Entwicklung und Perspektiven der Literaturwissenschaft in der DDR 9791036538094

Die vorliegende Arbeit hat es sich zur Aufgabe gesetzt, die Entfaltung der literarischen Theorien in der DDR systematisc

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Entwicklung und Perspektiven der Literaturwissenschaft in der DDR
 9791036538094

Table of contents :
Einleitung
Thema der Arbeit
Methode der Untersuchung
Aufbau
Erstes Kapitel. Allgemeine Voraussetzung : die DDR-literaturwissenschaft als “Gesellschaftswissenschaft”
I. - Standort der DDR-Literaturwissenschaft auf der Palette der verschiedenen literaturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen
II. - Funktion der DDR-Literaturwissenschaft als “Gesellschaftswissenschaft” im ideologisch-politischen System der DDR
III. - Selbstverständnis der DDR-Literaturwissenschaft
Zweites Kapitel. Der Realismus-Begriff
Einleitung
I. - Die Kunst als Erkenntnismittel oder die Theorie der Wider spiegelung
II. - Realismustheorie und Widerspiegelung
III. - Wandlung des Begriffs “Realismus”
Drittes Kapitel. Die DDR-Literaturwissenschaft und das literarische Erbe
Einleitung
I. - Begründung des Interesses für das Erbe
II. - Theorie des Erbes und Stand der Forschung
III. - Die Erbe-Forschung in der Praxis
Viertes Kapitel. Die DDR-Literaturwissenschaft und die sozialistisch-realistische “Nationalkunst”
I. - Einleitender Abschnitt : Überblick über die sozialistisch-realistische Kunst der DDR. Die Kunst als Bestandteil des sozialistischen Gesellschaftssystems
II. - Aufgaben der Literaturwissenschaft gegenüber der neuen Kunst
III. - Konkretes Beispiel : Rezeption von Christa Wolfs Roman “Nachdenken über Christa T.”
Abschliessende Betrachtung
Literaturverzeichnis

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Entwicklung und Perspektiven der Literaturwissenschaft in der DDR Jean Gomez

DOI: 10.4000/books.pulg.5880 Publisher: Presses universitaires de Liège Year of publication: 1978 Published on OpenEdition Books: 9 janvier 2020 Serie: Bibliothèque de la faculté de philosophie et lettres de l’université de Liège Electronic ISBN: 9791036538094

http://books.openedition.org Printed version Number of pages: 214   Electronic reference GOMEZ, Jean. Entwicklung und Perspektiven der Literaturwissenschaft in der DDR. Neuauflage [Online]. Liége: Presses universitaires de Liège, 1978 (Erstellungsdatum: 26 mars 2020). Online verfügbar: . ISBN: 9791036538094. DOI: https://doi.org/10.4000/ books.pulg.5880.

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JEAN GOMEZ Docteur en philosophie et lettres

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TABLE OF CONTENTS Einleitung Thema der Arbeit Methode der Untersuchung Aufbau

Erstes Kapitel. Allgemeine Voraussetzung : die DDR-literaturwissenschaft als “Gesellschaftswissenschaft” I. - Standort der DDR-Literaturwissenschaft auf der Palette der verschiedenen literaturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen II. - Funktion der DDR-Literaturwissenschaft als “Gesellschaftswissenschaft” im ideologischpolitischen System der DDR III. - Selbstverständnis der DDR-Literaturwissenschaft

Zweites Kapitel. Der Realismus-Begriff Einleitung I. - Die Kunst als Erkenntnismittel oder die Theorie der Wider spiegelung II. - Realismustheorie und Widerspiegelung III. - Wandlung des Begriffs “Realismus”

Drittes Kapitel. Die DDR-Literaturwissenschaft und das literarische Erbe Einleitung I. - Begründung des Interesses für das Erbe II. - Theorie des Erbes und Stand der Forschung III. - Die Erbe-Forschung in der Praxis

Viertes Kapitel. Die DDR-Literaturwissenschaft und die sozialistisch-realistische “Nationalkunst” I. - Einleitender Abschnitt : Überblick über die sozialistisch-realistische Kunst der DDR. Die Kunst als Bestandteil des sozialistischen Gesellschaftssystems II. - Aufgaben der Literaturwissenschaft gegenüber der neuen Kunst III. - Konkretes Beispiel : Rezeption von Christa Wolfs Roman “Nachdenken über Christa T.”

Abschliessende Betrachtung Literaturverzeichnis

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EDITOR'S NOTE Conformément au règlement de la « Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège », le présent ouvrage a été examiné par une commission technique composée de M. Werner KELLER, Professeur à l&rsquoUniversité de Cologne, Mlle Irène SIMON, MM. Armand NIVELLE et Jules ALDENHOFF, Professeurs à l&rsquoUniversité de Liège. M. NIVELLE en a assuré la révision et a surveillé la correction des épreuves.

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Einleitung

Mein aufrichtiger Dank gilt Herrn Professor Werner Keller für seine gedul dige Unterstützung. Besonders verpflichtet fühle ich mich Herrn Professor Armand Nivelle, der mir bei der Abfassung dieser Arbeit mit unschätzbarem Rat zur Seite gestanden hat. 1

Solange in der amtlichen Sprachregelung der BRD die Bezeichnung “DDR” nur zusammen mit dem Adjektiv “sogenannt” bzw. in Anführungszeichen verwendet wurde, war die wissenschaftliche Analyse der Verhältnisse im anderen Teil Deutschlands nur allzu oft darauf bedacht, abwertende Urteile zu vermitteln. Dem am Anfang der siebziger Jahre eingeleiteten Prozeß der Normalisierung der innerdeutschen Beziehungen entspricht aber erfreulicherweise eine Versachlichung der westlichen DDR-Forschung. Auch ist seitdem ein ständig zunehmendes Interesse für die DDR festzustellen.

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Immer mehr Studien werden auf den Markt gebracht, nicht zuletzt auf dem Gebiet der Literatur, wo die Zahl der Veröffentlichungen überraschend rapide ansteigt. Mehrere unter ihnen, obwohl vielfach unterschiedliche Meinungen vertretend, verdienen besondere Beachtung, wie etwa “Zwischen literarischer Autonomie und Staatsdienst. Die Literatur in der DDR” von Werner Brettschneider, “Die Literatur der Deutschen Demokratischen Republik” von Konrad Franke und “Traditionen und Tendenzen. Materialien zur Literatur der DDR” von Fritz J. Raddatz1.

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Die Situation der Literaturwissenschaft in der DDR ist dagegen bislang paradoxerweise wenig in den Blick der Forschung geraten. Abgesehen von ein paar Beiträgen ist dieses Thema nur am Rande berührt worden, wie z.B. in den erwähnten Publikationen. Dies erscheint verwunderlich, vor allem wenn man den Anklang bedenkt, den heutzutage die marxistischen ästhetischen Konzeptionen in der westlichen Literaturwissenschaft finden. Dieser Mangel an Interesse ist sicherlich großenteils darauf zurückzuführen, daß im Westen die DDR-Literaturwissenschaft häufig weniger als Wissenschaft der Literatur denn als direkt ausführendes Werkzeug der Parteipolitik betrachtet wird und daß ihr dementsprechend — etwas voreilig, wie sich zeigen wird — die Fähigkeit abgesprochen wird, zu brauchbaren Forschungsergebnissen zu kommen.  

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Thema der Arbeit 4

Die vorliegende Arbeit hat es sich zur Aufgabe gesetzt, die Entfaltung der literarischen Theorien in der DDR systematisch zu erforschen. Nach etwa fünfundzwanzig Jahren scheinen sich in der Entwicklung der DDR-Literaturwissenschaft klare Linien und Tendenzen abzuzeichnen, so daß jetzt der Versuch gewagt werden darf, einen Oberblick über die ganze literaturwissenschaftliche Forschung in der DDR zu gewinnen. Bei meinen Nachforschungen, die sich bis Mitte 1973 erstrecken, wird besonders der Frage nachgegangen, in welchem Maße — wenn überhaupt — diese Theorien zur Bereicherung des literarischen Denkens beigetragen haben bzw. beitragen können.

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Diese Untersuchung entspringt der tiefen Überzeugung, daß das Phänomen Literatur viel zu komplex ist, als daß eine literaturwissenschaftliche Richtung allein es je vollständig erfassen könnte. Alle Richtungen und Methoden der Literaturwissenschaft können m.E. — wie verschiedenartig sie auch sein mögen — hierzu weiterführende Einsichten vermitteln, indem sie jeweils bestimmte Teilmomente ihres vielschichtigen Forschungsgegenstands besonders ausleuchten. Dementsprechend halte ich es für unverständlich und auf keinen Fall berechtigt, die DDR-Literaturwissenschaft einfach zu ignorieren, ohne mindestens den Nachweis erbracht zu haben, daß ihre Forschungsergebnisse für die Theorie der Literatur grundsätzlich ohne Gewinn sind. Dies besonders in unserer Epoche, wo mancherorts behauptet wird, die Literaturwissenschaft stecke in einer Krise, und wo nicht wenige Forscher nach neuen Ansatzpunkten zur “Verwissenschaftlichung” ihres Faches suchen, wie etwa durch die Hinwendung zur Linguistik oder zu sozialen Fragestellungen.

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Es wurde hier nicht versucht, die Geschichte der DDR-Literaturwissenschaft zu rekonstruieren. Diese Arbeit versteht sich keineswegs als die Aufzeichnung der Fakten und Ereignisse, die die DDR-Literaturwissenschaft seit ihrem Bestehen gekennzeichnet haben. Stattdessen habe ich nur diejenigen Etappen ihres Entwicklungsweges als relevant betrachtet, die über die Frage nach dem Beitrag der DDRLiteraturwissenschaft zur Vertiefung des ästhetischen Denkens Aufschluß geben.  

Methode der Untersuchung 7

Der Mangel an wissenschaftlichen Untersuchungen zur DDR-Literaturwissenschaft hat mir den Zugang zu diesem komplexen Thema erschwert. Auf der anderen Seite ist dieser Mangel insofern positiv zu bewerten, als ich mich somit ohne ein Übermaß an vorgefaßter Meinung an die Arbeit habe heranmachen können.

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Ein objektives Herangehen an den Forschungsgegenstand ermöglichen die ohnedies wenigen Stellungnahmen aus dem Westen nur gelegentlich. Ein Einblick in die Aufgaben und Ergebnisse der DDR-Literaturwissenschaft kann größtenteils nur durch die kritische Analyse der einschlägigen Publikationen in der DDR selbst gewonnen werden.

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Zum hier behandelten Thema steht auch in der DDR eine wegweisende Untersuchung noch aus. Die theoretischen Äußerungen, die Normen und Direktiven finden sich verstreut zuerst in Fachzeitschriften, in erster Linie in den “Weimarer Beiträgen”, seit 1970 “Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie” genannt2, und in “Sinn und Form. Beiträge zur Literatur”3, dann auch in

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Berichten über Tagungen und in verschiedenen Einzeluntersuchungen. Es mußte darauf verzichtet werden, der Praxis den Rang zu geben, der ihr in einer Arbeit dieser Art normalerweise gebühren würde. An ihr lassen sich nämlich die Haupttendenzen des literarischen Denkens in der DDR schwer ablesen, da sich ihre Bewertungskriterien kaum auf einen gemeinsamen — oder auf gemeinsame — Nenner bringen lassen. Vorwegnehmend kann hier gesagt werden, daß sich zwischen der einheitlichen Theorie und der Praxis eine Kluft auftut, die sich seit 1949 nur vertieft hat. Im Laufe der Arbeit wird auf konkrete Beispiele wiederholt hingewiesen, gerade um die eben erwähnten Spannungen ans Licht zu bringen4. 10

Die Zusammenstellung des Materials hat mir besondere Schwierigkeiten bereitet. Die gesamte für uns wichtige Literatur ist nicht leicht überschaubar. Zur Literaturtheorie wird in der DDR so viel zu Papier gebracht, daß es nicht leicht ist, alles heranzuziehen, was verwertbar ist. Darüberhinaus ist der Zugang zu den Quellen manchmal schwer : um zu ergründen, was hinter verschlossenen Türen vor sich geht, ist der Forscher — dies gilt nicht nur für die DDR-Literaturwissenschaft, sondern für die ganze DDRForschung überhaupt — oft auf Hypothesen angewiesen. Hinzu kommt noch, daß die verschiedenen Beiträge fast immer in besonders unattraktiver Form dargeboten werden ; sehr viele zeichnen sich durch mangelnden Informationsgehalt aus. Es ist keine leichte Aufgabe, sich in ihren Stil hineinzulesen. Mit ermüdender Monotonie wird regelmäßig Seiten lang das wiederholt, was schon längst bekannt ist. Es kommt sogar vor daß Artikel Auszüge aus anderen Beiträgen einfach übernehmen und sie als neu gelten lassen5…

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Infolgedessen erhebt diese Arbeit keinen Anspruch auf Vollständigkeit, was die Sammlung der Dokumente aus der DDR anbelangt. Es kann sein, daß trotz meiner Bemühungen manche — vielleicht bedeutsame — Texte unberücksichtigt geblieben sind. Ich kann nur hoffen, daß sie meinen Feststellungen und Überlegungen nicht im Wesentlichen widersprechen.  

Aufbau 12

Das erste Kapitel versteht sich als Einführung in die eigentliche Fragestellung : nach einer kurzen Bestimmung des Standorts der DDR-Literaturwissenschaft auf der Palette der verschiedenen literaturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen wird zuerst einmal auf ihre Funktion als “Gesellschaftswissenschaft” im ideologisch-politischen System der DDR, sodann auf den Einfluß ihrer Ideologisierung und ihrer “Verstaatlichung” auf ihr Selbstverständnis eingegangen.

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Anschließend wird versucht, in diesem weiten Feld einen allgemeinen Orientierungspunkt zu setzen. Das zweite Kapitel ist dem Begriff “Realismus”, dem Drehpunkt der marxistischen Kunstauffassung und Bewertungsprinzip par excellence der DDR-Literaturwissenschaft, gewidmet. Dabei wird es unerläßlich sein, die offizielle monolithische Kunsttheorie der DDR näher auszuleuchten.

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Dies wird an das dritte und vierte Kapitel heranführen, die das Verhältnis der DDRLiteraturwissenschaft zum literarischen Erbe und zur Literatur der Gegenwart veranschaulichen.

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Zum Schluss möchte ich noch folgendes hinzufügen : eine Studie wie die hier vorgelegte wirft eine Fülle von Problemen auf. Wegen der Komplexität des Themas

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kann sie keineswegs den Anspruch erheben, das letzte Wort zum behandelten Thema zu sagen. Ich hätte schon das Gefühl, keine unnütze Arbeit geleistet zu haben, wenn sie es einigermaßen entwirrt hätte und somit den Weg für weitere, tiefgründigere Arbeiten bahnen könnte.

NOTES 1. In den Fußnoten nicht angegebene bibliographische Hinweise befinden sich im Literaturverzeichnis. 2. Die Zeitschrift “Weimarer Beiträge” wurde 1955 von Louis Fürnberg und Hans-Günther Thalheim im Auftrag der “Nationalen Forschungs-und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar” gegründet. 3. Die Zeitschrift “Sinn und Form” wurde 1948 gegründet. Sie wird von der “Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik” herausgegeben. Sie wird gegenwärtig von Wilhelm Girnus geleitet. 4. Vgl. bes. S. 104 ff. 5. Siehe Beispiel S. 73.

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Erstes Kapitel. Allgemeine Voraussetzung : die DDRliteraturwissenschaft als “Gesellschaftswissenschaft”  

I. - Standort der DDR-Literaturwissenschaft auf der Palette der verschiedenen literaturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen 1

Das fundamentale Merkmal der DDR-Literaturwissenschaft liegt nicht primär in der Methode. Im Gegensatz etwa zum Positivismus oder zum Strukturalismus bietet sie nämlich keine völlig neue Art und Weise, an ästhetische Phänomene heranzutreten und sie zu erfassen. Methodisch gehört die DDR-Literaturwissenschaft in die in den letzten Jahren rasch anwachsende Reihe der Richtungen, die den historischen Implikationen und den gesellschaftlichen Beziehungen der Literatur grundlegende Bedeutung zuerkennen. Innerhalb der historisch-soziologischen Methoden bildet sie zusammen mit den anderen marxistischen Verästelungen der Literaturwissenschaft eine besondere Gruppe. Die gemeinsame weltanschauliche Grundlage könnte jedoch paradoxerweise Ansätze zu einer Abhebung von den letztgenannten liefern. Marx und Engels haben nämlich nie eine ausführliche Literaturtheorie entworfen. Obwohl beide Philosophen ästhetischen Fragen aufgeschlossen gegenüberstanden, sind sie sie nie systematisch angegangen, um ihnen innerhalb ihres ideologischen Systems einen genau fixierten Platz zuzuweisen. Ihre verhältnismäßig spärlichen Äußerungen zum Thema Ästhetik — wie etwa Marx’ und Engels’ Kritik an Ferdinand Lassalles “Franz von Sickingen” oder Marx’Urteil über Eugène Sues “Die Geheimnisse von Paris” — entziehen sich einer eindeutigen Interpretation. Wohl hat sich Lenin im Gegensatz zu den Vätern des historischen Materialismus mit “literarischen” Fragestellungen eingehender auseinandergesetzt. Es ist aber noch lange nicht schlüssig bewiesen, ob die von ihm erarbeitete Theorie lediglich der “Parteiliteratur” im engen Sinne des Wortes gilt oder ob er zudem in ihr auch seine eigenen Ansichten über die belletristische

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Literatur darlegen wollte. Infolgedessen hat Lenin im Endergebnis vielleicht mehr zur Verzweigung der marxistischen Literaturwissenschaft als zu ihrer Vereinheitlichung beigetragen. 2

Der spezifische Charakter der DDR-Literaturwissenschaft liegt nicht in erster Linie in einer bestimmten Interpretation der Klassiker des Marxismus-Leninismus begründet. Er ist vielmehr darin zu erblicken, daß sie über ihre theoretische Fundierung hinaus an ein ideologisch-politisches System gebunden ist : sie entwickelt sich in und mit einem Land, das nach eigenem Selbstverständnis die Lehre von Marx und Engels in die Wirklichkeit umsetzt, d.h. das seine Entwicklung entsprechend den von beiden Philosophen erkannten “objektiven” Gesetzmäßigkeiten der Geschichte gestaltet. Diese Bindung hat für die DDR-Literaturwissenschaft einschneidende Konsequenzen. Die DDR ist nämlich eine monolitische Welt, in der alle menschlichen Tätigkeiten — nicht zuletzt die Literaturwissenschaft — auf die Realisierung der Ziele der Revolution hingeordnet sind. Absolute Führungsinstanz im Gesamtprozess des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft ist die “Partei der Arbeiterklasse der DDR”, die SED. Sie gilt als Träger der Orthodoxie. Die Rolle der Partei besteht darin, bei genauer wissenschaftlicher Kenntnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge den Entwicklungsprozess der DDR gemäß den Gesetzmäßigkeiten der Geschichte zu lenken. Als “höchste Form der gesellschaftlichpolitischen Organisation”1 weist sie den in ihren eigenen Augen wissenschaftlich richtigen Weg. Gerade ihr Verhältnis zur Partei macht die Eigenart der DDRLiteraturwissenschaft aus. Sie unterscheidet sich insofern von den anderen marxistisch-leninistischen Richtungen der Literaturwissenschaft, als für sie die Lehre von Marx und Engels, deren Doktrin für alle maßgebend ist, durch die politischen Anordnungen der SED sozusagen ergänzt wird. Sie erfährt somit eine zusätzliche Orientierung, deren unmittelbare Folge ist, daß sie dadurch ihre Autonomie größtenteils, wenn nicht völlig, preisgeben muß. Es steht ihr nicht zu, selber über ihren Entwicklungsweg zu bestimmen ; dieses Recht muß sie eben der Partei abtreten. Sie ist also einer ihrem Wesen fremden Instanz untergeordnet, die Richtung und Ziele ihrer Forschungstätigkeit absteckt.

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Hier muß betont werden, daß dies an sich keine Kritik an der DDRLiteraturwissenschaft ist, solange wenigstens nicht der Nachweis erbracht wird, daß sie den großen und sehr präzisen Anforderungen, die die Partei an sie stellt, nicht nachkommen kann, ohne ihres Eigencharakters verlustig zu gehen. Bevor auf ihre Eigenschaft als Wissenschaft von der Literatur eingegangen wird, ist es deshalb unerlässlich, zuerst einmal die Funktion, die ihr die Partei im sozialistischen System der DDR zuweist, näher ins Auge zu fassen.  

II. - Funktion der DDR-Literaturwissenschaft als “Gesellschaftswissenschaft” im ideologischpolitischen System der DDR 4

Dem Begriff “Wissenschaft” wird in der marxistischen Doktrin eine sehr breite Funktion zugeschrieben. Die traditionelle Trennung zwischen Ideologie und Wissenschaft fällt weg, indem die Wissenschaftstätigkeit als wesentlicher Faktor im Aufbauprozess der sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft gilt. Wegen ihrer engen Verzahnung mit der Ideologie ist diese theoretische Tätigkeit des Menschen niemals

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rein kontemplativ auf den Forschungsgegenstand gerichtet. Die wachsende Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten der natürlichen und gesellschaftlichen Existenzbedingungen des Menschen hat in der materialistischen Dialektik nur insofern ihre Berechtigung, als sie dem Moment der Praxis untergeordnet, d.h. auf eine praktische Veränderung der bestehenden Zustände im Sinne des Marxismus-Leninismus hin orientiert ist. Der Unterschied zwischen theoretischen und pragmatischen Wissenschaften verschwindet völlig, da sowohl die Grundlagen als auch die Zwecksetzungen in beiden Fällen gleich sind. Die Einbeziehung der Wissenschaft in das gesellschaftliche Leben ist in marxistischer Sicht eine historische Notwendigkeit ; sie wird keineswegs als etwas der Wissenschaft ursprünglich Fremdes, das ihr sozusagen aufgepfroft wird, betrachtet, sondern als ein unabdingbarer Bestandteil ihres Wesens. 5

In dieser Hinsicht bildet die Literaturwissenschaft in der DDR keine Ausnahme. Der Ansicht von Georg Lukács, der, so Claus Träger, “sowohl in Hinsicht auf die Literatur als auch auf die Literaturwissenschaft selber in der Position der historischen Anschauung verharrte und weder das eine noch das andere als einen aktiven Teil der wirklichen Entwicklung zu bestimmen versuchte” 2

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ist entschieden entgegengetreten worden. Alle anderen marxistisch geschulten Denker, die Lukács in dieser Hinsicht beizupflichten geneigt waren, sind in das Kreuzfeuer einer vernichtenden Kritik seitens der maßgebenden Kulturfunktionäre der SED und der anderen Literaturwissenschaftler der DDR geraten. Die prinzipielle Auseinandersetzung mit derartigen Auffassungen ist noch nicht abgeschlossen ; ihre Widerlegung wird als eine Hauptaufgabe angesehen. Neben der Gewinnung von Erkenntnissen hat die DDRLiteraturwissenschaft daher auch eine praktisch-verändernde Funktion, die sie in der offiziellen DDR-Einstellung in den Rang einer marxistisch-leninistischen Wissenschaft erhebt. Sie muß aufhören, “bloße Anschauung” zu sein und sich mit einer “rein kontemplativen Kritik” zu begnügen, um selber zu einem produktiven Faktor der Geschichte zu werden.

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Ihrem Wesen nach wirkt die Literaturwissenschaft nicht unmittelbar auf die Basis, sondern auf den ideologischen Oberbau der Gesellschaftsordnung. Marx und Engels, die die alte Frage nach dem Verhältnis des Bewusstseins zum Sein endgültig gelöst haben wollen, liefern nach eigener Auffassung den Schlüssel zur realen Erkenntnis des gesellschaftlichen Seins des Menschen. Daraus lässt sich nicht schließen, daß der Mensch seitdem das richtige Bewusstsein seiner selbst hat. Dies ist eben nur als Möglichkeit gegeben. “Revolution” bedeutet nicht nur grundlegende gesellschaftliche Veränderungen ; unabdingbare Voraussetzung für ihr Gelingen ist, daß sie sich sozusagen bei jedem einzelnen durchsetzt, indem sie alle vormarxistischen Bewusstseinsformen beseitigt.

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Die Literaturwissenschaft wird selber zum Motor der gesellschaftlichen Entwicklung, indem sie zum Aufbau der sozialistischen Persönlichkeit der DDR-Deutschen beiträgt. Es geht in der Ver wirklichung der humanistischen Ideen des historischen Materialismus um nichts Geringeres als um die Schaffung eines neuen, sozialistischen Menschen, der alle seine Möglichkeiten bewusst in den Dienst der sozialistischen Menschengemeinschaft stellt. Die Rolle der Literaturwissenschaft besteht darin, die DDR-Deutschen dazu zu bringen, selber aktiv am Aufbau des Sozialismus teilzunehmen.

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Gerade aufgrund der besonderen politischen Situation der DDR erweist sich diese Aufgabe als besonders schwierig. Die Erziehung — oder, genauer gesagt, die Umerziehung — der ostdeutschen Bevölkerung stößt nämlich auf derartige

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Hindernisse, daß ihr Gelingen — insofern es nicht von vornherein als höchst fragwürdig erscheint — nur die Folge eines langwierigen Prozesses sein kann. 10

Dieser weltanschaulich-erzieherischen Aufgabe kann die DDR-Literaturwissenschaft nach offiziellen Ansichten auf zweierlei Art und Weise gerecht zu werden sich bemühen. Sie kann zuerst einmal den Beweis zu erbringen versuchen, daß die neue Wirtschafts-und Sozialordnung, die in der DDR verwirklicht wird, für den Menschen unabdingbare Voraussetzung ist, um Subjekt der Geschichte zu werden. Der ihr in dieser Hinsicht erteilte Auftrag besteht darin, das Image des “ersten deutschen sozialistischen Staates” vor den Augen seiner eigenen Bewohner aufzupolieren und somit ein DDR-Staatsbewusstsein herauszubilden. Sie muß dem DDR-Bürger klar machen, daß “seine” Republik in die Gesetzmäßigkeiten des geschichtlichen Prozesses eingebettet und somit der berechtigte Erbe aller humanistischen Ideale ist und daß sie erstmalig in der deutschen Geschichte dem Menschen das gewährt, was ihm im menschenfeindlichen System der BRD vorenthalten bleibt, nämlich die Möglichkeit, er selbst zu sein. Dies deshalb, weil die DDR auf der Basis des Sozialismus das Verhältnis der Menschen zueinander von Grund auf verändert und einen Weg eingeschlagen hat, der immer den Interessen des Volkes dienen soll. Da die neue Ordnung, in die sich der DDR-Bewohner gestellt sieht, den Weg in eine glückliche Zukunft weist, gilt es für ihn, dem Staat und seinem leitenden Organ, der Partei, sein volles Vertrauen entgegenzubringen. Die Literaturwissenschaft appelliert an seine Verantwortung, damit er beide mit allen seinen Kräften dadurch unterstützt, daß er das Verhältnis Individuum-Gesellschaft in seiner Wechselseitigkeit wirksam macht und somit selber eine aktive Rolle im Prozess des Aufbaus des Sozialismus spielt.

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Als “Gesellschaftswissenschaft” kann sie auch der Bevölkerung zum “richtigen” Bewusstsein ihrer selbst verhelfen, indem sie den Versuchungen, denen die sozialökonomische Formation der DDR seitens der bürgerlichen Ideologien kontinuierlich ausgesetzt sei, entschieden entgegentritt. In der bereits herangezogenen Abhandlung “Studien zur Realismustheorie und Methologie der Literaturwissenschaft” geht Claus Träger auf diese Aufgabenstellung ein und bezieht sich dabei u.a. auf die Beschlüsse des V. Parteitages der SED : “Die westdeutschen Imperialisten und Militaristen unternehmen große Anstrengungen, um durch ideologische Beeinflussung diese Entwicklung des sozialistischen Bewusstseins zu hemmen. Gleichzeitig wirken konservative und reaktionäre Kräfte in der Deutschen Demokratischen Republik der Durchsetzung der neuen, sozialistischen Ideen entgegen. Auch viele bürgerliche und kleinbürgerliche Anschauungen, die durch die Existenz kleinbürgerlicher Schichten ständig genährt werden und auf der Zählebigkeit alter Vorstellungen beruhen, sind der sozialistischen Bewusstseinsbildung hinderlich. Sie dringen in Form revisionistischer und opportunistischer Anschauungen in die Reihen der Partei ein. Daher erfordert die Entwicklung des sozialistischen Bewusstseins den ständigen Kampf gegen die reaktionären Ideologien des Imperialismus, die beharrliche Auseinandersetzung mit allen bürgerlichen, kleinbürgerlichen reformistischen Einflüssen...”3

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Weiter erinnert er an die zweite Bitterfelder Konferenz, bei der behauptet wurde : “Unter den komplizierten Bedingungen des Kampfes um die Durchsetzung der friedlichen Koexistenz in Deutschland verlieren nur einige Leute bei uns die klare Sicht für die wirklichen Klassenfronten... Unseren Gegnern ist dabei besonders daran gelegen, unsere klare marxistisch-leninistische Position als dogmatisch zu verleumden und unter dem Deckmantel einer sogenannten ideologischen Koexistenz uns zu entwaffnen... Lassen wir uns unsere ideologischen und

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kulturellen Waffen nicht durch die noch so eindringliche Propagierung der Lüge von der ideologischen Koexistenz aus den Händen schlagen.” 4 13

Aus ihrer Einbeziehung in das System der sozialistischen Gesellschaftsformation resultiert, wie bereits angedeutet, für die Literaturwissenschaft unmittelbar, daß ihre erzieherische Funktion Veränderungen unterliegt in dem Masse, wie sich das sozialistische Zusammenleben entwickelt. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit verlagert sich entsprechend den Wandlungen der Denkweise der DDR-Bürger. Es liegt auf der Hand, daß die Erfordernisse der gesellschaftlichen Praxis gegenwärtig anders sind als in den ersten Nachkriegsjahren. Aufgrund der damaligen Zustände verlangte die Etablierung eines auf den Prinzipien des Marxismus-Leninismus beruhenden Systems in der SBZ von der dortigen Bevölkerung eine Opferbereitschaft, die viele dazu veranlasste, der jungen Republik den Rücken zu kehren, um sich in der BRD niederzulassen. Bis 1961 galt es, die Menschen in der DDR zurückzuhalten, d.h. sie dazu zu bringen, sich für den schwierigen Weg des Sozialismus freiwillig zu entscheiden. Heutzutage hat sich die Sachlage geändert ; das System hat sich — nach mühsamen Anfängen — bewährt, und die DDR hat sich völlig abgeriegelt. Unter den jetzigen Bedingungen kommt es der Literaturwissenschaft nicht mehr darauf an, die DDRDeutschen zum Verbleiben in ihrem Land zu bringen, sondern an sie zu appellieren, damit alle gemeinsam die Hindernisse auf dem Weg zum Kommunismus überwinden.

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Die Bewusstseinsändernde und -bildende Funktion fällt selbstverständlich nicht allein der Literaturwissenschaft zu. Diese teilt sich die Verantwortung mit den anderen “Wissenschaften von der Kultur”, von denen sie nur ein Zweig ist, dann aber auch mit allen Gesellschaftswissenschaften überhaupt. Dies bedeutet jedoch noch lange nicht, daß ihr nur eine Rolle zweiten Ranges zugewiesen wird. Schon ihre Wesensbestimmung als Bestandteil des ideologisch-politischen Systems der DDR deutet darauf hin, daß sie genau so notwendig und unentbehrlich ist wie die anderen Wissenschaften : der Aufbau des Sozialismus erfordert das Zusammenwirken aller Teile des Systems ; wenn ein Glied nicht funktioniert, leidet das Ganze darunter. Einen zusätzlichen Hinweis bietet die Intensität der literaturwissenschaftlichen Forschung in der DDR. Neben den sechs Universitäten sind zahlreiche Einrichtungen, wie etwa die “Akademie der Wissenschaften der DDR” und das “Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Lehrstuhl für marxistisch-leninistische Kultur-und Kunstwissenschaften” in Berlin, das “Johannes R. Becher-Institut” in Leipzig und die “Nationalen Forschungsund Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur” in Weimar Zentren intensiver Forschungstätigkeit. Die Qualität und nicht zuletzt die Vielfältigkeit der Publikationen lässt nicht nur auf den bewundernswerten Fleiß der Literaturwissenschaftler der DDR schließen, sondern gibt auch einen Hinweis auf die beträchtlichen Finanzmittel, die diesen Forschungszentren zur Verfügung gestellt werden. Es wird gegenwärtig an mehreren Fronten zugleich gearbeitet, und große Projekte sind in Angriff genommen worden5 Neue Arbeitsweisen, die die Durchführung des erteilten Auftrags ermöglichen sollen, werden eingeführt ; zahlreiche Publikationen sind nicht mehr die Frucht individueller Bemühungen, sondern die Arbeit von “Autorenkollektiven”. Erwähnt seien hier bloß zwei bedeutende Ergebnisse der DDR-Literaturforschung : zuerst die 1970 erschienene Abhandlung “Sozialistischer Realismus. Positionen. Probleme. Perspektiven. Eine Einführung”6 dann die 1972 herausgekommene Untersuchung “Theater in der Zeitenwende”7 die der Entwicklung des Dramas und der schauspielerischen Technik in der DDR nachgeht. In jüngster Zeit ist die Forschung noch intensiviert worden. Dies zeigt nicht zuletzt die Entstehung des “Referatedienstes

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zur germanistischen Literaturwissenschaft” im Jahre 1969, einer Zweimonatssschrift, die durch Rezensionen von Buchpublikationen und Zeitschriftenaufsätzen “Material zu zentralen Forschungsthemen bereitstellen” (8will, dann auch die 1970 erfolgte Umbenennung der “Weimarer Beiträge” in “Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie” und die somit vollzogene Erweiterung des Themenkreises der Zeitschrift, die ursprünglich der klassischen Literatur gewidmet war, auf literaturtheoretische Fragestellungen. Diese Veröffentlichungen und Projekte haben Jörg B. Bilke dazu veranlasst, als Schluss eines Aufsatzes über die DDRLiteraturwissenschaft zu schreiben :

 

“Diese Ausführungen deuten an, daß die Germanistik der DDR, die eines Tages sicher auch fähig sein wird, ‘feindliche’ Strömungen aus der Literatur und Literaturwissenschaft Westdeutschlands zu verarbeiten, sich anschickt, der westdeutschen Germanistik, was Planung und Verfügung über finanzielle Mittel betrifft, den Rang abzulaufen.”9

III. - Selbstverständnis der DDR-Literaturwissenschaft 15

Die westlichen Literaturwissenschaftler stehen — welche Tendenz sie auch vertreten mögen — einer derartigen Funktionsbestimmung ihrer Disziplin sehr reserviert gegenüber. Abgesehen davon, daß viele den marxistischen Denksystemen wegen deren ideologischer Voraussetzungen grundsätzlich eine Absage erteilen, gehen manche andere mit der DDR-Literaturwissenschaft wegen ihrer völligen Integrierung in das ideologisch-politische System der DDR streng ins Gericht. Sie sind versucht, ihr die Wissenschaftlichkeit abzusprechen und begründen dies damit, daß sie sich nur insofern der Kritik unterziehe, als diese die Gültigkeit ihrer Inter pretationsmethode an den Forderungen der Partei messe. Eine Kritik, die darauf hinauslaufen würde, gerade ihre Verankerung im ideologischen Fahrwasser der DDR in Frage zu stellen, lehne sie von vornherein grundsätzlich ab. Sie steige nie von dem Podium, auf das sie sich gestellt hat, herunter. Ihre von der Partei angeleitete Tätigkeit sei deshalb schließlich nur darauf bedacht, einem System das Wort zu reden, und dies sei der Literaturwissenschaft wesensmäßig fremd. Ihre totale Politisierung degradiere sie im Endeffekt zum bloßen Produzenten im Dienste einer Ideologie, daher sei sie nur ein Vehikel für die Vermittlung weltanschaulicher Theorien. Sie sei damit jeder Freiheit beraubt und könne den an sie gestellten Anforderungen nicht nachkommen, ohne ihrem Wesen als Wissenschaft von der Literatur Gewalt anzutun. Auffallend ist, daß unter den großen Namen der marxistischen Literaturwissenschaft, die im Westen ein großes Ansehen genießen, praktisch keiner zu den DDR-Literaturwissenschaftlern zählt. Wohl sind manche von ihnen in der DDR eine Zeitlang tätig gewesen, wie etwa Alfred Kantorowicz und Hans Mayer10, sie haben sich aber dann in den Westen abgesetzt.

