionis“ von Walter Hitton, einem „großen Meister des contemplativen Lebens“518, der ausdrücklich darauf hinweist, daß die Gefühle, die sich in der Verinnerlichung einstellen, von einem guten Engel, „aber auch auf betrügliche Weise von der Täuscherey eines bösen Engels, wenn er sich in einen Engel des Lichts verstellet, herrühren“ könnten.519 Nur wer beides erfahren habe, wisse, welches gut und welches böse sei. Auch die indischen Introversionsanleitungen des Yoga warnten vor den Gefahren der Verinnerlichung: „Siddhi“, was Silberer mit dem Hitton’schen Ausdruck „schlechte Nebendinge“ übersetzt, seien „phantasierte Erlebnisse [...], die zum Teil dem Wunsche nach Macht, zum Teil anderen Wünschen schmei¬ cheln.“520 Erotisches Erleben knüpfe sich allzu leicht an die Siddhi, welche gleichsam das anagogische Äquivalent zur „Auterotik“ darstellten. Die Gefahr liege nicht in den Siddhi an sich, sondern vielmehr in der Hingabe an ihren Ge¬ nuß.521 Die Folgen der Introversion zusammenfassend, stellt Silberer fest: „Die richtige Mystik ist gekennzeichnet durch eine Erweiterung, die falsche durch ei¬ ne Verengung der Persönlichkeit.“522 Der Begriff „Persönlichkeit“ wird, obwohl Silberer ihn sonst kaum verwendet, durch diesen hervorgehobenen Satz beson¬ ders betont. Auch wenn der Autor diese These unmittelbar danach mit „Erweite¬ rung bzw. Verengung des ,Interessenkreises“, der das sittlich bewertbare Verhal¬ ten bestimmt“, paraphrasiert, zielt die Verwendung des Wortes .Persönlichkeit“ auf den ethischen Kontext der Introversion. Die Mystik ziele nicht auf die „for¬ male Erfüllung des sittlichen Gesetzes ohne Liebe zu diesem Tun; sondern sie arbeitet an der Hervorbringung ebendieser Liebe“523. Alchemistisch formuliert gehe es um die Verwandlung der Materie in Gold und nicht um eine oberflächli¬ che Vergoldung derselben, „d.h. die gesamten Triebkräfte des Menschen [sollen sich] zum Guten orientieren, so daß er dieses Gute mit Lust und Liebe begehrt, also auch sein Glück in der Tugend findet“524. Damit seien - so Silberer - die wahren Alchemisten nicht allzuweit von der Kantschen Ethik entfernt. Diese Ausführungen erinnern an Hofmannsthals Begriff der „geläuterten Persönlichkeit“, den er - wie im ersten Teil dargelegt wurde - weitgehend aus Volkers Welteroberung, also von Erich Gutkind, dem Verfasser der Siderischen Geburt, übernommen hatte. Allein der Titel dieses verbreiteten Werkes läßt un¬ schwer den hermetisch-alchemistischen Hintergrund erkennen. Der Begriff der

518 A.a.O., S. 179. 519 Silberer zitiert Hitton nach einem Traktat aus dem Jahr 1721 von Beaumont, a.a.O., S. 179 f. 520 A.a.O., S. 182. 521 Spätestens durch seinen Schwiegersohn, den Heidelberger Indologen Heinrich Zim¬ mer, kam Hofmannsthal in Berührung mit der Lehre des Yoga. 522 Dieser Satz ist von Silberer hervorgehoben, a.a.O., S. 182. 523 Ebd. 524 Ebd.

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„geläuterten Persönlichkeit“ zeichnete sich durch die Erkenntnis eines inneren Gesetzes aus, dem der Mensch sich freiwillig unterstellt. Hofmannsthal versuch¬ te mit diesem Verständnis von Persönlichkeit Gesetz und Freiheit — so der Titel seiner zweiten skandinavischen Rede aus dem Jahr 1917 — zu versöhnen, Begrif¬ fe, die sich im Zuge der verschärft konkurrierenden Ideologien einander auszu¬ schließen schienen. Von der alchemistischen Ethik, die Silberer hier entwickelt und die Hofmannsthal etwa gleichzeitig rezipierte, sind die Thesen seiner späten Kriegsreden in der Tat nicht weit entfernt. Auch die Idee des Opfers steht bei Silberer im Kontext einer ethischen Fra¬ gestellung. Nach einem kurzen Streifzug durch die Geschichte der Ethik325, in dem sich Silberer - gegen Schopenhauers „veile non discitur“ - auf die Frage nach der Möglichkeit sittlicher Erziehung des Willens konzentriert, weist er dem Opfer eine wesentliche Funktion innerhalb des auf diese Entwicklung angelegten Introversionsvorganges526 zu. Wie so vieles im Bereich der Mystik läßt sich auch die Funktion des Opfers zunächst nur über die entsprechende Symbolik erklä¬ ren. In dem von Silberer wiederholt herangezogenen Beispiel der lekanomantischen Versuche einer jungen Frau namens Lea spielt die Beseitigung eines alten Mannes eine große Rolle. Der Mann ist der Vatertypus, Inbegriff von Leas frü¬ herer Gewissensform, die sie von den Eltern übernommen hat und die sie zugun¬ sten des Neuen überwinden, daß heißt opfern muß. Auch der in der Parabola wie in zahlreichen anderen Mythen - getötete Drache ist ein symbolisches Op¬ fer, ein Symbol für die Aufgabe und Überwindung alter Überzeugungen, damit der Weg frei wird für das neue Leben des Helden, für die neue Sittlichkeit des selbstbestimmten Menschen. Das Opfer im Sinne Silberers ist somit eine not¬ wendige Voraussetzung für ethisches Handeln. Geopfert werden muß, was sich als Widerstand der „Erweiterung der Persönlichkeit“ - d.h. der Erweiterung des „Interessenkreises“, der das sittlich bewertbare Verhalten bestimmt - entgegen¬ stellt. Der psychische Konflikt ist vorprogrammiert, denn nur zu gern klammert der Mensch sich an den „engherzigen Standpunkt“. Sonst wäre die sittliche Auf¬ gabe ein leichtes Unternehmen. Silberers Opferbegriff ist also ein ethischer Terminus. Als Ergebnis der Untersuchung dieses für Hofmannsthal so wichtigen Bu¬ ches von Herbert Silberer ist festzuhalten: ,Opfer1 bedeutet für Hofmannsthal nicht die Huldigung einer Gottheit - motiviert aus blinder Angst oder Ehrfurcht vor dieser, wie Adorno es unterstellt -, sondern geradezu das Gegenteil, nämlich die Überwindung der alten Gottheit zugunsten eines neuen Gottes. Die wieder¬ holte Überwindung, d.h. die Fähigkeit, sich immer wieder von liebgewonnenen und deshalb bequemen Überzeugungen zu lösen, um auf dem Weg zu immer größerer sittlicher Reife zu bleiben, ist der Gedanke, der hinter Hofmannsthals Opferbegriff steht.

525 Anhand von Friedrich Jodls, Geschichte der Ethik, 2 Bde., 2. Aufl., Stuttgart u. Berlin 1906, 1912, vgl. Silberer, a.a.O., S. 184 ff. 526 Die sittliche Schulung des Willens wird in der Introversion intensiviert vollzogen, a.a.O., S. 186.

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Silberer selbst kommt in seinem Buch auf die innere Verwandschaft von Mystik und Künstlerschaft zu sprechen. Da diese Vorstellung Hofmannsthals Verständnis vom Wesen des Künstlers nahezukommen scheint und außerdem geeignet ist, die Bedeutung des Buches für Hofmannsthal zusammenzufassen, sei er hier ausführlich wiedergegeben: „Es gibt noch andere als bloß religiös begeisterte Naturen, die zur Hervor¬ bringung von suggestiven Bilderreihen mit anagogischem Gehalt hervorra¬ gend begabt sind: die Künstler. Mir ahnt, es müßte sich zeigen lassen, daß die läuternde (karthatische) Wirkung eines Kunstwerkes um so größer sein wird, je kräftiger die anagogische Symbolik [...] darin ausgebildet ist, oder [...] je mehr sich darin die Tendenz zur Erweiterung der Persönlichkeit ausdrückt. Diese Tendenz, der die Motive von der Vernichtung des Ei¬ genwillens (Vaterfigur), von der mit Opfern verbundenen Liebe (Inzest¬ motiv, Wiedergeburt) von der Hingabe an das Ideal (Todessehnsucht) usw. angehören, manifestiert sich beim Künstler wie beim andächtigen Be¬ trachter des Kunstwerks schon in der Hingabe an dieses; das Aufgehen im Kunstwerk erscheint mir sowohl mit der Introversion als mit der Unio mystica verwandt.“

III. Hofmannsthal und Florens Christian Rangs Opferbegriff und Tragödi¬ entheorie 1. Karneval und Tragödie. Rangs Historische Psychologie des Karnevals Zu Hofmannsthals Zusammentreffen mit Florens Christian Rang im Jahr 1909 kam es anläßlich einer Vortragsreise des Privatgelehrten, die er mit seiner 1905 verfaßten, aber erst postum in der Zeitschrift Die Kreatur veröffentlichen Studie Historische Psychologie des Karnevals528 unternahm. Die Abhandlung beinhaltet eine Opfer- und Tragödientheorie, deren Kernaussage von jenem „Gedanken des Opfers“, über den sich die beiden Männer in dem besagten Gespräch unterhalten haben, nicht allzu weit entfernt sein dürfte. Der Vortrag handelt von den kulturellen Ursprüngen des Karnevals in der astrologischen Religion Mesopotamiens und den griechischen Dionysien.529 In der christlichen Fastnacht seien nur noch die verharmlosten Formen dieser Wur¬ zeln erkennbar. Der „Urwesenszug des Karnevals“530 sei ein gräßliches Hohnge¬ lächter, welches noch heute gemildert im Spott der Narren fortlebe. Rang belegt

527 Silberer, Probleme der Mystik, a.a.O., S. 235. 528 In: Die Kreatcr 2 (1927/28), S. 311-343. Der Vortrag wurde ferner 1983 von Lorenz Jäger, mit einem Nachwort versehen, herausgegeben. Diese in einem Berliner Verlag erschiene¬ ne Ausgabe ist leider vergriffen. Die Angabe bei Steiner lautet: F.C. Rang, Historische Psycholo¬ gie des Karnevals, hrsg. v. Lorenz Jäger, o.O. (Berlin) 1983, Nachwort: Über F.C. Rang, S. 59-

68. 529 Zu Rangs Karneval-Aufsatz vgl. auch Lorenz Jäger, Messiamsche Kritik, Studien zu Le¬ ben und Werk von Florens Christian Rang, Europäische Kulturstudien Bd. 8, Köln, Weimar, Wien 1998, S. 79 ff. bes. S. 82. 530 Rang, Karneval, a.a.O., S. 312

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seine These philologisch mit der Herleitung des Wortes ,Maskerade' aus dem arabischen ,mascara‘, welches sowohl ,verkleidete Person1 als auch .Verspottung' bedeute.531 Das Hohngelächter habe einst einem Gott gegolten, weshalb Rang den Karneval als Teil der Religions- und Geistesgeschichte des Menschen ver¬ steht. Die Frage, wie der Mensch dieses Hohngelächter gelernt habe, führt ihn zur Wiege der abendländischen Kultur, nach Mesopotamien, wo die ersten kulti¬ schen Rollentauschfeste stattfanden.332 Die babylonische Kultur habe die Astrologie hervorgebracht, durch welche der ,Logos1, die Vernunft, in die Welt gelangte. Mit dem Dogma: „Was die Ster¬ ne befehlen hat auf der Welt zu geschehen“533 seien Gesetzmäßigkeit und Ord¬ nung erreicht worden; ein hochentwickelter Kalender, der außer dem Lauf des Mondes auch den der Sonne und der Gestirne berücksichtigte, regelte das kulti¬ sche Leben. Diesem Kalender zufolge stehe ein Jahr jeweils unter der Herrschaft eines bestimmten Gestirns, wobei sich der Jahreswechsel nicht „über Nacht“ vollziehe, sondern einen längeren Zeitraum umfasse, die Schaltzeit, in der das al¬ te Herrschergestirn den Zenit des Himmels bereits verlassen und das neue die¬ sen Platz am Himmel noch nicht erreicht habe. Der Karneval sei die Schaltzeit, „eine Pause, das Interregnum zwischen einer Thron-Entsagung und ThronBesteigung [...] eine Prozession, ein Umzug: das Abbild eines himmlischen Prozesses [...]“534. Mit der ungewöhnlichen Herleitung des Wortes .Karneval1, nicht wie üblich aus ,carne vale!1, .Fleisch leb’ wohl!1, sondern aus ,car naval1, dem Schiffswagen, in welchem das neue Gestirn dem babylonischen Weltbild entsprechend „aus den Wässern des Unterreiches [...] zum oberen Firmament zur Veste des Tierkreises, des Himmels-Festlandes11333 gefahren werde, liefert Rang ein Argument, welches den astrologischen Ursprung des Karnevals belegen soll. Der Schiffswagen sei noch in den mittelalterlichen Umzügen als Narren¬ schiff vorhanden. Auch den „schwebenden Kahn der Mondsichel mit einem Stern drin“, der auf orientalischen Fahnen abgebildet ist, deutet Rang als Symbol dieses Wagens.536

531 A.a.O., S. 315. 532 A.a.O., S. 312-314 u. 343. 533 A.a.O., S. 316. 534 A.a.O., S. 317. 535 A.a.O., S. 317. Diese Herleitung übernahm Walter Benjamin später in seiner 1935 un¬ ter dem Pseudonym Detlev Holz veröffentlichte Erzählung Gespräch über dem Corsa. Nachklänge vom Nizzaer Karneval (GS IV,2, 763-771). Auch die Zusammenstellung der Worte ,Corso‘, .Prozession' und .Karneval' zeigt die Nähe zu Rangs Aufsatz. Rang deutet den Umzug als irdische Nachahmung des Sternenlaufes, Benjamin hingegen spielt auf diese Herleitung le¬ diglich an, indem er vorn „nächtlichen Himmel“ als dem Festsaal des Umzuges spricht, s. Lo¬ renz Jäger, Messianische Kritik, a.a.O, S. 79-84. - Jäger verfolgt in seinem Kapitel „Karneval und Märchen“ die Spuren des Karneval-Aufsatzes der erwähnten Erzählung Benjamins in des¬ sen „Programm eines proletarischen Kindertheaters“ sowie im Trauerspielbuch, a.a.O., S. 7993. 536 Rang, Karneval, a.a.O., S. 317. Eine Mondsichel befindet sich auch auf der Fahne der Tartaren in der ersten 7Vrw-Fassung, siehe D III 372, natürlich ist der Halbmond auch das Zeichen des Islam.

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Die Schaltzeit, die Zeit der Gesetzlosigkeit, in der die „Ur-Zeit“ auflebe und die Vernunft wegfalle, habe bei den Babyloniern Angst ausgelöst. Die beklem¬ mende Angst sei in Ausgelassenheit umgeschlagen, „wenn endlich, endlich, das glückhafte Schiff aus der nächtigen Tiefe auf das Feste hochkommt!“537 Für die Zeitspanne, in der keine geistliche Autorität gilt, habe man einen Interrex ge¬ wählt, den Prinzen Karneval, den „ältesten Präsidenten auf Zeit“, der die Trun¬ kenheit als Mittel gegen die Angst empfohlen habe.538 Auch der Gott Dionysos ist nach Rang ein solcher Prinz Karneval.539 „Die Dionysos-Orgien der orphischen Religion auferwecken in Schaltzeiten das aus¬ geschaltete Chaos.“340 Sie stellten gleichsam eine spätere Entwicklungsstufe in der Geschichte der Karnevalsumzüge dar, denn in ihnen zeige sich, daß dem Menschen vor der Angst der Schaltzeit nicht bang war, sondern er sich geradezu nach ihr sehnte. Der „Wille zum Rausch“541 offenbarte sich in den zyklisch wie¬ derkehrenden Dionysien, in denen rasende Mänaden auf bestialische Weise Men¬ schenopfer dargebracht und den Dionysos in Gestalt eines Stieres zerfleischt hätten. Nietzsches Deutung des Dionysos Zagreus in der Geburt der Tragödie war hierbei sicher nicht ohne Einfluß.542 Rang glaubt, daß die Erfahrung des Rausches der weiblichen Mänaden543 von den Männern in Trinkgelagen und durch die Jagd sublimiert worden sei: Die Männer hätten den „Knecht-Gehorsam gegen die Himmelschickung“ in einer „erlösenden Tat“ überwunden. Als Beispiel für eine solche erlösende Tat deutet Rang die Schlacht von Salamis. Diese Schlacht, in welcher die Griechen die Per¬ ser besiegten und ihre Seeherrschaft festigten, fand in der Schaltzeit statt und ist nach Meinung des Verfassers in jenem dionysischen Geist gewonnen worden, der die Menschlichkeit mit Füßen tritt: Es sollen drei lebendige Gefangene vor dem Kampf als Menschenopfer dargebracht worden sein544. Die Schlacht von Salamis deutet Rang symbolisch. Er erkennt in ihr quasi die erste Tragödie. Diese „Theater-Schlacht“ dient ihm als historisches Zeugnis für den Mut der Griechen, „Komödie zu spielen, wenn die Götter im Stich ließen

537 A.a.O., S. 319 f. 538 Ebd. 539 A.a.O., S. 328. 540 A.a.O., S. 321. 541 „Der Karneval ist, in summa, ein ,revolutionäre[r] Festrausch1.“ Diese Theorie des Rausches sollte laut Lorenz Jäger nicht mit den zeitgenössischen „Rauschtheorien“ der Kosmiker Schüler und Klages verwechselt werden; sie unterschieden sich durch die „geschichtliche Ladung“ voneinander, s. Jäger, Messianische Kritik, a.a.O., S. 85. 542 Nietzsche, Werke I, a.a.O., S. 61. „Seit Nietzsches großer Wille ,das Dionysische“ sich zur Losung gewählt, berauschen die Gerngroßen sich gern an einem Schlager, dem für sie keine Sach-Kraft von Erkenntnis inwohnt. Um den Weltsturm des antiken Karnevals zu verstehn, müssen wir freilich sein Wehen an der Seele verspüren.“ Rang zieht es vor, zunächst „die Tatsa¬ chen [zu] studieren“, a.a.O., S. 321. Neben Nietzsche sind für die Beschreibung der dionysi¬ schen Feste Herodot, Euripides, Plutarch u.a.m. Rangs Quellen. 543 Vgl. Johann lacob Bachofen, Das Mutterrecht. Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, Eine Auswahl hrsg. v. Hans-Jürgen Heinrichs, Frankfurt am Main 1975, S. 37. 544 Rang, Karneval, a.a.O., S. 323 f.

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[...], die Komödie als Tragödie zu spielen.“545 In der Tragödie werde der diony¬ sisch-karnevalistische Geist inszeniert, der ausbreche, wenn die vernünftige Ordnung ausgeschaltet ist. Im attischen Theater walte er nun unabhängig von der Schaltzeit des Kalenders, dem die Asiaten noch fatalistisch Folge geleistet hätten. „Durch das Kalenderloch der Unordnung brach der Triumphzug des Dramas der Außerordentlichkeit“.546 Rang vertritt den Anspruch, mit seinem Aufsatz über den Karneval Geistes¬ geschichte zu betreiben. Geist habe weniger mit Vernunft und Ordnung zu tun, sondern meine vielmehr die pathetische Befreiung aus der Gesetzmäßigkeit. „Geist bedeutet nicht Evolution, sondern Passion der Seele, Passion bis zur Re¬ volution“.547 Wesentliche Aspekte von Rangs Herleitung der Tragödie aus den karnevali¬ stisch-dionysischen Kultfesten der Antike sind in den zwanziger Jahren von Walter Benjamin in seiner Habilitationsschrift über den Ursprung des deutschen Trauerspiels aufgegriffen worden. Auf den äußerst fruchtbaren Dialog der beiden Freunde, den Lorenz Jäger und Uwe Steiner in ihren Dissertationen nachge¬ zeichnet und dokumentiert haben, und insbesondere auf dessen Bedeutung für Hofmannsthals Ansprüche an die Gattung des Trauerspiels wird noch zurück¬ zukommen sein. Zunächst stellt sich die Frage, welchen Opferbegriff man Rangs Karneval-Aufsatz entnehmen kann. Seine Darstellung der Rituale des DionysosKultes548 ist hier aufschlußreich. Rangs Blick auf das dionysische Phänomen wird vorerst von der Forderung nach Differenzierung bestimmt. Mythologie und Religionsgeschichte hätten es versäumt, den dionysischen Rausch, die bacchantische Raserei, „gegen zufällig Ähnliches“ wesentlich abzugrenzen.54‘; Dionysos, der periodisch gefeierte „TobeGott“, sei vom tändelnden „Gott der Rebgärten“ zu unterscheiden: Nicht jeder Weinrausch, nicht jede Orgie, die vielleicht im Namen des Gottes gefeiert wur¬ de, sei seiner auch würdig, was schon die Alten zu unterscheiden wußten. Der im Rausch vollbrachte Selbstmord des trunksüchtigen Kleomenes von Sparta etwa sei von Herodot als Strafe des Schicksals, nicht aber als „göttliche Tat“ verstan¬ den worden.550 Auch rühre die Begeisterung der Mänaden nicht notwendig aus dem Genuß von Alkohol. Selbst die herkömmliche Verbindung des bacchanti¬ schen Rausches mit dem phallischen Kult stehe nicht im Widerspruch zu einer gewissen Enthaltsamkeit der Mänaden, was Rang mit einer Stelle aus Euripides’ Bacchen belegt.551 Dennoch - und darauf scheint es dem Verfasser anzukommen - nehme „dieser sozusagen besonnene Wahnsinn“ bestialische Formen an, wel-

545 A.a.O., S. 325. 546 A.a.O., S. 324. 547 A.a.O., S. 333. - Diese Überzeugung kennzeichnet Rang als einen „konservativen Re¬ volutionär avant la lettre“, vgl. Holste, a.a.O., S. 242. 548 Rang, Karneval, a.a.O., S. 321-324. 549 A.a.O., S. 321. 550 A.a.O., S. 322. 551 Dort heißt es: „Zwar zwingt Dionysos die Frauen nicht, gegen die Lockung der Kypris sich schamhaft zu halten; aber in ihrer Natur liegt es, allezeit und in allen Dingen schamhaft sein zu können“, a.a.O., S. 322.

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che „aller Menschlichkeit bewußt ins Gesicht“552 schlagen. Rang führt eine ganze Palette von Grausamkeiten an, welche die als Hirschkühe verkleideten Mänaden und Dionysos-Priester in ihrem Wahn vollbringen — angefangen von den ver¬ gleichsweise harmlosen Selbstgeißelungen der Schwärmenden bis hin zum Zer¬ reißen lebendiger Menschenopfer, meist der eigenen Kinder. Keine Kultur der Erde könne bei Opferriten Schlimmeres aufweisen. Für Rang sind bereits die harmloseren Formen dieses Wahnsinns, die rauschhaften Tänze etwa, ein Rück¬ fall in eine „schamanische Unterstufe von Religion“553. Den Durchbruch des Chaos in den sich durch bestialische Opferriten auszeichnenden DionysosUmzügen beurteilt Rang insgesamt als kulturellen Rückfall in Unmenschlich¬ keit. Angesichts dieser Bewertung muß erstaunen, daß Rang dem Gedanken des Opfers überhaupt eine affirmative Bedeutung hatte beimessen können, wie es die Bemerkung im Gespräch mit Hofmannsthal - „im Gedanken des Opfers werden wir uns vielleicht treffen“ - suggeriert. Die Lösung dieses Widerspruchs ergibt sich aus dem weiteren Verlauf des Vortrages. Die von Rang dargelegte Entwicklung vom karnevalistischen Hohn¬ gelächter Babyloniens über die dionysischen Kultfeste Griechenlands bis zur at¬ tischen Tragödie, deren frühestes Beispiel, Die Perser von Aischylos, von der Schlacht bei Salamis handelt, vollziehe sich dynamisch in „Überschlägen“: „Im tragischen Bockspiel überwindet der Karneval sich selbst; der Rausch, der das freie Wort an sich gerissen, der seine Tollheit in das Hohngelächter und Hohnwort überschlagen, überschlägt dies noch weiter in das erlösende Wort, das den Weg bahnt zu der Tat, die den Hohn und Götter-Sturz und Götter-Mord aus dem Weh kehrt durch Erschaffung eines neuen Gotts, des Glaubens an eine neue Art Gott: den Gott-Menschen.“554

Die Leistung der antiken Tragödie besteht nach Rang in der Prophetie eines neuen Gottes, der die erstarrten alten Ordnungen aufzubrechen vermag. Die Er¬ füllung dieser tragischen Prophetie in der Wirklichkeit, den durchaus nietzscheanisch anmutenden „Gott-Menschen“, von dem hier die Rede ist, erkennt er schließlich in der Figur Alexanders des Großen.555 In Aischylos5 Die Perser ver¬ halte sich Dichtung zur Wirklichkeit nicht „wie verklärender Nachklang zu voll¬ brachter Tat [der gewonnenen Schlacht von Salamis], sondern wie Erfüllung der Tat im Bekenntnis zu ihrer Wurzel“556 - der karnevalistisch-dionysischen näm-

552 Ebd. 553 Ebd. 554 A.a.O., S. 336. Lorenz Jäger spricht von „Stufen“; die attische Tragödie bilde die dritte Stufe, Jäger, Messianische Kritik, a.a.O., S. 85 f. 555 Jäger, Messianische Kritik, a.a.O., S. 86 . In Rangs Alexander erkennt Jäger Nietzsches Übermenschen. Nietzsche insgesamt sei neben Goethes Römischen Karneval und Frazers The golden bough als Rangs Inspirationsquelle anzusehen. In Frazers Buch werde „die Bedeutung der Inkongruenz von Sonnen- und Mondjahr für das antike Festwesen dargestellt“. Leider gibt Jäger, der diese wichtigen „Inspirationsquellen“ Rangs nur „am Rande bemerkt“, keine genaue Stellenangabe an. Rang stünde „auch generationsmäßig“ zwischen Nietzsche und Benjamin, in dessen messianisches Geschichtsdenken Rangs Theorien z.T. eingegangen seien, a.a.O., S. 87. 556 Rang, Karneval, a.a.O., S. 326.

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lieh, deren Wesen sich durch bestialische Grausamkeiten, Menschenopfer und Kannibalismus inbegriffen, auszeichnet. Die Tragödie versteht Rang also als ein Bekenntnis des Menschen zu seiner potentiellen Unmenschlichkeit. Damit läßt sich sein Aufsatz mühelos in die Tradition jener Geisteshaltung einreihen, die eher indirekt als politisch aktiv nicht wenig zur allgemeinen Opferbereitschaft und der daraus resultierenden Kriegsbegeisterung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts beigetragen hat. Allerdings erfaßt diese Deutung des KarnevalAufsatzes Rangs eigentliche Intention nicht vollständig; sein Gehalt darf nicht auf die von Nietzsche geprägte Seite reduziert werden. Mit den Thesen des Essays liegt im Kern vor, was später Florens Christian Rangs und Walter Benjamins gemeinsames Interesse wird und was sie dann unter den Begriff „messianische Kritik“ fassen. Lorenz Jäger ist den Spuren des Auf¬ satzes in Benjamins Werk nachgegangen557 und kommt im Rahmen der Untersu¬ chung von Benjamins Gespräch über dem Corso. Nachklänge vom Nizzaer Karne¬ val558 aus dem Jahr 1935 auf einen frühen, nie ausgeführten Plan Benjamins zu sprechen: Ursprünglich wollte dieser sich nämlich mit einem Buch über die Gat¬ tung des Märchens habilitieren. Das überlieferte Material zu diesem Plan, beson¬ ders ein aufschlußreicher Brief an Theodor W. und Gretel Adorno, zeige, daß es Benjamin um die Befreiung vom .Mythos* geht, wobei der Begriff .Mythos* bei ihm .mythische*, zwanghafte Denkformen und -Ordnungen meint, sozusagen das Gegenteil von .Geist*; Geistesgeschichte bedeute die fortschreitende Befreiung des menschlichen Geistes von erstarrten, autoritativen und irrationalen Mächten. Märchen dokumentierten - wie auch der Karneval - die Befreiung des Menschen aus mythischen Verhältnissen. Im Karneval geschehe dies durch den Rausch, im Märchen durch List. Als Beispiel deutet Benjamin in dem Brief an Adorno und seine Frau das Märchen vom jungen Riesen, der eine verzauberte Mühle betritt und als erster überlebt: Indem er sie .erlöst*, befreie er die Welt von den mythi¬ schen Mächten. Die ,Mühle* sei ein altes Symbol für die Unterwelt.5'4 Das Symbol der Mühle kommt auch in Silberers Parabola vor.500 Wie in Benjamins Märchen wird die Mühle überwunden, und zwar, indem es dem Wan¬ derer trotz verschiedener Hindernisse561 gelingt, trockenen Fußes auf dem

557Jäger, Messianische Kritik, a.a.O., S. 87 ff. 558 Benjamin, Gesammelte Schriften, IV, 2, hrsg. v. Tilman Rexroth, Frankfurt am Main 1972, S. 763-771. Das fiktive Gespräch deutet Jäger als eine Art Erinnerungsschrift an Rang, a.a.O., S. 92. In der Tat tauchen dort einige Thesen des Karneval-Essays auf wie etwa diejenige, daß der Karneval ein „Ausnahmezustand“ sei (diesen Terminus übernimmt Benjamin allerdings von Carl Schmitt) oder daß das Wort sich aus ,car naval“, dem römischen Schiffswagen herleite. Im Gespräch über dem Korso ist auch - wie Jäger überzeugend dargestellt hat - von Benjamins frühen, uneingelösten Plänen die Rede, die aus der Zeit stammen, in welcher er intensiv den Gedankenaustausch mit dem älteren Freund pflegte, vgl. Jäger, Messianische Kritik, a.a.O., S. 79 ff. 559 Benjamin, Briefe, a.a.O., S. 369. 560 Silberer, Probleme der Mystik, a.a.O., S. 11 f. 561 Der Müller zum Beispiel, der ihm die Auskunft über die zehn Mühlenräder verweigert, ist für Silberer der Vater, der dem Sohn die Aufklärung über den Zeugungsakt vorenthält, a.a.O., S. 68.

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schmalen Schützensteg über das schwarze, die Mühlenräder antreibende Wasser auf seinen Weg zurückzugelangen. Die Funktion des Symbols jedoch ist hier ei¬ ne andere. Nach der psychoanalytischen Deutung steht die Mühle für den Mut¬ terleib, in den der Wanderer zurückkehren will, um sich selbst noch einmal und besser zu zeugen. niert ist

Wie das Wasser der Mühle symbolisch „mehrfach determi¬

, so sei dies auch die Mühle selbst in ihren beiden wichtigsten Bedeu¬

tungen von .Mutterleib' und .Unterwelt'. Die Überwindung der Mühle bringt den Wanderer seiner Wiedergeburt näher; sie bedeutet eine von mehreren be¬ standenen Proben innerhalb seiner Initiation oder Introversion. Während Ben¬ jamin auf die Befreiung der Welt und des Menschen vom Mythos zielt und damit auf dessen Entlarvung und Entmachtung, strebt Silberer die Bereicherung des einzelnen Menschen durch die Überwindung mythischer Mächte an- vorausge¬ setzt, die Introversion gelingt im Sinne der göttlichen Mystik. Es geht auch Sil¬ berer um die Befreiung des Menschen, um die Befreiung von alten Gewissens¬ formen nämlich, aber anders als Benjamin bedeutet ihm der Mythos nicht die Herrschaft irrationaler Mächte und damit die Ursache der Unfreiheit des menschlichen Geistes schlechthin, sondern eine Macht, mit der der Mensch gleichsam rechnen und umgehen lernen muß. Gemeinsam ist Silberer und Ben¬ jamin letztlich der Gedanke der Überwindung. Von hier aus läßt sich der im Kern von allen dreien - Silberer, Benjamin und Rang - ähnlich verstandene Be¬ griff des Opfers erklären: Im Extrem des Opfers tritt die dynamische, erneuern¬ de, anarchische Kraft des Geistes zutage. Der Sinn des Opfers besteht darin, daß in ihm der Mensch oder der Geist eine alte, erstarrte Macht - den ,Vater', eine herrschende Ordnung oder Gottheit überwindet - um sich selbst neu zu zeugen, Platz für eine neue Ordnung, einen neuen Gott zu schaffen, um sich oder einer Gemeinschaft eine neue Verfassung zu geben. Als ein Plädoyer für diese anarchi¬ sche Qualität des Geistes liest Benjamin - und vor ihm Hofmannsthal - Rangs Historische Psychologie des Karnevals.ibi 2. „Wort-Opfer“: Rangs Deutung von Goethes Gedicht Selige Sehnsucht Der Gedanke des Opfers bleibt ein wichtiges Moment in Rangs Schriften, auch nach dem Krieg, als er seine politischen Ansichten - ausgelöst durch den Tod des ältesten Sohnes - radikal geändert hat. Als poetologisches Prinzip dient ihm der Gedanke des Opfers in einer Interpretation von Goethes berühmtem Ge¬ dicht Selige Sehnsucht, die Hofmannsthal 1923 in den Neuen Deutschen Beiträgen veröffentlicht.

563 A.a.O., S. 65 ff. bes. S. 67 u. 68. 563 „Das Wasser ist das Wasser des Todes (stygische Gewässer) und des Lebens; es ist im engeren Sinn das Sperma und auch das Fruchtwasser: es ist, wie es wohl alle Symbole sind, mehrfach determiniert“, a.a.O., S. 68. 564 Freilich trennt Rang und Benjamin auch vieles, was von Jäger und Steiner ausführlich erörtert wird, s. Jäger, Messianische Kritik, a.a.O., S. 93.

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Die von 1923 bis 1926 von Hofmannsthal herausgegebenen Neuen Deut¬ schen Beiträge, eine Zeitschrift, mit der er „dem Scheingeschmack der Epoche“563 entgegentreten wollte und für die er Rang als engagierten Autor gewinnen konn¬ te, geben den Anlaß zu einem intensiven Gedankenaustausch und zu einer für das Verständnis von Rangs und Hofmannsthals unterschiedlichen Standpunkten sehr aufschlußreichen Meinungsverschiedenheit. Außer jenem Aufsatz über Goethe sind von Rang noch Auszüge aus seinem erst postum veröffentlichten Buch über Shakespeares Sonette in Hofmannsthals Zeitschrift erschienen. Diese sowie diejenigen Texte, deren Veröffentlichung dort zwar geplant, aber nicht realisiert wurde, bilden in bezug auf die Tragweite des Opferbegriffes eine wich¬ tige Ergänzung. Rangs Interpretation von Goethes Gedicht erschien im ersten Heft der Neuen Deutschen Beiträge566, nachdem Walter Benjamin, der im gleichen Jahr die Zeitschrift Angelus Novus gründete, den ursprünglich ihm angebotenen Aufsatz freigegeben hatte.567 In einer kurzen Vorbemerkung erklärt der Verfasser, im Gegensatz zu biologistisch-psychologisierenden Interpretationsansätzen „Philo¬ logie“ im strengsten Sinne des Wortes zu betreiben. Er richtet sich damit gegen den Goethe-Forscher Konrad Burdach, was für Zeitgenossen ohne weiteres zu erkennen ist, obwohl der Name im Aufsatz nicht genannt wird.568 Burdach hat kurz zuvor den Band Gedichte der Jubiläumsausgabe herausgegeben, in dem er auch Selige Sehnsucht kommentiert.569 Rangs Angriff fiel ursprünglich derart scharf aus, daß Hofmannsthal, der Burdach schätzte, sich genötigt sah, ihn um

565 Bereits 1920 skizzierte Hofmannsthal die „Idee einer durchaus selbständigen und dem Scheingeschmack der Epoche widerstrebenden Monatsschrift“ (RA II 127-129), in welcher er ausdrücklich den „Zeitgeist und den „Begriff des Aktuellen“ negiert, sich der „Jagd nach dem ungreifbar Momentanen“, „nach einer chimären Entwicklung“ verweigert und stattdessen auf „geistigen Besitz“ und ein „höheres Soziales“ zielt, in welchem er eine geistige deutsche Gesell¬ schaft“ voraussetzt. Während andere Revuen durch eine „fortrasende Linie“ versinnlicht wer¬ den könnten, sei die „gesuchte Form hier der Kreis“ (RA II 127). 566 Florens Christian Rang, Goethes Selige Sehnsucht, in: Neue Deutsche Beiträge, erste Fol¬ ge, erstes Heft, 1922, S. 82-125. 567 An seinen Freund Scholem, mit dem er sich in dieser Frage beriet, schrieb Benjamin, die Sprache des Rangschen Aufsatzes sei „unerträglich bzw. voll Abgeschmacktheiten“ (am 9. Oktober 1921, s. Benjamin, Briefe I, a.a.O., S. 276). Zu weiteren Kritiken an Rangs Sprachstil und Rezensionen des Goethe-Aufsatzes s. Steiner, a.a.O., S. 196 ff. Benjamin hat die Gründe seiner Ablehnung in einem Brief an Scholem in sechs Thesen zusammengefasst, s. Benjamin Briefe I, a.a.O., S. 276 ff. Diese betreffen in erster Linie Rangs Sprache und seine letztlich auf einer gnostischen Grundhaltung basierenden Auffassung des „Dichterischen“, welche Benja¬ min und auch Scholem ablehnten, vgl. Steiner, a.a.O., S. 212-216. 568 Vgl. Steiner, a.a.O., S. 194 f. 569 Vgl. Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden, 5. Band West-östlicher Divan, mit Einleitung u. Anmerkungen v. Konrad Burdach, Stuttgart u. Berlin, S. 16, Kom¬ mentar S. 332-338. Burdach deutet die auch schon von anderen als unpassend empfundene letzte Strophe des Gedichts als später (nach der Metamorphose der Pflanze) hinzugefügte Verse. Er versucht damit den Widerspruch zu harmonisieren, der allein schon durch den Wechsel der Titel des Gedichtes gegeben scheint: Dem mystischen, ursprünglichen Titel Selbstopfer der vier Strophen stünde der Titel Vollendung nach der hinzugefügten „diesseitigen“ „Stirb und Werde“-Strophe gegenüber; vgl. auch Steiner, a.a.O., S. 195.

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mildere Worte zu bitten.570 Eine „Philopsychie“ oder gar „Niedrig-Wissenschaft“, die „den Sinn des Gedichtes [...] ganz verrenkt“ und deren „Gelehrsam¬ keit [...] mit ehrbarem Fleiß [...] der Trägheit des Geistes gedient“ habe, blieb diese Goethe-Philologie in den Augen Rangs dennoch.571 Im Gegensatz zur zeitgenössischen Goethe-Forschung geht es Rang in sei¬ ner Interpretation um nichts Geringeres als eine religiöse Rechtfertigung von Dichtung. Die Betonung von „Philo-logie“ als der von ihm mit geradezu existen¬ tiellem Ernst betriebenen Methode weist auf die Nähe zur „Theo-logie“ hin: der ,Logos“ im Wandel vom Propheten- zum Dichterwort bilde den Kern seiner Poetologie. Damit markiere Goethes häretisches Christentum einen noch für die Gegenwart gültigen Wendepunkt im Verständnis der Erlösungsgeschichte. Goethes Gedicht, welches das erste Buch des West-östlichen Divan - das Buch des Sängers - abschließt, handelt von einem einzigen Bild: Dem Flug des Schmetterlings, welcher, angelockt vom

Lichtschein einer Kerze, in deren

Flamme den Tod findet. Goethes Bild läßt sich im wesentlichen auf zwei ver¬ schiedene Quellen zurückführen: das altorientalische Gleichnis von der verlieb¬ ten Mücke, die, da sie ohnehin irgendwann sterben muß, den freiwilligen Tod in der geliebten Kerzenflamme wählt, und das in Hafis Divan vorkommende Sym¬ bol der sich selbstverzehrenden Kerze, die - verwandelt - in ihrer Flamme auf¬ geht.572 Auch Rang kennt diese Vorlagen573 und bemerkt, daß ,,keine[r] selbstän¬ dig für Goethe hier das Bild gab“.574 In den beiden Quellen und in Goethes Gedicht geht es um Selbstopfer, was ein früherer Titel des Gedichtes signalisier¬ te. Welche tiefere Bedeutung dem ,Selbstopfer“ des Goetheschen Schmetterlings zukommt, will Rang mit seiner Deutung des Gedichtes im Kontext des gesamten Divan - für ihn das „Nach-Bibel-Buch neuer Gläubigung“575 - zeigen. Dem Thema ,Opfer“ kommt, wie man sieht, in dieser späten Schrift Rangs eine zentra¬ le Bedeutung zu.

570 „Was den Angriff auf Burdach betrifft, so wäre es mir [...] aus rein national-geistigen Gründen erwünscht, diesen Angriff vermieden oder mindestens gemildert zu wissen. Burdachs Commentar zu dem ungeheuren Gedicht ist ohne jeden Zweifel unzulänglich [...]. Aber der nun über sechzigjährige Mann leistet in seinem Hauptwerk [...] einen unmessbar wertvollen Beitrag zur deutschen Sprach- das ist, wie er es richtig versteht, zur deutschen Geistesgeschich¬ te. Dieses Werk und dieses Leben, völlig unberührt von der lärmenden Mitwelt, hat etwas von der Reinheit wie sie früheren Dezennien unserer Geistesgeschichte eignet. Es geht mir ganz gegen das Gefühl, gegen diesen Mann die Schärfe des Angriffs zu richten, der ihn - und das ist das furchtbare der gespaltenen Zustände, in denen wir uns befinden - halb zu Recht halb zu Unrecht trifft. Ich bitte mich jedenfalls der milderen Fassung bedienen zu dürfen.“ Hofmanns¬ thal/Rang, a.a.O., S. 413. 571 Rang, Selige Sehnsucht, a.a.O., S. 83 f. 572 Goethes Quelle für das Gleichnis der verliebten Mücke ist Saadis Persianisches Rosen¬ thal. s. Goethe, West-östlich er Divan, u. Mitw. von Hans Heinrich Schaeder hrsg. u. erl. v. Ernst Beutler, Leipzig 1943, S. 381 ff. 573 Er spricht allerdings von „den beiden Inhalten des sufischen Vorlage-Gedichts“; vgl. Rang, Selige Sehnsucht, a.a.O., S. 103. 574 Ebd. 575 Rang, Selige Sehnsucht, a.a.O., S. 125.

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Nach Rangs Interpretation ist das ,Selbstopfer“ des Schmetterlings bei Goe¬ the Symbol für das Wort des Dichters in „Gottes-ferner Zeit“, in der das Wort eines Propheten nicht mehr gehört wird. Rang stützt sich dabei auf eine Bemer¬ kung Goethes aus den Noten und Abhandlungen, worin dieser den Unterschied zwischen Dichter- und Prophetenwort definiert: Jenes richte sich auf das „Man¬ nigfaltige“ der Dingwelt und ziele auf Genuß, während das Wort des ReligionsStifters „eintönig“ zu sein habe, weil er damit möglichst viele Gläubige erreichen will. Ein solches Prophetenwort habe in der Neuzeit keine Wirkung mehr, denn die von Christus - aber auch von anderen Religionen - in Aussicht gestellte Rea¬ lisierung des Reichs Gottes habe sich nicht erfüllt. Vor dem Hintergrund dieses Vorwurfs, der vermutlich eher dem Ringen des ehemaligen Pfarrers um den Glauben entspringt als der Reflexion des Dichters, erklärt Rang, was es mit Goe¬ thes „heidnischem Christentum“ auf sich habe, welches dieser selbst - nach Ekkermanns Überlieferung - eingestanden habe. Im Bewußtsein des utopischen Charakters des Christentums habe Goethe sich als Dichter dem „IrdischMannigfaltigen“ zugewandt. Ganz im Gegensatz zum verlogenen „PredigerChristentum“ der Kirchen maße er sich nicht an, eine Aussage über die Ewigkeit zu treffen. „Demut“ ist - laut Rang - die Signatur von Goethes Christentum.376 Rang belegt diese These über Goethes Haltung zum Glauben in seiner In¬ terpretation der letzten Strophe des Gedichtes. Die aus der Wortstellung resul¬ tierende Emphase des Verbs ,haben“ - „Und solang du das nicht hast ...“ - und des Nomens ,Erde“ als dem letzten Wort des Gedichtes zeuge von Goethes Selbstbeschränkung auf die

Dinge,

die er besitzen

kann - alles

„Irdisch-

Mannigfaltige“ nämlich. Wie Goethe ,hat“ - also besitzt - der neuzeitliche Mensch von Christus nur noch den Namen; allein der „Logos“ bleibe übrig, nachdem das Reich Gottes und die Erlösung der kreatürlichen Welt gemäß dem Paulus-Wort im Brief an die Römer 8 sich nicht erfüllt hätten. Goethes „Wort“ zum Beispiel seine Divan- Gedichte - sei das „Dicht-wort“, welches sich in De¬ mut dem „Irdisch-Mannigfaltigen“ widme - im Gegensatz zum Prophetenwort, das „eintönig“ auf die letzten Dinge ziele - und sich damit wie der Schmetterling des Gedichtes aus Liebe zur kreatürlichen Welt selbst opfert, um ein höheres Wort, über welches keine Aussage getroffen werden kann, vorzubereiten. Goe¬ thes Gedicht sei der „ganzem Leben abgemühte Ertrag des Ringens um das Wort, das unserer Zeit als nächst-göttliches gesagt werden will.“ Damit werde Dichtung „zum Glauben Weg, die Wort opfert für’s Wort“.5'7 Die Reaktionen auf Rangs Interpretation des berühmten Divan-Gedichtes richten sich zunächst gegen die höchst eigenwillige Sprache des Autors. Kritiker wie Alfred Brust oder Walter Benjamin tadeln den völkisch-germanischen Sprachgestus und bedauern, daß Rang sich mit seiner Sprache gewissermaßen selbst im Wege stehe, weil er damit Leser abschrecke, die ihm in der Sache folgen würden. Benjamins Vorbehalte, die er gegenüber Scholem ausführlich darlegt und die ihn schließlich davon abhalten, Rangs Aufsatz in seinem Angelus Novus zu drucken, betreffen allerdings weit mehr als die Sprachmarotten seines Freun-

576 A.a.O., S. 116. 577 A.a.O., S. 125.

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des. Immerhin muß er Rangs Ausführungen als Antwort auf seine eigene Beur¬ teilung der Stellung Goethes zu der Romantik im letzten Kapitel seiner Disserta¬ tion Der Begriff der Kunstkritik in der Romantik verstehen.578 Auch

Hofmannsthal

äußert Vorbehalte

gegenüber Rangs

sprachlichen

Übertreibungen. So fordert er Rang auf, das Wort „purzelbaumen“ doch mög¬ lichst zu ändern.57'1 Die Sprache Rangs empfindet Hofmannsthal insgesamt als „abstrus“. Dennoch sieht er in ihm einen der wenigen Repräsentanten eines gei¬ stigen Deutschland, denen er bei aller Kritik im Daetail die Treue halten will. Die¬ se Ambivalenz bleibt für Hofmannsthals Verhältnis zu Florens Christian Rang prägend: Trotz der absonderlichen Sprache wollte er ihn als Autor für seine Bei¬ träge gewinnen, und trotz der Meinungsverschiedenheit, die sich am Programm dieser Zeitschrift entzündete und nie ausräumen ließ, setzte er das Gespräch bis zum Tode Rangs 1924 fort. Wie die Interpretation der Münchner Rede gezeigt hat, gehörte Rang für Hofmannsthal in die Reihe jener ,Suchenden1, denen er als Vertretern einer konservativen Revolution1 gleichermaßen mit Bewunderung und Vorbehalten gegenübertrat. Insgesamt läßt sich Hofmannsthals ambivalente Haltung als „kritische Faszination“ bezeichnen. Exkurs: Dreimal Goethe. Zur Chronologie des Gedankenaustausches von Rang, Benjamin und Hofmannsthal Rangs Aufsatz über Goethes Gedicht Selige Sehnsucht beansprucht, Teil einer Form der Kritik zu sein, deren Aufgabe Walter Benjamin in seiner Dissertation über den Begriff der Kunstkritik in der Romantik bestimmt hat. Die freundschaft¬ liche, aber von Spannungen geprägte Verbindung der beiden Männer währte von 1920 bis zu Rangs Tod im Jahr 1924. Mit ihm habe - so Benjamin in einem Brief an Scholem - das damals gerade abgeschlossene Trauerspielbuch „seinen eigent¬ lichen Leser verloren11.580 Ihr gemeinsames Anliegen, den Begriff der Kritik theo¬ retisch neu zu begründen und für die Gegenwart nutzbar zu machen, basiert auf kunsttheoretischen Voraussetzungen, die Hofmannsthal teilt. Die Verbreitung ihrer Schriften betrieb Hofmannsthal nachdrücklich, indem er sich beide als Au¬ toren für seine Neuen Deutschen Beiträge wünschte. Insbesondere in Benjamins Habilitationsschrift über den Ursprung des deutschen Trauerspiels fand er für die Erwartungen, die er nach dem Krieg an die Form dieser barocken Gattung knüpfte, eine theoretische Begründung. Der fruchtbare Gedankenaustausch zwi¬ schen Walter Benjamin und Florens Christian Rang ist - wie bereits angeführt in den Büchern von Lorenz Jäger und Uwe Steiner dokumentiert. Um die be¬ hauptete Relevanz der Ideen Rangs und Benjamins für Hofmannsthals letzte Schaffenszeit aufzeigen zu können, soll im folgenden die Chronologie ihrer Be¬ gegnungen und die wechselseitige Beeinflußung, die sich in ihren Werken und Briefen spiegelt, kurz skizziert werden. Gleichsam als roter Faden im Gedanken-

578 Vgl. Lorenz Jäger, der die sechs Einwände Benjamins aus dem Brief an Scholem wie¬ dergibt, Messianische Kritik, a.a.O., S. 110 f., und Uwe Steiner sehr ausführlich, a.a.O., S. 212 ff. 579 Hofmannsthal/Rang, a.a.O., S. 418. 580 Benjamin, Briefe I, a.a.O, S. 374.

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austausch der drei ungleichen Denker läßt sich ihre Auseinandersetzung mit Goethe ausmachen. Als Benjamins Dissertation über den Begriff der Kunstkritik in der Romantik gerade gedruckt war, erhielt der Autor eine umfangreiche Stellungnahme von dem ihm vermutlich bis dahin unbekannten Florens Christian Rang.

Dieser

sog. Dissertations-Bnef82 vom 10. Oktober 1920 zeugt gleichermaßen von Rangs Hochachtung vor der „wirklich philosophische [n] Arbeit“ des jungen Philolo¬ gen wie von der qualifiziert geübten Kritik des Älteren, der das eigentliche An¬ liegen Benjamins, die Klärung der Voraussetzungen für eine theoretische Er¬ neuerung des Kritikbegriffes,583 verstanden hatte. Das letzte Kapitel der Dissertation handelt von Goethes Kunstauffassung im Gegensatz zu derjenigen der Romantiker. Benjamin sieht eine systematische Divergenz zwischen Goethes Vorstellung vom ,Urbild

aller Kunstwerke und

der daraus abgeleiteten kanonischen Bedeutung der antiken Vorbilder einerseits und der an einem spezifischen Formbegriff festgemachten „Idee der Kunst“ der Romantiker andererseits. Die „Idee der Kunst“ siedle Goethe da an, wo die Kunst nicht Schöpfung, sondern Natur sei. Da die „Kunstform“ für Goethe le¬ diglich „Stil“ sei, habe er in dieser Frage keine philosophische Klärung geleistet, sondern nur Hinweise auf das Maßstabsetzende gewisser Vorbilder gegeben.'’1'4 Die Kunsttheorie der Romantiker dagegen ziele auf eine Bestimmung der „Idee der Kunst“ als eines „absoluten Reflexionsmediums der Formen“.583 In Goethe sieht Benjamin indes die gelungene Synthese zwischen Natur- und Geisteswis¬ senschaft verwirklicht. Rang erkannte in Benjamin einen Verbündeten, was nicht heißt, daß er in jedem Punkt mit ihm übereingestimmt hätte. Allein der Umfang des Dissertati¬ ons-Briefes beweist, in welchem Maße Benjamins Arbeit eine fruchtbare Rei¬ bungsfläche für Rangs eigene Ziele bietet. Rang kündigt dem Jüngeren einen Aufsatz über Goethe an, in welchem er einerseits Benjamins Forderung nach ei¬ ner neuen Form der Kritik einlösen will, andererseits aber auch seine von Benja-

581 Rang und Benjamin trafen sich vermutlich durch die Vermittlung Erich Gutkinds zum erstenmal im Jahr 1920 in Berlin. Scholems Datierung der frühsten Begegnung auf das Jahr 1917 gilt inzwischen als unwahrscheinlich; vgl. Steiner, a.a.O, S. 170 f. 582 Erstmals veröffentlicht von Gary Smith im Anschluß an seinen Aufsatz Benjamins christlicher Mentor., in: Schattenlinien Nr. 6&7. Walter Benjamin: Grenzfall und Erwartung, Ber¬ lin 1993, S. 60-66 (Aufsatz) und S. 67-74 (Brief). Steiner lag die Kopie eines Typoskripts aus dem Nachlaß Rangs vor, a.a.O., S. 168, Anm. 827. 583 Den Begriff „Kritik“ als „begründende Beurteilung“ und nicht im Sinne von Kants „Kritik“ als „unvergleichlicher und vollendeter philosophischer Standpunkt“ zu verstehen, sei eine der „bleibenden Leistungen“ der Romantiker; Benjamin, Kunstkritik, a.a.O, S. 13. Kant habe gleichwohl den romantischen Kritikbegriff vorbereitet, indem er mit „Kritik“ Dogmatis¬ mus und Skeptizismus zu überwinden suchte, um „wahre“ Metaphysik zu treiben; a.a.O., S. 52. Im Gegensatz zum modernen Kritikbegriff sei die „Kritik“ als esoterischer Hauptbegriff der Romantik positiv verstanden worden; a.a.O., S. 51 f. „Kritik“ im romantischen Sinn bedeute zum einen die „Vollendung der Werke“ und zum anderen die „Auflösung im Absoluten; a.a.O., S. 78. 584 Benjamin, Kunstkritik, a.a.O., S. 118. 585 A.a.O., S. 87.

