Entwicklung der Nationalbewegungen in Europa 1850-1914 [1 ed.] 9783428488605, 9783428088607

Zu den Themen »Nationalbewegung / Nationalismus« wird hiermit der zweite Teil vorgelegt. Teil 1 beschäftigte sich mit de

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Entwicklung der Nationalbewegungen in Europa 1850-1914 [1 ed.]
 9783428488605, 9783428088607

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HEINER TIMMERMANN (Hrsg.)

Entwicklung der Nationalbewegungen in Europa 1850 - 1914

Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen Herausgegeben von Heiner Timmermann

Band 84

Entwicklung der Nationalbewegungen in Europa 1850-1914

Herausgegeben von

Heiner Timmermann

DUßcker & Humblot · Berliß

Dieses Projekt wurde mit Hilfe der Union-Stiftung, Saarbrücken, unterstützt.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Entwicklung der Nationalbewegungen in Europa 1850 - 1914 / hrsg. von Heiner Timmermann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen e. V. ; Bd. 84) ISBN 3-428-08860-3

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0944-7431 ISBN 3-428-08860-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Inhaltsverzeichnis I. Einführung Heiner Timmermann, Nationalbewegung und Nationalismus in Europa: Wurzeln und Entwicklungen ..............................................

11

Miroslav Hroch, Programme und Forderungen nationaler Bewegungen. Ein europäischer Vergleich ................................................

17

Hans- Werner Hahn, Nationalbewegung und Industralisierung: Überlegungen zum Zusammenhang von Nationalismus und wirtschaftlicher Modernisierung am Beispiel Deutschlands.. .. ... .. . ... .. ..... ...... ...... ... .. ... .. ... . ..... ..

31

11. Entwicklung der Territorien 1. Mitteleuropa

Jörg K. Hoensch, Nationalbewußtsein und Nationswerdung der Slowaken 1848 - 1918 ...............................................................

53

Marian Zg6rniak, Der Januaraufstand 1863 und seine Einwirkung auf die polnische nationale Befreiungsbewegung ......................................

69

J6zef Buszko, Die polnische Politik vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1905 - 1914) .............................................................

77

Aleksandra Kolaric, Probleme der staatsrechtlichen Verhältnisse zwischen Kroatien und Ungarn und Österreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

87

Suzana Lecek, Das Problem der Einbeziehung des Bauerntums in den Prozeß der nationalen Integration am Beispiel Kroatiens ..............................

99

Milan Krajcovic, Internationale Beziehungen der slowakischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts ..................................................... 113 2. Osteuropa

Marek Waldenberg, Das Verhältnis der Nationalbewegungen in Rußland gegenüber dem Staat und den Russen ..........................................

143

Glaus Remer, Die Entfaltung der ukrainischen Nationalbewegung in Rußland von der Mitte des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ...............

155

Andreas KappeIer, Die ukrainische Nationalbewegung im Russischen Reich und

in Galizien: Ein Vergleich ................................................. 175

6

Inhaltsverzeichnis

Antoni Podraza, Polen und die nationalen Bestrebungen der Ukrainer, Weißrussen und Litauer..... . .. . .. . . ... .. . .. . .. . .. . ... .. ..... .. . .. . ... .. . .. . ... 197 Antoni Cetnarowicz, Die polnisch-slowenischen Beziehungen aus der Sicht der slawischen Idee ...........................................................

207

Virginia Paskaleva, Die bulgarische Nationalbewegung in der Wahrnehmung der mitteleuropäischen Öffentlichkeit (1856 - 1877) ............................ 223 3. Süd, West- und Nordeuropa

Antoni Cetnarowicz, Die Nationalbewegung der Südslawen und die Polen

237

Sandor Vogel, Nationalbewegungen in Siebenbürgen in den Jahren 1867 - 1914. Zusammenfassung des Problems..........................................

251

Angelica Gernert, Nation-Building versus Nationalbewegung. Italien 1850 - 1914 ........................................................

265

[( arl-Egon Lönne, Entwicklungen des italienischen Nationalismus im Vorfeld des Faschismus ...........................................................

283

Gerhard Brunn, Regionalismus in Frankreich im 19. Jahrhundert..............

309

Dieter Tiemann, Nation in der Schule - Schule der Nation. Ein deutsch-französischer Vergleich. ... . .. . .. . .. . .. ... . .. . .. . ... ... . .. . .. . .. . .. . .. .. .. . ... ...

321

Aleksander Loit, Der Nationsbildungsprozeß im Baltikum 1850 - 1914 ..........

333

Hannes Saarinen, Staatsvolk oder Minderheit? Die Identität der schwedischsprachigen Bevölkerung in Finnland vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . ..

365

Taina Huhtanen, Von der sozialen zur staatlichen Nationalbewegung in Finnland .................................................................

379

Piter Bajtay, Nordische Nationalbewegungen und der politische Skandinavismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts................................ 385 Jörg-Peter Findeisen, Der Kult um Karl XII. in Schweden nach 1890. Die Geschichtswissenschaft des Landes im Geiste nationalistischer antirussischer und prodeutscher Strömungen ....................................... 399 Irena Stawowy-[(awka, Die Mazedonische Frage. Ihre Entstehung und Entwicklung bis 1914 .........................................................

413

III. Sprache, Kultur, Religion Lode Wils, Religion, Freisinnigkeit und politische Parteien in den flämischen und wallonischen Nationalbewegungen ....................................

431

Erkki I. [( ouri, Religiosität und nationaler Gedanke in Finnland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1918 ...................................... 447

Inhaltsverzeichnis

Dan Berindei, Kultur und nationale Bewegung der Rumänen (1848 - 1918)

7 455

Elena Mannova, Vereinswesen und nationale Differnzierungsprozesse in der Slowakei .................................................................. 469 Beata Johansone, Kultur als Grundlage der junglettischen Bewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts....................................... 483 Ea Jansen, Die Verwandlung der Sozialstruktur und der Beginn der nationalen Bewegung der Esten ...................................................... 497

Autorenverzeichnis ........ . . . ................ . ...............................

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I. Einführung

Nationalbewegung und Nationalismus in Europa: Wurzeln und Entwicklungen Von Heiner Timmermann Der politische, wirtschaftliche und soziale Zusammenbruch des kommunistischen Ost blocks hat zum Aufbruch von Nationalbewegungen und N ationalismen geführt, der die Frage nach den historischen Wurzeln aktuell macht. Sie sind in jener Zeit zu suchen, in der sich moderne Nationalbewegungen in Europa formiert haben - also im 18. und 19. Jahrhundert, manche auch noch an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Man kann wohl grundsätzlich sagen, daß die Nationalbewegungen durch die Bestrebungen definiert werden können, die grundlegenden Defizite nationaler Existenz zu beseitigen: 1. die mangelnde politische Eigenständigkeit,

2. die unvollständige soziale Struktur und 3. die mangelnde Kultur in eigener Schriftsprache. Allerdings haben sich die Nationalbewegungen auch gleichzeitig an verschiedenen, miteinander konkurrierenden Merkmalen orientiert: Religion, Rasse, Tradition, Geschichte, Brauchtum, Bildung und Wissenschaft, Wirtschaft und wieder Sprache. Dann gab es noch die an einem Staat orientierte, imperialistisch ausgreifende Nationalbewegung - ebenso wie jene, die sich mit Kraft und Energie gegen eine einschmelzende Staatsgewalt wandte. Die Nationalbewegung war ein Konglomerat von Ideen und Handlungen, Ausdrucksformen und Ausdrucksmitteln (z. B. Agrarreformen, Schulen, Uni versitäten, Bildung, Vereinswesen : allgemeinkulturell , wirtschaftlich, ideell, wissenschaftlich-literarisch, später politische Parteien und Gewerkschaften, Journalistik, Sammeln und Aufzeichnen folkloristischen Materials: besonders Märchen, Volkslieder, Literatur), von tragenden Schichten

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Heiner Timmermann

und Gruppen (Volksbewegungen, Intelligenz, Bedeutung der Volksschullehrer, Kulturvereine, akademisch Gebildete, Adel, Priesterseminare, Exilgruppen), von Zielen und Programmen (Bewegungen fehlte oft eine feste und einheitliche Organisation, die aufgestellten Forderungen umfaßten ein breites Spektrum, Abhängigkeit von Zeit, Ort und Entwicklung des Territoriums, der Wirtschaft, Kultur, Endziel: eigener Staat oder Autonomie) und von Reaktionen auf nationale Bewegungen (Aufnahme oder Ablehnung). Obwohl den Nationalbewegungen Grundmuster in der Typologie und Soziologie zugrundelagen, gab es in den verschiedenen Territorien und in verschiedenen Phasen Abweichungen und unterschiedliche Entwicklungen: Sie existierten ohne eigenen Staat und mit unvollständiger Sozialstruktur, mit eigenem Staat und mit unvollständiger Sozialstruktur, mit eigenem Staat und vollständiger Sozialstruktur. Sie waren häufig gerichtet gegen die wirtschaftlich und sozial vorgefundene politische Ordnung, wollten einen politisch-kulturellen Befreiungsprozeß. Dabei waren sie verwurzelt in der agrarischen Gesellschaft und übten gleichzeitig eine mobilisierende und bewußtseinsschaffende Funktion aus. Religiös umfaßten sie das Spektrum: Säkular, kirchenfeindlich, klerikal. Insgesamt kann gesagt werden, daß der kulturelle Faktor wichtiger war als der soziale. Kultur wurde oft benutzt als Vehikel für die Ausbreitung von Aktivitäten. Die Alphabetisierung, Entwicklung der Schulen und Universitäten, des Verlagswesens, der Zeitungen und Zeitschriften spielten eine tragende Rolle. Daß die Nationalbewegungen ab Mitte des 19. Jahrhunderts Massenbewegungen wurden, hat seine Gründe in der Bauernbefreiung, die eine Erhöhung der Mobilität und eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage mit sich brachte, aber auch in politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ereignissen und philosophischgeistigen Strömungen. Für manche Territorien war die kirchlich-territoriale Organisation neben der Konstituierung des historischen Bewußtseins auf den Raum schon ein nationales Element. Der Prozeß der nationalen Institutionenbildung vollzog sich uneinheitlich in der Zeit und im Ablauf, wenn es auch grundsätzlich Gemeinsames gab. Völker waren oft nicht nur verteilt, sondern lebten auch unter verteilten Herrschaften. Die Umwandlung des Volksbewußtseins in Nationalbewußtsein ist als Konsequenz der Entwicklung der Gesellschaft auf sozialem, kulturellem, rechtlichem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet zu betrachten.

Nationalbewegung und Nationalismus in Europa: Wurzeln und Entwicklungen

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Abhängige Völker waren bestrebt, dem Druck der regierenden Völker bzw. Großmachtvölker und großen Nationen zu entkommen und einen eigenen Nationalstaat zu bilden. So wurden gerade die Großmächte Helfer der nationalen Befreiungsbewegungen. In diesem Prozeß spielten konkrete Bedingungen historischer Etappen, allerdings auch Zufälle, eine bestimmende Rolle. Wirtschaftlich bedingtes Wachstum der Städte und Produktion, des Innen- und Außenhandels bewirkten eine rasche Entwicklung der Bedeutung von Wissenschaft und Bildung. Die Produktionsmethoden verlangten eine entsprechende Bildung und Ausbildung der Leiter und breiter Volksschichten. Während die Gebildeten früherer Zeiten fast immer eng an die Kirche und/oder Herrscher gebunden waren, konnte sich jetzt das Bildungsbürgertum freier und unabhängiger entfalten und die Führung der Nationalbewegung übernehmen. Bei einigen "historischen" Völkern - wie die der Deutschen und Italiener -, die in eine Vielzahl von Staaten und Kleinstaaten unterschiedlichster Größe zersplittert waren, wuchs unter dem Einfluß der Nationalbewegungen das Bewußtsein der Notwendigkeit einer politisch-organisatorischen Vereinigung. Nach Unabhängigkeit strebten Polen, Ungarn, Tschechen, Italiener in der Lombardei und in Venetien, Rumänen, Slowaken, Iren, die Slawen auf dem Balkan, die Katalanen auf der iberischen Halbinsel u.v.m. Gegen Ende der 20er Jahre und zu Beginn der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts erkämpften sich die Griechen sowie die Flamen und Wallonen ihre Unabhängigkeit. Da den Finnen - anders als z.B. bei den Polen - die Möglichkeit fehlte, sich auf einen verlorengegangenen Staat zurückzubesinnen, traten bei ihnen das Volk und dessen Sprache und Geschichte in den Vordergrund. Nationale Bewegungen in Europa des 18., 19., und 20. Jahrhunderts, so legt es ein Blick auf die "erfolgreichen" Fälle nahe, sind nicht denkbar ohne den Staat. Nationen sind nach einer gängigen Definition Gemeinschaften, die auf einen Staatsapparat bezogen sind. Demgemäß war der Nationalstaat das Ziel der nationalen Bewegungen. Sie hatten einen aktiven Anteil bei seiner Schöpfung, und wenn er geschaffen war, trugen sie ihn. Die Pariser Friedenskonferenz von 1919 wollte Europa neu ordnen, indem sie ihm u.a. eine nationaldemokratische Struktur gab, und sicher hat sie dies, neben manchen Verstößen gegen dieses Ziel, in vielen Fällen auch erreicht und den kleinen Völkern den Weg zur nationalen Selbständigkeit gebahnt. Aber: In einem System von souveränen Staaten, die sich als Nationalstaaten jeweils eines bestimmten Sprachvolkes legitimierten und darum an ihrer sprachlich-kulturellen Homogenität

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Heiner Timmermann

interessiert waren, mußte sich die Nationalitätenfrage nur noch verallgemeinern und verschärfen. Jetzt erst wurde sie zum eigentlichen Strukturproblem Europas, vor allem Ostmitteleuropas. Die nationale Souveränität, wie sie jetzt als höchster Wert erschien, hatte nicht nur einen konstruktiven, sondern auch einen destruktiven Wert. Sie trug auch dazu bei, die "Gemeinschaftlichkeit von Europa"( Ranke) zu zerstören. Der amerikanische Präsident Wilson ging von dem Glauben aus, daß das kollektive Sicherheitssystem des Völkerbundes und die Gleichartigkeit demokratischer Verfassungen ein Korrektiv nationaler Vereinzelung werden könnte. Aber dies erwies sich als Trugschluß. Das Völkerbundsystem krankte an dem Mißverhältnis von geforderter Universalität und seinen tatsächlichen fragmentarischen Charakter. Die Gleichartigkeit demokratischer Verfassungen blieb ein vorübergehender Traum. In den 20er und 30er Jahren ging die Mehrzahl der europäischen Staaten zu totalitären und autoritären Staatsformen über, die den nationalen Souveränitätsanspruch nach innen und nach außen entweder verschärften oder aus ihm einen Herrschaftsanspruch führender Völker und Rassen über andere entwickelten. Damit ist eine entscheidende Wende eingetreten: Der Gedanke der nationalen Souveränität war aus der Verbindung des Nationalitätenprinzips mit dem Prinzip der staatlichen Souveränität erwachsen. In dem Augenblick, in dem die Souveränität des Volkes an die Stelle der Souveränität des Fürsten trat, war die ganze Nation aufgerufen zur Verteidigung ihrer Souveränität als der Summe ihrer demokratischen Rechte und Pflichten. Überschritt nun aber der Souveränitätsanspruch die Grenzen einer Nation, verlangte er die Beherrschung anderer Nationen aus einer angeblich höheren Mission, aus den selbst gegegeben Ansprüchen höherer Rasse und höheren nationalen Rechts, dann entstand ein nationalistischer Imperialismus. Die gewaltigen Veränderungen im politischen, sozialen, wirtschaftlichen und geistigen Leben der europäischen Völker, wie sie durch den Ersten Weltkrieg ausgelöst wurden, haben den Staaten und den sie tragenden politischen Bewegungen den Stempel aufgedrückt. Manche Kräfte, die die Vorkriegszeit bestimmt hatten, schienen zunächst zu überleben. Es kam zu Restaurationen. Das meiste unterlag allerdings großen Formwandlungen. Neue Kräfte drangen nach vorne und gaben der Zeit einen ganz neuen Charakter. Die Umwälzungen waren in den im Krieg unterlegenen Ländern am radikalsten. Sie ließen aber auch die Siegerländer nicht unberührt.