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Die offiziellen Wortführer der DDR-Literaturwissenschaft sind freilich ganz anderer Meinung als die oben erwähnten westlichen Literaturwissenschaftler. Für sie ist die Funktionsbestimmung ihres Faches als “Gesellschaftswissenschaft” keine Belastung. Sie bedeutet vielmehr eine neue Qualität, ja sogar die Krönung wissenschaftlicher Tätigkeit schlechthin. Als Rechtfertigung berufen sie sich zuerst einmal auf die theoretische Fundierung ihrer Disziplin. Die Weltanschauung von Marx und Engels betrachten sie als eine Frucht, die im Prozess der Selbstbewusstwerdung des Menschen langsam zur Reife gelangt ist. Aufbauend auf dem damals erreichten Stand des Wissens sollen beide

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Philosophen den Geschichtsprozess in seiner Totalität erfasst haben. Ihre Theorie liefere somit den Schlüssel für ein wissenschaftliches Verständnis der realen Lebensprozesse. In der bereits erwähnten Studie “Sozialistischer Realismus. Positionen. Probleme. Perspektiven. 17

Eine Einführung” kann man z.B. lesen : “Die marxistisch-leninistische Weltanschauung ist die erste konsequent wissenschaftliche — und als solche die einzige in sich logische, wenn man so will, homogene Weltanschauung.”11

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In derselben Abhandlung wird auch an Bertolt Brechts Definition des Sozialismus als “des Einmarschs der Vernunft in die Geschichte” erinnert 12. (Hier ist zu bemerken, daß die DDR-Literaturwissenschaft genauso wie alle anderen marxistisch orientierten Methoden jeglichen Nachweises für die Richtigkeit der Prinzipien des historischen Materialismus, die einen durchaus axiomatischen Charakter haben, schuldig bleibt. Sie postuliert diese mit einer Selbstverständlichkeit, die ihre Ergebnisse in den Augen von Nicht-Marxisten von vornherein in suspektem Licht erscheinen läßt. Als Beispiel für viele kann in diesem Zusammenhang eine Äußerung von Claus Träger herangezogen werden : “Bisweilen begegnet auch noch der wohlmeinende Irrtum, als ob es darum ginge, mit einem gegebenen Fachproblem oder Gegenstand die Richtigkeit des MarxismusLeninismus zu beweisen. Die ist bewiesen, und kein Gedicht, keine Sinfonie und kein Gemälde vermag der Macht der Geschichte, wie richtig sie immer von den Künsten widergespiegelt wird, noch einen schlagkräftigen Beweis für ihre Rechtmäßigkeit aufzusetzen. Die Theorie des Marxismus-Leninismus sowie die Praxis der sozialistischen Bewegung und der sozialistischen Gesellschaft sind eine Konsequenz des Gesamtverlaufs der Geschichte, aber nicht als das Resultat eines von den tätigen Menschen unabhängigen Selbstlaufs.”13

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Da die Literaturwissenschaft in die Lebensprozesse einbezogen sei, bilde der historische Materialismus gerade aufgrund seiner Wissenschaftlichkeit notwendigerweise ihre Basis. Da darüberhinaus die DDR — zusammen mit den anderen Ostblockstaaten, vor allem mit der Sowjetunion — der einzige Träger der Marxistisch-leninistischen Lehre sei, empfinde sie die Bindung an die Beschlüsse der Partei keineswegs als Knechtung ; dies habe mit Bevormundung und sklavischem Gehorsam nichts zu tun. Die bewusste Einfügung der Literaturwissenschaft in den Aufbauprozess der sozialistischen DDRGesellschaft sei im Gegenteil die unabdingbare Voraussetzung, um ihre Eigengesetzlichkeit zu bewahren und alle ihre Potenzen voll entfalten zu können. Die enge Verflechtung mit dem politischen System der DDR sei zugleich paradoxerweise der sicherste Garant ihrer Freiheit. Dies bedarf einer kurzen Erklärung. Nach Engels’ berühmtem Wort ist Freiheit “Einsicht in die Notwendigkeit”. Der Mensch erlangt Freiheit durch die Erkenntnis und die Anerkennung der Gesetzmäßigkeiten, denen Natur und Gesellschaft unterliegen. Die durch Marx und Engels geleistete Aufdeckung des realen Prozesses der Verwirklichung des Menschen als Subjekt der Geschichte ist also die Voraussetzung echter Freiheit. Der Mensch ist frei, wenn er sich in jeder seiner gesellschaftlich bedeutsamen Tätigkeiten bewusst und entschieden an der objektiv erkannten Notwendigkeit, also an den Gesetzmäßigkeiten des historischen Fortschritts orientiert. Hieraus resultiert, daß Freiheit und Unterordnung keineswegs in schroffem Gegensatz zueinander stehen. Die Literaturwissenschaft ist demnach — so widersprüchlich es klingen mag — um so freier, je mehr sie ihre — sowieso illusionäre — Autonomie preisgibt und je intensiver sie sich auf die Ziele des historischen Materialismus ausrichtet. Dies lässt sich aber nur realisieren, wenn alle Hindernisse,

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die ihr dabei im Wege stehen, beseitigt sind. Gerade in der DDR wird dieser Weg für sie geebnet. Erstmalig in der deutschen Geschichte sei die Literaturwissenschaft nicht mehr an ein ökonomisches System gekettet, das sie unter Missachtung ihrer Eigengesetzlichkeit zu Manipulationszwecken missbrauche. Durch die Abschaffung der antagonistischen Gesellschaftsordnung sei in der DDR der wesentliche Bremsfaktor ihrer Freiheit aus dem Wege geräumt worden. Der Anspruch auf den Besitz der alleinigen Wahrheit, den die DDR-Literaturwissenschaft erhebt, und ihre Überzeugung, in der DDR seien die Bedingungen zur Erfüllung ihres Auftrags vorhanden, implizieren die kontinuierliche ideologische Gleichschaltung mit den Leitprinzipien des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft. Wenn sie eigenständig ist, so immer nur relativ. Der Überlegenheitsanspruch der DDR-Literaturwissenschaft, der auf den ersten Blick wie eine ungeheure Anmaßung anmutet, ist die logische Folge ihrer Grundpositionen. Diese heben sie in ihren eigenen Augen auf eine höhere Stufe als die anderen Richtungen der Literaturwissenschaft. Sie versteht sich als die einzige “wirklich existierende marxistisch-leninistische Wissenschaft”14. Ihre Prinzipien können deshalb nicht zur Debatte stehen, weil dies der Wahrheit selbst — und damit ihrer Wissenschaftlichkeit — abträglich wäre. 20

Bemerkenswert ist, daß die DDR-Literaturwissenschaftler das Bedürfnis spüren, die Überlegenheit ihrer Methode immer wieder nachdrücklich zu betonen. Es findet sich — besonders in den letzten Jahren — kaum ein Beitrag, in dem nicht wenigstens darauf angespielt wird. Dies ist in erster Linie darauf zurückzuführen, daß das Aufgabenfeld, vor das sich die Literaturwissenschaft gestellt sieht, so komplex und so schwer zu bewältigen ist, daß es stets von neuem notwendig ist, an die einmal bezogenen Grundpositionen zu erinnern. Dies legt aber auch die Vermutung nahe, daß sich zwischen dem offiziellen Selbstverständnis der Literaturwissenschaft und den Ansichten mancher Forscher eine Kluft auftut. Das ständige Wiederholen könnte als Versuch interpretiert werden, diese Forscher von der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges zu überzeugen. Diese Hypothese wird auch durch die Unzufriedenheit bestätigt, die sich in regelmäßigen Abständen über die Leistungen der Literaturwissenschaft breitmacht. Es hat den Anschein, als würde sie hinter den anderen Wissenschaften herhinken. Aufschlussreich ist dabei, daß der Schwerpunkt der erhobenen Vorwürfe gerade auf dem liegt, was sie zu einer marxistisch-leninistischen Wissenschaft erheben soll, also auf der Tatsache, daß sie ihre Forschungstätigkeit nicht ausreichend mit der Praxis verbindet. In dieser Hinsicht wird dauernd das gleiche gesagt. Sowohl die Kulturfunktionäre als auch die offiziellen Wortführer der Disziplin halten es für nötig, die Literaturwissenschaft an ihre erzieherischen Aufgaben zu erinnern. Sie sehe an ihrer Rolle vorbei, sie sei noch zu sehr in “bürgerlichen” Vorstellungen verankert, sie richte sich nicht intensiv genug an den Leitsätzen der Partei aus und ihre Forschungsergebnisse fänden deshalb nur mit erheblicher Verzögerung Eingang in die gesellschaftliche Praxis. Wahrscheinlich ist es nicht abwegig, bei einer beträchtlichen Anzahl von DDR-Literaturwissenschaftlern einen gewissen Widerstand gegen die Unterordnung unter die Parteidisziplin anzunehmen. Wohl wagt es keiner, sich der Ideologisierung und Politisierung seines Faches zu widersetzen oder gar kritische Vorbehalte laut werden zu lassen. Es ist aber denkbar, daß manche einen Mittelweg gefunden zu haben glauben, indem sie versuchen, bei ihrer Forschungstätigkeit ihre eigenen Überzeugungen und die Forderungen des Führungsapparats in Übereinstimmung zu bringen. Eine Äußerung von Willi Beitz in einem polemischen Artikel der “Weimarer Beiträge” 1969 scheint dies zu bestätigen :

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“Es gab auch Fälle, wo der Maßstab so ‘neutral’ gewählt wurde, daß die betreffende Arbeit auch ‘drüben’ anerkannt werden konnte. Man braucht sich nur die Rezensionen einschlägiger Fachzeitschriften anzusehen und wird unschwer manchen Beitrag entdecken, der so geschrieben ist, als komme es in erster Linie darauf an, ja keinem wehzutun, als gebe es keinerlei grundsätzliche Streitfragen und als müsste man als DDR-Wissenschaftler der ‘anderen Seite’ vor allem seine Gelehrsamkeit beweisen.”15 21

Belassen wir es vorläufig bei dieser Hypothese ; auf dieses Thema wird im dritten und vierten Kapitel zurückzukommen sein.

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Die DDR-Literaturwissenschaft unterzieht alle anderen literaturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen einer harten Kritik. Wegen des Mangels an Wissenschaftlichkeit, der sie alle miteinander verbinde, schrumpft in DDR-marxistischer Sicht der Methodenpluralismus im Grunde auf einen Methodendualismus zusammen : auf der einen Seite steht einzig und allein die DDR-Literaturwissenschaft 16, auf der anderen alle übrigen Richtungen, die pauschal als revisionistisch und bürgerlich abqualifiziert werden.

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Logischerweise distanziert sich die DDR-Literaturwissenschaft am meisten von der sogenannten werkimmanenten Methode. Diese sei deshalb nicht geeignet, ihrem Gegenstand gerecht zu werden, weil sie wesentliche Momente der Kunst nicht in das Blickfeld ihrer Betrachtungen einbeziehe. daß die Kunst als vom realgeschichtlichen Prozess unabhängig angesehen werde, d.h. von ihren Wurzeln völlig abgeschnitten sei, werde eine ihrer “Teilfunktionen” verabsolutiert. Claus Träger spricht in diesem Zusammenhang von “hypertrophierter Interpretationskunst”17. Wenn auch andere nicht “enthistorisiert” sind und somit in marxistischer Sicht einem wesentlichen Aspekt der Kunst Rechnung tragen, werden sie doch ebenfalls in Abrede gestellt, weil alle angeblich auf einer falschen Ideologie fußen. Es ist interessant, festzustellen, daß den Angriffen seitens der westlichen Literaturwissenschaft mit genau denselben Argumenten begegnet wird, die diese selbst benutzt, um ihre Vorbehalte gegen die DDR-marxistische Interpretationsmethode zu begründen. Die Literaturwissenschaft im Westen sei auch durchaus politisiert, und diene dazu, durch Massenmanipulierung die Herrschaft des Monopolkapitals zu sichern. Im Vorwort zur 1970 herausgegebenen Aufsatzsammlung “Kritik in der Zeit” nimmt Klaus Jarmatz Stellung zur Situation der Literaturkritik in der BRD : “Die professionelle Kritik im imperialistischen Deutschland ist in eine nahezu ausweglose Sackgasse geraten, da sie keine Verbindung zu einem humanen Gesellschaftsgedanken mehr findet. Die Spaltung in einelebensfremde Kathederwissenschaft einerseits, die Literaturgeschichte um ihrer selbst willen betreibt, freilich nicht auch ohne wert- volle Fakten zu erschließen, und eine Kritikandererseits, die auf Grund ihrer beschränkten Klassenposition nicht mehr in der Lage ist, den forschenden Blick auf das Ganze der literarischen Entwicklung zu richten. Entlassen aus gesellschaftlicher humanisticher Verpflichtung, verbunden dem l’art-pour-l’art-Prinzip, dient sie einem überlebten Gesellschaftssystem, wobei sie bestenfalls humanistische und realistische Traditionen in nichtrealistische verfälscht, um dem Modernismus eine Scheinkontinuität und-tradition zu verleihen.”18

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Diese Aussage resümiert die DDR-Einschätzung des ganzen literaturwissenschaftlichen Betriebs der Bundesrepublik. Die Freiheit, die die Literaturwissenschaft im Westen beansprucht, wird als Schimäre aufgefasst. Hierzu Claus Träger : “Die Wissenschaften müssen nur die monopolkapitalistischen Verhältnisse mit reflektieren, um ihre Kraft wiederzugewinnen — für die Bestätigung dieser

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Verhältnisse unter dem Schein der ‘Freiheit’ gegenüber der von Marx noch nicht mitreflektierten politischen Unfreiheit im Sozialismus.” 19 25

Die anderen marxistischen Methoden erfreuen sich keiner höheren Wertschätzung bei der DDR-Literaturwissenschaft. Bereits die Bezeichnung “revisionistisch”, die allen Richtungen der Literaturwissenschaft gegeben wird, die sich zwar auf die Prinzipien des historischen Materialismus gründen, die von den marxistisch-leninistischen Parteien der Ostblockstaaten vorgeschriebenen Richtlinien aber nicht als maßgebende Autorität anerkennen, ist aufschlussreich : ihnen wird vorgeworfen, die Doktrin von Marx und Engels durch subjektive Auslegung zu entstellen. Wegen des falschen Bewußtseins, das diesen Richtungen unterschoben wird, sollen sie sich alle in Widersprüche verstricken. Im Rahmen der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus empfindet die DDR-Literaturwissenschaft die Widerlegung dieser “Häresien” als zentrale Aufgabe, nicht zuletzt deshalb, weil sie vielleicht noch mehr als die “bürgerlichen” dazu angetan sind, ihre Auffassungen zu unterminieren.

NOTES 1. Philosophisches Wörterbuch, herausgegeben von Georg Klaus und Manfred Buhr, zehnte, neubearbeitete und erweiterte Auflage ; Leipzig 1974, Band 2, S. 916. 2. Claus Träger : Studien zur Realismustheorie und Methodologie der Literaturwissenschaft, Leipzig 1972, S. 350 ; Hervorhebungen von Träger. 3. S. 402, 3. 4. S. 403. 5. Hier muß indessen darauf hingewiesen werden, daß man viel anfängt, aber wenig abschließt. Die Erstellung einer neuen “Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart” in elf Bänden kann als Beispiel herangezogen werden. Die Fertigstellung dieses Werkes war ursprünglich für 1971 vorgesehen. Bisher sind aber nur fünf Bände erschienen. Im vierten Kapitel wird auf dieses Projekt näher eingegangen. 6. Herausgegeben von Prof. Dr. Erwin Pracht und Dr. Werner Neubert, Berlin (Ost) 1970. 7. Herausgegeben vom “Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED Berlin, Lehrstuhl Kunst-und Kulturwissenschaften”, Berlin (Ost) 1972. 8. Der “Referatedienst zur germanistischen Literaturwissenschaft”, seit 1971 “Referatedienst zur Literaturwissenschaft” genannt, wird von der “Akademie der Wissenschaften der DDR” herausgegeben. 9. Jörg B. Bilke : Die Germanistik in der DDR : Literaturwissenschaft in gesellschaftlichem Auftrag. In : Die deutsche Literatur der Gegenwart. Aspekte und Tendenzen, herausgegeben von Manfred Durzak, Stuttgart 1971, S. 383. 10. Alfred Kantorowicz, seit 1950 Professor für neueste deutsche Literatur an der HumboldtUniversität in Berlin (Ost), flüchtete 1957 in die BRD ; Hans Mayer war von 1948 an Professor an der Universität Leipzig, bis er 1963 die DDR verließ. 11. s. 240. 12. s. 50. 13. Claus Träger : op. cit. S. 376 (Hervorhebung von mir).

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14. Claus Träger : op. cit. S. 353. 15. Willi Beitz : Zu einigen Fragen der Effektivität und des wissenschaftlichen Niveaus in der Literaturwissenschaft, in : Weimarer Beiträge I, 1969, S. 74-89 ; S. 75. 16. Selbstverständlich neben der der anderen Ostblockstaaten, insbesondere der Sowjetunion. 17. Claus Träger : op. cit. S. 31. 18. Kritik in der Zeit. Sozialismus-seine Literatur-ihre Entwicklung, Halle (Saale) 1970 ; S. 14. 19. Claus Träger : op. cit. S. 344.

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Zweites Kapitel. Der RealismusBegriff  

Einleitung 1

Die Geschichte des literarischen Denkens lehrt, daß das Realis-musproblem seit jeher ein Brennpunkt literaturwissenschaftlichen Meinungsstreits gewesen ist. Heute noch, mehr als zweitausend Jahre nachdem Aristoteles in der Mimesis das Wesen der Dichtkunst erblickt hat, herrscht in der einschlägigen Diskussion völlige Uneinigkeit. Die Positionen, die namhafte Literaturwissenschaftler, wie etwa Georg Lukács und Richard Brinkmann, René Wellek und E.B. Greenwood in den letzten 50 Jahren über den literarischen Realismus bezogen haben, prallen derart aufeinander, daß die Frage berechtigt zu sein scheint, ob dieser überstrapazierte Begriff noch mehr ist als ein bloßes Etikett für höchst divergierende Meinungen. Sehr radikal hinsichtlich der weiteren Verwendung des Terminus “Realismus” in der Literaturwissenschaft zeigt sich der französische Germanist Claude David, wenn er in einer Studie zur Geschichte der deutschen Literatur vor der Behauptung nicht zurückschreckt : “Das Wort ‘Realismus’ vermag die deutsche Wirklichkeit nicht zu fassen. Wird man es noch lange auf die französische, englische und russische Wirklichkeit anwenden ? Man darf es bezweifeln.”1 Etwas optimistischer dagegen ist Brinkmann. Wohl ist er sich der Problematik des Begriffs bewußt ; er sieht aber in der Forschung der letzten Jahrzehnte “eine erneute und lebhafte Bemühung um die Begriffsbestimmung des literarischen Realismus” und hat es daher 1969 als eine lohnende Aufgabe betrachtet, die wesentlichen Tendenzen der Realismus-Debatte, die sich nach dem zweiten Weltkrieg abgezeichnet haben, in einem Band zusammenzubringen2.

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Wohl als einzige hatte die DDR-Literaturwissenschaft von Anfang an dem Begriff gegenüber eine Haltung, die — mindestens bis vor kurzem — von der allgemein herrschenden Vorsicht und Skepsis offensichtlich weitgehend unberührt blieb. Als in den frühen 50er Jahren nach kurzem Zögern in der Kunsttheorie der Begriff “Realismus” als schlechthin fundamental ausgewiesen wurde, schien es auf den ersten Blick, als habe die künstlerische Reflexion im jungen sozialistischen Staat einen weiten Vorsprung. Er wurde nämlich zum absoluten Maßstab erhoben, an dem Literatur

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gemessen werden kann und muß. Seit Anfang ihres Bestehens erhebt die DDRLiteraturwissenschaft den Anspruch, mit dem Begriff “Realismus” ein Bewertungsinstrument zu besitzen, das sie zu einer richtigen, differenzierten und angemessenen Erfassung von literarischen Erscheinungen, sowohl aus der Vergangenheit als auch aus der Gegenwart, befähigt. 3

Trotz der grundverschiedenen Voraussetzungen versteht sich die DDR-Literatur als tief verwurzelt in der nationalen Kulturtradition. Dazu zählt keineswegs die Gesamtheit der überlieferten Literatur, sondern eben nur die, die als realistisch betrachtet wird. Was die Literatur der Gegenwart anbelangt, erfährt der Begriff, dem man der zeitgeschichtlichen Situation und der mit ihr verbundenen Theorie entsprechend das Adjektiv “sozialistisch” beigefügt hat, eine weitere Dimension. Er erhält einen streng normativen Charakter, insofern er die ganze Kunstdoktrin enthält, nach der sich die “Kunstschaffenden” zu richten haben, um überhaupt zur Geltung zu gelangen. Der “sozialistische Realismus”, der als die am weitesten fortgeschrittene Kunstmethode gilt, bildet die Alternative zu den “spätbürgerlichen modernistischen” Methoden. Wird einem Kunstwerk der sozialistisch-realistische Charakter abgesprochen, so wird es einfach zurückgewiesen, weil es angeblich in die Entwicklungslinie der Literatur nicht paßt. Erinnert sei hier an den langen Streit um den Roman “Nachdenken über Christa T.” von Christa Wolf und an die Diskussion um die 1972 erschienene Filmerzählung von Ulrich Plenzdorf “Die neuen Leiden des jungen W.”3. In Wirklichkeit war in den Gründungsjahren der DDR der Streit um die endgültige semantische Festlegung des Begriffs noch lange nicht ausgefochten. Obwohl er zum Drehpunkt aller literaturtheoretischen Diskussionen wurde, waren nur bestimmte Aspekte seines Bedeutungsfeldes gründlich herausgearbeitet worden. Eine Reihe von hochwichtigen Fragestellungen war völlig unberücksichtigt geblieben. Auch in der heutigen Phase der Entwicklung des literarischen Denkens in der DDR ist die Bewertungskategorie “Realismus” noch lange nicht in ihrer ganzen Komplexität erforscht. Aber jetzt ist man sich ihrer Kompliziertheit bewußt geworden, was einen — wenn auch gemäßigten — Optimismus hinsichtlich der weiteren Erschließung des Begriffs zuläßt. Die vor ein paar Jahren erfolgte Problematisierung der angewandten Kategorien ist m.E. als das bisher größte Verdienst der Literaturwissenschaft in der DDR zu bezeichnen.

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Im folgenden wird der Versuch unternommen, den Bedeutungshorizont des vom DDRmarxistischen Standpunkt aus neu durchdachten Begriffs “Realismus” näher zu umreißen. Dies bereitet große Schwierigkeiten, nicht zuletzt deshalb, weil sich sein Inhalt innerhalb von fast 25 Jahren in starkem Maße gewandelt hat, wenngleich er den ihm zugeschriebenen zentralen Wert durchaus beibehalten hat. Die Bestimmung des Begriffs und der Wandlungsprozeß, den er durchlaufen hat, zeigen, welche Funktion die Kunst im Aufbau der sozialistischen Gesellschaft zu erfüllen hat, denn beide lassen sich — wie schon im ersten Kapitel angedeutet — ohne Berücksichtigung der besonderen politischen Situation des Staates und seines Selbstverständnisses schwerlich verstehen.

5

Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, ist es erforderlich, von der marxistischen Erkenntnistheorie, die das Wesen der Kunst bestimmt, auszugehen. Dann werden die sich daraus für den Begriff “Realismus” ergebenden Konsequenzen gezogen werden, was uns dann ermöglichen wird, in den folgenden Abschnitten dessen Wandlung auszuleuchten.  

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I. - Die Kunst als Erkenntnismittel oder die Theorie der Wider spiegelung 6

Die Bestimmung der Kunst als einer der Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins des Menschen läßt darauf schließen, daß diese keine Eigenständigkeit beanspruchen kann. Im Gegensatz zu den philosophischen Strömungen des “Idealismus” ist in der materialistischen Philosophie nämlich nicht das Bewußtsein, sondern das “objektiv reale” Sein, d.h. die außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existierende Realität, primär4. Alle Bewußtseinsformen — ob Wissenschaft, Ideologie, Religion oder Kunst — sind aus dem Sein ableitbar. Ihnen allen wird die Eigenschaft zugeschrieben, die materielle Welt, sowohl die natürliche als auch die gesellschaftliche, ideell zu reproduzieren.

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Aufgrund dieses Axioms ist also jedes Kunstwerk mit der Wirklichkeit, seiner Entstehungsbasis, aufs engste verflochten, auch wenn sich der Künstler ihr nicht direkt zuwendet oder sogar versucht, sich von ihr zu lösen, wie es manche modernen Theorien fordern.

8

Hieraus geht hervor, daß die Kunst im Grunde ein Erkenntnisinstrument ist, das dem Menschen dazu verhilft, sich die objektive Realität geistig anzueignen. Die Kunst vermag es, in das Wesen der materiellen Welt einzudringen und deren Gesetzmäßigkeiten aufzudecken. Hierzu schreibt der Leipziger Germanist Erhard John : “In ihrer Auseinandersetzung vor allem mit spätbourgeoisen Kunsttheorien verteidigte die marxistisch-leninistische Ästhetik schon bei ihren ersten Schritten die materialistische wissenschaftliche Einsicht, daß die Kunst ebenso wie die Wissenschaft die Wirklichkeit in einer spezifischen Weise widerspiegle und ein zuverlässiges Wissen von Lebensprozessen, Konflikten, gesellschaftlichen Zusammenhängen und Problemen geben könne.”5

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Da das Bewußtsein des Künstlers nicht notwendigerweise richtig ist, ist das durch seine Tätigkeit geschaffene Abbild nicht notwendigerweise adäquat. Als realistisch zu betrachten wäre demnach eine Kunst, die angemessene Abbilder der Realität liefert. Mit anderen Worten, der Grad an Obereinstimmung zwischen Abbild und Abgebildetem wäre maßgebend.

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Hier wird wohl Wesentliches berührt, wie aus der Definition der Abbildtheorie im “Kleinen Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie” hervorgeht : “Das hieraus hervorgehende gesellschaftliche Bewußtsein ist in seiner Gesamtheit stets ein historisch bedingtes Abbild der bereits angeeigneten, zum Objekt gewordenen materiellen Welt, sowohl der natürlichen als auch der gesellschaftlichen, und es widerspiegelt diese Welt in verschiedenen Formen, die teils mehr oder weniger adäquat sind, wie die Wissenschaft mit ihren kognitiven Abbildern oder die realistische Kunst, teils mehr oder weniger verzerrt, wie z.B. die bürgerliche Ideologie, teils sogar phantastisch und illusorisch, wie in der Mythologie, Religion und im Idealismus.”6

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Aber das Beziehungsgefüge zwischen Abbild und Abgebildetem ist komplexer, als dieses Zitat es andeutet. Der Begriff “Widerspiegelung”, der vielen Literaturwissenschaftlern, auch marxistischen, im Hinblick auf die Kunsttheorie von vornherein sehr suspekt erscheint, faßt diese Relation zusammen. Die orthodoxe marxistische Auffassung der Widerspiegelung gründet sich ziemlich unproblematisch auf die in den Jahren der Revolution von Lenin erarbeitete Theorie der “Parteiliteratur”. Wie Lenin unterscheidet die Literaturwissenschaft der DDR im Widerspiegelungsprozeß zwei

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Hauptmomente : dieser hat zuerst einmal einen abbildenden, dann aber auch einen bildenden, schöpferischen Charakter. Beide sollen im folgenden kurz skizziert werden.  

1. Zur abbildenden Funktion der Kunst 12

Nach historisch-materialistischen Ansichten gehört es zu den Wesenseigenschaften der Kunst, die Wirklichkeit in ihrer Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit objektiv wiederzugeben. Dabei reduziert sich die künstlerische Aktivität nicht auf ein bloßes Abschildern Vorgefundener Tatsächlichkeiten und Vorgänge. An die Kunst werden höhere Forderungen gestellt. In beinahe allen Diskussionen zum Thema Widerspiegelung findet sich das Bestreben der DDR-Literaturwissenschaft, die eigenen Positionen gegen eine Auffassung der Kunstwerke als naturalistische Kopie abzugrenzen. Dabei wird immer wieder unermüdlich an Lenins Äußerung erinnert : “Die Kunst fordert nicht die Anerkennung ihrer Werke als Wirklichkeit.” 7

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Hieraus wird abgeleitet, daß die Wirklichkeit nicht bloß passiv ins Kunstwerk aufgenommen wird. Die Kunst kann — und soll — · kognitive Abbilder liefern. Was das abbildende Moment der Widerspiegelung anbelangt, besteht die Tätigkeit des Künstlers darin, die Wirklichkeit wahrheitsgemäß wiederzugeben. Wahrheit in der Kunst bedeutet nach offiziellen Ansichten “wissenschaftlich” interpretierte Wirklichkeit. Als “wissenschaftlich” gilt eine Interpretation, die von den Erkenntnissen der marxistischleninistischen Philosophie ausgeht. Der Widerspiegelungstheorie zufolge hat der Künstler aus der Fülle der Erscheinungen das herauszuheben, was die Dialektik des materiellen Lebensprozesses aufzeigt. Der Abbildungsprozeß soll auf eine Sichtbarmachung der Wirklichkeit, auf ihre Bedeutsamkeit für den Menschen hin angelegt sein. Das Kunstwerk ist also in dieser Hinsicht eher eine Röntgenaufnahme als eine Photographie der Wirklichkeit8. Der Künstler ist somit im Grunde ein Vermittler zwischen Wirklichkeit und Kunstrezipient. Die Wirklichkeit, die er schafft, das künstlerische Bild, ist aufgeschlüsselte materielle Realität, d.h. diese erscheint im Kunstwerk wie sie der historische und dialektische Materialismus sieht, also dem Menschen zugänglich, von ihm beherrschbar.

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Ausschlaggebend am Wahrheitsgehalt der Kunst ist, daß Wirklichkeit im historischen und dialektischen Materialismus nie etwas Statisches, ein für allemal Festgelegtes ist. Sie ist vielmehr in einem kontinuierlichen Entwicklungsprozeß begriffen. Hieraus geht hervor, daß in der künstlerischen Abbildung der Wirklichkeit die historische Perspektive niemals fehlen darf. Im Kunstwerk soll das wahre Geschichtliche, also die Grundrichtung des gesetzmäßigen Gangs der Geschichte, herausgearbeitet und damit die potentielle Möglichkeit der menschlichen Entwicklung aufgezeigt werden.

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In jeder Epoche der Menschheitsgeschichte sieht sich demgemäß der Künstler mit einer spezifischen, von den anderen Epochen verschiedenen Wahrheit konfrontiert. Hieraus resultiert unmittelbar, daß auch die Kunst eine historische Erscheinung ist ; sie wandelt sich entsprechend der Umformung des ökonomischen und politischen Unterbaus. Ein Beispiel kann dies leicht veranschaulichen : Wirklichkeitsinhalt unserer Zeit ist nach marxistischen Ansichten, daß “sie beherrschbar geworden ist, da ihre grundlegenden Bewegungsgesetze bekannt sind”9. Auf die gegenwärtige deutsche Wirklichkeit übertragen, heißt das wohl, daß die DDR ein neues Kapitel Geschichte zu schreiben angefangen hat, das als entscheidender Wendepunkt zu betrachten ist, da der junge sozialistische Staat erstmalig in der deutschen Geschichte seine Zukunft in Kenntnis

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der Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Entwicklung wissenschaftlich konsequent aufbaut. Logische Folge für die Kunst der DDR ist, daß sie sich zu einer wissenschaftlichen Sicht der neuen Wirklichkeit emporzuarbeiten und sich diese zum Gegenstand zu machen hat. In den Augen vieler westlicher Literaturwissenschaftltler impliziert dies eine wesentliche Einschränkung der künstlerischen Freiheit. In DDRmarxistischer Sicht aber kann dies für die neue Kunst nur positive Folgen haben. Hierzu schreibt Koch : “Der Vorstoß zu all diesem Neuen in der Wirklichkeit ist eine wichtige Gesetzmäßigkeit des künstlerischen Fortschritts und eine Grundlage der Entwicklung aller schöpferischen Prinzipien der künstlerischen Methode des sozialistischen Realismus.”10 16

Hierauf wird zurückzukommen sein.  

2. Zur bildenden Funktion der Kunst 17

In der offiziellen marxistischen Literaturtheorie erschöpft sich die künstlerische Aktivität nicht in der Herausfindung der Wahrheit in der Geschichte. Zwischen Abbild und Abgebildetem herrscht kein bloßes Abhängigkeitsverhältnis. Dem Begriff Widerspiegelung ist ein aktives Moment inhärent. Auch für die Kunst gilt die Dialektik von Erkenntnis und Praxis. Wird im Abbildungsprozeß — nicht zuletzt im künstlerischen — Materielles in Ideelles umgesetzt, so kann das Ideelle selber Grundlage schöpferischer Tätigkeit durch den Künstler werden, indem es selber wiederum in Materielles umgesetzt wird. Die gesellschaftliche Praxis ist das Ziel der Abbildung. Die Kunst vermag nicht nur zur Aufhellung der Dialektik der gesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit beizutragen, sondern auch Impulse auszustrahlen, die diesen Prozeß vorantreiben. Erst mit dem Moment der Praxis erfüllt die Kunst ihre gesellschaftliche Funktion.

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Die Geschichte entzieht sich dem Menschen nicht. Sie ist nichts anderes als der Prozeß der Selbstverwirklichung des Menschen in der materiellen Welt, also ein Prozeß, in dem sich der Mensch immer mehr vom Objekt zum Subjekt erhebt, indem er die Welt immer mehr auf ein Objekt reduziert. In dem von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Robert Weimann verfaßten Artikel “Zur Tradition des Realismus und Humanismus" wird die Geschichte als “eine von immer neuen Widersprüchen erfüllte, fortschreitende Auseinandersetzung des Menschen mit seinen natürlichen und gesellschaftlichen Existenzbedingungen” definiert11. Wirklichkeit ist in diesem Sinne also stets Gemachtes und zu Machendes. Wieder einmal wird in bezug auf das bildende Moment der Widerspielung von Lenins Theorie ausgegangen. Lenin hat seine Ansichten darüber in einer Äußerung zusammengefaßt : “Das Bewußtsein des Menschen widerspiegelt nicht nur die objektive Welt, sondern schafft sie auch.” 12. Dieser Satz hat in der DDR-Literaturwissenschaft Berühmtheit erlangt ; es ist, als müsse er in sämtlichen Diskussionen zum Thema Widerspielung zitiert werden.

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Bemerkenswert ist, daß die DDR-Literaturwissenschaft dem schöpferischen Aspekt der Widerspiegelung von Anfang an ganz besondere Beachtung geschenkt hat. Er wird für die Lenkung des Kunstprozesses der Gegenwart als zentral betrachtet. Ober dieses Thema wird in der DDR sehr viel zu Papier gebracht. Als typisches Beispiel unter vielen kann hier eine Äußerung von Pracht angeführt werden : “Von grundsätzlicher Bedeutung ist die Antwort auf die Frage nach dem Wahrheitsgehalt sozialistischer Kunst. Sozialistisch-realistische Kunst sieht ihre

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Hauptaufgabe nicht nur in der Verfertigung von Abbildern der Wirklichkeit schlechthin. Sie ist an ganz bestimmten Abbildern mit ganz bestimmter Wirkung interessiert. Es geht bei der Abbildung der Wirklichkeit darum, ‘die Welt so darzustellen, daß sie beherrschbar wird’. Deshalb sollen die Abbildungen sozialistisch-realistischer Kunst ‘praktikabel’ sein, also nicht nur Einsichten in das soziale Getriebe gewähren, sondern zugleich sozialistische Impulse erzeugen. Wobei sozialistische Kunst sowohl die Lust am Erkennen als auch an der Veränderung der Wirklichkeit erregen müsse.”13 20

Es wird noch begründet werden, warum gerade der bildenden Funktion der Kunst in der DDR ein besonders reges Interesse entgegengebracht wird.  

2. Zur Dialektik Objektivität - Subjektivität 21

Über die Dialektik Objektivität - Subjektivität im künstlerischen Prozeß ist in der DDRmarxistischen Literaturtheorie das letzte Wort noch lange nicht gesprochen worden. Hier ist nicht der Ort, auf sie ausführlich einzugehen. Es geht in diesem Abschnitt lediglich darum, zu zeigen, welche — einschneidenden — Konsequenzen die auf die Kunst angewandte Erkenntnistheorie für die Aktivität des Künstlers als eines Schaffenden hat.

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Das in der Widerspiegelungstheorie definierte Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit bestimmt genau den Platz, der der schöpferischen Tätigkeit des Künstlers eingeräumt wird. Ihr werden Grenzen gesetzt, die niemals überschritten werden dürfen. Aus der Preisgabe einer ontologischen Auffassung der Kunst ergibt sich, daß diese ihrer abbildenden und bildenden Funktion erst dann gerecht werden kann, wenn die subjektiven Ansichten des Künstlers mit der “objektiven Wahrheit” übereinstimmen. Im Prozeß der Wahrheitsfindung ist die größtmögliche Objektivität das höchste Gebot der Kunst. Hier darf sich das künstlerische Subjekt keine Willkür leisten, es muß den “objektiven Auftrag der Geschichte” aufnehmen. Da die objektiven Gesetzmäßigkeiten, denen die Kunst unterworfen ist, gegenwärtig allgemein erkannt sind, bedeutet ihre strenge Einhaltung eine neue Qualität für das künstlerische Schaffen. So schreibt Pracht im Hinblick auf die sozialistische Kunst der Gegenwart : “Die sozialistische realistische Kunst wendet die Erkenntnisse der marxistischleninistischen Philosophie bewußt und historisch konkret auf die Funktion der Kunst in der sozialistischen Gesellschaft an. Das bringt eine weitere wesentliche Erhöhung der Erkenntnisfunktion der Kunst mit sich und vertieft ihr Bewußtsein über ihre eigenen, nur von ihr und niemand anderem zu lösenden Aufgaben in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft.”14.

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Jeder Verzicht auf Objektivität hat logischerweise eine Entartung der Kunst zur Folge, da diese dann keine Erkenntnisse mehr liefern kann. So werden alle modernen Theorien, die auf der Autonomie basieren und somit “jeglichen Wirklichkeitsbezug auslöschen”15, als “subjektivistisch” abgetan. Die schöpferische Freiheit, die dem Künstler in diesen Theorien gewährt wird, wird rundheraus als groteske Übertreibung des Rechts auf Freiheit abgestempelt.

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Die aus der historischen Determiniertheit der Kunst hervorgehende Forderung nach Objektivität wird keineswegs als Reduzierung des subjektiven Moments der künstlerischen Aktivität verstanden. Im Kunstschaffen erblickt die DDRLiteraturwissenschaft eine dialektische Einheit von Objektivität und Subjektivität. Pracht resümiert die offizielle DDR-Theorie folgendermaßen :

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“Ist es falsch, Wirklichkeit und Objekt, das heißt Gegenstand der Widerspiegelung, gleichzusetzen, was zu einer Unterschätzung der künstlerischen Subjektivität, der aktiven Seite des ästhetischen Aneignungsprozesses wie auch zu der damit zusammenhängenden Gegenüberstellung von Abbildung und Praxis führen muß, so ist es genauso falsch, die schöpferische Aktivität des Künstlers, seine Subjektivität auf Kosten der Erkenntnisfunktion, des Abbildcharakters der Kunst zu verabsolutieren. Kunst als schöpferische Tätigkeit und Widerspiegelung, Erkenntnis sind keineswegs unvereinbar.”16 25

Ebenfalls sagt er zum sozialistischen Realismus : “Ebensowenig gibt es in der Theorie des sozialistischen Realismus einen Widerspruch zwischen dem Widerspiegelungscharakter der Kunst und der schöpferischen Aktivität des erkennenden und gestaltenden künstlerischen Subjekts.”17

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Genauso wie die Subjektivität ohne das objektive Moment zum Subjektivismus wird, entartet die Objektivität unter Ausschaltung des subjektiven Moments in Objektivismus. Der Künstler bleibt also ein Schaffender, ein “Macher”, auch wenn ihm dabei eben durch den Gegenstand der Kunst strenge Richtlinien diktiert werden. Seine Rolle besteht darin, die Wirklichkeit zu vermitteln, nicht wie er selber sie mit seinen eigenen Empfindungen wahrnimmt, sondern im Grunde wie sie die marxistische Philosophie sieht und aufzuschlüsseln glaubt. Anders ausgedrückt : der Dichter darf seine eigene Realitätserfahrung, also seine eigene Situation innerhalb der sozialen Gesetzmäßigkeiten, nur dann ästhetisch verarbeiten und in ein Kunstwerk umsetzen, wenn sie mit der des historischen und dialektischen Materialismus übereinstimmt 18.