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min abweichenden Auffassungen deutlich darzulegen gedenkt. Bei diesem Goe¬ the-Aufsatz handelt es sich um jene Interpretation von Selige Sehnsucht, die Hofmannsthal 1922 in den Neuen Deutschen Beiträgen veröffentlichte. In den Beiträgen erschien zwei Jahre später auch Benjamins Essay über Goe¬ thes Wahlverwandtschaften.586 Reagierte Rang mit dem Aufsatz über Goethes Se¬ lige Sehnsucht auf Benjamins Schlußkapitel des Romantikbuches, so kann der Wahlverwandtschaften-Essay bis zu einem gewissen Grad als Replik auf die Goe¬ the-Interpretation Rangs gelesen werden. Daß beide Goethe-Aufsätze in Hof¬ mannsthals Zeitschrift erschienen sind, ist kein Zufall, war Rangs DivanDeutung doch erst frei, nachdem Benjamin sie schließlich nicht - wie ursprüng¬ lich geplant - in seinem Angelus Novus drucken wollte. Hofmannsthals Interesse an Rangs Aufsatz über Selige Sehnsucht lag möglicherweise auch darin begründet, daß er seinerzeit das Gespräch über Gedichte mit diesem berühmten Gedicht hat¬ te enden lassen. Hofmannsthal war von Benjamins Wahlverwandtschaften-Aufsatz geradezu überwältigt; sein Urteil in einem Brief an Rang, der ihm diesen Essay geschickt hatte, wird oft zitiert: „Erwarten Sie bitte nicht, daß ich über den schlechthin unvergleichlichen Aufsatz von Benjamin, den Sie die Güte hatten mir anzuvertrauen, mich eingehend äußere. Ich kann nur sagen, daß er in meinem inneren Leben Epoche gemacht hat und daß sich mein Denken, soweit nicht die eigene Arbeit alle Aufmerksamkeit erzwingt, kaum von ihm hat lösen können. Wunderbar ist mir - um von dem scheinbar ,Äußeren' zu sprechen - die hohe Schönheit der Darstellung bei einem so beispiellosen Eindringen ins Geheimnis; diese Schönheit entspringt aus einem völlig sicheren und rei¬ nen Denken, wovon ich wenig Beispiele weiß. Sollte dieser Mann ein jün¬ gerer, etwa weit unter meinen Jahren sein, so wäre ich von dieser Reife aufs Äußerste betroffen.“587

586Neue Deutsche Beiträge, 2. Folge, 1. Heft, S. 83 ff., und 2. Folge, 2. Heft, S. 134 ff. 587 Hofmannsthal/Rang, a.a.O., S. 440. Dieses Hofmannsthal-Zitat dient der Insel-Taschenbuchausgabe der Wahlverwandtschaften, in der auch Benjamins Aufsatz veröffentlicht ist, als Kommentar auf dem Buchrücken. - Schon der erste Eindruck nach flüchtiger Ansicht deu¬ tet auf Hofmannsthals positive Aufnahme des Benjaminschen Essays hin. Am 5. November 1923 schrieb er aus Bad Aussee an Rang: „Ich habe indessen in das Manuskript über die Wahl¬ verwandschaften hineingeblickt und fühlte mich so mächtig angezogen, dass ich den späteren Abend und die tiefe friedvolle Stille der Novembernacht nützen will um mich mit den ersten Seiten aufmerksam bekannt zu machen.“ A.a.O, S. 439. - Weniger häufig zitiert ist ein späteres Urteil Hofmannsthals, in welchem deutlich wird, wie bedeutsam die Begegnung mit Rang und Benjamin für Hofmannsthal und sein Zeitschriften-Projekt in diesen Jahren war: „Sehr wohl würde ich selber zwei unter allen bisherigen Beiträgen als die gewichtigsten bezeichnen: den Ihren, der das erste Heft auszeichnete, und diesen von Benjamin der diesem vierten und dem folgenden Heft einen sehr hohen Wert verleihen wird: denn er behandelt Hohes mit seltener Kraft und er erreicht dabei eine noch seltenere Schönheit der Darstellung [...] Ich betrachte es als einen jener Glücksfälle, ohne deren Eintreffen kein Unternehmen gelingen Kann, dass mir solche Arbeiten durch Sie Zuströmen; und ich darf nun wo ich solche Menschen, vor allem aber ein Individuum wie Benjamin neben Ihnen stehen sehe, hoffen, dass die Kette solcher Beiträge,

122

Der Vergleich der drei Goethe-Interpreten läßt sich auf die unterschiedliche Be¬ antwortung der Frage, wie Goethe mit dem Mythos umging, zuspitzen. Verbun¬ den wußten sich Rang und Benjamin in der Ablehnung des von Friedrich Gundolf entworfenen Goethe-Bildes.588 Dieser vermischt und idealisiert aus ihrer Sicht das Leben und das Werk des Dichters, wohingegen Rang und Benjamin streng zwischen beidem unterscheiden.589 Die Lebenszeugnisse verrieten, daß Goethe Angst vor dem Tod - vor mythischen Mächten überhaupt - hatte und es sich auch eingestand, während sein Werk die Überwindung dieser Angst darstel¬ le. Dies versucht Benjamin mit seiner Deutung der Wahlverwandtschaften zu zei¬ gen. Goethe sei erst einen Pakt mit den mythischen Mächten eingegangen und habe sich zu ihrem Diener gemacht. Die schwerste Unterwerfung stelle die Ehe dar, die er 1806 mit Christiane Vulpius nach vierzehnjähriger Hausgenossen¬ schaft einging. Kurz darauf entstanden die Wahlverwandtschaften, die eine Wen¬ de in seinem Werk darstellten, weil darin der Protest gegen jene mythischen Mächte formuliert werde. Das Motto von Benjamins Aufsatz stammt von Klopstock: „Wer blind wählet, dem schlägt Opferdampf / In die Augen.“ Benjamin hält Goethe für einen Sehenden und sein Werk für die Überwindung des My¬ thos. Rang deutet Goethes Werk - wie seine Interpretation von Selige Sehnsucht gezeigt hat - als den demütigen Verzicht auf jenes „Prophetenwort“ zugunsten des Irdisch-Mannigfaltigen; auch hier ist das Werk eine Überwindung mythi¬ scher Mächte, und zwar eine durch die urchristliche Haltung der Ohnmacht er¬ reichte. Hofmannsthals wesentlich frühere Deutung dieses Gedichtes im Ge¬ spräch über Gedichte beantwortet die Frage nach Goethes Umgang mit dem Mythos ebenfalls, wenn auch indirekt und aus einer anderen Perspektive. Ausge¬ hend vom Gegensatz zwischen einer Poesie des Gedankens und Gedichten, die gemäß jener Symboltheorie „nur einen Hauch“, einen „Hauch von Leben und Tod“ (E 507) darstellen, erklärt Hofmannsthal, daß in einer „frühen dumpfen Welt“, in mythischen Zeiten also, der „Gedanke“ von größerer Bedeutung gewe¬ sen sei, während der gegenwärtigen Poesie der „Hauch“ not tue. Goethes Selige Sehnsucht dient ihm als Beispiel für ein Gedicht, das dem „wirkliche[n] Erlebnis der Seele“ (E 508) zu verdanken ist; es soll nämlich in der Nacht, in der Chri¬ stiane Vulpius starb, entstanden sein. Während Benjamin sagt, Goethe habe sich im Leben den mythischen Mächten unterworfen, um sie hernach im Werk (in den Wahlverwandtschaften) protestierend zu überwinden, ist Hofmannsthals Goethe Unterlegener und Überwinder zugleich. 3. „Messianische Kritik“: Rangs Shakespeare-Buch Rangs Buch über Shakespeares Sonette besteht aus zwei Teilen: einer Überset¬ zung der Gedichte und einer Deutung derselben. In der Einleitung „Vom Weg Messianischer Deute“ erklärt Rang, was er unter dem Begriff „messianische Kri¬ tik“ versteht und warum gerade Shakespeares Sonnette für diese über den Be¬

in denen für die Deutung des Poetischen ein Höchstes geleistet wird, dessen gleichen ich in früheren Beispielen nicht kenn - mir nie abreißen wird.“ 588 Friedrich Gundolf, Goethe, 12. Auflage, Berlin 1925. 589 Jäger, Messianische Kritik, a.a.O., S. 113 f.

123 reich der Kunst hinausweisende Weitsicht geeignet seien. Dieses einleitende Ka¬ pitel sandte Rang zusammen mit dem noch nicht korrigierten Manuskript des interpretatorischen Teiles und dem älteren Karneval-Aufsatz am 25. Juni 1923 an den Herausgeber der Neuen Deutschen Beiträge Hofmannsthal war tief beein¬ druckt von der Deutung der Sonette, wie sein bereits vier Tage später verfaßtes Antwortschreiben zeigt.391 Als Herausgeber freilich hatte er technische Ge¬ sichtspunkte zu berücksichtigen: Damit das von Rang für den Druck freigegebe¬ ne Einleitungskapitel nicht isoliert erscheint, sollte in einem späteren Heft ein Kapitel aus der Deutung folgen. Hofmannsthal wollte die Kapitel „Vom Welt¬ bild der Person“ und „Welt, Reich Freundschaft“ veröffentlichen. Beide waren in ihrer vorläufigen Fassung allerdings so umfangreich, daß sie den äußeren Rah¬ men der Zeitschrift gesprengt hätten. An diesen drucktechnischen Einwänden scheiterten schließlich der Plan und damit eine zu Febzeiten des Autors verwirk¬ lichte Publikation dieses Werkes. Das Shakespeare-Buch wurde 1954 postum von Rangs Sohn Bernhard unter dem Titel Shakespeare der Christ veröffent¬ licht.392 Einzelne Kapitel waren schon früher in der Zeitschrift Die Kreatur er¬ schienen, deren Gründung — wie die Herausgeber im Vorwort des ersten Heftes betonen - auf eine Idee Rangs zurückgeht.593 Im Hinblick auf Rangs und Hofmannsthals Opfertheorie ist das Einlei¬ tungskapitel aufschlußreich, denn deutlicher noch als in Rangs Interpretation von Goethes Selige Sehnsucht wird hier die Bedeutung des Opfergedankens im Rahmen der sogenannten „messianischen Kritik“ erkennbar. Bereits aus Rangs Begründung der Wahl seines Gegenstandes geht hervor, in welchem Maße er von Walter Benjamins Thesen zur Kunstkritik der Roman¬ tik angeregt worden ist. Wie Benjamin geht auch Rang von einem spezifischen Kritikbegriff aus, welcher den Anspruch erhebt, das Werk seiner Vollendung nä¬ herzubringen. Mittels seiner Definition „messianischer Kritik“, die im Gegensatz zur „pneumatischen Kritik“ der Romantiker nicht mehr die Kunstwerke als „rei-

590 Hofmannsthal/Rang, a.a.O., S. 429 ff. 591 Im Brief vom 29. Juni 1923 schreibt er, daß „das große Werk [ihn] völlig in sich hin¬ eingerissen hat“; a.a.O., S. 432. 592 Florens Christian Rang, Shakespeare der Christ. Eine Deutung der Sonette, hrsg. v. Bernhard Rang, Heidelberg 1954. Daß Änderungen des Sohnes die Aussage des Buches erheb¬ lich modifizieren, stellen sowohl Jäger als auch Steiner fest, denen beide das Originalmanu¬ skript vorlag.; s. Steiner, a.a.O., S. 233 ff., bes. S. 235, Anm. 1C98. Allein der Titel deute auf ei¬ ne einseitige Auswahl der christologischen Aspekte der Deutung hin. Allerdings stimme diese Ausrichtung des Buches mit Benjamins Zustimmung der kritischen Bemerkung Erich Gut¬ kinds, Rangs Shakespeare-Buch laufe „doch wieder auf Christus hinaus“ (Brief an Scholem vom 27. November 1921, Briefe /, S. 283), überein. Auf die unveröffentlichten Originalmanu¬ skripte als Textgrundlage, die wohl mit den Manuskripten, die Hofmannsthal Vorlagen, über¬ einstimmen dürften, wird hier verzichtet, da die Abweichungen offenbar nicht diejenigen Punkte betreffen, die in unserem Zusammenhang interessieren. 593 Vgl. Die Kreatur, 1. Jg. 1926/27, hrsg. v. Martin Buber, Joseph Wittig, Viktor von Weizsäcker, darin: Florens Christian Rang, Das Reich, S. 104 ff., ders., Freundschaft, S. 200 ff., und ders., Vom Weltbuch der Person, S. 268 ff.

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ne Formspiegelung des Geistes“, welcher nur vermeintlich von Gott sei,

ge¬

trennt betrachte, sondern in der Kunstkritik ,,ein[en] Sonderfall nur der messianischen Weltkritik, des Weltgerichtes“ darstelle, sei jene ältere Kritik, die dem „Selbstbetrug der Kunstvergötterung“595 unterlegen gewesen sei, als eine aporetische durchschaubar. In der „messianischen Kritik“ trete „Glaubenswerk“ an die Stelle des geopferten Kunstwerkes, denn der Zerstörung entspreche ein Aufbau¬ endes. Rang glaubt den von der leiblichen Schöpfung entfremdeten Geist zur „Umkehr“ befähigt. Der in der Folge der Romantik weltflüchtige „Geist“ finde nicht in die Leiber zurück, aber den Geistigen sei die Macht gegeben, „daß die Schöpfung neu sich umkehrt zur Form“.596 ,Umkehr“ ist hier das entscheidende Stichwort. Auf diesen Begriff läuft nicht nur Rangs Spätwerk - die philologischen wie die politischen Schriften hinaus, auch in seiner Biographie, die durch Brüche und abrupte Wandlungen be¬ stimmt war, ist die Bereitschaft zur Umkehr kennzeichnend. Sein Zweifeln wur¬ zelt in der Frage nach der uneingelösten Prophezeiung des Reiches Gottes, und zwar im Sinne der leibhaftigen Auferstehung der Schöpfung, wie sie von Paulus im Brief an die Römer in Aussicht gestellt wurde.597 Als ein Bekenntnis zur irdi¬ schen Schöpfung hat Rang bereits Goethes Selige Sehnsucht gedeutet; in den So¬ netten Shakespeares erkennt er in ähnlicher Weise ein Programm gegen die „Weltflucht des Geistes“. Hier wie dort werde die Aufgabe der messianischen Deutung sichtbar. Sie besteht für Rang darin, die Frage nach dem Verhältnis von Dichtung und Religion zu stellen.598 Die „Weltschöpfung“ im Sinne der „messia¬ nischen Kritik“ vergleicht Rang mit einem Gebirge, in welchem die Sonette ei¬ nen Kristall bilden.5"99 Es fällt nicht schwer, Hofmannsthals begeisterte Aufnahme des Shakespea¬ re-Buches und seine Bereitschaft zur Veröffentlichung dieses geradezu program¬ matischen Einleitungskapitels über „messianische Kritik“ in seiner Zeitschrift zu erklären. Rang liefert keine Lösung, wohl aber einen richtungsweisenden Aus¬ blick auf die Lösung eines Problems, das Hofmannsthal von Anfang an in sei¬ nem Werk variierte: die Antinomie von Geist und Welt, die alte Frage nach dem Verhältnis von Poesie und Leben. Beide Autoren ringen, zumal nach der Erfah¬ rung des Krieges, um dieselbe Frage nach der Verantwortung des Geistes. Das Thema des Trauerspiels Der Turm, dessen schwierige Vollendung zeitlich mit

594 Die Romantiker unterschieden zwischen „Kunstwerk“ und „Weltkunst“, was eine Zweiteilung des Geistes in „Wissenschaft, Erfahrung und Tatsachenwelt“ einerseits und Kunst in dem obengenannten Verständnis andererseits zur Folge gehabt hätte; vgl. Rang, Shakespeare, a.a.O., S. 15. 595 Ebd. 596 A.a.O., S. 16. 597 „Wenn nun der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt.“ Römer 8,11. - s.a. Römer 8,19-25: „Denn die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig darauf, daß die Kinder Gottes offenbar werden [...].“ 598 „So wälzt sich der messianischen Deutung als Aufgabe die Frage und Spannung zu nach dem Verhältnis von Dichtung und Religion.“, Rang, Shakespeare, a.a.O., S. 17. 599 Rang, Shakespeare, a.a.O., S. 17.

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der Herausgabe der Neuen Deutschen Beiträge parallel läuft, ist der Versuch einer Bestimmung der Aufgabe des Geistes, im Leben, in der Welt eine Ordnung her¬ zustellen, was nur durch die Ausübung von Macht gelingen kann. Um die Frage nach der Möglichkeit einer Verbindung von Geist und Macht geht es im Turm wie auch im früheren Semiramis-Fragment und später im Kaiser Phokas. Trotz aller Abneigung, die Hofmannsthal gegen Rang, insbesondere gegen die sich in seiner „abstrusen“ Sprache widerspiegelnde Radikaltät verspürte,600 konnte er dessen Kampfansage an den „weltflüchtigen Geist“ und dem dieser Haltung ent¬ gegenwirkenden

Programm

der „messianischen Deutung“ nur beipflichten.

Wenn er in Rang, den er später in der Münchner Rede als einen Vertreter der konservativen Revolution1 portraitierte, nicht gleich einen Verbündeten sah, so zählte er ihn doch zu den wenigen geistig tätigen Menschen, die das dringenste Problem der Zeit erkannt hatten und die - wie er selbst - darunter litten.

IV. Mythos und Geschichte. Hofmannsthals Bachofen-Rezeption In einem Brief aus dem Jahr 1927 schrieb Hofmannsthal an Carl Jakob Burckhardt, er habe sich „lebenslang mit dem was man ,Zeit‘ nennt (in den mehreren Bedeutungen des Wortes) herumgeschlagen“ und er wolle „nicht sterben, ohne diesem Gegner, der etwas schlangenartig umschlingendes hat, noch mehr ins Ge¬ sicht gesehen zu haben.“601 Die ,Zeit‘ empfand Hofmannsthal - ebenso wie das sie berührende „Grundproblem: Werden und Sein“ (RA III 611) - als dämoni¬ sche Macht. Zahlreiche Motive seines Werkes, angefangen vom Thema des Dra¬ mendebüts Gestern bis hin zum Monolog über das Alter der Marschallin im Ro¬ senkavalier sowie einschlägige Hinweise in seinen Aufzeichnungen erwecken den Eindruck, er habe mit diesem metaphysischen Problem gerungen wie Laokoon mit den Schlangen. Unter das Problem der Zeit läßt sich - ähnlich wie unter den Gedanken des Opfers - eine Reihe von Fragen bündeln, die Hofmannsthal über lange Zeiträume hinweg beschäftigten und die einen Niederschlag in seinem Werk gefunden haben. Nimmt man dem von Hofmannsthal selbst gewählten Bild des Ringens mit dem Dämon Zeit das Pathos, läßt sich dahinter eine ernste

600 In seiner Rezension des erschienen Briefwechsels von Hofmannsthal und Rudolf Pannwitz schlägt Stefan Breuer, der Autor des Buches Anatomie der Konservativen Revolution, vor, die nicht zu jenem „neuen Nationalismus“ zählenden Vertreter der sog. „konservativen Revolution“ unter den Begriff „ästhetischer Fundamentalismus“ zu fassen. Obwohl Breuer si¬ cherlich zu Recht eine Differenzierung innerhalb der vor allem von Armin Möhlers Handbuch geprägten Begriffsbestimmung der „konservativen Revolution“ fordert (siehe oben Teil I.), er¬ scheint mir die Wahl des Begriffes „ästhetischer Fundamentalismus“ in Bezug auf Hofmanns¬ thal eher unpassend, weil die Radikalität, die in dem Wort „Fundamentalismus“ mitklingt, dem auf Synthese und Ausgleich gerichteten Denken Hofmannsthals widerspricht. An dieser Ein¬ schätzung ändert auch Breuers später erschienene Studie Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodemismus (Darmstadt 1995) nichts. Gerade in dem problemati¬ schen Verhältnis zwischen Hofmannsthal und George wird m.E. die Unangemessenheit jener Kategorie für Hofmannsthals Werk deutlich. 601 Hofmannsthal/Burckhardt, Briefwechsel, a.a.O., S. 248.

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Auseinandersetzung mit einigen Thesen zeitgenössischer Geschichtsphilosophie erkennen. 1. „Die Tragödie als Anfang der Geschichte“. Alfred Baeumlers Einleitung zu

Der Mythus von Orient und Occident Der Kontext von Hofmannsthals Bemerkung über seinen Gegner ,Zeit“ ist auf¬ schlußreich: Er reagiert damit auf einen von Burckhardt in einem Brief formu¬ lierten Gedanken über den Unterschied zwischen Klassik und Romantik. Diese Klassifizierungen lassen sich laut Burckhardt erst in Bezug auf den Menschen sinnvoll umsetzen: „Der klassische Mensch [Burckhardt nennt u.a. Lenin als Bei¬ spiel] denkt räumlich, Vergangenes, Gegenwärtiges, Zukünftiges, alles, alles ist in einem großen, groß gesehenen Raum vorhanden

Für ihn habe die Zeit

ihren Schrecken verloren, während der romantische Mensch - diesem Typus ge¬ hören für Burckhardt Wilson, Clemenceau, Lloyd George und Bismarck an - ihr völlig ausgeliefert sei, „ihrer Angst, ihrer Wehmut, ihren kranken Zukunftshoff¬ nungen, er stürzt nach vorwärts, er ist immer froh zu verlassen, aufzubrechen, mitgerissen zu sein, er ist zugleich utopisch und interessiert, er erpreßt beständig Gefühl und Anteil, indem er klagt und verspricht und auf der Saite sentimentalen Mitleids herumspielt“602. Diese Gegenüberstellung vom räumlich denkenden ,klassischen“ Menschen und dem der Zeit ausgelieferten Romantiker erinnert an eine Polarisierung von klassischem und romantischem Denken, die Alfred Baemler etwa ein Jahr zuvor im Rahmen seiner Bachofen-Ausgabe thematisiert hat.1’“' Baeumler unterscheidet im zweiten Kapitel seiner umfangreichen Einleitung „Von Winckelmann bis Bachofen“604 zwischen einer klassisch-ästhetischen und einer romantisch-religiösen Antikenrezeption im 18. und 19. Jahrhundert,6lo eine Aufteilung, die sich im unterschiedlichen Verständnis des Mythos manifestiere: „Die Welt der mythologischen Gestalten ist für Moritz wie für Schelling [beide versteht Baeumler noch als Vertreter der Klassik] aus der Geschichte herausge¬ hoben; sie bildet aber nicht (romantisch) eine ,Urwelt“ vor der Geschichte, son-

602 Hofmannsthal/Burckhardt, Briefwechsel, a.a.O., S. 247 603 Der Mythus von Orient und Occident. Eine Metaphysik der alten Welt. Aus den Werken von J.J. Bachofen. Mit einer Einleitung von Alfred Baeumler hrsg. v. Manfred Schroeter, 2. Aufl. München 1956 (1. Aufl. 1926) - Baeumlers Einleitung umfaßt in dieser Ausgabe die Sei¬ ten XXV - CCXCIV. Sie wurde außerdem unter dem Titel Das mythische Weltalter. Bachofens romantische Deutung des Altertums, München 1965 gesondert veröffentlicht. 604 Angeregt durch dieses Kapitel plante Hofmannsthal nach seinem Deutschen Lesebuch die Herausgabe eines Bandes über das Antikenbild der Deutschen - ein Vorhaben, das nie ver¬ wirklicht wurde. Bei Baeumler ist er auf den Altphilologen Walter Willi gestoßen, nach dem er sich mit dem Hinweis auf das Antikenbuch am 26. Oktober 1926 bei Max Rychner erkundigte; vgl. Hofmannsthal/Rychner, a.a.O., S. 22. 605 Als Vertreter der ersten Gruppe nennt Baeumler Winckelmann, Voß, Lachmann, Mommsen und Wilamowitz, während eine „religiöse Betrachtung“ des Altertums durch Zoega, Creuzer, Jakob Grimm, K.O. Müller, Bachofen, Nietzsche und mit gewissen Einschränkungen auch Rhode repräsentiert sei, a.a.O., S. XCVI.

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dern (klassisch) eine ästhetische Welt über der Geschichte.“606 Die für Hof¬ mannsthal an sich wohl eher uninteressante kategorische Unterscheidung von ,klassisch und ,romantisch

rührt indes an einige zentrale Themen der ,ZeiP-

Problematik, so an die Frage nach dem Anfang von ,Geschichte1 und dem Auf¬ kommen der Tragödie als einem kultisch-religiös motivierten Phänomen, das nach Baeumler diesen Anfang markiert. Für

Hofmannsthals

geschichtsphilosophische

Reflexionen

sind

sowohl

Baeumler als auch Walter Benjamin und Florens Christian Rang von Bedeutung. In einer für die Zeit charakteristischen Weise stehen Baeumlers Thesen und die Gedanken Rangs und Benjamins oft nah beieinander, was jedoch nicht über die Unterschiede hinwegtäuschen sollte. Benjamin selbst spricht in seinem 1934/35 für die Nouvelle Revue Frangaise verfaßten Bachofen-Aufsatz von der „exploitation reactionnaire de Bachofen par le philosophe nazi Alfred Baeumler“608. Im Gegensatz zu Benjamin verherrlicht Baeumler in anti-aufklärerischer Absicht den romantischen Irrationalismus. Beide verbindet jedoch die Erkenntnis eines religionsphilosophischen Gehalts der Tragödie. Daß Hofmannsthal so unverein¬ bar scheinende Denker wie Baeumler, Benjamin und Rang für sein eigenes Nachdenken zu nutzen wußte, ist charakteristisch für die im Wesentlichen auf Synthesen ausgerichtete Denkstruktur des Dichters. Darüberhinaus ist Baeum¬ lers Schrift eng verknüpft mit dem für Hofmannsthal wichtigen Werk des Schweizer Mythologie-Forschers Johann Jakob Bachofen. Auf Alfred Baeumlers 1926 erschienene Einleitung zu Auszügen aus den damals vergriffenen Hauptwerken Bachofens - Das Mutterrecht, Die Lykier und Die Sage von Tanaquil - stieß Hofmannsthal vermutlich während der Vorberei¬ tung seines Deutschen Lesebuchs, in das er einen Abschnitt aus Bachofens Auto¬ biographischen Aufzeichnungen aufnehmen wollte. In der „Gedenktafel“ zu Ba¬ chofen, die Hofmannsthal im Anhang des Lesebuchs veröffentlichte, weist er im Zusammenhang mit jener gerade erschienen Bachofen-Ausgabe auf die Einlei¬ tung Baeumlers hin: Sie sei ein „Aufriss der deutschen Geistesgeschichte und insbesondere der romantischen Wissenschaftsbewegung“, in welcher der junge

606 „Nicht aus ihrem klassischen Mythologiebegriff, sondern aus ihrer Liebe zum Orient stammt das, was die Romantiker für die Entdeckung des Mythus geleistet haben“, fährt Baeumler fort, wodurch zugleich die der Unterscheidung von Klassik und Romantik entspre¬ chende, im Titel dieser Bachofen-Ausgabe gegebene Polarisierung von „Orient und Occident“ angedeutet ist, a.a.O., S. XCVIII (Hervorhebungen im Original). 607 Wahrscheinlich stimmte Hofmannsthal mit Burckhardt darin überein, „daß solch see¬ lenlose Kategorien wie Klassisch und Romantisch, die in der Kunst und Dichtung immer durcheinanderfließen“, nur auf den Menschen angewandt „Tiefe enthalten“, Hofmannsthal/Burckhardt, a.a.O., S. 247. 608 Die Konzeption dieses Aufsatzes reicht in die frühen zwanziger Jahre zurück, was aus einem Brief an Rang hervorgeht; vgl. Benjamin, GS 11,3, S. 963-976, bes. S. 967 ff. Es ist des¬ halb nicht unwahrscheinlich, daß sich Hofmannsthal und Benjamin bei einer ihrer Begegnun¬ gen in Berlin auch über Bachofen unterhalten haben. Baeumlers Nähe zur nazistischen Ideolo¬ gie wurde vorher bereits von Thomas Mann erkannt, der, was den Umgang mit dem ,Mythos1 betrifft, Sigmund Freuds Methode bevorzugte; vgl. Thomas Mann, Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte, in: Essays Bd. 3, a.a.O., S. 153-172.

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Autor „dem Bachofenschen Werk seinen Rang und seine Stelle“ anweise.609 Hofmannsthal begrüßt die Veröffentlichung der beiden „jüngere[n] Gelehrten“ Baeumler und Schröter610, denn dadurch beginne Bachofen, der „ein halbes Jahr¬ hundert das Besitztum nicht zahlreicher, aber ernster Leser“ war, „eine geistige Macht zu werden“.6" Baeumlers Einleitung „Bachofen - Der Mythologe der Romantik“ gliedert sich in drei Abschnitte, dessen zweiter den erwähnten „Aufriss der deutschen Geistesgeschichte“ enthält. Im ersten Kapitel „Olympische Götter und Heroen der Unterwelt“ entwirft Baeumler eine Tragödientheorie, die den bereits erläu¬ terten Theorien612 und der Rang-Benjaminschen Herleitung der Tragödie aus dem Opfer613 ähnelt. Voraussetzung für die Entstehung der ionischen Epik Ho¬ mers (um 800 v. Chr.) und der attischen Tragödie (um 500 v. Chr.) ist für Baeumler eine gewandelte Religiosität. Nur so lasse sich die „Helligkeit“ der Homerischen Götterwelt erklären.614 Der Göttervater Zeus sei lediglich dem Schicksal, der ,Moira“ unterworfen615, während den älteren chthonischen Gott¬ heiten - Thetis und Poseidon zum Beispiel - bei Homer nur eine dienende Rolle zugebilligt werde.616 Die chthonischen Götter Demeter und Dionysos fehlten im homerischen Olymp.617 So habe sich die ältere, chthonische, in der Regel an weibliche Gottheiten gebundene Religion im Zeitalter der Homerischen Epen nur in Form vereinzelter, lokaler Kulte erhalten. In der attischen Tragödie seien diese chthonischen Kulte, die dämonische Nacht- und Todesseite der griechi¬ schen Götterwelt, durch Dionysos, den „Frauengott“618, wiederbelebt worden. Die Tragödie ist nach Baeumler zum einen aus den ,Threnoi“, den meist von Frauen gesungenen Klageliedern um einen Verstorbenen, entstanden.6"' Neben der Totenklage bildeten hippische und gymnische Agone zu Ehren der Toten die religiöse Voraussetzung für die Tragödie.620 Das ,Drama“ als solches gebe es nicht; vielmehr sei die dramatische Gattung als Tragödie entstanden, welche „ei¬ nem religiösen Verhältnis des Dichters zu den Sagenhelden seines Volkes ent¬ sprungen ist“.621

609 Deutsches Lesebuch, a.a.O., S. 318. 610 Manfred Schroeter ist Mitherausgeber des Buches „Der Mythus von Orient und Occident“; s.a. Anm. 195. 611 Deutsches Lesebuch, a.a.O., S. 318. 612 Siehe oben Kap. II. 613 Siehe unten Kapitel V. 614 Baeumler, a.a.O., S. XXX. 615 A.a.O., S. XLI. 616 A.a.O., S. XLIII. 617 A.a.O., S. XLVIII ff. u. LXVII f. 618 A.a.O., S. LXVIII. 619 A.a.O., S. LXII ff. 620 A.a.O., S. LXVI. 621 A.a.O., S. LX.

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Auch Benjamin leitet die Tragödie aus der Sage ab und begründet dies eben¬ so wie Baeumler religionsphilosophisch.622 Nur betrachtet er nicht den ,Dichter', einen hypothetischen Tragödienschreiber, sondern den tragischen Helden selbst, der durch seinen im rituellen Agon herbeigeführten Opfertod zum Propheten eines neuen Gottes, eines zukünftigen, gemeinschaftsstiftenden Volksglaubens wird.

Baeumler dagegen behandelt die Frage nach dem Ursprung der Tragödie

aus poetologischer Perspektive: „Heißt Dichten die Wirklichkeit verklären, dann ist Homer der erste und der letzte Dichter. Was kann aber dichten anderes hei¬ ßen? Die Tragödie weiß eine neue Antwort: Dichten heißt Tote beschwören“.624 Die Beschwörung von Toten sei ein „Gegenwärtigmachen von Vergange¬ nem , weshalb in der dramatische Gattung die ,Zeit‘ im Sinne einer „inneren Ge¬ genwart“ anders als beim Epos einen wichtigen Faktor bilde.625 Obwohl chthonischer Volksglaube - die eleusischen Mysterien und der Dionysoskult - als religiöse Voraussetzung in die Tragödie eingegangen sei, stelle diese selbst als geistige Form der Totenehrung bereits eine Überwindung des primitiveren Volksglaubens dar, dessen verschiedene Kulte sich parallel dazu bis in den späten Hellenismus gehalten hätten.626 Der Triumph der Tragödie sei darauf zurückzu¬ führen, daß sie, „den entgegengesetzten religiösen Voraussetzungen entsprungen [...] zur Klarheit der Sprache Homers zurückgefunden hat“.627 Mit dem Auf¬ kommen des Dramas in Gestalt der attischen Tagödie trete man „gleichsam in das Gebiet der Geschichte hinüber“, denn dort gehe es um „Wirklichkeit, Kult“, während das Epos noch „Traum, Mythus“ sei.628 Baeumler sieht die Leistung der Tragödie in der Tatsache, daß sie den ar¬ chaischen Glauben an die Macht der Dämonen in der Sprache, im Geistigen sub¬ limiert habe. Sie markiere den Anfang der Geschichte, weil sie dem „Bewußt¬ sein“

zur

Herrschaft

verholfen

habe,

wo

die Menschen vorher mythisch

unbewußt, wie im Traum, von der Vorstellung des Todes befreit in „epischer Re¬ ligiosität“ verharrten oder der Herrschaft der alten Dämonen ausgeliefert waren. 2. Hofmannsthal und Bachofen In einem Brief an Max Rychner aus dem Jahr 1924 erwähnte Hofmannsthal, daß er Johann Jakob Bachofens Mutterrecht „in der alten Ausgabe von 1862“ bereits „seit etwa dreissig Jahren“ kenne und er den Autor zu denjenigen Schweizern zähle, die ihm sehr viel bedeuteten.629 Dieser langjährigen Vertrautheit mit dem Hauptwerk Bachofens entsprach eine beinah zärtliche Sympathie für die Person;

622 Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: GW 1,1, S. 286 und GW 1,3, S. 389 (Agon und Theater). 623 Diese Herleitung der Tragödie verdankt Benjamin im wesentlichen Rang, siehe unten Kapitel V. 624 A.a.O., S. LXXVIII. 625 A.a.O., S. LXXX. 626 A.a.O., S. LXXXIV ff. 627 A.a.O., S. LXXXVII. 628 A.a.O., S. LXXXVIII. 629 Hofmannsthal/Rychner, a.a.O., S. 14.

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Carl Jakob Burckhardt, den er öfters um Schriften aus dem Nachlaß Bachofens bat, gestand er einmal: „Ich habe diesen toten Menschen so gern, will ihn an meiner soiree haben.“630 Noch 1928 schrieb Hofmannsthal rückblickend: „Da ist dann J. J. Bachofen. Ich war ein noch junger Mensch, als mir das gewaltige Mythenwerk, ,Das Mutterrecht', in die Hand kam. Nicht durch eine Zeittendenz - denn es war noch beträchtlich vor jener Entdeckung durch Schüler und Klages - , sondern durch die Hand eines ebenso einsa¬ men als vieles wissenden, älteren Freundes. Es war noch ein Exemplar der völlig vergriffenen ersten Ausgabe von 1862, das er mit anvertraute, einmal gar für mehrere Jahre; der durch die Witwe veranstaltete Neudruck von 1897 existierte noch nicht. Was das Buch mir bedeutete, läßt sich kaum sa¬ uen. Ich rechne diesen Mann seit damals wahrhaft zu meinen Lehrern und Wohltätern, und ausgelesen habe ich seine Bücher bis heute nicht.“

Daß Bachofen in Hofmannsthals Deutschem Lesebuch nicht fehlen durfte, ist in Anbetracht solcher Hochachtung selbstverständlich.632 Aus der Betrachtung über etruskische Gräber, die Bachofens Autobiographischen Aufzeichnungen ent¬ nommen ist,633 spricht eine Symbolauffassung, die derjenigen Hofmannsthals verwandt ist. „Grabsteine, Grenzpfähle und Mauern“634 bedeuten Bachofen die ältesten Symbole der Erdverbundenheit des Menschen, die selbst im nomadi¬ schen Zeitalter existierten und vom Sinn der alten Völker für die Ewigkeit zeu¬ gen - wer dächte bei diesen chthonischen Symbolen nicht an Sigismunds Turm? Von den beiden „Wegen der Erkenntnis“ wählt Bachofen den „kürzeren, der mit der Kraft und Schnelligkeit der Elektrizität durchschritten wird, den Weg der Phantasie, welche von dem Anblick und der unmittelbaren Berührung der alten Reste angeregt, ohne Mittelglieder das Wahre wie mit Einem Schlage erfasst.“6’3 Der auf der Möglichkeit von Erkenntnis im mystischen Nu basierenden Symbol¬ theorie ist allem Anschein nach auch Bachofen verpflichtet.

630 Hofmannsthal/Burckhardt, a.a.O., S. 51. Aufgrund weitläufiger Verwandtschaft mit Bachofen war Burckhardt der Nachlaß zugänglich, s. a.a.O., S. 37. Am 6. Oktober 1920 erbat Hofmannsthal Bachofens Griechische Tagebücher, womit die später im Auftrag der Universi¬ tätsbibliothek Basel aus dem Nachlaß von Georg Schmidt herausgegebene Griechische Reise, Heidelberg 1927, gemeint ist, a.a.O., S. 50. Am 4. Juni 1924 schrieb Hofmannsthal an Burck¬ hardt, er wünsche dem Autor des Aufsatzes „Wider J. J. Bachofen“ (in: Wissen and Leben, H. 13., 15. Mai 1924, S. 757-768), dem Züricher Altphilologen Ernst Howald, „nie mehr zu be¬ gegnen“, da dieser sich „in einer, ich kann nicht anders sagen, als häßlichen Weise gegen das Andenken J. J. Bachofens erhoben“ habe, a.a.O., S. 138. 631 In der Steiner-Ausgabe Prosa IV, 477 f., zit. auch bei McKenzie, a.a.O., S. 46. Die deut¬ lichsten Spuren hat diese Rezeption des Bachofenschen Werkes wohl in der Elektra hinterlas¬ sen. 632 Deutsches Lesebuch, 2. verm. Aufl., a.a.O., S. 299-303. Auch in Hofmannsthals Neuen Deutschen Beiträgen ist der geschätzte Autor präsent; dem Mutterrecht entnahm der Herausge¬ ber einen Auszug über die Dichterin Sappho, die wie Sokrates, im .Wahnsinn' der Liebe, in der ,mania‘ zur Zeugung in der Seele des Geliebten erzieht; vgl. NDB, 1.Folge, 3.Heft, S. 61-79. 633 Autobiographische Aufzeichnungen, hrsg. v. Hermann Blocher, Basler Jahrbuch 1907. 634Deutsches Lesebuch, a.a.O., S. 300. 635 Nicht den „weiteren, langsameren, mühsameren“ Weg des rationalen, kombinatori¬ schen Verstandes, a.a.O., S. 301.

131

In die Tradition der Romantiker wurde Bachofen bereits von Alfred Baeumler gestellt.636 Sein Motto für das Mutterrecht, das Orakel des Aeneas „Antiquam exquirite matrem“, zeuge von Bachofens romantischer Denkweise, die unter an¬ derem dann bestehe, „dem Ewigen näher[zu] kommen, das am Anbeginn alles Geschehens steht“.637 Der Ursprung aller Entwicklung liege im Mythus, den Ba¬ chofen als „Erlebnis“ auffasse; Bachofen „mythisiert die Geschichte“. Ihm gehe es nicht um „geschichtliche Tatsachen“, sondern um „Taten des Geistes“, um ei¬ ne „innere Geschichte der Menschheit“, erklärt Alfred Baeumler.638 Von der .Ge¬ schichte zum .Mythus sei Bachofen über die Erforschung der antiken Gräber¬ welt gelangt: In seiner ersten,

1859, also zwei Jahre vor dem Mutterrecht

erschienen „mythologischen Schrift ten

Versuch über die Gräbersymbolik der Al¬

verstehe Bachofen den Mythus als „die Exegese des Symbols“.640 In der Schrift über die Sage des Tanciquil, die ebenfalls in Der Mythus von

Orient und Occident veröffentlicht ist, definiert Bachofen den antiken Mythus folgendermaßen: „Der Mythus aber ist nichts anderes als die Darstellung der Volkserlebnisse im Lichte des religiösen Glaubens“.641 Wie nach ihm Baeumler und Benjamin sieht auch Bachofen in den Mythen religiöse Entwicklungsstufen der Menschheit überliefert. Im Mutterrecht geht er ausführlich auf die Orestie und den Ödipus-Mythos ein, um daran jene von ihm entdeckte Stufenfolge reli¬ giöser Entwicklung vom tellurisch-hetärischen Mutterrecht über das demetrische Eherecht bis zum Durchbruch der Herrschaft des vaterrechtlichen Geistprmzips, welches mythisch formuliert durch den Sieg des pythischen Lichtgottes Apoll herbeigeführt wurde, zu beweisen.642 Die Mythen als „Träger nationaler Erinnerung“ seien zugleich „Erkenntnisquelle für die ursprünglichen Religions-

636 Darauf weist Hofmannsthal in seiner Gedenktafel zu Bachofen hin, s. Deutsches Lese¬ buch, 2. Aufl., a.a.O., S. 318. 637 Dies sei weder eine Flucht aus der Gegenwart, noch die Sehnsucht, einen bestimmten historischen Zustand zu erneueren, meint Baeumler, a.a.O., S. CLXXXVI. Baeumler geht mit seinem Anliegen, Bachofen zum Romantiker par exellence zu stilisieren, so weit, den Titel sei¬ nes Hauptwerkes für schlecht gewählt zu befinden, da ,Mutterrecht“ ein juristischer, systemati¬ scher Begriff sei, wo es doch im Buch nicht um Jurisprudenz, Geschichte oder Ethnologie, sondern um „Mythus“ gehe. Das „Muttertum“ sei gleichbedeutend mit „Vorzeit“, der „niemals auszuschöpfende Vorstellungsquell, aus dem Bachofen hervorströmt“. Bachofens „Mutter“ sei im Grunde „die blaue Blume“ der Romantiker, a.a.O., S. CXCIV. 638 Baeumler, a.a.O., S. CXC. 639 Das Buch basiere auf Bachofens ,Rom-Erlebnis“ im Jahr 1842; vgl. Baeumler, a.a.O., S. CXCVII. Die Reflexion über die etruskischen Gräber aus den Autobiographischen Aufzeich¬ nungen, die Hofmannsthal in das Lesebuch aufgenommen hat, stellt eine wichtige Ergänzung zu dieser Schrift dar; auch Baeumler zitiert an dieser Stelle ausführlich daraus. 640 Baeumler, a.a.O., S. CXCIX. 641 Bachofen, Mythus, a.a.O., S. 541. Die folgenden Aufzeichnungen widersprechen der These Margaret McKenzies, Hofmannsthal habe an Bachofens Werk vor allem die Symbole, nicht so sehr die „Theorie vom Volkserlebnis“ interessiert; vgl. dies., Hofmannsthals Semiramis-Entwürfe auf Grund der Quellen interpretiert, in: Deutsche Beiträge zur geistigen Überliefe¬ rung, Bd. VI, Heidelberg 1970, S. 45-97, hier S. 47. 642 Bachofen, Mythus, a.a.O., S. 264 ff., bes. S. 270 f. Diese Passage ist für Hofmannsthals Griechendramen, Elektra und Ödipus und die Sphinx, von großer Bedeutung.

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anschauungen“, da ihnen die „Erinnerung an [...] alle jene Leiden und Verhän¬ gnisse, die den Umschwung [von älteren Rehgionsstufen in geläuterte Zustände] herbeiführten

und

begleiteten“,

zugrundeliege.643

Geschichtliche

Ereignisse

nähmen im Mythos kultisch-religiöse Ausdrucksformen an. „Jeder große Schritt in der Entwicklung des menschlichen Geschlechts hegt auf dem Gebiete der Re¬ ligion“, denn in Urzeiten sei die Religion „der einzige Träger der Zivilisation“.644

V. Die Gattung Trauerspiel 1. Hofmannsthal und Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels Hofmannsthal zählte zu den wenigen Zeitgenossen, die Walter Benjamins Buch über die Gattung des barocken Trauerspiels zu schätzen wußten. Nachdem Ben¬ jamins Versuch, sich mit dieser Arbeit an der philosophischen Fakultät der Uni¬ versität Frankfurt zu habilitieren, im Jahr 1925 scheiterte,643 war es vor allem Hofmannsthal, der in den darauffolgenden Jahren nicht nur die Publikation vo¬ rantrieb, sondern sich auch nachhaltig um die Verbreitung des Buches in Fach¬ kreisen bemühte.646 Im August 1927 erschien als Vorabdruck in seinen Neuen Deutschen Beiträgen das sogenannte Melancholie-Kapitel.64' Benjamins Dank an Hofmannsthal spiegelt die Bedeutung des Dichters für das Trauerspielbuch wi¬ der: „Und jetzt, da ich es [das Trauerspielbuch] gewissermaßen entlasse, darf ich Ihnen noch einmal innigen Dank für den Beistand sagen, den Sie mir einer manchmal beirrenden Wartezeit haben zuteil werden lassen. Ich weiß nicht, wo das Buch heute läge - beinahe nicht, wie ich zu ihm stände wenn ich nicht in Ihnen den ersten, den verstehendsten, im schönsten Sin¬ ne des Wortes geneigtesten Leser gefunden hätte.“648

Es entsprach Benjamins eigener Hoffnung auf eine Resonanz im Kreis um den Hamburger Kunst- und Kulturwissenschaftlers Aby Warburg,649 daß Hofmanns-

643 Bachofen, Mythus, a.a.O., S. 27. 644 Ebd. 645 Zu den Umständen des Habilitationsgesuches vgl. Benjamin, GS 1,3, S. 895-902. 646 Hofmannsthal schickte das Trauerspielbuch an den befreundeten Münchner Germani¬ sten Walther Brecht, der es positiv aufnahm und sich bereit erklärte, als Gutachter bei Verlagen zu fungieren; vgl. Benjamins Bericht an Scholem, Briefe I, S. 393 ff. Am 3. Februar 1926 emp¬ fahl Hofmannsthal Benjamins Aufsatz über die Surrealisten an den jungen Herausgeber der Neuen Schweizer Rundschau Max Rychner: „Neuerdings kenn ich von ihm eine grosse Arbeit über das deutsche Trauerspiel der Barocke, die ich gleichfalls höchst ausserordentlich finde. Diese erscheint demnächst bei Rowohlt“; vgl. Hugo von Hofmannsthal/Max Rychner, Brief¬ wechsel 1922-1929, hrsg. v. Claudia Mertz-Rychner, Fischer Almanach 87, Frankfurt am Main 1973, S. 9-42, hier S. 18. 647 NDB, 2. Folge, 3.Heft (1927), S. 89-110. 648 Benjamin, Briefe I, S. 452. 649 „Jedenfalls würde ich unter seinen Mitgliedern (zu denen ich selbst keine Beziehungen habe) am ersten akademische und verständnisvolle Rezensenten mir erwarten [...]“; vgl. Ben¬ jamins Brief an Hofmannsthal vom 30. Oktober 1926, Benjamin, Briefe 1, a.a.O., S. 438.

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thal am 12. Dezember 1927 den folgenden, hier in Auszügen wiedergebenen Brief an Erwin Panofsky650 schrieb:

„Sehr geehrter Herr Panofski (!), nehmen Sie es freundlich auf, daß ich um eines bestimmten Zweckes willen unbekannterweise diese Zeilen an Sie richte. Ich habe Ihnen das letzte Heft einer von mir erschienen Zeitschrift geschickt. Es geschieht mit der Bitte, Sie mögen gelegentlich [...] darin den Beitrag lesen, welcher einem ungedruckten Buch von W. Benjamin Über das deutsche Trauerspiel des XVII. Jahrhunderts entnommen ist. (Sie finden am Schluß des Heftes die Inhaltsangabe des ganzen Buches, capitelweise.) Ich finde diese Arbeit, welche ich im Manuskript seit Jahren kenne, ungewöhnlich. Der Verfasser ist sich bewußt, Ihnen und dem Krei¬ se, dem Sie angehören, viel zu verdanken. Er würde es höher schätzen, als irgend anderen Beifall, wenn es die Aufmerksamkeit dieses Kreises errei¬ chen (?) könnte [,..]“651 Das offenbar verlorene Antwortschreiben Erwin Panofskys652 enthielt eine ab¬ lehnende Reaktion, von der Benjamin am 28. Januar 1928 seinem Freund Scholem berichtete: „Diese gute Absicht [Hofmannsthals] mir zu nützen hat - on ne peut plus - echoue (mißglückt und wie!). Er schickte mir einen kühlen, ressen¬ timentgeladenen Antwortbrief Panofskys auf diese Sendung ein. Kannst Du Dir darauf einen Vers machen?“653 Bei Hofmannsthal selbst bedankte sich Benjamin für den erfolglos gebliebenen Versuch eine Woche später, ohne seine Enttäu¬ schung über Panofsky zu verhehlen:

„Daß er ,von Fach“ Kunsthistoriker ist, war mir bekannt. Ich glaubte aber nach der Art seiner ikonographischen Interessen annehmen zu dürfen, er sei ein Mann vom Schlage wenn schon nicht vom Ausmaß von Emile Male, jemand, der wesentlichen Dingen, auch wenn sie nicht sein Fach in seiner ganzen Breite betreffen, Interesse entgegenbringt. Nun bleibt mir nichts als mich, meiner unzeitigen Bitte wegen bei Ihnen zu entschuldigen.“654 War Hofmannsthals Charakteristik des Trauerspielbuches als „ungewöhnlich“ in dem oben zitierten Brief an Panofsky noch neutral formuliert, so fällt sein Urteil in der knappen Einführung des im Anhang der Beiträge wiedergegebenen In-

650 Panofksy hatte 1923 zusammen mit Fritz [Friedrich] Saxl die Studie Dürers Melancho¬ lie 1 veröffentlicht, aus der Benjamin in seinem Trauerspielbuch, vor allem im MelancholieKapitel mehrfach zitiert. 651 Zit. nach Wolfgang Kemp, Walter Benjamin und die Kunstwissenschaft, Teil 2: Walter Benjamin und Aby Warhurg, in: Kritische Berichte 3 (1975), S. 5-25, hier S. 6. Kemp verdankt den ansonsten unveröffentlichten Brief Gerda Sörgel-Panofsky. 652 Weder im Warburg-Institut noch in den Nachlässen von Benjamin, Hofmannsthal und Panofsky ist dieser Brief oder eine Kopie davon zu finden, Kemp, a.a.O., S. 6. 653 Benjamin, Briefe I, a.a.O., S. 457. Trotz der Enttäuschung hat Benjamin auch danach noch versucht, mit dem Warburg Kreis, insbesondere mit Fritz Saxl, diesmal durch die Ver¬ mittlung Scholems, in Kontakt zu treten. Die schlechte Quellenlage erlaubt nur wenig Rück¬ schlüsse auf diese sicherlich interessante Verbindung; vgl. dazu im einzelnen Kemp, a.a.O., S. 6 ff. 654 Benjamin, Briefe /, S. 460, auch abgedruckt in Benjamin, GS 1,3, S. 911.

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haltsverzeichmsses eindeutig positiv aus: die Kapitelüberschriften ließen „den Aufbau dieser bedeutenden Arbeit erkennen“.655 Zwei Aufzeichnungen Hofmannsthals geben Aufschluß über die Rezeption des Trauerspielbuches. 1925 notierte er: „Die Allegorie ist am bleibendsten dort angesiedelt, wo Vergänglichkeit und Ewigkeit am nächsten Zusammenstößen. (Benjamin, ,Ursprung des deutschen Trauerspiels')“ (RA III 580). In einer ein Jahr später verfaßten Anmerkung zu Max Melis Nachfolge-Christi-Spiel findet sich der folgende Hinweis656: „Merkwürdig übrigens, mit Hinblick auf Benjamins Ausführungen — daß hier ein Märtyrerstück vorliegt, und im ,Turm auch, ja in der neuen Fassung, die ich fürs Theater mache, sogar noch entschiedener“ (RA III 586). Aufgrund dieser Quellenlage können zunächst drei Themen des Trauer¬ spielbuches genannt werden, denen Hofmannsthals besonderes Interesse galt: erstens die Figur des Märtyrers, zweitens die Symptome der Melancholie und drittens die geschichtsphilosophischen Aspekte des Allegoriebegriffes. Benja¬ mins Ausführungen zur Figur des Märtyrers und zum Typus des Melancholikers sind mehr oder weniger unmittelbar in Hofmannsthals dramatische Werke ein¬ gegangen, weshalb sie erst im dritten, interpretatorischen Teil der vorliegenden Arbeit behandelt werden. Die geschichtsphilosophischen Implikationen des Al¬ legoriebegriffes hingegen sind aufschlußreich für Hofmannsthals theoretische Überlegungen zur Gattung des Trauerspiels, die er nach dem Krieg zu erneuern versucht, ähnlich wie er es um die Jahrhundertwende unternommen hat, die gro¬ ßen antiken Tragödien für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Der Unterschied zwischen antiker Tragödie und barocken Trauerspiel erschöpft sich nicht in hi¬ storischen Äußerlichkeiten, sondern besitzt eine metaphysische, eine geschichtsbzw. religionsphilosophische Tragweite. Benjamin ist diesen tieferen Zusam¬ menhängen in seiner Studie auf der Spur und greift für seine Darstellung der Tragödie auf Theorien seines Freundes Florens Christian Rang zurück, die auch Hofmannsthal noch im Gedächtnis geblieben sein dürften. Hofmannsthals Nachdenken über die verschiedenen Ausprägungen des Tragischen vollzieht sich im Dialog mit den Schriften dieser beiden Denker. Es wurzelt in jener Frage nach dem ,Werden' und dem ,Sein‘, in dem Problem der ,Zeit‘, welches in der Rang-Benjaminschen Theorie des Tragischen mit seinem anderen großen poetologischen Thema, der Idee des Opfers, zusammenfällt. Ein Wort über das Verhältnis Hofmannsthals zu Benjamin im allgemeinen und über den vermeintlichen Quellencharakter des Trauerspielbuches für Hof¬ mannsthals dramatisches Spätwerk im besonderen: Die Motivation für Hof¬ mannsthals Interesse an Benjamins Schriften war eine doppelte. Zum einen be¬ wunderte er seit der Fektüre des Wahlverwandtschaften-Aufsatzes „die hohe Schönheit der Darstellung bei einem so beispiellosen Eindringen ins Geheim¬ nis“.657 Diese Äußerung verrät, daß Hofmannsthal, obgleich er Benjamin erst

655 NDB, 2. Folge, 3. Heft, 1927, S. 136. 656 Siehe auch Lorenz Jäger, Eine Miszelle zum „Turm“, in: Hofmannsthal-Blätter 1987, H. 36/36, S. 139. 657 HofmannsthaL/Rang, a.a.O., S. 440.