Nationalbewegung und Nationalismus in Europa: Wurzeln und Entwicklungen

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Von den Grundkräften der vorausgehenden Epoche wurden die am meisten betroffen, die sich auf Institutionen und Schichten stützten, die am stärksten in die Katastrophe hineingezogen waren: Auf die Monarchien, den Adel und Großgrundbesitz, das Bildungsbürgertum. Diese hatten auch das Rückgrat der konservativen Parteien gebildet und der von ihnen vertretenen Ideologien, wenn auch Konservativismus nicht überall nur Interessenvertretung der Aristokratie und Festhalten am "monarchischen Prinzip" bedeutete. Blickt man zurück auf die politischen Richtungen und Bewegungen, die das europäische politische Leben seit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges bestimmt haben, so läßt sich daran zuletzt die Frage knüpfen, welche Staatstypen sich unter ihrem Einfluß herausgebildet haben, worin diese Typen überschneiden oder zusammenfallen können: Der liberaldemokratische Verfassungsstaat setzt sich für kurze Zeit als herrschender Staatstyp durch. Der Nationalstaat wird seit 1919 als das entscheidende Strukturprinzip des neuen Europa angesehen. Die multinationalen Großreiche zerbrachen, und an ihre Stelle traten nationale Staatenbildungen, in denen allerdings nicht immer eine Nationalität quantitativ dominiert, wenn sie auch einen unbedingten Führungsanspruch anmeldet. Die Nationalstaatsentwicklung ist damit nach einer ersten - integrierenden Phase seit der Französischen Revolution und einer zweiten auf Vereinheitlichung von Teilstaaten gerichteten (Italien, Deutschland) in seine dritte Phase getreten, in der Nationalstaatsbildung auf einer sezessionistischen Tendenz beruht. Ihr Schwerpunkt liegt jetzt in Mittel- und Osteuropa, wie vorher der Schwerpunkt der ersten und zweiten Phase in West- und Mitteleuropa gelegen hatte. Im Bereich der großen dynastischen Reichsbildungen, der österreichisch-ungarischen, der russischen und in gewissem Umfang auch der preußisch-deutschen, im Südosten der osmanischen, entsteht also der moderne Nationalstaat durch Abtrennung, durch Sezession aus Großreichen. Alle ostmitteleuropäischen Staaten, die Nationalstaaten wurden, sind teilweise in einem langen Prozeß auf diesem Wege entstanden. Nationale Sebstbestimmung wird seit den Erklärungen des amerkanischen Präsidenten Wilson und gleichzeitig der Führer der Oktoberrevolution als umfassendes Prinzip für die Neuordnung Europas, ja, der Welt verstanden. Die Nationalstaaten von 1918/1919 sind nationaldemokratische Staaten. Ihre Staatsidee erfüllt sich in der Verwirklichung der Nation. Aber sie stoßen überall auf Begrenzungen, sind von innneren Widersprüchen erfüllt, unter denen die Rolle der nationalen Minderheiten an erster Stelle steht. Was vorher innerstaatliche Probleme waren, wird auf den Rang von Staatenbeziehungen erhoben. Die Minderheitenfrage

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belasten die zwischenstaatlichen Beziehungen, indem sie irredentistischen oder revisionistischen Tendenzen Auftrieb geben. Die Auferlegung von Schutzverträgen für die Minderheiten durch den Völkerbund wird als Servitut der nationalen Souveränität empfunden und kann die nationalistische Assimilierungspolitik nur unzureichend eindämmen. Nationalismus wird die Grundstimmung in den Nationalstaaten nach 1919, sowohl bei den besiegten Mächten, die ihre Revisionsforderungen anmelden, wie bei den jungen Staaten, für die Nationalismus als Integrationsfaktor einer noch ungefestigten politischen und gesellschaftlichen Struktur eingesetzt wird und Ausdruck ihrer schweren wirtschaftlichen und sozialen Krise ist. Dies gilt auch für Länder, in denen Nationalismus als Vehikel einer gewaltigen und gewaltsamen Herrschaftsexpansion dient, durch die der Nationalstaat traditioneller Art sich schließlich selbst aufhob und als deren Ergebnis seine eigene Zerstörung herbeigeführt wird. Literatur Alter, Peter: Nationalismus. Frankfurt 1985. Hobsbawm, Eric J.: Nationen und Nationalität. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt 1991. Kohn, Hans: Die Idee des Nationalismus. Ursprung und Geschichte bis zur Französischen Revolution. Frankfurt 1962. Lemberg, Eugen: Nationalismus, 2 Bde. Hamburg 1964. Lukacs, John: Die Geschichte geht weiter.

Das Ende des 20. Jahrhunderts und die Rückkehr des Nationalismus. München 1992.

Schmidt-Hartmann, Eva (Hrsg.):

Formen des nationalen Bewußtseins Im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien. München 1992.

Schulze, Hagen: chen 1994.

Staat und Nation in der europäischen Geschichte.

Mün-

Programme und Forderungen nationaler Bewegungen Ein europäischer Vergleich

Von Miroslav Hroch Man kann die nationalen Bewegungen unter verschiedenen Aspekten analysieren: man kann nach ihren Ereignissen fragen, ihre ideologischen Hintergründe rekonstruieren, ihre Resultate festlegen usw. Das hier gewählte Thema orientiert sich an jene Komponente der nationalen Bewegung, die in einer ziel bewußten Aktivität demonstriert wurde. Denn: an einer Bewegung teilzunehmen heißt, etwas ändern, etwas erreichen zu wollen. Wir stellen uns hier also die Frage, was die Leader und Vorkämpfer einzelner nationaler Bewegungen im Europa des 19. Jahrhunderts zu erreichen versuchten, welche Ziele sie sich gestellt haben. Natürlich kann man sich dabei nicht mit der bis zur Banalität wiederholten Antwort begnügen, daß nämlich diese Vorkämpfer als richtige "Nationalisten" ihre Nation zum Leben bringen wollten. Diese Antwort hat - neben der erwähnten Banalität - wenigstens zwei Schönheitsfehler. Zum ersten ist sie nur für die früheste Phase der Nationalbewegung - und auch auch das nicht immer - anwendbar. In der reifen Phase der Nationalbewegung zweifelte kaum jemand an der Existenz eigener Nation. Zum zweiten läßt diese Antwort das wichtigste unbeantwortet: wie, durch welche Mittel und auf welchen Wegen wollten die Vorkämpfer und Leader ihre Nation zum vollen Leben bringen? Schon der einfache induktive Vorgang ermöglicht es, festzustellen, daß es sich in jeder Nationalbewegung um eine Vielfalt von Forderungen und Zielsetzungen handelte, welche jedoch in verschiedenen Nationalbewegungen und in ihren verschiedenen Phasen auch unterschiedliche Relevanz besaßen. Außerdem sollte man zwei grundlegende Kategorien dieser Zielsetzungen unterscheiden: die Forderungen zielten teilweise in "eigene Reihen": man wollte die Mitglieder der eigenen Nation für die nationalen Ziele gewinnen, sie zu zielbewußten Patrioten machen, sie integrieren. Andererseits zielten diese Forderungen "nach außen": der herrschende Staat, seine Beamten, sein Apparat, sollten die Wünsche der Vorkämpfer erfüllen; hier handelte es sich vielleicht um nationale Programme im eigentlichen Sinne 2 Timmcrmanll

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Miroslav Hroch

des Wortes. Hier wird auch das Zentrum unserer komparativen Untersuchung liegen. Die Vielfalt der nationalen Forderungen kann nichtsdestoweniger in drei Kategorien sortiert werden: 1. Sprachliche und kulturelle Forderungen (Sprache, Literatur, Bildung, Verwaltung etc.), 2. politische Forderungen, unter denen jedoch ethnisch oder historisch definierte Autonomie viel öfter vorkommt als eine Eigenstaatlichkeit, 3. soziale und wirtschaftliche Forderungen. Diese drei Kategorien nationaler Forderungen entsprachen in den meisten Nationalbewegungen den drei grundlegenden Defiziten der "nondominant-ethnic-group" in ihrer Entwicklung zur voll formierten Nation: eine Hochkultur in eigener Sprache, eine Selbstverwaltung der Mitglieder der "ethnic group" und eine volle soziale Struktur dieser Mitglieder. Zugleich darf man nicht vergessen, daß der gesamte Nationsbildungsprozeß ein wichtiger Bestandteil innerhalb des allgemeinen gesellschaftlichen Wandels war. Die nationalen Forderungen der Leader berücksichtigten auch die Bedürfnisse des bürgerlichen Wandels. Es ist völlig legitim, daß wir unter den politischen Forderungen auch das mehr oder weniger nuancierte und radikale Programm der Bürgerrechte finden, ebenso, daß wir unter den sozialen Forderungen auch die Abschaffung der feudalen Privilegien und Lasten begegnen, ebenso, wie unter den kulturellen Forderungen auch die Demokratisierung der Bildung, der Erziehung und des Pressewesens. Die oben erwähnten drei Kategorien der Forderungen waren zwar ein tragender Bestandteil aller nationaler Bewegungen in Europa, aber ihre Relevanz und auch ihre zeitliche Reihenfolge waren unterschiedlich. Es sind gerade diese Unterschiede, die es uns ermöglichen, grundlegende Orientierung im Charakter der nationalen Bewegungen durchzuführen. Um besser verstanden zu werden, möchte ich an dieser Stelle die grundlegende Periodisierung nationaler Bewegungen rekapitulieren. In jeden von ihnen können wir drei Phasen unterscheiden:

Programme und Forderungen nationaler Bewegungen

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Phase A, wo das gelehrte Interesse vorherrschend war, wo die Sprache, Vergangenheit, Volkssitten usw. der "non dominant ethnic group" zum Gegenstand der aufklärerisch motivierten Forschung wurden. Phase B, wo die Patrioten systematisch bestrebt waren, die Mitglieder ihrer Nation für die nationale Bewegung zu gewinnen - also der Phase der nationalen Agitation, welche jedoch nicht immer und nicht ohne Schwierigkeiten erfolgreich wurde. Phase C, als ein Resultat der erfolgreichen Phase B: die nationale Agitation wurde von den breiten Schichten akzeptiert, die Signale der Vorkämpfer wirkten auch in der Provinz, die Bewegung bekam den Charakter einer Massenbewegung. Wenn wir fragen, wie die einzelnen Kategorien der nationalen Forderungen in der Phase B und Phase C der einzelnen Nationalbewegungen vertreten waren, bekommen wir zwei grundlegend unterschiedliche Typen der Nationalbewegungen. 1. Nationale Bewegungen, die das politische Programm schon in ihrer frühen Phase B entwickelten, wobei die sozialen und sprachlichkulturellen Forderungen entweder schwächer oder verspätet vertreten waren. Als Beispiele sollten hier die Iren, Norweger, Schotten, Polen, Griechen und Serben genannt werden. 2. Nationale Bewegungen, in denen während der Phase B das sprachlich-kulturelle Programm dominierte, begleitet eventuell durch soziale Ziele. Das politische Programm war hier erst für die Phase C, für die Massenbewegung charakteristisch. Beispiele: die Tschechen, Slowenen, Esten, Letten, Kroaten, Slowaken, Flamen. Manchmal könnte man von einer Übergangslage sprechen, wo zwar das sprachlich-kulturelle früher ansetzte, die politischen Forderungen jedoch schon während der Phase B formuliert wurden: die Magyaren, Bulgaren, Katalanen. Diese Typologie bringt nur eine sehr grobe Unterscheidung, und ihre Aussagekraft wird erst dann größer, wenn wir mehr über die konkreten Inhalte der einzelnen Programmkomponenten erfahren. Wir fragen jetzt also konkret, wie die sprachlichen und kulturellen, die politischen und die sozialen Forderungen formuliert wurden und wie sich ihre Inhalte im Laufe der nationalen Bewegungen verwandelt haben. Das sprachlich-kulturelle Programm betraf, wie schon gesagt, die Pflege und Verbreitung der Sprache und die Entfaltung der nationalen Kultur. 2*

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Miroslav Hroch

Dabei war vor allem in der Phase B das sprachliche Programm dominierend und konfliktschaffend. Die Sprache wurde insbesondere in den zum zweiten Typus gehörenden Nationalbewegungen meistens als das entscheidende Merkmal der nationalen Existenz betrachtet, und die Bedrohung der Sprache wurde mit der Lebensgefahr für die ganze Nation verknüpft. Das sprachliche Programm kann nicht als ein homogenes Ganzes behandelt werden. Es handelte sich eigentlich um eine vielschichtige Reihenfolge verschiedener Bemühungen, unter denen fünf Ebenen zu unterscheiden sind. Obwohl diese Ebenen zeitlich nacheinander formuliert und akzeptiert wurden, wuchsen die früher akzeptierten in die späteren hinein. Es handelte sich also um einen kumulativen Prozeß, in dem die neueren Forderungen zu den älteren "addiert" oder in diese integriert wurden. 1. Das Interesse an der Sprache als einem Objekt der wissenschaftlichen Betrachtung war in den meisten Fällen für die Phase A charakteristisch und war manchmal mit der emotionellen Bewunderung bzw. "Verteidigung" der Sprache verbunden. Parallel zu der Erforschung der linguistischen Eigenschaften der Sprache und mit der Schaffung ihrer Schriftnorm entstanden auch Lobreden, in denen sowohl ästhetische wie auch historische und philosophische Argumente benutzt wurden. 2. Die Suche nach den Sprachnormen in der Orthographie und Grammatik war oft ein langer und qualvoller Prozeß, der sich auch während der Phase B fortsetzte. Dabei gab es zwei unterschiedliche Ausgangssituationen: a) die Normen der Schriftsprache wurden von aus der älteren Tradition der nationalen Literatursprache abgeleitet (der Fall Tschechen, Griechen, Katalanen, Waliser), b) es gab nur die gesprochene Form der potentiellen Nationalsprache. Die Lösung war hier meistens eine neue Sprache, die auf einem der Dialekte baute. Als eine Ausnahme darf hier Norwegen genannt werden, wo die Schriftsprache als Kombination verschiedener Dialekte konstruiert wurde. 3. Die normierte und kodifizierte Schriftsprache konnte nur dann ihre Rolle erfüllen, wenn sie erlernt und benutzt wurde: dies war vor allem die Aufgabe der Schule. Daher die dritte Ebene des sprachlichen Programms: die Sprache der "non dominant ethnic group" soll in die Schulen eingeführt werden, zuerst vielleicht nur als eines der Lehrgegenstände, am Ende jedoch als Unterrichtssprache. Während der Phase C orientierten sich die Forderungen schon auf ein voll ausgebautes Netz der Gymnasien und eventuell auch auf die eigensprachige "nationale" Universität.

Programme und Forderungen nationaler Bewegungen

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4. Schon seit Anfang der Phase B war allgemein akzeptiert, daß die Hochsprache kultiviert und intellektualisiert werden mußte: vor allem durch eine aktive schriftstellerische Tätigkeit, durch Schaffung eigener Schriftkultur, von der noch die Rede sein wird. 5. Die höchste und eigentlich auch abschließende Ebene des sprachlichen Programms war die Forderung nach einer vollen Gleichberechtigung der eigenen Sprache bei den Behörden, Gerichtshöfen, im politischen und wirtschaftlichen Leben. In dieser Ebene sollte die Sprache von einem geduldeten zum allgemein verpflichtenden Kommunikationsmittel werden. Es wird oft vereinfacht gemeint, daß die Bevorzugung des sprachlichen Programms eine typische Einstellung der Nationalbewegungen sei. Obgleich diese Verallgemeinerung vor allem für den oben erwähnten zweiten Typus der Nationalbewegungen gilt, besteht kein Zweifel an der außerordentlichen Rolle des sprachlichen Programms vor allem während der Phase B. Wir sollten deswegen fragen, warum die Sprache in der nationalen Bewegung so oft eine außerkommunikative, außersprachliche Rolle bekam. Diese Funktionsverschiebung ist den gegenwärtigen Intellektuellen, vor allem den Mitgliedern der großen Nationen kaum verständlich. Natürlich gibt es traditionell wiederholte Interpretationen. Die eine betont den Einfluß von J.G. Herder und seiner Auffassung der Sprache als einer Philosophie der Nation. Dagegen kann man empirisch einwenden, daß in einigen Ländern die Herderschen Einflüsse tatsächlich stark wirkten, in anderen war es jedoch nicht der Fall. Die andere traditionelle Interpretation geht davon aus, daß unter den Bedingungen der politischen Unterdrückung, wie es in der Habsburgermonarchie der Vormärzzeit oder im zaristischen Rußland der Fall war, den Patrioten nichts anderes als kulturelle und sprachliche Aktivitäten übriggeblieben waren. Dies kann im Falle der Tschechen, Slowenen, Esten oder Finnen gelten, aber wir kennen auch Gegenbeispiele in den Bewegungen, die auch unter analoger Unterdrückung weiterhin politische Ziele verfolgten, wie z.B. die polnische, magyarische, griechische oder bulgarische. Neben diesem empirischen gibt es auch einen logischen Einwand: wie kann man erklären, daß das sprachlich-kulturelle Element auch dann im Vordergrund blieb, als die politische Unterdrückung abgeschafft wurde? Bevor wir zu anderen, überzeugenderen Interpretationen kommen, sollten wir jedoch mehr über die anderen Komponenten des nationalen Programms wissen. Bisher war nur von der sprachlichen Komponente des sprachlich-kulturellen Programms die Rede. Jetzt soll noch die Bestrebung

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Miroslav Hroch

nach einer eigenen "nationalen" Kultur näher beobachtet werden. Typisch war dabei am Anfang vor allem die Literatur - natürlich als Literatur in eigener Schriftsprache. Die zentrale Frage dieser Bestrebung war, wie soll die "nationale" Literatur definiert werden? Am Anfang der nationalen Bewegung begnügten sich die meisten Patrioten mit der sprachlichen Bestimmung: sie haben Gedichte, Novellen, Theaterstücke in der Sprache der "non dominant ethnic group" geschrieben, bzw. sie haben in diese Sprache ausländische Werke übersetzt. Bald gesellte sich dazu die Betonung des nationalen, patriotischen Inhalts: national hieß in dieser Vorstellung: eine national engagierte, die eigene Nation verherrlichende Literatur. In diesen ersten Stadien entstand in vielen Nationalbewegungen ein innerer Streit über das Verhältnis zu der Kultur und Literatur der herrschenden Nation. Die konservativen Tschechen, Esten, Letten, Finnen usw. wollten sich mit der Übertragung der Werte anderer nationaler Hochkulturen in eigener Schriftsprache begnügen; die Radikalen meinten, die eigene Nationalliteratur sollte sich auch in ihrem Geist und Inhalt von jener der herrschenden Nation unterscheiden. Dabei ist manchmal ein gewisser "Spiegeleffekt" entstanden: man bemühte sich, aus der eigenen nationalen Literatur alles zu beseitigen, was in der Literatur der herrschenden Nation vorkam. Erst im dritten Stadium wurden diese Kinderkrankheiten überwunden. Man stellte sich die Frage, ob es für die Schaffung nationaler Eigenständigkeit genügt, die Literatur in eigener Sprache und mit patriotischen Inhalten zu produzieren. Als das eigentliche Ziel wurde gestellt, eine international vergleichbare, d.h. auch ästhetisch wirkende Literatur zu schaffen. Analoge Diskussionen wurden dann früher oder später während der Phase C über die "nationale" Musik, Malerei, Architektur geführt. Allen diesen Diskussionen gemeinsam war eine heftige Politisierung der Kultur. Auch sie bekam also in einer gewissen Etappe der nationalen Bewegung eine außerkulturelle Funktion. Das politische Programm spielte, wie schon gesagt, in den nationalen Bewegungen der Phase B eine ziemlich differenzierte Rolle, kam jedoch in der Phase C überall zu Wort. Auch die konkreten politischen Ziele waren sehr unterschiedlich.