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Die auf diese Weise bestimmte Dialektik von Objektivität und Subjektivität stößt im Westen oft auf Unverständnis. Die folgende Äußerung von Sabine Brandt zeugt davon : “Vom Künstler wird nicht die Widerspiegelung der Welt, sondern ihre Interpretation im Sinne der Parteipolitik erwartet.”19

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Darüber hinaus hat die DDR-Literaturwissenschaft eine heftige Kritik auf sich gezogen, und nicht nur seitens der “bürgerlichen” Literaturwissenschaft. Namhafte Marxisten, wie etwa Ernst Fischer, haben sich geweigert, dieser Theorie zuzustimmen. Das Beziehungsgefüge Objektivität-Subjektivität ist eines der Hauptprobleme der marxistischen Literaturtheorie überhaupt. Hier muß noch erwähnt werden, daß die subjektive Seite des Kunstprozesses, die doch schließlich die Originalität, die Einmaligkeit, die Genialität eines Kunstwerkes ausmacht, auch im sehr engen Rahmen, der ihr zugewiesen worden ist, in der DDR-Literaturwissenschaft bis vor kurzem völlig unterbelichtet geblieben ist.  

II. - Realismustheorie und Widerspiegelung 1. “Realismus” als Kunstrichtung 29

Somit ist die philosophische Fundierung der Kunst definiert. Das Kunstwerk als Abbild wie seine feste Verankerung in der Realität sind grundlegende Probleme des künstlerischen Denkens, die in der DDR nicht mehr zu Diskussion stehen. Die Widerspiegelungstheorie wird drüben — zumindest offiziell — nicht mehr in Zweifel gezogen. Im historisch-materialistischen Denken hat sie sich angeblich als siegreich herausgestellt.

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In letzter Zeit ist Christa Wolf jedoch in ihrem Essay “Lesen und Schreiben” gegen die Widerspiegelungstheorie heftig zu Felde gezogen : “Lassen wir Spiegel das ihre tun : Spiegeln. Sie können nichts anderes. Literatur und Wirklichkeit stehen sich nicht gegenüber wie Spiegel und das, was gespiegelt wird. Sie sind ineinander verschmolzen im Bewußtsein des Autors.” 20

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Allerdings muß hinzugefügt werden : Christa Wolf hat im selben Essay und in einem Interview diese radikale Stellungnahme wesentlich gemildert, aber auffallend ist trotzdem, daß diese Auflehnung gegen die Widerspiegelungstheorie von einer Schriftstellerin, und zwar einer der profiliertesten der DDR, stammt. Symptom eines tiefen Unbehagens darüber, daß die Literatur so radikal an die Leine gelegt worden ist, und Bedürfnis, über diesen engen Rahmen hinauszudenken ? Darüber mehr im vierten Kapitel.

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Die Widerspiegelung ist der philosophische Grundbegriff des Realismus. Daß die Kunst nach der offiziellen Theorie ihrem Wesen nach die objektive Realität ideell reproduziert, bedeutet noch lange nicht, daß jede künstlerische Erscheinung realistisch ist. Bestimmt man allein nach dem Widerspiegelungsprinzip, welche Qualitäten ein Kunstwerk haben muß, um realistisch zu sein, so ergibt sich folgendes : Zu prüfen ist zunächst, ob das Denken des Künstlers in der Geschichte angesiedelt ist, d.h. ob er die Wirklichkeit überhaupt als Prozeß auffaßt und was er von diesem Prozeß wahrnimmt. Dann ist zu untersuchen, in welchem Maße das Wahrgenommene im Kunstwerk erscheint, also inwieweit der Künstler sich vom Auftrag, den ihm die Geschichte nach marxistischen Ansichten auferlegt, leiten läßt und auf welche Weise er die Frage nach der Befindlichkeit des Menschen in der konkreten historischen Situation seiner Zeit zu beantworten versucht. Von diesen Kriterien hängt nach offiziellen Ansichten ab, ob Kunstwerke dazu angetan sind, selber auf die gesellschaftliche Praxis zu wirken 21.

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Der Widerspiegelungstheorie zufolge erscheint der Realismus nicht als epochencharakteristischer Begriff, sondern im Grunde als eine Kunstrichtung, die in vielen — wenn nicht in allen22 — Epochen der Geschichte der Literatur zu finden ist. In der traditionellen Periodisierung der Literaturgeschichte wird eine bestimmte Epoche — grob gesagt, die zwischen Romantik und Naturalismus — mit dem Etikett “Realismus” versehen, denn, wie Walter Clauss meint : “sie [die Kunst] bemühte sich um naturgetreue, klare und scharfumrissene Darstellung der Wirklichkeit und behandelte Gegenstände des praktischen Lebens und der Gegenwart. Von selbstbetrachtender Innerlichkeit wandte sie sich nach außen in die sinnenfällige Welt der Tatsachen, genau beobachtend und auf ungewisse Ahnungen und gewagte Gedankenflüge verzichtend.”23.

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In der marxistischen Terminologie wird diese Epoche genauso bezeichnet, das Substantiv “Realismus” wird aber durch Beifügung des Adjektivs “bürgerlich” ergänzt. Auch zur Bezeichnung der Klassik gebraucht eine nach historisch-materialistischen Grundsätzen erarbeitete Geschichte der deutschen Literatur denselben Terminus “Realismus”, der diesmal durch das Adjektiv “klassisch” präzisiert wird. Wie bereits erwähnt, heißt das mit der Etablierung eines marxistischen Regimes im östlichen Teil Deutschlands eröffnete neue Kapitel der Literaturgeschichte “sozialistischer Realismus”.

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Zu betonen ist, daß der Realismuscharakter der Kunst aufgrund der Widerspiegelungstheorie entsprechend der Wandlung des politischen und gesellschaftlichen Unterbaus einer andauernden Veränderung unterworfen ist. Je

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umfassender das Wissen um die Prozeßhaftigkeit der Weltgeschichte wird, desto größer sind nämlich die Perspektiven, die sich für deren angemessenen Erfassung eröffnen24.  

2. Der sozialistische Realismus 36

Von der Idee des künstlerischen Fortschritts, die die Funktionsbestimmung der Kunst als Abbild einschließt, ist die DDR-marxistische Literaturwissenschaft nie abgerückt, obwohl dies manchmal zu Verzerrungen im Hinblick auf die Bewertung der Literatur der Vergangenheit geführt hat. Sie erlag manchmal der Versuchung, diese zugunsten der modernen Literatur unterzubewerten. Heftige Angriffe seitens der anderen Methoden der Literaturwissenschaft haben die DDR-Literaturwissenschaft dazu veranlaßt, ihren anscheinend unerschütterlichen Glauben an die fortschreitende Kunstentwicklung etwas zu nuancieren. Das Axiom vom Kunstfortschritt hat für die Einschätzung der gegenwärtigen Kunstperiode in der DDR entscheidende Folgen.

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Zuerst einmal wird diese logischerweise als die gesetzmäßige Weiterentwicklung des Realismus betrachtet. Sie ist nach DDR-marxistischen Ansichten die am weitesten fortgeschrittene künstlerische Richtung in unserer Epoche des “Übergangs des Kapitalismus zum Sozialismus”, da sie sich in der Erfassung der Wirklichkeit auf die “wissenschaftlichen” Erkenntnisse des historischen und dialektischen Materialismus bewußt und konsequent stützt.

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Sie ist darüber hinaus auch die Krönung der realistischen Kunst schlechthin. Der sozialistische Realismus ist deshalb die höchstmögliche Stufe des Realismus, weil sich zum erstenmal die Subjektivität des Künstlers mit dem objektiven Prozeß der Weltentwicklung decken kann. Der Kunstschaffende besitzt erstmalig in der Geschichte ein adäquates Instrument, um die Realität in ihrer Prozeßhaftigkeit zu durchleuchten. Hierzu äußert sich Koch folgendermaßen : “Der sozialistische Realismus ist die erste künstlerische Methode, die den Gegenstand der künstlerischen Aneignung adäquat historisch zu fassen vermag, die sich auf eine in ihren historischen Zusammenhängen erkannte, in ihrer gesetzmäßigen historischen Entwicklung und revolutionären Veränderung begriffene gegenständliche Wirklichkeit bezieht.”25

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Die Kunst kann jetzt außerdem ihrer Leistungsfunktion in bezug auf ihren Anteil an der Selbstproduktion der Menschheit gerecht werden, da die Zeit angebrochen ist, in der die Arbeiterklasse “gesetzmäßig” zur führenden gesellschaftlichen Kraft geworden ist. Der Schaffensprozeß ändert sich demnach im sozialistischen Realismus grundlegend. Als berechtigter Erbe vereinigt dieser in sich alles, was in den vorangehenden Epochen hervorgebracht wurde, und hebt es auf eine qualitativ höhere Stufe, indem er es fortführt26. Das Wesentliche des Kunstfortschritts resümiert Jarmatz mit folgenden Worten : “Der Kunstfortschritt, der sich im Schaffen der Künstler in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft kundtut, basiert darauf, daß sie jene Kraft bloßlegen, die nunmehr als lebens-und menschenbildende Kraft im Sinne des sozialistischen Humanismus wirksam wird und in diesem Bezug das Bild des Erbauers der neuen Gesellschaft formen und gleichzeitig streitbar alles Überlebte kritisieren, das dem sozialistischen Aufbau im Wege steht. Daraus ergeben sich die neuen Inhalte, die neuen gesellschaftlichen Funktionen und aus beiden neue Formen und künstlerische Techniken.”27

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Es wäre falsch, hieraus schließen zu wollen, daß der Realismus einen Endzustand erreicht hat. Nach der großen sozialistischen Oktoberrevolution” kommt die Geschichte nicht zum Stillstand, aber ihr weiterer Entwicklungsweg verläuft auf nichtantagonistischer Basis, was dessen konsequenten Ausbau (Aufbau einer sozialistischen Menschengemeinschaft) ermöglicht.

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Eine derartige Hochschätzung der eigenen künstlerischen Leistungen ist besonders folgenschwer für die Haltung gegenüber der nicht-sozialistischen Kunst der Gegenwart, die der marxistischen Interpretation der Welt — sei es aus Unkenntnis oder aus bewußter Ablehnung — nicht Rechnung trägt. Diese Kunst wird an den “Errungenschaften” des sozialistischen Realismus gemessen und entsprechend bewertet. Die verschiedenen Abstufungen wie “feudalistisch”, “bürgerlich”, “bürgerlich-humanistisch”, “bürgerlich-dekadent” werden davon hergeleitet.

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Die Frage drängt sich auf, inwieweit der auf diese Weise festgelegte Begriff “Realismus” literarische Erscheinungen zu erfassen vermag. Ein literarisches Werk ausschließlich danach zu befragen, wie es die Ideologie illustriere und wie es ihr dienstbar sei, um dann einzig und allein aufgrund dieses Kriteriums einem Autor die Qualität seiner Dichtung streitig zu machen, würde von Unverständnis dem Phänomen der Literatur gegenüber zeugen. Den Zusammenhang zwischen Kunst und Leben will ich keineswegs negieren, aber die künstlerische Reflexion darauf zu begrenzen, würde eine grobe Verabsolutierung einer Komponente der Kunst bedeuten, die vielleicht wichtig ist — darüber sind sich die Literaturwissenschaftler nicht einig — und die für die Ergründung des Wesens der Kunst vielleicht gute Dienste leisten kann, die aber über das Wesen des künstlerischen Schaffens so gut wie nichts aussagt. Mit Hilfe der Widerspiegelungstheorie allein läßt sich die Kunst nicht definieren. Es wird sich im folgenden zeigen, daß die offizielle DDR-Kunsttheorie dies lange Zeit völlig übersehen hat.  

III. - Wandlung des Begriffs “Realismus” 1. Die fünfziger Jahre 43

Am Anfang der fünfziger Jahre gab es in der DDR noch keine marxistische Literaturwissenschaft. An den Universitäten waren die Lehrstühle bis dahin mit “bürgerlichen” Wissenschaftlern besetzt worden ; marxistisch geschulte Professoren gab es kaum28. Wenn sich die Kulturpolitik in der SBZ in den Jahren nach 1945 durch eine relative Großzügigkeit ausgezeichnet hatte, so konnte es sich der am 7. Oktober 1949 ausgerufene neue Staat aufgrund seiner anfänglichen schwierigen Situation nicht leisten, den Prozeß der Integration sowohl der Literatur als auch der Literaturwissenschaft bis zur Heranbildung marxistisch überzeugter Wissenschaftler hinauszuzögern. Das gesamte kulturelle Leben wurde hart an die Kandare genommen. Genauso wie die Industrie und die Landwirtschaft wurde es “verstaatlicht”, d.h. es wurde dem Staat überantwortet, der es entsprechend seinen eigenen Bedürfnissen lenkte. In seinem umfangreichen Werk “Die Literatur der Deutschen Demokratischen Republik” spricht Konrad Franke in dieser Hinsicht von “blanker Not” 29.

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Wie dem auch sei, die Entwicklung der Kunsttheorie nahm rasch ihren Aufschwung. Es wurde dabei nur ein Weg toleriert, der zu einer direkten Politisierung der Kunst führte. Besonders aufschlußreich ist, daß die meisten an die Literatur gestellten Forderungen

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bis in die sechziger Jahre hinein in erster Linie von Chefideologen der SED und sogenannten Kulturfunktionären formuliert wurden, also von Staatsbeamten, deren Hauptanliegen nicht notwendigerweise der Fortschritt des literarischen Denkens oder sogar dessen Neuorientierung unter marxistischen Prämissen war. Nur wenige Literaturwissenschaftler kamen in diesen Jahren zu Wort. Es waren meistens Forscher, die sich dem neuen Regime mit Leib und Seele verschrieben hatten, wie etwa der Dresdner Germanist Paul Rilla, und deren Ansichten sich mit denen der Parteiführung gänzlich identifizierten. Für die Engführung des kulturellen Lebens waren u.a. verantwortlich Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und die Kulturfunktionäre Alexander Abusch und Alfred Kurella. In den von ihnen erlassenen Verordnungen läßt sich deutlich die Tendenz ablesen, die Beschäftigung mit der Kunst nicht als Selbstzweck zu betrachten, sondern als Mittel zum Zweck. 45

Die ganze Beschäftigung mit der Kunst in der DDR läßt sich nur aus dieser Perspektive heraus verstehen. Wenn auch die Wege der Kulturpolitik aus naheliegenden Gründen manchmal schwer nachvollziehbar sindes läßt sich nicht immer mit Sicherheit ermitteln, aus welchen Gründen beispielsweise der Druck in den sogenannten “Tauwetterperioden” manchmal zeitweilig nachließ), unterliegt es keinem Zweifel, daß es den Kulturverantwortlichen von Anfang an weniger darum zu tun war, das theoretische Augenmerk auf die Ergründung der Spezifität der Kunst zu richten als auf deren Einsetzung und Brauchbarkeit als Kampfmittel. Alle Bestrebungen tendierten dahin, die Kunst in die Geschichte hereinzuholen. Es wurde nach einer Kunstkonzeption gesucht, die optimal in der Lage war, der nationalen und internationalen Situation entsprechend, den Prozeß der Neugestaltung der Gesellschaft auf marxistischer Grundlage zu fördern. Die ganze Forschung wurde deshalb fast ausschließlich auf die Ausarbeitung des als unverrückbar bezeichneten “Grundzusammenhangs” zwischen Kunst und Leben orientiert.

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Dies hatte zur unmittelbaren Folge, daß die anderen ästhetischen Fragestellungen — auch die grundlegenden — arg vernachlässigt, wenn nicht völlig überlagert wurden. Die “Literaturwissenschaftler” erlagen oft der Versuchung, die Kunst in ihrem Wesen zu verkennen, d.h. die Frage nach deren ästhetischer Eigenart durch die zu ersetzen, in welcher Weise die Kunst der Ideologie dienstbar gemacht werden könne. Im Eifer um die Herausbildung einer neuen Gesellschaft krankte die künstlerische Reflexion daran, daß sie die gnoseologische Funktion der Kunst und ihre Wirkungsmöglichkeiten überbetonte. Die Anforderungen, die an die Wissenschaft gestellt waren, wurden unproblematisch auf die Kunst übertragen. Aus der Blindheit gegenüber dem spezifischen Charakter der Kunst resultierte, daß der Künstler in seinem Schaffen nur zu oft als bloßer Illustrator von politischen Theoremen betrachtet wurde. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den Kampf gegen den “Formalismus” in der Kunst am Anfang der fünfziger Jahre. Die Formalismus-Kampagne war im Grunde ein Versuch der SED, die Schriftsteller zu Instrumenten ihrer Politik zu degradieren. Primär sei im Kunstwerk der Inhalt, die Form habe dem Inhalt zu entsprechen 30. Die Schriftsteller hätten diesem Prinzip nicht Rechnung getragen, deshalb seien sie hinter den an sie gestellten Forderungen “weit zurückgeblieben”. Formalismus bedeute “Zersetzung und Zerstörung der Kunst selbst”. “Die Formalisten leugnen,” — so das ZK der SED — “daß die entscheidende Bedeutung im Inhalt, in der Idee, im Gedanken des Werkes liegt. Nach ihrer Auffassung besteht die Bedeutung eines Kunstwerks nicht in seinem Inhalt,

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sondern in seiner Form. Überall, wo die Frage der Form selbständige Bedeutung gewinnt, verliert die Kunst ihren humanistischen und demokratischen Charakter” 31. 47

In den Augen der Kulturfunktionäre stellte sich der Begriff “Realismus” als angemessen heraus, um die Kunst in eine für die gesellschaftliche Praxis brauchbare Kategorie umzufunktionieren. Die semantische Vagheit und Dehnbarkeit des Begriffs, seine Ableitung aus dem Wort “Realität” und nicht zuletzt der Umstand, daß er in der sowjetischen Literaturwissenschaft verwendet wurde, dürften für seine Wahl eine entscheidende Rolle gespielt haben.

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Nach dem bisher Ausgeführten wird es nicht wundernehmen, daß der Begriff — wenigstens bis in die sechziger Jahre hinein — vorwiegend auf seine politische Bedeutung hin untersucht wurde. Es wäre jedoch falsch zu behaupten, daß jegliche Beschäftigung mit dem Realismus als spezifisch ästhetischer Kategorie aufgegeben wurde. Diese verblieb aber an der Peripherie. Dies erklärt vielleicht zum Teil, warum die Realismustheorie von Brecht und Lukács, die voneinander grundsätzlich abweichen, lange Zeit nebeneinander standen, ohne daß man sich ihrer offiziell polemisch annahm. Brechts theoretische Bemühungen werden heute noch anerkannt. 1968 wurden seine Überlegungen in einem Band gesammelt 32. Lukäcs’ Werke wurden immerhin bis 1957 gedruckt.

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Die verantwortlichen Politiker und Parteifunktionäre begnügten sich mit einer aus der im zweiten Abschnitt dieses Kapitels skizzierten Widerspiegelungstheorie abgeleiteten Realismuskonzeption, ihrer Enge und Lückenhaftigkeit zum Trotz. Dies läßt sich deutlich an den dabei aufgestellten Behauptungen oder Forderungen ablesen, von denen hier drei angeführt seien. Diese Beispiele leuchten in die Intimsphäre der Kunstvorstellungen der Partei hinein : “Literatur und bildende Künste sind in der Politik untergeordnet, aber es ist klar, daß sie einen starken Einfluß auf die Politik ausüben. Die Idee der Kunst muß der Marschrichtung des politischen Kampfes folgen... Was sich in der Politik als richtig erweist, ist es auch unbedingt in der Kunst.”33. “Im Mittelpunkt des künstlerischen Schaffens muß der neue Mensch stehen, der Kämpfer für ein einheitliches, demokratisches Deutschland, der Aktivist, der Held des sozialistischen Aufbaus. Indem der Künstler dieses Neue, dieses Fortschrittliche in der Zeit gestaltet, hilft er mit, Millionen fortschrittliche Menschen zu erziehen.” 34

“Wir wollen der Arbeiterklasse, der herrschenden Klasse, die im Bündnis mit der Intelligenz, den werktätigen Bauern und anderen werktätigen Schichten die politische Macht ausübt, helfen, die Höhen der Kultur zu erstürmen. Wir wollen mit Hilfe der Schriftsteller und Künstler und der Talente aus dem arbeitenden Volk die Kultur des neuen Deutschlands gestalten, jene Kultur, die ihrer Form nach national und ihrem Inhalt nach eine sozialistische Kultur ist....). Es kommt darauf an, daß wir die besten Werke unserer Klassiker sowie die antifaschistische und fortschrittliche Literatur breit dem Volke zugänglich machen. Aber gleichzeitig müssen wir einen neuen sozialistischen Inhalt in Literatur und Kunst entwickeln, das neue sozialistische Leben zum Inhalt der neuen Schauspiele, der Filme, Fernsehspiele usw. machen. Das erfordert eine neue Qualität in der Tätigkeit der Schriftsteller. Das erfordert, daß sie mit dem Leben so eng verbunden sind, damit sie dieses neue sozialistische Leben realistisch zu gestalten vermögen.” 35 50

Derartige Äußerungen erinnern an Andrej Schdanows Kunstauffassung. Genausowenig wie Schdanow interessierten sich in den fünfziger Jahren die DDR-Politiker für die Spezifik des künstlerischen Schaffens. Was Schdanow beispielsweise 1934 in seiner

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Rede auf dem ersten Unionskongreß der Sowjetschriftsteller sagte, hätte m.m. auch ein DDR-Politiker sagen können : “Ingenieur der menschlichen Seele zu seinso nannte Stalin die Schriftsteller, J. G.), das bedeutet, aktiv zu kämpfen für die Kultur der Sprache, für ein hohes Niveau des literarischen Schaffens. Unsere Literatur entspricht den Anforderungen unserer Epoche noch nicht. Die Schwächen unserer Literatur bringen das Zurückbleiben des Bewußtseins hinter der ökonomischen Entwicklung zum Ausdruck, wovon selbstverständlich auch unsere Schriftsteller nicht frei sind. Darum ist die ständige Arbeit an sich selbst und an ihrem ideologischen Rüstzeug im Geiste des Sozialismus die unerläßliche Voraussetzung, ohne die die Sowjetschriftsteller das Bewußtsein ihrer Leser nicht umgestalten und keine Ingenieure der menschlichen Seele werden können.”36 51

Über die abbildende und bildende Funktion der Literatur erschienen bald Untersuchungen in Hülle und Fülle. Es war, als fühle sich jeder verpflichtet, das noch einmal festzulegen, was längst festgelegt war. Kennzeichnend ist, daß fast alle Äußerungen zu diesem Thema den Eindruck erwecken, als ginge es jeweils um etwas Neues. In den “Weimarer Beiträgen” z.B. häufen sich die Beispiele derartiger Wiederholungen. Warum der alte Wein immer wieder serviert wurde, und nicht einmal in neuen Schläuchen, liegt auf der Hand : Hauptziel war nicht Information, sondern eben Formation. Dadurch erhofften sich die Parteiideologen, die Künstler auf aktive Mithilfe im Prozeß des Aufbaus des Sozialismus hinzulenken (typische Beispiele dafür sind die beiden Bitterfelder Konferenzen).

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Eine derartige Bevormundung des literarischen Lebens, die in den westlichen Ländern kaum vostellbar ist, konnte in der DDR ohne große Schwierigkeiten vorgenommen und konsequent durchgeführt werden.

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Dies ist zuerst einmal darauf zurückzuführen, daß in einer Zeit, in der der neu eingeschlagene Weg sicherlich nicht von allen freiwillig beschritten wurde, keine Widersacher geduldet wurden. Jegliche Abweichung vom offiziellen Standpunkt wurde streng verboten. Den Schriftstellern und Literaturtheoretikern, die sich weigerten, sich zu einer Vereinigung der Kunst mit der marxistischen Ideologie zu bekennen, blieb nur eine Möglichkeit, ihre eigenen Ansichten auszudrücken, nämlich das Land zu verlassen.

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Die DDR riegelte sich auch gegen die “feindlichen” Strömungen der modernen Literatur und Literaturwissenschaft hermetisch ab. Wenn diese zur Kenntnis genommen wurden, so geschah es keineswegs, um an ihnen die eigene Theorie des sozialistischen Realismus zu bereichern, sondern um sie polemisch zu zerpflücken. Im Rahmen des Klassenkampfes wurde es als dringende Aufgabe betrachtet, die Thesen zu widerlegen, die den aufgestellten Prinzipien nicht konform waren ; sie wurden alle als typische Erscheinungen der zum baldigen Verfall verurteilten “bürgerlichen” Gesellschaft ab gelehnt.

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In diese Zeit fällt die polemische Auseinandersetzung mit der Realismustheorie des ungarischen Germanisten G. Lukács, dessen Werke bis dahin in der DDR ungehindert herausgegeben worden waren. Die Kampagne gegen die Thesen von Lukács setzte 1957 ein und beschäftigte die Literaturwissenschaft der DDR länger als ein Jahrzehnt. Warum bis 1957 gewartet wurde, ist darauf zurückzuführen, daß sich Lukács bis zur Revolution in Ungarn 1956 eines überaus großen Ansehens im sozialistischen Lager erfreute, so daß keiner in der DDR es aus naheliegenden Gründen wagte, seine Theorien anzufechten. Nachdem ihn seine Teilnahme am Aufstand — 1956 war er in der NagyRegierung Kultusminister gewesen — von diesem Podest heruntergebracht hatten,

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schien die Zeit reif, mit ihm abzurechnen. Eine beträchtliche Rolle hat sicherlich auch der Umstand gespielt, daß die Literaturwissenschaft in der DDR noch in den Kinderschuhen steckte und sich dieser schwierigen und langwierigen Aufgabe nicht gewachsen fühlte. 56

Je deutlicher die DDR-marxistische Kunsttheorie Gestalt annahm, desto tiefer wurde die Kluft, die zwischen der neuen Wesensund Funktionsbestimmung der Kunst und Lukács’ Realismuskonzeption klaffte. Eigentlich konnte die DDR-Literaturwissenschaft Lukács’ Thesen nicht viel abgewinnen ; im Gegenteil, einer sich auf die gesellschaftliche Praxis gründenden Auffassung der Literatur mußten sie sogar im Wege stehen. Die Widerlegung dieser Thesen hat mit Überlegungen und Kontroversen hinsichtlich des Eigencharakters der Kunst, wie wir sie im Westen kennen, wenig gemeinsam. Sie läßt sich, genauso wie die Formalismus-Kampagne oder die Bitterfelder Konferenzen, im wesentlichen aus dem Bestreben heraus verstehen, die Literatur in den Prozeß der sozialistischen Bewußtseinsbildung einzubeziehen.

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Im Vorwort zum Essay “Kritik in der Zeit” stellt Klaus Jarmatz fest : “Die konsequente Überwindung der Positionen von Lukács und Mayer war eine der Vorbedingungen für das literaturgeschichtliche Verständnis der sozialistischen Gegenwartsliteratur.”37

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Obwohl Lukács sich immer als Marxist bezeichnet hat, erweisen sich seine Kunstansichten mit denen der DDR-Literaturwissenschaft in vielerlei Hinsicht unvereinbar. Eine ausführliche Erörterung von Lukács’Theorien würde weit über den Aufgabenkreis der vorliegenden Arbeit hinausgehen. Ich beschränke mich hier darauf, die beiden Momente der Realismuskonzeption des ungarischen Germanisten herauszuheben, die als erste in das Kreuzfeuer einer vernichtenden Kritik seitens der DDR-Literaturwissenschaft gerieten.

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Lukács wird eine Dogmatisierung des Realismusbegriffs vorgeworfen. Für die Festlegung des Begriffs geht Lukács vom kritischen Realismus (besonders von der realistischen Romankunst) des 19. Jahrhunderts aus, den er immer besonders geschätzt und bewundert hat. In dieser Periode der Literaturgeschichte erblickt Lukács den Realismus schlechthin, d.h. aus ihr leitet er Realismuskriterien ab, die er dann mehr oder weniger pauschal auf andere Epochen überträgt. Diese “kanonisierten” Regeln des Realismus gelten nach Lukács auch für unsere Epoche, also für die Literatur, die nach der Revolution entstanden ist, was natürlich schwerwiegende Konsequenzen für die Einschätzung des sozialistischen Realismus hat. Diese Konzeption kollidiert mit der der DDR-Literaturwissenschaft, besonders mit dem von ihr aufgestellten Axiom des Kunstfortschritts. In ihren Augen setzt Lukács den sozialistischen Realismus herab. Wohl könne für sie die heutige sozialistische Kunst dem Realismus des 19. Jahrhunderts viel abgewinnen, dieser könne aber auf keinen Fall Modellcharakter haben. Nach offiziellen DDR-Ansichten führe die Realismusauffassung Lukács’ deshalb zu Verengungen, weil sie nicht aus der Dialektik der gesellschaftlichen Praxis abgeleitet sei. Eine Kunst, die sich nicht aus der konkreten historischen Situation heraus entwickle, könne, so wird in der DDR behauptet, zur Bewältigung der Probleme der Gegenwart nicht beitragen. Jarmatz schreibt hierzu : “Lukács ging bei der Entwicklung seines Modells für den zeitgenössischen Realismus nicht von den Entwicklungsbedingungen der sozialistischen Revolution aus, sondern von einer Demokratie-und Humanismuskonzeption, die bürgerlichrevolutionären Vorstellungen des 19. Jahrhunderts stark verpflichtet ist. Er wollte, was einst möglich war — den nicht entfremdeten Menschen —, wieder möglich

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werden lassen. Seine gesellschaftliche Grundlegung ist also wesentlich historisch rückwärts gewandt. Sie gab keine Antwort auf die dringenden Probleme der Gegenwart und mußte praktisch scheitern.”38 60

Die zweite Komponente des Begriffs “Realismus”, die von den DDR-Thesen wesentlich abweicht, bezieht sich auf die Widerspiegelungstheorie. Daß das Kunstwerk ein Abbild der objektiven Realität zu sein hat, stellt Lukács nicht in Frage. Seine Auffassung ist in dieser Hinsicht genauso unproblematisch und undifferenziert wie die der DDRLiteraturwissenschaft. Was er dazu sagt, wie z.B. in dem Aufsatz “Es geht um den Realismus” hätte im Grunde auch ein DDR-Literaturwissenschaftler sagen können : “Wenn die Literatur tatsächlich eine besondere Form der Spiegelung der objektiven Wirklichkeit ist, so kommt es für sie sehr darauf an, diese Wirklichkeit so zu erfassen, wie sie tatsächlich beschaffen ist, und sich darauf zu beschränken, das wiederzugeben, was unmittelbar erscheint.”39

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Was jedoch das bildende Moment dieser Theorie anbelangt, so klaffen die Meinungen wieder auseinander ; hier wird Lukács zum Vorwurf gemacht, er habe “den realen Bezug zur realen gesellschaftlichen Praxis”40 nicht gefunden. In einem unter dem Titel “Betrachtungen zur ‘Ästhetik’ von Georg Lukács” erschienenen Beitrag ist W. Girnus bestrebt, die Schwäche und Falschheit der Lukácsschen Thesen aufzuspüren, was für ihn zugleich zum Anlaß wird, auf die eigenen Positionen hinzuweisen. Für Girnus hat Lukács den eigentlichen Zweck der Widerspiegelung deshalb auf eine völlig unmarxistische Weise aufgefaßt, weil dieser die Funktion der Kunst auf Erkenntnisvermittlung reduziert habe :

 

“Die Widerspiegelung der Welt im (individuellen und gesellschaftlichen) Bewußtsein ist also Mittel zum Zweck. Für Lukács ist die Funktion der Kunst primär Erkenntnisvermittlung. Es ist eine rein didaktische Theorie des Ästhetischen, die er uns präsentiert. Im Grunde genommen : Klassizismus des 17. Jahrhunderts. Was ein wesentliches Strukturelement bestimmter Künste ist — Widerspiegelung, Abbildung — wird bei ihm zur Funktion. Was Mittel zum Zweck ist, wird Zweck.” 41.

2. Die Prager Kafka-Konferenz. Bereicherung des RealismusBegriffs 62

In der gegen fremde Einflüsse abgedichteten monolithischen Welt der DDR konnte sich das literarische Leben auf eine Weise entfalten, die im Westen sicherlich auf Skepsis stoßen würde. Ich denke hier beispielsweise an die auf der ersten Bitterfelder Konferenz von Alfred Kurella ausgerufene Losung : “Greif zur Feder, Kumpel, unsere sozialistische Welt braucht dich”, die das ganze literarische Leben eine Zeitlang beherrschte, oder an die Aktion “Kunst hilft Kohlen” in Karl-Marx-Stadt 1957.

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Die Enge der Realismuskonzeption mußte aber in der direkten Konfrontation mit anderen — vor allem marxistischen — Theorien deutlich zu Tage treten. Dies geschah 1963 in Prag anläßlich einer Kafka-Konferenz, an der namhafte marxistische Literaturwissenschaftler sowohl aus den Ostblockstaaten als auch aus nichtsozialistischen Ländern teilnahmen. Die von den Ostdeutschen vorgetragenen Thesen über Kafka, dessen Lektüre in der DDR jahrelang verboten gewesen war, konnten über die Schwächen und Unzulänglichkeiten der offiziellen Festlegung des Begriffs “Realismus” nicht hinwegtäuschen42.

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In Prag wurden Ansichten geäußert, die sich, obwohl alle von marxistisch geschulten Denkern stammend, von der in der DDR offiziell verkündeten Literaturtheorie merklich

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distanzierten. Die Prager Kafka-Konferenz hat in der Entwicklung der Kulturpolitik der DDR eine neue Phase eingeleitet. In ihrem Kampf um die Aufrechterhaltung einer monolithischen Kunsttheorie setzte sich die DDR-Literaturwissenschaft zur Aufgabe, gegen die “revisionistischen” Positionen heftig zu Felde zu ziehen, was für sie nicht ohne Folgen blieb. Die Einwände prinzipieller Art, die gegen die offizielle Literaturkonzeption erhoben wurden, machten die DDR-Literaturwissenschaft aber auch auf wesentliche Probleme der marxistischen Begriffsbestimmung des literarischen Realismus aufmerksam, die sie bis dahin völlig außer acht gelassen hatte. Die Kafka-Konferenz steht am Anfang eines langen Prozesses, der zu einer Problematisierung der angewandten Kategorien, vor allem des Begriffs “Realismus”, geführt hat. 65

Vor allem war es der Österreicher Ernst Fischer, der die orthodoxe marxistische Widerspiegelungstheorie für zu eng und unangemessen erachtete. Seine in Prag z.T. ansatzweise geäußerten Einwände waren für Fischer, dessen Werke bis 1959 in ostdeutschen Verlagen erschienen waren, der Anlaß, seine Kunstauffassung neu zu durchdenken. Die in seinen 1966 und 1968 veröffentlichten Schriften “Kunst und Koexistenz” und “Auf den Spuren der Wirklichkeit” weisen mit der DDR-Kunsttheorie kaum mehr Gemeinsamkeit auf ; es muß hier betont werden, daß Fischer seine philosophischen Überzeugungen nie revidiert hat. “Historisch gesehen bildete dazu [gemeint ist der Übergang Fischers zu ‘revisionistischen’ Positionen] die KafkaKonferenz in der Nähe Prags den großen öffentlichen Auftakt”, schreibt Jarmatz 43.   A. - Widerlegung “revisionistischer” Thesen

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Im Rahmen dieser Arbeit ist es nicht möglich, auf die Kunsttheorien sämtlicher “Revisionisten” einzugehen. Es ist hier m.E. jedoch angebracht, einen — wohl flüchtigen — Blick auf Fischers Thesen zu werfen. Fischer ist ein überzeugter Marxist und zugleich ein im Westen anerkannter Kunsttheoretiker, der sich immer geweigert hat, seine Überlegungen über die Ästhetik politischen Zielsetzungen unterzuordnen. Seine Ansichten überschneiden sich z.T. mit denen anderer marxistischer Denker, deren sich die DDR-Literaturwissenschaft auch polemisch, wenngleich weniger eingehend, angenommen hat. Ich denke hier besonders an den Lukácsschüler Hans Mayer, der die DDR 1963 verließ, und an Roger Garaudy, dessen Kunstauffassung noch 1965 gegen die Fischers ausgespielt werden konnte, der aber mittlerweile auch zum “Renegaten” geworden ist. Fischer, Mayer und Garaudy lassen sich insofern auf einen gemeinsamen Nenner bringen, als sie sich weniger um die gesellschaftliche Funktion der Kunst kümmern als um die Ergründung ihrer spezifischen Eigenart.

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Grundlage der Realismuskonzeption Fischers ist seine Auffassung der Entfremdung. Er weigert sich, die Entfremdung als einen historisch-gesellschaftlichen Tatbestand anzusehen, der nur in antagonistischen Klassenverhältnissen in Erscheinung trete und der durch die sozialistische Revolution und die Diktatur des Proletariats, also durch die Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, überwunden werde. Zwar leugnet er den historischen Charakter der Entfremdung nicht, er ist aber bestrebt, die Entfremdung als sowohl zum Wesen des kapitalistischen wie zu dem des gegenwärtigen sozialistischen Systems gehörig darzutun44 : “Entfremdung, so scheint mir, ist nicht nur ein Ergebnis bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern im Doppelwesen des Menschen als Natur

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und Wider-Natur, als Individuum und Gesellschaft, als Begrenztheit und Unendlichkeit, in seinem existentiellen Zwiespalt begründet.” 45 68

Diese Auslegung der Entfremdung hat Fischer dazu geführt, auch seine Auffassung des Menschen zu ändern : in der Entwicklung seines Denkens läßt sich eine Tendenz zur Anthropologisierung ablesen, wobei betont werden muß, daß Fischer in dieser Hinsicht, im Gegensatz zu dem, was ihm von manchen DDR-Wissenschaftlern unterstellt wird, nie den endgültigen Schritt getan hat, der ihn zur Preisgabe seiner marxistischen Überzeugungen geführt hätte.