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nach dessen Hinwendung zum Kommunismus persönlich kennengelernt hat, in ihm vor allem den theologisch-mystischen Denker schätzte. Hier stand er - na¬ türlich ohne es zu ahnen — auf der Seite Gershom Scholems, der diese gespaltene Ausrichtung von Benjamins intellektuellem Interesse später als „Janusgesicht“ bezeichnet hat. Den auch für die Erörterung des barocken Herrschertypus im Trauerspielbuch wichtigen Ausdruck „Janusgesicht“ habe Benjamin selbst auf sich angewandt, wobei er ihm - Scholem - stets das mystische Gesicht gezeigt habe.

Zum anderen fand Hofmannsthal, was aus der Aufzeichnung über Melis

Stück und den Turm hervorgeht, in Benjamins Trauerspielbuch gleichsam eine kunstphilosophische Bestätigung der Figuren seiner Dichtung vor. Er konzipier¬ te Sigismund nicht nach der Melancholiker-Typologie Benjamins — die Sympto¬ me der Melancholie waren ihm aus anderen Werken (Burton etc.) längst be¬ kannt -, aber er konnte bei Benjamin die metaphysische Verankerung der Charakterkonzeption des Melancholikers finden, was seinem eigenen, weniger abstrakt ausgerichteten Denken entgegenkam. Der einen, der esoterisch-mystischen, Ausrichtung von Benjamins Denken begegnet der Leser bereits in der dunklen „Erkenntnistheoretischen Vorrede“ des Trauerspielbuches. In dem ,Schreibmaschinenexemplar1, das Benjamin Hof¬ mannsthal im Juni 1925 zugeschickt hat,659 fehlen indes von der damals noch schlicht mit „Einleitung“ überschriebenen Vorrede jene in hohem Maße esoteri¬ schen Anfangspassagen, in denen Benjamin die theoretische Begründung seiner zentralen These liefert: „Das Trauerspiel im Sinn der kunstphilosophischen Ab¬ handlung ist eine Idee“.660 Benjamins ,Ideenlehre1 war Hofmannsthal zunächst

658 Scholem erkennt dieses Janusgesicht“ vor allem in Benjamins sprachphilosophischem Denken. Während seiner Beschäftigung mit Kafka habe er sich gleichermaßen von Berthold Brecht und von ihm beraten lassen, obwohl ihre Auffassungen „diametral entgegengesetzt wa¬ ren“; vgl. Gershom Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, 3. Auflage, Frankfurt am Main 1990, S. 246. Von einem anderen Gespräch über Brecht berichtet Scholem, daß ihm dabei die „Polarisierung in seiner Sprachauffassung zum vollen Bewußtsein“ kam: „Denn jene Liquidation der Magie der Sprache, die einer materialistischen Sprachansicht kon¬ form war, stand ja in unverkennbarer Spannung zu allen seinen früheren, unter theologisch¬ mystischer Inspiration stehenden Sprachbetrachtungen [...]. Er war offenbar zwischen seiner Sympathie für mystische Sprachtheorie und der ebenso stark empfundenen Notwendigkeit, sie im Zusammenhang einer marxistischen Weltbetrachtung zu bekämpfen, hin und her gerissen. Ich sprach ihn darauf an, und er gab diesen Widerspruch ganz unumwunden zu. Es handle sich eben um eine Aufgabe, die er noch nicht bewältigt habe, von der er sich aber große Dinge ver¬ sprach. Sein Janusgesicht“ hatte noch immer den lebendigen Ausdruck.“ a.a.O., S. 259 f. 659 Vgl. Benjamin, Briefe /, S. 387 f. Dieses Exemplar ist mir weder zugänglich, noch fin¬ den sich im Kommentar der Gesammelten Schriften Benjamins irgendwelche Hinweise auf sei¬ nen Verbleib. Mögliche, weise teilte es das Schicksal des an den Verlag Bremer Presse gesandten Typoskriptes des Wahlverwandtschaften-Essays, die Druckvorlage für die Veröffentlichung in den NDB, die als verschollen gilt, vgl. GS 1,3, S. 820. 660 Benjamin, GS 1,1, S. 218. - Die Quellenlage weist bezüglich der Einleitung des an Hofmannsthal gegangenen Manuskriptes Unklarheiten auf: einerseits dürfte jenes .Schreibma¬ schinenexemplar“ mit der Fassung übereinstimmen, die Benjamin im Mai 1925, also einen Mo¬ nat vorher, als Habilitationsschrift in Frankfurt eingereicht hat. In diesem von den Herausge¬ bern der Gesammelten Schriften Benjamins mit dem Sigle [TI] markierten Typoskript fehlt der sogenannte „theoretische Teil der .Vorrede',,, über dessen genauen Umfang an dieser Stelle

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also nicht in seiner endgültigen, vollständigen Version bekannt. Das Problem des ,Ursprungs“ allerdings - womit Benjamin im übrigen auch den Titel seines Wer¬ kes rechtfertigt — war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Hof¬ mannsthals Manuskript bereits ausgeführt.'’61 Die Passage über den ,Ursprung gehört nicht nur mit zu den schwierigsten des gesamten Trauerspielbuches, sie bildet auch den Kern der geschichtsphilosophischen Dimension des Buches, an welcher der mit dem Problem der Zeit ringende Hofmannsthal sehr interessiert gewesen sein dürfte. Anhand der Ausführungen über den ,Ursprung läßt sich al¬ so sowohl jene der Mystik zugeneigte Seite des Benjaminschen Denkens als auch die geschichtsphilosophische Dimension seines Gegenstandes aufzeigen. 2. Der Begriff ,Ursprung“ im Trauerspielbuch In der endgültigen Fassung der „Vorrede“ geht der Definition dessen, was die hi¬ storische Kategorie des Ursprungs662 bedeutet, die in der Auseinandersetzung mit Konrad Burdach und Benedetto Croce gewonnene Erkenntnis voran, daß Kunstformen (Gattungen) sich nicht per Deduktion entwickeln ließen.663 Dies bedeute zwar eine „Entkräftung“, nicht aber eine grundsätzlichen Leugnung der „Regel als kritischer Instanz“.664 Auch Croce habe, obwohl er einer „abstrakte [n] Klassifikation“ jeglichen theoretischen Wert abspricht, die Gültigkeit einer „ge¬ netischen Klassifikation“ eingeräumt, welche nichts anderes sei als die Geschich¬ te. Benjamin sieht hierin den „Kern der Ideenlehre“ erfaßt, auch wenn Croce sich dessen nicht bewußt gewesen sei. Der von Croce erkannte Wert der Ge¬ schichte in der Betrachtung von Kunst komme mit der Ideenlehre der Kunstar¬ ten im „Problem des Ursprungs“ überein.663

keine näheren Angaben gemacht werden, vgl. Benjamin, GS 1,3, S. 956. Mit dem „theoretischen Teil“ ist eine frühere Fassung der „Einleitung“ gemeint, die Benjamin in den Sommermonaten 1924 (von Mai oder Juni bis Mitte September) auf Capri verfaßte, dann aber zurückgestellt ha¬ ben soll, bis er sie für die (auch der Tiedemann/Schweppenhäuser Ausgabe zugrundeliegenden) Druckfassung der erst 1928 bei Rowohlt erschienenen Erstausgabe überarbeitete. Jene frühere „Einleitung“, die einzig in dem 1929 von Benjamin an Gershom Scholem nach Palästina ge¬ sandten Manuskript überliefert ist, vermag laut Kommentar „manche Dunkelheiten der endgültigen Version [der „Vorrede“] aufzuhellen“, s. GS 1,3, S. 925-948. In der Druckfassung sei dieser „theoretische Teil“ durch die ersten Kapitel bis einschließlich des Abschnitts „Monadologie“ ersetzt. Im Inhaltsverzeichnis des Trauerspielbuchs, welches Hofmannsthal im Anhang des NDB-Heftes abdrucken ließ, stimmen die Kapitelüberschriften mit dem Aufbau der Druckfassung überein. Die Zahl und Identität dieser Kapitel deuten daraufhin, daß in Hof¬ mannsthals Manuskript gewisse Thesen des „theoretischen Teiles“ bereits eingearbeitet waren. Leider läßt sich mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln der genaue Wortlaut der „Einlei¬ tung“, die Hofmannsthal vorlag, nicht rekonstruieren. Mit Sicherheit aber enthält diese Fas¬ sung der „Einleitung“ bereits die im folgenden interessierenden Gedanken zum Problem des .Ursprungs“, auch wenn dies in machen Punkten nicht mit den Angaben der Kommentatoren zum Quellenmaterial in vollkommene Übereinstimmung zu bringen ist. 661 Zur Begründung vgl. vorangehende Anmerkung. 662 Benjamin, GS 1,1, a.a.O., S. 225 f. 663 A.a.O., S. 220-225. 664 A.a.O., S. 225. 665 A.a.O., S. 226.

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Im ,Ursprung' bestimmt Benjamin das Verhältnis von Geschichte als fakti¬ scher, vergänglicher Welt - der Dingwelt Platons - und der „ewigen“ Ideen neu. Ursprung dürfe nicht mit „Entstehung“ verwechselt werden: „Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entsprin¬ gendes gemeint. Der Ursprung steht im Fluß des Werdens als Strudel und reißt in seine Rhythmik das Entstehungsmaterial hinein.“666 Im rein Faktischen lasse sich das „Ursprüngliche“ nicht erkennen. Dem Hineinreißen des Materials im Fluß des Werdens sei eine Dialektik eigen, welche „Wiederherstellung“ mit „Unvollendetem“ verbinde. „Alles Ursprüngliche ist unvollendete Restauration der Offenbarung“,667 denn „in jedem Ursprungsphänomen bestimmt sich die Gestalt, unter welcher immer wieder eine Idee mit der geschichtlichen Welt sich auseinandersetzt, bis sie in der Totalität ihrer Geschichte vollendet daliegt.“668 Mit dieser in Aussicht gestellten „Totalität der Geschichte“ meint Benjamin „Offenbarung“; „Ursprung ist also Entelechie“, heißt es ausdrücklich in der frü¬ heren Version der Vorrede.669 Der Philosoph, der nach dem Ursprung, also nach Wesenhaftem, in der ver¬ gänglichen Welt suche - Benjamin nimmt Hegels „echt idealistische Haltung“ aufs Korn - müsse sich die Frage nach der Echtheit der von ihm gefundenen ,Ursprünge' gefallen lassen. Das „Echte - jenes Ursprungssiegel in den Phäno¬ menen“670 - habe mit „Wiederkennen“671 zu tun. Benjamin behauptet, daß das in diesem Sinne „echt Ursprüngliche“ in den „singulärsten und verschrobensten“ ebenso wie in überreifen Phänomenen zu entdecken sei. Dieser These entspricht seine an anderer Stelle formulierte Aufforderung, die „Extreme“ der Kunstwerke zu betrachten. Es gehe nicht darum, die „Einheit“ oder das „Gemeinsame“ dieser vielfältigen (Kunst-)Dinge zu konstruieren. Hierfür seien die „Begriffe“ zustän¬ dig. Zwischen den Dingen (dem Einzelnen) und dem Begriff einerseits und den Dingen und der Idee andererseits bestehe kein analoges Verhältnis. Das Einzelne unter den Begriff gefaßt „bleibt, was es ist - Einzelheit“. Das Einzelne in der Idee „wird, was es nicht war - Totalität.“ Darin liege die „platonische .Ret¬ tung'“672 des Einzelnen.

666 Ebd. 667 So deutlich spricht Benjamin diese These in der Druckfassung nicht aus. Der Satz ent¬ stammt der im Sommer 1924 verfaßten „Einleitung“ des Scholem-Manuskriptes, s. GS 1,3, S. 925-948, hier S. 935, vgl. auch obige Anm. - Die Herausgeber weisen darauf hin, daß Benja¬ min bei der Überarbeitung dieses theoretischen Teiles der Vorrede für die Druckfassung die Begriffe .Offenbarung' und .Entelechie' eliminiert habe. Gerade diese beiden Begriffe aber ste¬ hen im Zusammenhang mit der Theorie des Ursprungs und sind für das Verständnis derselben aufschlußreich, weshalb es sich anbietet, hier auf die besagte „Einleitung“ zurückzugreifen. 668 Ebd. 669 Benjamin, GS 1,3, S. 946. 670 A.a.O., S. 227. 671 Daß Benjamin diesen Begriff durchaus .platonisch“, sogar .mystisch' verwendet, geht wiederum aus der früheren Fassung der Einleitung hervor: „Es ist das Wiedererkennen eines Unerhörten als eines in uralten Zusammenhängen beheimateten. Die Entdeckung einer Aktua¬ lität eines Phänomens als eines Repräsentanten vergessener Zusammenhänge der Offenba¬ rung“, GS 1,3, S. 936. 672 A.a.O., S. 227.

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Die frühere, weitaus einfachere Fassung der Einleitung liefert einige er¬ kenntnistheoretische Voraussetzungen der Benjaminschen ,Ideenlehre“, die die Thesen der esoterischen Vorrede kommentieren. Die Definition des ,Ursprungs führt Benjamin hier zu den Grundproblemen idealistischer Philosophie: Er wen¬ det sich ausdrücklich gegen die Möglichkeit der „mtellektualen Anschauung und begründet dies damit, daß das „Sein der Ideen [...] als Bildhaftes überhaupt nicht gedacht werden“ könne.673 Die Ideen seien überhaupt nie der Gegenstand irgendwelcher Anschauung, weil ihre Entdeckung' nicht über den Weg der Wahrnehmung zu erreichen sei. Als an der Wahrheit teilhaftig könnten sie schlechterdings nicht in „Relation“ gebracht werden. Anders als jede Erkennt¬ nishaltung, die immer in einer intentionalen Relation stehe, sei die Wahrheit „ein aus Ideen gebildetes intentionsloses Sein“, das „an Intentionslosigkeit dem schlichten [Sein] der Dinge gleich, durch Bestandhaftigkeit aber ihm überlegen wäre“.674 „Das der Wahrheit gemäße Verhalten ist nicht ein Meinen im Erken¬ nen, sondern ein [in] sie Eingehen und Verschwinden“.675 Nur so sei die Fabel vom verschleierten „Wahrheitsbilde [zu verstehen], in dessen Enthüllung der zu¬ sammenfällt, der da nach ihr fragt“.676 Die Empirie habe nicht etwa die Funktion, jenes für die Entdeckung der Wahrheit ohnehin unangemessene „Meinen“ zu bestimmen, vielmehr werde sie selbst geprägt von einer aller Phänomenalität ent¬ rückten Gewalt, die allein dem Namen eigne. Die Ideen seien in der „offenbarten Ursprache“ gegeben. Deshalb beschäftige sich die Philosophie von je her mit der Suche nach immer denselben wenigen Worten. Die „Anamnesis“ Platons sei demnach nicht zu verstehen als Erinnerung an Bilder, sondern als Erinnerung an jene Urworte, die Benjamin als „adamistische Namen“ bezeichnet.677 Diese Auszüge zeigen, inwiefern Benjamins mystische Sprachauffassung noch bis in die anspruchvollere „erkenntnistheoretischen Vorrede“ hinein ihre Gültigkeit behält, auch wenn der Verfasser durch die Tilgung gleichsam verräte¬ rischer Termini wie ,Offenbarung“ und .Entelechie“ diesen Eindruck verschleiern wollte.678 Hofmannsthals Eintreten für das Trauerspielbuch läßt sich in Anbe¬ tracht dieser Gedankengänge, die er, wenn nicht schriftlich, so doch im Ge¬ spräch mit Benjamin, erfahren haben dürfte,679 konkreter begründen. Hofmanns¬ thals Bemerkung, das Trauerspielbuch treffe im Innersten mit seiner eigenen

673 Benjamin, GS 1,3, S. 936. 674 A.a.O., S. 937. 675 Ebd. 676 Ebd. Vgl. Schillers Gedicht Das Bildnis zu Sais. 677 Ebd. - Diese Gedankengänge sind in der endgültigen Version der Vorrede weitgehend in das Kapitel „Das Wort als Idee“ eingegangen,vgl., GS 1,1, S. 215-218. 678 Der Grund hierfür mag in Benjamins Beschäftigung mit dem Marxismus liegen, der ihm während seines Italienaufenthaltes vor allem durch Asja Lacis nahegebracht worden war und bis zu einem gewissen Grad zu seiner Arbeit am Trauerspielbuch in Konkurrenz trat, vgl. GS 1,3, S. 879. Die Tilgung der Begriffe kann - um im Bilde Scholems zu bleiben - als Wen¬ dung seines Januskopfes gedeutet werden. 679 Hofmannsthal hat Benjamin in Berlin zweimal persönlich aufgesucht, was Rückschlüs¬ se auf sein großes Interesse an dem Jüngeren erlaubt, weil er - laut Rudolf Hirsch - gewöhnlich keine solche Initiative ergriff.

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Arbeit zusammen, bezieht sich nämlich nicht auf eine oberflächliche Überein¬ stimmung im Interesse an.der bis dahin wenig beachteten Gattung und Epoche der deutschen und europäischen Literatur, sondern erklärt sich vielmehr aus den oben paraphrasierten Gedanken zum Ursprung. Diese stimmen tatsächlich mit Hofmannsthals eigenen poetologischen oder ästhetischen Fragen und Intentio¬ nen überem, was — wie so oft — die Aufzeichnungen aus dem Nachlaß und Ad me ipsum zeigen, ln Ad me ipsum notiert Hofmannsthal wiederholt sein philosophi¬ sches „Grundproblem: Werden und Sein“ (RA III 611 ). Beides seien „dämoni¬ sche Mächte, welche über die Seele verfügen wollen“, wobei Hofmannsthal „das Sem als Unterbewußtsein Allgegenwart“ (RA III 611) verstanden wissen will. Für sich genommen scheint diese Notitz eine grundsätzliche Differenz zwischen Hofmannsthal und Benjamin zu beinhalten: Die Reflexion des Dichters kreist um den Menschen, ist psychologisch, während Benjamin - zumal in der „Vorre¬ de“ - Metaphysik treibt. Eine Variation von Hofmannsthals ,Grundproblem“ allerdings zeigt, daß sein Nachdenken nicht im Psychologischen stecken bleibt, sondern daß dem Be¬ griffspaar „Werden und Sein“ durchaus eine geschichtsphilosophische Dimensi¬ on eignet: Eine von zwei Antinomien, welche er sich in seinem Werk zu lösen vorgenommen hatte, ist „die der vergehenden Zeit und der Dauer“ (RA III 613). Benjamins Definition des Ursprungs nun könnte als eine für Hofmannsthal ak¬ zeptable Lösung dieser Antinomie gedeutet werden. Die Dialektik von Wieder¬ herstellung und Unvollendetem, die die Rhythmik des Ursprungs als einem „dem Werden Entspringenden“ ausmacht, die - wie es in der früheren Fassung noch heißt - „unvollendete Restauration der Offenbarung“ in jedem „Ursprüng¬ lichen“ läßt sich mit Hofmannsthals ästhetischem Platonismus vereinen, der in jenem Zitat Gregor von Nyssas, dem Motto von Ad me ipsum, formuliert ist. Die ewige Sehnsucht des Künstlers nach dem Schönen entspricht dabei dem .Unvoll¬ endeten“ des Benjaminschen .Ursprungs“. An die romantische Theorie des Frag¬ ments und ihre Bedeutung für den Kritikbegriff - das Thema von Benjamins Dissertation - ist hier ebenso zu erinnern wie an Florens Christian Rangs „messianische Kritik“.680 Auch wenn Hofmannsthals, Benjamins und Rangs jeweiliger Glaube an .Offenbarung“ im einzelnen sehr verschieden gewesen sein mag, ge¬ meinsam ist ihnen die platonische Tradition, nach welcher sich die offenbarte Wahrheit per definitionem der menschlichen Erkenntnis und Wahrnehmung entzieht. Benjamins Theorie des Ursprungs steht im Zusammenhang einer kunstphi¬ losophischen Abhandlung. Es geht in seinem Buch um den Ursprung der Gattung des Trauerspiels, um eine im besagten dialektischen Prozess in der Phänomenalität auftauchende Idee. Zugleich weist besonders die erkenntnistheore¬ tische Vorrede über den Bereich der Kunst hinaus. Auch Hofmannsthals künst¬ lerische Intentionen stehen in Zusammenhang mit geschichtsphilosophischen Fragen - zumal seit der Erfahrung des Krieges. Wie aus seinen Werken, den Auf¬ sätzen und den Aufzeichnungen hervorgeht, versucht Hofmannsthal, das Ver¬ hältnis zwischen der zunehmend als chaotisch empfundenen, vergänglichen Welt

680 S. o. Kapitel III.

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und der Ewigkeit als dem Reich der Ideen, der Sphäre des ordnungstiftenden Geistes, neu zu bestimmen. Dabei ist er sich der Schwierigkeit dieses Anspru¬ ches angesichts der Aporien der Moderne bewußt. Dennoch fühlt er sich als Dichter und geistiger Mensch geradezu verpflichtet, sich dieser Aufgabe zu stel¬ len. Mit der Erfahrung des Krieges wird die Frage dringender, wie es möglich ist, an einer Vermittlung jener beiden Sphären mitzuwirken. Benjamins an der Theo¬ rie des Ursprungs entwickelte Ideenlehre bietet ihm eine philosophische Lösung dieses Dilemmas, mit der er den Aporien der geistigen Situation seiner Zeit be¬ gegnen zu können glaubt. In Benjamins Theorie vom Ursprung des deutschen Trauerspiels, nicht als Entstehungsgeschichte einer Gattung verstanden, sondern als dialektische Ver¬ wirklichung einer Idee in der historischen Wirklichkeit, konnte Hofmannsthal die tiefsten Absichten seiner eigenen Trauerspieldichtungen bestätigt finden. Das „Enstehungsmaterial“, das der Ursprungsstrudel in sich hineinzieht, ent¬ spricht denjenigen Elementen, die Hofmannsthal aus dem Fundus der zeitgenös¬ sischen politischen Ereignisse in seine Stücke aufnahm. Die mehr oder minder versteckten Anspielungen auf das Zeitgeschehen seien hier genannt: Die revolu¬ tionären Umbrüche im Turm etwa sind zugleich Reflexe auf die Ereignisse von 1917/18. Olivier, der Gegenspieler des Prinzen Sigismund und Anführer der Massen, trägt die Züge Lenins und wohl auch Hitlers; er ist der Prototyp des modernen totalitären Herrschers, obwohl das Stück in einer weitgehend imagi¬ nären Sphäre, „im Polen des 17. Jahrhunderts, aber mehr der Sage nach“, spielt. Auf subtilere Weise spielt Hofmannsthal auf die zeitgenössische PazifismusDiskussion an. Diese und ähnliche Hinweise auf das Zeitgeschehen könnten als jenes Material aus dem „Fluß des Werdens“ gedeutet werden. Zugleich wollte Hofmannsthal, bemüht um ein angemessenes Verständnis seines Dramas, im Turm das „Überpolitische“ erkannt sehen.681 Er hatte jene ideelle „Totalität der Geschichte“682 vor Augen, die Benjamin ursprünglich noch „Offenbarung“ ge¬ nannt hat. Der Turm stellt gleichwohl ein „Unvollendetes“ dar. Die Unent¬ schlossenheit, die sich in den beiden verschiedenen Dramenschlüssen manife¬ stiert, das Fragmentarische, welches nicht nur dem Semiramis- und PhokasStück, sondern auch dem - vielleicht nur scheinbar - 6!o vollendeten Turm anhaf¬ tet, ist mehr als eine Äußerlichkeit; vor der Folie des Benjaminschen Trauerspiel¬ buches erhält dieser Umstand geradezu eine ontologische Begründung. Mit der Arbeit am Turm knüpft Hofmannsthal gleichsam am Ursprung der Idee des deutschen Trauerspiels, einer während des 18. Jahrhunderts in Vergessenheit ge¬ ratenen poetischen Form, an. Benjamin vergleicht den Ursprung mit einem „Strudel im Fluß des Wer¬ dens“.684 Das Bild des Strudels oder - analog - des Wirbels ist in der mystischen Denktradition ein verbreitetes Motiv, das auch Hofmannsthal gern verwendet, allerdings immer auf den Menschen bezogen. In der ersten Fassung des Turm

681 Vgl. Hofmannsthals Bitte an den befreundeten Germanisten Walter Brecht. 682 Benjamin, GS 1,1, S. 226 083 Hofmannsthal sah die sogenannte „Bühnenfassung“ nicht als die letztgültige an. 084 Benjamin, GS 1,1, S. 226.

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droht der paracelsische Arzt für den Fall, daß der eingekerkerte Sigismund wei¬ ter vernachlässigt wird: „An der Stehe, wo dieses Leben aus den Wurzeln geris¬ sen wird, entsteht ein Wirbel, der uns alle mit sich reißt.“ (SW XVI.l 22). Der „Wirbel des Daseins“ werden von den „großen Russen“ (RA II 471), Tolstoi und Dostojewski, in Napoleon I. erkannt, heißt es in Hofmannsthals Artikel zum 100. Todestag des französischen Kaisers. Noch in der Münchner Rede vergleicht er die Wirkung der „Suchenden“ mit dem dynamischen Bild des Wirbels: »[...] - aber wo Wirbel sind, dort ist Kraft wirksam, Wirbel ziehen Wirbel an sich zu stärkerem Kreisen, und es giebt den Geist nicht, der sich der saugenden Kraft dieses Feldes von ringenden Wirbeln entzöge, er wäre denn ein Abgestorbener.“ (RA III 36)

Auch im Buch der Freunde dient die Metapher dazu, einen spezifisch deutschen Charakterzug zu umschreiben: „Deutsche tun sich viel auf die Tiefe zugute, die nur ein anderes Wort ist als die nicht realisierte Form. Nach ihnen müßte uns die Natur ohne Haut, als wandelnde Abgründe und Wirbel, herumgehen lassen.“ (RA III 275)

Benjamins „Strudel im Fluß des Werdens und Vergehens“, der das „Entste¬ hungsmaterial“ in sich hineinzieht, gleicht in seiner Rhythmik und Dynamik den .Wirbeln1 Hofmannsthals. Die dem Bild eigene Paradoxie wird von beiden aus¬ genutzt: Die Verwendung bei Hofmannsthal zeigt - so unterschiedlich der jeweilige Kontext auch sein mag - die Ambivalenz des Wirbels als fruchtbares, schöpferisches Kraftzentrum einerseits und verschlingender, vernichtender Ab¬ grund andererseits, während Benjamin sogar explizit auf die „Doppeleinsicht“ hinweist, die der Rhythmik des Strudels offensteht: „Sie [die Rhythmik des ,Ur¬ sprungstrudels'] will als Restauration, als Wiederherstellung einerseits, als eben darin Unvollendetes, Unabgeschlossenes andererseits erkannt sein“.685 Die parallele Verwendung des Strudel- bzw. Wirbelmotivs bei Benjamin und Hofmannsthal mag ein Zufall sein und soll hier nicht überbewertet werden. Viel¬ leicht hat der „Strudel“ in Benjamins Einleitung Hofmannsthal verraten, daß er es hier mit einem in mystischen Denkmustern bewanderten Autor zu tun hat. Das Motiv dient neben anderem gleichsam als Schlüssel zur Esoterik des Textes, und Hofmannsthal erwies sich im Gegensatz zu den meisten Zeitgenossen als ein dieser Esoterik Gewachsener. 3. Allegorie Hofmannsthals Notiz, derzufolge die Allegorie am bleibendsten dort angesiedelt sei, „wo Vergänglichkeit und Ewigkeit Zusammentreffen“ (RA III 580), ist ein Zitat Benjamins aus dem Kapitel „Trauer im Ursprung der Allegorie“.686 Isoliert betrachtet, wie es in Hofmannsthals Aufzeichnungen auftaucht, könnte man meinen, die Allegorie werde hier als ein Topos innerhalb der in der Theorie des

685 Benjamin, GS 1,1,S. 226. 686 Bei Benjamin steht: „Die Allegorie ist am bleibendsten

dort angesiedelt,

Vergänglichkeit und Ewigkeit am nächsten Zusammenstößen“, GS 1,1, S. 397.

wo

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Ursprungs sich kristallisierenden Ideenlehre, die Benjamin in seiner Vorrede entwirft, verstanden. Immerhin geht es um den „Ursprung der Allegorie“, und warum sollte der Autor diesen Begriff nicht auch hier in dem von ihm selbst dar¬ gelegten Sinne verwenden? In der Tat rekurriert Benjamin zwei Kapitel vorher, zu Beginn des letzten Buchteils, auf die Einleitung: „Unter allegorischem As¬ pekt“ ließen sich die bislang dargelegten Zusammenhänge zu jener „Idee des Trauerspiels“ sammeln und methodisch befriedigender absichern.687 Der aus den zeitgeschichtlich bedingten Stoffen der Trauerspiele sich assimilierende und an dieser Stelle noch zu konstruierende „Gehalt“ derselben sei ohne „theologische Begriffe“ nicht auszumachen. „Denn kritisch kann die allegorische Grenzform des Trauerspiels einzig vom höheren Bereiche aus, dem theologischen, sich lö¬ sen, während innerhalb einer rein ästhetischen Betrachtung Paradoxie das letzte Wort behalten muß“.688 Durchgängig, bis zum Ende seiner Abhandlung, bleibt Benjamin also seinem selbst gesetzten Anspruch treu, dem geschichtsphiloso¬ phischen Gehalt der Gattung ,Trauerspiel' auf die Spur zu kommen. Der unmittelbare Kontext der von Hofmannsthal zitierten These lenkt ihre Zielrichtung indes auf konkretere Zusammenhänge. Die Allegorie werde vorbe¬ reitet in der Spätantike, als die alten, nicht gänzlich machtlos gewordenen heid¬ nischen Götter in der neuen christlichen Religion weiterlebten. Benjamin beruft sich auf die Beobachtung Useners, daß die heidnischen Götter erst im Zuge ihres Machtverlustes frei für die Kunst und Dichtung geworden seien. Sie dienten den Dichtern - Horaz, Ovid und denen der jüngeren Alexandrinischen Schule - da¬ zu, alle möglichen Ereignisse zu versinnbildlichen, und wurden so nicht anders gehandhabt als abstrakte Begriffe. Diese Entwicklung, so Benjamins Schlußfol¬ gerung, habe die mittelalterliche Allegorie maßgeblich vorbereitet. Die antike Götterwelt wäre ohne die Allegorie ausgestorben, denn eines ihrer stärksten Mo¬ tive sei doch die „Einsicht ins Vergängliche der Dinge und jene Sorge, sie ins Ewige zu retten“.689 Gerade in Zeiten, in denen das Wissen um die Vergänglich¬ keit der „unentrinnbaren Anschauung“ entspringe - so auch im 17. Jahrhundert, als ganz Europa von den Schrecken des Dreißigjährigen Kriegs heimgesucht wurde -, habe die Allegorie Konjunktur. Da sich in solchen Zeiten gewöhnlich auch die zuvor als ,ewig‘ postulierten Rechtsnormen wandelten, was für die Zeit¬ genossen eine besonders bittere Einsicht in die eitle Nichtigkeit der Welt darstel¬ len mußte, sei die Allegorie „am bleibendsten dort angesiedelt, wo Vergänglich¬ keit und Ewigkeit am nächsten Zusammenstößen“.690 Das Auftreten allegorischer Kunstformen häufe sich folglich in Umbruchzeiten, die von Krieg und Chaos geprägt sind, in Zeiten, in denen der Mensch sich der Einsicht in die Nichtigkeit der kreatürlichen Welt nicht entziehen könne. Das klingt - auch wenn Benjamin hier streng historisch argumentiert - nach einer Beschreibung seiner Gegenwart, denn als eine solche Werte und Normen auflösende Umbruchzeit wurden die Kriegs- und Nachkriegsjahre von den Zeitgenossen empfunden. In Anbetracht

687 Benjamin, GS 1,1, S. 391. 688 Ebd. 689 Benjamin, GS 1,1, S. 397. 690 Ebd.

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dieses Kontextes wird klar, warum Hofmannsthal sich den Satz über die Allego¬ rie notierte, stellt er doch eine geschichtsphilosphische Begründung derselben dar, durch die sich ihre von ihm selbst erprobte Erneuerung auf höchstem Ni¬ veau rechtfertigen ließ. Die geschichtsphilosophische Dimension der Allegorie und mithin ihre Be¬ deutung in Hofmannsthals Kampf gegen den „Dämon Zeit“ erschließt sich au¬ ßer über den unmittelbaren Kontext des Benjamin-Zitates noch über eine andere Stelle aus dem Trauerspielbuch. Im Kapitel „Symbol und Allegorie in der Ro¬ mantik“ aus dem zweiten Hauptteil der Schrift, „Allegorie und Trauerspiel“691, würdigt Benjamin Creuzers und Görres’ Leistung, in die Diskussion über den Unterschied von Symbol und Allegorie die „entscheidende Kategorie der Zeit“692 eingebracht zu haben. Creuzer habe das Symbol aufgrund der ihm eigenen „be¬ deutsame [n] Kürze [...] Totalität und gedrungene[n] Exuberanz seines Wesens“ als das geeignete Mittel bestimmt, „das Eine und Unaussprechliche der Religion anzudeuten“.693 Görres ergänze diese These dann dadurch, daß das Symbol „als in sich beschlossenes, gedrungenes, stetig in sich beharrendes Zeichen der Ideen“ zu verstehen sei, während er die Allegorie als „ein successiv fortschreitendes, mit der Zeit selbst in Fluß gekommenes, dramatisch bewegliches, strömendes Abbild derselben [der Ideen]“694 definiere. Symbol und Allegorie verhielten sich zuein¬ ander „wie stumme, große, gewaltige Berg- und Pflanzennatur, und lebendig fortschreitende Menschengeschichte“ (Görres).695 Benjamin konstatiert einen „Widerstreit“ in der Symboltheorie der beiden Romantiker - Görres’ Bild der Wald- und Pflanzenwelt für das Symbol vertrage sich nicht mit Creuzers „Beto¬ nung des Momentanen“ in ihm -, aber dieser Widerspruch weise - so Benjamin „sehr deutlich auf den wahren Sachverhalt“ hin: „Das Zeitmaß der Symbolerfah¬ rung ist das mystische Nu, in welchem das Symbol den Sinn in sein verborgenes und, wenn man so sagen darf, waldiges Innere aufnimmt.“696 Diesem positiv gewendeten „Widerstreit“ der Symboltheorie stellt Benjamin eine „entsprechende Dialektik“ der Allegorie gegenüber, eine Dialektik zwischen „bildlichem Sein und Bedeuten“, in deren „Abgrund“ sich die Allegorie in „kon-

691 Es handelt sich um das zweite Kapitel dieses Teiles, der mit einer Untersuchung der Begriffe „Symbol und Allegorie im Klassizismus“ beginnt; vgl. Benjamin, GS 1,1, S. 336 ff. Im .Klassizismus“, womit Benjamin die von Goethe geprägte Kunstauffassung meint, sei Allegorie (in Folge der griffigen Definition Goethes, nach welcher die Allegorie entstehe, wenn der Dichter zum Allgemeinen das Besondere suche, während der umgekehrte Weg, im Besonderen das Allgemeine zu schauen, zum Symbol führe) nicht besonders hoch geschätzt gewesen. Schopenhauers Verdikt der Allegorie aufgrund ihres bloßen Schrift- oder Hieroglyphencharak¬ ters weiß der Sprachphilosoph Benjamin für seine Theorie positiv zu nutzen: Allegorie [...] ist nicht spielerische Bildenechnik, sondern Ausdruck, so wie Sprache Ausdruck ist, ja so wie Schrift“, a.a.O., S. 339. Es ist kaum anzunehmen, daß Hofmannsthal dieser These nicht beigepflichtet hätte. 692 Benjamin, GS 1,1, S. 342 f. 693 Im Gegensatz zur Sage, a.a.O., S. 342. 694 Ebd. 695 Ebd. 696 Ebd. Diese Definition des Symbolbegriffes erinnert an Hofmannsthals Ausführungen im Gespräch über Gedichte.

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templativer Ruhe“, welche nicht mit „unbeteiligter Süffisanz“ verwechselt wer¬ den dürfe, versenke.697 Im Trauerspiel sei diese „gewaltig brausende“ Dialektik in jenem Abgrund der Allegorie vorzüglich auszumachen. Den Unterschied zwi¬ schen Symbol und Allegorie formuliert Benjamin im Anschluß an die Einsichten der Romantiker: Im Symbol werde „mit der Verklärung des Unterganges das transfigurierte

Antlitz

der

Natur

im

Lichte

der

Erlösung

[...]

flüchtig

[ge] offenbart“, während in der Allegorie „die facies hippocritica der Geschichte als erstarrte Urlandschaft dem Betrachter vor Augen“ liege.6,Als den „Kern der allegorischen Betrachtung“ erklärt Benjamin die „weltliche Exposition der Ge¬ schichte als Leidensgeschichte der Welt; bedeutend ist sie nur in den Stationen ihres Verfalls“.699 Hofmannsthal konnte diese Thesen als eine Bestätigung seiner eigenen dramaturgischen Ziele verstehen. Obwohl er sich bereits um die Jahrhundert¬ wende für die von Grillparzer begonnene Wiederbelebung des Calderönschen Theaters auf den Wiener Bühnen eingesetzt hatte, gewannen die Stücke des spa¬ nischen Barockdichters in den späten Kriegsjahren eine neuartige, tiefere Bedeu¬ tung für Hofmannsthal,700 die von der Erfahrung des Krieges und der sich ab¬ zeichnenden Niederlage nicht zu trennen ist. „Der Krieg hat Hofmannsthal merkwürdig beeinflußt. Er ist Realist, Politiker geworden, er will Wirkungen im Äußeren hervorbringen“ - so beschrieb Josef Redlich diesen Wandel in Hof¬ mannsthals Denken.701 Der Politiker, Jurist und Historiker dachte bei diesem Tagebucheintrag wahrscheinlich an Hofmannsthals in kulturpolitischer Mission unternommene Vortragsreisen und Veröffentlichungen der Kriegsjahre.

Im

Hinblick auf Hofmannsthals dichterische Produktion, die ihm selbst wohl mehr am Herzen lag, und seiner damit einhergehenden theoretischen Reflexion jedoch ist weniger die politische als die spezifisch geschichtsphilosophische Ausrich¬ tung seines Denkens zu betonen. In den Entwürfen zu seinem Trauerspiel Kaiser Pbokas findet sich eine Auf¬ zeichnung, die für Hofmannsthals Auseinandersetzung mit Benjamins Allego¬ riebegriff ebenfalls aufschlußreich ist. Es geht in der Passage, welche Hofmanns¬ thal Ende September 1926 aus dem Trauerspielbuch für ein Gespräch zwischen Phokas und der Tochter des Zauberers Lysipp Cinzia lückenhaft exzerpierte, gleichsam um die dunkle Seite der Kontemplation, die am biblischen Sündenfall nachzuvollziehen sei. Während Gott nämlich, auf seine Schöpfung blickend, feststellt, daß alles gut sei, setze das Böse sich erst „mit der Lust am Wissen [...] vielmehr am Urteil, in dem Menschen sel¬ ber. Das Wissen vom Guten, als Wissen, ist secundär. Es erfolgt aus der

6,7 Ebd. 698 A.a.O., S. 343. 699 Ebd. 700 Calderön war nicht der einzige Barockdichter, dessen Stücke Hofmannsthal bearbeite¬ te. Seine Neufassung von Thomas Otways Das gerettete Venedig, die Moliere-Bearbeitungen Die Heirat wider Willen und Der Bürger als Edelmann sowie später Xenodoxus sind hier eben¬ falls zu erwähnen. 701 Zitiert nach Werner Volke, Hofmannsthal, a.a.O:, S. 141.

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Praxis. Das Wissen vom Bösen - als Wissen ist primär. Es erfolgt aus der Kontemplation. Wissen um Gut und Böse ist also Gegensatz zu allem sachlichen Wissen. Bezogen auf die Tiefe des Subjectiven, ist es im Grunde nur 'Wissen vom Bösen. Es ist ,Geschwätz“ in dem tiefen Sinne in welchem Kierkegaard dieses Wort gefaßt hat.“702

Soweit der erste Teil des Exzerptes, dessen Kontext für das Verständnis von Hofmannsthals Motivation, es sich für sein Stück zu notieren, wichtig ist: Daß „Wissen, nicht Handeln [...] die eigenste Daseinsform des Bösen“ ist, stellt Benjamin bereits einige Seiten vorher - in dem Kapitel „Die Schrecken und Verheißungen des Satan“ - fest.703 Anders als Sokrates, der die Kenntnis des Gu¬ ten als Voraussetzung für gutes Handeln postuliert, glaubt Benjamin ebendies vom Bösen, wofür ihm der barocke Typus des Melancholikers als Beweis dient: Dessen Grübeleien richteten sich nämlich nicht auf ewige Wahrheit, sondern auf die Vielzahl der irdischen Dinge und ihre immanenten Bedeutungsverweise. In dieser aus der Trauer geborenen Vielwisserei wie auch im magischen, analogien¬ bildenden Wissen der Alchemie sieht Benjamin eine Voraussetzung für die Enstehung der barocken Allegorie, die im übrigen ohne jenen Kenntnisreichtum gar nicht zu entschlüsseln sei. Benjamin unterscheidet zwischen einer „absoluten [..] gottlosen Geistigkeit“, die mit dem „schlechthin Materialischen“ die Pole des satanischen Bereiches bildet, und einer „echten [Geistigkeit] des Lebens“.704 Die Allegorie und mit ihr das barocke Trauerspiel zeugten von jener satanischen Gei¬ stigkeit, die für diese melancholische Epoche als Reaktion auf den Dreißigjähri¬ gen Krieg charakteristisch war. Der melancholische Tiefsinn indes habe auch sei¬ ne Grenze. Die schaurig-düsteren Bilder in den Emblembüchern und in der Dichtung stellten als Ausdruck der Vergänglichkeit nicht die letzte Bedeutung des Allegorischen dar. Vielmehr schlage diese trostlose Vergänglichkeit der alle¬ gorischen Bilder in „e inem Elmschwung“ in „die Allegorie der Auferstehung“ um.705 Mit diesem letzten Elmschwung in das „Heil der Rettung“ verrate die Al¬ legorie freilich ihr Eigenstes, das „privilegierte Wissen, die Willkürherrschaft im Bereich der toten Dinge, die vermeintliche Unendlichkeit der Hoffnungslee¬ re“.706 Die „Rettung“ versteht Benjamin als „Treulosigkeit“ der Allegorie; sie lie¬ ge im Paradox der allegorischen Abbildung des Nichts begründet.707 Den besonderen Fall der Allegorie verankert Benjamin im letzten Kapitel seiner Schrift in dem allgemeineren Theodizee-Problem, das Hofmannsthal sich in seinen Aufzeichnungen zum Kaiser Phokas notierte. In „jenem Wissen“, dem satanischen Wissen um Gut und Böse, liege der Ursprung aller allegorischer Be¬ trachtung, erklärt Benjamin in den beiden Sätzen, die Hofmannsthal in seinem Exzerpt, dessen erster Teil oben zitiert wurde, ausließ. Das Allegorische lebe in Abstraktionen,

702 SW XIX 196 und Benjamin, GS 1.1, S. 407. 703 Benjamin, GS 1.1, S. 403. 704 Benjamin, GS 1.1, S. 403 f. 705 Benjamin, GS 1.1, S. 405 f. 706 Benjamin, GS 1.1, S. 406. 707 Ebd.

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„— als Abstraction, als ein Vermögen des Sprachgeistes selbst, ist es im Sündenfall zu Hause, denn Gut u. Böse stehen unbenennbar, als Namenlo¬ se, außerhalb der Namenssprache, in welcher der paradiesische Mensch die Dinge benannt hat u. die er im Abgrund jener Fragestellung (Scientes bonum et malum) verläßt.“708

Den an dieser Stelle wieder ins Spiel gebrachten Reflexionen Benjamins über die Sprache gilt Hofmannsthals Interesse, weil sie sich in wesentlichen Aspekten mit seiner eigenen Sprachtheorie decken. Schon Sigismund hat ausschließlich die pa¬ radiesische, adamitische „Namenssprache“, die „Sprache der Engel“, verstanden, bevor er den Turm verläßt, um die „Sprache der Welt“ zu lernen, woran er schei¬ tert. Im Turm hat er kein Bewußtsein von Gut und Böse; er ist unschuldig, ob¬ wohl er mit einem Tierknochen die „Viecher“ - auch sie nur armselige Kreaturen wie er selbst - brutal ermordet. So wundert es nicht, wenn Hofmannsthal sich für sein Stück über den melancholischen Kaiser Phokas diese Textstelle notierte, in der Benjamin noch einmal seine metaphysisch-religiösen Sprachauffassung im Rahmen des Theodizee-Problems klärt. Daß Hofmannsthal die allegorische Kunstform schon vor seiner Lektüre von Benjamins Trauerspielbuch schätzte, ist nicht allein durch das Kleine Welt¬ theater oder den Jedermann aus dem Jahr 1903 belegt. Bereits im Märchen der 672. Nacht (1895) setzte er allegorische Kunstmittel gleichsam als Korrektiv dem von Anfang an problematisierten ästhetizistischen Symbolismus entgegen.’"7 In Thomas Manns Roman Königliche Hoheit, der 1909 als Vorabdruck in der Neuen Rundschau erschien, sah Hofmannsthal offenbar ebenfalls ein Beispiel für die damals gering geschätzte allegorische Form.710 4. Tragödie und Trauerspiel Benjamin entwickelt seine Theorie der Tragödie und des Trauerspiels in kriti¬ scher Auseinandersetzung mit älteren und jüngeren Theoretikern des Tragi¬ schen. Nahezu für die gesamte bisherige Forschung im Bereich des Tragischen

708 SW XIX 196, und Benjamin, GS 1.1, S. 407. Die folgenden Sätze Benjamins, die Hof¬ mannsthal nicht mehr zitiert, lauten: „Der Name ist für Sprachen nur ein Grund, in welchem die konkreten Elemente wurzeln. Die abstrakten Sprachelemente aber wurzeln im richtenden Urteil.“, ebd. 709 Siehe Hans-Jürgen Schings, Allegorie des Lebens - Zum Formproblem bei Hofmannsthal, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 86 (1967), S. 535-561, bes. S. 561: Das Märchen deutet Schings als Entfaltung einer einzigen Metapher, nämlich derjenigen, der „Unentrinnbarkeit des Lebens“. „Eine durchgeführte Metapher aber - allegorie facit continua metaphora - das ist seit alters wohl die geläufigste Definition der Allegorie.“ Schings’ Fazit lautet: „So entsteht ein symbolisch-allegorisches Gebilde [das Märchen] als Widerlegung des ästhetischen Symbolis¬ mus, Pendant zu jenen dramatischen Moralitäten, die mit Der Tor und der Tod ihren Anfang nahmen.“ 710 Dies geht aus einem Brief Thomas Manns an Hofmannsthal vom 25. Juli 1909 hervor: „Sie brauchten auch das Wort Allegorie, und dieses Wort ist ja ästhetisch recht sehr in Verruf. Mir scheint trotzdem die poetische Allegorie von großem Maße eine hohe Form zu sein, und man kann, scheint mir, den Roman nicht besser erhöhen, als indem man ihn ideal uns kon¬ struktiv macht.“, Briefe 1889-1939, hrsg. v. Erika Mann, Frankfurt am Main 1961, S. 76.

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diagnostiziert er einen Mangel: Zwischen den beiden Gattungen werde entweder überhaupt nicht oder auf der Basis unzulänglicher Kriterien unterschieden.711 Während Volkelt in seiner Ästhetik des Tragischen dem Irrtum unterliege, die Form der antiken Tragödie sei heute noch denkbar, weil sie den Konflikt des In¬ dividuums mit einer höheren sittlichen Weltordnung zeige, komme Nietzsche immerhin das Verdienst zu, in seiner Gehurt der Tragödie das Tragische vom Ethos getrennt und an die Sage gebunden zu haben.71‘ Diese „Emanzipation der Tragödie von der Sittlichkeit

sei allerdings durch den gänzhchenVerzicht auf

die geschichtliche Gegebenheit der antiken Tragödie zu teuer erkauft.713 Dem unter dem Einfluß des nihilistischen Ästhetizismus Richard Wagners stehenden Nietzsche blieben die geschichts- und religionsphilosophischen Begriffe, „in de¬ nen zuletzt die Entscheidung über das Wesen der Tragödie sich ausprägt“, ver¬ schlossen.714 Benjamin redet an dieser Stelle der berühmten Kritik von Wilamowitz-Moellendorf das Wort.715 Gegen das hartnäckige Vorurteil, die Tragödie sei geeignet, die moralischen Probleme der Wirklichkeit abzubilden, wendet Benjamin ein, daß der „morali¬ sche Gehalt tragischer Poesie nicht als ihr letztes Wort, sondern als Moment ih¬ res integralen Wahrheitsgehaltes zu fassen

[sei]: nämlich geschichtsphiloso¬

phisch ,7K Denn alles Moralische sei an das Leben gebunden und nicht in der Kunst abbildbar.717 Ausgehend von der Erkenntnis Wilamowitz-Moellendorfs, daß die attische Tragödie sich aus der Sage entwickelt habe, definiert Benjamin die Tragödie schließlich als die einer bestimmten Tendenz folgende Umbildung der Sage, des epischen Stoffes also. Diese Tendenz des Tragischen erschließe sich durch die Opferidee, auf der tragische Dichtung basiere. Damit beginnt ziemlich unvermit¬ telt Benjamins Integration der Rangschen Thesen zur Entstehung der Tragödie aus einem agonalen Opferritus. Rangs Theorie ist lediglich in einer kurzen Tagebuchaufzeichnung unter dem Titel „Agon und Theater“ überliefert.718 In dieser Notiz skizziert Rang den Gedanken, daß auf einer bestimmten Stufe der Kulturentwicklung Menschenop¬ fer nicht mehr nur als bloße Sühneopfer den Göttern dargebracht worden seien, sondern der jeweils zu Opfernde die Chance zur Flucht erhalten habe. Es sei zu einem Agon, einem Wettlauf zwischen dem Opfer und den Opferheischenden

711 Benjamin, GS 1,1, S. 279. 712 A.a.O., S. 280. 713 Ebd. 714 A.a.O., S. 283. 715 Wie Wilamowitz hält Benjamin Nietzsches These, die Tragödie sei die apollinische Vi¬ sion des dionysischen (Zuschauer-)Chores, für „unhaltbar“, a.a.O., S. 282. 716 A.a.O., S. 283. 717 A.a.O., S. 284. 718 Diese Notiz ist im Kommentar zum Trauerspielbuch abgedruckt, s. GS 1,3, S. 891. Im November 1923 (übrigens einen Monat, bevor Rang Hofmannsthal zum zweiten Mal an ihr Rodauner Gespräch über das Opfer erinnerte) wandte sich der auf Capri weilende Benjamin an den älteren Freund mit der Bitte, ihm seine Tragödientheorie zu erläutern, woraufhin ihm Rang die besagten Tagebuchaufzeichnungen zusandte.

148 um den Altar, gekommen. Konnte jener den Altar unversehrt erreichen, wurde aus ihm der Diener eines gnädigen Gottes; sein Tod bedeutete nun Rettung und Erlösung durch einen neuen Heilsgott. Das Opfer starb stellvertretend für alle. Benjamin rekurriert auf diese Theorie, allerdings ohne den Namen ihres Urheber zu nennen, und definiert das tragische Opfer als „ein erstes und letztes zugleich. Ein letztes im Sinne des Sühneopfers, das Göttern, die ein altes Recht behüten, fällt; ein erstes im Sinn der stellvertretenden Handlung, in welcher neue Inhalte des Volkslebens sich ankündigen“.719 So habe der tragische Tod „die Doppelbe¬ deutung, das alte Recht der Olympischen zu entkräften und als den Erstling ei¬ ner neuen Menschheitsernte dem unbekannten Gott den Helden hinzugeben“.7‘° Die attische Tragödie deutet Benjamin als antiolympische Prophetie, durch die die dämonische Weltordnung durchbrochen werde.721 Das anarchische Moment dieser Opfertheorie ist uns als charakteristisches Denkmuster Rangs aus der Un¬ tersuchung seiner anderen Schriften bereits bekannt. Auch Hofmannsthal dürfte die Spuren, die der gemeinsame Freund im Denken des jungen Akademikers hin¬ terlassen hatte, erkannt haben. Die von Benjamin vorgenommene Herleitung des Tragischen aus der Um¬ bildung der epischen Sage, des Mythos, vermittels der geschichts- und religions¬ philosophischen Deutung eines archaischen Opferritus weist eine eigentümliche Verbindung zur Entstehung des barocken Trauerspiels auf. Im zweiten Teil, wie oben bereits erläutert, wird die Entstehung der Allegorie ebenfalls aus religions¬ philosophischen Umbrüchen heraus erklärt.722 Das Tragische in seinen verschie¬ denen Ausprägungen von antiker Tragödie und barockem Trauerspiel markiert eine jeweils gewandelte Einstellung des Menschen zu seinem Gott. Deshalb insi¬ stiert Benjamin auf den religionsphilosophischen Begriffen, durch welche allein der Gehalt des Trauerspieles zu erfassen sei. Dies muß bei den im folgenden zu referierenden Unterschieden zwischen Tragödie und Trauerspiel im Auge behal¬ ten werden. Tragödie und Trauerspiel sind für Benjamin keine Gegensätze, son¬ dern verschiedene .Tendenzen“ des Tragischen, worin sich die Haltung des Men¬ schen zu seiner Gottheit, das heißt in letzter Konsequenz zum Weltdämon „Tyche“ lautet der Begriff in Hofmannsthals Ad me ipsum (RA III 607) - offen¬ bart. Insofern erkennt Benjamin nicht nur im Trauerspiel, sondern gerade auch in der antiken Tragödie die geschichtsphilosophische Relevanz. Die Leistung der alten Tragödie läßt sich mit Benjamins Worten wie folgt zusammenfassen: „Die griechische, die entscheidende Auseinandersetzung mit der dämoni¬ schen Weltordnung gibt auch der tragischen Dichtung ihre geschichtsphi¬ losophische Signatur. Das Tragische verhält sich zum Dämonischen wie das Paradoxon zur Zweideutigkeit. In allen Paradoxien der Tragödie - im Opfer, das, alter Satzung willfahrend, neue stiftet, im Tod, der Sühne ist und doch das Selbst nur hinrafft, im Ende, das den Sieg dem Menschen de-

719GS 1,1, S. 285. 720 GS 1,1, S. 285 f. 721 A.a.O., S. 288. Vgl. Das unten ausführlich wiedergegebene Zitat. 722 Benjamin folgt der These Useners, siehe oben Kapitel „Allegorie“.