Gleich am Anfang soll hier ein oft vorkommendes Mißverständnis widerlegt werden. Es stimmt - rein empirisch gesehen - nicht, wenn das politische Programm der nationalen Bewegung mit dem Bestreben nach einer Eigenstaatlichkeit identifiziert wird. Nur bei ganz wenigen nationalen Bewegungen begegnen wir seit dem Anfang an eine solche Forderung: bei den Polen, Norwegern, Griechen, Serben. In allen anderen Fällen beschränkte sich das politische Programm auf die verschiedenartig definierte

Programme und Forderungen nationaler Bewegungen

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Selbstverwaltung entweder des ethnischen oder des historischen Territoriums. Erst langsam wurden während der Phase C die Ansprüche auf Autonomie ausgebreitet. Viele, ja, vielleicht die meisten der europäischen nationalen Bewegungen erreichten ihre Eigenstaatlichkeit unerwartet - als eine Folge der äußeren Erschütterungen: durch den Zerfall des Habsburgerreiches und des zaristischen Imperiums. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß das politische Programm in den nationalen Bewegungen als ein wesentlicher Faktor vertreten war und daher ernst analysiert werden muß. Es wäre jedoch eine Verengung des Problems, wenn wir uns nur auf die Varianten der politischen Autonomie konzentrieren würden. In vielen Fällen - bei den Tschechen, Finnen, Kroaten u.a. - fallen die ersten Schritte des politischen Programms mit den Forderungen nach einem konstitutionellen Regime zusammen. In der Revolution von 1848 wurden in der Habsburgermonarchie in den meisten Nationalbewegungen die Forderungen nach den Bürgerrechten in einem Atem mit den Forderungen nach sprachlich-kultureller Gleichheit formuliert. Zugleich sollte man nicht vergessen, daß die allgemeine bürgerliche Befreiung eine Bedingung jeder weiteren Politisierung der nationalen Bewegungen war. Dort, wo dies nicht erreicht wurde, wie im Falle von Rußland oder des Osmanenreiches, diskutierte man seit einer gewissen Zeit die politischen Programme in der Illegalität, vor allem in der Emigration, was natürlich die Politisierung der Massen erschwerte. Andererseits konnten sich die nationalen Forderungen als ein Teil des politischen Lebens dort, wo es schon ein politisches öffentliches Leben gab, nur mit Schwierigkeiten oder mit einer Verspätung durchsetzen. Dies war vor allem in einigen westeuropäischen Ländern der Fall (Flamen, Waliser, Katalanen usw.). Durch die Annahme der politischen Forderungen, durch den Einstieg in das politische Leben entstand in den Beziehungen unter den nationalen Vorkämpfern wie auch in ihrem Verhältnis zur herrschenden Elite eine qualitativ neue Situation. Ein neuer Faktor war mit der Politik in das nationale Leben eingedrungen: der Kampf um die Macht, der politisch ausgefochtene Machtkampf. Solange die Leader der nationalen Bewegung ihre sprachlichen und kulturellen Ziele verfolgten, war vor allem ihr Prestige im Spiel: durch die kulturelle Betätigung und durch wissenschaftliche Leistung konnte kaum jemand zu hohen Ämtern, zu Reichtum bzw. m eme Machtposition gelangen. Das politische Programm bzw. die Teilnahme am öffentlichen politischen Leben ermöglichte den Vorkämpfern der Nationalbewegung den Weg zur Macht. Die Macht war unter den neuen Umständen zugleich eine Bedingung für den Erfolg - also auch für den Erfolg der nationalen kulturellen

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Forderungen. Ein nationaler Leader zu sein, bedeutete jetzt nicht nur Prestige, sondern vor allem Position. Um eine politische Position zu erreichen, war jedoch ein voller Einsatz notwendig. Während man sich bisher für die nationale Sache nur "nebenamtlich!" engagierte, entstand jetzt ein neuer Typus des nationalen Vorkämpfers: der professionelle Politiker. Dort, wo die Politik und der politische Machtkampf vorherrschen, entwickeln sich, unabhängig von subjektiver Motivation, gewisse Spelregeln und situationsbedingte Reaktionen, von denen wenigstens drei für die nationale Bewegung relevant waren: 1. Die Tendenz zur inneren Differenzierung des bisher homogenen nationalen Lagers. Diese Differenzierung begann mit der Trennung des konservativen und radikalen (liberalen) Flügels und wurde dann in der Abtrennung des klerikalen, radikal demokratischen und des sozialistischen Flügels fortgesetzt. 2. Die Tendenz zur Radikalisierung der politischen Forderungen gegenüber der herrschenden Elite. Dazu gehörte nicht nur der Sieg der "jungen" Politiker, sondern auch die Eskalation der Autonomieansprüche. Hier, in der Sphäre des politischen M achtkampfes , entstand manchmal (aber nicht immer) der Wunsch nach politischer Unabhängigkeit, wobei die persönlichen Ambitionen der einzelnen Politiker sicherlich eine Rolle spielten. 3. Die Politisierung des Nichtpolitischen. In diesen Zusammenhang gehört die oben erwähnte Tatsache, daß in einem gewissen Stadium der nationalen Bewegung die Diskussion über die nationale Kultur und auch über gewisse soziale Forderungen zum Politikum wurde. Immer weniger fragte man dann nach sachlichen Argumenten, immer intensiver griff man nach den parteipolitischen. Auch das politische Programm mußte irgendwie im Wesen der Nation bzw. in dem, was man sich darunter vorstellte, verankert sein. Existenzberechtigt zu sein, bedeutete zugleich: historisch zu argumentieren. Die einfachste Lösung war dabei, die Nation zu verewigen: die gab es als eine "Schöpfung Gottes", sie existierte "an sich", sie "schlief" und sollte geweckt werden. Es wäre jedoch ein Irrtum, diese Rhetorik nur auf einen "Mythos" reduzieren zu wollen. Die nationale Vergangenheit, die Geschichte war natürlich immer durch Mythen mehr oder weniger verzerrt, man darf jedoch ihre reale Existenz nicht ignorieren. Schon desswegen nicht, weil viele unter den politischen Forderungen historisch begründet waren. Es bestand ein grundlegender Unterschied zwischen den politischen Programmen, die sich auf eine mehr oder weniger starke historische Kontinuität mit

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der älteren, meistens mittelalterlichen Eigenstaatlichkeit berufen konnten, und jenen, die solche Möglichkeit nicht besaßen. Schon im 19. Jahrhundert wurde deswegen zwischen den "historischen" und "geschichtslosen" Nationen unterschieden. Während man damals von diesem Unterschied auch das gegebene oder nicht gegebene "Recht" auf nationale Eigenständigkeit der "non dominant ethnic group" ableitete, interessiert es uns heute als ein Problem der historischen Typologie. Je nach dem, welche reale historische Erfahrungen als politische Argumente benutzt wurden, unterscheiden wir drei Typen der politischen Programme der nationalen Bewegungen: 1. Die politischen Programme, die organisch auf eine Tradition des "Nationalstaates" , an die verlorene politische Unabhängigkeit hinweisen konnten. Schon seit der Phase B argumentierten so die norwegische, magyarische und vor allem die polnische Nationalbewegung, in der Phase C die tschechische und kroatische. 2. Nationale Programme, die keine politische Eigenständigkeit der eigenen Gruppe belegen konnten und die sich auf ethnische Traditionen, bzw. auf partielle Mythen stützten: so die Slowaken, Slowenen, Finnen, Esten, Letten, Weißrussen. 3. Die politischen Programme konnten sich auf eine stark verzerrte "Tradition" der Eigenstaatlichkeit stützen, auf eine solche, die keine Kontinuität zur Gegenwart bot: so die Serben, Litauer, Bulgaren, Ukrainer, Iren, Katalanen, Flamen. Die historische Argumentation war auch für die Frage nach territorialer Bestimmung der Nation sehr wichtig. Bei dem ersten Typus, der das politische Programm im Namen des "historischen Rechts" formulierte, wurde als "national" das ganze historische Territorium des mittelalterlichen Staates betrachtet, ungeachtet der Tatsache, daß auf diesem Territorium eventuell auch andere ethnische Gruppen leben konnten. Bei dem zweiten Typus war die Auffassung des nationalen Territoriums meistens ethnisch definiert, bei dem dritten war die Lage sehr kompliziert, da die Grenzen des nicht mehr bestehenden mittelalterlichen Staates unstabil und eventuell auch nicht exakt rekonstruier bar waren. Diese Tatsache ermöglichte willkürliche Deutungen und wilde Grenzkämpfe, wie wir sie vor allem aus dem Balkan kennen. Das soziale und wirtschaftliche Programm der nationalen Bewegungen wird manchmal in den Untersuchungen vernachlässigt. Freilich, es bietet weniger an interessanten Geschichten verglichen mit dem politischen Programm und weniger an Sentimentalität verglichen mit dem sprachlichkulturellen Programm. Für viele Forscher wäre die Berücksichtigung der

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sozialen und wirtschaftlichen Forderungen zu "materialistisch", als ob das Bild des edlen idealistischen Leaders der Nation dadurch befleckt wäre. Jede Generalisierung ist in diesem Bereich dadurch erschwert, daß die nationalen Bewegungen asynchron und unter sehr unterschiedlichen sozialen und wirtschaftlichen Zuständen stattfanden, wobei ihre Forderungen natürlich dem gegebenen Stand der sozialen Entwicklung entsprachen. Zwei Ziele finden wir jedoch in allen nationalen Bewegungen, obgleich sie unterschiedlich begründet und durchgeführt wurden: 1. Vor allem war es die Bemühung, für die eigene Nation eine volle soziale Struktur zu schaffen. Als Maßstab galt dabei die soziale Struktur der jeweilig herrschenden Nation bzw. der unmittelbaren Nachbarschaft. Praktisch hieß es also, "eigene" Unternehmer, Akademiker, hohe Beamte usw. für die Nation zu gewinnen bzw. zu schaffen.

2. Man wollte den Mitgliedern der eigenen Nation einen gerechten Anteil an dem Brutto-Sozialprodukt sichern: das hieß also, daß die Bewohner des nationalen Territoriums ein Äquivalent dessen bekommen sollten, was sie dem Gesamtstaat lieferten. Die Bemessung eines solchen Anteils konnte durch politische und ideologische Argumente verzerrt werden. Als ein nationales Argument war es besonders dort wirksam, wo das Territorium der beherrschten Nation evident reicher war als das Mutterland, wie z.B. die baltischen Provinzen gegenüber Rußland, Böhmen gegenüber der Habsburgermonarchie, Katalonien gegenüber Kastilien usw. Damit kommen wir zu der vielschichtigen Gruppe der sozialen und wirtschaftlichen Forderungen, die eher regional spezifisch vertreten waren. Die Bauernbefreiung war natürlich in den Programmen jener Nationalbewegungen verankert, die ihre Phase B oder auch Phase C noch unter den Bedingungen des feudalen Systems absolvierten: Tschechen, Ukrainer, Esten, Slowenen bzw. bei derjenigen, wo die Bauernfrage zu den schwierigsten gehörte: Iren. Manchmal standen im Vordergrund des sozialen Programms die Forderungen des alten städtischen Mittelstandes - der Handwerker. Dies war insbesondere dort der Fall, wo diese soziale Gruppe unter den Mitgliedern der "non dominant ethnic group" vertreten war: Tschechen, Slowaken, Letten, später auch Slowenen. Mit der fortschreitenden Industrialisierung wurden oft auch viele der sozialen Forderungen der Arbeiter in das nationale Programm übernommen, insbesondere dort, wo die Unternehmer zur herrschenden Nation gehörten und die sozialen Forderungen national relevant wurden. Mit der Modernisierung der Verwaltung wurde auch der Zugang zu höheren Ämtern und Würden thematisiert,

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ebenso wie der Steuerdruck, die Zollpolitik oder die Handelspolitik der Regierung. Die Verbalisierung der sozialen Forderungen im nationalen Programm bekam allerdings noch eine andere Bedeutung. In ihnen wurden jene sozialen Spannungen und Interessen beschrieben und thematisiert, die als Voraussetzung der national relevanten Interessengegensätze bezeichnet werden können. Darunter verstehe ich solche Interessengegensätze, bei denen die Polarität der Interessen durch den ethnischen bzw. sprachlichen Unterschied begleitet wurde. Diese Gegensätze spielten als ein integrierender Faktor der nationalen Bewegung eine ganz bedeutende Rolle, können aber im Rahmen dieses Beitrags nicht behandelt werden. Abschließend sollten wir zu jener Frage zurückkehren, die in der Einleitung formuliert wurde: warum bekam das sprachlich-kulturelle Programm unter der Mehrzahl der nationalen Bewegungen eine so bedeutende Rolle? Und dazu als logische Ergäzung: warum wurde in einigen Bewegungen schon in der Phase B das politischeProgramm priorisiert? Nachdem wir die traditionellen Interpretierungen als unzureichend abgelehnt haben, sollten wir andere Zusammenhänge und Interpretierungen rekonstruieren, die verständlich gemacht werden können, nachdem wir die Rolle des politischen und des sozialen Programms charakterisiert haben. An erster Stelle soll die soziale Struktur der nationalen Bewegungen genannt werden, die augenscheinlich für die Aufnahme bzw. Modifizierung des politischen Programms entscheidend war. Es ist bemerkenswert, daß alle Nationalbewegungen, die ihr Programm zeitlich sehr früh an politische Forderungen konzentrierten, eine soziale Struktur besaßen, die als voll bezeichnet werden kann: die Polen (Adel), die Norweger (Handelsbourgeoisie, hohe Beamte), die Schotten, die Griechen. Die soziale Struktur der meisten uns bekannten Nationalbewegungen sah anders aus. Ihre Vorkämpfer stammten aus sozialen Schichten mit einer sehr schwachen politischen Erfahrung und mangelnder politischen Bildung. Die durch sie getragene nationale Agitation wandte sich eben an die gleichen sozialen Schichten, und weil die Phase B meistens unter den Bedingungen des alten feudalen Regims startete, lag die Idee der bürgerlichen Rechte noch ziemlich weit hinter dem Horizont des Vorstellbaren. Für einen untertänigen Bauern, um wenigstens ein Beispiel zu nennen, war die Idee der Freiheit nur in der Gestalt der Befreiung von seinen feudalen Abhängigkeiten vorstellbar, nicht jedoch als Presse- und Redefreiheit.