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Fischer gibt demnach der abbildenden Funktion der Kunst einen anderen Sinn. Für ihn soll das Kunstwerk nicht die Interpretation der Welt durch die Partei wiedergeben, sondern die Interpretation der Welt durch den Künstler selbst, d.h. die eigene (Entfremdungs-) Situation des Künstlers in der Welt. Das Kunstwerk ist also für Fischer nicht bloße Widerspiegelung, sondern Widerspiegelung der Widerspiegelung, wenn man will, Widerspiegelung in der zweiten Potenz. Im Kunstschaffen sei der Dichter nur sich selbst Rechenschaft schuldig, er habe sich nur nach seinen eigenen Wahrnehmungen und Empfindungen zu orientieren.

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Auch Fischers Auffassung der Leistungsfähigkeit der Kunst kollidiert mit der, die die DDR offiziell propagiert. “Kritik und Vision”, die beiden Grundfunktionen der Literatur nach Fischer, werden aus der konkreten historischen Situation abgeleitet ; da aber für Fischer die Entfremdung in beiden Gesellschaftssystemen fortbesteht, erhalten sie eine andere Tragweite. Sie bedeuten ein “Zurück” zum Individuum. Die Literatur vermag es nach Fischer, dem Menschen einen Einblick in seine Entfremdungssituation zu gewähren. Sie darf selbstverständlich keineswegs einem System das Wort reden, das sich unfähig zeigt, diese Situation zu ändern. Für Fischer ist z.B. Kafka ein großer Dichter, weil er “uns alle angeht”46, und dies sowohl in den Ostblockstaaten wie in den westlichen Ländern : “Die Entfremdung, die er [Kafka] mit maximaler Intensität dargestellt hat, erreicht in der kapitalistischen Welt ein schauerliches Ausmaß. Sie ist aber auch in der sozialistischen Welt keineswegs überwunden. Sie Schritt für Schritt zu überwinden, im Kampf gegen Dogmatismus und Bürokratismus, für sozialistische Demokratie, Initiative und Verantwortung ist ein langwieriger Prozeß und eine große Aufgabe.” 47

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Fischers Realismusauffassung hat in der DDR eine Polemik ausgelöst, die am Anfang noch ziemlich zurückhaltend war. Dadurch erhoffte man sich, den österreichischen Philosophen und Kunsttheoretiker in das eigene Lager herüberzuretten. Schließlich aber wurde die Kritik immer heftiger und schonungsloser.

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In einem in der Zeitschrift “Sinn und Form” erschienenen Beitrag rechnet Jarmatz mit Fischer ab. Seine Theorie sei aus der Spekulation gewonnen, Fischer ersetze “die wissenschaftliche Methode des Marxismus-Leninismus durch Mythenbildung” 48, er betreibe wie die anderen “modernen Marxisten” “den Brückenschlag zur imperialistischen Globalstrategie”49. Nach Jarmatz stellt Fischer das in Frage, was schon lange bewiesen sei. Der DDR-Literaturwissenschaftler ergreift die Gelegenheit, um Fischer den einzig “wissenschaftlichen Standpunkt”50 entgegenzuhalten : “Im wesentlichen hat sich in diesen Jahren in der marxistischen Literaturästhetik eine einheitliche Auffassung zu dem Phänomen Entfremdung durchgesetzt : Möglich wird die Entfremdung durch den Doppelcharakter der Arbeit, durch die Fähigkeit der Individuen, ihre eigenen Kräfte zu vergegenständlichen.” 51

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Die Entfremdung sei “historisch entstanden”, “durchschaubar und an die kapitalistische Produktionsweise geknüpft”52. Weiter behauptet er : “Die Aufhebung der Entfremdung beginnt bereits in den sozialistischen Gemeinschaften, die sich zum Kampf gegen die kapitalistische Ordnung zusammenschließen.”53

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Auch erinnert Jarmatz an die orthodoxe historische Auffassung vom Menschen, von der sich Fischer distanziert : “Marx und Engels haben bereits sehr früh nachgewiesen, daß es den Menschen oder gar den menschlichen Menschen nicht gibt. Von diesem Grundirrtum gehen aber die modernen Entfremdungstheoretiker aus, worauf Kurella verweist. Sie fassen den wirklichen Menschen als Abfall von seiner humanistischen Idee, als Entfremdung von seinem Urbild. Der abstrakte Mensch ‘ist jedoch ein Denkprodukt der Ideologen’. Im menschlichen Menschen, in dieser begrifflichen Abstraktion stellt Fischer sein Ideal vor, das er nicht nur zum Träger, sondern auch zum Anstoß für die Geschichte macht. Die konkret historischen Klassenkämpfe werden in Auseinandersetzungen zwischen Gut und Böse, menschlich-unmenschlich aufgelöst. Die Theorie vom deformierten Menschen als der in den verschiedenen gesellschaftlichen Systemen zugrunde liegenden Wirklichkeit basiert also auf einer idealistischen Geschichtskonzeption. Die Geschichte als Werden der Gesellschaft und ihrer Mitglieder, die Entfaltung des gesellschaftlichen Reichtums als Ausdruck menschlicher Universalität verschwinden aus seiner Geschichtsauffassung.” 54

  B. - Problematisierung des Begriffs “Realismus” 75

Die permanente Auseinandersetzung mit den Thesen von Fischer, Garaudy, Mayer, Lukács und anderen mußte die Anfechtbarkeit der eigenen Positionen besonders scharf hervortreten lassen. Hinzu kam, daß die Ansprüche der Literaturwissenschaft entsprechend ihrem Reifungsprozeß erheblich wuchsen. Sie kam immer mehr zu der Einsicht, daß die bis dahin erarbeitete Realismuskonzeption nur eine Ausgangseinstellung der Literatur gegenüber sein könne und keineswegs eine sachgemäße Beantwortung der Frage, was Literatur eigentlich sei. Es wurde den Literaturwissenschaftlern immer klarer, wieviel in dieser Hinsicht noch zu leisten war. Bereits 1964 schrieb Heinz Plavius in einem Beitrag über die Realismusdiskussion in der sozialistischen Welt : “Eine Fülle von Problemen steht noch offen. Vonnöten ist eine konkrete Untersuchung des Realismus.”55

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Es wurde zuerst einmal zaghaft, dann aber immer entschiedener versucht, an der Vertiefung des Begriffs “Realismus” auch als ästhetischer Kategorie zu arbeiten.

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Parallel dazu setzte sich in den politischen Kreisen immer mehr — sehr langsam zwar, aber immerhin — die Ansicht durch, daß die Frage nach der ästhetischen Eigenart der Kunst sich nicht umgehen lasse und daß es sogar den Funktionswert der Kunst nur erhöhen könne, wenn diesem Problem eine größere Aufmerksamkeit entgegengebracht würde. Im Bestreben, ihrer Politik den Schein der Kontinuität zu geben, fand die Parteileitung sogar eine Erklärung für die schweren Versäumnisse der Literaturwissenschaft : solange die “bürgerliche” Literaturwissenschaft versucht habe, die Beziehung zwischen Kunst und Leben zu verwischen, habe die DDRLiteraturwissenschaft den Akzent gerade auf die Ausarbeitung dieses Zusammenhangs legen müssen !

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78

Entscheidend für die Entwicklung der Literaturwissenschaft in der DDR ist darüber hinaus, daß sich in der Partei allmählich die Auffassung breitmachte, daß die Pluralität der Meinungen als Motor zur Bereicherung des Realismusgedankens zu betrachten sei. Bis dahin, und z.T. noch bis zum VIII. Parteitag 1971, hatte die Vorstellung grassiert, daß das selbstkritische Moment für die Publizität nach außen schädlich sei. Aufgrund der internationalen politischen Situation hatte sich die Partei gezwungen gefühlt, die Literaturwissenschaftler zu bloßen Ausführern der eigenen Befehle zu degradieren. Meinungsverschiedenheiten wurden zuerst einmal geduldet. So konnte Plavius bereits 1964 in den “Weimarer Beiträgen” schreiben : “Es ist ein Zeichen der gesunden und erfolgreichen Entwicklung unserer Literatur, daß sie Anlaß zu interessanten theoretischen Auseinandersetzungen gibt....) Gleichzeitig ist ein Streit um den Realismus-Begriff entstanden, zu dem bisher wesentliche Äußerungen von Fischer, Garaudy, Kurella u.a. vorliegen. In ihm sehen wir, als erfreuliches Moment, Überlegungen, den Begriff des Realismus zu erweitern, d.h. — um es exakter zu formulieren — ihn auf Grund der neuen Erfahrungen zu durchdenken.”56

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Die entscheidende Wende in dieser Hinsicht brachte der VIII. Parteitag 1971. In der späteren Periodisierung der Kulturpolitik der DDR wird dieses Datum wahrscheinlich als wichtige Zäsur betrachtet werden, bedeutet es doch eine größere Bewegungsfreiheit für die Literaturwissenschaft : der Meinungsstreit wurde nicht nur geduldet ; auf diesem Parteitag wurde er sogar gefordert, um die Erforschung des Wesens der Kunst voranzutreiben.

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Im Leitartikel des ersten Heftes der “Weimarer Beiträge” von 1972“Zu den Aufgaben der Kultur-und Kunstwissenschaften nach dem VIII. Parteitag der SED”) wird auf die Hoffnungen hingewiesen, die hinsichtlich der zukünftigen Forschung mit dem “Meinungsstreit” verknüpft werden : “Der ergiebige Meinungsstreit ist die Basis für künftige Fortschritte. Lediglich an die Bereitschaft zu appellieren wäre dem Niveau unserer Wissenschaftler unwürdig. Was von seiten der Redaktion getan werden kann, um ihn zu organisieren und zu garantieren, um eine Atmosphäre zu schaffen, in der er gedeihlich praktiziert werden kann, soll und muß geschehen. Es dürfte aber auch von Nutzen sein, in den Sektionen zu diskutieren, welche Hemmnisse bestehen, wo sie beseitigt werden müssen und was selbst getan werden muß, um sie zu beseitigen. So manches Mal trafen wir nämlich die entschieden verfehlte Meinung an, die eine Rezension zu schreiben darum ablehnte, weil doch nicht gut ein Angehöriger der einen Einrichtung die Arbeit des Kollegen der anderen kritisieren könne.” 57

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Es muß aber sofort präzisiert werden, welche Bedeutung der “Problematisierung” des Begriffs “Realismus” und dem offiziell geforderten “Meinungsstreit” zuzumessen ist.

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Im soeben herangezogenen Artikel der “Weimarer Beiträge” zeigt sich deutlich, daß der Bewegungsfreiheit der Literaturwissenschaft trotzdem strenge Grenzen gesetzt sind : “Fundierte Kenntnis des Marxismus-Leninismus als gemeinsame Basis der Diskussionspartner und gemeinsames Streben zu den von der Partei der Arbeiterklasse fixierten Zielen waren und sind die Voraussetzungen für die Produktivität eines regen wissenschaftlichen Lebens, eines streitbaren Austauschs wissenschaftlicher Meinungen und Positionen.”58

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Meinungsverschiedenheiten also, aber nur bis zu einem gewissen Grade toleriert. Die Liberalisierung ist nur relativ. Die Gültigkeit und Brauchbarkeit der Erkenntnistheorie im Hinblick auf die Kunst darf keineswegs in Frage gestellt werden. Die Partei geht von

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der Grundauffassung aus, daß sich die Abbildtheorie für ein dialektisches Denken als siegreich herausgestellt habe. Das Theorem der Widerspiegelung gilt als wissenschaftlich gesichert und befindet sich deshalb jenseits jeder Kritik. Es in Frage zu stellen, würde für die Partei bedeuten, in “revisionistische” Positionen zurückzufallen. 84

“Problematisierung” und “Meinungsstreit” bedeuten lediglich, daß das Grundaxiom der Erkenntnistheorie nicht mehr so undifferenziert wie in den Gründungsjahren der DDR auf die Kunst angewandt wird. Die Ansicht hat sich durchgesetzt, daß man die Literatur mit dieser Theorie allein unmöglich definieren könne. Stand bis vor kurzem das Problem der Widerspiegelung im Mittelpunkt der literaturwissenschaftlichen Forschung, so hat sich deren Blickfeld verschoben : der Akzent liegt jetzt auf den besonderen Eigenschaften der künstlerischen Widerspiegelung. Der Begriff “Realismus”, der einseitig ausgelegt worden war, wird jetzt dadurch bereichert, daß die Literaturwissenschaft zu der Frage vorgestoßen ist, welche rein ästhetischen Kategorien aus der Widerspiegelungstheorie abgeleitet werden können. Nach der Erarbeitung der objektiven Seite der Widerspiegelung wird jetzt der Erforschung ihrer subjektiven Seite ein größerer Platz eingeräumt, aber eben innerhalb des skizzierten Rahmens.

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Es darf nicht vergessen werden, daß die Forderungen, die an die Literatur gestellt werden, nach dem VIII. Parteitag dieselben bleiben wie 1950. Zweifel über die Auffassung der Literatur als Motor des Fortschritts werden noch immer radikal abgelehnt. Der “Kunstschaffende” wird nach wie vor als Mitgestalter der neuen Gesellschaft betrachtet. Der Forschung bleibt die Aufgabe zugeteilt, die Potenzen der Literatur optimal zu entwickeln, damit der Sozialismus den Wettlauf mit dem Kapitalismus gewinne. Im vorhin erwähnten Beitrag über die Aufgaben der Literaturwissenschaft nach dem VIII. Parteitag wird an die Praxisbezogenheit der Forschung erinnert : “Die wissenschaftlichen Untersuchungen können auf ihre Weise dazu beitragen, die objektiven Vorzüge, die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung über das ablösungsreife imperialistische System nachzuweisen. Diese Vorzüge, so wurde auf dem VIII. Parteitag der SED mehrfach betont, können nicht allein und nicht einmal in erster Linie mit Ziffern gemessen werden, sie beruhen auf wichtigen, für das Leben der Menschen unerläßlichen Werten, wie eben hoher Bildung, geistiger Kultur, Wissen um den Sinn des Lebens, um die Möglichkeiten ständiger Vervollkommnung des gesellschaftlichen wie eigenen Seins, Geborgenheit, Bewußtsein der Würde und ständiger, das Leben beflügelnder Energie für die Lösung interessanter, wichtiger Aufgaben. Der Anteil unserer Wissenschaft ist auf mehrfache Weise interessant. Sie kommt selbst durch die Kraft des Wachstums der Klasse in den Genuß dieser Werte, findet hier die Basis für die Produktivität ihrer wissenschaftlichen Arbeit, hilft mit, solche Werte herauszubilden, und weist sie durch ihre verallgemeinernde Tätigkeit aus, um erneut deren Wachstum zu stimulieren.”59

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Nur innerhalb dieser Zielsetzung darf es eine Breite der Variationen geben. Die Widersprüche, die noch ausgefochten werden müssen, sind in der DDRLiteraturwissenschaft gezwungenerweise nicht-antagonistischer Art.

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Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die DDR-Literaturwissenschaft gegenwärtig nach einer definitorischen Klarstellung des Begriffs “Realismus” als ästhetischer Kategorie sucht, dies aber auf der Grundlage der im 1. Abschnitt dieses Kapitels skizzierten Erkenntnistheorie tut.  

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3. Stand der Forschung 88

Nachdem anerkannt worden ist, daß die Erforschung des spezifischen Wesens der Kunst — wohl in einem engen Rahmen — vorrangige Aufgabe ist, ist die DDRLiteraturwissenschaft dabei, die schweren Versäumnisse auf diesem Gebiet nachzuholen. Es muß hier gesagt werden, daß die literaturwissenschaftliche Forschung in der DDR allem Anschein nach über die Fähigkeit verfügt, in absehbarer Zeit einen Beitrag zu grundlegenden Fragen des literarischen Denkens zu leisten, die auch in der westlichen Literaturwissenschaft — so scheint mir wenigstens — nur zu oft beiseite geschoben werden. Die Literaturwissenschaftler in der DDR sind in dieser Hinsicht optimistisch. So schreibt beispielsweise Erwin Pracht : “Im einzelnen gibt es hier für die Wissenschaft noch viele offene Fragen. Doch wir sind überzeugt, daß die marxistisch-leninistische Philosophie der Ästhetik das entscheidende Rüstzeug in die Hand gibt, sie Schritt für Schritt immer besser und richtiger zu beantworten.”60

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Es wäre jedoch illusorisch zu denken, daß in den nächsten Jahren der von der Partei festgelegte Rahmen der Bewegungsfreiheit gesprengt werden könnte.

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Im Bestreben, das Realismusproblem auf neue Weise zu erhellen und somit den Wert des Begriffs als Bewertungskriterium zu erhöhen, geht die Forschung davon aus, daß darüber nicht das letzte Wort gesagt werden könne ; Begriffsbildungen seien nur dazu da, um Stationen der Literaturentwicklung zu dokumentieren. Nach der Theorie der relativen und absoluten Wahrheit sind Erkenntnisse nie absolut, sondern selber Mittel zur Produktion neuer Erkenntnisse. Der Begriff “Realismus” sei demnach kein Absolutum, er entwickle sich entsprechend der politischen Situation, d.h. entsprechend dem objektiven Geschichtsprozeß. Das historischmaterialistische Denken erfordert eine kontinuierliche Neubestimmung der Begriffe, die die Funktion haben, die Prozesse der Weltentwicklung abzubilden. Täte die Literaturwissenschaft das nicht, so würde sie sich gerade dem Vorwurf aussetzen, den sie Lukács macht, nämlich den Begriff “Realismus” zu dogmatisieren.

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Der Stand der Forschung ist so, daß “mit viel Wasser gekocht wird”. Die Probleme beginnen dort, wo vom kreativen Moment in der Kunst die Rede ist. Hier stößt die DDRLiteraturwissenschaft auf eine Reihe ungelöster Fragen. Eine Gesamtkonzeption des Schaffens- und Rezeptionsprozesses steht noch aus. Es lassen sich jedoch Denkanstöße finden, die die Diskussion voranbringen könnten.

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Bei der Suche nach Wegen, die sie zu einer präziseren Bestimmung der künstlerischen Widerspiegelung führen könnten, tappt die Literaturwissenschaft zwar noch im Dunkeln. Gegenwärtig scheinen sich jedoch in dieser Hinsicht — wenn auch sehr ungenau —einige Tendenzen abzuzeichnen.

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Im diesem Sinne ist der vor kurzer Zeit von einem Autorenkollektiv verfaßte groß angelegte Band “Zur Theorie des sozialistischen Realismus” zu verstehen. Dieses Werk beansprucht keinen Standardcharakter. Eigentlich wird auf 800 Seiten praktisch nur das wiederholt, was im Laufe der fünfundzwanzig Jahre des Bestehens der DDR schon so oft wiederholt wurde. Viele Kapitel sind sowieso Nachdrucke bereits erschienener Artikel ; das erste Kapitel war z.B. in den “Weimarer Beiträgen” 1971 veröffentlicht worden61. Aber dieses Werk will nur die bisherigen Ergebnisse der Forschung zusammenstellen und somit Impulse ausstrahlen, die zu einem tieferen Eindringen in das Wesen der Literatur führen müßten.

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94

Beiträge zur Diskussion über die Spezifik der künstlerischen Aneignung der objektiven Realität lassen sich vor allem in den “Weimarer Beiträgen” — im ersten Kapitel ist auf die Zielsetzungen dieser Zeitschrift hingewiesen worden — finden.

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In dem 1972 erschienenen Artikel “Leninsche Widerspiegelung und Ästhetik” unterstreicht der Leipziger Professor Erhard John, wie wesentlich eine intensive Erforschung der ästhetischen Eigenart der Kunst sei, damit diese ihren Auftrag erfüllen könne : “Je klarer hingegen unser Wissen von der Spezifik der künstlerischen Widerspiegelung ist, desto fundierter werden Forderungen sein, die bei der Leitung kulturell-künstlerischer Prozesse an Kunstschaffen und Kunstverbreitung gestellt werden, desto sachkundiger kann die Kunstkritik den gesellschaftlichen künstlerischen Wert von Romanen und Schauspielen, Filmen und Werken des künstlerischen Fernsehschaffens, Sinfonien und Liedern, Tafelbildern und Plastiken beurteilen, desto wirkungsvoller können Leiter kultureller Prozesse Kunstwerke zur Bildung sozialistischer Persönlichkeiten und zur Realisierung der kulturellen Lebensregeln der Arbeiterklasse nutzen.”62

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Um das Problem einer Lösung näherzubringen, schlägt er eine erneute und vertiefte Hinwendung zu den Schriften des Vaters der Widerspiegelungstheorie vor : “Theoretisch an Problemen der marxistisch-leninistischen Widerspiegelungstheorie zu arbeiten und sie für die marxistisch-leninistische Ästhetik zu erschließen, bedeutet, nicht zuletzt konkret die Werke W.I. Lenins zu studieren, ihren ganzen Gedankenreichtum zu erschließen und ihn gegen alle Versuche einer Vulgarisierung und Diffamierung zu verteidigen, wie wir sie zum Beispiel in R. Garaudys ‘Realismus ohne Ufer’ nachweisen können.” 63

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John begnügt sich aber mit einer bloßen Reproduktion der alten Schablonen. Er erinnert an ein paar berühmt gewordene Sätze Lenins und unternimmt es — noch einmal — Fischers und Garaudys Einwände gegen die “eng gefaßte” Widerspiegelungstheorie zu entkräften. Ob John in diesem Artikel am Forschritt des literarischen Denkens wirklich interessiert ist, scheint zweifelhaft ; er erweckt vielmehr den Eindruck, gerade davor Angst zu haben, daß die gegenwärtige Beschäftigung mit der Kunst in der DDR versucht sein könnte, die strengen Direktiven der Partei nicht zu beachten.

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Als weitaus ertragreicher könnte sich der Versuch erweisen, die Bewußtseinsformen “Kunst” und “Wissenschaft” voneinander abzugrenzen.

99

Die Behauptung des sowjetischen Wissenschaftlers Nedoschivin, nach der Kunst und Wissenschaft die Realität gleichermaßen widerspiegelten, die eine aber in Begriffen, die andere in Bildern, wird gegenwärtig als unzulänglich und irreführend abgelehnt.

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In Heft 3, 1972, ist hierzu ein Beitrag von Jürgen Kuczynski erschienen. Der Anfang des Artikels ist vielversprechend. Kuczynski erinnert an F. Engels, der in einem Brief an M. Harkness 1888 behauptete, “daß er aus Balzacs ‘La Comédie Humaine’ ‘sogar in den ökonomischen Einzelheitenzum Beispiel der Neuordnung des beweglichen und unbeweglichen Eigentums nach der Revolution) mehr gelernt habe als von allen berufsmäßigen Historikern, Ökonomen und Statistikern dieser Zeit zusammengenommen.” 64

101

Kuczynski führt dies auf die Genialität des Künstlers zurück : “Es war die geniale künstlerische Erfassung der Wirklichkeit, die sich bei Balzac gegenüber seiner bornierten verstandesmäßigen Erfassung durchsetzte, und diese künstlerische Erfassung ließ ihn die gesellschaftliche Wirklichkeit weit tiefer

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erfassen, als es alle ‘berufsmäßigen Historiker, Ökonomen und Statistiker dieser Zeit zusammengenommen’ getan hatten.”65 102

Diesen Gedanken führt aber der Literaturwissenschaftler leider nicht aus. Er geht zu anderen Beispielen über (Goethe, Marx), um schließlich auf die Vorteile der Verbindung von künstlerischer und wissenschaftlicher Aneignung zu sprechen zu kommen. Der Artikel schließt mit einer Forderung an die Gesellschaftswissenschaftler und einer Vision des zukünftigen kommunistischen Menschen, die sich beide eher auf das Problem der Praxis als auf das der Spezifität der Kunst beziehen.

103

Wesentlich aufschlußreicher ist der in Heft 6, 1972, erschienene Artikel von Lothar Kühne. Kühne steuert die Diskussion insofern in andere Gewässer, als er die Bestimmung der Kunst als Erkenntnismittel wohl nicht verwirft, sich aber hartnäckig weigert, die Kunst auf ihre Erkenntnisfunktion zu reduzieren. Der Literaturwissenschaftler sagt ohne Umschweife, was in manchen literaturwissenschaftlichen Beiträgen schon lange ansatzweise zu finden war. Der Artikel ist m.E. eine in — wohl sehr — milde Formen gekleidete Verurteilung der bisherigen Beschäftigung mit ästhetischen Problemen in der DDR. Die Überbetonung des Erkenntnismoments wird von ihm als Ballast empfunden, der die Erforschung des eigenwertigen Charakters der Kunst erheblich erschwere.

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In seiner langen Argumentation greift Kühne u.a. eine Äußerung von Pracht an, der bei aller Betonung des Eigencharakters der Kunst die Ansicht vertritt, Kunst und Wissenschaft seien zwei sich gegenseitig “ergänzende Erkenntnisweisen der Welt”. Die Widerlegung dieser Theorie ist für Kühne der Anlaß, seine eigene Konzeption zum Ausdruck zu bringen. Wohl lehnt er sich gegen die Erkenntnistheorie nicht auf — conditio sine qua non, um überhaupt gedruckt zu werden —, aber für ihn ist der Weg, den Pracht einschlägt, irreführend. Nach Kühne kann eine Untersuchung der Eigenart der künstlerischen Erkenntnis etwa im Gegensatz zu irgendeiner anderen Bewußtseinsform auf keinen Fall zu brauchbaren Ergebnissen führen. Wesentlich dagegen sei die Tatsache, daß das Moment der Erkenntnis nicht die ganze Spezifik der Kunst ausmacht : “Es ist falsch, aus der Aussage der marxistisch-leninistischen Philosophie, daß die Menschen fähig sind, die objektive Realität zu erkennen und daß das Bewußtsein und das Psychische überhaupt die objektive Realität widerspiegelt, den Schluß zu ziehen, daß jede Funktion der menschlichen Psyche nur unter dem Gesichtspunkt der Erkenntnis theoretisch zu erfassen ist.”66

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Einen anderen Aspekt des künstlerischen Schaffens erachtet Kühne für genauso wesentlich wie den der Erkenntnis, nämlich den Künstler als Mensch, als Schaffenden, der weitaus mehr als ein bloß “erkennendes Wesen” sei : “Die Auffassung aller psychischen Prozesse der Menschen als Erkenntnisfunktion ergibt sich nicht aus der Abbildtheorie des Marxismus-Leninismus, sondern steht zu seinen grundlegenden gesellschaftstheoretischen Voraussetzungen im Widerspruch....) Reduzieren wir die psychischen Funktionen jedoch auf die Erkenntnis, so hat das die Konsequenz, den Menschen als nur erkennendes Wesen zu bestimmen. Alle anderen Eigenschaften würden somit als Funktion der Erkenntnis notwendig begriffen. Damit wären alle Determinanten des Seins der Menschen aus ihren materiellen Verhältnissen selbst in die Natur zurückgesetzt und so wäre ‘dann auch ganz selbstredend das Selbstbewußtsein des Menschen verwandelt in das Selbstbewußtsein der Natur in ihm’.” 67

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NOTES 1. Claude David : Geschichte der deutschen Literatur. Zwischen Romantik und Symbolismus 1820-1885, Gütersloh 1966 ; S. 9. 2. Begriffsbestimmung des literarischen Realismus, herausgegeben von Richard Brinkmann, Darmstadt 1969. Zitat aus dem Vorwort, S. 10. 3. Den Bemühungen der Literaturwissenschaft, die Traditionslinie herauszuarbeiten, und ihrem Einfluß auf die gegenwärtige Kunstpraxis sind das dritte und das vierte Kapitel gewidmet. Auf die Diskussion um den Roman von Christa Wolf und die Filmerzählung von Plenzdorf wird im vierten Kapitel eingegangen werden. 4. Vgl. Marx : “Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.” (Aus dem Vorwort zur “Kritik der politischen Ökonomie”, 1859). 5. Erhard. John : Leninsche Widerspiegelungstheorie und Ästhetik, in : Weimarer Beiträge 1972, Heft 1, S. 31-45 ; S. 32. 6. Kleines Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie, von Manfred Buhr und Alfred Kosing, Leipzig 1974, s.v. Abbildtheorie. 7. Dieser Satz Lenins findet sich beispielsweise in Erwin Prachts Beitrag “Marxistischleninistische Theorie und künstlerische Methode”, in : Zur Theorie des sozialistischen Realismus, Berlin (Ost), 1975, S. 366-396 ; S. 384. 8. In diesem Zusammenhang schreibt S. M. Petrow : “Für Lenin ist jegliche Erkenntnis nur dann sinnvoll, wenn sie auf die Durchdringung der realen, nicht erdachten oder vorgestellten Gesetzmäßigkeiten von Natur und Gesellschaft, auf die Ermittlung der Wahrheit gerichtet ist. Das bezieht sich selbstverständlich auch auf die künstlerische Erkenntnis, insbesondere auf die Erkenntnis im Realismus, in dessen Ästhetik das Schöne in der Kunst unmittelbar mit der künstlerischen Widerspiegelung des realen Lebens verbunden ist.” Aus dem Beitrag “Die Leninsche Widerspiegelungstheorie und das Problem des Realismus”, in : Weimarer Beiträge 3, 1973, S. 130-150 ; S. 134. 9. Hans Koch : Kunst und Wirklichkeit. Der “neue Gegenstand”, in : zur Theorie des sozialistischen Realismus, S. 397-502 ; S. 419. 10. ebda. : S. 428. 11. In : Weimarer Beiträge, 1970, Heft 10, S. 31-119 ; S. 33. 12.

Dieser

Satz

findet

sich

z.B.

im

bereits

erwähnten

Artikel

Johns

“Leninsche

Widerspiegelungstheorie und Ästhetik”, S. 36. 13. Erwin Pracht : op. cit., S. 383. Vgl. auch z.B. den am Anfang dieses Kapitels erwähnten Beitrag von Erhard John : Leninsche Widerspiegelungstheorie und Ästhetik. 14. Erwin Pracht : op. cit. S. 376. 15. ebda., S. 382. 16. ebda., S. 381. 17. ebda., S. 381. 18. Dieser Forderung der normativen Kunsttheorie des sozialistischen Realismus weigern sich nicht wenige DDR-Schriftsteller nachzukommen. Hierzu finden sich im vierten Kapitel einige Beispiele. 19. Sabine Brandt : Der sozialistische Realismus, in : Deutschland. Kulturelle Entwicklungen seit 1945, München 1969, S. 58-78 ; S. 63. 20. Christa Wolf : Lesen und Schreiben, Darmstadt 1972, S. 213. 21. Das im Kunstwerk Abgebildete muß also “typisch” sein. Hierzu schreibt Brecht : “Die eigentliche Bedeutung des Worts ‘typisch’, für die es von Marxisten als wichtig genannt wurde,

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ist : geschichtlich bedeutsam.” Im selben Aufsatz schreibt Brecht auch : “Historisch bedeutsam (typisch) sind Menschen und Geschehnisse, die nicht die durchschnittlich häufigsten oder am meisten in die Augen fallenden sein mögen, die aber für die Entwicklungsprozesse der Gesellschaft entscheidend sind.” Zitiert nach : Bertolt Brecht, Über Realismus, zusammengestellt und redigiert von Werner Hecht, Leipzig 1968, S. 234. 22. Vgl. drittes Kapitel S. 88 ff. 23. Walter Clauss : Deutsche Literatur, Zürich 1964, S. 238. 24. Realismus im historisch-materialistischen Sinne läßt sich folgerichtig nicht als stiltypologischer Begriff definieren. Neue Inhalte fordern neue Formen. Er kennzeichnet sich gerade durch eine Vielfalt der Stile und der künstlerischen Gestaltung überhaupt. 25. Hans Koch : op. cit. S. 410. 26. Hier muß betont werden, daß der Begriff “Realismus” nicht ausschließlich zur Kennzeichnung literarischer Erscheinungen dient ; er wird auch für die anderen Künste, wie etwa die Malerei, verwandt. 27. Klaas Jarmaz : Die Theorie des Kunstfortschritts-Bestandteil der Theorie des sozialistischen Realismus, in : Zur Theorie des sozialistischen Realismus, op. cit., S. 724-743 ; S. 737. 28. Eine ausführliche Beschreibung der Situation der Literaturwissenschaft in der DDR nach 1945 findet sich in Jörg B. Bilkes Beitrag : die Germanistik in der DDR : Literaturwissenschaft in gesellschaftlichem Auftrag, S. 367. 29. S. 29. 30. Als “Formalisten” wurden im Grunde alle Schriftsteller betrachtet, die sich weigerten, sich den Anforderungen der Partei zu beugen. 31. Dokumente der sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, herausgegeben vom ZK der SED, Berlin 1951. Zitiert nach Konrad Franke : Die Literatur der Deutschen Demokratischen Republik, op. cit., S. 34-35. 32. Vgl. Anmerkung 21 (II. Kapitel). 33. Otto Grotewohl, 1951 während der “Formalismus-Kampagne”. Zitiert nach Konrad Franke, op. cit., S. 37. 34. Walter Ulbricht, auf der zweiten Konferenz der SED 1952, auf der die Schriftsteller aufgerufen wurden, sich in ihrem Schaffen nach den Prinzipien des sozialistischen Realismus zu richten. Zitiert nach Konrad Franke, op. cit., S. 40. 35. Walter Ulbricht : Schlußwort zur ersten Bitterfelder Konferenz (1969), in : Kritik in der Zeit, op. cit., S. 458-463 ; S. 461. 36. In : Marxismus und Literatur, herausgegeben von Fritz J. Raddatz, Reinbek bei Hamburg, 1969 ; Band I, S. 352. 37. Klaus Jarmatz : Kritik in der Zeit, op. cit. S. 35. 38. ebda., S. 37. 39. Georg Lukács : Es geht um den Realismus, in : Marxismus und Lite ratur, op. cit., S. 60-86 ; S. 64. 40. Klaus larmatz : op. cit. S. 33. 41. Wilhelm Girnus : Von der unbefleckten Empfängnis des Ästhetischen, Berlin 1972, S. 26. 42. Vgl. Armand Nivelle : Kafka und die marxistische Literaturkritik, in : Beiträge zur vergleichenden Literaturgeschichte. Festschrift für Kurt Wais zum 65. Geburtstag, Tübingen, 1970, S. 331-354. 43. Klaus Jarmatz : Kunst oder Surrogat, in : Sinn und Form, Heft III, S. 668-689 ; S. 669. 44. Die Entfremdungssituation wird für Fischer erst in der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft aufgehoben werden. 45. Zitiert nach Klaus Jarmatz : Kunst oder Surrogat, op. cit. S. 673. 46. Zitiert nach Jarmatz, op. cit. S. 669. 47. Zitiert nach Jarmatz, op. cit. S. 669. 48. Klaus Jarmatz : op. cit. S. 671.

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49. ebda. : S. 671. 50. ebda. : S. 671. 51. ebda. : S. 675. 52. ebda. : S. 676. 53. ebda. : S. 677. 54. ebda. : S. 682. 55. Heinz Plavius : Realismus in Entwicklung, in : Weimarer Beiträge, 1964, Heft 2, S. 265-285 ; S. 284. 56. ebda., S. 265. 57. S. 9. 58. S. 9. 59. S. 7, 8. 60. Erwin Pracht : op. cit. S. 376. 61. In Heft 9. 62. Erhard John : op. cit., S. 34. 63. ebda., S. 34. 64. Jürgen Kuczynski : Künstlerische und wissenschaftliche Aneignung der Welt, in : Weimarer Beiträge, 1972, Heft 3, S. 37-48 ; S. 39. 65. ebda. : S. 39, 40. 66. Lothar Kühne : Kunst, Wissenschaft und gesellschaftliches Leben, in : Weimarer Beiträge, 1972, Heft 6, S. 81-103 ; S. 97. 67. ebda., S. 102.

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Drittes Kapitel. Die DDRLiteraturwissenschaft und das literarische Erbe  

Einleitung 1

Das Verhältnis zur Kunst der Vergangenheit ist in der marxistischen Literaturwissenschaft lange Zeit ein Feld heftiger Auseinandersetzungen gewesen. Im zweiten Kapitel ist hervorgehoben worden, daß in den Augen der DDRLiteraturwissenschaft die sozialistisch-realistische Kunst den Leistungen der vorhergehenden Epochen gegenüber eine völlig neue Qualität aufweist. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß seit der proletarischen Revolution der Kunstprozeß in angeblicher Kenntnis seiner Gesetzmäßigkeiten entsprechend der ihm zugeschriebenen Funktion gelenkt wird. Dies hat manchen marxistischen Denker dazu gebracht, dem gesamten künstlerischen Erbe in der gegenwärtigen postrevolutionären Epoche jeglichen Wert abzusprechen. Gerade aufgrund seiner historischen Beschränktheit sei es sogar als fortschrittshemmend zu betrachten.

2

In Deutschland erreichte der Streit um die Bestimmung der marxistischen Grundhaltung dem Erbe gegenüber seinen Höhepunkt am Anfang der dreißiger Jahre innerhalb des “Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller”. Die Diskussion um die Ausarbeitung eines sich auf den historischen und dialektischen Materialismus gründenden Literaturkonzepts biß sich lange Zeit an diesem Problem fest. Zu den Verteidigern des Erbes zählte damals u.a. Lukács, dessen Beiträge zu diesem Thema in der Zeitschrift “Linkskurve” erschienen1.

3

Die DDR-Literaturwissenschaft hat jedoch von Anfang an die Erschließung kultureller Traditionen als eine ihrer Hauptaufgaben betrachtet. Bedeutende Forschungsergebnisse liegen bereits vor. Hingewiesen sei hier lediglich auf die Beachtung, die die Zeitschrift “Weimarer Beiträge” in der internationalen Germanistik findet. Diese Zeitschrift war — wie man sich erinnert — 1955 als Organ der “Nationalen

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Forschungs-und Gedenkstätten der klassischen Literatur in Weimar” ins Leben gerufen worden und bis 1970 ausschließlich der Pflege des Erbes gewidmet 2. 4

Das Problem der Beziehung zur Kunst der Vergangenheit ist in der DDR prinzipiell gelöst. Dies bedeutet jedoch noch lange nicht, daß die Diskussion abgeschlossen ist. Aber auf dem Weg ihrer Entwicklung ist die DDR-Literaturwissenschaft an einen Punkt gelangt, wo die ganze Beschäftigung mit dem Erbe auf der Basis einer einheitlichen Grundorientierung erfolgt. Wenn hinsichtlich der Bewertung und Auswertung der Kunstschätze der vorsozialistischen Epochen überhaupt ein Wandel festzustellen ist, so in der Richtung einer steten Intensivierung der Forschungsarbeit, und dies besonders seit Anfang der siebziger Jahre. Als Indiz dafür läßt sich anführen, daß sich 1970 in den “Weimarer Beiträgen” nicht weniger als zehn Artikel zur Erbe-Theorie finden. 1971 hat es der VIII. Parteitag der SED für angebracht gehalten, die Aufgaben der Literaturwissenschaftler in der gegenwärtigen Epoche des “entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus” aufs neue zu präzisieren : “Die große Bewegung unseres Volkes zur Aneignung der besten humanistischen und revolutionären kulturellen Traditionen ist weiterzuführen und durch meisterhafte künstlerische Interpretation zu unterstützen.”3

5

Die Erbe-Konzeption der DDR-Literaturwissenschaft versteht sich als Weiterentwicklung der von Marx, Engels und Lenin erarbeiteten Prinzipien. In Wirklichkeit ist den Schriften von Marx und Engels in dieser Hinsicht nicht viel abzugewinnen ; in den theoretischen Beiträgen wird deshalb vor allem an Lenin appelliert, in dessen Denken das Problem der Aneignung der kulturellen Tradition einen großen Platz einnimmt.