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kretiert und dem Gotte auch - ist die Zweideutigkeit, das Stigma der Dä¬ monen, im Absterben.“723

Benjamin belegt die Herleitung der Tragödie aus dem Agon, wofür ihm auch Rang keine „wissenschaftlich kurrente [n] Fakten“ als Begründung hatte liefern können,724 mit dem ,Schweigen‘ des tragischen Helden, dessen Bedeutung von Franz Rosenzweig entdeckt worden sei: „Der tragische Held hat nur eine Spra¬ che, die ihm vollkommen entspricht: eben das Schweigen. [...] Das Tragische hat sich gerade deshalb die Kunstform des Dramas geschaffen, um das Schweigen darstellen zu können“.725 Dieses Schweigen sei die einzig angemessene Form, in welcher der ausgegrenzte, in „eisiger Einsamkeit des Selbst“ trotzig verharrende Held seiner Befindlichkeit Ausdruck zu geben vermag. Das Recht, von einer ,agonalen‘ Darstellung zu sprechen, gründet nach Benjamin deshalb „in der stummen Beklemmung, welche jeder tragische Vollzug nicht sowohl den Zu¬ schauern mitteilt als in seinen Personen zur Schau stellt. Unter ihnen vollzieht er sich in der sprachlosen Konkurrenz des Agon“.726 Rosenzweigs Verdienst sei es ferner, einen fundamentalen Unterschied zwi¬ schen alter und neuer Tragödie ausfindig gemacht und diesen auch benannt zu haben: In der alten Tragödie sei der Typus des trotzig in sein Selbst vergrabenen Helden immer der gleiche, nur die Handlung sei verschieden. In der „neueren Tragödie“727 dagegen habe die Vielheit der Charaktere dazu geführt, die Darstel¬ lung des „absoluten Menschen“, des „Heiligen“, der ebenso ein immer gleicher Typus ist wie der Held der Antike, wenigstens anzustreben.728 „Die Heiligentra¬ gödie ist die geheime Sehnsucht des [modernen] Tragikers“, die, wenn sie sich auch nicht vollkommen erfüllen läßt, „für das moderne Bewußtsein das genaue Gegenstück zum Helden des antiken [Kunstwerkes]“ ist.729 Den Wandel von der antiken zur neuen Tragödie sieht Benjamin im Tod des Sokrates vorbereitet. Der freiwillige Tod des Sokrates und die Begründung der Freiwilligkeit mit dem Hinweis auf die Unsterblichkeit, wie ihn die platonischen

723 GS 1,1, S. 288. 724 Vgl. Benjamins Brief vom 20. Januar 1924, Briefe /, S. 332, auch abgedruckt in GS 1,3, S. 892. Rang verweist Benjamin lediglich auf seine Historische Psychologie des Karnevals. 725 Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt am Main 1921, S. 98 f. - hier zit. nach GS 1,1,S. 286 f. Benjamin nennt Rosenzweigs „Analyse des .metaethischen Menschen', i.e. der von allen anderen verschiedene Typus des tragischen Helden der griechischen Tragödie,“ einen „Grundstein der Tragödienlehre“, ebd. 726 GS 1,1, S. 286. Später verweist Benjamin außerdem auf Jakob Burckhardt, der „den Agon als Schema“ in seiner Griechischen Kulturgeschichte bestätigt, a.a.O., S. 294. Das tragische Schweigen des Helden läßt an den Schrei jenes Opferbringenden aus dem Gespräch über Ge¬ dichte denken, der die erste symbolische Handlung vollzog. Die These des nicht in Sprache übersetzbaren Symbolbegriffs entspricht der Bedeutung des tragischen Schweigens. 727 Rosenzweigs „neue Tragödie“ komme Benjamins Gattungsbezeichnung „Trauerspiel“, wie dieser selbst bemerkt, sehr nahe, a.a.O., S. 292. 728 Benjamin zitiert Rosenzweig ausführlich: „Und so treibt die neuere Tragödie nach ei¬ nem Ziel, das der antiken ganz fremd ist, nach der Tragödie des absoluten Menschen in seinem Verhältnis zum absoluten Gegenstand“, a.a.O., S. 291. 729 A.a.O., S. 291 f.

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Dialoge Apologie und Phaidon überliefern, stellt laut Benjamin das erste Märty¬ rerdrama dar. Im Sterben des Sokrates werde die alte Tragödie, in welcher der Tod des Helden ein Ende bedeute, parodiert. An die Stelle des tragischen Schweigens sei der platonische Dialog getreten. In diese Richtung deutet Benja¬ min auch das Ende des Symposion730-. Im Dialog trete „die reine dramatische Sprache diesseits von Tragik und von Komik, ihrer Dialektik, auf , wobei dieses „Reindramatische“ das im griechischen Drama allmählich verweltlichte Mysteri¬ um wieder herstelle. Insofern sei die Sprache der Dialoge die Sprache des neuen Dramas, „zumal die des Trauerspiels“.731 An diese Überlegungen anknüpfend, macht Benjamin den zweiten wesentli¬ chen Unterschied zwischen Tragödie und Trauerspiel an der Sprache fest. In der Tragödie werde - wie oben erläutert - im Schweigen des tragischen Helden das prophetische Wort vorbereitet. Jenes prophetische Wort ist der die dämonische, mythische Weltordnung durchbrechende ,Logos1 Florens Christian Rangs, auf dessen Ausführungen Benjamin nach wie vor zurückgreift. Das mit der antiken Tragödie wesentlich verbundene anarchische Moment fehlt der jüngeren Form: Dem Trauerspiel als einem „Spiel vor Traurigen“ eigne vielmehr neben einer ge¬ wissen Ostentation, die vom Einfluß des italienischen Renaissancetheaters her¬ rühre,732 Resignation.733 Das Trauerspiel sei im Gegensatz zur Tragödie „panto¬ mimisch denkbar. Denn an das Wort des Genius ist der Kampf gegen die Dämonie des Rechts gebunden“.734 ,Kampf“, ,Prophetie“ und .Anarchie“735 auf seiten der antiken Tragödie ent¬ sprechen den Signaturen des barocken Trauerspiels: ,Ostentation“, .Resignation“ und .Trauer“. Auf diese Begriffe läßt sich die von Benjamin postulierte, wesentli¬ che Abgrenzung der beiden Gattungen bringen. Dabei ist immer im Auge zu be¬ halten, daß die jüngere Form über die Schritte der Benjaminschen Argumentati¬ on, die oben skizziert wurden, aus der attischen Tragödie deduzierbar ist. Der

730 „Wenn am Ende des Symposion Sokrates, Agathon uns Aristophanes einsam einander gegenübersitzen - sollte es nicht das nüchterne Licht seiner Dialoge sein, das Platon da überm Diskurs vom echten Dichter, der gleicherweise Tragik wie Komödie in sich halte, mit dem Morgen über den Dreien hereinbrechen läßt?“, a.a.O., S. 297. Auch wenn eine Analogie (aus Gründen, die sich im folgenden ergeben) hier gerade nicht herzustellen ist - auf die Verwen¬ dung des Bildes vom „nüchternen Tag“, der mit der Herrschaft Oliviers am Ende der Bühnen¬ fassung des Turm über die Welt hereinbricht, sei dennoch hingewiesen. 731 A.a.O., S. 297. 732 „So ist das Renaissancetheater Italiens, welches mannigfach ins deutsche Barock hinüberwirkt, aus der puren Ostentation, nämlich aus den Trionfi, den Umzügen mit erläuternder Rezitation entstanden, die unter Lorenzo von Medici in Florenz aufkamen“, a.a.0.7,3SnäIIl.der tragische Geist zur Resignation hinleite, hatte bereits Schopenhauer festge¬ stellt - allerdings in Bezug auf die antike Tragödie, die er, wie Benjamin meint, irrtümlicherwei¬ se als Trauerspiel auffaßt, a.a.O., S. 290. 734 A.a.O., S. 297 f. 735 Den Begriff .Anarchie“ verwendet Benjamin nicht. Im Hinblick auf die Bedeutung Rangs für seine Tragödientheorie und nach allem, was oben über Rangs Denken gesagt wurde, steht der Terminus .Anarchie“, genauer wäre vielleicht sogar .produktive Anarchie“, hier gleich¬ wohl zu Recht.

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religionsphilosophisch bedeutsamen Leistung der antiken Tragödie - der Durch¬ brechung der dämonischen Weltordnung - will Benjamin den bislang von der Forschung nicht wahrgenommenen geschichtsphilosophischen Gehalt der ba¬ rocken Trauerspiele gegenüberstellen. Diesem - zwar nicht ohne weiteres zu be¬ nennenden - geschichtsphilosophischen Gehalt kommt Benjamin im Verlauf seiner Untersuchung auf die Spur, etwa, wenn er feststellt, daß in den Dramen des Barock der Schauplatz die ,Geschichte“ ist, in deren trostlose Vergänglichkeit der Mensch, der Held des Trauerspiels, in melancholischer ,acedia‘ verharrend, ein Einsehen hat. Die Leistung der Allegorie besteht nach Benjamin in diesem Zusammenhang darin, Reste der Antike wie etwa die heidnischen Gottheiten über das Mittelalter hinweg bewahrt zu haben. Nach diesen Ausführungen ist Hofmannsthal durchaus zuzustimmen, wenn er seinen Turm als „Märtyrerstück im Hinblick auf Benjamins Ausführungen“ bezeichnet und ergänzt, daß in der sogenannten Bühnenfassung jene Kriterien noch konsequenter erfüllt seien. Man könnte pointiert sagen, die Fassung von 1925 sei der Gattung nach eher eine Tragödie, weil sie die Prophetie der anar¬ chisch-utopischen Herrschaft des Kinderkönigs enthält, während die spätere Fassung, in der Sigismund angesichts des totalitären Machtanspruches Oliviers seine geschichtliche Mission resigniert aufgibt, ein Trauerspiel im Benjaminschen Sinne eines „Spiels vor Traurigen“ darstellt. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Fabel, obwohl vom Barockdichter Calderön übernommen, eine mythische ist, sind für Hofmannsthals Turm sowohl die erläuterten Theorien der Tragödie wie auch die Merkmale des barocken Trauerspiels aufschlußreich. 5. Calderons ,Welttheater1 und Hofmannsthals frühe Konzeption des Tragischen Die Besonderheit der Plofmannsthalschen Bearbeitung der alten, tragischen Fa¬ bel des „Prinzen im Turm“ liegt in seinem Verhältnis zu Calderön de la Barca begründet,736 das - wie er selbst schreibt - „sehr heikel zu erkennen und sehr vorsichtig auszusprechen ist“.737 Einerseits habe er - im Grunde eine Äußerlich¬ keit - „aus dem .Leben ein Traum“ die nackte kahle Anekdote übernommen“ und stehe „zu Calderön im gleichen Verhältnis, wie [er] zu einer alten Parabel oder Chronik stehen könnte“.738 Andererseits bewege er sich „allerdings auf den Spuren Calderons“, indem er „ein .großes Drama“ im Sinn der Haupt- und Staatsaktionen des 17. Jahrhunderts, und im Gegensatz zum .historischen Dra736 Die frühe Prägung durch Calderön ist kaum zu überschätzen. Davon zeugen nicht nur Das Leben ein Traum, sondern auch die mehr oder weniger freien Bearbeitungen Das kleine Welttheater, Das Große Salzburger Welttheater, Die Dame Kobold, Die beiden Götter sowie die Aufzeichnungen zur Calderön-Lektüre im Jahr 1918, RA III 547 ff. und nicht zuletzt die spä¬ teren Stücke Der Turm und Kaiser Phokas. Vgl. auch Clemens Heselhaus, Calderön und Hof¬ mannsthal. Sinn und Form des theologischen Dramas, in: Archiv für das Studium der neuen Spra¬ chen, 106. Jg./191.Bd„ S. 3-30. 737 Hofmannsthal wehrte sich mit dieser Erklärung in einem erstmals von Rudolf Hirsch veröffentlichten Brief gegen die Formulierung eines Kritikers, es gehe ihm darum, „,den Calderon für die deutsche Bühne zu gewinnen'“, Rudolf Hirsch, Unbekannte Äußerungen Hofmanns¬ thals zum „ Turm“, in: Literatur und Kritik 14 (1979), S. 257-259, hier S. 257. 738 Ebd.

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ma‘ des 18. Jahrhunderts aufzubauen suche“.739 In ähnlicher Weise charakteri¬ sierte Hofmannsthal bereits die Verwandtschaft seines Großen Salzburger Welt¬ theaters mit der berühmten auto sacramental des Spaniers: „Dass es ein Geistliches Schauspiel von Calderon gibt, mit dem Namen ,Das große Welttheater‘, weiß alle Welt. Von diesem ist hier die ganze tra¬ gende Metapher entlehnt: daß die Welt ein Schaugerüst aufbaut, worauf die Menschen in ihren von Gott ihnen zugeteilten Rollen, das Spiel des Lebens aufführen; ferner der Titel dieses Spiels und die Namen der sechs Gestalten, durch welche die Menschheit vorgestellt wird — sonst nichts. Diese Bestandteile aber eignen nicht dem großen katholischen Dichter als seine Erfindung, sondern gehören zu dem Schatz von Mythen und Allego¬ rien, die das Mittelalter ausgeformt und den späteren Jahrhunderten Über¬ macht hat.“ (Dr III 107)

Mit dem Salzburger Großen Welttheater zielte Hofmannsthal — wie schon mit dem Jedermann - durch die Anknüpfung an die fast verlorengegangene Tradition des bayrisch-österreichischen Volkstheaters noch hinter das Barocktheater Calderöns zurück ins Mittelalter. Er versteht sich als Künstler, der - so ein Bild, das er selbst verwendet — eine noch glimmende Fackel vom Boden aufhest, die durch Jahrhunderte hindurch gebrannt hat und fast durch den „mit der Französischen Revolution über ganz Europa wehende[n] Geist“ erloschen sei.740 „Das Welt¬ theater ist ein Mysterium oder eine theatralische Allegorie. Es ist dies eine sehr alte dramatische Form, die in allen europäischen Literaturen ihre große Epoche gehabt hat“, schrieb Hofmannsthal in seinem dritten Wiener Brief, den er 1923 für die amerikanische Literaturzeitschrift The Dial verfaßte. 41 Vor diesen „Geist des Rationalismus“ und den der Aufklärung, sogar vor das antropozentristische Weltbild der Renaissance, eine Epoche, an die er selbst in zahlreichen früheren Stücken angeknüpft hatte, will Hofmannsthal also zurück, indem er sich dem Barock und der allegorischen Form zuwendet. Das barocke ,Welttheater1 Calderöns ist nur aus dem theozentrischen Welt¬ bild des ,siglo de oro‘ zu verstehen. In den autos sacramentales, den geistlichen Stücken, wie in den comedias werden Typen742, keine individuellen Charaktere dargestellt, die aus einer festen Weltordnung nicht ausbrechen können. Es gibt keine Angst vor dem Tod, weil dieser nur als Übergang in ein herrlicheres Jen¬ seits verstanden wird.743 Das Leiden auf der Erde ist wesentlich mit dem Men-

739 Dies aber „doch nur insofern, als Calderon auch in seinem Stil ein großes Drama her¬ vorzubringen suchte, wie ich es in meinem Stil suche. Das was ich hervorzubringen suche, steht stilgeschichtlich dem Calderon viel ferner, als etwa der größte Teil der dramatischen Pro¬ duktion unserer Klassiker dem Shakespeare steht“, ebd. 740 RA II 286 f. 741 Dort wiederholt er auch das oben zitierte Vorwort zum Salzburger Großen Welttheater, siehe RA II 285 f. 742 Ernst Robert Curtius, George, Hofmannsthal und Calderon, in ders., Kritische Essays zur europäischen Literatur, 1984, S. 172-201, hier S. 192. 743 Das schönste Beispiel für diesen Umgang mit dem Tod ist für Curtius der sterbende Don Quichote vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, 5. Aufl., Bern 1965, S. 539.

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schenschicksal verbunden, so daß der Versuch, sich davon zu befreien, zwecklos erscheint. Auf der Bühne-werden in symbolischer Handlung Seinszusammen¬ hänge dargestellt, nicht aber innere Konflikte wie etwa im Theater Shakespeares, das häufig der Bühnenkunst des Calderon gegenübergestellt wird.744 Hofmannsthals Interesse an Calderon erklärt sich darüberhinaus aus seiner Verbundenheit mit dem romanischen Kulturkreis.745 Das Theater des Spaniers, dessen künstlerische Qualität er nicht einmal besonders schätzte,746 gehörte nach seinem Verständnis durchaus zum österreichischen Kulturerbe. Denn das habsburgische Reich bildete bis weit ins 17. Jahrhundert hinein als europäische Hegemonialmacht eine „welthistorische Kulturgemeinschaft“.747 In Hofmannsthals Wiederbelebung des Barocktheaters, wie er selbst sie in dem erwähnten Wiener Brief beschreibt, klingt eine kritische Haltung gegenüber der Französischen Revolution, dem Symbol des siegreichen Rationalismus, durch. Damit macht er sich in gewisser Weise die Haltung Goethes zu eigen. In Aufzeichnungen zu einem Vortrag über Goethes Natürliche Tochter aus dem Jahr 1902, dem Entstehungsjahr der Trochäenfassung von Das Lehen ein Traum, deutet Hofmannsthal den dramatischen Stil Goethes selbst in dieser Richtung:745 Goethe wehre die Gegenwart ab, „wo sie krisenhaft sich aufdrängt insbes. so der Französischen Revolution gegenüber“.749 Hofmannsthal erklärt Goethes „Unfähigkeit zum Tragischen [...] aus dem Widerwillen gegen das Historische“.750 In der Typisierung der Figuren entziehe Goethe sie dem eigentlich Tragischen, dessen Gegenstand die Überwindung des Historisch-Erstarrten durch ein sich entbindendes und notwendig zugrundege¬ hendes Individuum sei. Die echte Tragödie fordere nach der Definition Hebbels,

744 So schon Goethe in dem anschaulichen Gleichnis: Das Theater Shakespeares sei wie ei¬ ne Traube, welche man in verschiedenster Form genießen könne, während das Theater Calderöns gekeltertem V^ein entspreche. Hofmannsthal schreibt zu diesem Vergleich, daß „sich al¬ les Entscheidende über die dramatische Form daraus ableiten“ lasse (RA III 73). Hofmannsthal notierte diesen Gedanken über Calderon, als er verschiedene Aufsätze über das Theater plant. Darin „repräsentiert Calderon ,das nicht-psychologische, sondern durchaus in Leben verkör¬ perte. Seine Figuren und Erlebnisse sind eins'“ (RA III 634). Schon in seinem Aufsatz über Eleonora Düse aus dem Jahr 1892 verglich Hofmannsthal Theater- und Weingenuß (RA I 475). Im selben Jahr las Hofmannsthal Otto Ludwigs postum erschienene ShakespeareStudien, denen er wesentliche Einsichten für die eigene dramatische Dichtung verdankte; vgl. Otto Ludwig, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Studien und kritische Schriften, hrsg. V. Adolf Stern, Leipzig 1891. In Hofmannsthals Deutschem Lesebuch findet sich ein Auszug aus Ludwigs Schriften: Das Schauspielerische in Shakespeares Dramen, a.a.O., S. 207 ff. 745 Helmut A. Fiechtner, Hofmannsthal und die romanische Welt, in: Wort und Tat, Bd. II, H. 8 (1948), S. 17-37. 746 Egon Schwarz, Hofmannsthal und Calderon, Den Haag 1962, S. 9. 747 Curtius, George, Hofmannsthal und Calderon, a.a.O., S. 183 und Fiechtner, a.a.O., S. 17. 748 Rudolf Hirsch, Drei Vorträge im Jahr 1902. Mit Aufzeichnungen Hofmannsthals zu „Die Natürliche Tochter“ und „Torquato Tasso“, in: Hofmannsthal-Blätter ,5 H. 26 (1982), S. 3-18. 749 Hirsch, a.a.O., S. 7. 750 Ebd.

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auf welche Hofmannsthal sich hier beruft,751 einen „pathologischen Antheil“ vom Dichter, den Goethe nicht habe leisten wollen. Die Idealität seiner Dra¬ mengestalten sei ihm Rettung in die Form, deren „Inhalt Cultur ist (ähnlich die autos deren Inhalt cultus ist [...]“.752 Vor diesem Hintergrund kann man Hof¬ mannsthals Hinwendung zur Form des Barockdramas nach dem Krieg als eine Suche nach Halt verstehen. Die „Rettung in die Form“ schien ihm eine angemes¬ sene Möglichkeit zu bieten, auf das ihm sich chaotisch darstellende Zeitgesche¬ hen zu reagieren. Die Motivation für Hofmannsthals Interesse am Barock ist nach diesen Ausführungen zunächst als traditionalistisch, wenn nicht gar reaktionär zu ver¬ stehen. Er selbst indes legt Wert darauf, daß auch das Zukunftsweisende, das Neue in seinen Bearbeitungen der alten Stoffe gesehen werde. So weist er in je¬ nem Wiener Brief über das Salzburger Große Welttheater auf die Figur des Bett¬ lers hin: War dieser in den alten Mysterien noch der passive, resignierende, arme Mann, so verkörpert er bei ihm den Revolutionär, den Aufbegehrenden, der die „Weisheit“ zu erschlagen droht und erst in letzter Sekunde, als diese für ihn be¬ tet, gleichsam durch die im mystischen Nu gewonnene Erkenntnis der Vergeb¬ lichkeit seiner Tat daran gehindert wird. In diesem Bettler gibt Hofmannsthal eine „dichterisch[e] oder religiös[e]“ (RA II 288) Antwort auf die dringenste Frage der Gegenwart, „die drohende oder höhnende Frage des Chaos an die ,Ordnung“1 (RA II 287). Der Amerikaner Eugene O’Neill habe diese Frage in seinem Stück The Hairy Ape vom Standpunkt der Gesellschaft optimistisch, wenn auch mit Ironie, beantwortet, während die Antwort des Expressionismus bereits in der Fragestellung als eine pessimistische vorweggenommen sei.753 Das zusammen mit Max Reinhardt verwirklichte Projekt des Salzburger Großen

Welttheaters

sieht

Hofmannsthal

nur

als

einen

„Teil

eines

viel

allgemeineren und komplexeren geistigen Geschehens. Wir sind ohne Zweifel auf dem mühsamen Wege, uns eine neue Wirklichkeit zu schaffen, und diese Schöpfung geht nur durch den vollkommenen Zweifel an der Realität, also durch den Traum

hindurch“

Hofmannsthal abgeschlossenen

auch

(RA

die

II

290).

symbolische

Sigismund-Stückes,

Mit

dieser Selbsteinschätzung verrät

Tragweite

dessen

Kern

des

damals

noch

das

barocke

Thema

nicht des

desengano, der Differenz von Sein und Schein, bildet.

751 „Hebbel: tragische That d.h. eine in sich des welthistorischen Zweckes wegen nothwendige, zugleich aber das mit der Vollbringung beauftragte Individuum wegen seiner partiellen Verletzung des sittlichen Gesetzes vernichtende“, Hirsch, a.a.O., S. 7. 752 A.a.O., S. 8. 753 RA II 287 f. Die blitzartige Wandlung des Bettlers erschien indes nicht wenigen Zeit¬ genossen als ein nicht ganz überzeugendes Wunder: Werner Volke, a.a.O., S. 104 f. zitiert in diesem Zusammenhang Richard Strauß: „So schön dichterisch die Idee des Umschwungs im Bettler ist, meinem dramatischen Empfinden steht doch ein Knax im Wege, der sich zwischen der eigentlichen dramatischen Lösung (d.h. der Vollendung der Zerstörung) und dem christli¬ chen Gedanken der plötzlichen Umkehr findet [...] Die Errettung zur Freiheit hat etwas vom Wunder und scheint mir von außen hineingetragen. Ihr Bettler spielt seine Figur nicht richtig zu Ende, sondern wird gerade im entscheidenden Moment von Hofmannsthal erleuchtet.“ In eine ähnliche Richtung zielt später häufig die Kritik an der Kinderkönigfassung des Turm.

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3. Teil: Hofmannsthals späte Trauerspieldichtung: Die beiden Götter, Der Turm und Kaiser Phokas I. Das Semiramis-Fragment 1. Der Opernentwurf von 1908/09 Im Zuge seiner Bemühungen, das Werk Calderon de la Barcas in der österreichi¬ schen Bühnentradition lebendig zu erhalten,754 nahm Hofmannsthal im Jahr 1917 einen Stoff des spanischen Dramatikers wieder auf, an dem er sich bereits vor dem Krieg als Librettist versucht hatte: 1908 sollte die cömedia La hija del aire, die das Schicksal der legendären babylonischen Kaiserin Semiramis behandelt, den Stoff für eine gemeinsam mit Richard Strauß geplante Oper bieten.755 Hof¬ mannsthals Hinweis auf die Entstehung dieses Opernplanes verrät mehr über das Stück als ein bloßes Datum: „[...] hauptsächlich konzipiert während der Gene¬ ralprobe der ,Elektra' in Wien, während die Mildenburg als Klytämnestra sang, 22. III. 1909“ (SW VI 114). Die Oper sollte den Orientalismus der Griechen¬ dramen fortführen. Da ihm dies jedoch nicht gelang, nahm Hofmannsthal bald darauf wieder Abstand von dem Semiramis-Projekt.756 Das Stück war in zwei Aufzügen mit einem Vor- und Nachspiel geplant. Das Vorspiel „liegt achtzehn Jahre vor dem Stück“, zu einer Zeit, als Semiramis fünfzehn Jahre alt ist; in der Haupthandlung hat sie folglich das Todesalter Alex¬ anders des Großen und Jesu Christi - nämlich 33 Jahre - erreicht.757 Das Leben der Semiramis in zwei verschiedenen Phasen vorzustellen war bereits ein Kunst¬ griff Calderons, der zwischen den beiden Teilen seiner Tochter der Luft zwanzig Jahre vergehen läßt. Die Handlung bei Hofmannsthal unterscheidet sich in den

754 Nachdem Leopold von Andrian 1918 Generalintendant des Burgtheaters wurde, plante Hofmannsthal jedes Jahr ein Stück von Calderon zu bearbeiten, Volke, a.a.O., S. 157 und Diet¬ rich Briesemeister, Der Arzt seiner Ehre und Das Große Welttheater in deutschen Übersetzun¬ gen und Bearbeitungen, in: Calderon. Fremdheit und Nähe eines spanischen Barockdramatikers, hrsg. v. Angel San Miguel mit einem Vorwort von Hans Flasche, Frankfurt am Main 1987, S. 161-189, hierS. 186 f. 755 Erste Entwürfe einer Bearbeitung des Stückes stammen bereits aus dem Jahr 1905, wo¬ bei einzelne Notizen sogar noch früher, parallel zu Das Leben ein Traum entstanden sind. Der Opernplan und seine fragmentarische Ausführung datiert von 1908/09, zur Entstehung siehe Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke VI, Dramen 4, Das Bergwerk zu Falun. Semiramis. Die beiden Götter, hrsg. v. Hans-Georg Dewitz, Frankfurt am Main 1995, S. 105-156 (Text) und S. 303-399 (Erläuterungen), bes. S. 303 ff. (Entstehung). Zitate aus diesem Band werden wie üblich unmittelbar im Text nach den im Literaturverzeichnis angegebenen Siglen gekenn¬ zeichnet. Zur Entstehung siehe ferner Margaret McKenzie, Hofmannsthals Semiramis-Entwürfe auf Grund der Quellen interpretiert, in: Deutsche Beiträge zur geistigen Überlieferung, VI (1970), S. 45-97, hierS. 48. 756 1 9 1 0 schrieb Hofmannsthal an Strauß: .„Semiramis' ist mir meilenfern. Keinerlei gei¬ stige und materielle Vorteile vermöchten, diesen Stoff aus mir herauszupumpen, auch mein fe¬ sterer Wille nicht, wie ja überhaupt Wille in solchen Dingen machtlos ist“ (SW VI 342). 757 Vgl. SW VI 114

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Grundzügen nicht wesentlich von derjenigen des spanischen Stückes, soweit die wenigen Skizzen einen solchen Schluß erlauben. Semiramis heiratet den assyrischen Herrscher Ninos, den sie - wie es ihr prophezeit ist - tötet, um als grausame Tyrannin zu herrschen: Sie führt Kriege, ermordet zahlreiche Liebhaber und hält ihren einzigen Sohn, Ninyas, der ihr an äußerer Gestalt zum Verwechseln ähnlich sieht, in einer Berghöhle gefangen. Während Semiramis in Calderons Stück, als Ninyas verkleidet, in einer Schlacht stirbt und ihre Taten erst im Sterben bereut, läßt Hofmannsthal sie ihre Liebesunfähigkeit bereits früher erkennen. Sie beschließt, den Sohn Ninyas, der bei Hofmannsthal auch Ninus heißt, in ihre Gewänder gekleidet, regieren zu lassen, und zieht sich, von ihrem Gewissen gequält, aber vom Volk als Göttin verehrt, zum Sterben zurück. 1.1. Semiramis - Bachofens Herrscherin des gynaikokratischen Zeitalters Schon Calderons Semiramis ist als Tochter einer verführten Nymphe, die den Zorn der Göttin Artemis auf sich gezogen hat, eine halbmythische Figur; allein die Liebesgöttin Aphrodite758 und mit ihr die Vögel beschützten sie. Daher rührt der Titel Tochter der Luft, den Hofmannsthal später, in den Aufzeichnungen Die beiden Götter von 1919, dahingehend deutet, „daß sie [Semiramis] aus der Ema¬ nation des Mächtigen, Herrschenden geboren ist: sie ist die Herrschaft, das Irra¬ tionale des Herrschenden“ (SW VI 151). Diese Bedeutung erhält nach der Erfah¬ rung von Krieg und Revolution, als sich Hofmannsthal der dramatischen Gestaltung des ,Problems der Herrschaft“ widmete,ein besonderes Gewicht. In den Entwürfen der Vorkriegszeit interessierte Hofmannsthal vor allem die mythische Dimension der Semiramis-Figur; sie trägt die Züge einer Herrscherin des von Bachofen beschriebenen gynaikokratischen Zeitalters.760 Wenn im Vorspiel der Priester der jungen Semiramis, sie langsam umschrei¬ tend, ihr Schicksal prophezeit und sie anruft mit: „Du heiliges Gefäss des Le¬ bens, todgebendes, du verschlossener Thurm, Du Jungfrau und Möglichkeit der grossen Hure [...]“ (SW VI 108), dann charakterisiert er sie mittels der Symbo¬ lik des Mutterrechts. Ein Gefäß ist, ebenso wie ein Haus, eine Höhle oder ein Zimmer, Symbol für die Frau, für die potentielle Mutter, deren Macht in jenen mythischen Zeiten darauf gründet, daß sie - wie die Erde - zugleich als Lebens¬ spenderin und Lebensvernichterin Ehrfurcht einflößt.76' Die Erde, das stoffliche, chthonische Element, wird darüberhinaus in Mauern und Türmen symbolisiert. Der erste, als „Geburt“ aus dem Turm inszenierte Auftritt Sigismunds wäre ohne diese Symbolik nicht verständlich. Die Frau des ältesten hetärischen Zeitalters ist die „große Hure“, weil sie nicht wie später in der demetrischen Epoche an einen Ehemann gebunden ist, sondern mit allen Männern verkehrt. Die Aufgabe des Mannes im mutterrechtlichen Zeitalter erschöpft sich denn auch in der Zeugung

758 So in östlicher Tradition, bei Calderon ist sie Priesterin der Venus, McKenzie, a.a.O., S. 49. 759 Vgl. Redlichs Bemerkung, Hofmannsthal sei durch den Krieg zum Politiker geworden. 760 Diese weist McKenzie in dem oben erwähnten Aufsatz im Einzelnen nach. 761 McKenzie, a.a.O., S. 50.

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der Nachkommenschaft; der Mann besitzt keinerlei Macht. Dem Symbol des Weiblichen, der Erde, dem Tellurischen, steht das dem männlichen Prinzip zu¬ geordnete Uranische, die Symbole der Luft und des Wassers, gegenüber.762 So hofft die junge, von Liebes- und Todeswollust getriebene Semiramis des Vor¬ spiels, von einem Adler, in dem sie den Göttervater Zeus wähnt,763 und einem aus dem Schilf auftauchenden Lischer befruchtet zu werden. Der bischer, „Stell¬ vertreter des allzeugenden Okeanos“764, wird - weil er Semiramis nackt auf der Klippe stehen sieht - im Auftrag des Priesters geopfert. Obwohl dieses blutige Menschenopfer hier nicht an prominenter Stelle steht, ist es im Hinblick auf die anderen Opferhandlungen in Hofmannsthals Werk als Motiv bemerkenswert.765 Wollüstige Liebes- und Todessehnsucht charakterisiert die mythische Semiramis. Die in blutiger Agonie verendenden Beutetiere und die drastische Schilderung ihrer künftigen Greueltaten, seitens des Priesters als Warnung gemeint, treiben die Jungfrau in eine orgiastische Ekstase, die sie in die alles Leben beherrschende, göttliche Mutter verwandelt: „Wie sie auf der Klippe steht und vor sich den nackten Abgrund, die riesi¬ ge leere Welt ausgebreitet sieht, überkommt sie ein spasme: sie will sich von der Luft, die hinstreicht über diese Leere, von dem ungeheuren Geist des Abgrunds will sie sich zur Mutter machen lassen: es ist eine Blutwelle, ein

unarticulierter

Wunsch,

ungeheuer

befruchtet

zu

werden,

diese

Bergthäler zu bevölkern, Hirtenvölker aus ihrem Schoß hervorstürzen zu lassen wie Bergströme [...]“ (SW VI 109)

Im Vorspiel heißt es, Semiramis „duldet kein Gewand“ (SW VI 107); unbeklei¬ det gibt sie sich ihrer Vereinigungs- und Auflösungssehnsucht hin. Ihre Blöße bedeutet mehr als der dem ekstatischen Zustand angemessene Ausdruck ihrer Wollust. Was Paul Requadt an anderen Beispielen aus Hofmannsthals Werk für das Symbol des Mantels nachgewiesen hat,766 gilt auch hier: Das fehlende Ge¬ wand der Semiramis deutet auf ihre Sprachlosigkeit hin. Ihre Prägen „Was ist das, diese Wollust?“ und „Können das auch Menschen geben - sich geben (so wie ich mich verwunde zur Wollust)“ (SW VI 111) zeugen von der Unbegreif¬ lichkeit dessen, was in ihr vorgeht. „Starr“(SW VI 108) vernimmt Semiramis die Prophezeiung ihres Schicksals. Das fehlende Ich-Bewußtsein ist die Signatur ih¬ rer Person.

762 McKenzie, a.a.O., S. 51. 763 Sie erwartet den Adler, „der wie jener anderen [i.d. Leda] der Schwan, Umarmung und Tod bringt.“ (SW VI 107). 764 Bachofen zit. nach McKenzie, a.a.O., S. 51. McKenzie deutet sogar Hofmannsthals kurze Beschreibung des Szenenbildes - „links unten der Fischer, aufsteigend jäh eine braunrothe Wand, oben, in einer Lücke wie eine große Schiess-scharte, die wundervolle Jungfrau“ (SW VI 109) - als Ausdruck mutterrechtlicher Machtverhältnisse mittels Bachofen, der „links“ mit „weiblich leidend“ und „rechts“, wo angeblich die Jungfrau steht, mit „männlich" gleich¬ setzt. 765 Vgl. Hans Richard Brittnacher, Erschöpfung und Gewalt. Opferphantasien in der Litera¬ tur des Fin de siecle, Köln Weimar Wien 2001 766 Paul Requadt, Sprachverleugnung und Mantelsymbolik im Werke Hofmannsthals, in. Deutsche Vierteijahresschrift 29 (1955), S. 255-283, siehe unten 3. Teil, Kapitel II.5.2.

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Dem entspricht, was Hofmannsthal sich unter „Wesentliches“ gleich mehr¬ fach notiert: „Im Vorspiel zu fixieren, daß sie nicht träumt.“ (SW VI 117). „Da sie den Traum nicht kennt, hält sie alle ihre Visionen für realität“ (SW VI 116)767 - so das Erscheinen ihres ersten ermordeten Mannes Ninus in ihren traumlosen Nächten. Erst als sie in ihrem eingekerkerten Sohn ihr Spiegelbild erkennt, „be¬ mächtigt sich ihrer der Träume nicht gewohnten Seele ein furchtbares ,Das bist du?‘“ (SW VI 116). Ihr Selbstbewußtsein und damit das Erwachen ihres Gewis¬ sens ist an die Fähigkeit zu träumen gekoppelt. „Früher griff sie in die Welt“ (SW VI 115), sie hatte keinerlei Distanz zu ihren Taten, die sie „in einem voll¬ kommenen Schlaf“ tat. Ihr Bewußtsein war nur „Staunen“, welches bei ihr zum „Genie“, zur „Hybris“ entwickelt war (SW VI 116). Der Umschwung aus jenem Zustand der unbewußten Traumlosigkeit in den des Selbstbewnßtseins und des erwachten Gewissens ist laut Hofmannsthal das Thema des Stückes, eine „dop¬ pelte Krise“, der „Zusammenbruch“ der Semiramis: „Es handelt sich darum, dass der Glaube an ihre Göttlichkeit in ihr schon mürbe durch 2-3 Anstösse völlig und rasch zusammenbricht“ (SW VI 114).768 Im Hinblick auf das Thema des desengano läßt sich die Figur der Semiramis mit dem gefangenen Prinzen Sigismund aus Das Leben ein Traum vergleichen.769 Sigismund verbringt seine Kindheit und Jugend in ähnlicher Weise von der Welt isoliert wie Semiramis, die - wie dies schon bei Calderön konzipiert ist - allein in einer Höhle im Wald aufwächst. Seine einzige Beschäftigung im Verlies besteht im Ermorden der Tiere um ihn herum, er vernichtet das einzig Lebendige, das ihn in seiner Einsamkeit umgibt. Sich und die ,Welt‘ kann er nicht getrennt er¬ fahren; er hat keine Distanz zur Welt und damit kein Ich-Bewußtsein. Auch sein Dasein ist zunächst, wie das der zukünftigen Gewaltherrscherin, traumlos und ohne Sprache. Erst nachdem er die ,Welt‘ als Schein-Welt erfahren hat - es ist ihm erklärt worden, er habe seine gewaltvolle Thronerrungenschaft nur geträumt - und damit zu Selbstbewußtsein gelangt ist, erfüllt er die Voraussetzung für moralisches Handeln, das ihn zum christlichen Herrscher qualifiziert. Die Taten Sigismunds einerseits, das lustvolle Quälen und Töten der Tiere und seine erste Tat in der ,Welt‘, der Sturz des Vaters und die gewaltvolle Aneignung des Thro¬ nes, und die Gewalttaten der Semiramis andererseits zeichnen sich dadurch aus, daß die Täter durch dieses Tun keine Distanz zur Welt und zu sich gewinnen können. Ihre Taten sind dämonische Äußerungen uneingeschränkter Gewalt und liegen deshalb jenseits einer moralischen Beurteilung. Beide erfüllen das Schicksal, das ihnen prophezeit war, und indem sie es erfüllen, gelangen sie zur Selbsterkenntnis, zu einem Gewissen, wodurch sie sich von ihrem Schicksal be¬ freien, es überwinden und damit zu moralischem Handeln befähigt werden.770

767 „Da sie jung war, kannte sie ihre Träume nicht.“ (SW VI 114). 768 Einer dieser Anstöße ist, daß sie, „die niemals träumte“, sogar bei Tage von dem Geist ihres ermordeten Gatten verfolgt wird (SW VI 114 f.). 769 Dies gilt auch, obwohl Hofmannsthal nur auf die Verwandtschaft zwischen Sigismund und dem Sohn der Semiramis verweist, siehe unten im folgenden Kapitel. 770 Hierin liegt der wesentliche Unterschied zu Calderöns Semiramis, die erst im Tod mit ihrem Gewissen konfrontiert wird und ohne eine solche Wandlung zu vollziehen stirbt.

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1.2. Ninyas/Ninus - Sohn des Dionysos Hofmannsthal weist in den Aufzeichnungen zum Semiramis-Drama selbst auf Sigismund hin: Ninus, der in einem „Turmverlies“ gefangene Sohn der Kaiserin, „fließt mit Sigismund stark zusammen, vielleicht vorher ein Auftritt im däm¬ mernden Hof, wo er Tiere tötet“ (SW VI 109). Unter das Wort „Mutter“, ein Synonym für „Du“, fasse Ninus „nach Kinderweise alles Geheimnisvolle, Grau¬ sige, Mächtige auf, alles draußen: die Nacht, die Sonne, den Sturm, den Donner“ (SW VI 107). Nach der Theorie Bachofens befindet sich Ninus in jenem frühen Stadium der Menschheitsentwicklung, in dem der ,Mutter* als Vertreterin der Erdgöttin alle Macht und Verehrung zukommt. Ninus und Semiramis werden von Hofmannsthal nicht als Charaktere, sondern als Begriffe konzipiert: Der Sohn steht für das „Ich“ und das „Erdulden“, die Mutter dagegen für „Welt“ und „Gewalt“ (SW VI 107). Hofmannsthal wollte „so grosse Gestalten machen wie die Sternbilder, über deren Brustwölbung eine Weltenreise ist“ (SW VI 112). Der unmittelbare Einfluß des Bachofenschen Mutterrechts auf diesen Semi¬ ramis-Entwurf wird ferner in einer zu Beginn des ersten Aufzuges eingeschobe¬ nen Pantomime und vor allem im Nachspiel deutlich. Während Semiramis’ Toi¬ lette im Zelt ihres Kriegslagers wird eine Pantomime ihres früheren Lebens aufgeführt, in dem sie „ganz schamlos, wie eine Gottheit behandelt“ (SW VI 111) wird. Ihr „schauerlich-wollüstiges Spiel“ mit den hernach ermordeten Lieb¬ habern - sie werden ertränkt - wird „mythisch dargestellt als Liebschaften der Erdgöttin mit den Monaten“ (SW VI 110). Die Zuordnung des weiblichen Prin¬ zips zur Erde und die des Mannes zum Wasser entspricht der oben erläuterten Bachofenschen Mythologie. Im Nachspiel, in dem Semiramis an den Schauplatz des Vorspiels, den nun allerdings ,,verödet[en], gräßlich[en]“ Bergsee (SW VI 111), zurückkehrt, hat sie sich anscheinend vollends in eine Göttin, in ein „my¬ thisches Wesen“ (SW VI 112) verwandelt. Seitdem sie weiß, was der Tod bedeu¬ tet und daß es eine Grenze gibt auch für sie, die sie sich absolut mächtig wähnte, ist sie laut Hofmannsthal vom „Glück“ verlassen, denn in der Anerkennung des Todes wird sie sich selber untreu. Ihr Sterben erwartend, führt sie ein Eremiten¬ dasein, was den Eindruck ihrer Heiligkeit bei den sie aufsuchenden Pilgern nur noch verstärkt. Sie stirbt, als sie den Huldigern ein verzweifeltes „ich! ich!“ (SW VI 112) entgegnen will, wozu es nicht mehr kommt, weil sie an ihrem inneren Widerspruch zerbricht. 2. Die beiden Götter (1917-1922) Während der letzten Kriegsjahre nahm Hofmannsthal den Semiramis-Stoff, den er als Libretto nie vollendet hat, wieder auf. Erst durch das Erlebnis des Krieges hat sich ihm die tiefere Symbolik dieses Stoffes aufgetan. Hierfür sind die im er¬ sten Teil der vorliegenden Arbeit erläuterte Rede Die Idee Europa, die Hof¬ mannsthal 1917 gemeinsam mit Rudolf Borchardt konzipiert hat, und der blei¬ bende Eindruck, den die Lektüre von Pannwitz’ Die Krise Europas in diesen

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Jahren bei ihm hinterließ, aufschlußreich.771 Obwohl der Einfluß von Bachofens Theorie auf die Bearbeitung des Semiramis-Stoffes auch in diesen späteren Ent¬ würfen noch sichtbar ist, gilt für Biofmannsthals Umgang mit dem Mythos, was er selbst in diesen Notizen bemerkte: er nehme ihn „social“ und erkenne darin seine „Verwandtschaft mit Ovid“ (SW VI 142). Die Entwürfe zum Semiramis-Drama von 1917—192277- enthalten bestimm¬ te Motive und Szenen, die ohne die Erfahrung des Krieges undenkbar wären. In den älteren Aufzeichnungen will Semiramis zugunsten ihrer Selbsterkenntnis auf die Macht verzichten; die Tragik des Stückes liegt in dem inneren Widerspruch dieser mythisch-dämonischen Figur. In dem vom Krieg geprägten Drama hinge¬ gen legte Hofmannsthal mehr Gewicht auf den Machtkampf zwischen Semira¬ mis und ihrem Sohn Ninyas, was sich auch in dem allerdings erst seit September 1920 eingeführten Titel Die beiden Götter andeutet. Die durch die beiden Dra¬ menfiguren repräsentierten Begriffe .Gewalt' und .Erdulden' werden durch At¬ tribute des Göttlichen erweitert und stärker polarisiert. Semiramis steht - wie oben bereits erwähnt - für „die Herrschaft, das Irrationale des Herrschers“(SW VI 151). Sie ist das „Ungeistige, der Zwang das Bestehende“ (SW VI 139) „Ge¬ dächtnislos in jeder Phase für die frühere“ (SW VI 152). Die sie Huldigenden ru¬ fen sie bei ihrem Namen an, einem Götternamen, der eine das Wesen kennzeich¬ nende Aussage beinhaltet, wie der Name „Jahwe“ hebräisch „Ich bin, der ich da bin“ bedeutet: „Ich Will! Ich Setzte! Ich Ordne!“, lautet der uralte, „sterngege¬ bene“ Name der Semiramis (SW VI 119). Das „Ceremoniell“, welches sie um¬ gibt, ist „naturhaft [...] geboren aus Furcht u. Ehrfurcht“(SW VI 120); Stille umgibt ihre sakrale Person. Ihre Herrschaft beruht, wie jede dämonische Macht, auf einem Tabu, das hier in ihrer Mutterschaft besteht: „Verbot, dies wie anderes von ihr auszusagen. - Wer ihren Busen gesehen hat, weiss, dass ihr die Herr¬ schaft über die Welt gebührt“ (SW VI 120). Die Beschreibung der zur Göttin stilisierten Semiramis führt - wie man sieht - alle klassischen Topoi dämoni¬ schen Götterglaubens an, die u.a. Sigmund Freud, C.G. Jung, Max Weber und indirekt auch Florens Christian Rang und Walter Benjamin beschrieben, analy¬ siert oder „entlarvt“ haben.773 Hofmannsthals Semiramis-Drama kann sicherlich im Kontext der von ihm rezipierten Schriften dieser Autoren gelesen werden. Semiramis als extremes Symbol dämonischer Herrschaft stellt den Versuch dar, mit den Mitteln der Dichtung einem politisch-gesellschaftlichen Problem der

771 Vgl. Gregor Streim, Deutscher Geist und europäische Kultur. Die europäische Idee‘ in der Kriegspublizistik von Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Pannwitz, in: GRM N.F. 46 (1996), S. 174-197. 777 Angesichts der in der Anordnung der Notizen erheblichen Unterschiede bemerkt der Herausgeber der Kritischen Ausgabe, Hans-Georg Dewitz, daß die für die Steiner-Ausgabe von Heinrich Zimmer erstellte Textgrundlage den Werkcharakter des Stückes allzu stark beto¬ ne, wodurch Hofmannsthals Ringen um den Stoff weniger offensichtlich sei, siehe Entstehung SW VI 113 f. 773 Siehe oben 2. Teil, Kapitel II.

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Zeitgeschichte, dem Umgang mit den überkommenen Formen dämonischer Macht, näherzukommen.774 So wenig zeitgemäß die Figur der Semiramis auf den ersten Blick auch scheinen mag, ihre ,Aktualität“ wird deutlich in einem ihrer Erben: in Olivier, dem Gegenspieler Sigismunds und Repräsentanten totalitärer Flerrschaft. Die Berechtigung, in Olivier gleichsam einen Nachfolger der Semiramis zu erkennen, ergibt sich - neben der Tatsache, daß Hofmannsthal Die beiden Götter schlie߬ lich zugunsten des Stoffes von Das Leben ein Traum aufgab - aus dem Hinweis auf die Berufung der göttlichen Kaiserin, „alle Völker zu einigen [...]. Jede Volks-Sonderart [...] als feindlich zu zermalmen“(SW VI 151). Schon früher no¬ tierte Hofmannsthal den folgenden Satz, der beinahe wörtlich das Selbstver¬ ständnis Oliviers vorwegnimmt: „Alle Völker wollen der gleichen Herrschaft un¬ terworfen sein, danach gieren sie, aber einer muß sie ihnen auferlegen“ (SW VI 127).775 Trotz der Absolutheit ihrer Macht wird Semiramis von dem anderen Prin¬ zip, das ihr Sohn Ninyas symbolisiert, konterkariert. „Ninyas ist Geist und Lie¬ be“ (SW VI 139); er wäre „als reine Weltpotenz [...] das Tao des Laotse“(SW VI 118). Damit ist das neben dem Problem der Herrschaft und der Verarbeitung des Kriegserlebnisses dritte hier zu behandelnde Thema des Semiramis-Fragments angesprochen, die Bedeutung asiatischen Gedankenguts für die Erneuerung Eu¬ ropas.776 Für die Beschreibung des Ninyas zitiert Hofmannsthal Laotse: „Liebt er das Volk und regiert er das Land, kann er ohne tun sein. Er erhält und beherrscht nicht: das ist tiefste Tugend““ (SW VI 118). Als der „Nicht-tuende“(SW VI 118) vermag Ninyas die Macht der Semiramis zu unterwandern. Ihre Angst, von ihm „verschlungen zu werden aufgehoben zu werden“, scheint begründet, denn Ni¬ nyas ist „der Kosmos, der unzerstörbar, wo auch eingekerkert“( SW VI 142). Die Unfähigkeit zu handein verbindet Ninyas mit Hamlet.777 Seine Herrschaft

774 Im Februar 1932 schrieb Heinrich Zimmer an Herbert Steiner: „Semiramis ist nächst dem Roman [Andreas] eines der unheimlichsten, absolut zentralen Stücke des Nachlasses [...], hier steht man im flüssigen Inneren des Gestirns Hofmannsthals und sieht wie daraus gestalte¬ te Massen nach oben und außen treiben.“ Zit. nach SW VI 350 (Zeugnisse). Mit einer anderen Datierung, nämlich Mai 1931, wird diese Äußerung auch zitiert in „Anruf und GegenrufBriefe und Dokumente zur Edition der „Nachlese der Gedichte Hugo von Hofmannsthals von Heinrich Zimmer, Max Mell, Max Kommereil und Karl Wolfskehl, mitgeteilt von Maya Rauch in Zusam¬ menarbeit mit Werner Volke, in Hofmannsthal-Blätter, H. 41/42 (1991/92), S. 5-49, hier S. 6. 775 Olivier erklärt dem Arzt am Ende des Trauerspiels ohne Umschweife: „Denn ich und einige, wir haben uns aufgeopfert und nehmen dem Volk die last des Regimentes ab, damit es nicht schwindelig werde.[...] man sollte nach Recht vor uns liegen, für das, was wir auf uns ge¬ nommen haben [...]“ (SW XVI.2 218 f.). 776 In mancher Hinsicht knüpft dieses Thema wieder an Hofmannsthals BachofenLektüre an, denn das, was Hofmannsthal in dem Semiramis-Entwurf lakonisch unter den „Be¬ griff Asien“ faßt, steht in der Tradition jenes mythischen Kampfes von Orient und Okzident. 777 „Ninyas = Hamlet als der einmal die Beschaffenheit der Welt erkannt hat u. zu han¬ deln unfähig wird“ (SW VI 121).

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gleicht derjenigen des Liebes- und Weingottes Bacchos.778 Wie dieser trägt Ninyas androgyne Züge: „Ninyas-welt: Männer in Frauenkleidung“.779 Androgyn al¬ lerdings, als Gegenentwurf zu Ninyas, ist auch seine Mutter Semiramis: Ihre „Welt“ seien „Frauen in Männerkleidung“.780 Die in dieser Polarisierung sich an¬ deutende Konkurrenz von Mutter und Sohn bestimmt auch den Gang der Hand¬ lung, der sich weitgehend anhand des bereits im Dezember 1917 skizzierten, sie¬ benteiligen „Schemas“ ablesen lässt.781 2.1. Der Krieg und die Gewaltherrschaft der Semiramis Das Trauerspiel beginnt mit dem letzten Sieg der Semiramis, den sie schon nicht mehr als Triumph empfinden kann, da sich das „kriegsmüde Heer“ und mit die¬ sem wohl auch das Volk gegen sie wendet und sie ihr nahes „Abtreten aus dieser Welt“ ahnt (SW VI 117). Folgt man der Textzusammenstellung Heinrich Zim¬ mers782, zeigt das erste Bild die tyrannische Herrschaft der Kaiserin und zugleich die Wurzeln ihres sich abzeichnenden Untergangs. Ihr „stärkste[r] Feind“ - dies erkennt sie selbst - „ist die Schwäche“ (SW VI 148). Die Komposition dieses Teiles steht für Zimmer weitgehend fest: Mittels der Auftritte verschiedener Un¬ tergebener wird der Prozeß ihres Machtverlustes bis zum bacchantischen Sieges¬ zug des Ninyas nachgezeichnet. In der „Exposition“ betritt ein geschlagener, aber bis zum bitteren Ende sich wehrender Gegner der Semiramis die Bühne. Es ist der „alte, blinde König“(SW VI 125) eines gerade von ihren Truppen besiegten Bergvolkes, der, an¬ fangs durch vermeintliche Siegesbotschaften getäuscht, um die richtigen strategi¬ schen Entscheidungen ringt, dann aber die Nachricht von der Flucht, den zahlreichen Verwundeten und der totalen Niederlage entgegennehmen muß. Er sieht sich aller seiner Söhne beraubt; der letzte stirbt zu seinen Füßen. Schlie߬ lich zieht er tapfer allein „dem Feind, der Posaune entgegen“ (SW VI 126), bis ein Pfeil ihn niederstreckt. Der Schauplatz der Handlung, „nächst den kaspischen Toren“(SW VI 125), evoziert die entrückte Atmosphäre des antiken Ori-

778 Nach dem Schema des Stückes, auf welches unten noch ausführlicher eingegangen wird, zeigt das zweite Bild die Herrschaft des Ninyas: „Ninyas, alles lösend. Feste, Liebesfeste. Blühende Jugend = Bacchos [...].“ (SW VI 117). 779 SW VI 138. Unter dem Hinweis auf Ninyas’ „androgynes Verhalten“ zitierte Hof¬ mannsthal bereits früher Laotse: „Wer seine Mannheit kennt, an seiner Weibheit hält Der ist das Strombett aller Welt“ (SW VI 121), was nach dem Kommentar des Laotse-Herausgebers Viktor von Strauss, dessen Ausgabe Hofmannsthal vorlag, bedeutet, daß die Voraussetzung für wahre Autorität eine androgyne Seele sei, s. SW VI 372. 780 SW VI 138. Abgesehen davon, daß Semiramis hier den Typus der bachofenschen Ama¬ zone, also die extremste Form matriarchaler Herrschaft repräsentiert, vereinigt sie die für die klassische Renaissance-Frau charakteristischen Züge, die Hofmannsthal auch in anderen dra¬ matischen Frauengestalten dargestellt hat. „Vom Putztisch in die Schlacht“ (SW VI 110) lautet die Formel für diesen Frauentypus bereits im früheren Opernentwurf. 781 SW VI 117. Eine Aufteilung der Bilder in drei oder fünf Akte findet sich in einer späte¬ ren Notiz, SW VI 154. 782 D III 571-576. Zimmer ging - wie gesagt - ziemlich frei mit der Kombination des Textmaterials um.