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Außerdem müssen auch andere Ursachen der Priorisierung des sprachlich-kulturellen Programms erwähnt werden. Mit der Modernisierung der Verwaltung unter der Herrschaft des Absolutismus wuchs das elementare Bedürfnis der Bevölkerung, mit den Behörden zu kommunizieren. Falls diese Behörden prinzipiell fremdsprachig besetzt waren (oder sich der Fremdsprache der herrschenden Staatsnation bedienen mußten), war der aus einer non dominant ethnic group kommende Bewerber immer benachteilig. Daran konnte die Zulassung des Dolmetschens nur wenig ändern. Mit steigender Bürokratisierung der Gesellschaft waren - eventuell auch nach der Abschaffung des Absolutismus - solche Kontakte mit den Behörden immer häufiger. Die Forderungen nach einer Gleichberechtigung der eigenen Sprache entsprach daher der fast täglichen Erfahrung der Volksschichten. Dazu brauchte man keine politische Erfahrung. Viel komplizierter war der Faktor des erschwerten sozialen Aufstiegs, der zu den wichtigen Ursachen des national relevanten Interessenkonflikts gehörte. Auch dort, wo es an der Schwelle der Modernisierung zur relativen Demokratisierung des Schulwesens kam, war der soziale Aufstieg sehr schwierig. Die Tatsache, Schichten anzugehören, wurde überall dort national relevant, wo die Mitglieder der non dominant ethnic group überwiegend oder voll zu den niedrigeren sozialen Schichten zählten. Ein Aufsteiger aus diesen Schichten hatte unter den gegebenen Umständen drei Möglichkeiten: 1. Assimilierung, die jedoch nicht so einfach war: auch nach der Assimilierung blieben nämlich die Startlinien unterschiedlich, und zweitens war eine erfolgreiche Assimilierung durch gewisse Sprachfähigkeit bedingt, die nicht jedem gegeben war.

2. Bilinguismus: man erlernte die Staatssprache, ohne auf die Muttersprache zu verzichten. Durch diesen "Bilinguismus" konnte zwar die Entfremdung gegenüber dem "eigenen" ethnischen Milieu minimalisiert werden, aber das Problem der sprachlichen Fähigkeiten war auch hier limitierend, wie sub 1. 3. Anschluß an die nationale Bewegung in ihrem Kampf um eine volle sprachliche Gleichberechtigung. Dieser Anschluß war natürlich durch die Existenz einer solchen Bewegung bedingt und schloß für die erste Zeit den sprachlichen" Utraquismus" der sozialen Aufsteiger nicht aus. Aus allen diesen Erlebnissen wuchs eine sozialpsychologisch gut erfaßbare Erfahrung der Inferiorität eines jeden Mitglieds der non dominant ethnic group. Er kam in die weite Welt, deren Sprache er nicht oder nur mangelhaft beherrschte und verstand sich selbst als ein Mensch zwei-

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ter Klasse (und wurde auch von den Herrschenden dementsprechend behandelt). Er stand "sprachlos" der Obrigkeit, der Staatsverwaltung, dem Kaufmann, ja, manchmal sogar dem Lehrer gegenüber. Diese Lage war, so kann man einwenden, keine neue: so erging es den Migliedern dieses Ethnikums jahrzehntelang, ohne national mobilisierende Gefühle entstehen zu lassen. Der national mobilisierende Effekt dieser Lebenserfahrung konnte erst dann enstehen, als sich die Gesellschaft schon im Prozeß der Verbürgerlichung befand, zu der die Idee der Gleichheit aller Staatsbürger gehörte, obwohl sie anfangs nur unterschwellig in die Mentalität des Volkes eingedrungen war. Hier bestand übrigens eine weitere Voraussetzung der "Politisierung" des sprachlichen Programms. Als letzter soll ein Faktor genannt werden, der aus der Logik der Nationalbewegung unter den Bedingungen einer unvollständigen sozialen Struktur zu verstehen ist. Wenn die Vorkämpfer der schon fortschreitenden Phase B der nationalen Bewegung eine eigenständige nationale Kultur schaffen wollten, dann brauchten sie eine klare, jedem Mitglied verständliche Abgrenzung nach außen und zugleich eine intensive kommunikative Bindung nach innen. Beide Funktionen konnte die Sprache übernehmen, und es ist symptomatisch, daß die Sprache im nationalen Programm überall dort eine geringere Rolle spielte, wo diese Abgrenzung nach außen durch andere Faktoren, wie die Religion oder die Staatsgrenze, vermittelt wurde (neben dem klassischen Beispiel Irland soll hier an die Serben oder Muslime gedacht werden). Diese bei weitem nicht vollständige Übersicht hat hoffentlich überzeugend demonstriert, daß die nationalen Forderungen und Programme bei weitem keine willkürliche Entscheidung der "Nationalisten" widerspiegelten. Bei der Strukturierung und Ausarbeitung dieser Programme standen vor allem objektive Gegebenheiten im Vordergund, wie die historischen Erfahrungen, die soziale Struktur der sich formierenden Nation, die politischen Zustände, die Kommunikation, das Verhalten der herrschenden Eliten usw. Erst wenn wir solche Prioritäten akzeptieren, können wir eine erfolgreiche komparative Untersuchung starten. Dies bleibt jedoch Aufgabe der zukünftigen Forschung.

Nationalbewegungen und Industrialisierung: Überlegungen zum Zusammenhang von Nationalismus und wirtschaftlicher Modernisierung am Beispiel Deutschlands Von Hans-Werner Hahn Zu den Zukunftsverheißungen, mit denen die Nationalbewegungen ihre Anhängerschaft zu mobilisieren suchten, gehörte vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Hoffnung auf wirtschaftliche Prosperität. Seit dem Beginn der Industriellen Revolution in England im ausgehenden 18. Jahrhundert wurde die wirtschaftliche Modernisierung für den Kontinent zunehmend zu einem "politischen Imperativ"!. Zum einen mußten die Regierungen des Kontinents schon aus machtpolitischen Motiven bestrebt sein, die Entwicklungslücke gegenüber dem Pionierland der Industriellen Revolution zu schließen. Nur die wirtschaftliche Entwicklung brachte auf Dauer höhere Steuereinnahmen und einen größeren Wohlstand, die notwendig waren, um die Stabilität eines Staates nach innen und außen zu gewährleisten. Zum anderen gewann das Vorbild der neuen industriellen Entwicklungen auch im aufstrebenden Bürgertum des Kontinents, also dem Hauptträger der nationalen Bewegungen, im Laufe des 19. Jahrhunderts eine immer größere Bedeutung. Es ist zwar zu Recht darauf hingewiesen worden, daß sowohl die wirtschaftliche Motivation als auch das Engagement des Wirtschaftsbürgertums in den frühen Phasen von Nationalbewegungen in aller Regel noch keine große Rolle spielten. Hier dominierten noch das "wissenschaftliche Interesse der Gelehrten an der nationalen Sprache, Geschichte, den Volkssitten und der Siedlungsgeographie" 2 . Mit der wachsenden Akzeptanz der nationalen Ideen trat dann aber das wirtschaftspolitische Element teilweise schon bald sehr viel deutlicher hervor. Dies war vor allem dann der Fall, wenn das Gefühl zunahm, 1 David S. Landes, Der entfesselte Prometheus. Technologischer Wandel und industrielle Entwicklung in Westeuropa von 1750 bis zur Gegenwart. Köln 1973, S. 211. 2Miroslav Hroch, Das Bürgertum in den nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, in: Jürgen Kocka (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 3. München 1988, S. 337-359, hier S. 340.

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daß die wirtschaftliche Rückständigkeit gegenüber England auch mit politischer Zersplitterung oder Fremdherrschaft zusammenhing und nur der Nationalstaat einem zeitgemäßen Wirtschaftssystem zum Durchbruch verhelfen könne. Mehrere hervorragende Kenner der internationalen Wirtschaftsgeschichte haben darauf verwiesen, "daß die Ideologie des Nationalismus eine der Voraussetzungen für die Erlangung von Entwicklungszielen in Gesellschaften mit einem relativ niederen ökonomischen Entwicklungsstand ist".3 Diese Zusammenhänge von nationalen Bestrebungen und wirtschaftlicher Rückständigkeit lassen sich nach Ansicht von Alexander Gerschenkron im 19. Jahrhundert besonders gut am deutschen Beispiel verfolgen. 4 Hier wuchs gerade in den wirtschaftlich so schwierigen vierziger Jahren jener Teil der Nationalbewegung stark an, der vor allem darauf abzielte, "die politischen Konsequenzen aus der Industrialisierung zu ziehen und den Binnenmarkt nationalstaatlich zu organisieren" .5 Die wirtschaftlichen Motive spielten dann auch in den fünfziger und sechziger Jahren, also der sogenannten Reichsgründungszeit, innerhalb der deutschen Nationalbewegung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die nach der Revolution von 1848/49 voll einsetzende Industrielle Revolution und die damit einhergehende gesellschaftliche Aufwertung des Bürgertums gaben der Nationalbewegung entscheidenden Auftrieb. Der deutsche Nationalstaat wurde, wie Keynes geschrieben hat, nicht nur durch "Blut und Eisen", sondern auch durch "Eisen und Kohle" geschaffen. 6 Ein englischer Wirtschaftshistoriker hat deshalb sogar die These aufgestellt, daß Suche und Krisen deutscher Identität seit dem in einem engen inneren Zusammenhang mit den Zyklen wirtschaftlicher Erfolge oder Krisen standen und die Wirtschaft somit ein, wenn nicht das wesentliche Fundament des deutschen Nationalismus gewesen sei. 7 Die folgenden Ausführungen verfolgen das Ziel, am Beispiel Deutschlands noch einmal genauer der Bedeutung des wirtschaftlichen Elements in den Nationalbewegungen nachzugehen und nach Erscheinungsformen und Trägern von Wirtschaftsnationalismus zu fragen.

3Bert F. Hoselitz, Nationalism, Economic Development, and Democracy, in: Otto Feinstein (Ed.), Two Worlds of Change. Garden City 1964, S. 250. 4 Alexander Gerschenkron, Wirtschaftliche Rückständigkeit in historischer Perspektive, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Geschichte und Ökonomie. Köln 1973, S. 12. 5Heinrich August Winkler, Der Nationalismus und seine Funktionen, in: ders. (Hrsg.), Nationalismus. Königstein/Ts. 1978, S. 5- 46, hier S. 14. 6 John Maynard Keynes, Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages. München 1921, S. 63. 7Vgl. Harold James, Deutsche Identität 1770-1990. Frankfurt a. M. 1991.

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Die Einsicht in die engen Zusammenhänge zwischen industriellen Fortschritten und dem nationalem Einigungsprozeß wurde in Deutschland vor allem von Friedrich List vermittelt, dessen Lehren später auch von den Nationalbewegungen in anderen, wirtschaftlich rückständigen Ländern aufgegriffen worden sind. 8 Der 1789 in Reutlingen geborene List 9 wies schon in den wirtschaftlichen Krisenjahren nach dem Wiener Kongreß darauf hin, daß eine fehlende wirtschaftliche Einheit der Deutschen und daraus resultierende soziale Not "die erhebende Idee eines gemeinsamen deutschen Vaterlandes töten und somit in den Deutschen das große Gefühl der Nationaleinheit ersticken" werde. lO List forderte deshalb die Staaten des föderativ verfaßten Deutschen Bundes zu einem engeren Zusammenschluß auf und schuf mit dem 1819 auf der Frankfurter Ostermesse gegründeten "Handels- und Gewerbsverein" zugleich bereits einen Interessenverband, mit dem deutsche Kaufleute und Fabrikanten den Forderungen nach mehr Wirtschaftseinheit in Deutschland Nachdruck verleihen wollten. Diese erste nationale Organisation von Teilen des deutschen Wirtschaftsbürgertums, die mehrere Tausend Unterstützer fand, richtete am 1. April 1819 eine Petition an den Deutschen Bundestag, die eine schonungslose Kritik an den wirtschaftspolitischen Zuständen eines politisch zersplitterten Deutschlands enthielt und in der Forderung gipfelte, "daß die Zölle und Mauten im Innern Deutschlands aufgehoben, dagegen aber ein auf dem Grundsatz der Retorsion beruhendes Zollsystem gegen fremde Nationen aufgestellt werden möchte, bis auch sie den Grundsatz der europäischen Handelsfreiheit anerkennen." 11 Diese Forderungen richteten sich vor allem gegen das wirtschaftlich schon weit fortgeschrittene England, das die Exportchancen der deutschen Landwirtschaft durch die Getreidezölle verminderte und gleichzeitig teilweise seine Industrieprodukte zu Dumpingpreisen auf den nach Aufhebung der Kontinentalsperre kaum noch geschützten deutschen Märkten anbot. Einem solchen Druck waren wichtige deutsche Gewerbezweige, allen voran 8Vgl. hierzu Eugen Wendler, Friedrich List. Politische Wirkungsgeschichte des Vordenkers der europäischen Integration. München 1989. 9Z ur Biographie von List zuletzt William O. Henderson, Friedrich List. Eine historische Biographie des Gründers des Deutschen Zoll vereins und des ersten Visionärs eines vereinten Europas. Düsseldorf 1984; Friedrich List und seine Zeit. Nationalökonom, Eisenbahnpionier, Politiker, Publizist. Katalog der Ausstellung zum 200. Geburtstag Lists. Reutlingen 1989. IODenkschrift Friedrich Lists vom Februar 1820, in: Friedrich List, Der Kampf um die politische und ökonomische Reform 1815-1825, hrsg. von Karl Goeser u. Wilhelm V. Sonntag (Friedrich List Schriften/ Reden/ Briefe, Bd. 1), Berlin 1933, S. 537. liZitiert nach Vorgeschichte und Begründung des Deutschen Zollvereins 1815-1834. Akten der Staaten des Deutschen Bundes und der europäischen Mächte. Bearbeitet von W. von Eisenhart-Rothe u. A. Ritthaler, eingel. von Hermann Oncken, hrsg. von Hermann Oncken u. Friedrich E. M. Saemisch, Bd. I, Berlin 1934, S. 324. 3 Timmcrmann

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die gerade erst unter dem Schutz der Kontinentalsperre aufgeblühte Baumwollspinnerei, noch nicht gewachsen. Deshalb stießen die wirtschaftsnationalen Parolen Lists in bestimmten Kreisen des Wirtschaftsbürgertums bereits in den Jahren nach dem Wiener Kongreß auf eine beachtliche Resonanz. Lists weitreichende Pläne ließen sich aber im politischen System der Restauration nicht verwirklichen. Zum einen lehnten wichtige Regierungen, allen voran die österreichische Staatsführung, eine handelspolitische Einigung Deutschlands ab, weil sie ihrer Ansicht nach langfristig zu einer Stärkung der nationalen Kräfte führen müsse. Zum anderen war der von der neuen Bewegung ausgehende Druck viel zu schwach, um eine entsprechende Kurskorrektur der deutschen Politik herbeiführen zu können. 12 Auch die Gründung des von Preußen geführten Zollvereins, der seit den zwanziger Jahren in Etappen geschaffen wurde und 1834 bereits den Großteil der deutschen Bundesstaaten umfaßte, kann nicht als Diktat einer vom Wirtschaftsnationalismus motivierten öffentlichen Meinung interpretiert werden. 13 Gewiß wurden auch in Deutschland im Gefolge der Französischen Julirevolution von 1830 die Forderungen nach Nationaleinheit der Deutschen und mit ihnen die Hoffnung, daß ein politisch geeintes Deutschland durch eine bessere Politik die schweren wirtschaftlichen und sozialen Nöte der Zeit entscheidend mildern könnte. Dies galt vor allem für Friedrich List, der Anfang der dreißiger Jahre aus seinem amerikanischen Exil zurückkehrte und für den Zoll verein und ein deutsches Eisenbahnsystem warb. Auch der rheinische Großkaufmann, Bankier und Eisenbahnpionier David Hansemann vertrat bereits die Ansicht, daß man auf den Deutschen Bund nicht weiter zählen könne und Deutschland deshalb mit Hilfe des Zollvereins "unter Preußens Schutz zu einem lebenskräftigen Föderativstaate" vereinigt werden müsse, der wie der neuentstandene belgisehe Staat der industriellen Entwicklung eine kräftige Starthilfe geben sollte. 14 Trotz solcher Ansätze war ein auf rasche Modernisierung zielendes wirtschaftsnationales Element innerhalb der sich seit 1830 wieder verstärkenden Nationalbewegung zunächst von recht untergeordneter Bedeutung. Es dominierten noch ganz eindeutig die verfassungspolitischen und kulturnationalen Bestrebungen. Große Teile der nationalen Bewegung standen 12Zum Listsehen Handels- und Gewerbsverein und seinem Wirken vgl. Heinrich Best, Interessenpolitik und nationale Integration 1848/49. Handelspolitische Konflikte im frühindustriellen Deutschland. Göttingen 1980, S. 81 ff. 13Ygl. William O. Henderson, The Zollverein, 2. Aufl. London 1968; Hans-Werner Hahn, Geschichte des Deutschen Zollvereins. Göttingen 1984. 14Joseph Hansen (Hrsg.), Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830-1850, Bd. 1: 1830-1845, Essen 1919, S. 71.