6

Im Westen werden die Forschungsergebnisse der DDR-Literaturwissenschaft recht unterschiedlich bewertet. Während z.B. Hans-Heinrich Reuters großangelegte FontaneMonographie einstimmig als Ereignis in der Fontane-Forschung begrüßt worden ist 4, ist der vor kurzem erschienene zehnte Band der neuen deutschen Literaturgeschichte auf besonders heftige Kritik gestoßen5.

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In einem ersten Abschnitt soll begründet werden, warum in der DDR der Literatur der Vergangenheit reges Interesse entgegengebracht wird. Dies wird uns ermöglichen, der Frage nachzugehen, was die DDR-Literaturwissenschaft überhaupt als ‘'Erbe” betrachtet und wie sie es interpretiert, bzw. zu interpretieren hat. Der Stand der Forschung wird dabei zu erörtern sein. Abschließend sollen Eigentümlichkeit und Gefahren der DDRmarxistischen Erbeaneignung an einem konkreten Beispiel aufgezeigt werden.  

I. - Begründung des Interesses für das Erbe 1. Legitimierung der DDR-marxistischen Aneignung des Erbes A. Wissenschaftlichkeit der Aneignung 8

Das Interesse für das Erbe erklärt sich zuerst einmal aus dem im 1. Kapitel skizzierten Überlegenheitsanspruch der DDR-Literaturwissenschaft gegenüber sämtlichen anderen Methoden. Sie geht nämlich von der Überzeugung aus, daß es bislang unmöglich gewesen sei, die Kunst früherer Zeiten wissenschaftlich zu verstehen. Erst das durch den ideologischen Fortschritt — also durch die Erkenntnisse des historischen und dialektischen Materialismus — vermittelte Wissen um die Gesetzmäßigkeiten, denen

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die Entwicklung der Geschichte unterliegt, schafft in ihren Augen die Grundvoraussetzung für eine unserem Zeitalter adäquate Einschätzung der Literatur der Vergangenheit. Der unerschütterliche Glaube, daß das angeblich höhere Geschichtsbewußtsein der DDR-Literaturwissenschaft sie zu einer wissenschaftlichen Erhellung des gesamten literaturgeschichtlichen Prozesses befähige, tut sich in allen Beitragen zum Thema der Erberezeption kund. Als typisches Beispiel können hier zwei Äußerungen von namhaften Literaturwissenschaftlern angeführt werden : “Ich begrüße es, daß der Begriff der objektiven Kriterien in die Debatte geworfen worden ist, weil uns das auf eine entscheidende Eigentümlichkeit unserer Aneignung, d.h. der marxistischen Aneignung des Erbes, hinführt ; denn es ist ja gerade die marxistische Methode, die die Möglichkeit bietet, das Kunstwerk und das Nachleben des Kunstwerks objektiv zu erkennen und zu analysieren.” 6 “Wir haben von den objektiven Kriterien gesprochen, die Kunstwerke in ihrer Zeit, aus ihrer Zeit heraus verstehen lassen. Der historische Materialismus, die marxistischen Kultur-und Kunstwissenschaften stellen das zuverlässige Instrumentarium bereit, diese objektiven Kriterien wirklich allseitig herauszuarbeiten und wissenschaftlich zu sichern.”7 9

Darüberhinaus verschafft die in der DDR erreichte Stufe des geschichtlichen Prozesses der Literaturwissenschaft die Überzeugung, das Erbe vom einzig richtigen Blickwinkel aus zu betrachten. Für die DDR-Literaturwissenschaft sind nämlich die Bemühungen um die Erschließung der Literatur der Vergangenheit — und dies gilt sowohl für die nichtmarxistischen Methoden als auch für die eigene — geschichtlich bedingt, und zwar dergestalt, daß die Kriterien, die an das Erbe herangetragen werden, jeweils von den Bedürfnissen der Gegenwart abhängig seien. Manfred Naumann, einer der profiliertesten Literaturwissenschaftler der DDR, hat dies klar zur Sprache gebracht : “Auch das Verhältnis zur Überlieferung ist eine Klassenfrage. Bisher hat es noch keine Klasse gegeben, die nicht bestrebt gewesen wäre, auf diese oder die andere Weise die Macht der Überlieferung für sich in Anspruch zu nehmen. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß der komplizierte, vielschichtige, fast immer in die Diskussion um philosophische, ästhetische, kunsttheoretische und kunstkritische Fragen eingebettete Prozeß, innerhalb dessen sich sowohl die aufsteigenden als auch die herrschenden und absteigenden Klassen im Laufe der Geschichte der Überlieferung zu bemächtigen gesucht haben, noch ungenügend erforscht ist. Gesichert aber ist die Erkenntnis, daß der Gesichtspunkt, unter dem die Überlieferung betrachtet, gedeutet und ausgelegt wird, stets durch gegenwartshistorische gesellschaftliche Erfordernisse und Interessen bedingt ist.” 8

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Demgemäß ist nach marxistischen Ansichten gerade die Arbeiterklasse — die führende “soziale Hauptkraft” in der DDR — in der heutigen Epoche des “weltweiten Obergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus” vorzüglich befähigt, das kulturelle Erbe gemäß ihren Interessen zu interpretieren, da ihre Diktatur eben den Gesetzmäßigkeiten der Geschichte entspreche. Die Literatur der Vergangenheit könne, um mit Horst Haase zu sprechen, “nur im Zusammenhang mit der Hauptlinie der Menschheitskultur richtig erfaßt und in vollem Maße erschlossen werden”9.

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Bemerkenswert ist, daß in den theoretischen Beiträgen jede Betonung der Legitimität der eigenen Erbe-Rezeption als Anlaß zu einer polemischen Auseinandersetzung mit den “bürgerlichen” Theorien zur Literaturgeschichte benutzt wird. Zwar hat sich die DDR - Literaturwissenschaft von der anfänglichen Schwarz-Weiß - Technik allmählich distanziert. Die pauschale Aburteilung der westlichen Konzeptionen, die bei einzelnen Literaturwissenschaftlern noch bisweilen anzutreffen ist, ist nicht mehr typisch für die heutigen Entwicklungstendenzen der literaturgeschichtlichen Forschung in der DDR.

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Die Möglichkeit, den westlichen Theorien für die eigenen Forschungszwecke Positives abzugewinnen, wird immer mehr in Erwägung gezogen. Jedoch rückt man keineswegs von der Meinung ab, daß die “bürgerliche” Literaturgeschichtsschreibung nur völlig unwissenschaftliche Forschungsresultate vorlegen könne. In DDR-marxistischer Sicht ist der “bürgerliche” Vergangenheitsbezug in seiner Totalität notwendigerweise verzerrt. Aufgrund ihrer Stellung im Geschichtsprozeß sei die bürgerliche Klasse auch bei bestem Willen nicht mehr in der Lage, an das Erbe objektiv heranzutreten. In dieser Hinsicht meint Johanna Rudolph feststellen zu können : “Wir stehen dem größten Fäulnisprozeß der Weltgeschichte gegenüber.” 10 12

Die Krise, in die die Germanistik der BRD geraten sein soll — diese These wird auch im Westen manchmal verkündet —, wird in der DDR als typisches Verfallssympton der letzten Ausbeuterklasse gedeutet. Darüberhinaus wird die bürgerliche Literaturwissenschaft bezichtigt, das künstlerische Erbe zu Manipulationszwecken zu mißbrauchen. Da die bürgerliche Klasse in der gegenwärtigen Epoche jegliche Existenzberechtigung eingebüßt habe, schrecke sie nicht davor zurück, ihre Bemühungen um die Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft durch bewußte Verfälschung der kulturellen Traditionen zu legitimieren. Sie gebe sich als die wahre Erbin aus und bezichtige die DDR der Usurpation. Für sie sei es deshalb zur Existenzfrage geworden, das Erbe von seinen wahren geschichtlichen “Klassenwurzeln abzuschneiden” 11. Die Berufung auf das Allgemein-Menschliche wird beispielsweise als durch die Bedrohung der eigenen Existenz diktierte Ausklammerung des geschichtlichen Moments interpretiert : “Schließlich machte sich, auf der Basis einer bereits manipulierten Weitsicht und eines Menschenbildes, das nur noch die Normen eines perspektivlosen, der Resignation und der Verzweiflung überantworteten Lebensgefühls gelten ließ, eine politische, ganz den Interessen des Imperialismus dienende Umformung des Erbes bemerkbar. Unter diesen recht vordergründig dargebotenen Aspekten wurde behauptet, “allgemein-menschlichen” Interessen zu dienen und damit das wirkliche, reale Interesse der Menschen an einer real-humanistischen Umgestaltung der gesellschaftlichen Bedingungen, an einer praktischen Sinnerfüllung des Lebens negiert. Die behauptete allgemein-menschliche Grundlage erweist sich letztlich als ahumanistisch, als Verteufelung aller realen Lebensinteressen, die nichts anderes bezweckt, als den imperialistischen Gesellschaftszustand als den einzig möglichen und unabänderbaren zu akzeptieren.”12

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Im selben Zusammenhang erblickt die DDR-Literaturwissenschaft in der westlichen Erbe-Rezeption einen Versuch, den durch den Sozialismus verkörperten gesellschaftlichen Fortschritt auf raffinierte Weise einzudämmen und zu unterminieren. So wird z.B. die ganze nichtmarxistische Kafka-Kritik — einschließlich der “revisionistischen” — von dieser Perspektive aus beurteilt : “Von der Frage nach der Stellung des humanistischen Erbes im entwickelten gesellschaftlichen System des Sozialismus nicht loszulösen, gleichzeitig aber auch über sie hinausreichend ist die Notwendigkeit der ständigen aktiven Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie und ihrer revisionistischen Spielart. Gerade in den letzten Jahren ist es an einigen Beispielen deutlich geworden, daß bestimmte historische Gegenstände aufgegriffen wurden, um die bürgerliche Ideologie vorzutragen und marxistisch-leninistische Positionen zurückzudrängen. Man rechnete dabei wohl mit einer geringeren Aufmerksamkeit für diese historischen Gegenstände seitens der fortschrittlichen Kräfte. Eines der treffendsten Beispiele dafür war die Diskussion um das Werk von Franz Kafka, bei der sich die literaturhistorische Fragestellung als Ausgangspunkt für die

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Entwicklung entscheidender aktueller philosophischer und politischer Theorien des modernen Revisionismus erwiesen hat, wobei von der offen bürgerlichen Literaturwissenschaft eine intensive Vorbereitungsarbeit geleistet worden war.” 13

  B. Vergangenheit und Gegenwart : Kontinuität und Diskontinuität 14

Der zweite Grund, der die Bedeutung der Erbe-Diskussion in der DDR erklärt, ist das Traditionsbewußtsein des Sozialismus. Wohl versteht sich der ostdeutsche Staat als die gesellschaftlich höchstentwickelte Stufe der Menschheitsgeschichte. Die Umkehrung des Subjekt/Objekt-Verhältnisses durch die proletarische Revolution bedeutet für ihn einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit : zum erstenmal in der Geschichte habe sich eine Klasse die Macht erkämpft, nicht um die anderen Klassen auszubeuten, sondern gerade um jegliche Form der Ausbeutung zu beseitigen. Was in der Geschichte immer illusorischen Charakter gehabt habe, sei durch die Überwindung der antagonistischen Gesellschaftsordnung in den Bereich des Möglichen gerückt. Aber so entscheidend dieser Fortschritt — also dieser Schritt nach vorne — auch sein mag, er bleibt für die Marxisten im Grunde eben nur ein Schritt, der durch die vielen im Laufe der Geschichte vollzogenen Schritte ermöglicht wurde. Wenn auch in der marxistischen Ideologie der Geschichtsprozeß nicht linear verläuft, so läßt sich jedoch durch die verschiedenen Etappen, die alle einen Beitrag zum Fortschreiten der Menschheit geleistet haben, eine deutliche Entwicklungslinie feststellen, die in den Sozialismus mündet. Diese kontinuierliche Evolution hat also die Vorausbedingungen dafür geschaffen, daß die Arbeiterklasse durch die Revolution an die Macht gelangen konnte und gegenwärtig ihre “historische Mission” erfüllen kann. Das Gefühl der tiefen Verbundenheit mit der Vergangenheit drückt sich ganz besonders in der Pflege der ästhetischen Überlieferung aus. Als Teil des Oberbaus der Gesellschaftsordnung ist die Kunst nämlich — dies ist im zweiten Kapitel hervorgehoben worden — ein wesentlicher Faktor des historischen Fortschritts. Hierzu schreibt Anneliese Große : “Objektiv gehört das Erbe zur sozialistischen Kultur, weil sich die Menschheit durch gewaltige Leistungen, unter unsäglichen Mühen, begleitet von großartigen Fortschritten, von Irrwegen und Rückschlägen, insbesondere aber harten Klassenauseinandersetzungen bis zu dem Stand entwickelte, wo sie Prinzipien des gesellschaftlichen Lebens herausarbeitete, die es ihr gestatten, ihre Verhältnisse und damit auch ihre Lebensumstände, die Natur usw. zu beherrschen. Bestandteil des erreichten Zustandes sind die Stufen des Weges zu ihm.” 14.

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Auch die heutige “Nationalkunst” der DDR fühlt sich zutiefst in der kulturellen Tradition verankert. Wenn auch das Erbe der Kunst des sozialistischen Realismus gegenüber historisch rückständig ist, so versteht sich diese trotzdem als durch die vorhergehende Entwicklung des literarischen Denkens bedingt. Hier knüpft die DDRLiteraturwissenschaft unmittelbar an Lenin an, der aus der Traditionsgebundenheit eine seiner Hauptthesen zur postrevolutionären Kunst machte :

 

“Die proletarische Kultur fällt nicht vom Himmel... Die proletarische Kultur muß die gesetzmäßige Weiterentwicklung jener Summe von Kenntnissen sein, die sich die Menschheit unter dem Joch der kapitalistischen Gesellschaft, der Gutsbesitzergesellschaft, der Beamtengesellschaft erarbeitet hat.” 15

2. Funktionalisierung des Erbes 16

Die bisher angeführten Gründe reichen aber bei weitem nicht aus, um die Intensität der Erbe-Forschung in der DDR zu erklären. Es kommt nämlich nicht nur darauf an, die

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Kunstschätze der Vergangenheit in dem Bewußtsein zu verteidigen und zu bewahren, daß der heutige Tag dem gestrigen entspringt. Die DDR-Literaturwissenschaft beschränkt sich nicht auf ein bloßes beschauliches Verhältnis zur ästhetischen Überlieferung. Dieser wird in erster Linie deshalb höchste Bedeutung beigemessen, weil auch sie in die gesellschaftliche Praxis einbezogen wird. Die These Lenins, in seinen Aufsätzen ganz klar zum Ausdruck gebracht, daß das Erbe zum “Werkzeug des Sozialismus” gemacht werden solle16, wird von der DDR-Literaturwissenschaft ohne Vorbehalte übernommen. Ihm wird eine Funktion zugeschrieben, die es zu einem unabdingbaren Moment im Prozeß der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft macht. 17

Wohl leugnet niemand die Wirkungsmöglichkeiten von literarischen Werken auch über ihre Entstehungszeit hinaus. Die Annahme, daß diese eine “zweite historische Dimension”17 erlangen und daß somit die späteren Generationen ihnen etwas abgewinnen können, ist sicherlich nicht spezifisch marxistisch. Neu ist aber dagegen zuerst einmal der Wert, der auf die Potenzen des Erbes für die Bewältigung der Probleme der Gegenwart gelegt wird, dann auch — wie sich heraussteilen wird — die sich aus der Orientierung der Forschung an den Bedürfnissen der Gegenwart ergebende Konsequenz für die Interpretation der Kunstwerke der Vergangenheit.

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In den einschlägigen Artikeln wird ständig und nachdrücklich darauf hingewiesen, wie bedeutsam das künstlerische Erbe für den gesellschaftlichen Fortschritt ist. Naumann nennt es ein “systemnotwendiges Element” und “Triebkraft unserer Entwicklung” 18. Auch die Politiker der DDR, voran Walter Ulbricht, sind nie müde geworden, dies zu betonen. Die folgende Äußerung des ehemaligen Ersten Sekretärs des ZK der SED steht für viele : die humanistischen Traditionen sind für ihn “unabdingbarer Bestandteil des humanistischen Menschenbildes unserer sozialistischen Gesellschaft” 19. Ende 1970 haben die “Weimarer Beiträge” einen Artikel veröffentlicht, in dem für die Notwendigkeit einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit dem Erbe an den Höheren Schulen plädiert wird. Besonderer Nachdruck wird darauf gelegt, daß der literaturgeschichtliche Unterricht sich auch mit der Zeit vor Lessing befassen sollte 20.   A. Herausbildung der sozialistischen Persönlichkeit

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Im ersten Kapitel ist hervorgehoben worden, daß im Aufbau des Sozialismus die Erziehung bzw. die Umerziehung des Bewußtseins einen zentralen Platz einnimmt. An der Herausbildung “allseitig und harmonisch entwickelter sozialistischer Persönlichkeiten”, wie es in der Sprachpraxis der DDR heißt, hat das Erbe einen großen Anteil. Seine “menschlich schöpferischen Potenzen”21 werden als ein vorzügliches Mittel zur Durchsetzung ideologischer Rechtgläubigkeit in allen Schichten der Bevölkerung erachtet.

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Nach marxistischem Verständnis gehört es zum Wesen der Kunst, den geschichtlichen Prozeß, also den Kampf des Menschen um die Beherrschung seiner Existenz, zu widerspiegeln, d.h. diesen Prozeß abzubilden und zugleich Impulse auszustrahlen, die ihn vorantreiben. Die ganze ästhetische Überlieferung ist demnach ein vorzüglicher Ausdruck des geschichtlichen “Ringens um Menschlichkeit”.

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Nach offizieller Meinung ist für die DDR-Literaturwissenschaft das — auf solche Weise ausgelegte — Erbe dazu angetan, ein sozialistisches Epochenbewußtsein zu prägen. Es kann die 17 Millionen DDR-Deutschen dazu bringen, sich als Bürger des ersten deutschen

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Arbeiter- und Bauernstaates im Geschichtsprozeß zu situieren und sie somit durch “adäquates” Verständnis der Gegenwart für die Sache des Sozialismus zu gewinnen. Es kann ihnen das Woher und Wohin der DDR klarmachen und ihnen zum Bewußtsein verhelfen, daß das sozialistische Gesellschaftssystem, in dem sie leben, nicht etwas Fremdes, deutschen Verhältnissen Unangemessenes ist, das nach dem zweiten Weltkrieg dem östlichen Teil Deutschlands durch die Besatzungsmacht gewaltsam aufgezwängt wurde, sondern daß die DDR eben den durch die Geschichte vorgeebneten Weg beschreitet. Das Erbe vermag es besonders, den DDR-Bürger davon zu überzeugen, daß er durch die revolutionären Umwälzungen zum “bewußten Beherrscher seiner gesellschaftlichen Beziehungen”22 geworden ist, im Gegensatz etwa zum Bundesdeutschen, mit dem er sich auch 25 Jahre nach Kriegsende weiterhin vergleicht. Zu den Potenzen des künstlerischen Erbes äußert sich Naumann folgendermaßen : “Die Inbesitznahme des humanistischen und realistischen Kunstprozeßes, der der menschlichen Gesellschaft durch alle Widersprüche und Rückschläge hindurch den geschichtlichen Weg zu dieser ihrer Befreiung mit geebnet hat, trägt wesentlich dazu bei, daß die Erbauer des Sozialismus ein noch höheres Bewußtsein ihrer Menschengemeinschaft entwickeln und sich noch tiefer als Beherrscher ihrer eigenen Vergesellschaftung und als Subjekt der Geschichte begreifen und empfinden. Da die auf dem Hauptweg der Kunstentwicklung entstandenen Werke der realistische Ausdruck der jeweiligen geschichtlich bedingten Bemühungen der Menschheit sind, die ihr in den verschiedenen Epochen gebotenen Möglichkeiten ihrer sozialen Selbstverwirklichung auszuschöpfen, kann die sozialistische Gesellschaft durch ihre Aneignung ein tieferes Verständnis für ihre menschheitsbefreiende Mission und größere Selbstgewißheit für die erfolgreiche Lösung ihrer Aufgaben gewinnen.”23 22

Durch Freisetzung der Potenzen des künstlerischen Erbes möchte die DDR das erreichen, was sie sich seit jeher von ihren Staatsbürgern erhofft, nämlich deren freiwilliges aktives Mitwirken am Aufbau der sozialistischen Gesellschaft.

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Bezeichnend für die bisherige Grundhaltung der DDR-Literaturwissenschaft gegenüber dem Erbe ist, daß das ideologische Moment alles überragt. Wenn auch bisweilen davon die Rede ist, daß mit der Erschließung des Erbes auch dem Ziel zugestrebt wird, das ästhetische Bewußtsein zu entwickeln, so ist im Grunde auch dies auf ideologische Zweckmäßigkeitsüberlegungen zurückzuführen. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht die folgende Äußerung von Naumann zum Kunstgenuß : “Zwischen der Fähigkeit des Erbes, die Emotionalität des Menschen zu bereichern, seinen Schönheitssinn sowie seine Erlebnis-und Erkenntnisfähigkeit zu entwickeln, besteht ein dialektischer Zusammenhang. Dabei ist die Ausbildung der Fähigkeit zum Kunstgenuß von besonderer Relevanz, weil allein über den Genuß die im Erbe vergegenständlichten menschlichen Wesenskräfte für die ‘vollständige Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften’ erschlossen werden können. Dadurch kann das Erbe in seiner ganzen Potenz auf den sozialistischen Menschen wirken und den ‘Reichtum seiner wirklichen Beziehungen’ erweitern, von dem der ‘wirklich geistige Reichtum des Individuums’ abhängt. Unter diesem Aspekt wird der Genuß vergangener Kunst zum Bestandteil der Produktivkraft des Individuums.”24

  B. Wert des Erbes für die Gegenwartsliteratur 24

Die Erschließung des Erbes wird auch als unentbehrlich betrachtet, um die kulturell ideologischen Aufgaben der sozialistisch - realistischen Kunst zu verwirklichen. Für die “Nationalkultur”, die selber im Prozeß des Aufbaus des Sozialismus eine große Rolle zu

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spielen hat, wird die vorhergehende Entwicklung des literarischen Denkens zu einer wichtigen Quelle. Sie enthält nämlich Elemente, die gegenwärtig aufgrund des ideologischen Fortschritts zur vollen Entfaltung gebracht werden können. Schon Lenin ging davon aus, daß sich die proletarische Kunst die im weltliterarischen Prozeß enthaltenen “menschlich schöpferischen Potenzen” zu eigen zu machen habe : “Nicht Erfindung einer neuen Proletkultur, sondern Entwicklung der besten Vorbilder, Traditionen und Ergebnisse der bestehenden Kultur vom Standpunkt der marxistischen Weltanschauung und der Lebens-und Kampfbedingungen des Proletariats in der Epoche seiner Diktatur.”25) 25

Auf die sich aus einer solchen Auffassung ergebenden Folgen für die sozialistische Kunst der Gegenwart wird im nächsten Kapitel zurückzukommen sein.  

II. - Theorie des Erbes und Stand der Forschung 26

Bei der Erarbeitung von Kriterien für die Bewertung der Literatur der Vergangenheit lassen sich die Theoretiker von den gerade erwähnten Gründen für das große Interesse leiten, das in der DDR dem Erbe entgegengebracht wird. Der offiziellen Theorie nach sollen die mit der Erschließung des Erbes beauftragten Literaturwissenschaftler zuerst einmal bestimmen, was in der Literatur der Vergangenheit überhaupt als Erbe zu betrachten ist. Ihnen obliegt es dann, die Interpretation des Erbes so anzulegen, daß es die ihm in der gesellschaftlichen Praxis zugedachte Rolle erfüllen kann.  

1. Die Frage der Auswahl : Welche Literatur gehört zum Erbe ? 27

Bei der Aneignung des Erbes geht es keineswegs um eine unkritische quantitative “Rezeption” der gesamten überlieferten Literatur. Die erste Aufgabe, vor die sich die DDR-Literaturwissenschaft in dieser Hinsicht gestellt sieht, ist es, aus der Fülle der Kunstwerke der Vergangenheit eine Auswahl zu treffen. In den theoretischen Beiträgen wird wiederholt vor einer apologetischen Haltung der Literatur der vorsozialistischen Epochen gegenüber gewarnt. Dabei wird oft an Lenins Ansicht erinnert, das Interesse der sozialistischen Gesellschaft solle allem gelten, was in der mehr als zweitausendjährigen Entwicklung des menschlichen Denkens und der menschlichen Kultur wertvoll war”26,

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Der ausschlaggebende Maßstab zur Bestimmung des “Wertvollen” in der Literatur der Vergangenheit ist der Realismus-Begriff. Anhand dieses Kriteriums verspricht sich die DDR-Literaturwissenschaft die Werke herauszufinden, die zur Tradition der sozialistischen Literatur gehören. Im zweiten Kapitel ist darauf hingewiesen worden, daß die offizielle Realismuskonzeption in der DDR bis vor kurzem einseitig gewesen ist, aber auch daß sich die Literaturwissenschaft hinsichtlich der weiteren Erforschung des Begriffs optimistisch zeigt.

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In der Diskussion um die Erarbeitung einer Erbe-Theorie wird immer wieder betont, daß es auch für die Bewertung der Kunst der Vergangenheit objektive Kriterien gibt. Es wird aber zugleich bedauert, wie wenig die Forschung in dieser Hinsicht fortgeschritten ist.

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Paradoxerweise sind die zahlreichen zur Erbe-Problematik geschriebenen Artikel wenig vom Bestreben getragen, gerade diese objektiven Kriterien zu erarbeiten. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß alle theoretischen Bemühungen um die

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Erschließung der Literatur der Vergangenheit völlig von tagespolitischen Zweckmäßiskeitsüberlegungen beherrscht sind. Obwohl in den verschiedenen Beiträgen die Ausführungen jeweils als neu präsentiert werden, lassen sie sich bei allen Unterschieden leicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Alle Autoren ziehen im Grunde dieselben Saiten auf. 31

Im zweiten Kapitel ist dargelegt worden, wo die DDR-Literaturtheorie die Einheitlichkeit der realistischen Kunst in den verschiedenen Formen, die diese im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung nimmt, erblickt : der dialektische Zusammenhang zwischen dem literarischen und dem historischen Prozeß bildet den Kristallisationspunkt, um den alle Realismus-Kriterien kreisen.

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Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welche Momente des künstlerischen Abbildungs-und Bildungsprozesses die Erbe-Theorie bislang für die Zugehörigkeit eines Kunstwerkes zum Realismus und somit zur aneignungswürdigen Tradition als relevant erachtet hat.

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Aus dem bereits Ausgeführten erhellt, welche Elle die Theorie bisher an das Erbe angelegt hat. Wenn auch immer wieder betont wird, daß Kunstwerke eine “Einheit ideologischer, ästhetischer und ethischer Momente”27 bilden, hat die theoretische Reflexion über das Erbe bisher offensichtlich nur den “ideologischen Momenten” größte Aufmerksamkeit entgegengebracht. Dabei ist die ästhetische Seite der Interpretation völlig in den Hintergrund geraten.

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Die Erbe-Theoretiker sind sich wohl bewußt, wie sehr die ästhetische Seite der Kunst aus ihrem Blick gerückt ist. Anstatt zu versuchen, die Mängel der Methode zu beseitigen, bemühen sie sich vielmehr, darüber hinwegzutäuschen, daß das Erbe sie weit weniger an sich als künstlerische Erscheinung interessiert denn als bloßes Mittel zum Zweck, d.h. wegen der ihm beim Aufbau des Sozialismus zugeschriebenen Funktion. Die Art und Weise, wie sie dies tun, verrät eine gewisse Ratlosigkeit.

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Ein Versuch, die gegenwärtigen Mängel zu akzeptieren, ist die oft verkündete These, daß der beschrittene Weg der richtige sei, um zur Herausarbeitung ästhetischer Maßstäbe zu kommen. Aus den Lücken der Methode solle bei den Forschern keineswegs das Gefühl erwachsen, nutzlose Arbeit zu leisten oder sogar ein falsches Bild der Literaturgeschichte zu vermitteln. Ästhetische Kriterien ließen sich nur aus der Erforschung des Verhältnisses zwischen Literatur- und Geschichtsprozeß ermitteln. In dem von einem Autorenkollektiv verfaßten Beitrag “Zur Tradition des Realismus und Humanismus” wird diese Ansicht geäußert : Aus diesem realgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Literatur und Geschichte ergeben sich die theoretischen und ästhetischen Maßstäbe, an Hand deren die künstlerischen Leistungen der Vergangenheit zu erschließen und zu bewerten sind : Hier liegen die Knotenpunkte einer Realismus-Entwicklung, die — bei aller Vielfalt der sich historisch ablösenden Schaffensmethoden — doch stets im Wechselverhältnis mit dem widerspruchsvoll verlaufenden Prozeß der Beherrschung von Natur und Gesellschaft durch die Menschen zu verstehen ist.” 28

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Im zweiten Kapitel ist festgestellt worden, daß die DDR-Literaturwissenschaft gegenwärtig dabei ist, die künstlerische Widerspiegelung genauer zu bestimmen. Dies macht sich nicht zuletzt in den theoretischen Bemühungen um die Erschließung des Erbes bemerkbar. In allerletzter Zeit haben einige Forscher gegen die Einseitigkeiten der Erbe-Theorie reagiert. Das beste Beispiel dafür liefert der im letzten Heft der “Weimarer Beiträge” von 1972 veröffentlichte Artikel von Horst Haase “Erbe und

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sozialistische Gegenwart”. Dieser Beitrag unterscheidet sich insofern von den vorigen, als der Verfasser die Versäumnisse der Theorie offen zugibt und die Literaturwissenschaftler ausdrücklich dazu aufruft, eben die “ästhetische Seite” der Kunst stärker in Betracht zu ziehen : “Kräftig unterstrichen wurde auf der 6. Plenartagung des ZK der SED die Forderung nach der kritischen Aneignung des Erbes. Sie dürfte der womöglich entscheidende Hebel für die Überwindung jener Schwierigkeiten sein, die oben angedeutet wurden. Es bedarf der gründlichen Selbstprüfung der Kultur- und Kunstwissenschaften, welche Versäumnisse es in dieser Hinsicht gibt. Ist in vielen literatur- und kunstgeschichtlichen Darstellungen nicht eine gewisse Harmonisierung tatsächlich sehr widerspruchsvoller Erscheinungen spürbar ? Leidet nicht unter der richtigen Herausarbeitung des Epochalen häufig die Nachzeichnung der individuellen Mannigfaltigkeit der künstlerischen Prozesse ? Werden nicht manchmal ideologische und ästhetische Grenzen in den Werken des Erbes nicht exakt genug beschrieben ? Neigen wir nicht dazu, die bedeutenden Künstler der Vergangenheit allzuschnell in die Bereiche eines Abstrakt-Klassischen zu versetzen, anstatt ihre Beziehungen zu den Sorgen und Freuden auch des alltäglichen Lebens zu betonen ? Solche Erscheinungen zu korrigieren, bedeutet, die Widersprüchlichkeit des historischen Prozesses und die Stellung und Haltung des Künstlers in ihm ohne jede Verklärung herauszuarbeiten, der lebendigen Individualität des Künstlers und der Besonderheit des künstlerischen Werkes besser gerecht zu werden und ihre Nähe zu unserem Tun und Lassen zu zeigen, sie uns ‘menschlich’ nahezubringen.”29. 37

Maßgebend für die Zugehörigkeit eines Kunstwerkes zum Erbe ist also sein Verhältnis zur Wirklichkeit. Die Richtigkeit der Abbildung ist die Grundvoraussetzung, damit die Kunst im Geschichtsprozeß eine Funktion erlangen kann. Von einem marxistischen Gesichtspunkt aus war aber ein wahrheitsgetreues Erfassen der Wirklichkeit nicht möglich, bevor das geschichtlich theoretische Denken zu den Erkenntnissen des historischen und dialektischen Materialismus vorgedrungen war. Was immer ins Blickfeld künstlerischer Gestaltung rücken konnte, zeigen alle Konstruktionen des Geistes in dieser Zeit, die von den Marxisten manchmal als Vorgeschichte der Menschheit bezeichnet wird, notwendigerweise ein verzerrtes und illusorisches Bild der Welt. Bis dahin mußten die Künstler in ihrem Suchen nach den Mechanismen der Geschichte notwendigerweise idealistischen Positionen anhängen. Demnach kann die Kunst der Zeit vor Marx die historischen Prozesse nur relativ richtig, d.h. entsprechend den jeweiligen Möglichkeiten ihrer Welterkenntnis, widerspiegeln. Aber auch wenn das künstlerische Abbild nur relativ richtig ist, wird ihm nicht grundsätzlich der Realismuscharakter abgesprochen. Die von der DDR-Literaturwissenschaft aufgestellte These ist folgende : Damit sich künstlerische Reflexion von Welt in Schaffen von Welt verwandeln kann, muss die Kunst wohl adäquate Abbilder liefern, in dem Sinne jedoch, daß die subjektive Welterfahrung des Künstlers mit dem in der jeweiligen Epoche objektiv Möglichen, also mit dem jeweils höchsten Entwicklungsgrad der notwendigerweise subjektiven Vorstellungen vom weltgeschichtlichen Prozeß — und nicht mit dem Weltverständnis des Marxismus-Leninismus — übereinstimmt. Ausschlaggebend ist dementsprechend, inwieweit sich der Künstler des Auftrags, den ihm die Geschichte in seiner Epoche erteilt, annimmt und ihn auszuführen sich bemüht. Dieser Auftrag ist in jeder Epoche verschieden. Jede historisch-gesellschaftliche Zeitstufe der Entwicklung der Menschheit eröffnet neue Perspektiven im fortschreitenden Prozeß der Welterkenntnis und stellt neue Anforderungen an die Kunst. Durch die — wenn auch relative — Erkenntnis des Grundkonflikts seiner Zeit kann der Künstler Einsichten in

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den Geschichtsprozeß hervorbringen und somit Mitschöpfer von Wirklichkeit werden. Er kann dem geschichtlich Notwendigen zur Realisierung verhelfen, indem er Überwindung und Weiterführung vorausgegebener Vorstellungen auf die nächste Stufe hin bewirkt. Das Heraustreten aus der Beschränktheit der eigenen Epoche und das Beitragen zum Voranschreiten der Welterkenntnis sind hervorstechende Eigenschaften des realistischen Künstlers. In der antagonistischen Gesellschaft ist er praktisch ein Aufsässiger gegen die Ideen und Zustände seiner Zeit. Er leistet Pionerarbeit, indem er der Menschheit den Weg für einen Schritt nach vorne vorebnet. So urteilt z.B. Johanna Rudolph über Goethes “Faust” : “Die Gretchen-Tragödie ist natürlich nicht eine kleinbürgerliche Tragödie, sie geht vielmehr über die Begrenztheit der dargestellten Zeit und zugleich über die Epoche, in der sie geschrieben wurde, hinaus. Ihre Bedeutung liegt im Weiterwirken, in einer Antizipation von Dingen und Ideen, die die Wirklichkeit damals noch nicht bot.”30 38

Und die gleiche Autorin äußert dann die folgende Ansicht in bezug auf das “bürgerliche” Erbe : “Die Antizipation spielt eine ungeheure Rolle in der Kunst. Je größer das Kunstwerk, um so weiter die Antizipation im Hinblick auf die Fähigkeiten der Volkskräfte, die immer wirksam sind, von Anbeginn, auch wenn sie noch nicht die führende Kraft der Gesellschaft sein können.”31

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Ein besonders wichtiger Aspekt des Beziehungsgefüges Kunstwerk/Wirklichkeit ist das jeweils gestaltete Menschenbild. Um “realistisch” zu sein, braucht es nicht dem des historischen und dialektischen Materialismus zu entsprechen. Entscheidend ist vielmehr, wie der Mensch in den verschiedenen Etappen seiner Realisierung als Subjekt der Geschichte auf seine Entfremdungssituation reagiert, ob er also seine Probleme als zeitlos, “ewig-menschlich” auffaßt oder ob er sie in der Geschichte ansiedelt, d.h. dem “wahren Menschlichen” dadurch zur Verwirklichung verhilft, daß er deren Lösung im gesellschaftlichen Fortschritt erblickt. Diese Auffassung kennt bei manchen Forschern wenig Nuancen. So z.B. bei S.M. Petrow. Zu den Anfängen der sozialistisch-realistischen Literatur in der Sowjetunion äußert er sich folgendermaßen : “Die bedeutendsten realistischen Schriftsteller konzentrierten sich dabei auf die Darstellung der psychischen Welt des Menschen und seiner Handlungen in unmittelbarer Abhängigkeit von der historisch determinierten gesellschaftlichen Umwelt. Sie ließen sich von der sozialen Analyse als grundlegendem Prinzip für die wahrheitsgemäße Widerspiegelung des Lebens leiten. Damit drangen sie nicht nur tief in die Psyche der Menschen ein, sondern entdeckten auch die gesetzmäßigen Zusammenhänge zwischen Individuum und Gesellschaft. Sie drangen oft zur Erkenntnis der Klassengegensätze und Klassenkämpfe vor. Sozialistisches Klassenbewußtsein wurde sowohl bei der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens als auch bei der Gestaltung des einzelnen Individuums zum bestimmenden künstlerischen Prinzip der Sowjetliteratur in den zwanziger und dreißiger Jahren. Dieser Prozeß war einerseits dadurch bedingt, daß die Ideen des Marxismus in zunehmendem Maße in das künstlerische Denken der fortgeschrittensten Schriftsteller Eingang fanden, andererseits aber zwangen die Klassenauseinandersetzungen und die Verschärfung der Klassenwidersprüche, wie sie sich bereits im gesellschaftlichen Leben in der vorrevolutionären Periode abzeichneten, den Künstler zu einer klaren gesellschaftlichen Stellungnahme. Die proletarische Revolution und der Bürgerkrieg hinterließen nicht nur in der gesellschaftlichen Sphäre tiefe Spuren, sondern auch in der Persönlichkeitsentwicklung jedes einzelnen. ‘Der stille Don’ liefert dafür eine Reihe erschütternder Beispiele. In seinem Briefwechsel weist Lenin einmal darauf hin,