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ents.7SJ Die Schilderung der verheerenden Kriegsfolgen indes erinnert an Erei¬ gnisse der jüngsten Vergangenheit. Im Jahr 1917 dürften die Nachrichten von der Front sich nur unwesentlich von Hofmannsthals geradezu expressionisti¬ scher Beschreibung des Kriegselends in seinem Stück unterschieden haben: „Verschmachtet das Weiberheer, ohne Wasser, die Pferde tod: sie essen Schnee, trinken Blut, reißen von halblebenden Pferden das Fleisch. Das war nur der Vor¬ trab“ (SW VI 125). Auch der Bericht des Führers einer unglücklichen Mission könnte der Ge¬ genwart entstammen: „Gefangene müssen erschlagen werden, weil Proviant fehlt. Dies entschei¬ det. Aufruhr. Soldaten wollen sie [Semiramis] nicht sehen, halten die Hände vors Gesicht. Dem Ausrufer die Sehnen der Füße durchgeschnitten dem andern die Zunge [...]“ (SW VI 146)

Heimgekehrte Soldaten - „Müdegesiegt, Blinde, Krüppel“ (SW VI 123) - dienen ebenfalls der Darstellung einer allgemeinen Kriegspsychose, deren Aktualität in den letzten Kriegsjahren offensichtlich ist. Auf Semiramis’ Forderung „Tat und Tat und Tat“(SW VI 120) antworten sie nur: „Zu viel! Zu viel! [...] Wir sind es satt, hier liegen wir - wir wollen nicht weiter; vor unseren Augen haben wir Furcht, wenn wir in ein Wasser sehen“ (SW VI 120). Die Darstellung von Zeitgeschehen in mythisch entrückter oder sagenhafter Atmosphäre ist für Hofmannsthals späte Trauerspieldichtung charakteristisch. Man denke nur an den Hinweis auf den Schauplatz der TVrm-Dichtung - „Ein Königreich Polen, aber mehr der Sage als der Geschichte. Zeit: Ein vergangenes Jahrhundert, in der Atmosphäre dem siebzehnten ähnlich“ (D III 256) - oder an die Betonung des ,Überhistorischen1 seines Stückes. Die Expositionen von Die beiden Götter und Der Turm sind sich im Hinblick auf diese dramaturgische Technik sehr ähnlich. Ging es in den Semiramis-Entwürfen von 1917 in der be¬ schriebenen Weise indirekt um die Folgen der deutlich sich abzeichnenden Kriegsniederlage der Mittelmächte, so vermittelt die erste Szene des Turm bei al¬ ler Verfremdung durch die barocken Sprachmanierismen die revolutionäre At¬ mosphäre um 1918. 2.2. Die Amazone Der erste Auftritt der Semiramis zeigt sie umgeben von einem „naturhafte [n] Ceremoniell geboren aus Furcht u. Ehrfurcht“ (SW VI 120). Aus dem Hofstaat werden der Leibwächter Jarbal und Asträa, eine gefangene Königstochter, die Semiramis als Zofe dienen muß, hervorgehoben (SW VI 138). Die Prinzessin, die in „sapphisch-priesterlich[em]“ Verhältnis zu ihrer Herrin steht (SW VI 124), frisiert ihr das Haar (SW VI 126 f.). Später ist es die Zofe Ada, die ihr die Haare kämmt, ein Privileg, auf das Jarbal eifersüchtig ist (SW VI 147). Die Symbolik dieser Szene am Toilettentisch läßt sich wiederum mit der Kulturtheorie Bacho-

783 Es handelt sich um einen Engpass in den Gebirgen südlich des kaspischen Meeres, der Altertum Medien von Parthien und Hyrkanien trennte, ein Detail, das Hofmannsthal an¬ scheinend Droysens Geschichte Alexanders des Großen entnahm, siehe SW VI 378.

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fens deuten. Im Vergleich zu den Entwürfen der Vorkriegszeit treten die Attri¬ bute der „großen Mutter“ allerdings in den Hintergrund. Sie repräsentiert hier vielmehr die entartete Form matriarchaler Herrschaft, das Amazonentum. Der Krieg ist ihr Element, sie empfängt Gefangene und diktiert Siegesberichte. Ihr gelöstes Haar ist nicht nur wie das Haupthaar Samsons als Symbol unum¬ schränkter Macht zu verstehen, sondern verbindet sie gemäß der Bachofenschen Theorie, auf die sich Hofmannsthal hier bezieht, mit dem „amazonischen Mondprinzip“.784 Das Amazonentum stellt den Höhepunkt matriarchaler Herr¬ schaft dar, aber „an der Amazonen Bekämpfung knüpft sich die Einführung des Vaterrechts. Durch die Lichtmächte wird das amazonische Mondprinzip ver¬ nichtet, die Frau ihrer natürlichen Bestimmung wiedergegeben und dem geisti¬ gen Vaterrechte für alle Zeiten die Herrschaft über das stoffliche Muttertum er¬ worben. Die größte Übertreibung führt zu dem gänzlichen Sturze.“785 Soweit kommt es in Hofmannsthals Semiramis-Drama nicht, obwohl Bachofens Theo¬ rie den Entwurf zumal dieses ersten Bildes stark beeinflußt hat. Allein Semiramis’ Affinität zum Mond weist aufgrund eines weiteren Sym¬ bolzusammenhangs auf die andere Ursache ihres bevorstehenden Machtverlustes hin.786 Daß sie angesichts einer ihren sadistischen Triumphgefühlen Genüge tu¬ enden „Zeremonie“787 erstaunt feststellen muß: „Ich freue mich nicht mehr! Was geht da Neues, Unerhörtes in mir vor?“, läßt an eine melancholische Verstim¬ mung denken. Die diesem Zweifel unmittelbar folgende, lediglich rhetorische Einschränkung - „Nein, ich muß fragen: was geht da unerhörtes in der Welt vor? Denn in mir kann nichts sein, was nicht für die Welt Schicksal wäre!“ (SW VI 123) - verbindet sie mit den Machtmenschen und Herrscherfiguren, die Hof¬ mannsthal in den zwanziger Jahren nach dem Vorbild von Napoleon Bonaparte entwirft, so auch - wie schon erwähnt - mit Olivier, dem siegreichen Gegenspie¬ ler Sigismunds in den späteren Fassungen des Turm.7iS 2.3. Schwäche, der stärkste Feind Die in einem Anflug von Melancholie eingegebene Ahnung einer Schicksalswen¬ de wird durch die Begegnung mit jenem Führer einer mißglückten Expedition bestätigt. Er war früher einer der Liebhaber der Semiramis und wird ihr als Ver-

784 Bachofen, a.a.O., S. 82. McKenzie beobachtet richtig: „In den Figuren Jarbal [in sei¬ nem Verhältnis zu Semiramis], Semiramis, Asträa [in ihrem späteren Verhältnis zu Ninyas] ist die dreifache Möglichkeit weiblichen Daseins angedeutet - das tierhaft-hetärische, das hetärisch-amazonische und das ehelich-mütterliche“ a.a.O., S. 69. 785 Bachofen, a.a.O., S. 82. 786 „typische Mondkrankheit der Melancholie[...] Verfinsterung: Weitende: Erkenntnis dass das Schwache das eigentlich Starke ist“ (SW VI 124). 787 In dieser Zeremonie wird ein gefangener König, „der als sein eigener Gesandter kommt an den Wagen gespannt [...], den schon 4 Könige ziehen. [Der alte König soll gefesselt wer¬ den, wirft sich auf den Rücken, wehrt sich mit Kräften wie ein Pferd - er kann nicht sterben ]“ (SW VI 126) Die Szene treibt die Demütigung des alten Bergvolkkönigs auf die Spitze. 788 ,„Es gibt kein Schicksal, die Politik ist das Schicksal.“ (Als Zentrum dieses Schicksals versteht er [Napoleon] sich selbst, das ist sous-entendu.“; Napoleon. Zum 5. Mai 1921 s. RA II 471.

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urteilter vorgeführt. Sie gewährt ihm, „sich in ihrem Zelt zu töten“ (SW VI 146). Sein Masochismus steht im Kontrast zu dem tapferen Verhalten des alten Berg¬ volkkönigs und dem in der „Zeremonie“ gedemütigten Herrscher. In dieser Sze¬ ne erkennt Semiramis in „der Schwäche“ ihren „stärksten Feind“. Die „Gestalten der Schwäche“, notierte Hofmannsthal, seien „1.) die Überschätzung der Resul¬ tate, 2.) die dumme Panik, Aberglaube, 3.) Verwirrung, Grausamkeit der Schwä¬ che, 4.) die Unfähigkeit“ (SW VI 149). Im Semiramis-Drama geht es nicht um die schlichte Gegenüberstellung der negativen Seiten einer extremen Gewaltherrschaft - Semiramis - und dem positi¬ ven Dulderprinzip - Ninyas. Das Stück kann nicht als Plädoyer für die „Schwä¬ che“, die Ablehnung von Macht gelesen werden. Die „Gewalt“ der Semiramis hat negative und positive Aspekte, ebenso wie der Begriff „Erdulden“, für den Niny¬ as von Anfang an steht, positiv als geistige Macht und negativ als „Laissez-faire“ und Gleichgültigkeit, als Verantwortungslosigkeit, zu verstehen ist. Die Symbolik des ersten Auftritts der Semiramis, nach welcher sie als Ver¬ treterin der letzten Stufe matriarchaler Herrschaft, des Amazonentums, gekenn¬ zeichnet ist, wird in einer weiteren Begegnung der Kaiserin mit Untergebenen konsequent im Sinne der Kulturtheorie Bachofens fortgesetzt. Phryxus, der spä¬ tere Führer der Soldatenrebellion und Admiral unter Ninyas, bringt von einem Feldzug den Weisen Kafur und die beiden Prinzen Ayub und Agatun als Geiseln mit.789 Die drei Gefangenen erzählen von ihrer Heimat, einem wahrhaft idylli¬ schen „Friedensland“ (SW VI 125). Friedlich lebt ein „Thalvolk“ (SW VI 147) an den fruchtbaren Ufern eines Flusses, der sich durch bewaldetes Gebirge schlän¬ gelt. Auf den Berggipfeln wird das Feuer verehrt (SW VI 146). Eine Steilküste mit guten Häfen grenzt an das nördliche Meer. Jenseits desselben liegt „Sin das Land der hundert Geschlechter“, in dem „neue Völker geboren mit weißem Haar“ (SW VI 127) leben. Dieses ungewöhnliche Attribut790 symbolisiert das Licht- oder Geistprinzip, welches laut Bachofens Theorie zum patriarchalen Sy¬ stem gehört. Der Bericht der Prinzen und des Greises, der bei Semiramis neue Eroberungsgelüste wachruft,791 ist als Ankündigung der Herrschaft des männli¬ chen Geistprinzips zu deuten, das das tellurische Mutterrecht überwindet. Bestä¬ tigt wird diese Interpretation im weiteren Verlauf dieser kleinen Szene. Die Prinzen des Friedenslandes erreichen, was jenem Bergvolk versagt blieb; sie sind gleichsam immun gegen die Macht der Semiramis. Während das Bergvolk die Zerstörung seiner Festungen durch Semiramis’ Truppen hinnehmen mußte und

789 Die Namen dieser drei Gefangen entstammen den Erzählungen aus 1001 Nacht. Darauf, nicht jedoch auf die genauen Quellen weist Margaret McKenzie hin, a.a.O., S. 96. In den Erläu¬ terungen der kritischen Ausgabe wird der Name des Greises mit dem Hinweis auf die Geschichte des zweiten Eunuchen Namens Kafur der 39. Nacht sowie auf einen Obereunuchen aus der Geschichte des Königs Omar bin al Nu'uman der 135. Nacht kommentiert, s. SW VI 373. „Ayyub“ heißt ein Kaufmann aus der Geschichte Ghanim bin Ayyubs, des Verstörten, des Sklaven der Liebe, 38.-45. Nacht, während die Quelle für „Agatun“ nicht ermittelt ist, s. SW VI 381. 790 In den Erläuterungen wird auf den puer-senex-Topos verwiesen, s. SW VI 380. 791 „Wenn ich das nördlichste Reich erobere, dann wird mein Reich an den den Äther grenzen." (SW VI 127).

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teils in den kollektiven Selbstmord getrieben, teils schlicht „umgepflanzt“ (SW VI 147) wurde, erklären die beiden Herrscher des Talvolkes, sie seien „freiwillige Boten“ (SW VI 125) ihres Friedenslandes. Diese „Freiwilligkeit“ verbittet sich die Königin: „Was heißt ,freiwillig1 - wollte ich, so wäret ihr gefangen; es gibt kein Recht vor mir“ (SW VI 125); doch zeugt diese Mahnung an sich schon von dem Verlust ihrer absoluten Autorität. Semiramis will den jüngeren, dunkelhaarigen der beiden Brüder, der sich von ihr abwendet, für sich gewinnen, während der andere, der an ihren Lippen hängt, in ihren Augen offenbar nicht das Zeug zum Herrschen hat. McKenzie erkennt die beiden unterschiedlich reagierenden Prinzen als „Zweiheit von Le¬ ben und Tod“.792 Den Günstling der Semiramis deutet sie, auf Bachofens Aus¬ führungen über die „(phyrrhische) Urmutter“ verweisend, als deren „stärkstes Kind“, welches zu ihr zurückkehren will. Bachofen unterscheidet in der Passage, auf die McKenzie sich hier bezieht,793 zwischen dem unterschiedlichen Ver¬ ständnis der Nachfolge in mutterrechtlichen und patriarchalen Systemen. In der Gynaikokratie fehle die Vorstellung der „Nachkommenschaft“. Die Urmutter sei stofflich (hyle) und „bewegt“, sie sei immer Anfang und Ende zugleich. Die Kinder gelten als „Wiederholungen“ der Urmutter. Der Mythos von Pyrrha, die Steine hinter sich wirft, aus denen ein Menschengeschlecht entsteht, zeuge von dieser mutterrechtlichen Vorstellung, in welcher nicht in die Zukunft geblickt, sondern immer auf die eine Ahnin zurückgeschaut werde. In Analogie zu den Blättern eines Baumes, die nicht voneinander, sondern alle von einem großen Stamm „abstammen“, habe man sich das Verständnis der Nachkommenschaft in mutterrechtlichen Völkern vorzustellen. In Völkern, die nach dem vaterrechtli¬ chen, geistigen, formgebenden (Eidos) und bewegenden Prinzip organisiert sind, herrsche hingegen die Idee der Geschlechterfolge. In den lateinischen Worten „genus“ und „natio“ sei dieser Unterschied noch spürbar: „gentem“ hätten im ei¬ gentlichen Sinne nur die Patrizier, während in „allen Anwendungen des Wortes natio [...] die weiblich-natürliche Idee der stofflichen Geburt“ vorherrsche.794 Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen ist das Werben der Semiramis um den jüngeren Königssohn als Sorge um das Erbe ihrer Herrschaft zu interpretie¬ ren. Sie ahnt das Ende ihrer Machtära und versucht, - nicht etwa im eigenen Sohn, dessen Existenz sie leugnet - sich einen Nachfolger zu wählen, der ihr treu ergeben ist, sie als göttliche Urmutter verehrt und die Regeln gynaikokratischer Gesellschaft respektiert. Ebenfalls vor dem Hintergrund Bachofens interpretiert McKenzie795 die Bo¬ tin mit dem Schaffell (SW VI 148), die Semiramis die „Revolte der Schwachen“ (SW VI 144) verkündet und die ihr damit die melancholische Einsicht in ihr Schicksal ermöglicht: Aufgrund ihres auffälligen Attributs repräsentiere diese Botin, die nach Hofmannsthals Vorstellung von einem Mann gespielt werden

792 McKenzie, a.a.O., S. 70. 793 Bachofen, Mythus, a.a.O., S. 314 ff. 794 A.a.O., S. 316. 795 Sie folgt hier offenbar der Zusammenstellung der Notizen in der Steiner-Ausgabe, s. D III 574.

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soll, die „Verächtlichkeit des Mannes vor dem Weibe“.796 Zur Erniedrigung des Mannes vor der Frau kommt es nach Bachofen, wenn in gynaikokratischen Ge¬ sellschaften der Mann nicht mehr die ihm zufallende Rolle des Kriegers und Jä¬ gers ausfülle, sondern stattdessen handwerkliche oder landwirtschaftliche Tätig¬ keiten übernehme. Bei den Lokrern, einem der Völker, in welchem sich - wie Bachofen beobachtet hat - mutterrechtliche Strukturen am längsten gehalten haben, wird der Name des Hirten vom Geruch des Schaffelles abgeleitet, was durchaus pejorativ, als Ausdruck der Verächtlichkeit zu verstehen sei. In dieser Selbsterniedrigung des Mannes - denn in Bachofens Beispiel, den Lemmnern, die sich nach einem Eroberungszug thrakische Mädchen nahmen und niederließen, sind es die Männer selbst, die ihre kriegerischen Unternehmungen zugunsten häuslicher Arbeiten aufgeben - erblickt Bachofen einen der Gründe für die Aus¬ artung der Gynaikokratie zum Amazonentum.797 Die vor Semiramis mit dem Schaffell erscheinende „Tempelbotin des Unterweltstempels“ (SW VI 148) sym¬ bolisiert also - wie der unterwürfige Feldherr und die Prinzen des Friedenslandes - eine der Ursachen der Aushöhlung der gynaikokratischen Herrschaft der Kö¬ nigin. Diese Ursachen als solche zu erkennen ist der Prozess, den Semiramis an¬ gesichts der symbolträchtigen Personen, die ihr gegenübertreten, durchläuft. Das Amazonentum im Altertum wird - wie Bachofen in seiner Vorrede aus¬ führt - durch den Siegeszug der dionysischen Religion zurückgedrängt: „Diony¬ sos erscheint an der Spitze der großen Bekämpfer des Mutterrechts insbesondere der amazonischen Steigerung desselben.“798 Der dionysische Kult mit seinem Primat der männlich-phallischen Zeugungskraft bewirke einerseits, daß die zu kriegerischen Amazonen entarteten Frauen wieder zu ihrer ursprünglichen Mut¬ terbestimmung zurückfänden, andererseits führten die orgiastischen Riten und die uneingeschränkte Sinnlichkeit der dionysischen Umzüge auch wieder zum tellurisch-stofflichen Hetärismus, der Vorstufe demetrischer Gynaikokratie, so daß das Auftreten und die Verbreitung dieser Religion zugleich einen kulturellen Rückfall bedeutete. Dieser doppelten Wirkung des Dionysos-Kultes war sich Hofmannsthal bei der Konzipierung seines Dramas offensichtlich bewußt, denn die dionysische Herrschaft des Ninyas, von welcher das zweite und dritte Bild handelt, überwindet zwar die Macht der Semiramis, ist aber aus Gründen, die im Wesen des neuen Machthabers wurzeln, nicht von Dauer. Vom Kampf gynaikokratischer und vaterrechtlicher Gesellschaftsformen sowie ihrer jeweiligen Varia¬ tionen, dem Amazonentum und dem Dionysos-Kult, handelt auch Hofmanns¬ thals Fragment. Der Siegeszug des Ninyas weist die klassischen Symbole und Attribute ei¬ nes bacchantischen Umzuges auf: Der neue Herrscher wird als „siegreicher Frühjahrsmond“ und „Friedebringer, der uns gefriedet hat - Gott, der die ganze Erde umgebäret“ (SW VI 126), „Föser! Erlöser! [...]“ (SW VI 121) begrüßt. Er ist der „Bringer der Sprache: der Friedenssprache, von Mund zu Mund, wie Milch, kühl Wasser, Honig, Öl“ (SW VI 126). Seine Attribute - „Wolke Blume

796 McKenzie, a.a.O., S. 71. 797 Bachofen, Mythus, a.a.O., S. 81. 798 Bachofen, Mythus, a.a.O., S. 38.

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Traube Panther“ (SW VI 126) - sind die des Bacchos. Die Lobsprüche, mit de¬ nen er empfangen wird, zielen auf die von seiner Herrschaft erwartete Zeit der Liebe und allgemeinen Fruchtbarkeit: „Mond in der vierzehnten Nacht. Lob¬ sprüche aus 1001 Nacht. Weichheit der Flanken Pfeile der Blicke Tau der Lip¬ pen: Nektar u Milch; Gazellen u Monde zum Wettkampf mit ihm“ (SW VI 121). Die Ninyas-Szenen gleichen in ihrem Mangel an äußerer Handlung den Szenen des ersten Bildes und dienen wie jene der Veranschaulichung einer be¬ stimmten Herrschaftsform. Ninyas, der neue König, gibt gemeinsam mit der von ihm während seines Siegeszuges auf den Wagen geholten Asträa ein Gastmahl in seinem Palast, zu dem er die Prinzen Ayub und Agatun sowie den weisen Greis Kafur eingeladen hat. Man spricht von Semiramis. Draußen laufen die Vorberei¬ tung zur Hinrichtung Jarbals, der in letzter Minute von Ninyas begnadigt und heraufgebeten wird. In einem Gespräch, „daß er erfreut und entzückt, heiter und fröhlich werde“, will Ninyas den Mörder zum Guten bekehren, worauf dieser, ein „Mörder aus Lust“ (SW VI 129), sich allerdings nicht einläßt: „Wer bist du, daß du mich begnadigst“, fragt er voller Verachtung, denn Ninyas5 Haltung, „nicht den Herren [zu] spielen“ (SW VI 130), reizt ihn, den ehemaligen Gelieb¬ ten der Semiramis, nur noch mehr. Die Versuche der Anwesenden, ihn zu be¬ sänftigen, münden in einer neuen Gewalttat: Jarbal erschlägt mit einem Wein¬ krug einen Mann, der sich ihm widersetzt, und entflieht. Diese Tat läßt Ninyas seine Ohnmacht erkennen und ihn nach der Mutter rufen (SW VI 131). Der Entschluß, sie tatsächlich zurückzuholen, auch auf die Gefahr hin, daß dies sein Leben koste (SW VI 129), fällt auf den Rat seiner treusten Haremsdame hin. Diese erklärt ihm, „daß die Welt ohne Kraft nicht gelenkt werden könne“ (SW VI 155). Von einer echten ,Herrschaft“ des Ninyas, wie sie in diesen beiden Bildern vorgestellt wird, kann im Grunde keine Rede sein. Ninyas ist überzeugt: „nur die Ordnung, die auf Ungerechtigkeit gegründet ist, fürchtet Un-ordnung. Herr¬ schaft heisst Zwang, Sonderung, Zerklüftung, Ausschließung. - ,Herrschaft ist der Elefant den Selbstsucht u. Furcht am Seil führen.““ (SW VI 128). Demge¬ genüber verkündet dieser zweite Dionysos799 ein ,Naturreich“, in dem Geist und Liebe herrschen, und zwar in ihrer reinsten Form (SW VI 139). Ninyas5 „Herz ist heilig, aber nicht beharrlich“ (SW VI 132). ,Beharrlichkeit“, ansonsten durch¬ aus eine Eigenschaft des ,Geistes“ - man denke nur an die Ausdauer, die der me¬ lancholische Grübler beim Nachdenken entwickeln kann1“00 - , ist mit dieser rei¬ nen Verkörperung des Geistes und der Liebe, die Ninyas repräsentiert, offenbar unvereinbar. Der Mangel an Beharrlichkeit ist ein Grund für die in dieser Welt unmögliche Herrschaft des Ninyas. Sein ,Naturreich“ ist utopisch. Dem Herz des „Erlösers“801 sind Grenzen, jegliche „Begrenzung“ schlechthin, fremd:802

799 Wie der „Frauengott“ ist auch Ninyas von Frauen umgeben: „[...] sein Harem war sei¬ ne Hochschule“ (SW VI 333). „Dionysos führt, wie Orpheus, Herakles, seine Mutter aus dem Schattenreich zurück“ (SW VI 137). Dieser Hinweis bestätigt abermals, daß Ninyas in vieler Hinsicht von Hofmannsthal nach diesem Gott konzipiert wurde. 800 Siehe unten 3. Teil, Kapitel II.3. 801 „Ninyas, alles lösend [...]“ heißt es lakonisch bereits im Schema, s. SW VI 117.

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„Aus aller Menschen Herzen mach ich mein Herz.“ Darin jedoch liegt auch seine Unfähigkeit begründet, dem moralischen Urteil Konsequenzen folgen zu lassen. „Den Guten behandle ich gut, den nicht Guten behandle ich auch gut; den Auf¬ richtigen behandle ich aufrichtig, den Nicht-aufrichtigen behandle ich auch aufrichtig“(SW VI 132).803 Nicht die Fähigkeit zum moralischen Urteil fehlt diesem König, sondern die Entschlußkraft, dem Urteil entsprechend zu handeln und Gerechtigkeit walten zu lassen. Auch hierin hegt ein Indiz für den utopischen Charakter des Ninyas-Reiches. Gutes mit Gutem und Schlechtes nicht mit Gerechtigkeit, sondern ebenfalls mit Gutem zu vergelten ist eine ethische Maxime des chinesischen Philosophen Laotse, dessen Lehrsätze Hofmannsthal - wie bereits erwähnt - in diesen Ent¬ würfen mehrfach zitiert. Die Figur des Ninyas ist demzufolge als Personifikation eines Concettos östlicher Weisheit zu deuten: Zum einen ist er der fremde, aus dem Orient kommende Gott Dionysos, dessen kulturtheoretische Bedeutung Hofmannsthal den Schriften Bachofens entnommen hat. Zum anderen verkör¬ pert er als einer der „beiden Götter“ ein abstraktes Prinzip, das „Tao des Laotse“, unter dem Hofmannsthal die „reine Weltpotenz“ und das schlechthin „Nichttuende“ (SW VI 118) versteht. Das ,Tao‘ wird, insofern es das in sich selber ruhen¬ de ,Un-Bedingte' meint, in der Sprache der europäischen Philosophie auch als das ,Absolute' bezeichnet.804 Es ist ein metaphysischer Begriff, wie auch die Phi¬ losophie des Laotse im Vergleich zu dem pragmatischeren Konfuzianismus in er¬ ster Linie eine Metaphysik darstellt. Die ethischen Konsequenzen, die das ,Tao' - als „Weg des Weisen“ verstanden - impliziert, sind sowohl mit dem ,karmayoga', dem „Handeln und seine Pflicht erfüllen“ der indischen Philosophie als auch mit der pauhnischen Forderung „Haben, als hätte man nicht

verwandt. Ge¬

meinsam ist diesen ethischen Haltungen die innere Unabhängigkeit, die der han¬ delnde Mensch gegenüber der Welt einnimmt.805 Vor dem Hintergrund dieser Philosophie, die sich durch Hofmannsthals Hinweis auf das ,Tao' an die Figur des Ninyas knüpft, wird verständlich, warum Semiramis’ Furcht vor diesem

802 Ganz im Gegensatz zu Jarbal: „[...] Er liebt nur, achtet nur, was Grenzen setzt“ (SW VI 130). 803 Es handelt sich auch bei diesem Satz um ein Laotse Zitat, s. Erläuterungen SW VI 382. 804 Hans Joachim Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 8. Aufl., Stuttgart 1961, S. 58. Hofmannsthal selbst verweist im Kontext seiner Laotse-Zitate explizit auf eine Erklä¬ rung des ,Tao‘ von Viktor von Strauss, dem Herausgeber seiner Tao te king-Ausgabe: „Die ur¬ sprüngliche und eigentliche Bedeutung von taö ist .Weg, Straße, das Verbindungsmittel zweier Orte“. Im figürlichen Sinne heißt es dann ,der Gang, die Gangart, die Art und Weise, das Ver¬ fahren“ [...]. In prägnantem Sinne von den Dingen ausgesagt, bezeichnet es die ihnen zu Grunde liegende Vernünftigkeit, die abstracte Ordnung, höher hinauf die Weltordnung, und zwar sowol natürliche als die sittliche; weshalb es im Hl tse einem Anhänge des Ji king, heisst, des Himmels taö bestehe in der Verbindung des thätigen Prinzips (jang) mit dem ruhenden (jin), der Erde taö in Verbindung des Weichen mit dem Harten, des Menschen taö in Verbin¬ dung der Menschenliebe mit der Gerechtigkeit“ (SW VI 368). 805 Störig, a.a.O., S. 58 f.

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Sohn berechtigt ist. In Ninyas treffen sich gleichsam das chinesische ,Tao‘, der orientalische Dionysos und die Ethik des Christentums.806 Ninyas’ „Sieg“ ist ein Sieg der Schwäche und trägt den Untergang bereits in sich. Die Welt wird „schal und grausig“ , heißt es in dem kurzen Schema aus¬ drücklich, so daß das Volk sich nach den Zeiten der alten Herrscherin sehnt. Im 'weiteren Verlauf des Stückes faßt Semiramis den Plan, als Ninyas weiter zu re¬ gieren, was ihr zunächst auch gelingt. Ninyas wird nach einer mißglückten Flucht in einem Kerker gefangengehalten. Wie Sigismund wird er vom Volk be¬ freit und mutiert zu einem charismatischen Führer, der schließlich, getroffen von den Pfeilen des Feibwächters der Semiramis, einen Märtyrertod stirbt. Selbst seine Verklärung kann Semiramis noch für sich nutzten, indem sie den Schleier lüftet vor dem Ficht, das von dem Sterbenden ausgeht. Doch auch sie zeigt Reue und wird auf ihre Weise geläutert: Der tote Sohn und die Mutter verwandeln sich im versöhnlichem Schlußbild in „Gott und seine Priesterin“ (SW VI 118). In die¬ ser idealen Synthese der beiden Herrschaftsformen ähnelt der Schluß dieses Fragments demjenigen des späteren Kaiser Phokas, wo die ursprünglichen Ge¬ genspieler und Erben des alten Kaisers, Heraklius und Feontes, gemeinsam re¬ gieren.

II. Der Turm - Sigismund als Souverän und Märtyrer 1. Die Idee der ,Präexistenz' im Turm Im Jahr 1927 notiert Hofmannsthal über sein Trauerspiel Der Turm, dessen drit¬ te Fassung er gerade abschließen will, die folgende Erläuterung: „,Der Turm1: Darzustellen das eigentlich Erbarmungslose unserer Wirk¬ lichkeit, in welche die Seele aus einem dunklen mythischen Bereich hinein¬ gerät. Anzuknüpfen: jener Begriff der Präexistenz“ (RA III 625). Mit dem Hinweis auf die Präexistenz verbindet Hofmannsthal seinen Helden Si¬ gismund mit den Protagonisten seiner früheren Werke. Der Ästhet Andrea des ersten dramatischen Gedichtes Gestern, der Tor Claudio, der Kaufmannssohn des Märchens der 672. Nacht, Elektra, Elis Fröbom, die Frau ohne Schatten - sie alle verbindet das Schicksal, den rätselhaften Seelenzustand, den Hofmannsthal mit Präexistenz bezeichnet, verlassen zu müssen, um sich der ,Welt‘, der Exi¬ stenz1, dem ,Sozialen' zu stellen. Den Begriff ,Präexistenz' wendet Hofmanns¬ thal erstmals auf seine Dichtungen an, als er 1916 mit den Aufzeichnungen Ad me ipsum807 beginnt. Damals definierte er Präexistenz im Hinblick auf die Figu-

806 Zur Verwandschaft von Christus und Dionysos siehe oben 2. Teil, Kapitel II.1. 807 Die Aufzeichnungen stellte Hofmannsthal im Jahr 1916 (also mitten im Krieg) zunächst unter dem Titel „spectantia ad me“ für den Freund Max Mell zusammen, von dem er sich einen Aufsatz über seine Operndichtung Frau ohne Schatten wünschte. Er setzte sie bis an sein Lebensende fort und überließ sie neben Carl Jakob Burckhardt dem befreundeten Germa¬ nisten Walter Brecht, der sie als erster ordnete und 1930 im Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts herausgab. Zur Publikationsgeschichte s. RA III 648; in den Bänden XXXVI u.

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ren der lyrischen Dramen als einen „glorreiche[n], aber gefährliche[n] Zustand“ (RA III 599, 605) „geistiger Souveränität“ (RA III 599), in dem die Seele, das „Ich als Universum“ (RA III 599), „die Welt von oben“ (RA III 599) sieht. Die oben zitierte Bemerkung über den Turm zeigt, daß Hofmannsthal den Begriff auch rund zehn Jahre später noch für ein taugliches Interpretament seiner Werke hält. Mit dem nach dem Krieg gewählten Titel seiner Bearbeitung von Calderöns La vida es suenoS0S erhebt Hofmannsthal ein vieldeutiges Symbol für den - halb verlorenen - Zustand der Präexistenz zum zentralen Thema seines großen Trau¬ erspiels. Der Turm ist zunächst der Ort des Verbrechens an Sigismund, denn hier wird er von Kindheit an in vollkommener Finsternis und fern von allen Menschen gefangen gehalten. Schon in den früheren Entwürfen zu Das Leben ein Traum repräsentiert dieses Bauwerk das „Zentrum des Weltunrechts“.809 Der Turm markiert die Abgeschlossenheit des Prinzen vom Leben und kann schon deshalb als Symbol für dessen Präexistenz verstanden werden. Am Ende des Stü¬ ckes, nachdem Sigismund die Unmöglichkeit einer Bewährung der Seele in der Existenz hat erkennen müssen, gewinnt der Turm indes einen positiven Aspekt. Dies wird deutlich, als sich Sigismund im vierten Akt mit den folgenden Worten auf die Brust schlägt: „Ja, das bin ich, Herr und König auf immer in diesem fes¬ ten Turm“ (SW XVI.2 202). Die Brust ist der Turm und der Turm er selbst. Die Präexistenz kann jedoch erst zum geistigen Refugium werden, nachdem Sigis¬ mund sein Schicksal in der Welt angenommen hat. Die Ambivalenz der Präe¬ xistenz ist durch die schillernde Bedeutung des Turmes verdeutlicht: Das „Zent¬ rum des Weltunrechts“ wird zum Asyl des Geistes in einer Welt, in der er keine Wirkung mehr hat. In Anbetracht der Welt des Trauerspiels, in der Herrschaft sich nur durch brutale Gewalt legitimiert, gewinnt der Bereich der Präexistenz eine rettende Funktion. Was den ambivalenten Zustand der Präexistenz nach Hofmannsthals Vor¬ stellung auszeichnet, läßt sich zunächst durch die Interpretation insbesondere der ersten beiden Akte des Stückes in Erfahrung bringen, denn die Handlung spielt - mit Ausnahme der Klosterszene (11,1) - im Turm selbst oder davor, wo¬ bei sich Sigismunds seelische Befindlichkeit in seinem persönlichen Auftritt und in der Rede anderer spiegelt. Dabei soll die doppelte Wurzel der mystischen Prä¬ existenzidee, ihre abendländische und orientalische, erläutert werden.

XXXVII der Sämtlichen Werke ist die kommentierte Veröffentlichung der Aufzeichnungen und Tagebücher geplant. 808 Die früheste Beschäftigung mit La vida es sueno reicht in das Jahr 1901 zurück. Hof¬ mannsthal bearbeitete bis 1904 die ersten drei Akte in Trochäen, welche unter dem Titel Das Leben ein Traum gesammelt erstmals 1937 in der Zeitschrift Corona ( 7. Jahr, 1937, Heft 1 und 2) erschienen. 809 D III 243. Von Teufeln umflattert „wie Raben das Hochgericht“ (ebd.) stellte Hof¬ mannsthal dieses Bauwerk sich vor, ein Bild, welches an die Capriccios Goyas erinnert.

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1.1. Sigismunds präexistentieller Zustand In der Exposition wird durch die Gespräche der vor dem Turm Wache haltenden Soldaten der Auftritt Sigismunds vorbereitet. Man erwartet eher ein wildes Tier, ein Ungeheuer, als einen Königssohn: Da der Gefangene „nackig geht mit einem alten Wolfsfell um den Leib“810, glauben die Soldaten, er habe „einen Wolfsleib, aus dem ein Menschenkopf gewachsen“ (SW XVI.2 128). Ohvier, der neue Wachkommandant, nennt ihn „Bestie“ und gar „Vieh“ (SW XVI.2 128). Da der Kerker im Turm eher einem Tierkäfig gleicht als einer menschenwürdigen Be¬ hausung, sind die Assoziationen der Soldaten durchaus verständlich. Der zur Untersuchung Sigismunds bestellte Arzt findet einen „kleinen, of¬ fenen Käfig, zu schlecht für einen Hundezwinger“ (SW XVI. 1 14) vor. Die Ge¬ fangenschaft Sigismunds klagt er als ein himmelschreiendes Verbrechen an: „Der ungeheure Frevel ist an der ganzen Menschheit begangen worden“ (SW XVI. 1 21). Daß er, der Humanist, Sigismund anfangs ebenfalls für ein Tier hält - „Ich sehe ein Tier, das an der Erde kauert“ (SW XVI. 1 15) - und damit, ohne es zu wollen, die verächtliche Rede Oliviers bestätigt, wirkt geradezu zynisch. Bevor Sigismund überhaupt in Erscheinung tritt, wird der Eindruck ge¬ schaffen, sein Geistes- und Seelenzustand sei mit dem eines unberechenbaren Tieres vergleichbar. Er verhält sich scheu und aggressiv. Vor dem Blick Oliviers, den dieser entgegen einem Verbot in den Kerker wirft, schreckt er zurück, wäh¬ rend er sonst „wie ein Hirnschelliger“ (SW XVI. 1 9) mit einem ausgegrabenen Pferdeknochen nach Ratten und Kröten schlägt. Die Existenz dieses zweiten Ca¬ liban bleibt für andere unergründlich und geheimnisvoll. Sigismunds Tierähnlichkeit wird sogar - wenn auch in ganz anderer Weise von dem Diener Anton bestätigt, dem einzigen Menschen, der einen vertrauten Umgang mit ihm pflegt.811 Dieser nennt ihn „Kreatur“812, worin sich die prinzi¬ pielle Verwandtschaft des Menschen mit dem Tier als Mitgeschöpf Gottes aus¬ drückt. Man kann darin einen Hinweis auf den paradiesischen Unschuldszustand Sigismunds erkennen. Als Kreatur ist Sigismund dem Tier zwar verwandt, doch drückt sich hier kein einseitiges Machtverhältnis zwischen Mensch und Tier aus, wie dies zum einen die ängstliche Dämonisierung des Gefangenen seitens der Soldaten und zum anderen Oliviers verächtlich brutale Schimpfwörter implizie¬ ren.813 Eine „fürstliche Kreatur“ (SW XVI. 1 20) nennt beim Abschied auch der Arzt den sich trotz seiner Erniedrigung vor ihm verneigenden jungen Mann. Ge¬ genüber Julian, dem er in der nächsten Szene Bericht über Sigismunds Gesund¬ heitszustand zu geben hat, klagt der Anwalt der Menschenwürde das nahezu re-

810 SW XVI. 1 8. - Die Nacktheit bedeutet Sigismunds Sprachlosigkeit; zu dieser Interpre¬ tation Paul Requadts siehe unten. 811 Anton ist zweifellos die liebevollste Gestalt des ganzen Trauerspieles. Den Typus des einfachen treusorgenden Dieners vertretend, ist er der Nachfolger des „gracioso“ aus dem spa¬ nischen Stück. 812 SW XVI.1 14. „Es ist innerst eine gute Kreatur“ SW XVI.1 16. 813 Zu dem hier sich andeutenden weitläufigen Thema von Hofmannsthals Sicht auf das Verhältnis von Mensch und Tier siehe die Interpretation der Jagdszenen im Turm und im Kai¬ ser Phokas.

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ligiöse Ausmaß des Verbrechens an: „Hier ist Adam, des obersten Königs erst¬ geborener Sohn, geschändet.“ (SW XVI.1 21) Die Gleichsetzung Sigismunds mit dem ersten biblischen Menschen und dem „neuen Adam“, Jesus Christus,814 verweist nicht allein auf den repräsentativen Rang des Eingekerkerten, sondern wiederum auf die gleichsam paradiesische Entrücktheit dieser Menschenseele, was als Anspielung auf deren vorweltlichen, präexistentiellen Zustand gedeutet werden kann. Die Unschuld, die sich mit dem paradiesischen Zustand der Präexistenz verbindet, ist ferner durch zahlreiche Hinweise auf Sigismunds Kindlichkeit in dieser ersten Szene verbürgt. Als Sigismund, von Antons sanften Aufforderun¬ gen angelockt, den Turm verläßt, entspricht sein Verhalten ganz dem eines ver¬ ängstigten, scheuen Kindes: Seine ersten Worte sind ein bloßes Nachplappern, er „zuckt zusammen“, als er den fremden Arzt bemerkt, und wird von Anton, der ihm einen Stein aus den Händen zu winden versucht, mit den Worten beruhigt: „Nicht fürchten. Ein guter Herr. Ein feiner Herr. Was denkt der Herr von dir? Leg den Stein weg. Er denkt, du bist ein Kind. Bist aber zwanzig Jahr.“ (SW XVI.1 17). Die einfache, einem Kmd angepaßte Rede Antons815 soll wohl die fröhlichere Atmosphäre seiner Kindheit suggerieren, die Sigismund „bei bäuri¬ schen Leuten, recht guten Leuten, bis zum vierzehnten Jahr“ (SW XVI.1 17) verbracht hat. Die ersten eigenen Worte, die Sigismund nach Antons Ermunte¬ rungen von sich gibt, spricht er mit „rührende [r] Stimme, noch halb kindisch“, wie der Arzt bemerkt, „schnell vor sich hin, wie ein Kind“ (SW XVI.1 18). Sie verraten, warum er sich bedroht fühlt und immerzu verteidigen muß: „Vieher sind vielerlei, wollen alle los auf mich. Ich schrei: Nicht zu nah! Asseln Würmer, Kröten, Feldteufeln, Vipern! Sie wollen alle auf mich. Ich schlag sie tot, sinds er¬ löst, kommen harte schwarze Käfer, vergrabens“ (SW XVI. 1 18). Seinem Mor¬ den fehlt das Unrechtsbewußtsein, für ihn sind die „Vieher“ „erlöst“. „Sie kujo¬ nieren ihn seit er am Leben ist, so kujoniert er was ihm unter die Hände kommt“ (SW XVI.1 9), kommentiert einer der wachehaltenden Soldaten das dumpfe Ge¬ räusch des Schlagens. Die kindlich wirkende Unbeholfenheit seiner Sprache bestätigt, was Anton zuvor dem Arzt erklärt hatte: „[...]manchmal krampft sich ihm’s Wort im Mund und er bnngts nicht heraus“ (SVß XVI.1 16). Überraschend ist da zunächst, daß er sogar über Latemkenntmsse verfügt und „mit einem dicken Buch fertig [wird], wie wenn’s eine Speckseiten wär“ (SW XVI. 1 16). Dieses Wissen hat ihm Julian, der Gouverneur des Turms und Ziehvater Sigismunds, vermittelt. Es bil¬ det einen immensen Widerspruch zur Begrenzung des Turmes und macht das Ausmaß dieses „Verbrechens am Seelenleben“816 erst deutlich. Allein der Arzt erkennt dies und vermag den qualvollen Seelenzustand dieses Patienten zu deu-

814 Eine Anspielung auf Christus liegt laut Kommentar in der Formulierung „des obersten Königs erstgeborener Sohn“, s. SW XVI. 1 511. 815 Zweiwort- bzw. kurze Sätze, Wortwiederholungen, später Anrede in der dritten Per¬ son: Jetzt wird der Sigismund auch sprechen“ (SW XVI. 1 17). 816 So der Titel eines der vielen Bücher über den Fall Kaspar Hauser, dessen Einfluß auf Sigismunds Schicksal unten ausführlich behandelt wird, siehe 3. Teil, Kapitel II.3.2.

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ten: „Die Grenze ist verwirrt zwischen innen und außen“ (SW XVI. 1 18), dia¬ gnostiziert er, nachdem er dem Ängstlich-Verwirrten mit einer fürsorglichen Geste - er legt ihm die Hand auf die Stirn - die Frage „Bin ich jetzt in der Welt? wo ist die Welt?“ (SW XVI.1 18) entlockt hat. Die Handauflegung817 allein be¬ wirkt schon den ersten Schritt der Heilung. Sigismund erwacht und wird sich fragend seiner Lage bewußt, freilich ohne sich sogleich orientieren zu können. Der Arzt ist Geburtshelfer. Durch ihn kommt Sigismund nach langer Dunkel¬ heit erstmalig wieder zu sich und, in geistiger Hinsicht, auf die Welt. Sigismunds Welt und Seele sind eins. Er kann sich und die Welt nicht getrennt erfahren, was in der Isolation des Turmes zu Qual werden muß, da er doch von der Welt weiß. „Nichts von der Starrheit des Wahnsinns. Bei Gott, kein mörderisches Au¬ ge, nur ein unermeßlicher Abgrund. Seele und Qual ohne Ende“ (SW XVI. 1 19), lautet die Diagnose des Arztes, als er dem Patienten mit einem Kienspan ins Au¬ ge leuchtet.818 Das Licht, im Stück eine häufig wiederkehrende Metapher für den Geist und die Liebe, lindert Sigismunds seelische Schmerzen und läßt ihn die Heiligkeit seiner Seele erkennen: „Licht ist gut. Geht herein, machts Blut rein. Sterne sind solches Licht. In mir drin ist ein Stern. Meine Seele ist heilig“ (SW XVI.1 19). In der symbolischen Reinigung der Seele durch Licht oder durch Feuer - Julian nennt Sigismund später „Lichtgeist“ und „Feuersohn“8lv - wird auch die Voraussetzung für das Eingehen der Seele in das Mysterium Gottes an¬ gedeutet: das Martyrium. Vermittels der Metapher des Lichts ist von Anfang an klar, daß Sigismund bei aller dämonischen Ähnlichkeit mit dem Tier ein Mensch mit Geist und Ver¬ nunft ist. Anton erkennt an seinen Augen, „die herglühen“ (SW XVI. 1 16), daß er sein Rufen gehört hat, als er sich ihm zum ersten Mal nähert. Man fühlt sich an jene mystische Analogie erinnert, die Goethe in der Einleitung seiner Farben¬ lehre formulierte: „Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, / wie könnten wir das Licht erblicken? / Lebt’ nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt uns Göttli¬ ches entzücken ?“820 Gerade weil Sigismund nur zwei Stunden täglich die Som¬ mersonne sieht, zeugen seine leuchtenden Augen in den Dunkelheit von seinem sehnsüchtigen Geist, der erwacht, wenn er bei seinem Namen angesprochen wird. Die vorherige Abgeschlossenheit von der Welt und die Ungeschiedenheit von Innen- und Außenwelt kennzeichnen Sigismunds Seele als eine Seele im prä¬ existentiellen Zustand. In Ad me ipsum wird die Präexistenz auf die Formel „Das

817 Der topische Gestus ist biblischen Ursprungs; die Heilung von Kranken durch die Hand Jesu Christi wird auch in der Malerei häufig zitiert, etwa in Jean-Antoine Gros’ Gemälde Bonaparte bei den Pestkranken von Jaffa (1804), in welchem die Macht des Kaisers durch eben¬ diese Geste bei einem verletzten Soldaten glorifiziert wird. 818 In der neuen Fassung spricht der Arzt diese Diagnose nicht mehr aus. 819 Vgl. die zweite Szene des zweiten Aktes, in der Sigismund seinen „Vater“ im Feuer er¬ kennt (SW XVI. 1 64). 870 Goethe, HA Bd. 13. Naturwissenschaftliche Schriften /, S. 324. Goethe nahm dieses Ge¬ dicht auch außerhalb der Farbenlehre in die Ausgabe letzter Hand Bd. 3 (1827) in die Abteilung Zahme Xenien III auf. Dort lautet die zweite Zeile: „Die Sonne könnt es nie erblicken “ HA Bd. I, S. 367.

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„Das Ich als Universum“ (RA III 599) gebracht. Ihr kommt „Glorie“, „Größe“, „Ewigkeit“ und „Totalität“”21 zu. Die Präexistenz ist ein magischer, schicksalslo¬ ser (RA III 602) und auch kindlicher (RA III 611 u. 616) Zustand „geistiger Souveränität“ (RA III 599), in dem die Seele als universales „Über-ich“ (RA III 599) , als ein „alles Überschauenstes, fast unbegrenztes Wesen“ (RA III 624) „die Welt von oben“ (RA III 599) sieht. Zugleich ist die Präexistenz auch der Zu¬ stand, in den die Seele schließlich wieder zurückkehrt, sie ist das „Zu-sich-selberKommen“, das Ende, welches mit dem Anfang verbunden ist.822 Da Sigismund Wissen von der Welt besitzt, befindet er sich bereits im Turm in einem „ambivalenten Zustand“ (RA III 600 u. 601), der die „noch unvoll¬ kommene Verknüpfung [der Seele] mit der Welt“ (RA III 600) bedeutet. Es ver¬ langt ihn, es mit dem „Welt-dämon, Tyche“ (RA III 607) aufzunehmen. ,Tyche‘, in der ursprünglichen Bedeutung die griechische ,Fortuna“, deutet Hofmannsthal psychologisch: Sie ist „die Welt, die das Individuum von sich entfernen will, um es zu sich zu bringen“ (RA III 603 u. 6 0 7).823 Das Individuum will sich „ver¬ schulden“; die scheinbar paradoxe „Süßigkeit der Verschuldung“ (RA III 600 u. 606) rührt aus dem Wunsch, zum Leben zu gelangen. Im „halb verlorenen Zu¬ stand der Präexistenz“ liege der „ambivalente Sinn der .Verschuldung““ (RA III 600) . Dieser Zwischenzustand entspricht biographisch dem Lebensalter der „Ju¬ gend“ (RA III 609, 612, 615, 616). Um die Verknüpfung von Präexistenz und Verschuldung besser zu verstehen, ist eine biographische Begebenheit Hof¬ mannsthals aufschlußreich.

821 RA III 599, 606, 609 f. Sigismunds Ziehmutter, die ihn später besucht (11,2), hatte ihn sieben Jahre nicht gesehen. Die Zahl Sieben steht für Totalitäten und kann deshalb als Hinweis auf Sigismunds Präexistenz gedeutet werden. Da die Nachbarsfrauen als Ausdruck ihrer Vereh¬ rung für den schönen Knaben „Milch und Honig“ vor die Tür stellten, waren die Zieheltern gezwungen, ihn im Innern des Hauses versteckt zu halten. Auch diese glücklicheren Jahre sei¬ ner Kindheit hatte Sigismund also in der Dunkelheit eines abgeschlossenen Raumes und damit im Zustand der Präexistenz verbracht. 822 Vgl. die Weisheit des Alkmäon von Kroton, die Hofmannsthal mehrfach zitiert: Wir sterben, „weil wir das Ende unseres Lebens nicht mit unserem Anfang zu verknüpfen wissen“ (RA III 94 und 575). Siehe unten Kapitel III, 7. 823 Auf dieser Einsicht basiert auch Aby Warburgs Kunsttheorie, deren Grundlage Ilsebill Berta Fliedl, Mitherausgeberin des Katalogs der Ausstellung Die Beredsamkeit des Leibes, wie folgt zusammenfaßt: „Die menschlichen Versuche, Ordnung in das bedrohliche Chaos der umgebenden Welt zu bringen, sie erst einmal als Getrenntes vom Ich zu erfahren, nennt Warburg .Orientierung1. Um Angst vor innerer und äußerer Natur zu bewältigen, setzt der Mensch Zeichen und Bilder, durch die er sich von den äußeren Eindrücken distanzieren kann. Der .ein¬ drückende Reiz1 wird in einem Angstreflex durch ein Bild ersetzt (z.B. Naturgottheiten) und kann durch Einordnung in Gesetzmäßigkeiten objektiviert werden. Jede humane Ausdruckslei¬ stung, sei es Gebärde, Sprache oder Bild, setzt den Menschen in eine aneignende oder abweh¬ rende Beziehung zur Welt.“ I.B. Fliedl, ,Vom Triumph zum Seelendrama. Suchen und Finden oder Die Abenteuer eines Denklustigen, in: Die Beredsamkeit des Leibes. Zur Körpersprache in der Kunst, hrsg. v. Ilsebill Barta Fliedl und Christoph Geissmar, Salzburg und Wien 1992, S. 165— 170, hier S. 165. Warburg selbst beginnt die Einleitung zu seinem berühmten MnemosyneAtlas von 1929 mit der These: „Bewußtes Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt darf man wohl als Grundakt menschlicher Zivilisation bezeichnen“, erstmals vollständig veröf¬ fentlicht in Fliedl/Geissmar (Hrsg.), Die Beredsamkeit des Leibes, a.a.O., S. 171 ff.