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der von Preußen geführten Zolleinigungspolitik sogar ausgesprochen skeptisch gegenüber, teils aus politischen Ängsten gegenüber der antikonstitutionellen Politik Preußens, teils aber auch gerade aus der Sorge heraus, daß die noch stark kleingewerblich geprägte süddeutsche Wirtschaft mit der schon weiter entwickelten preußischen Wirtschaft nicht konkurrieren könne. 15 Die öffentlich erhobenen Forderungen nach einer deutschen Wirtschaftseinheit dürften zwar den Prozeß der Zolleinigung beschleunigt haben, aber List und seine Anhänger übten keinen direkten Einfluß auf den wirtschaftlichen Einigungsprozeß aus. Er war vielmehr allein Sache der einzelstaatlichen Regierungen und wurde von diesen noch weniger als wirtschaftsnationales Entwicklungsprogramm verstanden. Gewiß gab es unter den preußischen Staatsmännern um 1830 bereits Kräfte, die, wie Finanzminister Friedrich von Motz, darauf setzten, daß aus der wirtschaftlichen Kooperation langfristig auch eine Art politischer Einheit unter preußischer Führung hervorgehen könne. Motz erschien es nämlich ganz unnatürlich, daß Staaten in der Politik auf Dauer divergierende Ansichten verfolgten, "deren Völker zu einem Kommerzialsystem gebunden sind und in diesem System sich wohl befinden" .16 Aber schon wenige Jahre später, als sich die Gewichte in der preußischen Bürokratie wieder ganz auf die konservativ-restaurativen Kräfte verlagert hatten, spielten solche Überlegungen keine große Rolle mehr. Der Deutsche Zoll verein wurde von preußischen Ministern sogar als geeignetes Mittel angesehen, das die Dynamik der nationalen Bewegung zumindest für einige Zeit abbremsen helfe. So meinte der preußische Außenminister von Werther im Jahre 1840: "Die politische Idee, welche auf Seiten Preußens dem Zollverein zugrunde lag, war bekanntlich die Absicht, den subversiven politischen Bestrebungen und ihren chimärischen Theorien dadurch den Boden zu entziehen, daß man einerseits den vorwaltenden Interessen eine solidere Richtung, andererseits dem Nationalgefühl und der NationalEinheit ein reales und zugleich edleres Substrat darbot. Dieser Zweck, um dessen Willen allein die von Preußen gebrachten Opfer nicht bereut zu werden brauchen, ist erreicht."17 Bei den meisten mit Preußen im Zollverein 15V gl. hierzu Hans- Werner Hahn, Zwischen deutscher Handelsfreiheit und Sicherung landständischer Rechte. Der Liberalismus und die Gründung des Deutschen Zoll vereins, in: Wolfgang Schieder (Hrsg.), Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz, (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 9), Göttingen 1983, S. 239-271. 16Memoire von Motz über die hohe Wichtigkeit der von Preußen mit Bayern, Württemberg und dem Großherzogtum Hessen abgeschlossenen Zoll- und Handelsverträge in kommerzieller, finanzieller, politischer und militärisch-strategischer Beziehung, zur Moti vierung der allerhöchsten Ratifikation unterlegt, Berlin, Juni 1829, In: Vorgeschichte, Bd. 3, Nr. 775, S. 534. 17 Gesandtschaftsberichte aus München 1814-1848, ed. v. A. Chroust, Abt. 111: Die Berichte der preußischen Gesandten, Bd. 3, München 1950, S. 160. 3*

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verbundenen Klein- und Mittelstaaten spielten nationale Orientierungen bei ihrer Beitrittsentscheidung von Anfang an eine eher noch geringere Rolle. Im Mittelpunkt standen ganz egoistische Interessen 18 , vor allem das Bestreben, durch wirtschaftliche Erleichterungen und höhere Zolleinnahmen die politische Stabilität und damit die staatliche Existenz nach den unruhigen Jahren um 1830 wieder zu befestigen. So wenig wie die Zollvereinsgründung schon eindeutig in Richtung nationaler Einheit zielte, so wenig war sie bereits Ausdruck eines klar definierten nationalen Industrialisierungsprogramms. Keine Regierung orientierte ihre Wirtschaftspolitik zu diesem Zeitpunkt an solchen Konzepten, die meisten deutschen Staaten betrieben vielmehr noch eine stark auf die vorindustriellen Wirtschaftszweige konzentrierte Politik, zumal die englische Entwicklung nicht nur als Vorbild, sondern vielfach auch als Gefahr für das politische und soziale Gefüge angesehen wurde. Das deutsche Bürgertum war zu diesem Zeitpunkt in seiner großen Mehrheit von einer uneingeschränkten Bejahung einer forcierten Industrialisierung nach englischem Vorbild ebenfalls weit entfernt. Vielmehr dominierte noch die Skepsis gegenüber einer entfesselten Konkurrenzwirtschaft des Industriekapitalismus englischen Zuschnitts, deren sozialen Folgen der angestrebten "klassenlosen Bürgergesellschaft" oder "Gesellschaft mittlerer Existenzen" zuwiderliefen. 19 Auch im folgenden Jahrzehnt orientierte sich der größte Teil des deutschen Bürgertums noch an diesem gesellschaftlichen Leitbild. Inzwischen hatten aber auch die Befürworter einer forcierten Industrialisierung in wichtigen deutschen Regionen deutlich an Boden gewonnen. Deutschland befand sich zehn Jahre nach der Zollvereinsgründung in einem neuen Stadium seiner wirtschaftlichen Entwicklung. Der Zoll verein und der zur gleichen Zeit einsetzende Eisenbahnbau hatten nach allen neuen Erkenntnissen der Wirtschaftshistoriker in den dreißiger Jahren nicht als Initialzündung einer deutschen Industriellen Revolution gewirkt. 2o Die wirtschaftlichen Wachstumsprozesse verliefen noch recht langsam, und nur in den indu18 Zur Interessenlage der meisten Klein- und Mittelstaaten vgl. Henderson, Zollverein, S. 95: "The States concerned fought for their own narrow interests and many of them joined the Zoll verein only when economic depression and empty exchequers made further resistance to Prussia impossible." 19V9l. hierzu Lothar Gall, Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft. München 1993. 20Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen "Deutschen Doppelrevolution" 18151845/49. München 1987, 125 ff.j Richard H. Tilly, Vom Zoll verein zum Industriestaat. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Deutschlands 1834 bis 1914. München 1990, S. 39 ff.

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striellen Führungsregionen wie dem Rheinland, dem Ruhrgebiet oder dem Königreich Sachsen brach sich der industrielle Fortschritt rascher Bahn. Aber gerade diese Entwicklung der Führungsregionen und der Eisenbahnbau signalisierten, daß auch in Deutschland die Industrialisierung schneller als früher an Boden gewann. Diesen ersten Fortschritten standen allerdings in den dreißiger und vierziger Jahren schwere Struktur- und Konjunkturkrisen der vorindustriellen Wirtschaftszweige gegenüber. Landwirtschaft, Handwerk und Heimgewerbe waren nicht mehr in der Lage, das durch den Bevölkerungsanstieg stark anwachsende Arbeitskräftepotential aufzunehmen, und die moderne Industrie war noch nicht entwickelt genug, um durch das eigene Wachstum rasch die entstandene Lücke zwischen Arbeitsplatzangebot und Arbeitskräftepotential zu schließen. 21 Dies hatte zur Folge, daß das vorindustrielle Massenelend in der Pauperismuskrise der vierziger Jahre seinen Höhepunkt erreichte. In den verstärkt einsetzenden Diskussionen über die Lösung der schweren wirtschaftlichen und sozialen Krisen gewann nun die ökonomische Begründung der Forderung nach einem deutschen Nationalstaat eine immer größere Bedeutung. Hauptpropagandist dieser Richtung war erneut Friedrich List, der in seiner grundlegenden wirtschaftstheoretischen Schrift "Das nationale System der politischen Ökonomie" die kosmopolitische Ausrichtung der von Adam Smith begründeten englischen Wirtschaftstheorie attackierte und den freien Austausch von Gütern für jedes wirtschaftlich rückständige Land als schädlich einstufte. 22 Eine freie internationale Arbeitsteilung mußte seiner Ansicht nach dazu führen, Deutschland auf Dauer zum halbkolonialen Abnehmer englischer Industrieprodukte und zum Lieferanten von Rohstoffen und minderwertigen Produkten zu machen. Deshalb müsse Deutschland alles tun, um seine Produktivkräfte voll auszuschöpfen, und dies sei nur möglich, wenn die industrielle Entwicklung durch eine tatkräftige Intervention des Staates gefördert werde. Deshalb sollte man sich innerhalb Deutschlands über ein umfangreiches Schutz- und Erziehungszollsystem verständigen, das die Kostenvorteile der englischen Konkurrenz neutralisieren, damit den industriellen Fortschritt beschleunigen und über diesen auch die sozialen Krisenerscheinungen überwinden sollte. All dies konnte nach Ansicht Lists aber nur dann die gewünschte Wirkungskraft entfalten, wenn ein nationaler Einheitsstaat mit parlamentarischen Institutionen zur Koordinierung der neuen Politik zur Verfügung stand. List schrieb: "Die Einheit der Nation ist die Grundbedingung eines dau21 Ausführlich hierzu Wolfgang Köllmann, Bevölkerung und Arbeitskräftepotential in Deutschland 1815-1865, in: ders., Bevölkerung in der industriellen Revolution. Studien zur Bevölkerungsgeschichte Deutschlands. Göttingen 1974, S. 61-98, hier S. 61 ff. 22Friedrich List, Das Nationale System der politischen Ökonomie, hrsg. von Artur Sommer (Friedrich List, Schriften/ Reden/ Briefe, Bd. 6), Berlin 1930.

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erhaften Nationalwohlstandes. ,,23 Und umgekehrt konnte die von vielen immer eindringlicher geforderte politische Einheit der Deutschen nach Ansicht von List "auf dem festen Fundament der industriellen Interessen der Nation" gegründet werden, weil nur so auf Dauer freiheitliche Zustände im Inneren und Sicherheit nach außen gewährleistet werden könnten. 24 Dieses wirtschaftsnationalistische und staatsinterventionistische Konzept, das über das "Zollvereinsblatt" einem größeren Publikum bekannt gemacht wurde, entsprach natürlich in erster Linie den Interessen des aufstrebenden Wirtschaftsbürgertums. Es fand besonderen Anklang in jenen Branchen, die sich wie die Baumwollspinnerei und Teile der Eisenindustrie gegenüber den englischen Konkurrenten noch immer nur schwer behaupten konnten. Karl Marx spottete über die nun recht enge Verknüpfung von ökonomischem Interesse und nationaler Gesinnung: "Die Deutschtümelei ist aus den Menschen in die Maschinen gefahren, und so sahen sich eines Morgens unsere Baumwollritter und Eisenheiden in Patrioten verwandelt. ,,25 Lists Konzept enthielt freilich auch ein Angebot an andere Teile der vormärzlichen Gesellschaft. Denn die durch Schutzzölle und Nationaleinheit bewirkte Forcierung der" von Maschinenkraft verursachten Gewerbsrevolution"26 sollte der gesamten Gesellschaft zugute kommen und entscheidend dazu beitragen, die soziale Krise zu überwinden. Über welche Integrationskraft die wirtschaftsnationalen Parolen in den vierziger Jahren verfügten, zeigte sich nicht zuletzt in der Revolution von 1848/49, als der "Allgemeine Verein zum Schutze der vaterländischen Arbeit" eine große Schutzzollkampagne entfesselte und auf die neuen nationalen Institutionen in Frankfurt zeitweise einen beachtlichen politischen Einfluß ausüben konnte. 27 Sowohl die schweren wirtschaftlichen Krisen der vierziger Jahre, die von immer mehr Beobachtern auf die deutsche Rückständigkeit gegenüber England zurückgeführt wurden 28 , als auch die ab Mitte der vierziger Jahre zu23Ebd., S. 139. 24Friedrich List, Über den Wert und die Bedingungen einer Allianz zwischen Großbritannien und Deutschland, 10. August 1846, in: ders., Nachlese, hrsg. von Artur Sommer und Wilhelm Y. Sonntag (Friedrich List Schriften/Reden/Briefe, Bd. 9), Berlin 1935, S.146. 25 Karl Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, in: Marx-Engels- Werke, Bd. 1, Berlin 1972, S. 382. 26Friedrich List, Die politisch-ökonomische Nationaleinheit der Deutschen, hrsg. v. Friedrich Lenz u. E. Wiskemann. (Friedrich List, Schriften, Reden Briefe, Bd. 7), Berlin 1931, S. 378. 27 Hierzu ausführlich Heinrich Best, Interessenpolitik und nationale Integration 1848/49. Handelspolitische Konflikte im frühindustriellen Deutschland. Göttingen 1980. 28Ygl. etwa Bruno Hildebrand, Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, 1848. Neu hrsg. von Hans Gehrig. Jena 1922, S. 137 ff.

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mindest in den Führungsgregionen der deutschen Industrialisierung nicht mehr zu übersehende Beschleunigung der wirtschaftlichen Wachstumsprozesse ließen das Gewicht der wirtschaftsnationalen Komponente innerhalb der deutschen Nationalbewegung deutlich anwachsen. Dies zeigte sich nicht nur in der Agitation von Friedrich List, die ihre Hauptresonanz eher in Süddeutschland hatte, sondern auch in der Industrialisierungsdebatte des rheinischen Wirtschaftbürgertums, dessen Hauptvertreter in der deutschen Nationalbewegung der vierziger Jahre eine wichtige Rolle spielten. Schon in den dreißiger Jahren setzte sich, begünstigt durch den beginnenden Eisenbahnbau in wichtigen Teilen des rheinischen Wirtschaftsbürgertums ein neues Industrialisierungsparadigma durch. "An die Stelle der Erfahrungen der vergangenen drei Jahrhunderte, daß 'Handelsindustrien' instabil waren und gewerbliche Expansionsphasen bald in Stagnation oder Deindustrialisierung enden konnten, daß schließlich die Knappheit der Ressourcen die Grenzen der Expansion vorgab, trat die Erwartung eines anhaltenden Wachstums und einer 'Emanzipation' der Produktion aus den Zwängen der Natur."29 Dieses Industrialisierungsparadigma kam in den vierziger Jahren innerhalb des rheinischen Wirtschaftsbürgertums auf breiter Front zum Durchbruch. Man entwickelte nun über die regionalen Interessen hinaus die Ziel vision einer "nationalen Gesamtindustrie" , die Deutschland nach außen konkurrenzfähig machen und zugleich nach innen das Mittel zur Eindämmung der Massenarmut bereitstellen sollte. Da auch hier wie bei List der zielstrebigen Förderung dieses Anliegens durch einen vom Bürgertum mitbestimmten Staat eine große Bedeutung zukam, bestand ein enger Zusammenhang zwischen Industrialisierungs-, Verfassungs- und nationaler Einigungspolitik. Dieser kam nicht zuletzt in den Ausbauplänen des Zollvereins zum Ausdruck, den gerade maßgebliche Vertreter des rheinischen Wirtschaftsbürgertums propagierten. So schlug David Hansemann auf der Heppenheimer Versammlung süd- und westdeutscher Liberaler im Oktober 1847 vor: "Das Ziel der Einigung Deutschlands zu einer deutschen Politik und gemeinsamen Leitung und Pflege nationaler Interessen werde wohl eher erreicht, wenn man die öffentliche Meinung für die Ausbildung des Zollvereins zu einem deutschen Vereine gewinne."3o Nach diesen Vorstellungen, denen sich die Majorität der Heppenheimer Versammlung anschloß, sollten die Konferenzen der Zollvereinsregierungen durch 29 Rudolf Boch, Grenzenloses Wachstum? Das rheinische Wirtschaftsbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte 1814-1857. Göttingen 1991, S. 286. 30Kari Mathy, Bericht über die Heppenheimer Tagung am 10. Oktober 1847, in: Vormärz und Revolution 1840-1849, hrsg. v. Hans Fenske, Darmstadt 1976, S. 241. Vgl. auch Kurt Düwell, David Hansemann als rheinpreußischer Liberaler in Heppenheim 1847, in: Liberalismus, hrsg. v. W. Schieder, S. 295-311.