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daß sogar die Liebe, dieses doch mehr oder weniger allgemeinmenschliche, intime Gefühl, nicht vom Einfluß des Klassenkampfes verschont blieb.” 32 40

Im Hinblick auf das Menschenbild ist anzumerken, daß das Interesse des Künstlers für das Volk zu den wesentlichen Elementen der realistischen Kunst zählt. So wird im Beitrag “Zur Tradition des Realismus und Humanismus” über die russische Literatur des 19. Jahrhunderts geurteilt : “Seine historisch bedeutsamste und im weltliterarischen Prozeß von der deutschen Klassik zur sozialistisch-realistischen Literatur höchste Ausbildung erfährt der Realismus des 19. Jahrhunderts in der Entwicklung der russischen Literatur (Puschkin, Gogol, Gontscharow, Herzen, Turgenjew, Dostojewski, Nekrassow, Saltykow-Stschedrin, Tolstoi, Tschechow). Hier bleibt, angesichts der ungebrochenen feudalen Herrschaftsverhältnisse und der erst im letzten Drittel des Jahrhunderts mit der industriellen Revolution einsetzenden Sonderung der bürgerlichen Interessen, die Masse der vorwiegend aus Adelskreisen rekrutierten oppositionellen Intelligenz, des Hauptträgers der realistischen russischen Kunst und Literatur, bis zum Jahrhundertende fest verbunden mit der revolutionären Bewegung der Volksmassen. In der Orientierung auf die Problematik der Bauern als der größten und am meisten unterdrückten Klasse, zu der bereits Puschkin vorstößt und die die russische realistische Literatur bis zu Tolstoi beibehält, wird diese Literatur in ihrer Volksverbundenheit nicht nur zum unmittelbaren Faktor des revolutionären Kampfes gegen die zaristische Selbstherrschaft, sondern entgeht sie — indem die kapitalistische Entwicklung der Periode nach 1861 von vornherein ihrer Kritik verfällt — auch weithin der bürgerlichen Beschränktheit, die die antifeudalistisch intendierte Literatur der westeuropäischen Länder erst in einem langwierigen Desillusionierungsprozeß überwindet.”33

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Im selben Aufsatz wird aber die Ansicht vertreten, daß aufgrund der notwendigerweise beschränkten Selbstkenntnis der Menschheit das realistische Erbe nicht immer volkstümlich gewesen sei : “Während die ältere volkstümliche Kunst nicht stets realistisch und die realistische Kunst nicht immer volkstümlich war, hat die Theorie des sozialistischen Realismus, die eine wissenschaftliche Theorie ist, diesen möglichen Gegensatz ebenso überwunden wie die angebliche Autonomie von Kunst und Wissenschaft.” 34

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In diesem Zusammenhang muß auch gesagt werden, daß ein transzendentes Bild der Welt nicht grundsätzlich realismus-feindlich ist, solange wenigstens der Mensch nicht auf ein Objekt reduziert wird, das einer höheren, überirdischen Macht restlos ausgeliefert ist, also solange der Mensch für seine Bestimmung auf Erden verantwortlich ist. Auf das Verhältnis von Religion und Realismus wird u.a. im Beitrag “Probleme der sozialistischen Rezeption des Erbes” eingegangen. An den folgenden zwei Äußerungen von Thomas Höhle und Claus Träger läßtsich die offizielle Theorie ablesen : “Wir dürfen zwar diese Tabus35 nicht einfach mit einem Federstrich über den Haufen werfen, sonst verfallen wir leicht in das entgegengesetzte Extrem. Aber wir müssen sie sorgfältig und wissenschaftlich überprüfen, wie wir ja überhaupt das Erbe ständig wissenschaftlich überprüfen und auf den gesicherten Ergebnissen weiter aufbauen müssen, die durch die Erfahrungen der Arbeiterbewegung und die theoretischen Arbeiten ihrer großen Persönlich keiten gewonnen wurden. In diesen Zusammenhang gehört der große Komplex jener dem Christentum und überhaupt dem Religiösen verpflichteten Kunst und Kultur, die trotz religiöser Bindungen einen eminent humanistischen und realistischen Charakter hat. Es gibt eine Fülle solcher Werke. Auf die Dauer genügt es meiner Meinung nach nicht, zu sagen : Das hat nichts mit Religion zu tun, das Religiöse ist nur Hülle oder Maske oder Konzession an den Zeitgeschmack usw. Echte Probleme liegen dort, wo in wirklich

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religiöse Haltungen wirklich humanistische Tendenzen hineingelegt werden, wo Religiöses von den Künstlern nicht als Gegensatz zum Humanen aufgefaßt wird. Wenn wir davon sprechen, daß mit Hilfe des Marxismus — dessen ästhetische Grundposition selbstverständlich klar ist — historische Vorgänge tief ergründet und aufgehellt werden können, gehört dieser Komplex dazu. Damit hängt noch etwas zusammen. Eine Poesie, die die Wirklichkeit ästhetisch Phänomene, vor allem das hat die Fähigkeit, bestimmte Phänomene, vor allem das Bild des Menschen auch dann, wenn religiöses Denken bei dem Künstler eine große Rolle spielt, so eindrucksvoll und ‘groß’ zu gestalten, daß wir die Möglichkeit einer Einbeziehung in unser Erbe haben.”36 “Vielleicht darf ich noch ein Wort sagen zu der Frage nach den religiösen Untergründen, die uns vorhin ein wenig beschäftigt hat. Das ist doch das Sekundäre. Das Primäre ist die Verknüpfung der Dinge mit der historischen Bewegung, mit der Rolle der Volksmassen. Es gibt eine genaue Parallelität zwischen der Geschichte der Bewegung der Volksmassen und der Geschichte des Christentums nicht als Geschichte der Kirche, sondern als Oppositionsbewegung, von Müntzer bis Gottfried Arnold, bis auf Böll und Bobrowski. Primär ist die Verknüpfung des eigenen Willens mit der Bewegung der Geschichte, z.B. in der Ketzergeschichte haben wir alles aufgeblättert — als einen Teil der Aufklärungsgeschichte.”37 43

Der Begriff “Realismus” wird also historisch relativiert. Die realistischen künstlerischen Schaffensmethoden wandeln sich — sowohl inhaltlich als auch formal — entsprechend dem jeweiligen Stand des Wissens, das die Menschheit um sich selbst hat. So ist es notwendig, diesen Begriff in den verschiedenen Epochen der Literaturgeschichte, die als ein Stück Weltgeschichte verstanden wird, jeweils näher zu kennzeichnen38.

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Dementsprechend ist der Begriff “Realismus” für die Periodisierung der Literaturgeschichte ausschlaggebend. Es erhebt sich die Frage, ob dieser Begriff für sämtliche Epochen anwendbar ist oder ob in der Kunst der Durchbruch zum Realismus erst dann vollzogen wurde, als das Fortschreiten der Weltkenntnis dem Künstler die Möglichkeit gab, die — prozeßhafte — Wirklichkeit wenigstens einigermaßen adäquat abzubilden. In der DDR stehen in dieser Hinsicht unterschiedliche Meinungen nebeneinander. Obwohl sich die Theorie einheitlich will, scheint diese Meinungsverschiedenheit die Forscher kaum zu beschäftigen. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, daß sie nichts Wesentliches berührt, in dem Sinne, daß dies an der Periodisierung nichts ändert. Das Problem wird folgendermaßen umgangen : auch wenn “realistische Kunst” nicht in allen Epochen zu finden sei, seien auf jeden Fall in der Kunst jeder Epoche “realistische Züge” zu finden. Die gängigste Meinung ist wohl, daß sich der Realismus in der Literatur erst mit der Renaissance in voller Breite entfaltet. In diesem Zusammenhang kann der bemerkenswerte Beitrag “Zur Tradition des Realismus und Humanismus” noch einmal herangezogen werden. Das Thema definieren die Autoren wie folgt : “Die vorliegende Skizze stellt einen ersten Versuch dar, den geschichtlichen Entwicklungsprozeß des Realismus und Humanismus in Literatur und Kunst als Ganzes thesenhaft auf knappstem Raum zu umreißen und die historischen vielfältigen Traditionen des sozialistischen Realismus in großen Zügen herauszustellen.”39

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Da in DDR-marxistischer Sicht der allgemeingeschichtliche und der künstlerische Entwicklungsprozeß besonders eng miteinander verzahnt sind, kann die vorgenommene Periodisierung nur auf der üblichen marxistischen Einleitung des Geschichtsprozesses basieren :

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“Dieser Abfolge des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses entspricht — auf dem europäischen Kontinent — das Nacheinander der Sklavenhaltergesellschaft, des Feudalismus, des Kapitalismus und des Sozialismus. Diese bilden die sich jeweils revolutionierende ökonomisch-soziale Grundlage, auf der die Knotenpunkte der realistischen Kunstentwicklung und die Wandlungen des humanistischen Menschenbildes im Zusammenhang des geschichtlichen Prozesses erst verständlich werden.”40 46

Bis zur Renaissance finden sich nach Ansichten der Autoren nur “Ansätze des Realismus” : “Wenn im Rahmen des vorliegenden Kapitels über Kontinuität und Hauptlinien des humanistischen und realistischen Kunsterbes der frühen Perioden der Entwicklung von Kunst und Literatur Aufmerksamkeit zugewandt wird, geschieht das in dem Bewußtsein, daß es sich hier auf Grund des Standes der gesellschaftlichen Entwicklung und der objektiv beschränkten Potenzen für eine künstlerische Bewältigung der natürlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit nur um Ansätze der Entwicklung realistischer Methoden handeln kann. Während sich in der Kunst und Literatur der Renaissance und in stets wachsendem Maße in der Kunst der aufsteigenden bürgerlichen Gesellschaft die Allgemeinheit und Allseitigkeit gesellschaftlicher Beziehungen und Fähigkeiten, also eine in sich reich differenzierte Wirklichkeit, widerspiegelt, ergibt die Analyse der Entwicklung früherer Perioden, daß das Repertoire an Mitteln realistischer Gestaltung sich im Laufe eines widerspruchsvollen Prozesses historischer Entwicklung herausgebildet hat, auf dessen einzelnen Stufen man jeweils bestimmte Elemente einer realitischen Wirklichkeitserfassung, nicht aber einen voll entwickelten Realismus konstatieren kann.”41

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Daß echte realistische Kunst erst seit der Renaissance möglich ist, wird in einem nächsten Abschnitt begründet : “Die Epoche der Renaissance, in der sich erstmals deutlich und allseitig der revolutionäre Übergang vom feudalen Mittelalter zur bürgerlich-kapitalistischen Neuzeit abzeichnete, brachte mit dem Vordringen von Geldwirtschaft und Kapital den Zerfall der mittelalterlich-ständischen Ordnung und die Ablösung eines jahrhundertelange herrschenden transzendenten Bildes von der Welt und vom Menschen durch eine in ihren Grundzügen Säkularisierte, auf das diesseitige Tun des Menschen bezogene Weltanschauung. Zugleich erfolgte eine gewaltige Erweiterung des Horizonts (Epoche der Entdeckungen). Es kam zu einer Fülle von technischen Erfindungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Das Streben nach Beherrschung der Natur wurde erstmals konsequent und systematisch vorangetrieben. Der sich in der Renaissanceepoche im Verlaufe langwieriger Klassenkämpfe und vielfältiger ökonomischer, politischer und kultureller Widersprüche durchsetzende revolutionäre Umgestaltungsprozeß eröffnete ‘die größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte’. Mit der nun durch eine Produktion auf der Basis der Tauschwerte getragenen Entwicklung setzte die Herausbildung jener Gesellschaftsform ein, die nach K. Marx durch persönliche Unabhängigkeit auf sachlicher Abhängigkeit gekennzeichnet ist. Es begann sich ein ‘System des allgemeinen gesellschaftlichen Stoffwechsels, der universalen Beziehungen, allseitiger Bedürfnisse, universalen Vermögens’ zu formieren, das sich ‘über nationale Schranken und Vorurteile, wie über Naturvergötterung und überlieferte, in bestimmten Grenzen selbstgenügsam eingepfählte Befriedigung vorhandener Bedürfnisse und Reproduktion alter Lebensweise’ hinwegsetzte. Damit unmittelbar verbunden war die Gewinnung eines neuen Verhältnisses zur Wirklichkeit, entfiel doch in zunehmendem Maße die in den vorangehenden Epochen der Menschheitsentwicklung letztlich zwangsläufige Vermittlung durch Mythologie oder Religion. Natur und Gesellschaft wurden immer mehr unmittelbarer Gegenstand für den Menschen. Der Weg für eine

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unvermittelte, rein weltliche Erkenntnis und Beherrschung von Natur und Gesellschaft war frei gelegt worden. Für die Kunst und Literatur ergaben sich daraus weitreichende Konsequenzen. Auf der Basis dieses neugewonnenen Wirklichkeitsverhältnisses konnten sich erst jetzt die Ansätze realistischer Kunst zu einer immer mehr an Bedeutung gewinnenden künstlerischen Richtung zusammenschließen. In den größten Werken der Renaissance entwickelte sich eine neue, realistische Methode der Aneignung der Wirklichkeit. Erst jetzt waren die objektiven Voraussetzungen für die Entstehung des Realismus herangereift. Über alle bisherigen realistischen Ansätze und Elemente in der Geschichte der Kunst und Literatur hinausgehend, trat in der ästhetischen Aneignung der Wirklichkeit ein realistischer Ganzheitsbezug hervor, der bei all seiner Widersprüchlichkeit einen qualitativen Umschlag in der Gestaltung des Menschen und seiner Stellung in der Welt darstellte.” 42 48

Daneben finden sich andere Meinungen. Da dies für die vorliegende Arbeit nichts Wesentliches darstellt, wird hier lediglich auf den bereits herangezogenen Artikel von S.M. Petrow “Die Leninsche Widerspiegelungstheorie und das Problem des Realismus” kurz hingewiesen. Diesem Aufsatz läßt sich entnehmen, daß für den sowjetischen Literaturwissenschaftler die Epoche des Realismus in der Kunst erst im 19. Jahrhundert einsetzt : “Es ist uns allen bekannt, daß sich der Realismus in seiner mehr als hundertjährigen Geschichte auch überlieferter, aus anderen literarischen Strömungen entstammender künstlerischer Formen bediente.”43

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Als besonders aneignungswürdig in der realistischen Überlieferung wird die Kunst der sogenannten “aufsteigenden Klassen” erachtet. Die Emanzipationsbestrebungen dieser Klassen, die in der Kunst ihren Niederschlag finden, haben nämlich nach marxistischem Geschichtsverständnis jeweils dazu beigetragen, die Menschheit in ihrer Entwicklung eine Stufe höher zu bringen. Mit dieser Kunst fühlt sich demnach — wenigstens offiziell — die sozialistischrealistische Kunst der DDR aufs engste verbunden. Im bereits erwähnten Aufsatz “Die Funktion der Erbeaneignung bei der Entwicklung der sozialistischen Kultur” begründet Naumann den besonderen Wert, der dieser Kunst zugeschrieben wird : “Jede aufstrebende Klasse, auch wenn sie letzten Endes nur eine Form der Ausbeutung durch eine andere zu ersetzen vermochte, war gezwungen, solange sie noch nicht herrschte, die Interessen der gesamten Gesellschaft, auch die der unterdrückten Schichten des Volkes, zu vertreten. Sie mußte ihren Herrschaftsanspruch allgemeingesellschaftlich legitimieren. Kunstwerke, in denen die Ideale aufstrebender Klassen vergegenständlicht sind, verkörpern daher gleichzeitig (der Möglichkeit nach) auch gesamtgesellschaftliche und gesamtmenschheitliche Zielsetzungen. Im absoluten Sinne ist das Bewußtsein, das ihnen zu Grunde liegt, zwar ‘falsch’ ; relativ aber ist es ‘richtig’, weil ihr Anspruch, ja tatsächlich relativ berechtigt war.”44

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Am meisten gefeiert wird jedoch das “revolutionäre Literaturerbe”. Dieser Begriff umfaßt die Kunsterscheinungen, die die Wirklichkeit im Sinne des historischen und dialektischen Materialismus — also “objektiv” — widerspiegeln.

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Regelmäßig wird in der Kunsttheorie an den Wert dieser künstlerischen Pionierleistungen der jungen Vergangenheit für die jetzige Epoche des Sozialismus erinnert. Dies ist nur zu verständlich : nicht nur das “Streben nach mehr Menschlichkeit”, sondern auch ideologische Gemeinsamkeit verbinden sie miteinander. Oft unterstreicht ein pathetischer Ton dieses Gefühl der Verbundenheit : so erinnert — beispielsweise — Horst Haase im Beitrag “Erbe und sozialistische Gegenwart” an Kurt

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Hagers Äußerung, das sozialistische Erbe sei “unmittelbar Geist von unserem Geist, Blut von unserem Blut”45. 52

Etwas anders verfährt Elisabeth Simons. In einem diesem Thema gewidmeten Aufsatz unterstreicht sie das enge Verhältnis zwischen den “revolutionären Literaturtraditionen der Arbeiterklasse in der DDR” und der Gegenwart dadurch, daß sie auch die ersten Entwicklungsstufen der DDR-Literatur zu ihnen zählt :

 

“Das revolutionäre Literaturerbe umfaßt jedoch nicht nur die bis 1945 und 1949 führende sozialistisch-realistische Literaturentwicklung, die eigentliche Vorgeschichte der Gegenwartsliteratur der DDR. Es umschließt auch die über zwei Jahrzehnte reichende Weiterführung der Literatur der um die Macht kämpfenden Arbeiterklasse unter den Bedingungen des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates, das heißt den Aufstieg der sozialistisch-realistischen Literatur innerhalb des Literaturprozesses der DDR.”46

2. Interpretation der als “Erbe” bestimmten Literatur 53

Wenn etwa Walter Ulbricht fordert, das literarische Erbe ‘‘für die heutigen Menschen richtig zu interpretieren und zu erschließen”47, so erhalten die Wörter “interpretieren” und “erschließen” in seinem Mund eine ganz besondere Bedeutung. Der DDRLiteraturwissenschaftler sieht sich bei der Rezeption der als “Erbe” qualifizierten Vergangenheitsliteratur vor eine doppelte Aufgabe gestellt.

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Die Kunstwerke sind zuerst einmal als “fertig” zu betrachten. Jedes von ihnen bildet ein geschlossenes Ganzes, das auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung der Menschheit unter bestimmten Umständen entstanden ist. Sie sind kein Rohstoff, der gemäß den Erfordernissen der gesellschaftlichen Praxis verarbeitet werden soll ; es gilt bei ihrer Interpretation, ihre Integrität zu respektieren und zu bewahren.

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Sie sind dann aber auch “fertig zu machen”. Sie sollen dahingehend ausgelegt werden, daß sie ihre “zweite historische Dimension” gewinnen können.   A. Deutung der Kunstwerke als “fertige” historische Produkte

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Auf diese Seite der Interpretation sind die Erbe-Theoretiker erstaunlicherweise erst in den letzten Jahren eingegangen.

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Es läßt sich nicht leugnen, daß bis weit in die sechziger Jahre hinein die DDRLiteraturwissenschaft so sehr vom Bestreben getragen war, die Kunstwerke der Vergangenheit zur Propagierung der Ideen der Revolution zu benutzen, daß die Respektierung ihrer Integrität nur zu oft aus ihrem Blick geriet. Beim Abstecken des Aufgabenfeldes der Erbe-Forschung wurde die angeblich durch die Erkenntnisse des historischen und dialektischen Materialismus ermöglichte “wissenschaftliche” Neudeutung des Erbes in den Hintergrund gedrängt. Statt auf die Kenntnis der Vergangenheit wurde der Akzent auf die Kenntnis der Gegenwart gelegt.. Alles wurde daran gesetzt, die Aufmerksamkeit der Forscher einseitig auf die Notwendigkeit der Vergegenwärtigung vergangener Kunst zu legen, auf die Gefahr hin, den angeblichen Mißdeutungen, die diese in der “bürgerlichen" Literaturwissenschaft seit jeher erlitten hatte, keine richtige — sprich marxistische — Auslegung entgegenzusetzen, sondern eben somit neue Entstellungen hervorzurufen.

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Noch 1969 findet sich in den “Weimarer Beiträgen” ein polemischer Artikel, in dem die Literaturwissenschaftler energisch dazu aufgerufen werden, die Herausarbeitung des

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Gegenwartsbezugs der ästhetischen Überlieferung in den Mittelpunkt ihrer Forschungsarbeit zu rücken. Am folgenden Auszug läßt sich der Ton des Artikels ablesen : “Es sollte z.B. niemand in unseren Reihen geben, der sich nicht — ganz gleich, welches engere Wissenschaftsgebiet er vertritt — für die Mitgestaltung des kulturellen Geschehens der Gegenwart verantwortlich fühlt. In der Sowjetunion gibt es hervorragende Beispiele, wie Literaturwissenschaftler, die Vertreter der älteren Literatur sind, in das literarische Leben der Gegenwart mit Diskussionsbeiträgen, Essays u.a. m. eingegriffen haben. Alle iWssenschaftsgebiete sollten stärker in die Beziehung zur Gegenwart gesetzt werden. Das setzt allerdings die Kenntnis der kulturellen Vorgänge der Gegenwart voraus. Wenn z.B. das Wesen des Bitterfelder Weges als Fortsetzung der humanistischen Kulturtradition unter unseren gegenwärtigen Bedingungen nicht verstanden wurde, wird die wissenschaftliche Behandlung dieser Tradition in wichtigen Punkten notwendigerweise abstrakt bleiben. Oder : Ohne tieferes Eindringen in das sozialistische Menschenbild und seine Entwicklung wird die gegenwartsbezogene Interpretation des Humanitätsideals vergangener Jahrhunderte nicht möglich sein.”48 59

Den Erbe-Theoretikern ist erst sehr spät klargeworden — womöglich haben sie schweigen müssen, bis der politische Druck etwas nachließ —, daß eine Interpretation des Erbes, die sich ausschließlich auf die Aktualisierung der Kunstwerke konzentriert, manche Forscher dazu verleiten könnte, deren Gehalt — bewußt oder unbewußt — nachträglich zu ideologisieren. Die Furcht, ihr Beharren auf diesen anfänglichen Positionen würde genau das Gegenteil von dem heraufbeschwören, was von der ErbeForschung verlangt wird — diese könnte ihre Glaubwürdigkeit verlieren und somit der Sache des Sozialismus abträglich sein —, gab den Anstoß zum Umdenken.

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Gegenwärtig ist die Notwendigkeit erkannt worden, diese Seite der Interpretation nicht zu übergehen, wenn das literarische Erbe die ihm zugeschriebene Funktion tatsächlich erfüllen soll. Wenn auch die beschreibend-analytische Betrachtungsweise nicht zum Mittelpunkt der theoretischen Bemühungen geworden ist, so ist sie jedoch in das Blickfeld der Forschung einbezogen worden. Bewahrung und Auslegung der Dichtungen der Vergangenheit als in sich geschlossene historische Produkte einerseits und Freisetzung ihrer Potenzen für die Gegenwart anderseits werden jetzt zusammen als einander ergänzende Aufgaben genannt, auch wenn der zweite Aspekt bei weitem die Oberhand behält. Als Beispiel können einige Zeilen aus einem Beitrag von Wolfgang Stellmacher zitiert werden : “Die Literaturgeschichte muß in zweifacher Hinsicht historisch sein : Einerseits muß sie die literarischen Prozesse exakt historisch reproduzieren, zum anderen aber hat sie gleichzeitig auch nach der realen Bedeutung des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes aus der Sicht der marxistischen Weltanschauung und der ideologischen Bedürfnisse unserer Zeit zu fragen. Erst durch die Einheit dieser beiden Aspekte historischer Betrachtung wird die Literaturgeschichte befähigt, echt historisch zu aktualisieren, aus der Gesamtheit des Materials überlieferter Literatur das Erbe zu filtern und für uns anzuzeigen.”49

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Besonders aufschlußreich für die Entwicklung der DDR-Literaturwissenschaft ist, daß seit etwa 1970, nachdem so häufig und so eindringlich vor den Gefahren einer Oberbetonung der beschreibend-analystischen Interpretation gewarnt worden war, immer wieder auf die entgegengesetzte Gefahr hingewiesen wird. Die folgende Äußerung von Horst Haase ist dem Beitrag “Das humanistische Erbe im Sozialismus” entnommen :

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“Diese unbedingt notwendige Orientierung auf die Gegenwart, die ein einseitiges Fachspezialistentum aus-und die Verantwortung für die Anwendung der gewonnenen Ergebnisse einschließt, bedeutet keineswegs, Gesichtspunkte in das humanistische Erbe hineinzutragen, die diesem fremd sind. Nicht die Fragestellung der Gegenwart sind in das Erbe hineinzutragen, sondern in der historischkonkreten Aneigung des Erbes sind jene Seiten aufzudecken und theoretisch zu verallgemeinern, die in unserer Zeit besonders relevant und bedeutungsvoll sind.” 50 62

Auch Robert Weimann zieht in einem 1970 erschienenen Aufsatz — wenn auch implizite — zu Felde gegen die Einseitigkeiten der anfänglichen Erbe-Theorie : “Gegenstand der Literaturgeschichte ist dann nicht schlechthin die Literatur vergangener Zeiten, sondern auch unsere gegenwärtige Beziehung zu dieser vergangenen Literatur, die erst durch diesen Bezug wieder zu etwas Lebendigem wird. Der Inhalt der Literaturgeschichte wird dadurch aktuell, aber nicht auf vulgäre Weise aktualisiert·, denn unsere lebendige Beziehung zum Erbe wird um so reicher, vielseitiger und fruchttragender, je mehr wir seine durch größtmögliche historische Rekonstruktion zu gewinnende geschichtliche Objektivität respektieren.”51

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Weimann hält es für angebracht, unmittelbar darauf diese Ansicht zu wiederholen : “Zwischen der Theaterarbeit und der literarhistorischen Forschung bestehen gewiß entscheidende Unterschiede, aber der übergreifende Auftrag sowohl des Dramaturgen wie des Literarhistorikers mündet in einer durchaus vergleichbaren Aufgabe : Beide stehen vor der Schwierigkeit, nicht nur zu begreifen, sondern darüber hinaus mit zu ermöglichen, daß die Kunst vergangener Zeiten noch gegenwärtigen Genuß gegenwärtiger Erkenntnisse bietet. Die Lösung dieser Schwierigkeit kann weder durch eine museale Rekonstruktion noch durch eine vulgäre Aktualisierung erreicht werden.”52

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In der westlichen Literaturwissenschaft ist bisweilen die Ansicht anzutreffen, mit der ideologischen Funktionssetzung der DDR-Literaturwissenschaft und ihrer Integration in ein politisches und ökonomisches System ginge notwendigerweise die Preisgabe ihrer Eigenschaft als Wissenschaft der Literatur einher ; sie sei deshalb völlig außerstande, ihrem Gegenstand gerecht zu werden, da sie nicht umhin könne, die marxistische Ideologie grundsätzlich und systematisch in die Kunstwerke hineinzuprojizieren.

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Die eben erwähnte Kursänderung der DDR-Literaturwissenschaft in Richtung einer werkgerechteren Interpretation der künstlerischen Überlieferung bekräftigt die im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit vorgebrachte These, daß die ganze literarische Forschung in der DDR nur in einer historischen Perspektive beurteilt werden kann. Aus den bisherigen Versäumnissen darf nicht geschlossen werden, die Bemühungen der DDRLiteraturwissenschaft um die Vergegenwärtigung der Vergangenheitsliteratur verbauten von vornherein alle Wege zu einem angemessenen Herangehen an diesen Forschungsgegenstand. Die DDR-Literaturwissenschaft ist eine junge Wissenschaft, die genauso wie das sozialistische Gesellschaftssystem der DDR in einem Reifungsprozeß begriffen ist. Wohl ist angesichts ihrer Schwächen Skepsis angebracht. Diese Schwächen haften ihr aber keineswegs als endgültiges Merkmal an ; sie sind vielmehr auf die außerordentlich großen Schwierigkeiten zurückzuführen, mit denen die literarische Forschung in den ersten Entwicklungsphasen der DDR konfrontiert war. Die DDR-Literaturwissenschaft ist durchaus imstande, ihre Untersuchungsmethoden zu verbessern. Die derzeitigen Bemühungen, diesen Schwächen eine besser durchdachte Theorie entgegenzusetzen, sind deshalb von großer Bedeutung, weil sie deutlich zeigen, daß die Einbeziehung des Erbes in die gesellschaftliche Praxis nicht

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grundsätzlich — wenigstens theoretisch — -nur auf Kosten der Integrität der einzelnen Kunstwerke vollzogen werden kann. 66

Die stete Festigung des sozialistischen deutschen Staates und die allmähliche Heranreifung seiner Literaturwissenschaft lassen Hoffnungen in Hinsicht auf die weitere Entwicklung der letzteren zu. Es wäre für sie jetzt an der Zeit, den Beweis anzutreten, daß sie unter Erbe-Forschung mehr versteht als lediglich die Ausarbeitung ideologischer Kriterien und daß sie für ästhetische Maßstäbe nicht nur ein eingeschränktes Interesse zeigt. Allzuviel ist in dieser Hinsicht bisher nicht geschehen. Aber die im vorigen Abschnitt erwähnten vereinzelten Vorstöße in dieses unerforschte Gebiet sind womöglich als positive Anzeichen zu bewerten.   B. Deutung des Erbes in seinem Verhältnis zur gesellschaftlichen Praxis

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Wenn auch in letzter Zeit die Erbe-Theorie dem gerade behandelten Aspekt der Interpretation der Vergangenheitsliteratur einige Aufmerksamkeit schenkt, bleibt die Frage nach deren gegenwärtigem Wert in der gesellschaftlichen Praxis nach wie vor die eigentliche Zwecksetzung der ganzen Erbe-Forschung. An der Verlebendigung des Erbes wird seit über zwanzig Jahren demonstratives Interesse gezeigt. Die folgende Äußerung von Weimann zur Literaturgeschichte zeigt deutlich, daß auch 1970 die historische Analyse des Erbes lediglich als Mittel zum Zweck betrachtet wird : “Literaturgeschichtsschreibung ist heute nicht schlechthin das historische Résumé vergangener Dichtung und ihrer ehemaligen Wirklichkeitsbezüge, sondern der bewußte Prozeß der Konfrontation vergangener Werte und gegenwärtiger Wertungen. Der Inhalt der Literaturgeschichte verliert alles nur Museale : Er wirkt als das Vergangene, das in der Gegenwart so recht zu funktionieren vermag. Gegenstand der Literaturgeschichte ist dann nicht schlechthin die Literatur vergangener Zeiten, sondern auch unsere gegenwärtige Beziehung zu dieser vergangenen Literatur, die erst durch diesen Bezug wieder zu etwas Lebendigem wird.”53

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Wenn der erste Schritt der Interpretation vom Forscher neben seiner Eigenschaft als Literatmwissenschaftler wegen der Wesensbestimmung der Kunst auch die Qualitäten eines Historikers verlangt, so setzt die Fruchtbarmachung der Kunst früherer Zeiten bei ihm zwei weitere Qualitäten voraus : zuerst einmal muß er die Wirklichkeitsabläufe der Gegenwart genau kennen, dann hat er aber zudem wegen der ideologischen Funktionsbestimmung der Kunst ein Erzieher zu sein. Die Verdeutlichung des Verhältnisses zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist nur möglich, wenn sich der Literaturwissenschaftler über die “objektiven” Wirklichkeitsabläufe, besonders über die Stellung der DDR im Geschichtsprozeß, im klaren ist. In dieser Hinsicht wird immer wieder betont, daß die Aneignung des Erbes sich nicht in der Rezeption der Werke der einzelnen Künstler erschöpfe ; damit das Erbe seine Funktion in der gesellschaftlichen Gesamtbewegung erfüllen könne, seien darüberhinaus die Gesetzmäßigkeiten des ganzen künstlerischen Prozesses zu zeigen.

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Die Orientierung der Erbe-Betrachtung auf die Gegenwart impliziert die Geschichtlichkeit des ganzen Wertungssystems. Wenn das Erbe an sich abgeschlossen, also eine Konstante ist, so ist die Gegenwart des Forschers eine Variable. Die verschiedenen Etappen der Entwicklung der sozialistischen Menschengemeinschaft und ihrer Kultur bringen jeweils neue Bedürfnisse mit sich und stellen somit jeweils neue Anforderungen an das Erbe. Die Forschungsergebnisse sind daher immer als vorläufig zu betrachten. Aus dem Zwang, sich nach der eigenen zeitgeschichtlichen

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Situation zu richten, erwächst für die Literaturwissenschaftler die Notwendigkeit, die besondere Funktion, die das Erbe in jeder Entwicklungsphase der DDR zu erfüllen hat, zu bestimmen und entsprechende Kriterien herauszuarbeiten. Indem sich der Schwerpunkt des Interesses verlagert, können die Kunstwerke eine unterschiedliche Bewertung erfahren. Die Grundfunktion des Erbes, nämlich die Herausbildung sozialistischer Persönlichkeiten, bleibt aber seit der “Eröffnung der sozialistischen Epoche deutscher Geschichte” unverändert. Zur Wandlung der Erbe-Funktion zwischen der Gründungszeit der DDR und der jetzigen Etappe der “Gestaltung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus” sagt Naumann : “Während es in früheren Etappen der revolutionären Umwälzung darum ging, Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß immer mehr Bürger den Sozialismus als die einzige humanistische Alternative zum Imperialismus erkennen, besteht heute seine Hauptfunktion darin, es für die den Sozialismus gestaltenden Menschen als Mittel für ihre Entwicklung zu ‘bewußten, wirklichen Herren’ ihrer eigenen gesellschaftlichen Organisation zu erschließen. Unter den neuen, mit der Gestaltung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus gegebenen Bedingungen fällt die objektive Fähigkeit des humanistischen und realistischen Kunsterbes, auch später immer wieder auf ‘den ganzen Menschen’ wirken zu können, mit dem objektiven Bedürfnis der sozialistischen Gesellschaft zusammen, die Totalität der Potenzen dieses ‘ganzen Menschen’ zu entwickeln, da dieser ‘ganze Mensch’ gleichermaßen Ziel und Mittel der sozialistischen Entwicklung ist. Damit wird die schöpferische Aneignung des humanistischen und realistischen Erbes durch die Gesellschaft zu einer Bedingung ihres eigenen Fortschritts. Die Aneignung der in dem humanistischen und realistischen Kunsterbe konzentrierten menschlichen schöpferischen Potenzen, ihre Verwandlung in Mittel zur Herrschaft der ‘vergesellschafteten Menschen’ und ‘assoziierten Individuen’ über die Natur und die Gesellschaft stellen daher in unserer Entwicklungsetappe einen objektiven Zwang dar, der sich unmittelbar aus der real-humanistischen Zielstellung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft ergibt.”54 70

Die besonderen Aufgaben der Erbe-Forschung nach den Beschlüssen des VIII. Parteitages der SED resümiert Anneliese Große, indem sie davon ausgeht, daß künftig die Diskussion um die Kunst der Gegenwart wie um das Erbe eine Einheit bilden werde : “ — Wie zeigt sich der Kultur- und Kunstfortschritt im historischen Prozeß in der vielzweigigen Verbindung zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung ; wie wurde der Mensch zum Beherrscher seiner Gesellschaftsumstände ; — wie wurden die Künstler in der Vergangenheit ihrer Epoche gerecht und wie griffen sie antizipatorisch voraus ; was heißt es heute : der Epoche gerecht werden ; — wie zeigt sich in der Kunst die allseitige Bewegung des Werdens des Menschen, welche markante Stufen der Entwicklung gibt es dabei ; wie werden wir in der Gegenwart genau der Mannigfaltigkeit und der Größe des Daseins der Menschen in unserer Gesellschaft gerecht ; — wie griff die Kunst in den Prozeß der Gesellschaftsund Persönlichkeitsbildung ein ; welche Funktion hat sie in unserer heutigen Zeit, unter unseren gesellschaftlichen Bedingungen, vorzüglich bei der Herausarbeitung der schöpferischen Anlagen und Fähigkeiten des Menschen, d.h. beim Wachsen und Entwickeln des Revolutionärs in der sozialistischen Gesellschaft ?” 55

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In DDR-marxistischer Sicht wirkt es sich auf die ganze Erbe-Forschung fruchtbar aus, wenn die Literatur der Vergangenheit sowie ihr Gegenwartsbezug untersucht werden. Genauso wie die Vergangenheit Potenzen besitze, um die Probleme der Gegenwart bewältigen zu helfen, genauso könne das Fortschreiten des historischen und kulturellen Prozesses ein neues, umfassenderes Licht auf die künstlerischen Erscheinungen der Vergangenheit werfen56.