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Hofmannsthal kommentiert die Lust an der Verschuldung mit den Versen des melancholischen Harfners aus Goethes Wilhelm Meister: „ihr führt ins Leben uns hinein / ihr laßt den Armen schuldig werden / dann überlaßt ihr ihn der Pein“.824 Dieselbe Strophe zitierte er auch in einem Brief vom 21. Februar 191582:> an Clara Heye, Schwester Rudolf Alexander Schröders und vertraute Freundin Alfred Heymeis, der im November 1914 nach schwerer Krankheit gestorben war.826 Hofmannsthal hatte Heymel in der Vergangenheit durch sein abweisen¬ des Verhalten sehr verletzt, was ihr Verhältnis in den letzten Jahren deutlich ge¬ trübt hatte. Kurz vor Heymeis Tod bat er ihn, dem Rat Dora von Bodenhausens folgend, um Verzeihung.827 Er bereute, ihn verletzt zu haben, hielt aber sein Ver¬ schulden letztlich für schicksalhaft, denn „die seltsame Verstrickung aller dieser Dinge“ habe „jede [s] einer Handlungen anders härter, folgenreicher erscheinen [lassen], als sie gemeint waren.“828 Anknüpfend an jene Harfner-Verse Goethes erklärte er Clara Heye, es seien „wirklich Unsichtbare, die mich haben an ihm so schlimm schuldig werden lassen.“829 Zugleich erkannte er einen Sinn in dieser Fügung: „nur dadurch, daß ich ihm wehtat, und dadurch, wie er es aufnahm, hat sein Dasein für mich Wirklichkeit bekommen - dadurch ahnte ich, daß er eine Seele hatte und daß er ein Mensch war und konnte um ihn weinen.“83' Die Am¬ bivalenz der persönlichen Gefühle Hofmannsthals - die Reue, einen Mitmen¬ schen verletzt zu haben, einerseits und das tröstende Eingeständnis, daß man gar nicht anders hätte handeln können, solange einem dieser Mensch überhaupt et¬ was bedeutet, andererseits831 - diese Ambivalenz spiegelt sich in dem Ad me

ipsum-Wort von der „Süßigkeit der Verschuldung“, die mit dem „halb verlore824 RA III 600. Es handelt sich um die ersten drei Verse der zweiten Strophe des melancholischen Liedes „Wer nie sein Brot mit Tränen aß“, J. W. Goethe, HA Bd. 7. Romane und Novellen II, Wilhelm Meisters Lehrjahre, zweites Buch, dreizehntes Kapitel, S. 136. 825 Der Brief entstand also etwa ein Jahr vor Beginn der Aufzeichnungen Ad me ipsum. 826 Hugo von Hofmannsthal/Alfred Heymel, Briefwechsel - Teil II 1909 bis 1914, in: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne 3/1995, S. 19-167, hier S. 165. Während der vierte und letzte Vers des Liedes in Ad me ipsum fehlt, gibt Hofmannsthal die Strophe hier vollständig wieder; der letzte Vers lautet: „denn jede Schuld rächt sich auf Erden.“ 827 Vgl. Dora von Bodenhausen an Hofmannsthal am 17. November 1914 und Hofmanns¬ thal an Heymel am 19. November 1914 in Hofmannsthal /Heymel II, a.a.O., S. 161 ff. 828 A.a.O., S. 164. 829 A.a.O., S. 165. An Heymel schreibt er, zweimal habe „ein Dämon hineingespielt“, als er ihn letztlich durch das Zutun dritter verletzte, a.a.O., S. 163. Das „Ihr“ des Harfner-Liedes bezieht sich auf die „himmlischen Mächte“ der ersten Strophe, die der nicht kennt, der „nie sein Brot mit Tränen aß, / [Der] nie die kummervollen Nächte / Auf seinem Bette weinend saß“, Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, a.a.O., S. 139. 830 A.a.O., S. 165. 831 Diese widersprüchlichen Gefühle werden noch deutlicher in Hofmannsthals Beschrei¬ bung seiner Beziehung zu dem Verstorbenen in dem Brief an Clara Heye: „Sie müssen denken wie dies zwischen uns war - wie all das fehlte, woraus sich langsam aus der geistigen Anziehung zwischen Jünglingen das viel Schönere, Heiligere: Freundschaft zwischen Männern - ausbildet. Zuerst war von mir zu ihm diese geistige Anziehung gewesen - dann ein Warten bei mir, eine immer stärkere Ungeduld, die Hoffnung auf die Krise, Enttäuschung, innere Entfremdung bis er mit unsäglichem Reden und Reden, mir sein Bild verwischte, mir allmählich zum Gespenst wurde - nun sage ich dies wieder viel härter als ich möchte [...], a.a.O., S. 165.

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ne[n] Zustand der Präexistenz“ einhergeht und in der Hofmannsthal ebenfalls einen „ambivalente[n] Sinn“ (RA III 602) erkennt.832 Die Präexistenz verlassen bedeutet Menschwerdung im Sinne von „ein Schicksal annehmen“ - die Präexi¬ stenz ist ein Zustand der „Schicksallosigkeit“ (RA III 602) - und die Phase des Überganges, die den jungen Menschen in die Gefahr bringt, sich zu verirren, notwendig mit ambivalenten Gefühlen verbunden. Die Verse Goethes liefern gleichsam den Kommentar zu dieser von Hofmannsthal persönlich durchlebten und zugleich zum poetologischen Programm erhobenen Ambivalenz: Wie das zutiefst melancholische Lied des Harfners ganz im Sinne der aristotelischen Ka¬ tharsis-Lehre eine therapeutische Wirkung bei dem jungen Wilhelm Meister her¬ vorruft,833 so erhofft sich der trauernde Freund Erleichterung durch seinen ehrli¬ chen Brief und der in seinen anfänglichen Erwartungen vom Krieg enttäuschte Dichter Trost durch die Existenz des eigenen Werkes, das er, indem er seine poetologischen Voraussetzungen festhält, zu rechtfertigen sucht. Indem Hofmannsthal das Verlassen der Präexistenz als „Verschuldung“ ver¬ steht, wird die Parallele zu jener ersten symbolischen Beschreibung des präexi¬ stentiellen Seelenzustandes im Buch Genesis deutlich: Adam und Eva müssen den Garten Eden verlassen, weil sie Gottes Verbot mißachtet und vom Baum der Erkenntnis gegessen haben. Zur Menschwerdung gehört notwendig die Ver¬ schuldung - diese erste Tragödie bildet also den Kern dessen, was Hofmannsthal als Variation in den Schicksalen seiner Dramenhelden zu gestalten versucht. Hierin deutet sich an, inwiefern Hofmannsthals Begriff der Präexistenz die Grundlage einer Tragödien- bzw. Trauerspieltheorie bildet. Der in Ad me ipsum skizzierte Zusammenhang zwischen Präexistenz und Verschuldung ist im Turm zunächst nicht nachvollziehbar. Sigismund ist anders als Claudio in Der Tor und der Tod der Gefahr der Präexistenz unfreiwillig aus¬ geliefert.834 Das Verbrechen, das an ihm begangen wird, besteht darin, daß man ihm die Möglichkeit verweigert, sein Schicksal - ,Tyche‘ - anzunehmen. Der

832 Die zeitliche Nähe des sehr persönlichen Briefes und der auf das Werk bezogenen Aufzeichnungen erklären Hofmannsthals späteres Staunen darüber, wie man „den Bekenntnis¬ charakter, das furchtbar Autobiographische“ (RA III623) seiner Dichtungen habe übersehen können. 833 Dieser fand sich, halb verführt von Philine, in einer „verdrießlichen Unruhe“ zurückgelassen und wurde durch den Gesang des Harfners „tief gerührt, die Trauer des Unbekannten schloß sein beklommenes Herz auf; er widerstand nicht dem Mitgefühl und konnte und wollte die Tränen nicht zurückhalten, die des Alten herzliche Klage endlich auch aus seinen Augen hervorlockte. Alle Schmerzen, die seine Seele drückten, lösten sich zu gleicher Zeit auf, er überließ sich ihnen ganz [...]“ Goethe, Lehrjahre, a.a.O., S. 141. Am Ende des Kapitels wird die Wirkung des Harfners auf Wilhelm mit der Erbauungskunst pietistischer Gemeindepraxis verglichen, a.a.O., S. 142 ff. 834 „Gefährlich“ (RA III 599 u. 605) kann der präexistentielle Zustand nach Hofmanns¬ thals Aufzeichnungen werden, wenn man seine magischen Qualitäten genießt und ihn deshalb erst gar nicht verlassen will: „Was frommt das alles uns und diese Spiele / die wir doch groß und ewig einsam sind / was frommts dergleichen viel gesehen zu haben“ (RA III 606 u. 610). Claudio unterschätzt die Gefahr und muß sterben, ohne wirklich in der Welt gewesen zu sein. Zu spät erkennt er sein Versäumnis, den „ambivalenten Zustand zwischen Prae-existenz und Leben“ (RA III 601) nicht durch den Weg ins Leben überwunden zu haben.

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präexistentielle Zustand Sigismunds ist deshalb nicht von vornherein „glorreich“ (RA III 599), sondern gewinnt im Trauerspiel erst einen positiven Aspekt, nach¬ dem die Unmöglichkeit einer Bewährung der Seele in der Existenz erkannt wor¬ den ist. Dies wird deutlich, als sich Sigismund im vierten Akt unter den Worten: „Ja, das bin ich, Herr und König auf immer in diesem festen Turm“ (SW XVI. 1 95) auf die Brust schlägt. Die Präexistenz wird zum geistigen Refugium, und ihr Symbol, der Turm, der zunächst noch das „Zentrum der Weltunrechts“ bedeu¬ tet, mutiert zum Asyl des Geistes. Der Turm gleicht dem früheren Symbol für das eigene Ich, dem tiefen Brunnen,835 von dem Hofmannsthal auch in dem Gedicht Weltgeheimnis (SW I 43) spricht: „Der tiefe Brunnen weiß es wohl ...“, lautet der Kehrreim. Im Berg¬

werk zu Falun wird ebenfalls mit einer Variation des Turm- bzw. Brunnensym¬ bols gespielt. Der Schacht, in dem die Bergleute in die Gruben hinabgelassen werden, heißt in der Bergmannssprache Turm. Die Sehnsucht des dortigen Hel¬ den Elis und Sigismunds Wunsch, in den „festen Turm“ zurückzukehren, sind vergleichbar; auch ähneln sie der Sehnsucht des Heinrich von Ofterdingen nach dem Innern des Berges.836 ,Brunnen“, ,Berg“ und ,Turm“ entsprechen in Hofmannsthals Werk den al¬ ten religiösen Symbolen der ,axis mundi“.837 Die ,axis mundi“ bezeichnet das Zen¬ trum der Welt, das für den religiösen Menschen auch den Übergang in eine ande¬ re Sphäre, die göttliche oder die vorweltliche, markiert.838 Es ist die Schwelle zum Göttlichen, an welcher der Mensch seinem Gott begegnen kann, ein Ort poten¬ tieller Theophanie.839 Sigismund verläßt den Turm, um seine Erfahrung in der Welt zu machen, und findet auch wieder in ihn zurück. Der Turm ist für ihn das Tor zum Göttlichen. Er markiert den Ort, an dem ihm sein ,Vater“ im Feuer be¬ gegnet ist (11,2). Die hierin angedeutete Affinität Sigismunds zu Moses macht ihn auch zu einem Bruder Fausts.840 1.2. Die Herkunft des Begriffes ,Präexistenz“ Die Idee der Präexistenz besitzt eine doppelte Tradition: Sie hat ihre Wurzeln im Neuplatonismus, von wo aus sie aufgrund der frühen Ächtung durch das kirchli¬ che Dogma Mitte des 6. Jahrhunderts in der abendländischen Geistesgeschichte als häretische Irrlehre und - gewissermaßen verkleidet - im Volksglauben fort-

835 RA III 601 836 Vgl. Novalis, Werke in einem Band, Berlin und Weimar 1984, S. 173 ff. - Zum Symbol des Turmes vgl. auch Heinz Politzer, Der Turm und das Tier aus dem Abgrund. Zur Bilderspra¬ che der österreichischen Dichtung bei Grillparzer, Hofmannsthal und Kafka, in: GrillparzerForum Forchtenstein, Vorträge, Forschungen, Berichte 1968, Heidelberg 1969, S. 24-42. 837 Im alten Testament symbolisiert diesen Ort die Jakobsleiter1, s. Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Hamburg 1957, S. 23. 838 A.a.O., S. 15 ff. 839 Der „Weltpfahl“ oder die „Weltsäule“, a.a.O., S. 7. 840 Für Fausts Beschwörung des Erdgeistes und dessen Monolog in Wald und Höhle ließ Goethe sich von einer Nachdichtung Herders Der Tod Moses anregen; vgl. Burdach, Faust und Moses, a.a.O., S. 385 ff. - Siehe unten Kapitel III, 4.

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lebte. In den östlichen Religionen hingegen gehört die Vorstellung der Präexi¬ stenz von jeher zum festen Bestand der offiziellen Glaubenslehre. Hofmannsthal war mit beiden Ursprüngen des Begriffes durch entsprechende Quellen vertraut, wobei er sich die orientalische Bedeutung des Begriffes wahrscheinlich zielstre¬ biger aneignete. Hofmannsthal bildete in der unter europäischen Intellektuellen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts verbreiteten Rezeption östlichen Ge¬ dankenguts keine Ausnahme. Gleichwohl darf über den Nachvollzug der Faszi¬ nation, die die „Entdeckung“ buddhistischer Weisheit als Remedium gegen die „Krankheiten“ der westlichen Moderne - Kapitalismus, Materialismus, Deka¬ denz841 - auslöste, nicht der antike und christliche Hintergrund der Präexistenzi¬ dee vergessen werden, auch wenn dieser weniger unmittelbar in Hofmannsthals Vorstellung der Präexistenz eingegangen sein mag. 1.2.1. Die neuplatonische Tradition der Präexistenzidee Mit dem lateinischen Motto von Ad me ipsum, einem Wort des griechischen Kir¬ chenvaters Gregor von Nyssa, bekennt sich Hofmannsthal zu den neuplatoni¬ schen Wurzeln seiner Ästhetik: „Quocirca supremae pulchritudinis amator quod jam viderat tamquam imaginem eius quod non viderat credens, ipso frui primitivo desiderabat.“ (RA III 599)

Die Begriffe ,imago‘ - ,Abbild' und ,primitivus‘ - ,Urbild' erinnern an Platon, der in der abendländischen Philosophie als einer der ersten Vertreter der Präexi¬ stenzidee gilt,842 obwohl er die Begriffe „-ngou-naQ^u;“ oder „TTQovn(iQ%ziv“ nicht ex¬ plizit verwendet hat.843 Seine Theorie der Wiedererinnerung an die ewigen Ideen, die vor allem in den Dialogen Phaidros, Phaidon und Menon thematisiert wird, setzt eine Existenz der menschlichen Seele vor der Geburt voraus. Genaueres wenn auch nur in Form eines Gleichnisses - erfährt man über diesen präexisten¬ tiellen Seelenzustand zunächst im Phaidros: Die Seele beschreibt Platons Sokra¬ tes dort als ein gefiedertes Gespann, bestehend aus zwei Rossen, die die guten und schlechten Triebe des Menschen symbolisieren, und dem Wagenlenker, der Vernunft, der die beiden Seelenrosse an einen „überhimmlischen Ort“ zu lenken vermag, wo er „das farblose, gestaltlose, wahrhaft seiende Wesen“844 schaut. In Phaidon und Menon wird dieser Ort als „ein dem jetzigen Leben vorausgehender Zeitraum“845 bestimmt, wobei dieser nicht begrenzt, sondern als Ewigkeit vorge-

841 Vgl. Die Briefe des Zurückgekehrten (E 544-571), Aufzeichnungen zu Reden in Skandi¬ navien (RA II 28-42) und Die Idee Europa (RA III 43-54). 842 Eine Vorstellung der Präexistenz war bereits im orphischen und im pythagoreischen Gedankengut vorhanden, siehe Winfried Schröder, Artikel Präexistenz im Historischen Wörter¬ buch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer Bd. 7. 843 A.a.O., Sp. 1230 f. 844 Platon, Phaidros, in: Sämtliche Werke 4, nach der Übersetzung von Friedrich Schleier¬ macher mit der Stephanus-Numerierung hrsg. v. Walter f. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck, Reinbeck 1962 (4. Aufl.), 247 c-247 e. 845 Zit. nach Ritter, a.a.O., Sp. 1230. Der Autor des Artikels bezieht sich auf Phaidon 72 e und 76 c-77 a, wo „die Präexistenzlehre einen (im Argumentationsgefüge unverzichtbaren)

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stellt wird: Das Wissen, das die Menschen als Wiedererinnerung an jenen präexi¬ stentiellen Zustand besitzen, hätten sie „von jeher immer“846. Damit wird indi¬ rekt vom präexistentiellen Zustand der Seele gesagt, was noch für Hofmanns¬ thals Vorstellung desselben gilt, nämlich daß in ihm der ,Dämon Zeit“ keine Macht besitze. Der „schicksallose“ Zustand, wie die ,Präexistenz“ bei Hofmanns¬ thal ja auch umschrieben wird (RA III 602), ist ein ,geschichtsloser“ Zustand. Deshalb spricht Hofmannsthal im unmittelbaren Zusammenhang vom „variierte[n] Grundthema: das Ich als das Sein und das Ich als das Werden“ (RA III 602) und an anderer Stelle von den zwei Antinomien, die zu lösen waren, wovon die eine „die der vergehenden Zeit und der Dauer“ sei (RA III 613). Letzteres wird ferner im Hinblick auf Hofmannsthals Selbstverständnis als Dichter durch eine Aufzeichnung für seine skandinavischen Reden kommentiert: „[...] denn um das geht es, daß in einer Welt, in welcher alles in ein Werden gefaßt wird, der Dichter nach dem Sein fragen muß“ (RA III 33). Der Kern platonischer Philo¬ sophie bleibt somit paradigmatisch für Hofmannsthals Werk. Der bedeutendste spätantike Exeget und Erneuerer der platonischen Philo¬ sophie war Plotin. Sein in sechs Enneaden entworfenes philosophisches System geht aus von einem höchsten, göttlichen Urgrund des Seins, dem .Einen“, wel¬ ches nur in Form von negativen Prädikationen zu beschreiben ist. Von diesem höchsten Prinzip gehen Emanationen aus, die über verschiedene Seinsstufen alles Übrige schaffen: Zuerst als Spiegelung des .Einen“ den Geist, ,nus“, der die Welt der .Ideen“ umfaßt, dann die ,(Welt)-seele“, .psyche“, die zwischen dem Geistigen als Form des wahren Seins und der Materie, ,hyle“, vermittelt. Die Materie als solche bildet den Gegensatz zum höchsten Sein, dem Inbegriff des Guten und Schönen, das schlechthin Böse. Die Seele des Menschen, als Teil der Weltseele mit dem wahren Sein verknüpft, ist durch den Leib an die Materie, das Böse und Unreine, gebunden. Durch Loslösung von allem Irdischen vermag die Seele zum Geist zurückzukehren, was allerdings nur in seltenen, .mystischen“ Augenblikken vollkommen gelingt. Der Einfluß Plotins auf das Christentum und die Neu¬ zeit ist nicht zu übersehen. Noch Goethes bereits zitierter Vers „War“ nicht das Auge sonnenhaft, / Wie könnten wir das Licht erblicken? [...]“ geht auf Plotins erste Enneade zurück.847 Plotin und Origenes waren beide Schüler des ersten Neuplatonikers Ammonius Sakkas aus Alexandrien. Während das Werk des römischen Akademie¬ gründers Plotin philosophiegeschichtlich noch der heidnischen Antike zugeord-

Schritt“ bilde im Beweis der Unsterblichkeit der Seele, dem eigentlichen Thema dieses Dialoges und auf Menon 86 a. 8,16 Platon, Menon, in: Sämtliche Werke Bd. II, a.a.O., 86 b 1. S.a. Ritter, a.a.O., Sp. 1230. Die daraus sich ergebende Schlußfolgerung, daß die Seele ewig sei, sei schon in der Antike von Olympiodor und Damascius - bestritten worden. Hegel indes widerspreche der Ansicht, daß Platon eine Präexistenz der Seele im eigentlichen Sinne gelehrt habe; vielmehr habe er „nur eine gleichnisweise Vorstellung“ von der Ewigkeit der Seele geben wollen (Vorlesung über Ge¬ schichte der Philosophie), a.a.O., Sp. 1231. 847 Goethe, HA Bd. 13, S. 324 sowie die Erläuterung auf S. 643 zu dem „alten Mystiker“, den Goethe vorgibt zu zitieren: Gemeint sei Plotin. Goethe hat die Enneaden bereits in seiner Jugend gelesen und 1805 teilweise übersetzt.

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net wird, gehören die Schriften des Christen Origenes zur patristischen Litera¬ tur. Origenes’ Nähe zum spätantiken, heidnischen Gedankengut erklärt, warum er schon bald als Häretiker verschrieen war. Mit seinem Namen verbindet sich neben der unter anderem für das Ende von Goethes Faust II wichtigen Apokatastasistheologie848 auch die Lehre der ,Präexistenz“ der Seele, die in der abendlän¬ disch-christlichen Philosophie bald als Teil orientalischer Seelenwanderungs¬ theorien abgelehnt wurde.849 In der Lehre des ,Präexistentialismus“ wird der Glauben, alle Seelen seien von Gott schon vor den Leibern geschaffen, gegen¬ über dem ,Creatianismus‘ - die Seele wird mit dem Leib von den Eltern gezeugt - und dem ,Traducianismus“ - Gott schafft die Seele bei der Zeugung - vertei¬ digt.850 Darüberhinaus finden sich Hinweise auf die Präexistenzidee in Origenes’ Schrift Vom Gebet, und zwar im Kommentar des Verses „Geheiligt werde dein Name“ des .Vaterunsers“851 und im ersten Buch der Acht Bücher gegen Celsus, wo Origenes Jesu Geburt aus der Jungfrau Maria unter Hinweis auf die Präexistenz¬ lehre erklärt.852 Auch bei dem Kirchenvater Gregor von Nyssa, der rund hundert Jahre nach Origenes lebte, sind - wie nicht zuletzt Konrad Burdach gezeigt hat - die Spuren neuplatonischer, also heidnischer Philosophie noch deutlich zu erkennen. Die Vorstellung einer Präexistenz der Seele weist Gregor von Nyssa indes ausdrück¬ lich zurück. Im Gespräch mit Makrina über die SeeleS5i liefert er im Zusammen¬ hang mit der Seelenwanderung das entscheidende Argument gegen die Präexi¬ stenzidee. Die Auffassung nämlich, daß „die Seele [...] wegen ihres Hanges zum Bösen [...] nach unten strebe und in menschliche Körper eingekerkert werde, hierauf nach Aufzehrung der Denkkraft in unvernünftigen Tieren lebe und end¬ lich nach Verlust des Empfindungsvermögens das gefühllose Pflanzenleben an-

848 Siehe den Exkurs im Anschluß an dieses Kapitel. 849 So z. B. noch ausführlich von Gregor von Nyssa, Gespräch mit Makrina, § 14. Die An¬ sicht von der Seelenwanderung, Bibliothek der Kirchenväter, Des hl Gregor von Nyssa Schriften, aus dem Griech. übers., Kempten München 1927, S. 300 ff. 850 Vgl. David Friedrich Strauß, Die christliche Glaubenslehre, Tübingen, Stuttgart 1841, 2. Bd„ S. 46. 851 Origenes bezieht sich auf Deuteronomium 32,2 „Erwartet werden soll wie Regen mein Ausspruch [...], denn des Herren Namen rief ich an.“ In der Erkenntnis, daß der Mensch zur Vollendung seiner Fähigkeiten „Gottes bedürfe, ruft er eben den zu Hilfe, welcher im eigentli¬ chen Sinne Urheber der vorher genannten Dinge [des Regens] ist. Jeder aber, der auch die Er¬ kenntnis Gottes aufhellt, erinnert sich deren mehr, als daß er sie erfährt [...]“. In dem Wört¬ chen „erinnern“ sieht der Herausgeber eine Andeutung auf die Präexistenzlehre, Origenes I, 84. 852 Celsus hatte benauptet, Jesus stamme aus einer ehebrecherischen Verbindung Marias mit dem Soldaten Pantheras, weshalb Joseph sie verstoßen habe. Origenes hält - wie er meint „im Sinne des Pythagoras, Plato und Empedokles „ - dagegen, daß jede Seele „ihre Wohnung nach Würdigkeit und mit Rücksicht auf ihren früheren Charakter“ erhalte, weshalb ein „schimpflicher“ Ursprung für Jesus, der „so Großes wagen, der so viele belehren und so viele Menschen aus der Flut der Sünde zurückführen sollte“ ausgeschlossen sei, Origenes II, 45. 853 Makrina ist Gregors Schwester, an die er sich nach dem Tode des Vaters mit diesem Text nach dem Vorbild des Gesprächs von Sokrates und Diotima aus Platons Symposion wen¬ dete.

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nähme“,854 um dann über dieselbe Stufenfolge wieder in „die himmlische Region zurückzukehren“,855 habe zur Folge, daß die „Sünde für die Entstehungsursache alles Irdischen“856 zu halten sei, was dem göttlichen Schöpfungsakt widerspreche: „Untersteht unser Leben nämlich Gott und seiner Regierung, so ist es klar, daß es nicht durch die Sünde angefangen hat

857 Gregor von Nyssa ist davon

überzeugt, „daß die Sünde nicht älter ist als das Leben, und daß nicht von ihr die Menschennatur abgeleitet werden kann, sondern daß die alles lenkende Weisheit Gottes unserem Leben den Anfang verlieh, daß sie aber, nachdem sie auf die ihm gefällige Weise ins Dasein eingetreten ist, dann die volle Freiheit der Entschei¬ dung haben und werden soll was sie kraft des Vermögens der Selbstbestimmung werden will.“858 Im darauffolgenden Kapitel über den Eintritt der Seelen in das

Dasein gibt er auf die Frage, wann die Seele entstünde, eine präzise Antwort:859 nämlich gleichzeitig mit dem Körper, dem sie die Kraft zum Wachstum und zur Beweglichkeit verleihe.860 Damit bekennt er sich eindeutig zum ,Creatianismus‘. Mit den Argumenten Gregors von Nyssa gegen die Lehre der Präexistenz verdammte die christliche Dogmatik im Konzil von Konstantinopel (553 n.Chr.) die Ansichten des Origenes: Die Annahme eines präexistenziellen Seelenzustan¬ des sei unvereinbar mit der freiheitlichen Selbstbestimmung des Menschen und mit der Lehre der Erbsünde.861 Der Mensch sei nicht - wie Gregor schreibt aufgrund seiner .Materialisierung“, seines Körpers an sich, schuldig, sondern als ursprünglich paradiesische Kreatur eines liebenden Gottes gut. Schuldig werde Adam erst, als er die verbotene Lrucht vom Baum der Erkenntnis gegessen hat und aus dem Paradies vertrieben worden ist. Seither besitze er die Freiheit zur Selbstbestimmung. Der nicht-christliche Mensch sei ein Sohn Adams und habe als erkennendes Wesen diese erste Sünde .geerbt“. Erst durch den .neuen Adam“, Jesus Christus, der alle Sünden auf sich geladen hat, könne der sündige Mensch erlöst werden - wenn er sich im Bewußtsein seiner Lreiheit zu Christus, dem Mensch gewordenen Sohn Gottes, bekennt. Daraus ergibt sich: Nicht der Kör¬ per an sich, die Verbindung des Menschen zur Materie sei schlecht, bzw. böse oder sündig, sondern der als Sohn Adams geborene freie Mensch, der nur durch Christus erlöst werden könne. Flofmannsthal scheint sich mit der in der Literatur der Kirchenväter nach¬ vollziehbaren Diskussion über die Präexistenzlehre und deren häretischer Tradi¬ tion im einzelnen nicht auseinandergesetzt zu haben. Sein Begriff der .Präexi¬ stenz“ bleibt trotz dieses in den Grundzügen sicherlich bekannten Hintergrun¬ des ein sehr persönlicher, der sich, als er ihn für seine poetologischen Überle-

854 Gespräch mit Makrina, a.a.O., S. 305. 855 Ebd. 856 A.a.O., S. 307. 857 A.a.O., S. 308. 858 A.a.O., S. 309. 859 Über das „wie?“ hingegen könne keine Aussage gemacht werden, a.a.O., S. 312 860 Ebd. 861 „Die christliche Dogmatik stand einer Rezeption der Pjräexistenz]lehre in vielfacher Hinsicht (allein die Unverträglichkeit von Erbsünden- und P.-Lehre war hinderlich genug) entgegen [...]“, HWdPH, a.a.O., Spalte 1231.

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gungen heranzog, in erster Linie wohl aus buddhistischen Vorstellungen speiste. Ein Beispiel für Hofmannsthals synthetisierende Denkweise ist, daß er mit dem Motto seiner Aufzeichnungen Ad me ipsum gerade einen Gegner der Präexi¬ stenzlehre zitiert, auf deren Basis er seine Dichtungstheorie gründet. Dieser Wi¬ derspruch im Detail löst sich angesichts der Universalität neuplatonischer Philo¬ sophie - universell kann sie wohl deshalb genannt werden, weil sie wie keine andere Philosophie heidnisches und christliches, orientalisches und abendländi¬ sches Gedankengut in sich vereint. Seine Kenntnisse über den Neuplatonismus verdankte Hofmannsthal ma߬ geblich dem Philologen Konrad Burdach. Die Idee der ,Präexistenz“ behandelt dieser in einer Schrift über den anonymen Dichter des Ackermann aus Böhmen, einer Renaissance-Dichtung, die Burdach im Rahmen des mehrbändigen Werkes

Vom Mittelalter zur Reformation herausgegeben und kommentiert hat.862 Dieses Werk erschien 1926, so daß Burdachs Kapitel über die ,Präexistenz der Seele“ zwar nicht direkt als Quelle für Hofmannsthals Aufzeichnungen Ad me ipsum, die ja zehn Jahre zuvor begonnen wurden, anzusehen ist. Da aber der Ackermann aus Böhmen insgesamt ein für Hofmannsthals späte Dramendichtung wichtiges Buch darstellt,863 sollen Burdachs Erläuterungen zur Präexistenz hier dennoch kurz vorgestellt werden. Das aus dem 16. Jahrhundert stammende Gedicht stellt die Klage eines Ackermanns über den frühzeitigen Tod seiner Ehefrau dar. Es ist als ein an das Theodizee-Problem rührendes Streitgespräch zwischen dem Mann und dem Tod vor Gott inszeniert. Burdach liest einen Vers des Schlußgebets864 als Zeugnis für eine im Volksglauben lebendig gebliebene Vorstellung einer „Praeexistenz der menschlichen Seele vor ihrer irdischen Laufbahn“865, die sich trotz des kirchli¬ chen Dogmas, welches seit dem Konzil von 543 n.Chr. den Creatianismus ver¬ tritt, erhalten habe, was Burdach auf einige Bibelstellen und deren Auslegung zu¬ rückführt. So speise sich etwa die „uralte orphisch-Platonische und neuplatoni¬ sche Vorstellung“, nach welcher die Seelen als „präexistente Emanation aus dem Göttlichen“ gedacht wurden, aus Ecclesiastes 12,7.866 Ebenso habe die auch von Augustinus verwertete, im Anschluß an das Paulus-Wort gebildete Vorstellung von der irdischen Pilgerschaft der Seele, die ihre wahre Heimat bei Gott habe (Cor. 5, 6-8), dem Präexistenzglauben Vorschub geleistet.867 Augustinus habe sich zwar ausdrücklich gegen einen Präexistentiamsmus im Sinne Platons und Origenes’ ausgesprochen, nie aber - wie Gregor von Nyssa - entschieden für den

862 Konrad Burdach (Hrsg.), Vom Mittelalter zur Reformation. Forschungen zur Geschichte der deutschen Bildung, 3. Band, 2. Teil, Der Dichter des Ackermann aus Böhmen und seine Zeit, Erste Hälfte, Berlin 1926. 863 Die kritische Ausgabe des Turm weist eine Fülle von Bezügen nach und rührt Burdachs Ackermann-Kommentar in der Liste der wichtigen Quellen auf. 864 „Lass sie Herre, von dannen sie kumme ist, wonen in deinem reiche bei den ewigen se¬ ligen Geisten (34, 66-689)“, Burdach, Ackermann, a.a.O., S. 87. 865 Burdach, Ackermann, a.a.O., S. 87 ff. 866 „Reveratur pulvis in terram suam, unde erat, et spiritus redeat ad Deum, qui dedit eum“, Burdach, Ackermann, a.a.O., S. 89. 867 A.a.O., S. 89 f.

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Creatianismus plädiert. Burdach erkennt bei Augustinus einen „neuplatonischen Grundtrieb seines Denkens“.868 Augustinus’ Seelenvorstellung gehe von dem Siracidenwort „qui vivit in aeternum creavit omnia simul“ (Ecclus. 18,1) aus und hänge insofern mit seiner Logos-Deutung zusammen, als der Seele im göttlichen Schöpfungsprozeß ein „latentes Dasein“ zukomme, „bis sie am sechsten Schöp¬ fungstage mit dem aus der erschaffenen Materie geformten Leibe verbunden wurde“.869 Einer „präexistentianischen Folgerung materialistischer Art“ habe Au¬ gustinus vorgebeugt „durch seine rein theistisch spiritualisierende Erklärung, daß alle Dinge, bevor sie wurden, in der ,sapientia‘ Gottes lebten“, eine Vorstel¬ lung, die er später durch das anschauliche Beispiel des Kastens, welcher bereits vor seiner Herstellung in der Idee des Tischlers Leben habe, unterstrich.8,0 Bur¬ dach geht im folgenden ausführlich auf die Augustinische Imago-Mystik ein, nach welcher der vor den anderen Geschöpfen durch ein .inneres Licht1 ausge¬ zeichnete Mensch trotz des adamitischen Sündenfalls die ,imago Dei‘ in sich trägt und der sich - so der ethische Grundgedanke der Augustinischen Anthro¬ pologie - durch kontemplative Versenkung zur Schauung des Göttlichen in sich selbst wiedergebären soll.871 Burdach erklärt ferner, inwiefern die Position des Ackermanns sich von den Lehren Augustins entfernt hat. Für Hofmannsthals Verständnis der Präexistenz bleibt festzuhalten, daß er in Burdachs Ausführun¬ gen eine Bestätigung für den universalistischen, weil jenseits der Dogmatik im Volksglauben lebendig gebliebenen Charakter präexistentianistischer Vorstel¬ lungen finden konnte. Dieser ,Universalismus' ermöglicht ihm letztlich den Brückenschlag zwischen abendländischer und orientalischer Religiosität, den er mit der Verwendung dieses Begriffes erreichen will. Exkurs: Präexisistenz und Entelechie. Sigismund und Faust Hofmannsthals Bemerkung zum Turm - „Darzustellen das eigentlich Erbar¬ mungslose unserer Wirklichkeit, in welche die Seele aus einem dunklen mythi¬ schen Bereich hineingerät. Anzuknüpfen: jener Begriff der Präexistenz“ (RA III 625) - stammt aus den Jahren 1927 oder 1928, aus einer Zeit also, in der er sich mit der Umarbeitung der früheren Kinderkönigfassungen beschäftigte, bzw. die¬ se bereits so gut wie abgeschlossen hat.872 Ebenfalls 1927 definierte er die Präexi¬ stenz nicht mehr direkt, sondern durch einen interessanten Vergleich: Goethes „Homunculus - das alles überschauendste, fast unbegrenzte Wesen - das umher¬ späht, seine ihm bestimmte Enge zu finden“ (RA III 624), versteht Hofmanns¬ thal als „Gleichnis jener Präexistenz“. Ein aufschlußreicher Hinweis ist dies in der Tat, denn welche Gestalt könnte anschaulicher jene „Sphäre der Totalität“

868 A.a.O., S. 91. Dies widerspricht der These Dieter Breuers, der in seinem Aufsatz über Origenes im 18. Jahrhundert in Deutschland (in: seminar 21 (1985) S. 1-30) Augustinus als den wichtigsten Antipoden des Origenes versteht (vgl. Exkurs im Anschluß an dieses Kapitel). 869 Burdach, Ackermann, a.a.O., S. 93. 870 A.a.O., S. 94. 871 A.a.O., S. 94 ff. 872 Vgl. Entstehung in SW XVI.2 Dramen 14.2, S. 231 ff.

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(RA III 609) versinnbildlichen als das absolute, nach ,,geschloßne[m] Raum“873 und Taten drängende „Geistmännlein“874? Das Schicksal des im Laboratorium von

Faust

hergestellten

Retortenmenschen

gleicht

demjenigen

der

Hof-

mannsthalschen Helden: Homunculus geht den Weg aus der präexistentiellen Sphäre der Totalität, indem er die Aufgabe übernimmt, Faust und Mephisto zur ,Klassischen Walpurgisnacht' zu führen, um nach der Erfüllung dieser Aufgabe im Liebesrausch an der Muschel der Meeres- und Liebesgöttin Galatea zu enden: „Schließlich zerschellt [er] an der Galatea Throne, zerrinnt endgültig ins Unend¬ liche“ (RA III 624) fügt Hofmannsthal in Klammern seinem Hinweis auf den Gleichnischarakter des Homunculus hinzu.875 Daß seine Dramenfiguren - die tragischen' ebenso wie die der Komödien - in verschiedenen Variationen immer den „Weg aus der Präexistenz in die Existenz“ gehen, oder allgemeiner formu¬ liert „ihr Schicksal finden müssen“,876 versuchte Hofmannsthal in seinen Auf¬ zeichnungen Ad me ipsum zu zeigen.877 Der Homunculus gilt als „Bild der Entelechie des Menschen“.878 Der Begriff ,Entelechie‘ - in seiner aristotelisch-goethischen Bedeutung - kann als Komple¬ ment des Präexistenzbegriffes verstanden werden. Das griechische Wort ,Entele¬ chie' bedeutet zunächst wörtlich übersetzt „was das Ziel in sich selbst hat“. In seinen drei Büchern Über die Seele führt Aristoteles ihn in die philosophische Psychologie ein, indem er die Seele des Menschen als Entelechie, als .Erfüllung'

873 Homunkulus: ,,[...]Das ist die Eigenschaft der Dinge: / Natürlichem genügt das Welt¬ all kaum / Was künstlich ist verlangt geschlossnen Raum. [...]Dieweil ich bin, muß ich auch tä¬ tig sein“; Goethe, Faust II, Verse 6882—6884 und 6888, zit. Nach FA, Bd. 7/1, S. 280. 874 Vom „Geistmännlein, welches alle Einsicht und Durchsicht, allen Sinn der Welt in sich hat und dennoch, genau wie das absolute Denken, kein eigentliches Dasein besitzt , spricht Friedrich Gundolf in seinem Goethe-Buch, Berlin 1916, S. 769 f. 875 Offenbar glaubte auch Hofmannsthal, daß der Homunculus in der Vereinigung mit der Meeres- und Liebesgöttin stirbt. Albrecht Schöne hingegen widerspricht dieser geläufigen Deutung, indem er hier nicht den Tod des Homunculus, sondern - unter Hinweis auf das Wörtchen „ergießen“ - nur dessen „kleinen Tod“ beschrieben sieht: „Er wird sich zerschellen am glänzenden Thron; / Jetzt flammt es, nun blitzt es, ergießet sich schon.“ FA Bd. 7/1, S. 334. Da der Homunculus im weiteren Verlauf des Stückes nicht mehr auftaucht, ist es m.E. uner¬ heblich, ob er nun bei seiner Vereinigung mit Galatea tatsächlich stirbt oder nicht. Warum soll man das Ende dieses künstlichen Wesens konkret fassen, wo doch schon seine Geburt keine natürliche war? 876 Andrea ist schicksallos. Begriff des Schicksals [...] Das Unbefriedigende in der Sobeide: der Schicksalsbegriff ist unzulänglich erfasst [...] Präexistenz Schicksallosigkeit [...]“ RA

111 602'

,

r

, l

877 „Bangen und Sehnsucht diesen Zustand [der Präexistenz] zu verlassen: auf welchem

Weg? Verknüpfung mit dem Leben. Durchdringen aus der Praeexistenz zur Existenz“ RA III 600. „Die Introversion als Weg in die Existenz. (Der mystische Weg) [...]“ RA III 601. „das

Zu-sich-selber-Kommen (zu der höheren Existenz zurückkommen) auf direktem Wege [...] ebd. „Der Weg zum Leben und zu den Menschen durch das Opfer [...] Der weg zum Sozialen als Weg zum höheren Selbst: der nicht-mystische Weg. A) durch die tat b) durch das Werk c) durch das Kind [...] die Verwandlung im Tun. Tun ist sich Aufgeben“ RA III 602. 878 So Gisela Hesse in Kindlers Literatur Lexikon, a.a.O., S. 3456.

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des Körpers definiert.879 Goethe verwendet ,Entelechie‘ darüberhinaus „im Sinn von Leibniz’ unzerstörbarer ,Monade' [...], gleichbedeutend etwa mit ,Seele‘, die das in ihr Angelegte mit dauernder Energie zu vollenden strebt.“880 Es ist die Entelechie Fausts, sein „Unsterbliches“, wie es in der gedruckten Fassung heißt,881 die in den Bergschluchten, geleitet von allerlei Himmelswesen, über mehrere kosmische Stufen aufsteigt, bis das ,Ewig-Weibliche' sie hinanzieht. Dieser Auf¬ stieg kommt einem unendlichen Läuterungsprozess gleich, in welchem die jün¬ gere Goethe-Forschung eine verblüffend genaue Umsetzung der ApokatastasisLehre des griechischen Kirchenvaters Origenes erkannt hat.882 Goethe kannte die origenistische Wiederbringungslehre aus jener Kirchen- und Ketztergeschichte Gottfried Arnolds, der er laut Dichtung und Wahrheit zu großen Teilen seine „Privatreligion“ verdankt.883 Die Lehre der ,apokatastasis panton', der „liebenden Wiederbringung aller“, entwirft Origenes im dritten Buch seines Hauptwerkes Peri archon, Über die

Grundsätze. Ausgangspunkt dieser neuplatonischen Erlösungstheorie ist das Pauluswort aus dem ersten Brief an die Korinther,15, 26 f., nach welchem am Ende der Zeiten Gott „über alles und in allem“ herrscht. Alles, was je aus Gott entstanden sei, alle Dinge und Seelen, auch die der abgefallen Geister, der Teufel, kehrten am Ende der Zeiten zu dem liebenden Schöpfergott zurück. An die Stel¬ le des Jüngsten Gerichtes tritt bei Origenes ein harter, Äonen dauernder Läute-

879 Aristoteles, Über die Seele, übers, v. Willy Theiler, Darmstadt 1969, 412 a. Als Defini¬ tion im strengen Sinne - also andere ausschließend - ist diese Aussage nicht zu verstehen. Im selben zweiten Buch erklärt Aristoteles, die Seele sei „Wesenheit im begrifflichen Sinne“, vgl. 412 b 10, um wenig später die Möglichkeit einer allgemeinen Definition überhaupt auszu¬ schließen, vgl. 414 b 25. Im Kommentar dieser Ausgabe wird auf die drei Arten von „Erfül¬ lung“ hingewiesen, zwischen denen Aristoteles unterschied: 1. die Erfüllung der Möglichkeit nach (dynamis), im Sinne der Möglichkeit, die im Knaben liegt, General zu werden; 2. die Er¬ füllung vom latenten Haben, aber nicht Gebrauch davon machen, so wie der General, der seine Tätigkeit nicht ausübt, und schließlich 3. die Erfüllung des Ausübens, für die der aktive Gene¬ ral ein Beispiel ist. 880J- W. Goethe, Faust. Kommentare von Albrecht Schöne, Bd. 7/2 der FA, Frankfurt am Main 1994, S. 800. Schöne beruft sich auf Goethes Gespräch mit Eckermann vom 3. März 1830. 881 FA Bd. 7/1, a.a.O., S. 459. In einer handschriftlichen Fassung der Szene steht in der Regieanweisung noch: „Chor der Engel (Faustens Entelechie tragend)“. Schöne meint, dass man deshalb das „Unsterbliche“ hier „nicht im gängigen Sinn als .christlich' verstehen“ dürfe, FA Bd. 7/2, S. 799. 882 Schöne erklärt, „daß sich die letzte Faust-Szene geradezu als die Transformation der Wiederbringungslehre in eine ethisch-ästhetischen Formel verstehen läßt - und diese als ein Kommentar zu lesen ist, welcher die Eigenart und Bedeutung der Choreographie des Endspiels in und über den ,Bergschluchten' erschließt.“, FA Bd. 7/2, S. 789. Er stützt diese These auf die Faust-Interpretation von Arthur Henkel, Das Ärgernis Faust (zuerst 1976) in: ders., GoetheErfahrungen. Studien und Vorträge, Stuttgart 1982, S. 163-179, hier S. 169 ff. und den Aufsatz von Dieter Breuer, Origenes im 18. Jahrhundert in Deutschland, a.a.O., S. 25 ff. 883 Goethe, HA Bd. 9, Autobiographische Schriften I, Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit, 1.-13. Buch, S. 350 ff. Im Original las Goethe Origenes’ Schriften nicht, da sie nur fragmentarisch und in der lateinischen Übersetzung von Rufinus überliefert sind, vgl FA Bd 7/2, S. 788.

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rungsprozess, von dem auch das Böse nicht ausgeschlossen ist. Die noch vom al¬ ten Testament geprägte Vorstellung des gerechten Gottes weicht zugunsten des liebenden Gottes, der nichts, was ihm entstammt, verloren gibt. Wie der origenistische Präexistentianismus wurde diese universalistische Lehre bereits im 6. Jahrhundert von der Kirche als Häresie verurteilt. Origenes erlebte indes im theologischen Diskurs des 18. Jahrhundert eine Renaissance, deren Wurzeln und Folgen für die deutsche Literatur zuletzt Dieter Breuer nachgegangen ist.884 Im Hinblick auf die Bergschluchtenszene wurde Goethes Origenes-Rezeption nicht erst von Breuer festgestellt. Vor ihm erkannten Konrad Burdach und Arthur Henkel - Burdach zumindest der Sache nach - die Bedeutung der origenistischen Wiederbringungs-Lehre für den versöhnlichen Schluß des FaustDramas.885 Mit Burdach, der in seinem 1923 veröffentlichten Aufsatz Faust und die Sorge den Verzicht Goethes auf eine ursprünglich wohl einmal geplante Ge¬ richtsszene zugunsten des läuternden Aufstiegs von Fausts „unsterbliche [r] Entelechie“ mit einer antiken Quelle begründet,886 nähern wir uns wieder Hof¬ mannsthals Umfeld. Konrad Burdachs Schriften887, insbesondere der 1912 erschienen Abhand¬ lung Faust und Moses, verdankte Hofmannsthal eine neue Sichtweise auf das ei¬ gene Werk, die in Ad me ipsum ihren Niederschlag gefunden hat. Nichts geringe-

884 Origenes’ Universalismus gewann besonders in pietistischen Kreisen an Einfluß ge¬ genüber Augustinus, dessen dualistisches Weltbild im Zuge des Antropozentrismus an Bedeu¬ tung einbüßte, vgl. Dieter Breuer Origenes, a.a.O., S. 1-30. 885 „Daß dieses mit den Vorstellungen der christlichen Orthodoxie schwerlich vereinbare .Zurückkommen1 auf der Apokatastasis-Theologie des Origenes beruhe, hat Burdach 1923, 45 und 60 vermutet, Henkel 1982, 169 ff. ausgeführt, Breuer 1985, 25 ff. bestätigt.“ Schöne, a.a.O., S. 789. Es ist allerdings nicht explizit Origenes’ Wiederbringungslehre, die Burdach als Grund für die „aufsteigende Fortbildung seiner [Fausts] unsterblichen Entelechie“ (s. 60) „vermutet“; Burdachs Quelle ist vielmehr ein heidnischer Schöpfungsmythos (s.u.), nach wel¬ chem der Geist des Menschen nach dem Tode Gott gehört, wobei die Gemeinsamkeit mit der origenistischen Vorstellung im Fehlen des Gerichtes besteht. 886 Bei dieser antiken Quelle handelt es sich um einen Schöpfungsmythos von Hygins, welcher bereits von Herder in Gedichtform gebracht wurde: „Das Kind der Sorge

(Suphan

XXIX, 75) ist der Mensch, der von der Göttin Cura aus einem Klumpen Erde geformt und vom Atem Jupiters belebt wurde. Die drei Götter Cura, Jupiter und Tellus (die Erde) erhoben jeweils Anspruch auf dieses Wesen, was in einen Streit über die Namensgebung mündete, den schließlich Saturn schlichtete, indem er Jupiter den Geist und Tellus den Leib des Menschen nach dessen Tod versprach und die Sorge ihn, solange er am Leben sei, nicht verlassen sollte. Diese Quelle Goethes veranlaßt Burdach zu dem Schluß, der in der Tat mit origenistischen Vorstellungen, ohne daß diese erwähnt würden, übereinstimmt: „Wie Hygins Geschichte hier ihren naturalistisch-heidnischen Charakter darin bewährt, daß sie auf ein Gericht nach dem Tode verzichtet, vielmehr dem menschlichen Geist überhaupt und allgemein die Heimkehr zu Gott zuschreibt, so hat auch Goethe, wenn er auch früher eine Zeitlang ein Gericht über Fausts Seele nach dem Tod plante, die schließliche Ausführung des Endes so gestaltet, daß über Würdigkeit und Verdienst des Aufstiegs der Seele zu Gott kein Wort mehr fällt.“ Bur¬ dach, Faust und die Sorge, a.a.O., S. 45. 887 Der Dichter des Ackermann von Böhmen, erster Teil von Burdachs Vom Mittelalter zur Renaissance; die Akademie-Rede Sinn und Ursprung der Worte Renaissance und Reformation spielt für Hofmannsthals Gedanken der Wiedergeburt eine große Rolle, s.u. Kapitel II.2.2.

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res nämlich als das Motto, das er für seine Selbstdeutung wählte - das Zitat des griechischen Kirchenvaters Gregor von Nyssa - , fand Hofmannsthal in der Stu¬ die Burdachs, die er gleich vier Mal gelesen haben soll.888 Im ersten Teil seiner Schrift weist Burdach nach, welchen Einfluß Goethes Beschäftigung mit der Le¬ gende vom Tod Moses, derzufolge gute und böse Dämonen um die Seele des Verstorbenen gestritten haben sollen, auf den fünften Akt des Faust II hatte.889 Nicht allein für Fausts Tod habe die Moses-Sage das Vorbild geliefert. Als eine neuplatonische Interpretation der Mosesgeschichte habe Gregor von Nyssas Vi¬

ta Mosis - das Werk, dem Hofmannsthals Ad me ipsum-Motto ursprünglich ent¬ stammt - auf vier entscheidende Szenen, „Grundsäulen“,890 der Fausttragödie gewirkt: auf die Beschwörung des Erdgeistes, auf Fausts Monolog in ,Wald und Höhle', auf die Besteigung des Brocken und vor allem auf den Beginn des zwei¬ ten Teiles der Tragödie. Burdach will in seiner Studie den Beweis für eine frühere These liefern, nach welcher „der eigentliche Angelpunkt der Fausttragödie“ in der Unterscheidung des „dem Menschen Zugängliche[n] und Unzugängliche[n] in der Welt“ liege.891 Bei Gregor von Nyssa werde Moses zum „Typus des mystischen Theosophen“892 stilisiert. „Sein Besteigen des heiligen Berges versinnlicht die allmählich fortschreitende Annäherung an Gott“,893 den ein frommer Mensch wie Moses vormals im Licht erkannt habe. Er sehne sich, Gott wiederzusehen, aber je näher er der vollendeten Schau käme, desto deutlicher werde ihm, „daß die göttliche Natur unsichtbar und unfaßbar ist“.894 Die Sehnsucht der „Mosesnachfolger“895 nach höchster Schönheit werde dadurch jedoch nur noch angefacht: Wie Moses, der „nachdem er einmal die Jakobsleiter zu ersteigen begonnen hatte niemals stehen“896 blieb, werden sie vom Verlangen höher getrieben. Indem Gott die Bit¬ te, „das Urbild zu genießen“,897 abschlage, erfülle er sie zugleich, denn „gerade darin besteht die Anschauung Gottes, daß man niemals aufhört, verlangend mit dem Blick ihn zu suchen“.898 Das sehnsuchtvolle Streben in der Nachfolge des Mystagogen Moses beflü¬ gelt Faust bei seiner Brockenbesteigung ebenso wie Sigismund bei seiner Rück¬ kehr in den Turm. Wie der Berg Sinai und die Jakobsleiter symbolisiert der Turm die „axis mundi“, die Schwelle zum Göttlichen899, das selbst nicht erfaßt werden

888 Erika Brecht, a.a.O., S. 35. Das Motto bildet nach Auffassung der Autorin den „Schlüs¬ sel zu seiner [Hofmannsthals] mystischer Weltauffassung“. 889 Burdach, Faust und Moses, a.a.O, S. 359 ff. 890 A.a.O., S. 402. 891 A.a.O., S. 358. 892 A.a.O., S. 397. Burdach liefert auf den folgenden Seiten eine Übersetzung des lateini¬ schen Textes. 893 Ebd. 894 A.a.O., S. 398. 895 A.a.O., S. 399. 896 Ebd. 897 A.a.O., S. 400. 898 A.a.O., S. 400 f. 899 Vgl. Eliade, a.a.O., S. 16 und 22.