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ein Zollparlament ergänzt werden, das die Vereinspolitik kontrollieren und zugleich Wege zur politischen Einheit bahnen sollte. Obwohl der Zollverein in den vierziger Jahren nicht in der Lage war, der Pauperismuskrise wirksam entgegenzusteuern und seine Politik keineswegs ungeteilten Beifall der öffentlichen Meinung fand, wurde der unter Preußens Führung stehende handelspolitische Einigungsprozeß von den Kräften der liberalen und nationalen Bewegung jetzt eindeutig als großer Fortschritt begrüßt, hinter den man nicht mehr zurückfallen durfte. Der Zoll verein , der zunächst aus ureigenen Interessen der beteiligten Staaten zustandegekommen war und die Nationalbewegung nach dem Willen der beteiligten Regierungen sogar aufhalten sollte, wurde vielmehr von großen Teilen der Nationalbewegung als wichtiges Mittel angesehen, um den Weg zur politischen Einheit entscheidend zu beschleunigen. Während der Deutsche Bund für viele nur noch Repression und Stagnation verkörperte, signalisierte der Zoll verein eine Dynamik, die zu weiteren Hoffnungen Anlaß gab und die man für die Einigungspolitik nutzen wollte. Hoffmann von Fallersleben schrieb beispielsweise schon 1840 in seinem Gedicht "Der deutsche Zollverein" zu dem mit dem Zollverein geknüpften neuen Band der materiellen Interessen: ,,Denn ihr habt ein Band gewunden um das deutsche Vaterland, und die Herzen hat verbunden, mehr als unser Bund dies Band. ,,31

Wenige Jahre später betonte der Braunschweiger Liberale Steinacker: "Der Zollverein ist nun einmal vorzugsweise die Idee der Einheit geworden, und in seiner Mitte wird sie sich mit immer größerer Kraft entwickeln. Man wird sich immer mehr daran gewöhnen, namentlich im Auslande, unter Deutschland hauptsächlich das Zollverbündete zu sehen. ,,32 Die Kräfte der Nationalbewegung maßen dem Zollverein nicht nur für den wirtschaftlichen Aufschwung und die innere politische Verklammerung der Nation eine große Bedeutung zu, viele betonten auch bereits seine Auswirkungen auf die machtpolitische Stellung Deutschlands, der man innerhalb der nationalen Bewegung nun eine wachsende Beachtung schenkte. 1840 schrieb hier der junge Gustav Mevissen: "Preußen gebührt das große Verdienst, das tiefste Bedürfnis deutscher Lande zuerst gewürdigt und erkannt zu haben. Preußen schuf den Zollverein, dem wir schon heute eine 31 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Ausgewählte Werke in vier Bänden, hrsg. von H. Benzmann, Bd. 2, Leipzig o. J., S. 91 f. 32Karl Steinacker, Die politische und staatsrechtliche Entwickelung Deutschlands durch den Einfluß des Zollvereins, Braunschweig 1844, S. 36.

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politische Kraft Deutschlands danken, wie sie vor einem Jahrzehnt kaum jemand zu denken gewagt hätte."33 Zur gleichen Zeit sprach Friedrich List die Hoffnung aus, daß der Zoll verein und die von ihm geförderte industrielle Entwicklung ein auch politisch geeintes Deutschland zu einer wirklichen europäischen Großmachtstellung führen werde, von der sogar eine wirtschaftliche Sogwirkung auf Staaten ausgehen werde, die wie Dänemark und Holland außerhalb der Grenzen des Deutschen Bundes lagen. 34 Insgesamt kann man festhalten, daß sich sowohl das zunächst außerordentlich starke Gefühl wirtschaftlicher Rückständigkeit als auch die dann seit den dreißiger, vor allem aber seit Mitte der vierziger Jahren einsetzenden industriellen Entwicklungsprozesse bereits nachhaltig auf die vormärzliche Nationalbewegung niederschlugen. Das Streben nach dem Nationalstaat läßt sich allerdings keineswegs auf den Wunsch nach weiteren wirtschaftlichen Erfolgen reduzieren. Das romantische Ideal der Kulturnation, die liberalen Vorstellungen von der Staatsnation oder auch die in der Rheinkrise von 1840 hervortretenden außenpolitischen Aspekte waren für die Begründung des deutschen Nationalstaates noch wichtiger als die ökonomischen Zielsetzungen. 35 Dennoch fiel den brennenden Problemen der wirtschaftlichen und sozialen Modernisierung innerhalb des vormärzlichen Nationalismus eine wachsende Bedeutung zu. 36 Die Industrialisierung und die mit ihr einhergehende, besonders durch den Eisenbahnbau beschleunigte Verdichtung der Kommunikation 37 sowie die mit dem Zollverein erreichte erste Stufe eines wirtschaftlichen Einigungsprozesses gaben der Nationalbewegung wichtigen Rückhalt bei der Verfolgung ihrer Ziele. Die Revolution von 1848/49 zeigte zwar, daß die neuen Konstellationen noch nicht so weit entwickelt waren, um dem National- und Verfassungsstaat zum Durchbruch zu verhelfen. Dennoch war das große Gewicht, das den materiellen Interessen in diesem Zusammenhang zufiel, für viele Beobachter unverkennbar. So schrieb der österreichische Diplomat von Handel rückblickend zur Bedeutung der vom Zoll verein geförderten wirtschaftlichen, bürokratischen und politischen Verflechtungen: "Die Ereignisse des 33 Joseph Hansen, Gustav von Mevissen. Ein rheinisches Lebensbild 1815-1899, Bd. 2, Berlin 1906, S. 84. 34List, Das Nationale System, S. 211. Vgl. auch Henderson, List, S. 121 ff. 35Zur Nationalbewegung der vierziger Jahre und den sie bestimmenden Ideen vgl. die umfangreiche Literatur zusammenfassend Elisabeth Fehrenbach, Verfassungsstaat und Nationsbildung 1815-1871. München 1993. Ferner Qtto Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770-1990. München 1993, S. 78 ff. 36Vgl. hierzu Robert M. Berdahl, Der deutsche Nationalismus in neuer Sicht, in: Winkler (Hrsg.), Nationalismus, S. 138-154, hier S. 147. 37 Gerade Friedrich List maß dem Eisenbahnbau, den er als "siamesischen Zwilling" des Zoll vereins bezeichnete, große Bedeutung für das Zusammenwachsen der deutschen Nation bei. Vgl. Henderson, List, S. 143 fl'.

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Jahres 1848 beweisen wohl am besten, welch fester Kitt in der Verschmelzung der materiellen Interessen zu finden ist. Verfassungen, Dynastien und der Deutsche Bund selbst wurden durch jene Ereignisse weg geschwemmt , aber der Deutsche Zollverein wurde durch die Revolution kaum erschüttert, keineswegs aber zerstört. ,,38 Darüber hinaus ließ die bereits erreichte und Anfang der fünfziger Jahre durch den Anschluß des norddeutschen Steuervereins noch ausgebaute Wirtschaftseinheit den Zoll verein für den Großteil des politisch gescheiterten Bürgertums als "die einzig lebensfähige Gestaltung" erscheinen, die Deutschland in seinen nationalen Angelegenheiten aufzuweisen hatte. 3g Manche Liberale griffen daher nach dem Scheitern der weitergehenden Hoffnungen wieder auf die 1847 schon einmal diskutierten Pläne zurück, dem Zollverein "Rechte und Pflichten einer gemeinsamen Vertretung" einzufügen und auf diese Weise zu einer "größeren politischen Einigung" zu gelangen. 40 Zwar konnte dies angesichts der starken Position, die die Kräfte der alten Ordnung zu Beginn der fünfziger Jahre erlangt hatten, auch jetzt nicht realisiert werden. Aber schon wenige Jahre später sollte sich das Gewicht der wirtschaftlichen Interessen und Verflechtungen immer stärker zugunsten der deutschen Nationalbewegung niederschlagen. Nachdem die deutsche Wirtschaft schon Mitte der vierziger Jahre einen kurzen industriellen Wachstumszyklus zu verzeichnen gehabt hatte, der 1847 wieder abgebrochen war, standen die fünfziger Jahre ganz im Zeichen einer raschen Entfaltung der neuen Wachstumskräfte. Vor allem die Jahre 1854 bis 1857 waren von einem bemerkenswerten Aufschwung der Industrie gekennzeichnet, der vor allem vom schwerindustriellen Führungssektor getragen wurde und sich nach einer kurzen Unterbrechung im Krisenjahr 1857 bis zu Beginn der siebziger Jahre fortsetzen sollteY Obwohl davor gewarnt worden ist, das Tempo und das Ausmaß in dieser wichtigen Industrialisierungsphase zu überschätzen 42 , bleibt doch festzuhalten, daß die deutsche Wirtschaft in jenen beiden Jahrzehnten eine bis dahin nicht gekannte Dynamik entwickelte. Der 38S0 rückblickend der österreichische Diplomat Handel am 12.4.1862, in: Vor 1866. Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik der deutschen Mittelstaaten, hrsg. v. Helmut Böhme, Frankfurt a. M. 1966, S. 49. 39 So ein hessen-darmstädtischer Abgeordneter im Jahre 1852. Zitiert nach HansWerner Hahn, Wirtschaftliche Integration im 19. Jahrhundert. Die hessischen Staaten und der Deutsche Zollverein. Göttingen 1982, S. 254 f. 40So der nassauische Liberale Hergenhahn 1849. Zitiert nach Hahn, Wirtschaftliche Integration, S. 255. 41 Reinhard Spree, Die Wachstumszyklen der deutschen Wirtschaft von 1840 bis 1880. Berlin 1977. 42Hartmut Kaelble, Der Mythos von der rapiden Industrialisierung in Deutschland, in: Geschichte und Gesellschaft 9, 1983, S. 106-118.

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industrielle Aufschwung konnte auch für die politischen Auseinandersetzungen nicht folgenlos bleiben. Gewiß trugen auch günstige internationale Rahmenbedingungen wie die Goldfunde in Kalifornien und die wachsenden weltwirtschaftlichen Verflechtungen zu dem schnelleren Wachstum der deutschen Wirtschaft bei; und zudem wirkten sich auch wirtschaftspolitische Maßnahmen der Regierungen günstig aus, die nach 1848/49 gegenüber den bürgerlichen Kräften ihren politischen Repressionskurs durch die stärkere Förderung der wirtschaftlichen Belange abzumildern versuchten. Der entscheidende Träger der neuen Entwicklungen war jedoch das Bürgertum, das sich nach der politischen Niederlage nun verstärkt dem wirtschaftlichen Engagement zuwandte. Auf diesem Sektor hatten die bürgerlichen Kräfte ja längst die führende Rolle übernommen, und der weitere wirtschaftliche Fortschritt mußte langfristig das politische Gewicht des Bürgertums und damit auch die Chance zur Durchsetzung seiner national politischen Zielsetzungen ver bessern. 43 "Die eigentlichen Revolutionen", so konnte man es in den bürgerlichen Zeitungen lesen, fänden nun "im Hafen, im Handel, in den Wirtschaftsbeziehungen, in den Kontoren und Fabriken statt und von da ausgehend in der Struktur der Gesellschaft, schließlich dann auch, ganz unvermeidlich, in der des Staates."44 Das durch solchen Fortschrittsoptimismus geprägte Bürgertum begann folglich auch schon Ende der fünfziger Jahre, seine verfassungs- und nationalpolitischen Forderungen mit neuem Selbstbewußtsein vorzutragen. Dabei trat der Zusammenhang zwischen den wirtschaftlichen Interessen und national politischen Ansprüchen noch viel deu tlicher hervor, als dies in den vierziger Jahren der Fall gewesen war. Schon die allgemeine Hinwendung zur sogenannten Realpolitik 45 , die sich nicht mehr nur an Programmen und Idealen orientieren, sondern eben von den Realitäten ausgehen wollte, lenkte den Blick stärker auf die "materiellen Interessen". "Die Begriffe 'Volkswirtschaft' oder 'Industrie' schlichen sich in fast alle neuen Verlautbarungen der deutschen Nationalbewegung ein" .46 Hinzu kam, daß der wirtschaftliche Aufschwung und die mit ihm einhergehende Intensivierung der binnen- und außenwirtschaftlichen Verflechtungen einen Regelungsbedarf erzeugte, der unter den Strukturen des Deutschen Bundes nur schwer zu erfüllen war und deshalb den Ruf nach nationalpolitischen Fortschritten ebenso lauter werden ließ wie die Kri43ZU den skizzierten Entwicklungen der fünfziger Jahre vgl. Wolfram Siemann, Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849-1871. Frankfurt a. M. 1990. 44 Lothar Gall, Bürgertum in Deutschland. Berlin 1989, S. 337. 45Ludwig von Rochau, Grundsätze der Realpolitik angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands. Stuttgart 1853, neue Ausgabe hrsg. von Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt a. M. 1972. 46 James, Deutsche Identität, S. 86.

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tik an der Fortexistenz der deutschen Kleinstaaterei. Gerade in dieser Kritik wird deutlich, wie sehr sich inzwischen der industrielle Fortschritt auf die Programmatik der Nationalbewegung niederschlug. Kar! Braun, der Führer der nassauischen Fortschrittspartei und einflußreiches Mitglied mehrerer wichtiger Organisationen der Nationalbewegung, schrieb rückblickend über den seiner Ansicht nach anachronistischen Kleinstaat der Reichsgründungszeit: "Seine Ohnmacht wurde darin offenbar, als der moderne Verkehr Anstalten erforderte, die innerhalb der künstlichen Schranken bunter Vielherrschaft nicht errichtet werden konnten. Dampfmaschinen, Eisenbahnen und Telegraphen haben, weil sie den Blick und Willen für große Beziehungen des Staatslebens erforderten, die meisten unserer Kleinstaaten in nicht geringerem Maße zerstört wie die geräuschvollen Vorgänge, die man sonst unter dem Begriff geschichtlicher Actionen begreift. "47 Durch diese stärkere Orientierung an den wirtschaftlichen Erfordernissen, gesellschaftlichen Interessen und politischen Realitäten verstärkte sich in weiten Teilen der Ende der fünfziger Jahre wiederauflebenden Nationalbewegung die Hinwendung zu jenem deutschen Staat, der schon seit Jahrzehnten die Führungsrolle im wirtschaftlichen Einigungsprozeß innehatte. Gewiß war diese Anlehnung an Preußen nicht allein die Folge der ökonomischen Verflechtungen. Zudem wurde sie in der Reichsgründungszeit keineswegs von der gesamten deutschen Nationalbewegung geteilt. Und vor allem muß man vor der Vorstellung warnen, daß sich der Großteil des deutschen Bürgertums aus wirtschaftlichen Motiven dem preußischen Machtstaat unkritisch in die Arme warf. 48 Aber für das Zusammengehen von preußischem Machtstaat und dem Großteil der deutschen Nationalbewegung waren die wirtschaftlichen Interessen zweifellos ein wichtiges Fundament. Der preußische Staat hatte mit dem Zollverein nicht nur den Zielen der Nationalbewegung auf einem bedeutenden Feld entscheidend vorgearbeitet. Er verfügte über mehrere große industrielle Führungsregionen und damit über die neben Sachsen mit Abstand dynamischste Wirtschaft 49 , de47Karl Braun, Verkehrte Verkehrspolitik, in: ders., Bilder aus der deutschen Kleinstaaterei, Bd. 5, 2. Aufl. Hannover 1876, S. 71-89, hier S. 89. 48Hierzu Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland. Frankfurt a. M. 1988, S. 85 ff. 49Vgl. hierzu Friedrich Wilhe1m Henning, Die wirtschaftliche Integration Deutschlands im 19. Jahrhundert. Die Bedeutung Preußens für die Entstehung der deutschen Volkswirtschaft, in: Oswald Hauser (Hrsg.): Preußen, Europa und das Reich. Köln/Wien 1987, S. 295-322; Wolfgang Zorn, Wirtschafts- und sozialgeschichtliehe Probleme der deutschen Reichsgründungszeit, 1850-1879, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, 3. Aufl., Köln 1970, S. 254-270. Zur regionalen Wirtschaftsentwicklung jener Zeit ferner Hubert Kiesewetter, Regionale Industrialisie-

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ren weiterer Aufschwung auch andere deutsche Regionen mitziehen konnte. Preußen betrieb ferner auch nach innen eine für viele vorbildliche Wirtschaftspolitik, die vor allem seit den fünfziger Jahren den industriellen Aufschwung begünstigte. Ein von Preußen geführter deutscher Nationalstaat bot somit im Unterschied zum wirtschaftlich zurückgebliebenen Österreich für viele Anhänger der Nationalbewegung bessere Voraussetzungen für die wirtschaftliche Prosperität, die dem angestrebten raschen Zusammenwachsen der Nation zugute kommen mußte. Als das Preußen der Neuen Ära Ende 1858 auch offen erkennen ließ, daß es bereit war, die wirtschaftlichen Verflechtungen zu einer Politik der "moralischen Eroberungen" einzusetzen und mit ihrer Hilfe auch den politischen Einigungsprozeß voranzutreiben 50, stellte sich ein großer Teil der wiederauflebenden Nationalbewegung zunächst einmal hinter diese Politik. Dies galt in besonderem Maße für den 1858 gegründeten "Kongreß deutscher Volkswirte", dem neben Akademikern und Journalisten auch Bankiers, Kaufleute und Industrielle angehörten und der personell eng mit dem ein Jahr später gegründeten deutschen Nationalverein sowie der 1861 gegründeten liberalen Fortschrittspartei verflochten war. 51 Der unter der Federführung des Bremer Redakteurs Victor Böhmert gegründete Volkswirtekongreß vertrat ein Programm, das man auf zwei Kernforderungen reduzieren kann: Nationalstaat und Freihandel. Während in den vierziger Jahren angesichts schwerer Wirtschaftskrisen und dem Gefühl großer Rückständigkeit die wirtschaftlichen Interessen der nationalen Kräfte noch ganz auf Schutzzölle ausgerichtet waren, dominierte nun im Zeichen einer bis dahin nicht gekannten industriellen Expansion die Freihandelsrichtung. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung, den wachsenden Exporterfolgen auf dem Weltmarkt und der Anerkennung, die deutsche Industrieerzeugnisse auf den seit 1851 inszenierten Weltausstellungen fanden, hatte nicht nur das Vertrauen in die Kraft der eigenen Volkswirtschaft erheblich zugenommen, vielmehr waren die Mitglieder des Volkswirtekongresses der Überzeugung, daß die konsequente Anwendung wirtschaftsliberaler Prinzipien nach innen und nach außen dem weiteren Wachstum der deutschen Wirtschaft am besten dienen würde. Deshalb wurde neben einer liberalen Außenhandelspolitik auch die konsequente Berung in Deutschland zur Zeit der Reichsgründung. Ein vergleichend-quantitativer Versuch, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 73, 1986, S. 38-60. 50Zu den Hintergründen und folgenden Auseinandersetzungen ausführlich Helmut Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848-1881,2. Aufl. Köln 1962. 51 Hierzu Andreas Biefang, Politisches Bürgertum in Deutschland. Nationale Organisationen und Eliten 1857-1868. Düsseldorf 1994.