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Dieser Ansicht ist aber mit Skepsis zu begegnen. Es wäre illusorisch, hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Erbe-Forschung in der DDR hochgeschraubte Erwartungen zu hegen. Wenn auch die Erbe-Theorie — wenigstens in letzter Zeit — gegen eine nachträgliche Ideologisierung der Kunst der Vergangenheit reagiert hat und somit die im vorigen Abschnitt geäußerten Hoffnungen rechtfertigt, so werden eben diese Hoffnungen jedoch wiederum durch die ideologische Funktionssetzung des Erbes relativiert. Der Zielpunkt der Beschäftigung mit dem Erbe bleibt unverändert. Aus dieser Aufgabenstellung geht eine wesentliche Verengung der Tragweite des Begriffs “Forschung” hervor. Ihr ist nicht darum zu tun, durch die — möglichst vollständige — Untersuchung der Literatur der Vergangenheit eine Theorie der Literatur bzw. der Literaturgeschichte aufzustellen. Diese Theorie ist insofern schon vorgegeben, als aufgrund der Wesensbestimmung der Kunst das herausgearbeitete Bild der Literaturgeschichte den angeblichen Gesetzmäßigkeiten des historischen Prozesses unbedingt zu entsprechen hat. Die Erbe-Forschung würde die ihr auferlegte Funktion gänzlich verfehlen, wenn sie Ergebnisse vorlegte, die diese Gesetzmäßigkeiten in Frage stellen würden. Die historisch-materialistische Methode der Interpretation des Erbes, wie sie in der DDR verstanden wird, hat genau umgekehrt zu verfahren. Das Erbe hat sie von der vorgegebenen Theorie aus zu erklären. Nicht die einzelnen Kunstwerke, sondern die durch die marxistische Ideologie bestimmte Wesens- und Funktionsbestimmung der Kunst bilden den Ausgangspunkt der ganzen ErbeForschung. Etwas überspitzt könnte gesagt werden, daß sich die Aufgabenstellung der Erbe-Forschung darauf reduziert, ein bestimmtes Axiom — das der Kunsttheorie — mit Beispielen zu belegen, also mit einem der Definition der Kunst entsprechenden Bild der Literaturgeschichte zu bestätigen. Die Lockerungsmaßnahmen, von denen im zweiten Kapitel die Rede war, beziehen sich nicht auf die ideologisch-erzieherische Seite der Interpretation. Den Forschern bleibt weiterhin das Recht vorenthalten, an das Erbe eine andere Elle als die vorgeschriebene anzulegen. Auch wenn die marxistische Ideologie in die Kunst nicht hineingezwängt wird, bleibt die Auslegung insofern verzerrt, als von den Literaturwissenschaftlern gefordert wird, das Erbe nach den Momenten abzuklopfen, die für die gesellschaftliche Praxis relevant sind. Dabei ist die Gefahr groß, daß die anderen Seiten des Erbes nicht ausreichend ausgeleuchtet werden. Es fragt sich, ob sich etwa Wolfgang Stellmacher dessen bewußt ist, wenn er behauptet : “Das für die Literaturgeschichte gültige Verhältnis von historischer Darstellung und Aktualität stelle ich mir so vor, daß innerhalb des literarhistorischen Prozesses besonders die Momente beleuchtet werden, die von substantieller Aktualität für unsere eigene Entwicklung sind und denen objektiv eine Bedeutung im ideologischen Klassenkampf von heute zukommt. Es geht darum, die Potenzen des Erbes als Hebel in der sozialistischen Kulturrevolution auszunutzen und als Waffe im Kampf mit dem ideologischen Gegner zu gebrauchen.” 57

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Vielleicht wird diese Gefahr mit der Zeit abgewendet werden. Die offizielle ErbeTheorie verkündet nämlich die These, daß der historische und künstlerische Fortschritt in der DDR zwar die stete Neubestimmung der Erbe-Kriterien erfordere, daß dies aber im Grunde weniger zu einer Verschiebung als zu einer Vertiefung des Interesses führen solle. Die Entwicklung des sozialistischen Gesellschaftssystems mache eine tiefere, differenziertere und umfassendere Aneignung der literarischen Überlieferung nicht nur möglich, sondern auch notwendig. So schreibt beispielsweise Haase : “Je mehr sich die sozialistische Gesellschaft entwickelt, umso breiter und umfassender wird die Rezeption des humanistischen Erbes. Orientierung auf die

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Gegenwart ist also nicht mit dem Begriff der Enge in der Aneignung des humanistischen Erbes zu verbinden, im Gegenteil.”58 74

Wieder einmal muß hier die Frage gestellt werden, ob in solchen Behauptungen nicht ein Mittel erblickt wird, den Erbe-Forschern die “Pille zu versüßen”, sie also zur Akzeptierung des ihnen auferlegten Auftrages zu bewegen. Aus naheliegenden Gründen kann diese Frage unmöglich beantwortet werden. Die ins Feld geführten Argumente — so viel sei hier gesagt — lassen eher darauf schließen, daß diese Äußerungen der festen Überzeugung der Erbe-Theoretiker entsprechen. In der jetzigen Etappe der Entwicklung der DDR seien — im Gegensatz zur Situation in den Gründungsjahren — “die grundlegenden materiellen und geistigen Voraussetzungen für die Aneignung des Erbes durch die gesamte Gesellschaft vorhanden”, dann sei auch “der weitere Fortschritt der Gesellschaft von der Erhöhung des Kultur- und Bewußtseinsniveaus jedes einzelnen Bürgers abhängig”59.

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Wie dem auch sei, die Hoffnung, die DDR-Literaturwissenschaft werde sich eines Tages des Erbes in seiner Gesamtheit und nicht einseitig nur mancher seiner durch die zeitgeschichtliche Situation diktierten Aspekte annehmen, gehört vielleicht doch nicht in den Bereich der Illusion.  

III. - Die Erbe-Forschung in der Praxis 1. Anwendung der Theorie in der Praxis 76

Im folgenden wird der Frage nachgegangen, inwieweit das gebotene theoretische Material seinen Niederschlag in der Praxis findet. Es liegt auf der Hand, daß diese Frage nicht pauschal beantwortet werden kann ; die Antwort hängt letzten Endes von jedem einzelnen Literaturwissenschaftler ab. Einen sicheren Aufschluß über die allgemeine Tendenz liefern aber die in den vorigen Abschnitten analysierten theoretischen Artikel, Tagungen und sonstigen Diskussionsveranstaltungen.

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In der Einleitung zu diesem Kapitel ist darauf hingewiesen worden, daß in der DDR über das wohl sehr komplexe Problem der Interpretation des Erbes außerordentlich viel zu Papier gebracht wird. Wenn man aber genauer hinsieht, stellt man nicht ohne Erstaunen und auf jeden Fall mit Enttäuschung fest, daß sich der Informationsgehalt der vielen Beiträge auf einige wenige Grundprinzipien reduziert, die der Spezifität des literarischen Erbes wenig Rechnung tragen ; sie könnten sich im Grunde größtenteils auch auf andere Oberbauphänomene beziehen. Wenn sich einerseits diese Prinzipien relativ leicht herausschälen lassen, so ist andererseits auffallend und für den geringen Erkenntniswert der Beiträge vielsagend, daß die Unzulänglichkeiten der Theorie und die Kurs korrekturen meistens nicht offen als solche anerkannt werden, sondern nur zwischen den Zeilen spürbar sind.

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Hieraus geht hervor, daß die Beiträge paradoxerweise nicht primär einen Informationszweck verfolgen. Sie dienen nicht in erster Linie dazu, die Erbe-Theorie zu bereichern oder die neuesten Erkenntnisse der theoretischen Forschung den Fachspezialisten nahezubringen. Was vielmehr alle Beiträge durchweg beherrscht, ist die nie nachlassende Bemühung, die mit der Erschließung des Erbes beauftragten Literaturwissenschaftler zu indoktrinieren. Uber die Leistungen der Literaturwissenschaft herrscht in der DDR ständige Unzufriedenheit ; sie sei ein schwacher Punkt im Prozeß des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft. Sie habe es

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bislang nicht vermocht, ihre wichtige Rolle als Teil des Überbaus der Gesellschaftsordnung zu erfüllen. Dies gelte nicht zuletzt für die Aneignung der Literatur der Vergangenheit. Zwischen verlangtet und geleisteter Arbeit klaffe eine tiefe Kluft, die unbedingt zu beseitigen sei. Die Beiträge sind Versuche, die Fachspezialisten, denen die Schuld angelastet wird, auf ihre Verantwortung vor der Gesellschaft hinzulenken, damit sie die vor ihnen stehenden Aufgaben meistern. Ob die Verfasser der Beiträge so sehr in den Bann des Systems geraten sind, daß sie an ihre Mission glauben, oder ob sie dabei lediglich die Aufträge der Partei ausführen, bleibt eine offene Frage. 79

Nach den Beiträgen zu urteilen, ist die Propagandaarbeit der Wortführer der DDRLiteraturwissenschaft keine leichte Aufgabe. Viele Literaturwissenschaftler betrachten die offizielle Theorie offenbar als wenig praktikabel. Nur wenige drängen sich freiwillig danach, die Literatur der Vergangenheit aus der vorgegebenen Perspektive zu erschließen. Die Beiträge zielen darauf ab, die anderen Literaturwissenschaftler dem Willen der Partei zu beugen. Die Partei hat in der DDR — wie in den anderen Ostblockstaaten — das Meinungsmonopol. Ihr — und folglich den Erbe-Theoretikern — ist angst und bange vor jeder Abweichung von den vorgeschriebenen offiziellen Denkschablonen. Die offizielle Theorie läßtkeine Fragen an sich stellen ; jede theoretische Alternative wird systematisch verdrängt. Einheitliche Positionen sind im gegenwärtigen Zeitabschnitt umso mehr erforderlich, als mehr denn je die Forschung mit dem Ziel größtmöglicher Effektivität geplant wird, um die Versäumnisse der letzten Jahre nachzuholen. Dies erklärt auch, warum sich in der Erbe-Forschung immer mehr ein Wandel zur Arbeit in der Gruppe vollzieht. Hier sei noch einmal das — mittlerweile zum Teil bereits realisierte — Projekt erwähnt, erstmalig eine auf den Prinzipien des historischen Materialismus fußende Geschichte der deutschen Literatur zu erarbeiten. Dieser neuen Literaturgeschichte widmet sich jetzt ein nicht geringer Teil der profiliertesten Erbe-Forscher.

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Um ihren Zweck zu erreichen, bedienen sich die Erbe-Theoretiker der DDR immer derselben Taktik, nämlich der Wiederholung, an deren Wirksamkeit sie offenbar nicht zweifeln. Die Beiträge — ob Zeitschriftenartikel oder Berichte über Diskussionsveranstaltungen — zeichnen sich alle durch Monotonie aus. Ihnen fehlt meistens jede Spur von Originalität ; äußerst selten bringen sie weiterführende Denkanstöße. Ihre Verfasser begnügen sich damit, unter Verzicht auf jeden persönlichen Beitrag die altbekannten Schablonen zu wiederholen. Die meisten Beiträge zur Erbe-Theorie weisen — bis auf ein paar unwesentliche Abweichungen — eine ähnliche Struktur auf.

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Zuerst einmal werden die im ersten Abschnitt dieses Kapitels angeführten Gründe für die außerordentlich große Bedeutung, die in der DDR der ästhetischen Überlieferung zukommt, ausführlich dargestellt. Auffallend ist, daß dabei die Rechtmäßigkeit und die höhere Qualität der DDR-marxistischen Erbeaneignung besonders betont werden, während die anderen Gründe — wie sich herausgestellt hat — in den methodischen Anweisungen zur Deutung der Vergangenheitsliteratur nur flüchtig berücksichtigt werden. Vielleicht ist deshalb die Annahme nicht abwegig, daß die zuständigen Politiker und Theoretiker nur die gegenwärtige Funktion des Erbes in der gesellschaftlichen Praxis interessiert und daß die anderen “Gründe” lediglich als Mittel zur Einwirkung auf die betroffenen Fachspezialisten angeführt werden.

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Anschließend verbreiten die Verfasser ihren Unmut über die mangelhaften Leistungen der Erbe-Interpreten. Das permanente Mißtrauen diesen gegenüber bringt sie bisweilen dazu — in letzter Zeit allerdings immer weniger —, ihren Ärger in einem besonders polemischen Ton abzuladen. Typisch ist in dieser Hinsicht die bereits herangezogene Philippika von Willi Beitz “Zu einigen Fragen der Effektivität und des wissenschaftlichen Niveaus in der Literaturwissenschaft” 60.

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Ein Beitrag zur Erbe-Theorie versteht sich in der DDR nicht ohne Anprangerung der westlichen Interpretationsmethoden. Die Literaturwissenschaftler werden zur Wachsamkeit gegenüber dem Klassenfeind gemahnt. Dabei wird versucht, diese auf Gemeinsamkeit gegen den angeblichen Verrat der bürgerlichen Literaturwissenschaft am Erbe einzuschwören. Manche Theoretiker meinen mehr Erfolg verbuchen zu können, wenn sie ihre diesbezüglichen Äußerungen mit Pathos durchsetzen. Im Westen kann dies manchmal nur ein Lächeln entlocken, wie etwa die folgenden Behauptungen von Thomas Höhle und Johanna Rudolph : “Ich bin gern damit einverstanden, wenn gesagt wurde : Wir dürfen dem Klassengegner nichts überlassen. Die heutige imperialistische Gesellschaft ist so unmenschlich, die Atombombe auf Hiroshima und der amerikanische Krieg in Vietnam sind so unmenschlich, und auch alle die Leute, die das verteidigen, sind so unmenschlich, daß es nur sehr wenig Dinge gibt in der Kulturgeschichte der Menschheit, auf die sie sich mit Recht berufen könnten. Und dieses wenige können wir ihnen neidlos überlassen.”61 “Der Imperialismus als letzte Ausbeuterformation in der Geschichte der Menschheit ist außerordentlich barbarisch, die Tiefe seiner Widersprüche mit allen Folgen für die Kunst geht weit über das hinaus, was für frühere antagonistische Gesellschaftsordnungen bezeichnend war. Wir dürfen deshalb keinen Augenblick vergessen, welch hohe Verantwortung wir haben, und wie tief die Kluft ist, die uns von diesem System trennt.”62

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Schließlich werden die Forscher ausdrücklich dazu aufgerufen, sich stärker nach der offiziellen Theorie zu richten, damit ihre Arbeit in der gesellschaftlichen Gesamtbewegung eine größere Effektivität erlange.

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In diesem Zusammenhang muß noch ein Wort zum “revolutionären Literaturerbe” gesagt werden. Besonders in letzter Zeit nimmt sich die Literaturtheorie dieses Themas an ; auch hier bleibt die Technik der Wiederholung der bislang noch keineswegs verschlissene Eckpfeiler der Taktik der Erbe-Theoretiker. In den verschiedenen diesbezüglichen Aufsätzen finden sich zusammen mit dem Hinweis auf die Bedeutung dieser Kunst für die sozialistisch-realistische Kunst und für die Lösung der allgemeingesellschaftlichen Gegenwartsaufgaben Aufrufe an die Literaturwissenschaftler, ihre Bemühungen auf die Aufdeckung der “zweiten historischen Dimension” dieser Literatur zu konzentrieren. Die Anzahl und der Ton dieser Aufrufe beweisen zur Genüge, welchen Wert das revolutionäre Erbe in den Augen vieler DDR-Literaturwissenschaftler besitzt. Sie sind wohl — wenn auch vielleicht unbewußt — insofern Anhänger des verpönten Lukács, als dieser die revolutionäre Kunst gegenüber anderen Kunstströmungen geringschätzte. Das beste Beispiel hierfür liefert der im zweiten Abschnitt dieses Kapitels erwähnte Beitrag von Elisabeth Simons. Nachdem die Autorin für die Notwendigkeit einer stärkeren Einbeziehung der revolutionären Literatur in die Forschung plädiert hat, zieht sie die Bilanz des in dieser Hinsicht bisher Erreichten. Einer der ersten Sätze des Artikels faßt den Stand der Forschung zusammen :

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“Mit diesen Aufgaben der Literaturwissenschaft als gesellschaftswissenschaftliche Disziplin ist auch die Notwendigkeit verbunden, durch verschiedene literaturwissenschaftliche Bemühungen eine wirklich lebendige Beziehung zu den revolutionären Literaturtraditionen der deutschen und der internationalen Arbeiterklasse herzustellen.”63 86

Diese “lebendige Beziehung” gibt es also anscheinend noch nicht...

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Schliesslich muß noch gesagt werden, daß manche Epochen der Literaturgeschichte den DDR-Literaturwissenschaftlern besondere Schwierigkeiten bereiten. Erwähnt sei hier nur die Romantik, deren Kunstkonzeption mit der in der DDR offiziell verkündeten Theorie wenig gemeinsam hat. Eine umfassende Analyse der Romantik-Rezeption in der DDR wäre eine lohnende Aufgabe : die Verlegenheit der Erbe-Forscher hinsichtlich dieser Epoche würde bestimmt die Armut und vielleicht die Unhaltbarkeit der offiziellen Kunsttheorie zeigen.  

2. Typisches Beispiel der Erbe-Interpretation : die FontaneForschung 88

Die Rezeption des großen kritischen Realisten Fontane in der DDR liefert einige gute Beispiele verfälschender Ideologisierung. Etwa siebzig Jahre nach seinem Tod erfreut sich das bis vor kurzem eher vernachlässigte Werk des märkischen Dichters einer neuen Wertschätzung. Das 1935 in Potsdam gegründete Fontane-Archiv hat sich zum bedeutendsten Literaturarchiv der DDR entwickelt und ist gegenwärtig das wichtigste Zentrum der internationalen Fontane-Forschung. Es hat bereits mehrere Studien unterstützt, wie etwa die 1968 erschienene Fontane-Monographie von Hans-Heinrich Reuter, die auch im Westen allgemein als Meisterwerk begrüßt worden ist 64. Seit 1965 gibt das Fontane-Archiv die “Fontane-Blätter” heraus. Diese Zeitschrift, die zweimal jährlich erscheint, soll von der Achtung Zeugnis ablegen, die Fontane in der DDR entgegengebracht wird. Sie hat sich durch Veröffentlichung wenig zugänglichen Materials und kritischer Beiträge nicht gering zu schätzende Verdienste erworben.

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Die große Bedeutung, die Fontane in der DDR zugemessen wird, erklärt sich in erster Linie aus den gesellschaftskritischen Momenten seines Werkes. In nahezu allen seinen Romanen schildert er den einzelnen in seinem Verhältnis zum gesellschaftlichen Zustand, den er in seiner Zeit, also in der preußischen Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts, vorfand. Viele Konflikte entstehen aus der Begegnung des Individuums mit der Gesellschaft. Für DDR-Literaturwissenschaftler, die das Erbe für die gegenwärtige Zeit “fruchtbar machen” sollen, ist daher die Versuchung groß, Fontane praktisch als einen sozialen Schriftsteller zu betrachten und somit die für ein richtiges Fontane-Verständnis so wichtige Kernfrage zu übergehen, ob es dem Dichter tatsächlich in erster Linie darauf ankam, sich mit gesellschaftlichen Problemen, deren Lösung er in einem sozialen Kollektivum gesehen hätte, auseinanderzusetzen oder ob er nicht vielmehr seine dichterische Aufgabe darin erblickte, vor jeder Gefährdung des Menschlichen zu warnen. In diesem Fall würde für ihn das Individuum einen absoluten Wert darstellen, während die Gesellschaft entweder lediglich ein Hilfsmittel wäre, das der Entfaltung des einzelnen zu dienen hat oder ein Hindernis auf dem Weg zu solcher Entfaltung. Fontane hätte also das Mißverhältnis des Individuums zur Gesellschaft seiner Zeit deshalb zum Thema seines künstlerischen Werkes erhoben, weil die Übermacht dieser Gesellschaftsordnung eine Regression des Menschlichen zur Folge hatte, und nicht etwa aus Interesse für eine bestimmte Gesellschaftsform ; er hätte im

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Grunde jede Gesellschaftsform begrüßt, die seinen Idealen vom Menschlichen entsprochen hätte65. 90

Einer derartigen Versuchung erliegt Reuter in seiner Fontane-Monographie nicht. Obwohl dies sicherlich eine lohnende Aufgabe wäre, würde es den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, Reuters Studie eingehend zu analysieren und die Ansichten des Forschers etwa mit denen von Walter Müller-Seidel zu vergleichen 66. Hier sei lediglich gesagt, daß Reuters Arbeit ein typisches Beispiel dialektischer Literaturkritik mit all ihren Vorzügen und Nachteilen bietet. Wohl ist manchen Ansichten mit Skepsis zu begegnen67. Auch wenn Reuter den ihm zugewiesenen Aufgaben durchaus gerecht wird, indem er Fontane “aktualisiert”, bleibt das Interesse für Fontane immer primär, an erster Stelle spricht immer der Literaturwissenschaftler, nicht der Ideologe. Ihn kennzeichnet eine gründliche Kenntnis des Dichters. Er ist stets vom Bestreben getragen, seine kritischen Äußerungen und Stellungnahmen zu begründen. Zwar stellen seine Ansichten nichts Endgültiges dar, sie sind aber durchaus geeignet, Ausgangspunkt einer fruchtbaren Diskussion zu werden, die zu tieferen Einsichten führen könnte.

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Während aber Reuters Monographie DDR-marxistische Literaturinterpretation darstellt, wie diese sein sollte, liefern manche in den “Fontane-Blättern” abgedruckten Beiträge Beispiele dafür, wie sie nur zu oft ist.

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Ein Gemeinsames überspannt die zwei Beiträge, auf die im folgenden hingewiesen wird : ihre Autoren gehen nicht von wissenschaftlichen Feststellungen aus, sondern von ideologischen Überlegungen. Ihnen ist es wenig darum zu tun, Fontanes Werk ins rechte Licht zu setzen. Sie erhoffen sich offenbar den von der Partei gewünschten Umdenkprozeß der DDR-Bevölkerung dadurch zu beschleunigen, daß sie die Grundfragen der Fontane-Forschung als gelöst gelten lassen und in der Gesellschaftskritik des Dichters eine Antizipation der sozialistischen Revolution erblicken.

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In seinem Beitrag “Wie alt ist der alte Fontane ? Aus ungarischer Sicht betrachtet” interessiert sich György Walkó — bereits der Titel weist darauf hin — für die Leistungsfähigkeit des Werkes Fontanes in der Gegenwart68. Ihm ist durchaus beizupflichten, wenn er behauptet : “In seinen Berliner Gesellschaftsromanen schildert der Dichter aus eigener unmittelbarer Erfahrung das Leben in der Hauptstadt des neuen preußischdeutschen Reiches, die im Begriff war, eine Metropole zu werden. Fontane schildert mit kritischem Blick die ‘prähistorische’ Ordnungswelt (er selbst bezeichnet sie so) mit ihrer starren Bürokratie, die das Leben im Bismarckreich beherrscht. Fontane läßtbei der Schilderung der einzelnen Typen Milde und Güte walten, ohne seinen resignierenden Humor zu unterdrücken. Fontanes Wärme und Güte für den Men schen besteht auch trotz der Distanz zwischen dem Autor und seinem Gegenstand, es gibt keinen Zorn, was übrig bleibt ist das Menschliche.” 69

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Dann aber verläßter das Feld der Wissenschaft. Er unterstellt dem Dichter ein sozialistisches Bewußtsein. Um zu belegen, wie “fortschrittlich” Fontane ist, schreckt er vor der folgenden Behauptung nicht zurück : “Fontanes eigentliche Liebe gilt den einfachen Menschen aus dem vierten Stande, vor allem den von der bürgerlichen Gesellschaft gedemütigten und unterdrückten Frauen, als Beispiel für viele gelten uns Lene Nimptsch in ‘Irrungen Wirrungen’ und die Witwe Pittelkow in ‘Stine’, die ihren adeligen Partnern moralisch überlegen sind. Der Dichter spürt in ihnen das Wahre der Natur und in ihrem zermürbenden Schicksal die Niedertracht einer heuchlerischen Gesellschaft.” 70

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Ein solcher Satz macht stutzig. Es fragt sich, wie es überhaupt möglich ist, an der Tragweite von Fontanes Werk so gründlich vorbeizusehen. Nachweislich kannte Fontanes Sympathie und Liebe keine Klassenschranken. Beispiele ließen sich da in Hülle und Fülle finden, und sei es nur die Figur Effi Briest, die dem ungarischen Professor doch nicht unbekannt ist, da er sich im selben Beitrag über sie ausläßt. Eine derartige Behauptung, die darauf schließen lassen könnte, daß Walkó nie einen Roman von Fontane auch nur angelesen hat, zeigt deutlich, wie sehr für den Literaturwissenschaftler nicht das literarische Werk selbst, sondern eine Idee Ausgangspunkt der Forschungsarbeit ist.

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Der ungarische Forscher versucht allerdings, die Einseitigkeit seiner Aussage ein wenig zu mildern, indem er Figuren aus anderen Klassenschichten, denen Fontane unwiderlegbar seine Sympathie zuteil werden läßt, im gleichen Aufsatz heranzieht : “Seine Proletariergestalten bzw. die Frauen aus dem Kleinbürgertum (Lene und Stine) kann man nicht vergessen, aber ebenso unvergeßlich sind die anderen Opfer des ‘prähistorischen’ Moral-Idols (z.B. Cécile und Effi, das adlige und von den Eltern an Innstetten ‘verkaufte’ Mädchen vom Lande).”71

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Dabei übersieht Walkó völlig, daß dies sein vorhin erwähntes Urteil in einem höchst widersprüchlichen Licht erscheinen läßt.

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Als noch deutlicheres Beispiel nachträglicher Ideologisierung kann Inge Hases Beitrag “Unterwegs mit Fontane” herangezogen werden72. In ihrer Einseitigkeit und im Pathos der Diktion übertrumpft Hases Interpretation die des ungarischen Literaturwissenschaftlers Walkó. Bereits die ersten Zeilen des Artikels zeigen, in welchen Gewässern sich die Verfasserin bewegt. Den eigentlichen Ausführungen über Fontane läßt sie allgemeine Betrachtungen über den gesellschaftlichen Wert der Literatur vorangehen. Dies ist zwar völlig legitim, ist aber schon symptomatisch für ihr Fontane-Verständnis. Die folgenden Zeilen bedürfen keines weiteren Kommentars : “Wie alles Wesentliche in unserer neuen sozialistischen Welt der Kollektivität bedarf, so wird auch die Literatur bei uns lebensnotwendig in ihrer ganzen Vielfalt gebraucht. Ihr Wert drückt sich nicht nur als mögliche schöne Beigabe des menschlichen Daseins aus, sondern vor allem darin, daß sie unseren Menschen hilft, ihren festumrissenen Platz in der Gesellschaft hier und heute und morgen zu erkennen ; daß sie zielgerichtete Aktivität für die Gestaltung unseres sozialistischen Alltags bewirkt ; daß sie Antwort zu geben vermag auf die alles umfassende Frage nach dem Sinn unseres Lebens.”73

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Die letzten Zweifel über den Zweck ihrer Forschungsarbeit verflüchtigen sich in den nächsten Abschnitten ; dort liefert Hase einige Information über ihre Tätigkeit als DDRLiteraturwissen-schaftlerin. Sie will dem Werk Fontanes vor allem dadurch zur Gewinnung seiner “zweiten historischen Dimension” verhelfen, daß sie in Betriebe und in “Clubs der Kulturschaffenden” geht, um darüber zu diskutieren. Die Art und Weise, wie sie von ihrer Arbeit berichtet, verrät ein tiefes Verantwortungsgefühl. Sie setzt alles daran, bei der Bevölkerung ein möglichst breites Echo zu finden ; dafür stellt sie ihre Methoden in Frage und will ständig aus ihren Erfahrungen lernen : “Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, daß eine 60- bis 70-Minutenstunde — auch im äußersten Falle — nicht überschritten werden darf. Vergessen wir nicht : hier sitzen werktätige Menschen als Hörer und Gesprächspartner, die im täglichen Produktionsablauf in den Betrieben oder in einer Verkaufsstelle, in den Kliniken oder in den Schulen, in den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften oder am Bank-, Post-oder Fahrkartenschalter ihr Bestes zu leisten bereit sind. Alles,

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was sie zeitlich an einem solchen Abend überfordert, kann nicht nachhaltend, nicht Aufschwung gebend weiterklingen.”74 100

Gegen eine derartige Tätigkeit ist nichts einzuwenden ; sie ist m.E. sogar durchaus zu begrüßen. Bei den Bemühungen der “Interpretierenden” — so bezeichnet sie sich 75 — um eine wirkungsvolle Forschungsarbeit wiegt allerdings ihr Mangel an Verantwortung gegenüber dem Werk Fontanes umso schwerer. Obwohl der Aufsatz keine ausführliche Fontane-Interpretation bietet, läßt sich ihm entnehmen, wie tendenziös Hase das Werk des Dichters ausschlachtet. In den zwanzig Jahren ihrer literaturpropagandistischen Tätigkeit hat sie ihr Fontane-Verständnis offensichtlich nicht vertieft ; im Gegenteil, sie hat sich ein Bild Fontanes zurechtgebastelt, das an ihre didaktischen Zwecke angepaßt ist. Dabei läßt sie ihrer Phantasie freien Lauf. Statt Fontanes Ideen zu propagieren, vermittelt sie im Grunde ihre eigenen. Die “Literaturwissenschaftlerin” will keineswegs ihr Publikum dazu bringen, das Werk Fontanes kennen und schätzen zu lernen ; ihre “Fontane-Abende” dienen nur dazu, den Diskussionsteilnehmern die sozialistische Ideologie einzutrichtern. Die Grundproblematik der Fontane-Forschung löst sie in der Behauptung, Fontane würde heutzutage keine bessere Heimat als in der DDR finden können. Von einer Rechtfertigung für eine derart befremdende Ansicht findet sich im Artikel nicht die geringste Spur. Hase kehrt den normalen Prozeß einer echten wissenschaftlichen Untersuchung um : was Ergebnis der Untersuchung sein sollte, wird für sie zum angeblich wissenschaftlichen Ausgangspunkt gerade dieser Untersuchung ; mit anderen Worten, was lediglich eine Arbeitshypothese sein sollte, wird bei Hase ohne Rechtfertigung zu einer “wissenschaftlichen” Aussage, auf der dann eine Interpretation aufgebaut wird.

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Nachdem sie die vier Themen genannt hat, um die die Diskussion an einem bestimmten Abend kreiste, behauptet Hase : “Alle vier Themen fielen (...) auf guten Boden. (Fontane würde seine helle Freude und Genugtuung gehabt haben, hätte er an ihnen teilnehmen können.)” 76

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Deutlicher noch ist der letzte Absatz des Aufsatzes : “Im März 1890 schrieb der alte Fontane : ‘Blicke ich auf meine großen Tage zurück, so gewahre ich nur zahllose Kränkungen.’ Hätte er auf jene große Zukünftigkeit blicken können, die eines Tages sein Werk krönen würde : vom ‘4. Stand’ entdeckt, gelesen und diskutiert zu werden — : welche Freude, welche Selbstbestätigung hätte es dem allzu Bescheidenen, dem oft Resignierenden bedeutet, sich von ihnen, den Arbeitern, verstanden zu wissen, ‘die nicht nur alles neu anpacken, sondern auch neue Ziele und neue Wege beschreiten.”77

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Derartige Beiträge sind nicht dazu angetan, die Fontane-Forschung zu befruchten. daß die “Fontane-Blätter”, die sich sonst durch ein hohes wissenschaftliches Niveau auszeichnen, sie dennoch gedruckt haben, veranschaulicht das Dilemma, vor das die Literaturwissenschaftler in der DDR gestellt sind : einerseits möchten sie — wenigstens viele unter ihnen — -ihrem Fach durch seriöse, international anerkannte Forschung Genüge leisten, anderseits aber müssen sie zugleich zu Konzessionen an die Partei bereit sein, die in der literaturwissenschaftlichen Forschung nur ein Mittel zur Verbreitung der marxistischen Ideen erblickt. Beides ist nicht immer leicht zu vereinigen.

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NOTES 1. Vgl. Helga Gallas : Marxistische Literaturtheorie, Neuwied 1971. Bes. Teil 2 : Der Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller und sein Organ die Linkskurve, S. 31-71. 2. Vgl. S. 15. 3. Dokumente des VIII. Parteitages der SED, Berlin (Ost), 1971, S. 126. 4. Hans-Heinrich Reuter : Fontane, Berlin (Ost), 1968 (auch : München, 1968).' 5. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Band 10 : 1917 bis 1945, von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Hans Kaufmann in Zusammenarbeit mit Dieter Schiller : Berlin (Ost), 1973. Vgl. z.B. Die Rezension von Fritz J. Raddatz “Der Spergel, der aus dem Osten kam”, in : Die Zeit, Nr. 20, 10. Mai 1974, S. 28. 6. Thomas Höhle, in : Probleme der sozialistischen Rezeption des Erbes. Rundtischgespräch, Weimarer Beiträge, 1970, Heft 2, S. 19. 7. Werner Kahle, ebda., S. 24. Die Objektivität, von der hier die Rede ist, soll im marxistischhistorischen Sinne verstanden werden. Sie schließt nämlich die Perspektive und die Parteilichkeit nicht aus. 8. Manfred Naumann u.a. : Die Funktion der Erbeaneignung bei der sozialistischen Kultur, in : Weimarer Beiträge, 1970, Heft 9, S. 10-41 ; S. 16. 9. Horst Haase : Das humanistische Erbe im Sozialismus, in : Weimarer Beiträge, 1970, Heft 3, S. 207-126 ; S. 208. 10. Johanna Rudolph : in : Probleme der sozialistischen Rezeption des Erbes. Rundtischgespräch, op. cit., S. 41. 11. Claus Träger : ebda., S. 31. 12. Anneliese Große : ebda., S. 50. 13. Horst Haase : op. cit. S. 211. 14. Anneliese Große : Lebendiges Erbe, in : Weimarer Beiträge, 1971, Heft 8, S. 5-10 ; S. 7, 8. Diese Sätze werden im Aufsatz “Zu den Aufgaben Kultur-und Kunstwissenschaften nach dem VIII. Parteitag der SED” (in : Weimarer Beiträge, 1972, Heft 1, S. 5-30) fast wortwörtlich wiederholt (S. 25, 26). 15. Philosophisches Wörterbuch, herausgegeben von Georg Klaus und Manfred Buhr, Leipzig 1974 ; s.v. Kulturrevolution (sozialistische). 16. Johanna Rudolph, in : Probleme der sozialistischen Rezeption des Erbes, op. cit, S. 15. 17. Manfred Naumann u.a. : Die Funktion der Erbeaneignung bei der Entwicklung der sozialistischen Kultur, op. cit, S. 17. 18. ebda., S. 19. 19. Zitiert nach Horst Hartmann : Gedanken zur Pflege des literarischen Erbes in der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule, in : Weimarer Beiträge, 1970, Heft 1, S. 205-211 ; S. 206. 20. Vgl. Anmerkung 19. 21. Manfred Naumann u.a. : op. cit. S. 20. 22. Manfred Naumann u.a. : op. cit. S. 24. 23. ebda., S. 22. 24. ebda., S. 21. 25. ebda., S. 11. 26. Zitiert nach Robert Weimann, Gegenwart und Vergangenheit in der Literaturgeschichte, in Weimarer Beiträge, 1970, Heft 5, S. 31-57 ; S. 52 ; Hervorhebung von mir. 27. Klaus Jarmatz : Kritik in der Zeit, op. cit., S. 25. 28. Op. cit. S. 33 ; Hervorhebung von mir.

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29. Horst Haase : Erbe und sozialistische Gegenwart, in : Weimarer Beiträge, 1972, Heft 12, S. 5-9 ; S. 6, 7. Hervorhebung von mir. 30. Johanna Rudolph, in “Probleme der sozialistischen Rezeption des Erbes. Rundtischgespräch”, op. cit., S. 18. 31. ebda., S. 38. 32. S.M. Petrow : Die Leninsche Widerspiegelungstheorie und das Problem Problem des Realismus, op. cit., S. 145. 33. Op. cit., S. 100. 34. ebda., S. 35. 35. Die es nach Meinung des Verfassers in der Haltung der DDR-Literaturwissenschaft zum Erbe noch gibt. 36. op. cit., S. 36. 37. Op. cit., S. 47. 38. Wie etwa dadurch Beifügung der Adjektive “klassisch”, “bürgerlich” oder “sozialistisch” ; vgl. zweites Kapitel, S. 73. 39. Op. cit., S. 31. 40. ebda., S. 36. 41. ebda., S. 38. 42. Op. cit., S. 51, 52. 43. Op. cit., S. 141. 44. Op. cit., S. 13. 45. Horst Haase : op. cit., S. 6. 46. Elisabeth Simons : Revolutionäre Literaturtraditionen der Arbeiterklasse in der DDR, in : Weimarer Beiträge, 1972, Heft 3, S. 49-65 ; S. 51. 47. Zitiert nach Horst Hartmann : Gedanken zur Pflege des literarischen Erbes in der allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule, op. cit., S. 206. 48. Willi Beitz : Zu einigen Fragen der Effektivität und des wissenschaftlichen Niveaus in der Literaturwissenschaft, op. cit, S. 82. 49. Wolfgang Stellmacher, in : Umfrage - Zum Erbe in Wissenschaft und Praxis, Weimarer Beiträge, 1971, Heft 1, S. 159-174 ; S. 168 (Beitrag von Stellmacher, S. 165-174). 50. Horst Haase : op. cit. S. 121. 51. Robert Weimann : Gegenwart und Vergangenheit in der Literaturgeschichte, op. cit., S. 32, 33. Hervorhebungen von mir. 52. Ebda., S. 33. Hervorhebung von mir. In diesem Zusammenhang muß gesagt werden, daß Robert Weimann zu den besten DDR-Literaturwissenschaftlern zählt. Besonders bemerkenswert ist beispielsweise seine Studie : “New Criticism” und die Entwicklung bürgerlicher Literaturwissenschaft, Halle (Saale), 1962. 53. Robert Weimann : Gegenwart und Vergangenheit in der Literaturgeschichte, op. cit., S. 32. 54. Manfred Naumann : Die Funktion der Erbeaneignung bei der Entwicklung der sozialistischen Kultur, op. cit, S. 20. 55. Anneliese Große : Lebendiges Erbe, op. cit., S. 10. 56. Vgl. Walter Benjamins “Geschichtsphilosophische Thesen”. 57. Wolfgang Stellmacher, in : Umfrage. Zum Erbe in Wissenschaft und Praxis, Weimarer Beiträge, 1971, Heft 1, S. 167, 168. 58. Horst Haase : Das humanistische Erbe im Sozialismus, op. cit, S. 212, 213. 59. Manfred Naumann : Die Funktion der Erbeaneignung bei der Entwicklung der sozialistischen Kultur, op. cit., S. 11. 60. Vgl. S. 44. 61. Thomas Höhle, in : Probleme der sozialistischen Rezeption des Erbes - Rundtischgespräch, op. cit., S. 35.