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kann. Sigismund kehrt nicht nur in den Turm zurück, um „hinter eine Wand“ zu treten und damit vor Oliviers Händen sicher zu sein (SW XVI.2 214). Vielmehr durchschreitet er die Tür zur Wiedergeburt aus Sehnsucht und Verlangen nach seinem ,Vater“, der kein Gesicht hat und der ihm einst im Feuer erscheint.900 Dieser Kontext des Gregor von Nyssa-Wortes erlaubt es im Hinblick auf den Stellenwert, den es als Motto von Ad me ipsum einnimmt, Hofmannsthal ei¬ nen „Neuplatoniker der Seele“ zu nennen.901 Das lateinische Zitat ist nicht nur Motto der Selbstdeutung, sondern wird von Hofmannsthal in den Aufzeichnun¬ gen nochmals aufgenommen, in deutscher Übersetzung und anknüpfend an eine Notiz, die das Wesen des Künstlers betrifft: „Der Dichter, aus jener höchsten Welt, deren Bote der Tod, herausgefal¬ len: (Er, der Liebhaber der höchsten Schönheit, hielt, was er schon gesehen hatte nur für ein Abbild dessen, was er noch nicht gesehen hatte und be¬ gehrte dieses selbst, das Urbild, zu genießen. Greg. v. Nyssa)“902

Mit „jener höchsten Welt“ meint Hofmannsthal die ,Präexistenz“ der Seele. Die Verbindung mit dem Gregor-Zitat weist wiederum auf den komplementären Zu¬ sammenhang zwischen dem pränatalen und postmortalen Zustand der Men¬ schenseele hin. Es ist zu vermuten, daß Hofmannsthal die metaphysisch-tröstliche, weil universalistsische Botschaft des Faust-Endspiels ungefähr im Sinne Burdachs verstanden hat. Dabei ist es unerheblich, ob Origenes nun als theologischer Ge¬ währsmann von ihm erkannt wurde oder nicht. Auf Hofmannsthals GoetheBewunderung kann hier nicht ausführlich eingegangen werden; ein Blick in das Namensregister des Buchs der Freunde genügt, um die überragende Bedeutung Goethes für Hofmannsthals geistiges Dasein zu erkennen.903 In diesem Buch wird auch Moritz Heimann mit einem für unseren Zusammenhang bemerkens¬ werten Apercu zitiert: „Ein Mann, der mit fünfunddreißig stirbt, ist auf jedem Punkt seines Lebens ein Mann, der mit fünfunddreißig stirbt. Das ist das, was Goethe die Entelechie nannte.“904 Heimann umschreibt nichts anderes als den „Seins- oder Ewigkeitscharakter“ der Entelechie, womit er in der Tat die Bedeu¬ tung des Begriffes so erfaßt, wie Goethe sie Eckermann erklärt hat.905 Die Ente¬ lechie ist der Teil des Menschen, der dem Wechsel der Zeit, dem „Werden“, um

900 D III 414; vgl. Auch SW XVI. 1 523 f. 901 So Grete Schaeder, Hugo von Hofmannsthals Weg zur Tragödie, in: DVjS 23 (1949), Heft 2/3, S. 306-350, hier S. 309. 902 RA III 600. 903 Hofmannsthal, Buch der Freunde, mit Quellennachweisen hrsg. v. Emst Zinn, Frank¬ furt am Main 1965, S. 159. Schon der Titel dieser Sammlung von „eigenen Aphorismen, unter¬ mischt mit Aussprüchen Anderer, mit Lesefrüchten, Anspielungen [und] kurzen Anekdoten“ sei „goethisch“, wie Zinn in seinem Nachwort bemerkt, S. 155. Zu Hofmannsthal und Goethe vgl.'ferner Richard Exner, Index nominum zu Hugo von Hofmannsthals Gesammelten Werken, Heidelberg 1976, III. Goethe-Register, S. 207 ff. 904 Hofmannsthal, Buch der Freunde, .a.a.O., S. 13 905 Siehe oben Anm. 124.

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es mit Hofmannsthals poetologischer Terminologie aus Ad me ipsum zu sagen, enthoben ist. So wenig der Augenblick als gegenwärtig wahrgenommen oder gar festgehalten werden kann - auf diesen Augenblick zielt Heimans Formulierung „auf jedem Punkt seines Lebens“

so wenig läßt sich die Ewigkeit, das der Zeit

enthobene Sein, gedanklich erfassen. Heimann unterstellt dem Menschen ein rätselhaftes Bewußtsein der eigenen Ewigkeit, ein Wissen gleichsam um den un¬ wandelbaren Wesenskern seiner selbst. Diese Überzeugung teilte Hofmannsthal, allerdings war sie ihm keine Gewißheit, auf der man sich getrost ausruhen konn¬ te, sondern nichts weniger als der zentrale Gegenstand seines geistigen Ringens:“Zwei Antinomien waren zu lösen: das Sein und das Werden“, lautet die be¬ reits

im

Rahmen

von

Hofmannsthals

geschichtsphilosophischer

Reflexion

erläuterte Wendung in Ad me ipsum. Der wohl auch von Hofmannsthal goethisch verstandene und damit also - möglicherweise unbewußt - die origenistische Apokatastasis-Theologie implizierende Begriff der Entelechie berührt also ebenso wie die Idee der Präexistenz jenen transzendentalen Bereich, den Hof¬ mannsthal auch „Sphäre der Totalität“ nennt. Präexistenz im Sinne Hofmanns¬ thals und der mit der Apokatastasis-Lehre verbundene Entelechiebegriff Goe¬ thes entspringen einer in ähnlicher Weise auf Versöhnung hinauslaufenden Glaubenshaltung. 1.2.2. Die orientalische Tradition der Präexistenzidee. Lafcadio Hearns Budd¬ hismus-Rezeption Der Begriff der ,Präexistenz1 bezeichnet einen zentralen Gedanken des Budd¬ hismus.906 Die buddhistische bzw. shintoistische Bedeutung von ,Präexistenz‘ dürfte Hofmannsthal aus den Büchern des Japan-Kenners Lafcadio Hearn erfah¬ ren haben.907 „Unter dem Eindruck von Lafcadio Hearns im Herbst 1904 erfolg¬ ten Todes“ schrieb Hofmannsthal das Vorwort für die erste deutsche Ausgabe des „unendlich liebenswürdigen, inhaltsreichen und klugen“ (RA I 334) Buches

Kokoro, in dem sich auch ein Kapitel über die Idee der ,Präexistenz1 findet.908 Nach Hearns Erläuterung rührt die Idee der Präexistenz von der buddhisti¬ schen Lehre des ,Karma“ her. Voraussetzung für das Verständnis von ,Karma* und ,Praeexistenz‘ sei die Distanzierung vom platonischen Seelenbegriff der abendländischen Kultur, der von der Menschenseele als einer individuellen Ein-

906 Vgl. Erhard Ernst, Das Karma-Thema und der „Turm"-Stoff hei Hugo von Hofmanns¬ thal, in. Wirkendes Wort 21 (1971), S. 14—24 und Ellen Ritter, Über den Begriff der Praeexistenz bei Hugo von Hofmannsthal, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 22 (1972), S. 197-200. ,07 Lafcadio Hearn (1850-1904), ein journalistischer Autodidakt, schrieb für die westliche Welt Bücher über seine Wahlheimat Japan. Hofmannsthal nennt ihn in seinem Nachruf „Ad¬ optivkind“ Japans, vgl. RA I 331 und ferner Die unvergleichliche Tänzerin (RA I 497). 908 Lafcadio Hearn, Kokoro, übers, v. Berta Franzos, Frankfurt am Main 1905. Dem Vor¬ wort kann man entnehmen, dass Hofmannsthal außer dem genannten Titel noch zwei weitere Bücher dieses Autors besaß: Gleanings from Buddha-Flelds und Ghmpses of unfamihar Japan. Vgl. RA I 332. Hearns Prosa war für Hofmannsthal „Journalismus außerhalb jeder Zeitung“ (RA I 333), was insofern bemerkenswert ist, als er in späteren Jahren die Frage des Journalis¬ mus unter Berufung auf Platons Sophistenkritik in einer Satire behandelte, in dem Fragment Timon der Redner.

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heit ausgehe.909 Im Unterschied dazu glaube der asiatische Mensch an eine Seele als ein Zusammengesetztes, dessen Elemente sich in einem ewigen Wandel be¬ fänden. Die einzelnen Seelenelemente seien ewig, in ihrer vorübergehenden Kombination jedoch vergänglich.910 Die Seelenelemente kämen allerdings nicht nur im menschlichen Selbst zu¬ sammen, vielmehr sei alles Seiende, Geist und Materie, in einem ewigen Wandel von Entstehen und Vergehen begriffen. Hearn findet für diese Vorstellung das Bild der Welle auf einer Wasseroberfläche, die immerfort entsteht und vergeht und nie ein und dieselbe ist.911 So wie diese Welle ist nach orientalischem Glau¬ ben alles Seiende sowohl ewig als auch vergänglich. Mit dieser Vorstellung könne man den Schein der Welt erklären,912 den letzten Grund ihres Seins jedoch nicht: Er bleibe ewiges Geheimnis, ein Mysterium. Was im Buddhismus ,Karma1 oder ,Ingwa‘ genannt werde, finde seine Erklä¬ rung in der Ewigkeit der elementaren Energien. ,Karma“ ist nach Hearns Defini¬ tion „die Totalsumme der Handlungen und Gedanken zahlloser, vorangegange¬ ner Leben“;913 „die Summe unzähliger ancestraler Erinnerungen, die Summe zahlreicher Millionen von Erfahrungen“.914 Demnach bedeute die ,Präexistenz‘ der Seele ihr Dasein, bevor sich die einzelnen elementaren Energien zu einem Selbst zusammengefunden hätten. Die Idee der ,Präexistenz1 begründe, warum es Intuitionen und Instinkte gibt. Alle „tieferen Gefühle [sind] superindividuell“: Liebe, Haß und das „stets mit leichtem Grauen gemischte Entzücken“, das Gefühl des Erhabenen also, er¬ klärten sich aus der präexistentiellen Erinnerung.915 Nicht nur ästhetische Gefüh¬ le, wie beispielsweise die Rührung, die man bei besonders schönem Gesang ver¬ spüre, sondern auch das allgemeine moralische Empfinden und die Fähigkeit, gut und böse zu unterscheiden, leiteten sich im Buddhismus als ein „Uraltes“916, „von zahllosen Vorfahren Ererbtes“917 vom Karma-Gedanken ab. Mit dem Glauben an eine Art kulturellen Gedächtnisses erklärt Hearn auch das ausgeprägte Traditionsbewußtsein der Japaner und den zu abendländischer Kultur gänzlich unterschiedlichen Umgang mit der Vergangenheit, wie er sich etwa im Ahnenkult äußere.918 Ein Japaner lebe in dem Bewußtsein, daß seine Ge¬ fühle und Talente als ein von den Vorfahren Ererbtes auf ihn gekommen seien. Deshalb sei sein Verhältnis zu Vergangenem gekennzeichnet von einer liebenden Dankbarkeit, welche sich im japanischen Totenkult - besonderes im älteren Shintoismus - darin zeige, daß die Toten wie Götter oder Dämonen verehrt

909 Hearn, Kokoro, a.a.O., S. 199. 910 Hearn zitiert aus Aufsätzen japanischer Studenten, in denen diese Seelenvorstellung erörtert wird; vgl. ebd., S. 206 f. Vgl. auch Ellen Ritter, a.a.O., S. 199. 911 Hearn, Kokoro, a.a.O., S. 249. 9,2 A.a.O.,S. 219. 913 A.a.O., S. 210. 914 A.a.O., S. 172. 915 A.a.O., S. 200 f. 916 A.a.O., S. 78. 917A.a.O., S. 91. 918 Vgl. das Kapitel Ahnenkult in Kokoro.

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würden.919 Die in japanischen Sitten ritualisierte Schuldigkeit gegenüber den Vorfahren ist Hofmannsthals Verhältnis zur Vergangenheit und kulturellen Tra¬ dition nicht unverwandt.920 Hearn versucht, den Wahrheitsgehalt buddhistischer Glaubenslehre durch die Feststellung einer Analogie mit den Ergebnissen der modernen Vererbungs¬ lehre zu belegen. Er beruft sich dabei auf den in seinen Augen „größten Philoso¬ phen“921 Herbert Spencer, dessen Evolutionstheorie die Zusammenhänge aufzei¬ ge, welche im japanischen Volksglauben von je her überliefert wnirden.922 Für einen modernen Seelenbegriff fordert Hearn die Synthese orientalischer und abendländischer Anschauungen.923 Einen solchen Versuch stellt auch Hofmanns¬ thals Seelenbegriff dar.924 Hofmannsthals Orientalismus macht sich in seinem Werk und in seinen Reden allenthalben bemerkbar. So ist das ,Gesetz1, das Hofmannsthal in Über¬ einstimmung mit Erich Gutkind im ,geläuterten Freiheitsbegriff“ vom Indivi¬ duum erkannt sieht, nichts anderes als das ,Karma“ der buddhistischen Religion (RA II 39 f.). Die Suche nach diesem ,Gesetz“ der eigenen Person als Grundlage einer neuen Sittlichkeit ist gleichbedeutend mit der „Frage nach dem Sein gegen¬ über dem Werden“ (RA II 33), einer Frage, die im Buddhismus wie in der abend¬ ländischen Mystik aufgeworfen wird. Auch Hofmannsthals Bestreben läuft auf eine Synthese der europäischen und orientalischen Lehren hinaus, die sich in die¬ ser Problematik treffen. Der Ausgleich von „Sein und Werden“ ist nach einer Aufzeichnung Hofmannsthals eine der kompensatorischen Funktionen des Dichters (RA III 590). 1.2.3. Eine mystische Variation der Präexistenzidee: Baaders „Centrum naturae“ Hofmannsthal war mit den Werken abendländischer Mystiker und mystischer Denker wohlvertraut. So ist seine Lektüre etwa von Meister Eckhart, Jakob Böhme, Franz von Baader und Herbert Silberer nachgewiesen.925 Franz von Baa¬ der gilt als der wichtigste Vermittler des Werkes Jakob Böhmes, das er als

919 A.a.O., S. 234. 920 RA III 581. 921 Hearn, a.a.O., S. 249. 922 Hearn behauptet lediglich eine grundsätzliche Analogie und räumt am Ende des Kapi¬ tels ein, daß sie nicht in allen Einzelheiten zutreffe, a.a.O., S. 221. 923 A.a.O., S. 256. 924 So auch E. Ritter, a.a.O., S. 199. 925 Vgl. Hamburger, a.a.O., S. 19 und 26 ff. Zu Hofmannsthals Silberer-Lektüre siehe oben 2. Teil, Kapitel II.4. Auch über Hofmannsthals ausgeprägtes Interesse an zeitgenössischer Psychologie legt der Umfang entsprechender Fachliteratur in seiner Bibliothek Zeugnis ab (vgl. Hamburger, a.a.O., S. 26 ff.). Besonders der Grenzbereich von Mystik, Religion und (Na¬ tur-) Wissenschaft stand im Vordergrund seines Interesses. Hofmannsthal nahm regen Anteil an den in der Folge technischer Entdeckungen unternommenen Versuchen, übernatürliche Phänomene auf wissenschaftlichem Weg zu erklären. Das Ich und die Dämonien (Berlin 1920) von Carl Ludwig Schleich, dem Erfinder der Lokalanästhesie, oder die Selbstanalyse einer pro¬ vozierten Schizophrenie, Magie als experimentelle Naturwissenschaft (Leipzig 1912) des Münch¬ ner Chemikers Ludwig Staudenmaier sind kuriose Beispiele hierfür.

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Münchner Professor kommentiert hat. Seine Philosophie wirkte maßgeblich auf Schelling und Novalis, wobei zwischen letzterem und Hofmannsthal die viel¬ leicht größte geistige Verwandtschaft besteht.926 Hofmannsthal besaß in seiner Bibliothek einen Band ausgewählter Schriften von Franz von Baader, der auch die für seine Philosophie grundlegende Abhand¬ lung Fermenta Cognitionis enthielt.927 Im Zentrum von Baaders Überlegungen steht die Frage nach dem Verhältnis von Mensch, Gott und Welt bzw. Natur, die in mystischer Tradition zwar nicht ununterscheidbar, aber doch als Einheit auf¬ gefaßt werden. Alles Lebendige ist nach Baader ein „Vieleins“ und besteht aus dem „Urternar: Leib, Seele und Geist“926. Der orientalischen Vorstellung der ,Präexistenz“ gleicht Baaders Theorie vom Zeugungsmoment: Ei- und Samenzel¬ le müßten erst ins „Allgemeine, in die Gattungseinheit (in primam materiam) aufgehen“, um eine Vereinigung überhaupt zu ermöglichen.>2> Daraus folge, daß auch die aus der Vereinigung hervorgehende Frucht zunächt ein Allgemeines und kein Besonderes, Individuelles darstelle.930 So bietet Baaders Theorie eben¬ falls ein Erklärungsmuster für Sigismunds Präexistenz. Die Kreatur befinde sich anfangs im Einschuldszustand und trage eine mehrfache Signatur in potentia in sich.931 Die Seele besitze einmalig die freie Wahl - die „liberte arbitre“ - , sich seine Signatur, einen guten oder bösen Cha¬ rakter, zu wählen. Danach verfüge sie nur über eine „liberte actuelle“, über Wil¬ lensfreiheit.932 Bonald, dessen Freiheitsbegriffe Baader hier verwendet, zählt zu den Denkern der Restauration, an die Carl Schmitts Dezisionismus anknüpft.933 Sigismund stellt seine Souveränität später unter Beweis, indem er seinen Macht¬ anspruch durch jene „liberte actuelle“ legitimiert: „Mein Gewalt wird soweit rei¬ chen als mein Wille“ (SW XVI.2 182). Baader erklärt Jakob Böhmes Begriff vom ,Centrum naturae“, den auch Hofmannsthal verwendete,934 als den „Widerspruch“ oder „Konflikt“ zwischen dem „(In-sich-) Sein und (Aus-sich-) Werden“.935 Die Überwindung dieses Kon¬ fliktes könne erreicht werden, wenn die Seele sich von der Geburts- bzw. Todes¬ angst befreie.936 Im Aufheben der Angst ist das ,Centrum naturae“, wie Baader

926 Diese Ansicht äußerte Rudolf Hirsch in einem Gespräch; er bedauerte, daß Hofmanns¬ thal nie einen Aufsatz über Novalis geschrieben habe, wo doch zwischen beiden Dichtern die größte Affinität bestünde. 927 Franz von Baader, Schriften, hrsg. v. Max Pulver, Leipzig 1921. 928 Baader, a.a.O., S. 95 ff. 929 A.a.O., S. 135 f. 930 Ebd. 931 A.a.O., S. 86. 932 A.a.O., S. 90 f. 933 Bonalds, Theorie du pouvoir, notierte sich Hofmannsthal in seinem Exemplar der Diktatur von Carl Schmitt, vgl. Hamburger, a.a.O., S. 35. 934 Hofmannsthal notierte sich den Begriff in seinem Exemplar von Baaders Schriften; vgl. Hamburger, a.a.O., S. 35; siehe auch Ad me ipsum (RA III 602 f.): „Variiertes Grundthema: das Ich als das Sein und das Ich als das Werden“, „Die Unbegreiflichkeit des Tuns. Die Unbegreif¬ lichkeit der Zeit: eigentliche Antinomie von Sein und Werden“. 935 Baader, a.a.O., S. 99. 936 A.a.O., S. 99 und 203.

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sich ausdrückt, „geschlossen“937. Die Überwindung des Konfliktes zwischen ,Sein und Werden“, den das ,Centrum naturae“ bezeichnet, ist die schwere Auf¬ gabe und das Schicksal Sigismunds. Sein zwischen agressivem Allmachtsgefühl und empfindlicher Weltscheu hin- und hergerissenes Verhalten, welches in der ersten Szene des Stückes über¬ aus deutlich wird, ist eine dramatische Ausgestaltung des .Centrum naturae“. Als Sigismund vom Arzt aus dem Turm in die Welt geholt und kurz darauf wieder aus ihr verbannt wird, ist sein Kommen und Gehen noch mit quälenden Angst¬ gefühlen verbunden. Erst durch die Wiederholung seines Todes und seiner Ge¬ burt, erst durch die Erfahrung der Wiedergeburt vermag der Prinz die Angst und den Konflikt zwischen Sein und Werden zu überwinden. 2. Die Vorstellung der Wiedergeburt im Turm Mit der Idee der Präexistenz ist der Gedanke der Wiedergeburt eng verbunden. Er spielt sowohl im Buddhismus wie in der abendländischen Mystik eine zentrale Rolle. Darüberhinaus besitzt er eine geschichtsphilosophische Dimension, deren Tragweite^ Hofmannsthal maßgeblich Konrad Burdachs Abhandlung über den Sinn und Ursprung der Worte Renaissance und Reformation entnommen hat938 und die Wesentliches über die Bedeutung des Kinderkönigs der ersten Fassung verrät. 2.1. Durch Tod zum Leben - Initiation und Märtyrertod Sigismunds Wie schon in Calderöns La vida es sueno kommt im Turm dem Gedanken der Wiedergeburt eine Schlüsselfunktion für den Handlungsablauf zu. „Nur Wieder¬ geburt heilt einen so Zerrütteten. Man führe ihn in seines Vaters Haus zurück, nicht übers Jahr, nicht über einen Monat, sondern morgen zur Nacht!“ (SW XVI.1 32), lautet die vom Arzt verordnete Therapie, die in Julian den Plan zur „Probe“939 entstehen läßt. Wenn die Sigismund-Figur, wie oben gezeigt, ein Beispiel für die Synthese buddhistischer und abendländischer Seelenvorstellungen darstellt, sind daraus Konsequenzen für die Deutung des Turm zu ziehen. Zunächst kann man unter dieser Voraussetzung einige Details verstehen, die das Verhalten Sigismunds be¬ treffen. Als der Arzt den verwirrten Gefangenen nach der ersten Begegnung mit dem festen Versprechen, er werde ihm helfen, in den Turm zurückschickt, ver¬ neigt sich Sigismund vor ihm. „O mehr als Würde in solcher Erniedrigung! das ist eine fürstliche Kreatur, wenn je eine den Erdboden trat“ (SW XVI.1 20), be¬ merkt der Arzt zu dieser vornehmen Geste. Später stellt Sigismund sein Talent zum Tyrannen und — in der ersten Fassung — zum stoischen Herrscher unter

937 A.a.O., S. 203. In: Konrad Burdach, Reformation. Renaissance. Humanismus. Zwei Abhandlungen über die Grundlage Moderner Bildung und Sprachkunst, Berlin 1918, S. 13-96. Siehe auch SW XVI.1 Entstehung, S. 143 ff. bes. S. 160 f. 939 Zur dramentheoretischen Bedeutung der „Probe“ im Großen Welttheater Calderöns vgl. Peter Szondi, Versuch über das Tragische, in: ders., Schriften I, Frankfurt am Main 1978 S. 221 ff.

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Beweis. Wie Hofmannsthals Elektra der Erinnerung an ihr Geschlecht verpflich¬ tet ist,940 so fließt auch in Sigismund „Tyrannenblut“. Diese Blutsbande könnten mit den sich erinnernden Seelenelementen erklärt werden. Auch Sigismunds Grübeln über die Seelenwanderung im Gespräch mit der Bäuerin (SW XVE1 59) ist unter Berücksichtigung dieser Seelenvorstellung zu deuten. Wenn Sigismund glaubt, seine Seele sei in ein geschlachtetes Schwein gefahren (SW XVE1 59), und dieses dann später als ,,freudige[s] Zeichen“ (SW XVE2 219) versteht, scheinen seiner Seele die Erfahrungen eines Märtyrers nicht fremd zu sein. Ein mögliches Vorbild für die Figur des Arztes, die in Calderöns Stück nicht vorkommt, läßt sich über den Topos der Wiedergeburt erschließen. Hof¬ mannsthal besaß in seiner Bibliothek neben Herbert Silberers Buch Probleme der Mystik und ihrer Symbolik941 auch dessen Schrift Durch Tod zum Leben>v~. Dort untersucht Silberer verschiedene Formen von Initiationsriten bei Naturvölkern, denen das Symbol der Wiedergeburt gemeinsam ist. Er verweist schließlich auf analoge Rituale in mittelalterlichen Fastnachts- und Frühlingsfesten und erwähnt in diesem Zusammenhang einen thüringischen Brauch: Ein während des Früh¬ lingsumzuges geopferter „wilde [r] Mann“ wird von einem „als Doktor bezeichnete[n] Bursche [n]“943 zum Leben erweckt. Auch in schwäbischen und bayri¬ schen Pfingstspielen erscheine häufig der „Doktor Eisenbart“ oder einfach der „Doktor“ als wichtiges Mitglied des Festzuges.944 Daß Hofmannsthal von dieser Stelle möglicherweise eine Anregung oder wenigstens eine Bestätigung für die neueingeführte Figur des Arztes erhalten hat, scheint um so wahrscheinlicher, als Silberer in seiner Abhandlung eine ganze Reihe kultischer Rituale bei Jüng¬ lings- oder Priesterweihen erläutert, die Parallelen mit Sigismunds Weg auf den Thron aufweisen und diesen Weg als eine Initiation wiedererkennen lassen. Wie im einem Initiationsritus muß auch der ,präexistentielle1 Sigismund ei¬ nen mystischen Tod sterben, um in die Gemeinschaft der Lebenden aufgenom¬ men zu werden, d.h. mit Hofmannsthals Worten „zum Sozialen“ (RA III 602) zu gelangen. Wenn er, was bislang nicht zu seinem Alltag gehörte, vor seinem Eintritt in die „Welt“ von Anton gewaschen wird, so kann man diese Szene als kultisches Bad deuten, dem sich nach Silberer auch die aus dem Exil zurückkeh¬ renden Heranwachsenden südostasiatischer Inselstämme unterziehen müssen.945

940 D II 225 ff. 941 Siehe oben 2. Teil, Kapitel II. 4. 942 Herbert Silberer, Durch Tod zum Leben, Leipzig 1915. - Vgl. Hamburger, a.a.O., S. 28. Hamburger nennt eine von Hofmannsthal auf Seite 46 angestrichene Textstelle, die ein Zitat aus dem Buch Die Masken und Geheimbünde Afrikas von Leo Frobemus wiedergibt, „dem Hofmannsthal einige Merkmale der Kindergemeinde im Turm entnommen haben mag.“ (ebd.) Auf der gleichen Seite findet sich die im folgenden als bemerkenswert erachtete Stelle zur Rolle des Arztes. 943 Silberer übernimmt diesen Bericht von Heinrich Schurz, Altersklassen und Männerbün¬ de, Berlin 1902, siehe Silberer, Durch Tod zum Leben, a.a.O., S. 46. 944 Silberer, Durch Tod zum Leben, a.a.O., S. 46 - Der Autor weist auf analoge Figuren bei Naturvölkern hin: den Zauberer, Medizinmann oder Arzt, der die in der Weihe getöteten Jüng¬ linge zum Leben erweckt. 945 Vgl. Silberer, Durch Tod zum Leben, a.a.O., S. 40.

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Auf die symbolische Bedeutung dieses angedeuteten ,Taufbades1 Sigismunds wird unten näher eingegangen werden. Schon im vorgegeben Dramenstoff von La vida es sueno wird der Prinz mit Hilfe eines Schlaftrunkes zwischen Traumwelt und Wirklichkeit hin- und herbe¬ fördert. Der Schlaftrunk hat hier eine ähnliche Funktion wie in den Kulthand¬ lungen, von denen Silberer in seinem Buch berichtet: Ein Narkotikum versetzt den Kandidaten vorübergehend in eine Ohnmacht, die für ihn und für seine Stammesgenossen gleichbedeutend mit dem Tod ist.946 Bei Hofmannsthal bildet die Schlaftrunkszene am Ende des zweiten Aktes den ersten dramatischen Hö¬ hepunkt: Wie ein Märtyrer stirbt Sigismund eigentlich schon hier, und nicht erst, als er aus dem Hinterhalt erschossen oder als er, wie in der Fassung von 1925, von der Zigeunerin durch einen Schnitt in die Hand vergiftet wird. In der ersten Fassung ist das Leeren des Kelches vor dem Tod sogar noch angedeutet: Der Arzt verabreicht dem Sterbenden Branntwein als einzig mögliches Gegengift.947 Sein .erster1 Tod wird als Hinrichtung inszeniert: Vermummte Diener, Henkersknechte, bringen den Kelch, in den Julian das vom Arzt gemischte Schlafmittel füllt. Die Parallele zum Tod des Sokrates ist offensichtlich. Sigis¬ mund muß glauben, daß ihm der Tod bestimmt ist, und hat Angst. Vergeblich sucht er Hilfe bei Anton, der nicht ins Vertrauen gezogen worden ist und ihn nur aufs Jenseits vertrösten kann. Erst als Julian droht, ihn mit Gewalt zum Trinken zu zwingen, entschließt er sich zum freiwilligen .Sterben1. Das Selbstop¬ fer ist für ihn die einzige Möglichkeit, sich der Sphäre der Gewalt zu entzie¬ hen.948 Der naiv-gläubige Anton erkennt in diesem Moment in Sigismund den Mär¬ tyrer. Er nimmt einen Nimbus wahr: „[...] er hat einen Heiligenschein überm Gesicht! O du heiliger verklärter Marterer du!“ (SW XVI.1 66), Sigismunds .Himmelfahrt1 beginnt; seine überirdische Erfahrung ist die Vision eines Narko¬ tisierten: Für einen Augenblick, bevor er zusammenbricht, sieht er sich aufge¬ nommen in den Kreis junger Märtyrer, die er „Brüder“ (SW XVI. 1 67) nennt. Durch sein Opfer befreit er sich aus seiner Isolation, die er im Turm so schmerzhaft empfinden mußte. Er findet endlich Gemeinschaft, die Erfüllung einer Sehnsucht, welche er später wirklich mit dem Tod bezahlen muß. Sigis¬ munds Märtyrertod ist nur vor dem Hintergrund der visionären Gemeinschafts¬ erfahrung im zweiten Akt verständlich.

946 Silberer, a.a.O., S. 27. 947 SW XVI. 1 129. 948 Bemerkenswert ist ein Unterschied im Vergleich zur ersten Fassung. Dort ist Sigis¬ munds Tat kein reines Selbstopfer, weil er Julian seine Rache im Jenseits prophezeit: „Und ich zieh dich nach vor Gottes Gericht“(SW XVII 65 f.). In der Fassung von 1927 fehlt diese Dro¬ hung, ja sie ist geradezu ins Gegenteil gewandelt: „Indem du hart redest, hab ich es ausgetrun¬ ken um deinetwillen“ (D III 419). Endgültig und bedingungslos ist seine Absage an jegliche Gewalt.

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2.2. Sigismunds mystische Offenbarung Sigismunds visionäre Aufnahme in die Gemeinschaft der „Brüder“ kommt der Erfahrung einer ,unio mystica“, eines Aufgehens der Seele im Göttlichen, gleich. Einen solchen mystischen Zustand definiert der Religionswissenschaftler Willi¬ am James ausführlich in einer Vorlesung über Mystik:949: Er sei nur von kurzer Dauer und ausschließlich unmittelbar zu erfahren. Er könne nicht reproduziert werden, weder für denjenigen, der ihn erlebt hat, noch für andere. In ihm offen¬ bare sich eine plötzliche Erkenntnis.950 James unterscheidet verschiedene Grade mystischer Erfahrung, angefangen vom sogenannten ,dejä-vu“ bis zu den Halluzinationen, die sich unter Einfluß von Alkohol oder Narkotika einstellen können. Der durch diese Mittel provo¬ zierte Bewußtseinszustand sei rational nicht nachzuvollziehen. James mißt ihm eine metaphysische Bedeutung bei. Es sei eine Befindlichkeit, in der alle Gegen¬ sätze, Konflikte, Schwierigkeiten und Sorgen in einer Einheit aufgehen.951 Dies erinnert an die Idee der ,coincidentia oppositorum‘, welche nach der Lehre des Nicolaus von Kues die Gotteserfahrung im vernünftigen Erkennen des einfachen Ursprunges der Gegensätze bedeutet.952 William James beruft sich in seiner Dar¬ stellung auf befreundete Kollegen, die an eine „anaesthetic revelation“, eine „in der Betäubung erfahrene Offenbarung“953, glaubten. Sie verstehen darunter einen „monistic insight, in which the other in its various forms appear absorbed into the One“.954 An anderer Stelle wird die besondere Zeiterfahrung oder vielmehr die Aufhebung jeglichen Zeitgefühls („initiation of the past“) während einer .narkotischen Offenbarung“ hervorgehoben: „The Anaesthetic Revelation is the Initiation of man into the Immemorial Mystery of the Open Secret of Being, revealed as the Inevitable Vortex of Continuity.“955 Der Gewinn einer solchen my¬ stischen Erfahrung sei die unerschütterliche Gewißheit, daß die Seele das wahre Zentrum des Universums darstelle — „The lesson is one of central safety: the Kingdom is within“ - , eine Gewißheit, für die es in der Sprache nur den Aus¬ druck der „anaesthetic revelation“ gebe.956 Im Turm - zumal in der ausführlicheren ersten Fassung - wird der Zu¬ schauer Zeuge einer .anaesthetic revelation“, denn auf Sigismunds Geisteszustand unmittelbar vor seiner Bewußtlosigkeit treffen alle Merkmale einer mystischen Erfahrung zu, wie sie von William James erläutert werden. Sigismund erkennt das „Open Secret of Being“ in einer nicht weiter mitteilbaren mystischen Erfah-

949 William James, Varieties of Religious Experiences, London 1903, stellt eine Sammlung von zehn Vorlesungen des Verfassers dar. 950James, a.a.O. S. 380. 951A.a.O.,S. 388. 952 Vgl. Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin bis Machiavelli, Stuttgart 1986, S. 543. 953 Vgl. James, a.a.O., S. 389. 954 A.a.O., S. 389. Hervorhebung im Original. 955 Vgl. a.a.O., Anm. 2 auf S. 389-391; James zitiert den Deutungsversuch seines Kollegen Benjamin Paul Blood, The Anaesthetic Revelation and the Gist of Philosophy, Amsterdam, N.Y., 1874. Diesen Titel notiert sich auch Hofmannsthal, vgl. Hamburger, a.a.O., S. 30 f. 956 A.a.O., S. 391.

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rung: „Hier innen er kreuzt die Arme über der Brust957 sind die vier Enden der Welt; schneller als der Adler flieg ich von einem zum anderen, und doch bin ich aus einem Stück und dicht wie Ebenholz: das ist das Geheimnis“ (SW XVE1 67). Erst diese Erfahrung kann die Gewißheit erzeugen, aufgrund derer Sigismund später seine Seele jeglicher irdischen Macht zu entziehen vermag. Am Ende fühlt er sich sicher als „Herr und König“ in seinem Turm: „The kingdom is within!“ 2.3. Der Kinderkönig 2.3.1. Das Ideal der Androgynie Die in der kritischen Ausgabe der ersten 7Vmz-Fassung zugänglich gemachten Varianten und Notizen zur Figur des Kinderkönigs zeigen, wie sehr Hofmanns¬ thal um diese Gestalt gerungen hat, an deren Bedeutung er festhält, auch nach Abschluß der späteren Fassungen, denen der durch das Kind symbolisierte hoff¬ nungsvolle Ausblick fehlt.958 Im gedruckten Text der ersten Fassung begegnet der Kinderkönig dem sterbenden Sigismund, der in dem Jüngeren den Bruder und Erben seiner unvollendeten Reichsgründung erkennt. Die von paradoxen Aussagen geprägte Rede vermittelt den Eindruck eines rätselhaften, aber uner¬ schütterlichen Einvernehmens.959 In einer früheren Variante sieht die Begegnung der beiden zunächst anders aus: Sigismund repräsentiert den erfolgreichen Feld¬ herren und Reichsgründer, der seine Herrschaft mit Zugeständnissen an gewalt¬ tätiges Vorgehen rechtfertigt und seine Greueltaten in stoischer Manier für not¬ wendig hält, um sein Werk zu vollenden. Selbstbewußt seine jugendliche Gefolgschaft hinter sich wissend, klagt der Kinderkönig den Tyrannen an und hält der Reichsstiftung Sigismunds ein Reich des Friedens und der Gewaltlosig¬ keit entgegen. Die Anklage des Kinderkönigs wird von Hofmannsthal mit dem Wort „Mißverständnis“ überschrieben. Sigismund wird nach der Rede des Kna¬ ben nachdenklich; er rechtfertigt sich und wird schließlich von seinem jungen Herausforderer nicht mehr rundweg verurteilt, sondern als Vorbereiter seiner friedlichen Herrschaft anerkannt. Der Kinderkönig tritt hier weitaus stärker auf als später in der gedruckten Fassung. In Hofmannsthals Notizen zum Verhältnis der beiden ungleichen brüderli¬ chen Herrscher findet sich die Paraphrase einer These Florens Christian Rangs: „Mann-männlicher Eros ist Sterbegemeinschaft“ (N 179, SW XVI.1 386), lautet die Konsequenz aus der Beobachtung, daß in homoerotischen Liebes- oder Freundschaftsverhältnissen alles auf Abschied hinauslaufe, da der jüngere Ge¬ liebte sich vom Liebhaber abwende, um selbst ein Liebhaber zu werden. Die Or¬ ganisation Staat sei „das Gebild mann-männlicher Gesellschaft“ (SW XVI. 1 386). Der Kommentar verweist auf Rangs Kapitel Liebe und Freundschaft seines po¬ stum erschienen Buches Shakespeare der Christ, das Hofmannsthal im Entwurf 957 Die Hervorhebung ist eine Regieanweisung Hofmannsthals. ,58 Vielleicht ist der Kinderkönig auch aus den späteren Fassungen nicht vollständig ver¬ schwunden, da Sigismund Züge desselben angenommen hat. S. Briefstellen an Felix Braun und Max Rychner. 959 Siehe unten 3. Teil, Kapitel 5.3.

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für seine Neuen Deutschen Beiträge vorlag.960 Als Quelle Rangs für seine Thesen zum „mann-männlichen Eros“ wird die 1917 erschienene Studie Hans Blühers

Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft vermutet,961 ein Buch, das Hofmannsthal aus Alfred von Wintersteins Ursprung der Tragödie bekannt ge¬ wesen sein dürfte.962 Shakespeare preist in seinen Sonetten die Liebe zu einem Freund, den er spä¬ ter durch die Verführung der ,schwarzen Dame“ gefährdet sieht. Rang deutet die Liebe zu diesem Freund anhand der einschlägigen Sonette als die Möglichkeit, der alles zerstörenden Zeit etwas Dauerndes entgegenzusetzen. Durch die Verse erlange der Freund, der noch als Toter besungen wird, Unsterblichkeit. Die ho¬ moerotische Liebe sei im Gegensatz zur geschlechtlichen Liebe zur Frau auf gei¬ stige Zeugung aus, auf Wiedergeburt, die alles leibliche Vergehen zu überwinden vermag. In dem Kapitel Liebe und Freundschaft, das Hofmannsthal in seine Neu¬

en Deutschen Beiträge aufnehmen wollte, geht Rang näher auf das Wesen der ero¬ tischen Beziehung Shakespeares zu seinem geliebten Freund ein. Dabei hebt er zunächst die androgynen Züge des Geliebten hervor und zeigt - auf einige So¬ nette verweisend - , daß es höchst unklar bleibt, ob es sich bei dem Geliebten um einen Mann oder eine Frau handelt. Dagegen stehe das „Weib“, die „schwarze Dame“, welche „Wollust der Geschlechterliebe“ und Hurerei repräsentiere, vor deren zerstörerischen Macht man sich hüten solle zugunsten der idealen Liebe zum Freund, einer Liebe, die nicht leibfeindlich sei, aber eben auch nicht geist¬ los. Vor dem Hintergrund dieser Quellenlage wird deutlich, daß Hofmannsthal im Kinderkönig, der in den Varianten und Notizen häufig noch nicht ge¬ schlechtsneutral „Knabe-König“ (SW XVI. 1 370 ff.) genannt wird, das Ideal des Androgyns zumindest andeuten wollte. Sigismunds Beziehung zu dem Knaben wäre dann durchaus als eine erotische zu deuten, zumal sie, Blühers und Winter¬ steins Thesen folgend, die Bildung eines Staates impliziert. Dem Knaben steht wie in Shakespeares Sonetten dem Freund die ,schwarze Dame — im Turm die

960 SW XVI. 1 595 f. Siehe oben 2. Teil, Kapitel III. 961 SW XVI. 1 596. Blühers zentrale These lautet, daß aus den in Abwehr zum Amazonentum entstandenen homoerotischen Bindungen die Idee des Staates entstanden sei. Bei dieser Quellenangabe werden allerdings Rangs kritische Einwände gegenüber Blüher übersehen, die nicht in das Shakespeare-Buch, sondern lediglich in den ebenfalls postum veröffentlichten Ka¬ piteln in der Zeitschrift Die Kreatur (1926/27) aufgenommen wurden. Im Gegensatz zu Blü¬ hers Theorie über den Ursprung des Staates erscheint Rang dort als Vertreter einer utopischen ,Reichs‘-Idee, die weniger auf politisch-gesellschaftlicher Organisation als auf religiös motivier¬ tem Gemeinschaftsstreben der Menschheit basiert. 962 Erschienen 1925. Das zentrale dritte Kapitel und Teile des vierten hat der Autor bereits 1923 in Sigmund Freuds Zeitschrift Imago veröffentlicht und sie seinerzeit auch an Hofmanns¬ thal gesandt. Winterstein erläutert unter Heranziehung ethnologischer Berichte den Zusam¬ menhang zwischen ritueller Knabenweihe und Männerbünden in Naturvölkern sowie die Spu¬ ren

solcher

Riten

in

Karnevalstraditionen

und

der

strukturell

ähnliche

Zeremonien

aufweisenden attischen Tragödie. Dieser Zusammenhang bestehe darin, daß eine .Entwicklung1 vom religiösen, sakralen Ritus hin zu dem diesen repräsentierenden Schauspiel zu beobachten sei. Rudolf Hirsch hielt Wintersteins Buch für eine wichtige Quelle zu Hofmannsthals Tragö¬ dientheorie.

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Zigeunerin als gefährliches, wollüstiges ,Weib‘ gegenüber. Sie ist die Geliebte Oliviers und vergiftet Sigismund. Die ursprünglich androgynen Züge des Kin¬ derkönigs und die damit einhergehende erotische Bindung Sigismunds tritt zwar in der gedruckten Fassung zugunsten anderer Motive in den Hintergrund. Da aber dem Androgyn in alchemistischer und mystischer Tradition ein hoher Stel¬ lenwert und für den Sinn der TVm-Dichtung aufschlußreicher Symbolgehalt zukommt, ist die in den Varianten dokumentierte Gestaltung des Knabenkönigs bemerkenswert. In der alchemistischen Kunst wird sowohl die prima materia, Mercurius als auch das Ziel des opus, der lapis philosophorum, als zweigeschlechtlich oder an¬ drogyn vorgestellt.963 Dem entsprechen zahlreiche figürliche Darstellungen des Hermaphroditen oder Rebis (res bina), eines menschlichen Wesens mit einem weiblichen und einem männlichen Kopf. Mindestens eine dieser Abbildungen kannte Hofmannsthal aus Herbert Silberers Buch Probleme der Mystik und ihrer Symbolik9M. Silberer deutet den in der rosenkreuzerischen Parabel vom Wande¬ rer überwundenen Löwe als alchemistisches Symbol für die zweigeschlechtlich vorgestellte prima materia.%5 Mit dem .Androgyn1 ist in alchemistischer Traditi¬ on die ursprüngliche Vollkommenheit gemeint, die es durch das opus wieder zu erreichen gilt. Vor diesem hermetischen Hintergrund ist Hofmannsthals Kin¬ derkönig als mystisches Symbol für jene ursprüngliche und wieder zu erreichen¬ de Vollkommenheit zu deuten. 2.3.2. Das Renovatio-Motiv in der Darstellung Konrad Burdachs Während William James die mystische Erfahrung der Wiedergeburt als psycho¬ logisch-anthropologisches Phänomen, als allgemeine religiöse Erfahrung be¬ trachtet, nähert sich Konrad Burdach in seiner bereits erwähnten Abhandlung Sinn und Ursprung der Worte Renaissance und Reformation dem Thema der Wie¬ dergeburt zunächst philologisch. Die gemeinsame Wurzel der beiden Begriffe liege im Italienischen. Er findet das Bild der Wiedergeburt nicht etwa erst bei Vasari in Bezug auf die Kunst angewandt, sondern schon dreißig Jahre früher bei Macchiavelli im Zusammenhang mit der Schilderung der Revolution des Rienzo.966 Cola di Rienzo selbst habe seinen bewußt auf den Pfingsttag gelegten Staatsstreich mit dem Ziel einer Wiedergeburt Roms als mystischen Auftrag ver¬ standen, was durch seine Briefe und Manifeste belegt sei967 und außerdem die Motivation seiner symbolträchtigen ,Inaugurationsriten“, etwa dem Taufbad in

963 Vgl. Achim Aurnhammer, Androgyme. Studien zu einem Motiv in der europäischem Li¬ teratur, Köln, Wien 1986, das Kapitel Androgynie in alchemischer Mythenallegorese, S. 118 ff. 964 A.a.O., S. 126. 965 Silberer, Probleme der Mystik, a.a.O., S. 85. Diese Figur sei auch mit dem alchemistischem Zeichen des Gabelkreuzes bzw. des Ypsilon ,Y‘ gemeint, welches eine aus der .Einheit“ erwachsende .Zweiheit“ und damit eine .Dreiheit“, nämlich die der Spaltung der Natur in Geist und Materie, symbolisiert, a.a.O., S. 118. 966 Burdach, Renaissance, a.a.O., S. 19. 967 A.a.O., S. 22 ff.,S. 31 ff. u. S. 34 f.

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der Porphyrwanne Konstantins,968 erkläre. Rienzo wie auch Dante, auf dessen Vita nova Burdach ebenso ausführlich eingeht wie auf die Wiedergeburtsmotive des Purgatorioschlusses der Divina Commedia,969 seien von den Lehren Joa¬ chims von Fiore und Franz’ von Assisi beeinflußt, die maßgeblich zum mysti¬ schen Bedeutungsgehalt der Vorstellung der Wiedergeburt beigetragen hätten. So schließt Burdach aus dem historischen Quellenmaterial, daß .Renaissance1 als Epochenbezeichnung zunächst nicht so sehr .Wiedergeburt der Antike1 bedeute, sondern daß vielmehr die mystische Tradition für das Aufkommen des interna¬ tionalen Begriffes prägend war: Mit .Wiedergeburt1 sei die Wiedergeburt in ein „neues, erhöhtes, ideales Leben“970 gemeint. Hofmannsthal verdankt Burdachs Studie eine ganze Reihe von Anregungen für die Gestaltung der beiden letzten Aufzüge der Kinderkönigfassung.971 Die Gestalt und das Schicksal des bisweilen belächelten972, letzten römischen Tribu¬ nen Cola di Rienzo ist sowohl für Sigismund als auch den Kinderkönig von Be¬ deutung. Wie Sigismund währt Rienzos Herrschaft nur einen begrenzten Zeit¬ raum — Rienzo

ist

sieben Monate auf dem Thron —, wie

er ist

er ein

„Zwischenherrscher11 (SW XVI. 1 138).973 Die symbolische Waschung Sigismunds vor der Einnahme des Schlaftrunks974 gewinnt an Bedeutung angesichts der Burdachschen

Auslegung

des

Taufbades

Rienzos

in

der

Porphyrwanne

Konstantins. Mit dem Taufbad „hatte er [Rienzo] das Symbol der Wiedergeburt an seiner eigenen Person dargestellt .975 Um die „Zeremonie des Ritterbades vor dem Vorwurf der Blasphemie zu verteidigen“, habe Rienzo „seine ,.Reformation des römischen Staates1, seine Reinigung und Neuordnung der Rechtspflege Roms

mit

dem Erneuerungsbad der Taufe Konstantins

verglichen.

Seine

968 A.a.O., S. 28 f., S. 33 u. S. 76. 969 A.a.O., S. 59 ff. 970 A.a.O., S. 30. 971 Vgl. Hofmannsthals Paraphrase des aus Burdachs Schrift entnommenen Drei-ZeitalterSchemas von Joachim von Fiore in N 140 in SW XVI:I 368 f. und die dazugehörige Erläuterung auf

S.

583. Siehe unten 3.Teil, Kapitel II.2.3.3. . 972 „Und in solchen Zeiten getraute Cola Rienzi, auf den hinfälligen Enthusiasmus der

verkommenen Stadtbevölkerung von Rom eine neue Herrschaft über Italien zu bauen. Neben Herrschern wie jene [des 14. Jahrhunderts] ist er von Anfang an ein armer verlorener Tor.“ „[...] und so konnte sich das Scheinbild und Postulat einer römisch-italienischen Weltherr¬ schaft der Gemüter bemächtigen, ja eine praktische Verwirklichung suchen mit Cola di Rienzi. Wie er, namentlich bei seinem ersten Tribunat, die Aufgabe anfasste, musste es allerdings nur zu einer wunderlichen Komödie kommen, [...]“. Nicht mehr als diese beiden Beurteilungen ist Rienzi Jacob Burckhardt in seiner Kultur der Renaissance in Italien wert, siehe dort (10. Aufla¬ ge Stuttgart 1976), S 14 u. S. 165. Zur Beurteilung der von Burdach „vielleicht überzeichneten Persönlichkeit desVolkstribunen Cola di Rienzo“ siehe ferner Hans Joachim Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis, Studien zur Wesensbestimmung der fruhromantischen Utopie und zu ihren ideen geschichtlichen Voraussetzungen, 2. Aufl., Tübingen 1994, S. 211 f. 973 Burdach, Renaissance, a.a.O., S. 24. 974 Siehe oben 3. Teil, Kapitel II.2.1. 975 Burdach zitiert eine Briefstelle Rienzos: „In der Wanne des Herrn [Souveräns] Kon¬ stantin, des christlichen Imperators und Augustus, empfingen wir das Taufbad der Ritterehre“, Renaissance, a.a.O., S. 28 f.

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neuerungsbad der Taufe Konstantins“ verglichen. Seine Reformation fasse er hier auf „als einen Akt des reinigenden, weihenden Bades und das Volk, die Stadt Rom, die bürgerliche und staatliche Gemeinschaft als das Wesen, dem die Reini¬ gung, die Erneuerung zuteil wird.“976 Die letzte Szene von Dantes Purgatorio, in der Vergil und Dante auf dem Gipfel des Läuterungsberges das irdische Paradies erreichen, liefert einige Motive antiken Ursprungs, die die symbolische Tragweite des Taufbades noch erwei¬ tern:977 Matelda, die Begleiterin Beatrices, badet den von Vergil verlassenen, trau¬ ernden Dante nach seinem von Beatrice erwirkten Sündenbekenntnis zunächst im Fluß Lethe, dem Fluß des Vergessens, um ihn dann, nach einer Fülle ihm un¬ verständlicher Visionen aus dem anderen der beiden Paradiesflüsse, dem Fluß Eunoe, der die Erinnerung an das Gute bringt, trinken zu lassen.976 Dem Sühne¬ bad folgt das Erneuerungsbad, aus dem Dante neue Kraft für das himmlische Pa¬ radies schöpft. Diese Wiedergeburtssymbolik der Göttlichen Komödie ist bei Rienzos demonstrativer Taufbadzeremonie mitzudenken und war möglicherwei¬ se auch Hofmannsthal in Erinnerung, als er den vierten und fünften Akt seines Trauerspiels konzipierte.979 Ausführlich geht Burdach auf die, wie er sagt, „eigentliche Quelle des Bildes der Wiedergeburt“980 ein, den freiwillig sterbenden und wiederauferstehenden Vogel Phönix der ägyptischen Sage, den der zum Christentum übergetretene Rhetor Lactanz aus Nikodemia in seinem Gedicht De ave Phoenice zum „Symbol der Auferstehung Christi und der Auferstehung aller einzelne[r] Christensee¬ len“ erhob, was er bis ins Mittelalter hinein blieb.981 Vor dieser christlichen Aus¬ legung galt der Phönix als „singuläres Beispiel einer Zeugung von innen aus sich selbst, ohne äußere, sexuelle Einwirkung“,982 aber auch als „Symbol für Entwick¬ lungsprozesse kollektiver Wesen: der Dynastie, des Staates, der Gesellschaft, der nationalen Kultur“, was bereits in ältester ägyptischer Tradition mit der in astro¬ nomischen Anschauungen wurzelnden Vorstellung vom Aufgang, Untergang und Wiedererstehen einer Zeitperiode, einer Ära zusammenhängt.983 Ungefähr fünfhundert Jahre - diese Zahl variiert in den von Burdach zusammengetragenen

976 Burdach, Renaissance, a.a.O., S. 33. 977 A.a.O., S. 76. 978 A.a.O., S. 73

ff. Während Lethe auch in Vergils Aeneis vorkommt,

geht

das

Nebeneinander der beiden Quellen auf orphische Lehren zurück, a.a.O., S. 77. 979 „Sehet ihn an, unseren König, wie er dasteht. Wie in lebendigem Flusswasser gebadet, so glänzt er von oben bis unten“, sagt ein Greis aus dem Volk am Ende des vierten Aktes SW XVI.l 111. 980 Burdach, Renaissance, a.a.O., S. 66. 981 A.a.O., S. 67. 982 So bei Ovid, dem Geographen Pomponius Mela und Claudian, die wie dann auch Lac¬ tanz im Zusammenhang mit dem Phönix die Begriffe .reformare1 bzw. ,renascire‘ verwenden, a.a.O., S. 67. Bei Ovid findet sich die Formulierung, dass der junge Phönix aus dem Leibe des Vaters wiedergeboren werde, a.a.O., S. 82 f. 983 A.a.O., S. 68.

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antiken Quellen984 - währt eine sogenannte „Phönixperiode“, deren alte astrolo¬ gische Symbolik noch in Dantes Göttlicher Kommödie deutliche Spuren hinter¬ lassen habe.985 In der Kinderkönigfassung wird Sigismund ausdrücklich als Phönix be¬ zeichnet, und zwar unmittelbar, bevor er gegenüber den Repräsentanten der sich ihm anvertrauenden gesellschaftlichen Gruppen - den alten Königstreuen, den revolutionären Bauern und den Tartaren - die Vision seiner Herrschaft und sei¬ nes neuen Reiches darlegt. „Ja, es erhob sich aus dem brennenden Nest ein Phö¬ nix, und da er sich aufschwang, erkannten wir die Brut unserer Könige [...]“, er¬ klärt der ehemals Basilius verpflichtete Bannerträger, der in Sigismund einen „großen König“ sehen will, „der der schwärmerischen Unkraft der Zeit den Pol der männlichen Gewalt entgegensetzt: gerecht und groß, milde und mächtig!“ (SW XVI.1 132). Während Sigismund darin einwilligt und das Ziel seiner Herr¬ schaft - „zu ordnen und aus der alten Ordnung auszutreten“ (ebd.) - ausführlich und unmißverständlich darlegt, weiß der Zuschauer schon, daß er seine ideale Herrschaft nicht mehr verwirklichen kann, denn die Zigeunerin hat ihn bereits vergiftet. Sein Erbe tritt der Kinderkönig an, dessen Reich allerdings weitaus utopischer anmutet. Die in hermetischen Traditionen bekannte chiliastische Bedeutung des Phönix-Symbols986 läßt die Intention erkennen, die Hofmannsthal mit der vor allem aus dramaturgischer Sicht oft kritisierten987 Figur des Kinderkönigs ver¬ folgte. Im Bericht über die Entstehung der ersten TVrm-Fassung wollen die Herausgeber sich nicht festlegen, ob die „Erfindung“ der Gestalt des Kinderkönigs allein auf Burdachs Aufsatz zurückzuführen sei (SW XVI.1 161). Allein nach den hier dargelegten Quellen - Rang und Silberer - ist dies wohl eher zu verneinen. 2.3.3. Das Goldene Zeitalter In Hofmannsthals Aufzeichnungen zum vierten Akt findet sich das Stichwort „novus dux, Knabe“.988 Es nimmt Bezug auf die Erklärung Burdachs in seiner Renaissance-Schrift, daß Rienzo sich für den „,neuen Führer“ novus dux, den Königssohn, den ,Armen“ (pauper) und ,Knaben“ (puer) hielt, der als Helfer und Vorläufer neben Kaiser und Papst oder wohl gar allein die Reformation und Wiedergeburt des Reiches herbeiführen solle .