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seitigung aller rechtlichen und institutionellen Hindernisse gefordert, die innerhalb Deutschlands der freien wirtschaftlichen Entfaltung noch entgegenstanden. Da all dies war aber "nur in einem größeren staatlichen Rahmen zu verwirklichen war, verband sich die Forderung nach freihandel mit dem Wunsch nach einem machtvollen deutschen Nationalstaat" .52 Der wirtschaftlich motivierte Wunsch nach dem Nationalstaat kam schließlich auch in den Reformforderungen zum Ausdruck, die der 1861 erstmals zusammentretende Deutsche Handelstag, das "Organ des gesamten deutschen Handels- und Fabrikstandes" entwickelte. Auch dieser nationale Zusammenschluß der Handelskammern trat mehrheitlich für eine freihändlerische Politik und eine von Preußen geführte nationale Einigungspolitik ein. Bemerkenswert war, daß diese wichtige nationale Vertretung wirtschaftsbürgerlicher Interessen gleich 1861 wieder auf die alten Reorganisationspläne des Zollvereins zurückgriff. So sollten die jährlichen Generalkonferenzen des Zollvereins, auf denen nur Regierungsvertreter wirkten, durch ein Zoll parlament ergänzt und auf beiden Ebenen dann die Möglichkeit von Majoritätsentscheidungen geschaffen werden. 53 Mit einer solchen Reform hoffte man über die wirtschaftliche Integration einen Evolutionsprozeß einleiten zu können, an dessen Ende die deutsche Nationaleinheit stand. Zu Beginn der sechziger Jahre schienen die Aussichten für einen solchen friedlichen Weg zum Nationalstaat nicht die schlechtesten zu sein. Das anhaltende Wirtschaftswachstum trug erstens zu einer weiteren Stärkung der am stärksten hinter der Nationalstaatsidee stehenden bürgerlichen Kräfte bei. Es führte zweitens zu einer weiteren Verdichtung der wirtschaftlichen Integration im kleindeutschen Rahmen. 54 Und es stärkte drittens die machtpolitische Position Preußens, weil mit diesen Integrationsprozessen die wirtschaftliche Abhängigkeit der übrigen Zollvereinsstaaten immer größer wurde und weil der große machtpolitische Konkurrent Österreich mit der schnelleren wirtschaftlichen Entwicklung in Preußen nicht mehr 52Hans-Peter Ullmann, Interessenverbände in Deutschland. Frankfurt a. M. 1988, S. 56. Ausführlich zum Kongreß deutscher Volkswirte Volker Hentschel, Die deutschen Freihändler und der volkswirtschaftliche Kongreß 1858 bis 1885. Stuttgart 1975; Biefang, Politisches Bürgertum. 53Vgl. hierzu Roland Zeise, Zur Genesis und Funktion der deutschen Handelskammern und des Deutschen Handelstages bis zur Reichsgründung 1871, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1976, IV, S. 63-81; ders., Die Rolle des Zollvereins in den politischen Konzepten der deutschen Bourgeoisie von 1859 bis 1866, in: Hans Bleiber (Hrsg.), Bourgeoisie und bürgerliche Umwälzung in Deutschland 1789-1871. Karl übermann zum 70. Geburtstag. Berlin 1977, S. 433-455. 54 V gl. Wolfgang Zorn, Die wirtschaftliche Integration Kleindeutschlands in den 1860er Jahren und die Reichsgründung, in: Historische Zeitschrift 216, 1973, S. 304-334.

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mithalten konnte. Wie bedrohlich die österreichische Seite diese Tendenzen empfand, zeigten die noch einmal intensivierten Bemühungen, durch eine große mitteleuropäische Zollunion endlich den preußischen Vorsprung bei der Regelung der handelspolitischen Fragen zu egalisieren. Preußen hat diesen Kurs vor allem seit dem Regierungsantritt Bismarcks 55 erfolgreich bekämpft: Es schloß 1862 einen Handelsvertrag mit Frankreich, durch den es den Anschluß an die westeuropäische Freihandelspolitik gewann. Österreich war wegen seiner weniger entwickelten Wirtschaft noch nicht in der Lage, sich diesem Liberalisierungskurs anzuschließen und konnte am Ende auch nicht verhindern, daß Preußen die neue Handelspolitik innerhalb des Zollvereins auch mit kräftiger Unterstützung weiter Teile der Nationalbewegung bis Herbst 1864 durchsetzte. 56 Dieser Erfolg ist auch als das "handelspolitische Königgrätz"57 bezeichnet worden, weil mit der Erneuerung des Zollvereins zu den von Preußen gesetzten Bedingungen Österreich für eine weitere lange Zeitspanne vom handelspolitischen Einigungsprozeß Deutschlands ausgeschlossen blieb. Damit war auch im preußisch-österreichischen Ringen um die politische Vormachtstellung zweifellos eine wichtige Vorentscheidung gefallen. Dennoch gab es weder jetzt noch nach der militärischen Entscheidung von 1866, als Bismarck im Hinblick auf die Integration der süddeutschen Staaten in den Norddeutschen Bund vergeblich auf das neue Zollparlament setzte 58 , einen Automatismus zwischen der zollpolitischen und der politischen Einigung. Die Wirtschaftsfragen waren nicht der alles dominierende Faktor der Reichsgründungszeit, und die wichtigsten Entscheidungen in der deutschen Einheitsfrage fielen am Ende auf dem militärpolitischen Felde. Trotzdem haben die neuen, durch die heraufziehende industrielle Welt bestimmten wirtschaftlichen Prozesse sowie die damit verbundenen materiellen Interessen in Gesellschaft und Staat nachhaltig auf die Entstehung eines deutschen Nationalstaates eingewirkt. 59 Die unter Bismarcks Regie ablaufende "Revolution von oben" war in dieser Form nur möglich durch die in letzter Zeit von der Forschung wieder 55Z ur Bedeutung der Zollpolitik in Bismarcks Strategie vgl. vor allem Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär. Frankfurt a. M. 1980; Alfred Meyer, Der Zoll verein und die deutsche Politik Bismarcks. Eine Studie über das Verhältnis von Wirtschaft und Politik im Zeitalter der Reichsgründung. Frankfurt a. M. 1984. 56 Ausführlich hierzu Böhme, Deutschlands Weg. Knapper Überblick bei Hahn, Zollverein, S. 165 ff. 57 Heinrich Benedikt, Die wirtschaftliche Entwicklung in der Franz-Joseph-Zeit, in: Wiener Historische Studien, Bd. 4, 1958, S. 58. 58 Zu den Widerständen der Süddeutschen vgl. etwa Joachim Schmidt, Bayern und das Zollparlament. Politik und Wirtschaft in den letzten Jahren vor der Reichsgründung (1866/67-1870). Zur Strukturanalyse Bayerns im Industriezeitalter. München 1973. 59 Einen guten Überblick über die neueren Forschungen zur wirtschaftlichen Dimension der deutschen Frage bietet Anselm Doering-Manteuffel, Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815-1871. München 1993, S. 108 ff.

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stärker betonten Prozesse der "inneren Reichsgründung"60, zu denen auch die wirtschaftlichen Entwicklungen und ihre gesellschaftlichen und politischen Folgen gehörten. Ob sich letztere aber fortan so stark auf die Identität des deutschen Nationalstaates niederschlugen, daß ein wirtschaftspolitisch geprägter deutscher Sonderweg entstand, der in "einem übermäßigen Vertrauen auf die Wirtschaft" bei der Lösung politischer Probleme zum Ausdruck kam 61 , scheint doch eine etwas einseitige Sicht zu sem.

Schluß Die deutsche Nationalstaatsgründung erhielt wichtige Impulse vom gleichzeitig stattfindenden Durchbruch der Industriellen Revolution, und sie gab umgekehrt den angelaufenen Wachstumsprozessen einen weiteren Schub, ehe die Entwicklung 1873 in eine schwere Wirtschaftskrise münden sollte. Die hinter der nationalen Bewegung stehenden Kräfte hatten an beiden Prozessen maßgeblichen Anteil. Das Bürgertum trieb die Industrialisierung voran und gewann aus ihr zusätzliche Kraft, um die eigenen politischen Interessen wirksamer zu artikulieren. In politischer Hinsicht blieben wesentliche verfassungspolitische Forderungen unerfüllt, schritt die Entwicklung - anders als zunächst gehofft - nach der nationalen Einigung nicht mehr entscheidend voran. In wirtschaftlicher Hinsicht setzte sich die Erfolgsgeschichte trotz des Konjunktureinbruchs von 1873 weiter fort, entwickelte sich der preußisch-deutsche Nationalstaat zur führenden Industriemacht Europas. Der Blick auf die deutsche Entwicklung wirft abschließend die Frage auf: War die seit den vierziger Jahren so stark hervortretende wirtschaftsnationale Komponente eine "geeignete Ideologie der Industrialisierung", die mithalf, das "geistige und emotionale Räderwerk der Industrialisierung in Gang zu setzen", wie dies Gerschenkron 62 betont hat? Die Antwort fällt nicht eindeutig aus. Auf der einen Seite mögen die Beschwörung vergangener Prosperitätsphasen der deutschen Wirtschaftsgeschichte und die in die Zukunft weisenden wirtschaftsnationalen Parolen eines Friedrich List durchaus dazu beigetragen haben, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu stärken und Entwicklungspotential zu mobilisieren. Der wachsende Stolz auf eine auch international an Ansehen gewinnende deutsche Technik ist in diesem Zusammenhang nicht zu überschätzen. 63 Auch 60Vgl. Fehrenbach, Verfassungsstaat, S. 109 ff. 61 So James, Deutsche Identität, S. 290. 62 Gerschenkron, Wirtschaftliche Rückständigkeit, S. 135 f. 63Hierzu Joachim Radkau, Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt a. M. 1989, S. 115 ff.

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Schutzzölle haben in der richtigen Dosierung durchaus wichtige Anstöße gegeben. 64 Auf der anderen Seite aber sollte man die entwicklungsfördernden Anstöße des Wirtschaftsnationalismus auch nicht überschätzen 65 und die von ihm ausgehenden Gefahren nicht übersehen. Die neuere Forschung hat überzeugend nachgewiesen, daß die deutsche Industrialisierung bei einer strengen Befolgung der Listschen Konzepte nicht schneller, sondern langsamer vorangekommen wäre, weil Deutschland sowohl vom billigen Bezug dringend benötigter englischer Erzeugnisse als auch vom ebenso wichtigen Technologietransfer abgeschnitten worden wäre. 66 Die nur durch maßvolle Zölle eingeschränkte Konkurrenzsituation war dem Industrialisierungstempo weit förderlicher als eine durch staatliche Eingriffe geschaffene Treibhaussituation. Darüber hinaus hat Friedrich List die Bedeutung des Nationalstaates für die industrielle Entwicklung weit überschätzt. Die neuere wirtschaftshistorische Forschung hat immer wieder hervorgehoben, daß die Industrialisierung nirgendwo in Europa ein nationalstaatliches, sondern in erster Linie ein regionales Phänomen war. 67 Regionale Industrialisierung verzeichnete in Deutschland lange vor der N ationalstaatsgründung beträchtliche Erfolge. 68 Sie machte im übrigen oft auch keinen Halt vor bestehenden Staatsgrenzen. Die entscheidenden Impulse des Industrialisierungsprozesses können folglich nicht im staatlichen Bereich gesucht werden. Darüber hinaus dürfen die Gefahren, die ein Appell an wirtschaftsnationale Gefühle für die politische Kultur im Inneren wie für den Umgang mit den Nachbarstaaten mit sich bringt, nicht übersehen werden. Dies 64Vgl. am Beispiel der Eisenzölle von 1844 Rainer Fremdling, Technologischer Wandel und internationaler Handel im 18. und 19. Jahrhundert. Die Eisenindustrien in Großbritannien, Belgien, Frankreich und Deutschland. Berlin 1986. 65Die Gefahren einer Überschätzung betont besonders Karl Hardach, Nationalismus - Die deutsche Industrialisierungsideologie? Köln 1976. 66Vgl. Richard Tilly, Los von England: Probleme des Nationalismus in der deutschen Wirtschaftsgeschichte, in: ders., Kapital, Staat und sozialer Protest in der deutschen Industrialisierung. Gesammelte Aufsätze. Göttingen 1980, S. 197-209 und ders., Soll und Haben I.: Probleme der wirtschaftlichen Entwicklung in der neueren deutschen Wirtschaftshistoriographie, in: ebd., S. 210-227. 67 V gl. vor allem Sidney Pollard, Industrialization and the European Economy, in: The Economic History Review 26, 1973, S. 636-648; ders. (Hrsg.), Region und Industrialisierung. Studien zur Rolle der Region in der Wirtschaftsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte. - Region and Industrialization. Studies on the Role of the Region in the Economic History of the Last Two Centuries. Göttingen 1980; ders., Peaceful Conquest. The Industrialization of Europe 1760-1970. Oxford 1981, S. 111 ff. 68 Zur regionalen Industrialisierung in Deutschland vgl. vor allem Hubert Kiesewetter, Erklärungshypothesen zur regionalen Industrialisierung in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 67, 1980, S. 305-333; ders., Regionale Industrialisierung in Deutschland zur Zeit der Reichsgründung. Ein vergleichend-quantitativer Versuch, in: ebd. 73, 1986, S. 38-60; ders., Die Industrielle Revolution in Deutschland 1815-1914. Frankfurt a. M. 1989, S. 305 ff. 4 Timmcrmann

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bestätigt vor allem der Blick in die deutsche Geschichte nach 1873, als Lists Werk erst in vollem Umfang nationale Geltung erlangte und nun als Argumentationshilfe für die Wende zur Schutzzollpolitik herhalten mußte. Die wirtschaftsnationale Parole wurde jetzt von Kräften gebraucht, die wie vor allem die preußischen Junker der Nationalstaatsgründung ablehnend gegenübergestanden hatten und die anders als die nationalen Kräfte vor 1871 mit ihren wirtschaftlichen und politischen Forderungen die wirtschaftlichen Modernisierungsprozesse eher behinderten statt förderten. 69 Die möglichen wirtschaftlichen Fehlsteuerungen und die Mißbrauchsmöglichkeiten sollten davor warnen, die Modellwirkung des vor allem von List propagierten wirtschaftsnationalen Konzeptes für heutige Industrialisierungsprozesse 7o in der dritten Welt zu überschätzen.

69S0 schrieb Ludwig Bamberger, einer der führenden Liberalen der Reichsgründungszeit und Vorkämpfer deutscher Wirtschaftseinheit, 1888: "Das nationale Banner in der Hand der preußischen Ultras und der sächsischen Zunftler ist die Karikatur dessen, was es einst bedeutet hat, und diese Karikatur ist ganz einfach so zustande gekommen, daß die überwundenen Gegner sich das abgelegte Gewand des Siegers angeeignet und dasselbe nach ihrer Fasson gewendet, aufgefärbt und zurechtgestutzt haben, um als die lachenden Erben der nationalen Bewegung einherstolzieren zu können." Zitiert nach Winkler, Der Nationalismus, S. 14 f. 70Dies hebt vor allem Dieter Senghaas hervor. Ders., Weltwirtschaftsordnung und Entwicklungspolitik. Plädoyer für Dissoziation. Frankfurt a. M. 1977, S. 75 ff.