Als novus dux stehen Burdachs

Rienzo und Hofmannsthals Kinderkönig in der chiliastischen Tradition Joa-

984 540 Jahre steht bei Manilius und Plinius, 1461 Jahre bei Tacitus. Unter dem Einfluß des alten Theologumenon vom tausendjährigen Reich wurde bald dieser Zeitraum begünstigt, a.a.O., S. 85. ... 985 Dante erwartet den Regenerator Italiens ,un Cinquecento dieci e cinque1, was bereits äl¬ teste Kommentatoren als Spielerei mit der römischen Zahlenfolge DXV verstanden haben: DVX, das heißt dux, a.a.O., S. 84 f. 986 Vgl. Silberer, Probleme der Mystik, a.a.O., S. 124. 987 Vgl. die Einwände Max Reinhardts und Martin Bubers. 988 Siehe SW XVI. 1 160 und N 115. 989 Burdach, Renaissance, a.a.O., S. 88 f.

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chims von Fiore,990 dessen Lehre vom „dritten Reich des Geistes“ seinerseits Motive älterer Chiliasmen wiederaufnimmt. Chiliastische Prophetie ist älter als das Christentum; sie wurzelt in jüdisch-orientalischen Messias-Erwartungen, von denen sie ihren ekstatischen Glaubencharakter erhält, und tritt ausdrücklich in Beziehung zur antiken Idee des goldenen Zeitalters.991 Der Symbolgehalt des Kinderkönigs und die damit implizierten geschichtsphilosophischen Aussagen der ersten Fassung des Turm lassen sich durch die Rekonstruktion der im anti¬ ken Topos des goldenen Zeitalters und in jüdisch-orientalischen Messiasvorstel¬ lungen wurzelnden chiliastischen Traditionen aufdecken. Von der Existenz des Kinderkönigs und seiner Gefolgschaft erfährt man zum ersten Mal am Ende des dritten Aufzugs. Nach der gescheiterten Probe soll Sigismund, noch betäubt, mit seinem nun ebenfalls gefangenen Bewacher Julian und in Begleitung des Arztes in den Turm zurückgebracht werden. Es seien Um¬ stände eingetreten, die es nötig machten, die Rückkehr in die Nacht zu verlegen: Tausende beteten für einen „Bettlerkönig, einen namenlosen Knaben, der ihr Führer sein und in Ketten ein neues Reich heranbringen soll“ (SW XVI. 1 90). Die Paradoxie dieser ersten Charakteristik wird später die Begegnung mit dem sterbenden Sigismund prägen.992 Im fünften Aufzug, noch vor der gespensti¬ schen Zigeunerin-Szene, erfährt Sigismund, der sich nun zum stoischen Herr¬ scher gewandelt hat, Näheres über die mittlerweile organisierte Bewegung der „Grünen“, die, anders als er zunächst vermutet, keine „Marodierer, Versprengte von der königlichen Armee, verlaufene Mordbrenner von Oliviers Haufen“ (SW XVI. 1 119) sind, sondern vielmehr die „zusammengelaufenen Waisen aus den Dörfern ohne Häuser“ (SW XVI.1 120), die Kriegswaisen, die alles, was Gebor¬ genheit ausmacht, verloren haben. Es handle sich immerhin um rund zehntau¬ send Halbwüchsige, die sich jenem Knaben als ihrem „gewählten König“ (SW XVI.1 120) angeschlossen hätten. Dieser offenbar charismatische Führer sei ein „starker und schöner Bursch“, der „aus den Augen schaue wie ein junger Löwe. Sie pflügen und leben wieder wie die Menschen vordem. Sie verrichten Hand¬ werk und singen dazu.“993 Als Sigismund darüber hinaus erfährt, daß dieser Kna¬ be ein Kind des König Basilius sei „von einem schönen wilden Weib, das ihn auf der Jagdhütte bediente“ (SW XVI.l 120), er aber von der Mutter im Wald ver-

9,0 Unter dem Einfluß von Joachims Drei-Zeitalter-Lehre und ihrer Verbreitung durch die Franziskaner-Spiritualen wurde Franz von Assisi für den novus dux, den Führer in das neue Zeitalter gehalten. Hofmannsthal wurde im Habit des Franziskaner-Ordens beigesetzt, wobei nicht ganz sicher ist, in welcher Weise er dem Orden verbunden war, s. Feopold von Andrian, Erinnerungen an meinen Freund, in: Hugo von Hofmannsthal. Die Gestalt des Dichters im Spie¬ gel der Freunde, hrsg. v. Helmut A. Fiechtner, Wien 1949, S. 63. 991 Mähl, a.a.O., S. 188. 992 Siehe unten 3. Teil, Kapitel II.5.3. 993 SW XVI.l 120. In Burdachs Aufsatz wird das Goldene Zeitalter unter Hinweis auf Ovid mit der Rückkehr zu Ackerbau und Vegetarismus näher beschrieben, was Hofmannsthal sich notierte; vgl. Burdach, Renaissance, a.a.O., S. 80 f. Als das Volk am Ende des vierten Auf¬ zugs Sigismund etwas zu essen anbietet, sagt dieser: „Nicht was die Vogelschlinge noch was der Angelhaken geschafft hat, noch das Messer an der Kehle des Schweins, - aber dies da aus weißem Mehl ist eine schöne Speise [...]“ SW XVI.l 114.

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steckt und in Unkenntnis seiner Herkunft herangewachsen sei, wünscht er ihn zu sehen. Zu der Begegnung der beiden Basilius-Söhne kommt es jedoch erst, als Si¬ gismund im Sterben liegt. Der Auftritt des Kinderkönigs am Ende des fünften Aktes wird mit Hilfe von Symbolen und symbolischen Handlungen inszeniert, die allesamt auf den Opfertod Sigismunds, seine Wiedergeburt in dem jungen Herrscher als dem Erlöser und Garanten eines neuen Friedensreiches verweisen: Die beiden Knaben, die den Kinderkönig begleiten, gehen barfuß und tragen ebenso wie dieser selbst — weiße Gewänder, die österlichen Meßgewändern gleich die Verklärung des auferstandenen Christus symbolisieren. Der eine Kna¬ be hält ein Glöckchen, ebenfalls aus Osterprozessionen bekannt, der andere ei¬ nen weißgeschälten Zweig, eine Wünschelrute, in der Hand.944 Die Lichtsymbolik der weißen Kleider setzt sich in dem zeremoniellen Gesang der Knaben fort: „Das Licht ist sanft, und ich höre die Sichel gehen im Gras und die Schwaden über die Sense fallen.“- „Gewaltig! die Lerche ist gewaltig! und die Sonne zeigt ihr herrliches Haus und alles deutet auf einen Punkt.“995 In den Erläuterungen der Kritischen Ausgabe wird im Hinblick auf die Symbolik der aufsteigenden Sonne auf Burdachs Paraphrase der Drei-Zeitalter-Lehre des kalabrischen Zister¬ zienser-Abtes Joachim von Fiore verwiesen (SW XVI.1 553), die Hofmannsthal sich stichwortartig notiert hat.996 Allein die Tatsache, daß die Knaben einen feier¬ lichen Gesang anstimmen - später, nachdem Sigismund gestorben ist, singen sie den Pfingsthymnus „Mitte spiritum tuum, et creabuntur, et renovabis faciem ter¬ rae!“ (SW XVI.1 139) - , ist vor dem Hintergrund der Burdachschen Ausfüh¬ rungen ein Hinweis darauf, daß es sich bei dem Kinderkönig und seiner Gefolg¬ schaft um Nachfolger des Joachim von Fiore und Franz von Assisi handelt. Die „neue Frömmigkeit“ dieser beiden zeichne sich durch die „Liebe zum heiligen Gesänge“ aus: „Trotz aller Askese und Kasteiung, trotz ihrer Verachtung von Luxus und äußerem Glanz [...] wenden sich beide doch auch an gewisse ästheti¬ sche Kräfte und Bedürfnisse, räumen sie z.B. der Musik und der Poesie eine Macht ein, die ein Zug zum Rührenden Zarten, ja zur lichten Heiterkeit ver¬ rät.“997 Nicht etwa durch nüchternes Studium, sondern „während des Gesanges am Pfingstfest“ Sei Joachim - so berichte er selbst - „das Geheimnis der Dreiei¬ nigkeit“ aufgeschlossen worden.998 Die um das Jahr 1190 formulierte Drei-Zeitalter-Lehre des Joachim von Fiore"9 beruht auf der Vorstellung, daß nach dem ersten 'Veltstand des alten Te-

994 Vgl. Erläuterungen SW XVI.1 552. 995 SW XVI.1 137 Das Motiv der Lerche als Künderin des Morgens und des Friedens übernahm Hofmannsthal Claudels Stück La Ville- vgl. Erläuterungen SW XVI. 1 553. 996 Der erste war unter dem Gesetz, der zweite ist unter der Gnade, der dritte wird sein unter reicherer Gnade: Fides u. Caritas. [...]“ (N HO, SW XVI.l 369). Vgl. ferner die im Be¬ richt über die Entstehung des Turm erwähnten Notizen in SW XVI.l 160 f. 997 Burdach, Renaissance, a.a.O., S. 46. 998 Ebd. , , ^ 999 Die Paraphrase Burdachs lautet wie folgt: „Der erste Weltstand war unter dem Gesetz, der zweite in dem wir leben, ist unter der Gnade, der dritte, den wir als noch bevorstehend er¬ warten, unter reicherer Gnade [...], Der erste Weltstand war im Wissen, der zweite ist in der

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staments unter der Herrschaft des Vaters und dem zweiten Zeitalter unter der Herrschaft des Sohnes vor dem Weltenende ein „Drittes Reich“1000 des Heiligen Geistes anbreche. In Analogie zu der durch die Generationenfolge des alten Te¬ staments vorgegebenen Zeitspanne prophezeite Joachim den Anbruch dieses dritten Zeitalters um das Jahr 1260.1001 Die revolutionäre Kraft dieser Lehre wur¬ de erst zwei Generationen nach Joachim durch die Franziskaner-Spiritualen deutlich.1002 Die mönchisch-kontemplative Geist-Kirche, die nach Joachim im dritten Weltalter die klerikale Papst-Kirche ablösen sollte und die von den Brü¬ dern des jungen Franziskaner-Ordens dann gelebt worden ist, hat zum Wieder¬ aufleben chiliastischen Glaubensgutes geführt, das im Mittelalter durch Augusti¬ nus’ gleichsam alle früheren Chiliasmen aufhebende Lehre - die Kirche selbst sei die sichtbare Repräsentation des tausendjährigen Reiches 1003 - zurückgedrängt worden war. Obwohl die das tausendjährige Reich spiritualisierende Lehre Joa¬ chims strenggenommen nicht als Chiliasmus bezeichnet werden kann, gehört sie in diese Traditionslinie, da sie die Christus-Kirche, das evangehum Christi, nicht als endgültige Stufe der Heilsgeschichte anerkennt, sondern ein evangehum aeternum erwartet.1004 Die drei Zeitalter entsprechen im Turm der Herrschaft des Basilius, der des Zwischenkönigs Sigismund und der des Kinderkönigs. Da die Topoi des Goldenen Zeitalters - wie bereits erwähnt - oft in chiliastische Prophetie eingebunden wurde,1005 ist es nicht verwunderlich, wenn ein Vers im Gesang der beiden Knaben am Sterbebett1006 Sigismunds lautet: „Hier ist der Fels, aus dem der Quell fließt, Milch und Honig“ (SW XVI.l 137). Das ge¬ segnete Land, in dem Milch und Honig fließen, wird auch in Burdachs Paraphra¬ se der Drei-Zeitalter-Lehre zitiert;1007 die Motive gehen zurück auf eine Be¬ schreibung des Goldenen Zeitalters in den Divinae Institutiones des Phönix-

Weisheit, der dritte wird sein in der Vollkommenheit des Intellekts. Der erste in der Furcht, der zweite im Glauben, der dritte in der Caritas. Der erste im Licht der Sterne, der zweite in der Morgenröte, der dritte im vollen Tagesglanze. Der erste im Winter, der zweite im Frühling, der dritte im Sommer. Der erste brachte Nesseln, der zweite bringt Rosen, der dritte Lilien.“, Burdach, Renaissance, a.a.O., S. 49. 1000 Joachim von Fiore selbst hat den Begriff „Reich“ nie verwendet, sondern sprach von „Status“, vgl. den Artikel von Herbert Grundmann über Joachims Liber figurarum in Kindlers Literaturlexikon, Bd. 13, S. 5659. 1001 Ebd. 1002 Mähl, Goldenes Zeitalter, a.a.O., S. 203. 1003 A.a.O., S. 201. 1004 A.a.O., S. 204. 1005 Siehe oben 3. Teil, Kapitel 3.3.2. und Mähl, a.a.O., S. 187 f. 1006 Eigentlich handelt es sich nur um ein improvisiertes Lager, einen Haufen aus Kleidern und Teppichen, vgl. SW XVI.l 134. 1007 Joachim fordere eine über die Wiedergeburt durch das Sakrament der Taufe hinausge¬ hende „Wiedergeburt des dritten Himmels“ für Erwählte: „Erst die Söhne jener Unvollkom¬ menen (nur Getauften), erst die die in das

ewige

Christus

neugeboren

werden

durch

E v a n g e 1 i u m, das im Geiste und deshalb nicht wie jedes Buchstaben Evan¬

gelium zeitlich, sondern unvergänglich ist, werden einziehen in das gesegnete Land, darin Milch und Honig fließt.“ Burdach, Renaissance, a.a.O., S. 48 f. (Hervorhebung im Original)

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Dichters Lactanz, der als Hauptvertreter des frühchristlichen Chiliasmus gilt.1008 Bei Lactanz vollzieht sich die erste Assimilierung biblischer Prophezeihungen, sibyllinischer Orakel1009 und der für die Tradition des Goldenen Zeitalters so wichtigen vierten Ekloge Vergils. Eine Schlüsselfunktion innerhalb dieser Tradi¬ tion nimmt Vergils berühmtes Gedicht deshalb ein, weil darin zum ersten Mal die antike Vorstellung der arkadischen aetas aurea nicht mehr in paradisischferner Vergangenheit angesiedelt, sondern in die Zukunft verlegt wird.1010 Schon in der antiken Ideengeschichte ist die Gestalt des Kindes mit der Vorstellung des Goldenen Zeitalters eng verknüpft.1011 Dabei repräsentiert die Kindheit „als ursprüngliche Einheit und Harmonie des Menschen mit dem ihm umgebenden All“ sowohl diese frühste Epoche der Menschheit als auch den wie¬ derherzustellenden, zukünftigen Idealzustand einer „zweiten, höheren Kind¬ heit“.1012 Das paradoxe Bild Jesu Christi, „daß nur, wer wie die Kinder werde, ins Himmelreich eingehe (Matth. 18,3)“1013, drückt diese eschatologische Bedeutung des Kindes ebenso aus wie die Worte von Novalis - „Wo Kinder sind, da ist ein goldenes Zeitalter“ (Blutenstaub) - und Hölderlin - „Daß man werden kann wie die Kinder, daß noch die goldene Zeit der Unschuld wiederkehrt, die Zeit des Friedens und der Freiheit“ (Hyperion, 2. Buch). Mit seiner Figur des Kinderkö¬ nigs, die auch an andere berühmte literarische Kindergestalten erinnert,1014 schreibt Hofmannsthal diese Tradition bewußt fort.1015 Vor dem Hintergrund dieser chiliastischen Tradition, die im Kind einen Führer, einen Novus Dux, in ein Goldenes Zeitalter sieht, aber auch im Hinblick auf Hofmannsthals Interesse an den utopischen Zielen des Forte-Kreises wird das Beharren des Dichters auf seiner Kinderkönig-Fassung verständlich. Mit dem Ausblick auf das Friedensreich des Kinderkönigs konnte Hofmannsthal seinen Turm in der religiösen Tradition Vergils, der „Geistkirche“ Joachims und der Franziskaner-Spiritualen und des ihm in besonderer Weise nahestehenden Novalis sehen, während er in der späteren Fassung vor dem „nüchternen Tag“, der mit der Herrschaft Oliviers über der Welt hereinbricht, resignierte. Die Si¬ gismund-Figur verwandelt sich: Aus dem prophetischen Vorbereiter des renais-

1008 „Doch nur der Frommen geheiligte Erde wird alles das bringen, / Naß vom honigtrie¬ fenden Felsen sowie von der Quelle, / auch ambrosische Milch wird fließen für alle Gerech¬ ten.“ Zitiert nach den Erläuterungen SW XVI.1 554. Zum Inhalt und zur Beurteilung der Divinae Institutiones des Lactantius vgl. Mahl, a.a.O, S. 196 f. 1009 Zu den Oracula Sibyllina vgl. Mähl, a.a.O., S. 195. 1010 Vergil glaubte, anders als sein jüngerer Zeitgenosse Horaz, der in seiner 16. Epode ein utopisches Paradies verkündet, an eine geschichtliche Verwirklichung eines Friedensreiches. Zur Bedeutung von Vergils 4. Ekloge vgl. Mähl, a.a.O, S. 69 ff. 1011 Mähl, a.a.O.,S. 362 ff. 1012 Mähl, a.a.O., S. 363. 1013 Burdach, Renaissance, a.a.O., S. 38. 1014 Den Erben Hamlets, den jungen Prinzen von Norwegen, Fortinbras, erwähnen schon Walter Benjamin und Rudolf Alexander Schröder in ihren frühen 7«rw-Rezensionen; vgl. SW XVI. 1 160. Auch Goethes Mignon, die wie der Kinderkönig androgyne Züge trägt, gehört in diese Tradition. ,0l5SWXVI.l 161.

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sancistischen Novus Dux wird der barocke Märtyrer, den Walter Benjamin in seinem Trauerspielbuch beschrieben hat. 3. Melancholie und saturnische Trägheit 3.1. Der Melancholiebegriff in Benjamins Trauerspielbuch Obwohl Sigismund bei seinem ersten Auftritt eher einem Tier als einem Men¬ schen gleicht, ist sein Dasein im Turm kein bloßes Vegetieren. Von Julian erhielt er Unterricht und von der Bäuerin eine religiöse Erziehung. Als Anton ihn wie einen unberechenbaren Hund aus dem Turm lockt, erscheint Sigismund mit ei¬ nem Stein in der Hand, den man ihm erst vorsichtig abnehmen muß. Seine ersten Worte sind ein bloßes Nachplappern der Aufforderung Antons, sich zu ihm zu setzen. Das hündische Verhalten und der Stein haben symbolischen Wert und deu¬ ten schon hier darauf hin, daß Sigismund später vollends die Züge eines Melan¬ cholikers annehmen wird. Dem Typus des Melancholikers begegnet Hofmanns¬ thal in Walter Benjamins Schrift Vom Ursprung des deutschen Trauerspiels, dessen theoretische Bedeutung für den Turm bereits im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit nachgewiesen wurde. Das Melancholie-Kapitel aus Benjamins Trauerspielbuch erschien als Vor¬ abdruck der Habilitationsschrift in Hofmannsthals Neuen Deutschen Beiträ¬ gen.,1016 Hofmannsthals Exzerpte, die in erster Linie für das Xenodoxus-Fragment (SW XIX 70-147) aufschlußreich sind, belegen eine intensive Lektüre.1017 Ben¬ jamin weist dort auf den Hund und den Stein als Requisiten in Dürers Melencolia I hin.10is Der Hund steht für ein Wesen, das wie der Melancholiker von der Milz beherrscht wird. Deren Ausartung führt zur Tollwut. Sigismunds Verhalten im dritten Akt, als er den Vater unter Gewaltanwendung stürzt, ähnelt tatsäch¬ lich dem eines tollwütigen Hundes. Der Hund symbolisiert außerdem die Aus¬ dauer, die der Melancholiker beim Forschen und dumpfen Grübeln beweist. In der Dunkelheit des Verlieses war dem Prinzen anderes als dunkles Brüten kaum möglich; es war das einzige Relikt seines Menschseins. Wenn er im Gespräch mit der Bäuerin über die Seelenwanderung spekuliert und in der darauffolgenden Unterhaltung mit Julian unermüdlich nach seinem Herkommen fragt, wenn sein

mbNeue Deutsche Beiträge, 2. Folge, 3. Heft, S. 89-100. 1017 Lorenz Jäger, Hofmannsthal und der Ursprung des Trauerspiels, in: HofmannsthalBlätter 1985 H. 31/32, S 83-106, hier, S. 90 ff. 1018 Benjamin, Trauerspiel, a.a.O., S. 131 u. 133. Benjamin rekurriert auf die Studie von Erwin Panofsky und Fritz Saxl, Dürers Melencolia /, Leipzig, Berlin 1923. Hofmannsthal stand in Kontakt mit dem Kreis um Aby Warburg (diesen Hinweis erhielt ich von Rudolf Hirsch), weshalb ihm Panofskys und Saxls Studie nicht erst durch Walter Benjamins Buch bekannt ge¬ wesen sein dürfte. Auch versuchte Hofmannsthal vergeblich bei Panofsky ein gutes Wort für Benjamin einzulegen, vgl. Benjamin, Briefe I, a.a.O., S. 457 und siehe oben 2. Teil, Kapitel V.l.

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Name ihm die Idee seiner selbst gleichzeitig verbirgt und offenbart,1019 wird Si¬ gismund eindeutig ein melancholisches Temperament zugeschrieben.1020 Auch die Gründe für Sigismunds Absage an jegliche irdische Herrschaft sind in seinem melancholischen Wesen zu suchen. Der Stein, den er beim Verlas¬ sen des Turms in der Hand hält, könnte als eine Anspielung auf den späteren Rückzug des Prinzen von der Welt der Tat gedeutet werden. Er symbolisiert nach Walter Benjamin die „Trägheit des Herzens“, die „saturnische Acedia“ des Fürsten, welche als eine der Todsünden gilt. „Saturn macht .apathisch, unent¬ schlossen, langsam“1.1021 Obwohl Sigismund, nachdem er vom Schafott auf den Thron geführt worden ist, durchaus Entschlossenheit in seinem Verhalten zeigt, darf man doch einen saturnischen Einfluß vermuten, wenn seine ganze Auf¬ merksamkeit nicht - wie es sich für einen Herrscher ziemte - den Staatsangele¬ genheiten, sondern seinem Lehrer Julian gilt. In Dürers Melencolia I wie auch sonst in der Mehrzahl der Melancholiedar¬ stellungen findet sich der Stein zwischen allerlei unnütz (vanitas) und unbenutzt herumliegendem Werkzeug, welches sämtlich die Untätigkeit und Handlungsun¬ fähigkeit des Melancholikers symbolisiert. Der Sigismund der späteren Fassun¬ gen hat entgegen Julians Hoffnung nicht das Zeug zum Herrscher und läßt das irdische Werk ungetan. 3.2. Die melancholischen Vorbilder der Sigismund-Figur: Kaspar Hauser und Anton Reiser Sigismunds melancholisches Temperament bildet die psychische Grundlage sei¬ nes majestätischen Wesens. In seinen Anlagen gleicht er zwei anderen berühm¬ ten Melancholikern: Kaspar Hauser und Anton Reiser.10“ Hofmannsthal wurde vermutlich schon während seines Jura-Studiums mit der Studie zum Fall Kaspar Hauser, die der Strafrechtler Anselm von Feuerbach 1832 veröffentlicht hat, bekannt.1023 Er erwähnt den berühmten Findling in der

1019 In seiner Intentionslosigkeit ist der Name .Sigismund“ hier als der von Benjamin erläu¬ terte „adamitische Name“ zu verstehen, vgl. Benjamin, Trauerspiel, a.a.O., S. 19. 1020 Für diese Deutung spricht der Vergleich mit Julian, dem Mann der Tat, der niemals den bloßen Worten nachsinnen würde und dem das Wort, welches Sigismund so große Furcht einzuflößen vermag, ein „Zauberwort“ (SW XVI.1. 64), eine magische Formel ist, deren ganzer Sinn ausschließlich in ihrer Wirkung liegt. 1021 Zit. n. Jäger, Ursprung, a.a.O., S. 96 f. 1022 Sigismunds Verwandtschaft mit Kaspar Hauser erkannte schon Walter Benjamin in seiner zweiten Turm- Rezension, siehe Benjamin, GS III, S. 99. 1023 Paul Johann Anselm von Feuerbach, Kaspar Hauser. Beispiel eines Verbrechens am See¬ lenleben des Menschen, vgl. zum Fall Kaspar Hauser: Wilfried Küper, Das Verbrechen am Seelen¬ leben, Anselm Feuerbach und der Fall Kaspar Hauser in strafrechtlicher Betrachtung, Heidelberg 1991

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Kaspar Hauser Motiven im Turm: Horst Martin, Kaspar Hauser und Sigismund.

Über eine Quelle zu Hofmannsthals „Turm“, in: Seminar. A Journal of German Studies, XII (1976), S. 236-258 und Marianne Kesting, Sprachterror oder dichterische Sondersprache. Zur Verwandlung der Kaspar Hauser Figur in Hofmannsthals ,Turm‘-Dichtungen und in Peter Hand¬ kes ,Kaspar', in: Drama und Theater im 20. Jahrhundert. Festschrift für W'alter Hin ck, hrsg. v. H. D. Irmscher und W. Keller, Göttingen 1983, S. 365-380.

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Rede Der Dichter und diese Zeit (RA I 54) und im Vorspiel für ein Puppentheater (D III 489); beide entstanden im Jahr 1906. In literarischer Gestaltung ist er ihm in Jakob Wassermanns Buch Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens sowie in Paul Verlaines Gedicht Gaspar Hauser chante begegnet.1024 Hofmannsthal nahm einen Text von Anselm von Feuerbach in das von ihm herausgegebene Deutsche Lesebuch auf; in den dazugehörigen

Gedenktafeln

schreibt Hofmannsthal von Feuerbach, er sei „ein großartiger philosophischer ja dichterischer Kopf, merkwürdig noch zuletzt durch seine Schrift für Kaspar Hauser“. 1025 Feuerbach hat seiner Schrift über Kaspar Hauser ein Motto aus Calderöns La vida es sueno vorangestellt: „Himmel, laß’ mich Kund erlangen, / da Du so verfährst mit mir, / welch’ Verbrechen ich an Dir / schon mit der Geburt begangen!“1026 Dies legt die Vermutung nahe, daß Hofmannsthal sich schon bei ersten Bearbei¬ tung des Calderön-Stückes im Jahr 1902 der Verwandtschaft der beiden Schick¬ sale bewußt gewesen ist. Das von Feuerbach gewählte Motto kann als Anspielung auf eine Hypothe¬ se des Verfassers verstanden werden, die bis heute in der Kaspar Hauser-For¬ schung umstritten ist.1027 Es handelt sich um die anfangs von Feuerbach selbst für eine „romantische Sage“ gehaltene Annahme, daß der unbekannte Findling aus fürstlichem Hause stamme.1028 Da sich im Verlauf der intensiven Beschäfti¬ gung mit dem Fall die Indizien für die Vaterschaft des Großherzogs Carl von Baden häuften, schließt Feuerbach auf ein „Majestätsverbrechen“1029 Ein „Maje¬ stätsverbrechen“ liegt im Turm auch für den Arzt vor, obwohl er von Sigismunds königlicher Herkunft noch nicht unterrichtet ist: „Hier wird, woferne Gott nicht Einhalt tut, die Majestät gemordet“ (SW XVI.1 22). Seine Ahnung wird später durch Sigismunds angeborenes Talent zum Reiter bestätigt - eine Kunst, die auch Kaspar Hauser bestens beherrschte.1030 Die motivischen Parallelen zwischen Sigismund und Kaspar Hauser, den beiden isolierten „Höhlenkönigen“, deren Behandlung Feuerbach und der Arzt als ein „Verbrechen am Seelenleben“ verurteilen, seien hier kurz wiedergege-

1024 Martin, a.a.O., S. 238 ff. I0'5 Deutsches Lesebuch. Eine Auswahl deutscher Prosa aus dem Jahrhundert 1750-1850, hrsg. v. Hugo von Hofmannsthal, Nachdruck der 2. vermehrten Ausg., die 1926 im Verlag der Bremer Presse, München, in zwei Bänden erschien, Frankfurt am Main 1977, 2. Bd, S. 322; Feuerbach wurde als Verfasser des bayrischen Strafgesetzbuchs von 1813 mit einer Schrift Geist des Strafgesetzbuchs von 1813, S. 132—137, aufgenommen. Die Gedenktafeln sind außer¬ dem in die Werkausgabe aufgenommen: RA III, S. 99 ff. 1026 Zit. nach Küper, a.a.O., S. 8. Vgl. auch Kesting, a.a.O., S. 369. 1027 1996 ging das negative Ergebnis einer Genanalyse als Zerstörung des Mythos .Kaspar Hauser“ durch die Medien. Mittlerweile wird jedoch auch die korrekte Durchführung dieser Genanalyse wieder bezweifelt. 1028 Küper, a.a.O., S. 5 und S. 8. Was er mangels handfester Beweise allerdings nicht deutlich auszusprechen wastt Vel Küper, a.a.O., S. 19 ff. 6 ' & ' 1030 Martin, a.a.O., S. 251 und Kesting, a.a.O., S. 371.

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ben:1031 Sigismund und Kaspar repräsentieren den „alleingelassenen Menschen“, der seine geistigen Gaben in der Gefangenschaft nicht entfalten durfte und als „manipulierbare Figur“ in die Welt entlassen wird.1032 Wie Sigismund lernt auch Kaspar seine schmerzhafte Realität durch das Feuer erkennen,1033 wie jener weiß er anfangs seine Hände und die menschliche Sprache nicht zu gebrauchen.1034 Beide gelangen in der gleichen Weise vom bloßen Nachplappern über das kind¬ lich lückenhafte Reden zur vollen Sprachbeherrschung. Sogar die Idee der „Wie¬ dergeburt“ findet sich in ihren verwandten Lebenswegen: Erst nach einer aufge¬ zwungenen Betäubung kommen der Prinz im Schloß des Vaters und der geheimnisvolle Findling in Nürnberg „zur Welt“.1035 Hofmannsthals Lektüre des Anton Reiser von Karl Philip Moritz fällt in die Jahre 1911 bis 1913, was sich aus zwei Notizen aus dem Nachlaß (RA III 507 und 515) sowie aus einem Brief an Eberhard von Bodenhausen vom 21. Januar 19131036 ergibt. In das Deutsche Lesebuch nimmt er eine Passage Aus Anton Reisers Kindheit auf, die als eine Beschreibung des präexistentiellen Seelenzustandes ver¬ standen werden kann.1037 Die Melancholie Sigismunds und Anton Reisers ist das Resultat einer Un¬ terdrückung.1038 Obwohl bei Moritz die Unterdrückung vom pietistischen Rigo¬ rismus seiner Eltern ausgeht und insofern durchaus sozialkritisch beurteilt wer¬ den muß, während Hofmannsthal die Ursachen der Unterdrückung Sigismunds in den Bereich des Mythos verlegt,1039 wird im Roman und im Drama das gleiche Symbol für die Unterdrückung der beiden Protagonisten verwendet, der Turm nämlich. Was für Sigismund der Turm zunächst bedeutet - der Ort des an ihm verüb¬ ten Verbrechens - , ist für Anton Reiser die Stadt Hannover mit ihren vier Tür¬ men, „die ihm gleichsam die großen Stifte schienen, welche den Fleck seiner

1031 Sie stellen weitgehend die Ergebnisse von Horst Martin dar, vgl. Martin, a.a.O., S. 246 ff. 1032 A.a.O., S. 247-249. 1033 A.a.O., S. 250. 1034 A.a.O., S. 252 f. 1035 A.a.O., S. 255 ff. 1036 Hofmannsthal/Bodenhausen, a.a.O., S. 150. 1037 Antons frühste Erinnerung, von der hier berichtet wird, fällt in die Zeit, als seine Mut¬ ter den Tod der kleinen Schwester beweinte: „Anton blickte nach dem Fenster hin, wo durch die düstere Nacht kein Lichtstrahl schimmerte, und fühlte zum ersten Male die wunderbare Einschränkung, die seine damalige Existenz von der gegenwärtigen beinahe so verschieden machte wie das Dasein vom Nichtsein“ Hofmannsthal (Hrsg.), Deutsches Lesebuch, a.a.O., S. 147-151, hier S. 148. 1038 Hans-Jürgen Schings stellt fest, daß bei Moritz’ Darstellung der Melancholie das Stichwort der „Unterdrückung“ „an den Platz der alten schwarzen Galle rückt,

vgl. Hans-

Jürgen Schings, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungssee¬ lenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977, S. 234. 1039 Basilius wird nicht persönlich für Sigismunds Verbannung verantwortlich gemacht, sondern steht für eine alte Ordnung, deren Untergang prophezeit ist.

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mannigfaltigen Leiden bezeichneten“.1040 Als sich Anton dieser Stadt mit ihrer charakteristischen Silhouette nähert, ruft der Turm der Marktkirche, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft sich seine alte Schule befand, die Erinnerungen an die höhnisch spottenden Mitschüler in ihm wach: „[...] dieser Marktkirchturm brachte alles in Reisers Phantasie zusammen, was nur fähig war, ihn plötzlich niederzuschlagen und in eine tiefe Schwermut zu versetzen.“1041 Moritz führt als Erklärung dieser melancholischen Regung die Erinnerung an die „Enge“ des Lebenskreises an, die Anton damals derart in seinem Streben gehemmt hat, daß er nun gar mit dem Schicksal Sigismunds tauschen würde: „[...] wie gern hätte er in diesem Augenblick seinen ganzen Aufenthalt in Han¬ nover gegen den dunkelsten Kerker vertauscht, der gewiß weit weniger Fürch¬ terliches und Schreckliches für ihn gehabt haben würde, als alle diese ängstlichen Lagen.“1042 Der Unberechenbarkeit eines Melancholikers entspricht es, daß Reiser die hannoverschen Türme ebenso schnell vergißt, wie diese ihn in seine schwermüti¬ ge Laune gestürzt haben. Als ihm einfällt, daß in der Stadt eine Schauspieltruppe gastiert, flieht er wie früher an einen Ort, der ihm Befreiung aus der Enge bedeu¬ tet: ins Theater. Die Türme Hannovers sind indes nicht ausschließlich negativ besetzt. Der neustädtische Turm der Ägidienkirche, ein Glockenturm mit schönem Ziffer¬ blatt, von dessen Galerie die Stadtmusikanten bliesen, ist „länger als ein Jahr hindurch“ der Gegenstand Antons tröstlicher Träume gewesen. Er erinnert sich an diesen Turm mit Wehmut, so oft der Pastor Paulmann in Braunschweig von den „Höhen der Vernunft“ predigte.1043 Wie Sigismund später die Sicherheit sei¬ nes Turmes entdeckt, 1044 so findet auch Anton in der träumerischen Erinnerung an den neustädtischen Turm ein Asyl. In der pietistischen Erziehung1045, die Anton Reiser zuteil geworden ist, wird der Tugend der Opferbereitschaft eine große Rolle beigemessen. Bezeich¬ nenderweise erhält Anton Reiser von seinen Mitschülern den Spottnamen „ster¬ bender Sokrates“, obwohl er in der inoffiziellen Schulaufführung nicht einmal diese Rolle spielte.1046 Zieht Reiser sich hungernd und frierend auf den Dachbo¬ den zurück, um die Hungerszenen aus dem Hugolinom7 zu lesen, treten die Mär-

Karl Philipp Moritz, Anton Reiser, nach der Ausgabe von 1785—90, Frankfurt am Main 1979, S. 186. 1041 Moritz, a.a.O., S. 186. 1042 Moritz, a.a.O., S. 187. 1043 Moritz, a.a.O., S. 86-88. 1044 „Ja, das bin ich, Herr und König auf immer in diesem festen Turm“ (SW XVI.2 202). 1045 Sie erfolgte maßgeblich durch die pietistischen Schriften der Madame Gyon, deren Einfluß auch auf Goethes Mahomet nachgewiesen werden konnte, vgl. Burdach, Faust und Mo¬ ses, a.a.O., S. 757. 1046 Moritz, a.a.O., S. 172. 1047 Gemeint ist das frühe Sturm-und-Drang Drama Ugolmo (1768) von Heinrich Wil¬ helm von Gerstenberg, welches dieser im Anschluß an das im 33. Gesang von Dantes Inferno berichtete Schicksal des Ugolino della Gherardesca verfaßte. Graf Ugolino wurde mit seinen

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tyrerzüge dieses Melancholikers überaus deutlich hervor. Ein „Hugolino“ im Hungerturm ist jeder der beiden: Anton Reiser und Hofmannsthals Sigismund. 4. Das Problem der Herrschaft im Turm 4.1. Sigismund als Märtyrer und Tyrann 4.1.1. Souveränität und Tat Sigismunds tyrannisches Verhalten liegt in seinem saturnischen Temperament begründet. Die Hoffnung auf ein Bestehen der Probe wird durch die Entladung seiner aufgestauten Agressivität jäh vereitelt. Dennoch muß Julians Plan riskiert werden, denn nur durch Handeln kann sich der Königssohn, der im Turm zeit seines Lebens zur Untätigkeit verurteilt gewesen ist, die Welt aneignen: „[...] durch Handeln wird uns die Welt zur Welt. Er hat nie gehandelt: er kennt nur Schatten und Bilder, nur Träume!“ (SW XVI,1 54), erklärt Julian Basilius, um ihn für den Plan der Probe zu gewinnen. Die Tat ist laut Hofmannsthals Aufzeichnungen in Ad me ipsum ein Weg in die Welt und zu den Menschen. Sie wird im Turm durch das Motiv der Hände symbolisiert. Am Leitmotiv der Hände läßt sich der dramatische Höhepunkt der Handlung im dritten Akt nachzeichnen. Die Interpretation dieser Handsymbo¬ lik gibt Aufschluß über die Bedeutung der Tat für das Schicksal des Prinzen.1048 Unmittelbar bevor Sigismund dem Vater gegenübertreten soll, fordert Julian ihn auf, seine Hände nicht zu verbergen. Während des qualvollen Prozesses, in des¬ sen Verlauf Sigismund im König seinen Vater erkennt, verbirgt er sein tränenüberströmtes Gesicht in den Händen. Wie im ersten Akt, als er den Turm ver¬ läßt, kann er zunächst nicht sprechen (SW XVI.2 176). In solchen Gesten wird angedeutet, wie eng für Hofmannsthal Selbsterkenntnis mit der ,Tat‘ im weite¬ sten Sinne verbunden ist. Laut Regieanweisung „spielt“ der König „auf Sigismunds Hand“ (SW XVI.2 179), als er ihm eindringlich erklärt, welche Gefahr Julian für ihn darstelle. Er macht den Gouverneur für den drohenden Aufruhr verantwortlich und fragt: „in wessen Hand, wenn nicht in der seimgen, laufen diese Fäden zusammen?

(SV^

XVI.2 179). Sigismunds Händen überantwortet der alte König die Beseitigung der von Julian ausgehenden Gefahr. Tragische Ironie ist es, wenn der König von seinem Sohn verlangt, daß seine „erste Tat [...] jäh, erschreckend, besinnungs¬ raubend“ (SW XVI.2 180) zu sein habe, und dabei an die Beseitigung Julians denkt. Sigismund entspricht wirklich den Wünschen des Vaters, nur richtet sich seine erste Tat gegen diesen selbst und nicht gegen seinen Lehrer. Der Prinz wird handgreiflich und droht: „Ich habe schon einmal einen alten Fuchs mit den Händen erwürgen müssen! Er hat gerochen wie du! [...] Ich will! [...] Mein Haar ist kurz und sträubt sich. Ich zeige meine Tatzen“ (SW XVI.2 180 f.).

Söhnen, von seinem Widersacher, dem Erzbischof Ruggiero, zum Hungertod verurteilt, in ei¬ nen Turm gesperrt. 1048 Siehe auch Nehring, a.a.O., S. 127.

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Sigismunds wildentschlossene Tat ist keine blinde Wut: In seiner Vorstel¬ lung verschmilzt die physische Überwältigung des Vaters mit jener grausamen Tat, die in die Zeit seines Turm-Daseins fällt. Seine ,Tat‘, die in erster Linie Si¬ gismunds ,Weltaneignung1 bedeutet, gewinnt dadurch einen weiteren symboli¬ schen Gehalt, der sich mit Hilfe von früheren Entwürfen Hofmannsthals zu Das Leben ein Traum (SW XV 7 ff.) erschließen läßt. Die qualvolle seelische Verfas¬ sung Sigismunds im Turm, den Konflikt des ,Centrum naturae“,1049 beschreibt Hofmannsthal dort aus der Perspektive des Gefangenen: „wozu hast du mich lesen gelehrt? [...] ich bin vollgestopft mit den einge¬ klemmten Reizen des Lebens! um mich ihrer zu entladen brauche ich eine ungeheure und symbolische Wollust: den Mord. - er umschreibt den Be¬ griff .symbolisch“: ich muß eine Handlung begehen [...], bei der ich mich völlig hingeben kann; bei der der arme Sigismund weg und die Welt auch weg ist, und nur der thut, der da ist, der ist da und tödtet, tödtet, tödtet! - Ekstase!“ (SW XV 234)

Nach Hofmannsthal Darstellung erschlägt Sigismund die Kröten in seinem Ker¬ ker nicht, um sie zu töten, sondern um der „Ekstase des Tötens“ (SW XV 234) willen, in der alles, gerade auch der Tötende selbst, vernichtet wird. Deshalb symbolisiere sein Morden eine Selbstaufgabe, sodaß man wohl auch die Erwür¬ gung des Fuchses und entsprechend Sigismunds ,Tat“ im dritten Akt als symbo¬ lisches Selbstopfer zu deuten hat.1050 Vordergründig freilich stellt sich der dramatische Höhepunkt ganz und gar nicht als eine Selbstaufgabe Sigismunds dar. Auf dem Gipfel seiner Macht hat er sich die ,Welt‘ angeeignet. Der grübelnde Melancholiker des Turmes ist zum tollwütigen Tyrannen geworden. 4.1.2. Märtyrer und Tyrann. Sigismunds Janushaupt „Tyrann und Märtyrer sind im Barock die Janushäupter der Gekrönten. Sie sind die notwendig extremen Ausprägungen des fürstlichen Wesens.“1051 Diese These Walter Benjamins aus seinem Trauerspielbuch scheint auch auf Sigismund zuzu¬ treffen.1052

1049 Siehe oben Kapitel II.1.2.3. 1050 Vgl. auch Ad me ipsum (RA III 602): „Der Weg zum Sozialen als Weg zum höheren Selbst: [...] die Verwandlung im Tun. Tun ist sich aufgeben.“ 1051 Benjamin, Trauerspiel, a.a.O., S. 51. In den barocken Dramenhelden, die Benjamin als Beispiele nennt, treten die Eigen¬ schaften der beiden Typen in ein und demselben Verhalten auf, während Sigismund die extre¬ men Rollen nacheinander einnimmt, was schließlich auch den dramatischen Reiz des Stoffes ausmacht. - Hierauf verweist auch Lorenz Jäger, Eine Miszelle zum ,Turm\ in: HofmannsthalBlätter Heft 35/36 (1987). S. 139. Antje-Christiane Petersen-Weiner hingegen wendet die The¬ sen Benjamins in einer einfachen Gleichung auf den Turm an: Je stärker Sigismund in der Büh¬ nenfassung als Märtyrer konzipiert sei, desto deutlicher rücke Basilius als Tyrann in den Vor¬ dergrund, s. S. 65 f. Sie ignoriert damit den hier wesentlichen Punkt, das Janushaupt des barocken Herrschers.

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Eine Gemeinsamkeit von Märtyrer und Tyrann besteht nach Benjamin in ihrer Funktion als Repräsentanten. Der Märtyrer leide stellvertretend für eine Glaubensgemeinschaft, während der Tyrann die Geschichte repräsentiere. Wenn ein Fürst getötet werde, scheitere er nicht als private Person, sondern „im Na¬ men der geschichtlichen Menschheit“1053. Bei der Darstellung eines Tyrannen im barocken Drama hege der Schwerpunkt des Interesses auf dem Erdulden seines qualvollen Todes, denn „wie Christus im Namen der Menschheit litt, so nach Anschauung barocker Dichter Majestät schlechtweg“1054. Deshalb trage der Ty¬ rann im Tyrannentod Züge des Märtyrers. Der Märtyrer hingegen gleiche dem Tyrann, da er wie dieser Souveränität beweise: Wie der Tyrann im Ausnahmezustand entscheide und diktatorisch die naturrechtliche Ordnung im Staate wiederherstelle, so beherrsche der Märtyrer als „ein radikaler Stoiker“ seine Affekte im Ausnahmezustand der Seele. 1055 Mär¬ tyrertum ist die Herrschaft nach innen, Tyrannis die Herrschaft nach außen. Souverän sind Märtyrer und Tyrann gleichermaßen, denn der eine garantiert die Einheit der Seele, der andere die Einheit staatlicher Herrschaft. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, wenn der Arzt ange¬ sichts der Gefangenschaft Sigismunds behauptet, der „ungeheure Frevel“ sei „an der ganzen Menschheit“ (SW XVI.2 138) begangen worden. Der Humanist hat die Stellvertreterfunktion Sigismunds erkannt. Zum „radikalen Stoiker“ wird Sigismund, nachdem er im vierten Akt vom Schafott auf den Thron gebracht wird. Erst von da an hat er seine Affekte unter Kontrolle, daß heißt seine Angst überwunden. Durch die wiederholte ,Todeser¬ fahrung“, die er durch die Einnahme des Schlaftrunkes sowie durch seine öffent¬ liche Hinrichtung1056 erleben muß, kann er sich von der Todes- und Geburts¬ angst befreien. Souverän steht er über dem Konflikt zwischen „(In-sich-) Sem und (Aus-sich-) Werden“1057 und hat zu seinem „höheren Selbst“ (RA III 602) gefunden. Bei Walter Benjamin fand Hofmannsthal die dramentheoretische Begrün¬ dung der Verwandtschaft von Souverän und Märtyrer vor. In der neuen Fassung des Turm hat er Sigismunds Märtyrertum radikaler noch, im Sinne einer souve¬ ränen Beherrschung des eigenen seelischen Ausnahmezustandes, ausgestaltet. Deshalb konnte er die spätere Theaterfassung des Turm „noch entschiedener ein „Märtyrerstück“ „im Hinblick auf Benjamins Ausführungen“ (RA III 586) nennen. Aus dieser Bemerkung Hofmannsthals läßt sich eine weitere Schlußfolge¬ rung ziehen. Benjamin betrachtet in seinem Buch vornehmlich das deutsche ba-

1053 Benjamin, Trauerspiel, a.a.O., S. 53. 1054 A.a.O., S. 54. 1055

'A.a.O., S. 55. ... , t ■~5 Sigismund selbst beschreibt diese initiatorische Erfahrung gegenüber Olivier im tunt-

1056 i

ten Akt: Ja, sie hatten meinen Kopf schon anderswo hingelegt. Dadurch, wie wenn einer einen eisernen Finger unter den Türangel steckt, haben sie vor mir eine Tür ausgehoben, und ich bin hinter eine Wand getreten [...]“ (SW XVI.2 214). 1057 Baader, a.a.O., S. 99 siehe oben Kapitel II.1.2.3.

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rocke Trauerspiel und klammert das romanische Drama dieser Epoche - etwa von Calderön - explizit aus, weil es ihm weniger um die aus dem katholischen Prinzip der Einheit von Geist und Macht resultierende Harmonie eines spani¬ schen Stückes geht als vielmehr um die protestantische Zurückgeworfenheit auf die trostlose irdische Verfassung, die Geschichte, die Thema der deutschen Dramen ist. Wenn Hofmannsthal nun gerade in der Theaterfassung des Turm ein Märtyrerstück im Sinne Benjamins erkennt, wenn diese Fassung anders als die früheren also gleichsam die protestantischere darstellt, ist es verständlich, warum die Kinderkönigfassung eher Hofmannsthals eigentlichen Überzeugun¬ gen entspricht1058: Seine Sympathie für die katholische Wesens- und Denkensart hat der Österreicher mehr als einmal betont, so zum Beispiel in einem Brief an seine Tochter Christiane, in dem er sich über die Frage der Religionszugehörig¬ keit zukünftiger Enkelkinder äußerte: „Protestantische Enkel wären mir halt et¬ was soviel Entfernteres, ich meine es nicht religiös, sondern gewissermaßen at¬ mosphärisch“1059. 4.2. Der Souveränitätsbegriff und politische Theorie im Barocktheater Im Zusammenhang mit Benjamins These, der Gehalt des barocken Trauerspieles sei die Geschichte und der Souverän sei derjenige, der sie repräsentiere,1060 rekur¬ riert Benjamin auf die Souveränitätslehre von Carl Schmitt. Er übernimmt Schmitts zentrale Aussage, daß sich der Souveränitätsbegriff im Barock - anders als später im 18. Jahrhundert - nur aus der besonderen Bedeutung, welche in die¬ ser Epoche dem Ausnahmezustand beigemessen wird, verstehen läßt.1061 Am Ausnahmezustand, das heißt an der „Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung“1062, entscheide sich, wer Souverän ist. Dieser Ordnungsschwund, die schon in der Sprachkrise manifeste metaphysische Krise, ist in radikalisierter Form das Grundproblem des Turm. Während Schmitt als Erklärung für die Wandlung des Souveränitätsbegriffes im 18. Jahrhundert die Entwicklung zum modernen Rechtsstaat angibt und da¬ mit im Bereich der Staatsrechtsgeschichte bleibt,1063 will Benjamin die besondere Bedeutung des Ausnahmezustandes, die mit der Aufklärung verloren gehe, im religiösen Weltverständnis des 17. Jahrhunderts begründet wissen. Der religiöse

Nach Rudolf Hirschs mündlicher Auskunft favorisierte Hofmannsthal später gegen¬ über C.J. Burckhardt die Kinderkönigfassung. Auch Petersen-Weiner referiert die oben erläu¬ terte Grundthese Benjamins, ohne sie jedoch auf Hofmannsthals Tagebuchnotiz zu beziehen. Sie kommt zu einer geradezu entgegengesetzten Deutung des Verhältnisses der unterschiedli¬ chen Fassungen, in welcher sie die letzte als die „konventionellere“ Fassung bezeichnet, weil hier die aristotelischen Einheiten (die laut der Verfasserin bei Benjamin ein Kriterium zur Un¬ terscheidung von Tragödie und Trauerspiel darstellen) gewahrt seien, a.a.O., S. 67. 1059 Christiane von Hofmannsthal, Tagebücher und Briefe des Vaters an die Tochter, hrsg. v. Maya Rauch und Gerhard Schuster, Frankfurt am Main 1991, S. 169 1060 A.a.O., S. 44 ff. 1061 A.a.O., S. 47 f. - Vgl. Benjamins Brief an Carl Schmitt vom 9. Dezember 1930 in- GS 1/3, a.a.O., S. 887. 1062 Schmitt, Politische Theologie, a.a.O., S. 18; siehe oben 1. Teil, Kapitel III. 2. 106:1 Schmitt, a.a.O., S. 20.

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Mensch des Barock fühle sich an die Welt gebunden, welche ihrer Katastrophe entgegentreibt: „Es gibt keine barocke Eschatologie [...], Monarch und Märtyrer entgehen nicht im Trauerspiel der Immanenz.“1064 Benjamin leitet diese These vom „entleerten Jenseits“ des Barock1065 aus der rechtsgeschichtlichen Entwick¬ lung her, die Schmitt darlegt. Hofmannsthal nahm Benjamins These für die neue Fassung seines Trauerspieles auf, konnte er darin doch eine dramentheoretische Begründung für die Zurücknahme des eschatologischen Ausblickes in der Figur des Kinderkönigs erkennen.1066 Auf die Schriften Carl Schmitts wurde Hofmannsthal vermutlich durch die Lektüre des Trauerspielbuches von Walter Benjamin aufmerksam. 1067 Benjamins Quelle für die Souveränitätstheorie im 17. Jahrhundert mußte für den Dichter von Interesse gewesen sein, da im Zentrum seines Trauerspiels das Thema des Ausnahmezustandes, des Machtvakuums stand, das es zu überwinden galt. „Les grandes crises humaines sont des crises de commandement“ (RA III 588), no¬ tiert sich Hofmannsthal im Jahr 1927 aus Frangois Poncets Reflexions d’un Republicain moderne mit dem Hinweis auf den Turm. Die zentrale Bedeutung, die Hofmannsthal über den bereits erörterten Rahmen hinaus dem Problem der Souveränität in der eigenen Dichtung beige¬ messen hat, geht nicht zuletzt auch aus der folgenden, offiziellen Ankündigung seines neuen Stückes in der Programmzeitschrift des Hamburger Deutschen Schauspielhauses hervor: „In dem Trauerspiel Der Turm, das demnächst aufs Theater kommen soll, geht es um das Problem der Herrschaft, der Führerschaft, das in fünf Ge¬ stalten abgewandelt wird, dem Monarchen, dem zur Nachfolge berufenen Sohn, dem Kardinal-Minister, dem weltlichen Politiker, dem Revolutions¬ führer. Es könnte hier daran erinnert werden, dass Schillers Dramen vom Gallenstein bis zum Demetrius sämtlich das Problem des legitimen König¬ tums zum Zentrum haben.“1068

Es scheint, als hätten die Thesen Carl Schmitts, Walter Benjamins und auch Max Webers, an dessen charismatischen Typus der legitimen Herrschaft man sich in

1064 Benjamin, Trauerspiel, a.a.O., S. 49. 1065 Sie wurde in der Barockforschung später bestritten, vgl. Hans-Jürgen Schings, Cathenna von Georgien Oder Bewehrete Beständigkeit, in: Die Dramen des Andreas Gryphius, hrsg. v. Gerhard Kaiser, Stuttgart 1968, S. 36 und ders., Die patnstische und stoische Tradition bei An¬ dreas Gryphius, Köln 1966, S. 212 f. 1066 Vgl. auch Lorenz Jäger, Hofmannsthal und der , Ursprung des deutschen Trauerspiels\