11. Entwicklung der Territorien 1. Mitteleuropa

Nationalbewußtsein und Nationswerdung der Slowaken 1848-1918 Von Jörg K. Hoensch Voraussetzungen Die Slowaken, deren friedliche Landnahme südlich des Karpatenkammes und nördlich der Donau im 5. und 6. Jh. keinen Niederschlag in schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen hat, waren keine staatsbildende Nation. Die Südslowakei mit dem Fürstensitz Nitra (Neutra) gehörte im 9. Jh. zwar zum mächtigen Großmährischen Reich, das aber nach seiner Schwächung durch innerdynastische Rivalitäten dem Ansturm der Magyaren nicht standhalten konnte; nach der Niederlage im Jahr 907 wurde das Siedlungsgebiet der Slowaken für 1000 Jahre in das ungarische Reich der St. Stefanskrone einbezogen, das seinerseits seit 1526 zur Habsburgermonarchie gehörte. Von der rd. eineinhalb Jahrhunderte währenden türkischen Besetzung Innerungarns blieb die Slowakei weitgehend verschont. Ihre seit dem 13. Jh. mehrheitlich von Deutschen bewohnten Berg- und Handelsstädte leisteten jedoch einen bedeutenden Beitrag bei der Rückeroberung des Landes. In der Geschichte Ungarns hat die heutige Slowakei, seit dem 17. Jh. allgemein als "Oberungarn" (Hungaria superior) bezeichnet, weder eine autonome Einheit gebildet noch politische Selbständigkeit besessen. Trotz der Bewahrung einer - aber in drei große Dialektgruppen aufgespaltenen - Volkssprache kam es unter den Slowaken nur im Ansatz zur Ausbildung eines eigenen Geschichtsbewußtseins, eigenständiger Traditionen oder geistig-kultureller Strömungen. Sie selbst nannten ihre Heimat allgemein "Bergland" (Horniaky) oder seltener "bergisches Ungarn" (Horne Uhersko), waren sich aber bewußt, daß sie "slowakisch" (po slovensky) sprachen. Erst der seit dem deutschbetonten Zentralismus Josephs 11. auflebende magyarische Nationalismus weckte in den ersten Jahrzehnten des 19. Jhs. bei der kleinen, meist dem Protestantismus entstammenden slowakischen Intelligenzschicht das Bestreben, ihr eigenes Kultur- und Volksleben selbständig zum Ausdruck zu bringen und

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sich dabei auch der Unterstützung des nationalbewußteren, geistig und sozioökonomisch differenzierteren Tschechenturns zu bedienen. Die mit der Grammatisierung durch den katholischen Dechanten Anton Bernmik in den 1780er Jahren eingeleitete Loslösung des slowakischen Idioms von der alt tschechischen Kirchensprache wurde mit der Erhebung des mittelslowakischen Dialekts zur slowakischen Schriftsprache durch L'udovit Stur um 1840 erfolgreich abgeschlossen. Junge Schriftsteller und Dichter verstanden es im Vormärz - aufbauend auf Jan Kollar und den Altertumsund Literaturforscher Pavel Josef Safai'ik - mit ihren erzieherischen Schriften unter den rd. 1,7 Mill. Slowaken im Ansatz einen Landespatriotismus zu vermitteln Unter der auf etwa 4000 Personen geschätzten Gruppe nationalbewußter Gebildeter l entwickelte sich wohl auch ein slowakisches Volksbewußtsein, wenn nicht gar ein Gefühl der Nationalindividualität der Slowaken. Da die Slowaken nicht auf staatsrechtliche und historische Argumente zurückzugreifen vermochten, wurde von den Sprechern der nationalen Bewegung das Nationalbewußtsein im Sinne der deutsch und gesamtslawisch orientierten romantischen Denkrichtung stets als Produkt des gesamten "Volkes" dargestellt und meistens nur gefühlsmaßig gedeutet. 2 Ohne die Vielzahl der dieses keimende Nationalbewußtsein bestimmenden gesellschaftlichen und ökonomischen Faktoren wirklich zur Kenntnis zu nehmen, wurde der Begriff der Nation "idealistisch" durch die Vorstellung eines einheitlichen und bäuerlichen Volkstums erweitert. Das slowakische Bauernvolk lebte vor 1848 noch in stark patriarchalisch-patrimonial geprägten ständischen Verhältnissen, abhängig und kontrolliert vom oberungarischen Adel, der sich politisch und bewußtseinsmäßig dem Slowakenturn entfremdet hatte, in der Heimat sich aber der Volkssprache bediente und seine Untertanen beeindruckte und beeinflußte. Die nationalpolitischen Initiativen 1848-1867

Auch als Ergebnis der mit zunehmender Intoleranz verfolgten staatspolitisch-verfassungsrechtlichen und dann sprachlichen Magyari-

lNach Ludwig von Gogolak: Die historische Entwicklung des slowakischen Nationalbewußtseins. Beiträge zur slowakischen Sozial- und Verfassungsgeschichte. In: Die Slowakei als mitteleuropäisches Problem in Geschichte und Gegenwart. München 1965, S. 79, "bestand die nationalbewußte slowakische Gruppe im ausgehenden Vormärz aus nicht mehr als 4 000 Personen". 2Peter Brock: The Siovak National Awakening: An Essay in the Intellectual History of East Central Europe. Toronto, Buffalo 1976; Ludwig von Gogoak: Beiträge zur Geschichte des slowakischen Volkes. Bd. 1: Die Nationswerdung der Slowaken und die Anfänge der tschechoslowakischen Frage (1526-1790). München 1963; Bd. 2: Die slowakische nationale Frage in der Reformepoche Ungarns (1790-1848). München 1969.

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sierungsbestrebungen3 konstituierten sich am 10. Mai des Revolutionsjahres 1848 erstmals rd. 50 Vertreter der slowakischen Führungsschicht - Pfarrer, Lehrer, Schriftsteller, Juristen, aber auch einige Repräsentanten des terrigenen, stark magyarisierten Mitteladels - in Liptovska Sväta Mikulas als selbstproklamierte slowakische Nationalversammlung. Sie verlangten den Zusammenschluß des slowakischen Volksgebiets als ethnopolitische Einheit im Rahmen des ungarischen Staates und - unter Berufung des auf die Sprache gegründeten Natur- und Volksrechts - die Übertragung der Verwaltung an die Landesbewohner; eine slowakisch-staatliche Eigenverwaltung auf territorialer Grundlage wurde aus politischen und wirtschaftlichen Gründen noch nicht für durchführbar gehalten. 4 Der Anspruch auf eine staatlich garantierte Autonomie im Gerichts-, Verwaltungsund Schulwesen sowie die administrative Trennung des magyarischen und des slowakischen Volks gebiets wurde mit dem Verlangen auf Einstellung gegenwärtiger und zukünftiger Magyarisierungsmaßnahmen sowie der Notwendigkeit einer slowakisch-sprachlichen Ausbildung der Volks- und Mittelschullehrer verknüpft. Mit der Aufnahme der Forderung nach völliger Abschaffung der Urbariallasten und nach Rückgabe des Bauernlandes durch die Grundherren wurde dem gleichzeitig ablaufenden sozialrevolutionären Gärungsprozeß Rechnung getragen - da die slowakischen Patrioten sonst jedoch kein überzeugendes Sozial programm entwickelten, unterstützten nur wenige Bauern eine von Josef Miloslav Hurban geführte Erhebung und schlossen sich eher der magyarischen Aufstandsarmee an, die Befreiung von Fron und Leibeigenschaft zu bringen verhieß.5 Bis 1868 entsprachen die moderaten Inhalte dieser Petition den politischen Zielen der Slowaken. Weitergehenden Initiativen wie dem austro3Ludwig Spohr: Die geistigen Grundlagen des Nationalismus in Ungarn. Berlin, Leipzig 1936; Endre Arato: Der ungarische Nationalismus und die nichtungarischen Völker (1780-1825), in: Annales Universitatis Scientiarum Budapestinensis. Sectio Historica 8 (1966), S. 71-113; ders.: A nemzetisegi kerdes törtenete Magyarorszagzon 1790-1848 (Die Geschichte der Nationalitätenfrage in Ungarn 1790-1848). 2 Bde., Budapest 1960. 4Jörg K. Hoensch (Hrsg.): Dokumente zur Autonomiepolitik der Slowakischen Volkspartei Hlinkas. München, Wien 1984, Nr. 1, S. 71-74. 5Daniel Rapant: Siovenske narodne povstanie roku 1848-49. Dejiny a dokumenty [Der slowakische Nationalaufstand d. J. 1848-49. Geschichte und Dokumente]. 5 Bde., Thn;ianskg Svätg Martin, Bratislava 1930-1967; Ronald V. Baumgarten: Siovakia's Role in the 1848 Revolution. Phil.Diss. Florida State University, Tallahassee 1982. Von einem einseitig magyarischen Standpunkt interpretierte die Entwicklung Lajos Steier: A tot nemzetisegi mozgalom törtenete 1848/49-ben [Geschichte der slowakischen Nationalbewegung L d. J. 1848/49]. 2 Bde., Budapest 1938. Die soziale Komponente berücksichtigte Endre Arato: Socialne motivy slovenskeho narodneho hnutia v rokoch 1845-1848 [Die sozialen Motive der slowakischen Nationalbewegung Ld.J. 1845-1848). Martin 1952.

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slawischen Föderationsplan Frantisek Palackgs 6 , nach dem der Slowakei die Rolle eines Teilgebiets des erneuerten böhmischen Staates innerhalb der Habsburgermonarchie zugewiesen wurde, oder den Vorstellungen Karel Havljc;ek-Borovskgs 7 , auf bürgerlich-radikaler Basis einen tschechischslowakischen Einheitsstaat mit politischer und sprachlicher Assimilation der beiden Völker zu errichten, wurde wegen wachsender Meinungsverschiedenheiten in der slowakischen Nationalbewegung eine Absage erteilt. Vor allem standen die Repräsentanten der die eindeutige Bevölkerungsmehrheit stellenden Katholiken, deren hohe und niedere Geistlichkeit ebenso wie die Honoratiorenschicht bereits stark magyarisiert war, den Initiativen des überwiegend von Protestanten gebildeten nationalen Lagers mit wachsenden Vorbehalten gegenüber. Nach der Militärintervention am 12. Juni 1848 machte auch das ungarische Revolutionsregime deutlich, daß es bestenfalls zur Respektierung der allgemeinen bürgerlichen Freiheitsrechte, nicht aber zur Anerkennung der nationalen Ansprüche der NichtMagyaren bereit war. 8 Als sich die militärische Niederlage der aufständischen Ungarn im Frühsommer 1849 abzuzeichnen begann, wußte der rechtzeitig in das kaisertreue Lager zurückgekehrte magyarische oder magyarisierte AdelOberungarns seine politische und sozioökonomische Vorrangstellung in die Restaurationsperiode hinüberzuretten. In den Folgejahren hatte sich das habsburgische Gesamtministerium einer durchgreifenden Regelung der Nationalitätenproblematik verschlossen und mit absolutistisch-administrativen Mitteln (Oktroy der MärzVerfassung 1849, Silvesterpatent 1851) die Befriedung der Donaumonarchie herbeizuführen versucht, wobei weder Partikularismen noch nationale Autonomie oder verfassungsmäßige Kontrolle geduldet wurden. Das germanisierend-bürokratisch ausgerichtete zentralistische System brachte allem Slawischen und damit auch National-Slowakischen große Vorbehalte 6Palackg hatte in seinem am 23. Januar 1849 vorgelegten und vom Reichstag in Kremsier zurückgewiesenen austro-slawischen Föderationsplan die bisher von den Slowaken erhobenen Forderungen nicht berücksichtigt. 7 Havlic;ek-Borovskg hatte bereits 1847 die Auffassung vertreten, daß sich die Slowaken im Interesse der Freiheit und Demokratie den Tschechen anschließen sollten, um sich mit deren Hilfe zu erneuern und aller Fesseln der Rückständigkeit zu entledigen. Karel Havlic;ek-Borovskg: Sebrane spisy [Gesammelte Schriften]. Hrsg. von Z. Tobolka. 4 Bde., Praha 1901-1903, hier Bd. 4. BDas vom revolutionären Landtag in seiner letzten Sitzung am 28. Juli 1849 angenommene Nationalitätengesetz, das den Nichtungarn weitgehende Rechte im Gebrauch ihrer Muttersprache und eine bescheidene Verwaltungsautonomie in Aussicht stellte, kam viel zu spät, um sie zu einem Einlenken und zur aktiven Verteidigung des St. Stephansreiches zu veranlassen. Siehe dazu Ludwig von Gogohik: Ungarns Nationalitätengesetze und das Problem des magyarischen National- und Zentralstaates, in: Adam Wandruszka und Pet er Urbanitsch (Hrsg.): Die Habsburgermonarchie 18481918. Bd. 111/2, Wien 1980, S. 1207-1303, hier S. 1247-1255 (mit weiterführenden Literaturangaben) .

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entgegen. 9 In einer - höchst ungnädig aufgenommenen - Petition wurde Kaiser Franz Joseph am 13. März 1849 der Wunsch nach Einrichtung eines slowakischen Landesterritoriums mit einem Landtag, slowakischer Amtssprache und einer der Wiener Zentral verwaltung unterstellten obersten Landesbehörde vorgetragen 10 ; sie fand wie die erweiterte Bittschrift vom 13. April 1849, in der die ungewöhnliche Verknüpfung der Vorstellungen von lokaler nationaler Selbstverwaltung und ihrer strengen Überwachung durch die Zentralinstanzen noch ausführlicher erläutert wurde, keine Beachtung. Die durch Jan Kollar gestützte und durch die Rückgriffe auf tschechische Vorbilder bei der endgültigen Kodifizierung der slowakischen Literatursprache durch Martin Hattala l1 angeblich bestätigte in der Zentralregierung verbreitete Auffassung, daß das Slowakische nur ein tschechischer Dialekt sei, schien den besonders starken Einsatz aus Böhmen stammender Beamter in Oberungarn zu rechtfertigen. Auch unter den slowakischen Patrioten kam unter Abbau einer kurzlebigen Russophilie, die ihnen 1849 eine politische Alternative zu eröffnen schien, eine eher pro-tschechisch ausgerichtete Grundströmung auf. Der frühe Tod des vereinsamten L'udovit Stur 1856, des eigentlichen Begründers des slowakischen Nationalbewußtseins, und das geringe Interesse, das die Intelligenz und Teile der kleinstädtischen Bürgerschaft trotz ihrer idealistischen Hingabe an die erlebte geistige und nationale Entfaltung des mystizistisch verklärten slowakischen Bauernvolkes an politischen und wirtschaftlichen Fragen nahm, führten zu einem zeitweiligen Einschlafen der national politischen Aspirationen. Es war fast ausschließlich dem Einsatz von Hurban und dem 1850 zum Bischof von Banska Bystrica (Neusohl) ernannten Stefan Moyses zu danken, daß der slowakische Nationalgedanke wieder auflebte, als die durch außenpolitische und militärische Mißerfolge erschütterte neoabsolutistische "Ära Bach" 1860 zu einem unrühmlichen Ende kam.12 Bei den danach verfolgten österreichisch-ungarischen Ausgleichsversuchen spielte die Bereitschaft der ungarischen Politiker, den nicht9Hans Lades: Die Nationalitätenfrage im Karpatenraum. Der österreichische Ordnungsversuch 1848/49. Wien 1941, S. 78 ff. IOHoensch: Dokumente, Nr. 2, S. 75 f. - Alle nationalpolitischen Denkschriften der Slowaken sind aufzufinden bei Frantisek Bokes (Hrsg.): Dokumenty k slovenskemu mirodnemu hnutiu v rokoch 1848-1914 [Dokumente zur slowakischen Nationalbewegung i. d. J. 1848-1914]. Bd. 1 (1848-1867). Bratislava 1962. 11 Mit seiner 1850 in Schemnitz erschienen Grammatica Linguae Siovenicae und der 1852 veröffentlichten Sprachlehre Kratka mluvnica slovenska hat Hattala die bis heute im wesentlichen gültige hochsprachliche Form des Slowakischen entscheidend beeinflußt. 12Edita Bosak: The Siovak National Movement 1848-1914. In: Stanislav J. Kirschbaum und Anne C.R. Roman (Hrsg.): Reflections on Siovak History. Toronto 1987, S. 59-72.

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magyarischen Völkern gewisse nationalitäten- und sprachenrechtliche Zugeständnisse einzuräumen, nur eine untergeordnete Rolle. Günstigstenfalls konnte mit der Anerkennung der Nationalität als einer eigenständigen Gemeinschaft spezifischen Charakters und der individuellen Grundrechte gerechnet werden. Als am 21. April 1861 der ungarische Landtag in Pest zusammentrat, hatte der wiedererstarkte oberungarische Adel eine slowakische nationale Vertretung durch Wahlmanipulationen zu verhindern gewußt. Eine von 6000 Menschen am 6./7. Juni 1861 in TUr