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62. Johanna Rudolph : ebda., S. 39. 63. Elisabeth Simons : Revolutionäre Literaturtraditionen der Arbeiterklasse in der DDR, in : Weimarer Beiträge, 1972, Heft 3, S. 48-65 ; S. 49. 64. Vgl. S. 124. 65. In dem Beitrag “Eine Vaterschaft-Fontane und die Literaturkritik in der DDR” habe ich den Versuch unternommen, die Grenzen zu skizzieren, die einer marxistischen Interpretation von Fontanes Werk zwangsläufig gezogen sind (Revue des Langues Vivantes, 1973, Heft 2, S. 137-144). 66. Waltee Müller-Seidel : Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, Stuttgart 1975. 67. In seiner Interpretation überbewertet Reuter sicherlich bestimmte Aspekte von Fontanes Werk, während er anderen — vielleicht wesentlichen — wenig Bedeutung zumißt. Auch könnte man ihm voreilige Schlußfolgerungen vorwerfen und manchen seiner Belege andere entgegensetzen, die genau das Gegenteil besagen. Aber Reuters Interpretation verdient es auf jeden Fall, ernst genommen zu werden. Sie trägt zum Verständnis Fontanes bei, indem sie bedeutende, bislang ungenügend, hervorgehobene Aspekte im Schaffen des Dichters ans Licht fördert. Vgl. z.B. die Rezension von Barbara Völker-Hezel, in : Revue des Langues Vivantes, 1970, Heft 2, S. 220-221. 68. György Walkó : Wie alt ist der alte Fontane ? Aus ungarischer Sicht betrachtet. In : FontaneBlätter, Band II, Heft 6 (Heft 14 der Gesamtreihe), 1972, S. 402-407. 69. S. 405. 70. S. 405. 71. S. 405. 72. Inge Hase : Unterwegs mit Fontane. In : Fontane-Blätter, Band II, Heft 7 (Heft 15 der Gesamtreihe), 1972, S. 502-506. 73. S. 502. 74. S. 505, 6. 75. S. 506. 76. S. 504. 77. S. 506.

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Viertes Kapitel. Die DDRLiteraturwissenschaft und die sozialistisch-realistische “Nationalkunst”

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Die Kriterien, die die Literaturwissenschaft an das literarische Erbe anzulegen hat, gelten prinzipiell auch für die neue Kunst, die gegenwärtig in der DDR entsteht. Beide Gegenstände sind insofern keine gesonderten Bereiche, als die Literaturwissenschaft es jeweils mit realistischer Kunst zu tun hat : im Vorherigen ist bereits darauf hingewiesen worden, daß sich die DDR-Kunst als unmittelbare Fortsetzung der realistischen Traditionen versteht.

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Auf der anderen Seite aber bringen die völlig neuen gesellschaftlichen Voraussetzungen, unter denen sich der Kunstprozeß in der DDR vollzieht, für diesen entscheidende Folgen mit sich. Er erfährt dadurch eine tiefgreifende Wandlung, so daß die sozialistisch-realistische Kunst gegenüber der Kunst der Vergangenheit durchaus spezifische Züge aufweist, denen die Literaturwissenschaft Rechnung zu tragen hat, will sie ihrer ideologisch-erzieherischen Grundfunktion gerecht werden.

3

Um die Besonderheiten der Rolle der Literaturwissenschaft gegenüber der DDR-Kunst näher ausleuchten zu können, ist es deshalb unerläßlich, in einem einleitenden Abschnitt diese kurz auf ihr Selbstverständnis hin zu untersuchen. Die folgenden Ausführungen verstehen sich als Ergänzung zum zweiten Kapitel. Sie haben durchaus schematischen Charakter und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Auf so knappem Raum wäre dies sowieso unmöglich. Sie bezwecken lediglich, die Eigenschaften der DDR-Kunst, die für die Literaturwissenschaft von Bedeutung sind, hervorzuheben. Dabei wird auf jegliche kritische Stellungnahme verzichtet, da dies den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde.  

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I. - Einleitender Abschnitt : Überblick über die sozialistisch-realistische Kunst der DDR. Die Kunst als Bestandteil des sozialistischen Gesellschaftssystems 4

Wesensbestimmung der Kunst ist es nach der offiziellen DDR-Konzeption, die materielle Wirklichkeit, die in einem geschichtlichen Wandlungsprozeß begriffen ist, widerzuspiegeln, d.h. zuerst einmal diese wahrheitsgetreu abzubilden, um dann auf sie fördernd einzuwirken. Dabei wird die schöpferische Tätigkeit des Künstlers in enge, streng umrissene Schranken gewiesen. Ein derartiges Postulat, das der Interdependenz von Über-und Unterbau so entscheidende Bedeutung zumißt und die Freiheit des Künstlers entsprechend reduziert, legt nahe, wie schwerwiegend in DDR-marxistischer Sicht die im östlichen Teil Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg erfolgten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen für die dortige Kunstentwicklung sind.

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Die hervorstechendste Eigenschaft, die die DDR-Kunst vom realistischen Erbe unterscheidet und ihr in ihren eigenen Augen eine völlig neue Qualität verleiht, ist ihr Verhältnis zur herrschenden politischen Macht. Vermag es die sozialistische Kunst überhaupt — dies gilt auch für das literarische Erbe — dank den Erkenntnissen des Marxismus-Leninismus künstlerische “Bilder” zu schaffen, die mit der Wirklichkeit objektiv übereinstimmen, so kann die DDR-Kunst darüberhinaus eben wegen dieses neugewonnen Verhältnisses ihre aktive humanistische Funktion uneingeschränkt und ungehindert erfüllen.

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Um diesen Standpunkt zu erklären, kann von Lenins These der zwei Kulturen ausgegangen werden. Nach Lenin ist die Kulturentwicklung, darunter die Kunstentwicklung, durch die jeweiligen Gesellschaftsordnungen bedingt. Der Klassenantagonismus führe notwendigerweise zur Zweiteilung der Kultur. Die eine — die herrschende Kultur — diene der herrschenden Klasse. Die andere — von der ersten grundverschieden — sei die Kultur der ausgebeuteten Klassen. Aufgrund der Situation dieser Klassen könne sich diese Kultur kaum entwickeln, Lenin spricht von “Elementen” der Kultur : “In jeder nationalen Kultur gibt es, wenn auch unentwikkelte, Elemente einer demokratischen und sozialistischen Kultur, denn es gibt in jeder Nation eine werktätige und ausgebeutete Masse, deren Lebensbedingungen unvermeidlich eine demokratische und sozialistische Ideologie erzeugen. Aber in jeder Nation gibt es auch eine bürgerliche (und in der Mehrzahl der Fälle noch dazu erzreaktionäre und klerikale) Kultur, und zwar nicht nur in der Form von ‘Elementen’, sondern als herrschende Kultur.”1

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Wenn auch manchmal in der DDR die Leninsche These in dem Sinne relativiert wird, daß sie nicht für alle Epochen der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit gelte, wird sie für unsere Zeit, in der die “bürgerliche Epoche" ihr letztes Stadium, den Imperalismus, erreicht habe, als besonders zutreffend erachtet ; die Kulturentwicklung in den kapitalistischen Staaten — in der DDR wird dabei in erster Linie an den westlichen Nachbarn gedacht — bekräftige diese These auf glänzende Weise. In der DDR hingegen schlage der Kunstprozeß einen ganz anderen Weg ein als in den imperialistischen Staaten. Die in den antagonistischen Klassengesellschaften herrschende kunstfeindliche Situation ist dort angeblich endgültig überwunden : die Kunst ist nicht mehr Privileg der herrschenden Klassen, die Kluft zwischen Macht und

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Kunst ist geschlossen, die Einheitlichkeit des Kunstprozesses ist gewährleistet. Die Kunst kann in der DDR aufgrund der neugeschaffenen nichtantagonistischen Gesellschaftsordnung ihre geschichtsbildende Rolle optimal erfüllen. Je mehr die Kunst zur Festigung der DDR beiträgt, desto besser erfüllt sie also ihre humanistische gesellschaftliche Funktion. 8

Die Verwirklichung des sozialistischen Humanismus impliziert die Neuschaffung des Menschen als Subjekt der Geschichte, was nicht lediglich die Umwälzung der ökonomischen Produktionsverhältnisse bedeutet, sondern die Beseitigung sämtlicher Formen der Entfremdung voraussetzt. Dabei fällt der sozialistisch-realistischen Kunst eine wichtige Rolle zu. Die ganze Kultur — und damit die neue Kunst — wird zum inhärenten Bestandteil des Systems der sozialistischen Gesellschaftsformation. In der DDR-Sprachpraxis wird die Kunst als “Teilsystem” bzw. “Subsystem” des gesellschaftlichen Gesamtsystems bezeichnet.

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Die Einbeziehung der Kunst in das sozialistische Gesellschaftssystem verleiht ihr eigene Charakteristika, die nunmehr kurz betrachtet werden sollen.  

1. Der sozialistische Realismus als dominierende Kunstströmung 10

Die wiederhergestellte Einheitlichkeit des Kunstprozesses impliziert die Überwindung sämtlicher nichtrealistischer Strömungen. Im zweiten Kapitel wurde festgestellt, daß der Realismus nach DDR-marxistischer Denkweise die einzige künstlerische Methode ist, die die Bindung von Kunst und Leben gewährleistet. Aufgrund dieser Prämisse wäre es unverständlich, in der DDR andere Kunstrichtungen als die realistische zu tolerieren, da sie alle die gegenwärtig der Kunst : gebotenen Möglichkeiten, ihrer humanistischen Funktion gerecht zu werden, nicht ausschöpfen.

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Das im zweiten Kapitel Ausgeführte legt nahe, daß die normative Kunstmethode in der DDR ein der zeitgeschichtlichen Situation angepaßter Realismus ist. Im historischmaterialistischen Denken ist nämlich mit der permanenten Analyse der Wirklichkeitsabläufe notwendigerweise eine permanente Neubestimmung der Begriffe verbunden, die die Funktion haben, diese Prozesse abzubilden. Der sozialistischrealistische Schriftsteller kennt praktisch nur ein Thema : der Auftrag, den ihm die Geschichte, die gegenwärtig abläuft, stellt, ist eine Hinwendung zur DDRLebenswirklichkeit. Das Problem der unterschiedlichen Realitätserfahrung seitens der Künstler, das für die Bewertung des Erbes eine entscheidende Rolle spielt, ist hier überwunden. Alle sollen die neue Wirklichkeit von derselben ideologischen Warte aus angehen, nämlich gemäß den “wissenschaftlichen” Prinzipien des MarxismusLeninismus. Den Künstlern obliegt es, das Wesentliche der DDR-Wirklichkeit. das historisch Wahre durchschaubar zu machen und die Leser auf die Erkenntnis der Wahrheit hin zu orientieren. Dabei ist zu betonen, daß auch die neue Wirklichkeit in einem Wandlungsprozeß begriffen ist. Die sozialistische Gesellschaft ändert sich in raschem Tempo. Die verschiedenen Entwicklungsstadien des Sozialismus stellen jeweils neue Forderungen an die Kunst. Trotz der gemeinsamen Zielsetzungen entstehen laufend Konflikte, wenn auch nicht antagonistischer Art, Die neue Wirklichkeit muß also dauernd erobert werden, sonst würde die Kunst ihren realistischen Charakter verlieren.

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Will die sozialistisch-realistische Kunst Faktor des gesellschaftlichen Fortschritts sein, darf in der Abbildung der Realität der perspektivische Blick nicht fehlen 2. Die

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Wirklichkeit ist nämlich nicht nur zu betrachten als etwas, was sich vollzieht, sondern vor allem als etwas zu Vollziehendes. Der sozialistisch-realistische Schriftsteller hat immer in dem Bewußtsein zu schreiben, daß die Teilmomente des revolutionären Prozesses, die er abbildet, selber Mittel zur Produktion neuer Erkenntnisse sind. So steht in der Studie : “Zur Theorie des sozialistischen Realismus” : “Die Prozesse und Erscheinungen der Gegenwart werden vom Blickpunkt der Zukunft, vom Standpunkt zu verwirklichender sozialistischer Ideale aus verallgemeinert und gewertet. Das eigentliche Problem besteht für den Künstler nicht im Wissen um den Zusammenhang von Gegenwart und Zukunft, sondern in der jeweils spezifischen Gestaltung der Perspektive.”3 13

Innerhalb dieser Thematik spielt — wie beim Erbe — das Menschenbild eine wesentliche Rolle. Dieses Thema nimmt im sozialistischen Realismus insofern spezifische Konturen an, als — wie man vorgibt — in der neuen anbrechenden Welt völlig neue Beziehungen zwischen Mensch und Gesellschaft entstehen. Die neuen Formen des Gemeinschaftslebens sollen die “Menschwerdung des Menschen” ermöglichen, der durch die Beseitigung der antagonistischen Gesellschaftsordnung seine Bestimmung auf Erden erfüllen kann.  

2. Parteilichkeit der sozialistisch-realistischen Kunst 14

Die Bestimmung der sozialistisch-realistischen Kunst als Teilsystem des sozialistischen Systems reduziert weitgehend deren Autonomie. Alle Teile müssen koordiniert werden, was eine Gesamtleitung voraussetzt. Als Teilsystem unterliegt die Kunst der Autorität der Partei, die die ganze politisch-ideologische Führungstätigkeit ausübt. Genauso wie die Partei in ihren Beschlüssen Pläne für die Entwicklung der Industrie erarbeitet, genauso gehört es zu ihren Befugnissen, auch auf die literarische “Produktion” Einfluß zu nehmen. So sind beispielsweise in den Dokumenten des VIII. Parteitages der SED folgende wegweisende Beschlüsse zu finden : “Die sozialistische Kultur und Kunst hat die Aufgabe, die Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten und ihre bewußte schöpferische Tätigkeit zu fördern und zur Stärkung des sozialistischen Bewußtseins einen hohen Beitrag zu leisten. Mit neuen Werken der Literatur, der Film-und Fernsehkunst, der Dramatik und des Hörspiels, der Musik und der bildenden Künste gilt es, mit hoher künstlerischer Meisterschaft tief wirkende sozialistische Kunsterlebnisse zu vermitteln.”4

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Die sozialistisch-realistische Kunst der DDR kann nur eine parteiliche sein. Parteilichkeit bedeutet “das ‘Verschmelzen’ mit dem Parteistandpunkt”5. Das Prinzip der Parteilichkeit, das von Lenin erarbeitet wurde, wirft natürlich die Frage nach der Freiheit des Künstlers auf, denn es geht schließlich um eine direkte Einmischung der Politik in die Kunst. Im Selbstverständnis der Partei — dies kann nicht genug betont werden6 — wird diese Einflußnahme auf den Kunstprozeß keineswegs als Last empfunden. Im zweiten Kapitel ist zwischen der objektiven und der subjektiven Seite des Kunstschaffens unterschieden worden. Vom realistischen Schriftsteller wird Objektivität verlangt, was die Abbildung der Wirklichkeitsprozesse anbelangt. In dieser Beziehung wird ihm keine Freiheit gewährt. Parteilichkeit im Kunstschaffen ist — paradoxerweise — die beste Gewähr dafür, daß die Wirklichkeit im künstlerischen Bild nicht verzerrt erscheint : im sozialistischen Realismus fallen die Begriffe “Objektivität” und “Parteilichkeit” zusammen. Will die sozialistisch-realistische Kunst den Forderungen der Gesellschaft an sie nachkommen, so kann sie es folgerichtig nur im

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Bündnis mit der Partei. Zwischen Partei und Künstler herrscht — immer von der offiziellen Doktrin aus gewertet — somit ein Vertrauensverhältnis. Parteilichkeit hat in DDR-marxistischer Sicht mit Bevormundung nicht das Geringste zu tun. Die Anweisungen der Partei werden vom Künstler als Hilfen betrachtet, die es ihm ermöglichen, seine Fähigkeiten optimal zu entfalten. In dieser Hinsicht sagte Kurt Hager auf der sechsten Tagung des ZK der SED :

 

“Die Beschlüsse und Dokumente der Partei geben den Künstlern eine zuverlässige Orientierung. Sie helfen ihnen, sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden, die großen gesellschaftlichen Zusammenhänge zu überblicken und die wesentlichen sozialen Entwicklungen zu erkennen... Sie sind ein sicherer Kompaß zur tieferen Erkundung der Lebenswahrheit.”7

3. Volkstümlichkeit der sozialistisch-realistischen Kunst 16

Kann dem Erbe realistischer Charakter zugesprochen werden, auch wenn es nicht “volkstümlich” ist, so gehört eben diese Qualität zu den unabdingbaren Attributen des sozialistischen Realismus. Die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse bringt angeblich die Beseitigung der Trennung zwischen Kunst und Volk mit sich. Die neue Kunst sei nicht elitär, Kunstgenuß sowie Kunstausübung seien nicht mehr Privileg einiger weniger, wie es im kapitalistischen System der Fall sei. Genauso wie das Erbe allen zugänglich gemacht werde, genauso entstehe die sozialistisch-realistische Kunst für das ganze Staatsvolk der DDR. Die offizielle Literaturtheorie lehnt sich an Brechts Definition an : “Volkstümlich heißt : den breiten Massen verständlich, ihre Ausdrucksformen aufnehmend und bereichernd / ihren Standpunkt einnehmend, befestigend und korrigierend / den forschrittlichsten Teil des Volkes so vertretend, daß er die Führung übernehmen kann, also auch den anderen Teilen des Volkes verständlich / anknüpfend an die Traditionen, sie weiterführend / dem zur Führung strebenden Teil des Volkes Errungenschaften des jetzt führenden Teils übermittelnd.” 8

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Volkstümlichkeit impliziert, daß der Schriftsteller das Volk ganz genau kennen muß, um es zum Gegenstand seiner Kunst machen zu können. So kann es in den Augen der DDR-Marxisten für den sozialistischen Realismus nur förderlich sein, wenn etwa auf der ersten Bitterfelder Konferenz die Schriftsteller aufgefordert wurden, selber in die Betriebe zu gehen, um das Leben des “werktätigen Volkes” auf eine praktische Weise kennenzulernen.

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Dies hat auch zur Folge, daß die Kunst dem Niveau des Volkes angepaßt sein muß. Mit anderen Worten bedeutet diese Eigenschaft des sozialistischen Realismus eine radikale Abkehr von manchen Tendenzen in der westlichen Kunst, die den Anschein erwecken, als würde diese nur für Eingeweihte geschrieben. Dies legt die Gefahr nahe, daß die Schriftsteller, im Bestreben, “volkstümliche” Kunstwerke zu schaffen, der Versuchung erliegen, die geforderte Reproduktion der Wirklichkeit zu vereinfachen. Die offizielle Theorie ist sich zwar dessen bewußt, hat sich aber bisher in dieser Hinsicht mit Behauptungen begnügt, die das Problem in keiner Weise lösen. Bezeichnend ist der folgende Auszug aus der Studie “Sozialistischer Realismus. Positionen. Probleme. Perspektiven. Eine Einführung” : “Es muß noch einmal nachdrücklich darauf hingewiesen werden, daß die marxistisch-leninistische Ästhetik wie die sozialistische Kunstpolitik die Grundaufgabe des Bitterfelder Weges, immer breitere Kreise des Volkes für die Kunst und für das immer tiefere Eindringen in ihre ‘Geheimnisse’ zu gewinnen,

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niemals als Herabsetzung, als Senkung des Niveaus der Kunst mißverstanden hat. Wir haben uns und werden uns auch weiterhin energisch gegen jede Art von ‘Einfachheit’ verwahren, die in Wirklichkeit simplifizierend und im Grunde abschätzig - herablassend im Sinne der imperialistischen Massenkultur ist.” 9 19

Der offiziellen Theorie nach können die Schriftsteller diese Aufgaben erst dann meistern, wenn sie zum “realistischen” Erbe ein “aktives Verhältnis” haben. Dies ist eine der Möglichkeiten für das Erbe, seine “zweite historische Dimension” zu erlangen.  

II. - Aufgaben der Literaturwissenschaft gegenüber der neuen Kunst 20

Die angeblich optimalen Voraussetzungen, unter denen sich der Kunstprozeß in der DDR entwickelt, stellen an die Künstler maximale Anforderungen. Die dekretierte Anteilnahme der Kunst an den gesellschaftlichen Vorgängen gibt ihnen im Aufbau des Sozialismus eine außerordentlich große Verantwortung. Sie werden häufig als “Mitkämpfer”, “Mitgestalter” und “Mitveränderer” bezeichnet. Ihnen wird das Recht nicht eingeräumt, sich in ihren “Elfenbeinturm” zurückzuziehen. Eigentlich sind die Künstler in der DDR in erster Linie Erzieher : auf die Kunstwerke, die sie schaffen, wird nur insofern Wert gelegt, als diese einen Beitrag zum Aufbau des Sozialismus leisten.

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Die der sozialistisch-realistischen Kunst zugeschriebene Funktion läßt durchblicken, welche Aufgaben daraus für die Literaturwissenschaft erwachsen. Bei der Beschäftigung mit dem Erbe geht es ihr um die Erschließung und Fruchtbarmachung vergangener Werte. Gegenüber der sozialistisch-realistischen Kunst kann sie ihre Rolle als Wissenschaft im DDR-marxistischen Sinne des Begriffs auf eine neue Weise spielen. Ihr obliegt es nicht nur, die Kunstwerke zu rezipieren, sie hat zudem auf den Kunstprozeß aktiv einzuwirken ; sie soll ihn fördern und zu seiner Lenkung beitragen. Mit anderen Worten, sie soll den Schriftstellern ihre gesellschaftlichen Aufgaben meistern helfen.

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Diesen beiden Aufgaben ist der erste Teil dieses Abschnitts gewidmet. Vorwegnehmend kann schon gesagt werden, daß die zweite Aufgabe der Literaturwissenschaft über die offizielle Kunstkonzeption in der DDR weit mehr Aufschluß gibt als die erste. Was über die Leistungen der Literaturwissenschaft in bezug auf das Erbe festgestellt wurde, gilt auch hier in ganz besonderem Maße : trotz aller Bemühungen der Partei wird die Literaturwissenschaft auch hier den an sie gestellten Forderungen nicht gerecht ; dies wird einen wesentlichen Aspekt der Betrachtung bilden. Schließlich werden, wie im vorigen Kapitel, Aufgaben und Leistungen der Literaturwissenschaft an einem typischen Beispiel veranschaulicht werden.,  

1. Rezeption dev sozialistisch-realistischen Kunst 23

Auch hier fällt der Literaturwissenschaft eine Vermittlungsfunktion zu ; sie dient als Bindeglied zwischen “Kunstproduktion” und Kunstrezeption durch die Leserschaft. Genauso wie das Erbe wird die in der DDR entstehende Kunst in erster Linie als ein wirksames Instrument zur gesellschaftlichen Bewußtseinsbildung erachtet. Im vorigen Kapitel wurde erläutert, welche Konsequenzen sich daraus für die literarische Interpretation ergeben. In diesem Abschnitt wird deshalb gänzlich darauf verzichtet, die Aufgaben der Literaturwissenschaft bei der Rezeption der sozialistisch-realistischen

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Literatur detailliert darzulegen. Trotz der Ähnlichkeit der Probleme stößt die Literaturwissenschaft dabei jedoch auf Schwierigkeiten spezifischer Art, die für das Hauptanliegen der vorliegenden Arbeit Aufschlußreich sind. Im folgenden wird zuerst einmal kurz die Beschäftigung der Literaturwissenschaft mit den einzelnen Kunstwerken betrachtet, dann wird die Herausarbeitung der Gesetzmäßigkeiten der sozialistisch-realistischen Kunst zu behandeln sein.   A. Rezeption der einzelnen Kunstwerke - Das Problem der “Auswahl” 24

Wegen des angeblich neugewonnenen Zusammenhangs zwischen Kunst-und Gesellschaftsentwicklung sollte theoretisch die Freisetzung der Wirkungsmöglichkeiten der sozialistisch-realistischen Kunst mit weniger Problemen verbunden sein als die des literarischen Erbes. Die Vermittlungsrolle der Literaturwissenschaft sollte dadurch erleichtert werden, daß in der DDR theoretisch — das muß hier noch einmal betont werden — nur noch sozialistisch-realistische Kunstwerke erscheinen, die per definitionem entsprechend den Bedürfnissen der Leserschaft geschrieben werden.

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In der Praxis jedoch verhält es sich anders. Viele DDR-Künstler haben den Obergang zu orthodox-marxistischen Positionen offenbar noch nicht vollzogen. Bemerkenswert ist, daß gerade die angesehensten und profiliertesten Schriftsteller, die sich zum Marxismus bekennen und sogar oft am politischen Leben aktiv teilnehmen, es ablehnen, sich den streng normativen Regeln des sozialistischen Realismus zu beugen. In diesem Zusammenhang können beispielsweise die Romanschriftstellerin Christa Wolf oder der aus der BRD in die DDR übergesiedelte Dramaturg Peter Hacks genannt werden10. Womöglich liefert dies Aufschluß darüber, daß das Phänomen Kunst zu komplex ist, als daß es sich in den Rahmen der eng aufgefassten Widerspiegelungstheorie hineinzwängen ließe. Das Problem der Auswahl, das im sozialistischen Realismus überwunden sein sollte, bereitet somit der Literaturwissenschaft besondere Schwierigkeiten. Die Entscheidung darüber, ob ein Kunstwerk als sozialistisch-realistisch zu bezeichnen ist, ist deshalb schwerwiegend, weil davon abhängt, ob es überhaupt veröffentlicht werden darf. Die Art und Weise, wie in der DDR die Leninschen Prinzipien in dieser Hinsicht angewandt werden, verrät große Unsicherheit. In den siebenundzwanzig ersten Jahren des Bestehens der DDR sind diese sehr unterschiedlich interpretiert worden. Die Strenge der Zensur hängt immer von dem Maß der augenblicklichen Toleranz ab. In der Geschichte der DDRLiteratur wechseln Zeiten schweren politischen Drucks mit sogenannten “Tauwetterperioden”. Sabine Brandt ist demnach beizupflichten, wenn sie schreibt : “Seit Bestehen der DDR sind viele formal verschiedene und inhaltlich entgegengesetzte Arbeiten unter den Begriff ‘sozialistischer Realismus’ subsumiert worden.”11

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Die Frage, wer überhaupt das “Imprimatur” erteilt, ob Parteifunktionäre oder Literaturwissenschaftler, läßt sich nicht beantworten. Es steht auf jeden Fall fest, daß in der DDR keine Institution mit der Zensur offiziell beauftragt ist 12. Diese Frage war ziemlich irrelevant, wenigstens bis zum VIII. Parteitag 1971. Es wurde bereits berichtet, wie eng bis dahin die Bewegungsfreiheit der Literaturwissenschaft war. Ob ein Parteifunktionär oder ein Literaturwissenschaftler über ein bestimmtes Kunstwerk ein Urteil fällte, die Bewertungsmaßstäbe waren im Endergebnis nicht verschieden : den Ausschlag gaben sowieso nur ideologische Kriterien ; mit anderen Worten : die Kriterien der Leistungsfähigkeit des Kunstwerks ungeachtet seiner künstlerischen Qualität. Die

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Wörter “Parteifunktionär” oder “Literaturwissenschaftler” waren kaum mehr als zwei verschiedene Etikette für dieselbe Sache : gleichgültig, ob der eine oder der andere sprach, er konnte es nur in seiner Eigenschaft als Ideologe. 27

Der zündende Funke, der auf diesem Gebiet eine Änderung herbeigeführt hat, ist vom VIII. Parteitag ausgegangen. Auch wenn die Kunst weiterhin primär als politische Waffe verstanden wird, ist die Anwendung des Realismus-Kriteriums zur Bewertung der neu entstehenden Kunst weitaus flexibler geworden. Es werden seitdem Bücher veröffentlicht, die vorher nie hätten erscheinen dürfen. Der größere Bewegungsspielraum, der der Literaturwissenschaft seitens der Partei zugestanden worden ist, erlaubt ihr fachspezifischere Stellungnahmen.

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Über dem Wandel, der in dieser Hinsicht in jüngster Zeit eingetreten ist, leuchtet der heftige Streit über die 1972 geschriebene Filmerzählung von Ulrich Plenzdorf “Die neuen Leiden des jungen W.”. Vielleicht überbewertet Fritz J. Raddatz die Erzählung, wenn er in ihr “vielleicht sogar den lang erwarteten Anfang einer neuen Literatur” 13 sieht, aber es läßt sich nicht leugnen, daß der “Fall” Plenzdorf in der Entwicklung der DDR-Literaturwissenschaft eine neue Periode eröffnet.

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Mit dieser Filmerzählung wurde der 1934 geborene Ulrich Plenzdorf mit einem Schlag bekannt. Auch im Westen erfreute er sich bald eines großen Erfolgs. In der DDR wurde das Werk zum ersten Mal im zweiten Heft 1972 der Zeitschrift “Sinn und Form” veröffentlicht14. Es lieferte sofort heißen Diskussionsstoff. Bei manchen Literaturwissenschaftlern wurde es als literarisches Ereignis begrüßt, bei anderen aber stieß es auf Ablehnung. Diese hatte zur unmittelbaren Folge, daß auf der einen Seite das Buch in keiner Buchhandlung zu erstehen war, auf der anderen Seite aber — wohl der Gipfel der Inkonsequenz — die dramatische Version der Filmerzählung, die sich inhaltlich von dieser in keiner Weise unterscheidet, an zahlreichen DDR-Bühnen monatelang ununterbrochen gespielt wurde !

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Bei Lichte besehen verrät die Diskussion zuerst einmal, daß unter den DDRLiteraturwissenschaftlern sich in den Jahren vor 1972 ein harter Kern herausgebildet hat, der so sehr von der durch die Partei propagierten Kunstdoktrin durchdrungen ist, daß er auch nach dem VIII. Parteitag nichts toleriert, was von der ursprünglichen Linie abweicht, und folglich jeden Versuch seitens der Künstler, trotz der ihnen angelegten Fesseln ihren Innenraum sich aussprechen zu lassen, verurteilt. Dieser Kern aber, der ehemals allmächtig war, hat gegenwärtig an Bedeutung verloren. Seine Meinung wird nicht mehr widerstandslos hingenommen.

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Andere DDR-Literaturwissenschaftler hingegen zeichnen sich erfreulicherweise mehr durch Fachwissen aus. Sie lassen sich nicht mehr zu bloßen Sprachrohren einer engen Kunstpolitik degradieren. In den von der Partei eingeleiteten Lockerungsmaßnahmen haben sie eine Möglichkeit erblickt, die alten Denkschablonen zu durchbrechen und in der Kunst mehr als ein bloßes Instrument zur Verbreitung der marxistischen Ideologie zu erblicken. Aus ihren Reaktionen auf die Filmerzählung von Plenzdorf geht hervor, daß sie es fertiggebracht haben, sich zu einer angemesseneren Interpretation von Kunstwerken durchzuringen, ohne dafür mit der Partei in Konflikt zu geraten. Wohl wagt es nach wie vor keiner, gegen die Widerspiegelungstheorie zu polemisieren, in der Frage aber, wie die Wirklichkeit im Kunstwerk abzubilden sei, wollen sie dem Künstler mehr Freiheit gewähren.

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Kurz nach der Veröffentlichung wird in “Sinn und Form” die Diskussion angekündigt :

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“Zu der Veröffentlichung des Beitrages von U. Plenzdorf ‘Die neuen Leiden des jungen W.’ hat die Redaktion verschiedene Stellungnahmen erhalten. Sie wird diese zusammen mit der Arbeit von Plenzdorf und den Aufführungen in Halle und Berlin in den nächsten Heften zur Diskussion stellen.”15 33

Die erste Stellungnahme erscheint kurz darauf im ersten Heft 1973. Auf zwei Seiten werden Auszüge aus einem Brief zitiert, in dem Prof. Dr. Friedrich Kaul seine strikte Ablehnung des Werkes begründet16. Kaul gehört zur Gruppe der Literaturwissenschaftler, die sich von einer — sehr — engen Auslegung der Prinzipien des sozialistischen Realismus nicht abbringen lassen wollen. Abgesehen davon, daß er Plenzdorf vorwirft, Goethes Werther auf eine entwürdigende Weise parodiert zu haben (mich ekelt geradezu — um keinen anderen Ausdruck zu benutzen — die von einem unserer professionellen Theaterkritiker sogar noch “mehr als ein hübscher Einfall” laudierte Inbezugsetzung eines verwahrlosten — der Fachmann würde sagen “verhaltensgestörten” — Jugendlichen mit der Goetheschen Romanfigur an ;) 17,

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sieht er in der Erzählung eine grobe Verletzung der normativen Regeln des sozialistischen Realismus. Seine diesbezüglichen Äußerungen verraten, daß er außchliesslich der bewußtseinsbildenden Seite der Kunst Beachtung schenkt. Für ihn vermittelt die Erzählung nur ein verzerrtes Abbild der DDR-Wirklichkeit : “Man komme nicht mit der Binsenwahrheit, daß es derart verhaltensgestörte Jugendliche bei uns gibt, worüber gerade ich durch Beruf und spezielles Fachinteresse besonders gut unterrichtet sein dürfte. Natürlich gibt es sie, und natürlich bin ich darüber unterrichtet ! Aber dank der energischen Maßnahmen unseres Staates sind sie alles andere als repräsentativ für unsere Jugend ! Herr Plenzdorf hätte nur in die Werkhallen unserer Betriebe, in die Hörsäle unserer Universitäten und Akademien, in Ateliers und Laboratorien, schlechthin an jeden Ort gehen können, wo gearbeitet wird, um das festzustellen ! Wie gesagt, dieser Brief wird nicht geschrieben, um mich mit Herrn Plenzdorf darüber auseinanderzusetzen,... warum er seinen ‘mehr als hübschen Einfall’ der Inbeziehungsetzung des verhaltensgestörten Jugendlichen mit der Romanfigur Goethes nicht wenigstens mit dem sozial-politischen Gegengewicht versehen hat, das der Wirklichkeit unseres sozialistischen Seins und sozialistischen Wollens — ja, insbesondere diesem ! — entspricht.”18

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Anschließend polemisiert er gegen die Zeitschrift und deren Leiter Wilhelm Girnus. Er wirft diesem in pathetischem Ton einen Mangel an Verantwortungsbewußtsein vor : “Aber Dich frage ich — und das ist der Grund dieses Schreibens — warum ‘Sinn und Form’, die repräsentativste Literaturzeitschrift unserer Republik, deren Leiter du bist, diese Arbeit Plenzdorfs veröffentlicht, ohne wenigstens mit einem Wort des Kommentars auf diese gewichtmäßige Verfälschung unseres sozialistischen Seins und Werdens durch diese Arbeit hinzuweisen. (...). Die kommentarlose Veröffentlichung der Plenzdorfschen Prosa läßt vermuten, daß die Leitung von ‘Sinn und Form’, das — es scheint in diesem Zusammenhang erforderlich, daran zu erinnern — ursprünglich nach dem Wunsche seines Gründers Johannes R. Becher ‘Maß und Wert’ heißen sollte, hierüber nicht im klaren ist.” 19

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Es ist Girnus und der Redaktion von “Sinn und Form” als Verdienst anzurechnen, daß sie sich geweigert haben, die wohl radikale Position von Kaul als tonangebend zu betrachten. In seiner Antwort läßt sich Girnus durch die Härte des Angriffs nicht aus dem Sattel werfen. Zwar räumt er in den ersten Zeilen ein, Kauls Argumente “berührten prinzipielle Aspekte und verdienten es daher, ernstgenommen zu werden” 20. Dann aber relativiert er Kauls Meinung dadurch, daß er sie lediglich als einen der zahlreichen Beiträge zur Diskussion betrachtet. Girnus versucht dann offenbar — freilich in behutsamer Form — gegen die Einseitigkeiten der DDR-Kunsttheorie

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anzugehen, indem er die Diskussion um die Erzählung auf einige Schwerpunkte zu lenken versucht, die eben die enge Auffassung der Widerspiegelung in Frage stellen : “Die Redaktion hat sehr bestimmte Vorstellungen über Wert und Bedeutung dieses Textes- — · der kommentarlose Abdruck bietet bereits einen entsprechenden Hinweis — sie wünscht aber nicht der öffentlichen Diskussion vorzugreifen. Sie behält sich aus diesem Grunde die Bekanntgabe ihrer Stellungnahme für den Abschluß des Meinungsaustausche vor. Andererseits würde die Auseinandersetzung ihren Zweck verfehlen, würde man ‘Sinn und Form’ als bloßen Abladeplatz für den Unmut gegen Inhalt und Form der Bedenken von F.K. Kaul betrachten. Wir bitten die Teilnehmer, in diesem literarischen Streit bei der Sache zu bleiben. Aus den bisherigen Stellungnahmen glaubt die Redaktion entnehmen zu dürfen, daß folgende Fragen und Probleme in der Aussprache von Interesse sein können : 1. Wo finden sich die Ursachen für die ungewöhnliche Wirkung der Arbeit von U. Plenzdorf ? 2. Wird Goethes Werk durch die Art des Rückbezugs auf ihn in Plenzdorfs Text abgewertet ? 3. Welche Rolle spielt dieser Rückbezug auf Goethes Werther für Plenzdorfs künstlerische Konstruktion ? Was wäre Plenzdorfs Arbeit ohne diesen Effekt ? 4. Hat die Kunst nur das Recht, ‘repräsentative’ Gestalten der Jugend der DDR (im Sinne mustergültiger Charaktere) darzustellen ? 5. Wird durch die künstlerische Darstellung eines ‘verhaltensgestörten’ Jugendlichen zwangsläufig das positive Ideal negiert oder vernichtet ? 6. Muß in einem Kunstwerk die Darstellung des sozialpolitischen ‘Gegengewichts’ unbedingt in Gestalt eines vorbildhaften Gegenhelden erfolgen ? 7. Was unterscheidet eine Dichtung von einem Tatsachenbericht über einen Kriminalfall ? Die Redaktion beabsichtigt nicht, die Aussprache auf diese Fragen zu beschränken. Sie begrüßt jeden auf die Sache gerichteten Diskussionsvorschlag und-beitrag.” 21 37

Viel weiter noch als Girnus geht der Dichter Stephan Hermlin in seiner Beurteilung des Briefes von Kaul : “Ich halte die vorgelesene Zuschrift nicht für so ungeheuer interessant, daß man sich groß und breit damit auseinandersetzen müßte. Ein altes Argument wird vorgestellt, das immer aktiviert wird, wenn ein Stück neue Kunst irgendwo auftaucht, und hier geht es um ein authentisches Stück neue Kunst. Man argumentiert, daß das ja nicht typisch sei, sondern daß es eben nur irgendeine in diesem Falle verhaltensgestörte Minderheit angeht, während man in den Werkhallen etwas ganz anderes erleben könnte. Verhaltensgestört, also krank, sind die anderen ; man selber ist kerngesund. Übrigens hält der Briefschreiber, den ich zufälligerweise kenne — von seinem gestörten Verhältnis zur Sprache will ich nicht reden —, sich gewöhnlich nicht in Werkhallen auf. Er hat gar keine Zeit dazu, da er eine große Praxis hat und außerdem sehr viele Kriminalhörspiele und-Kriminalromane schreibt. Und so kann er auch nicht wissen, wie Arbeiterjugend denkt. Das Wichtige an Plenzdorfs Stück ist, daß es vielleicht zum erstenmal, jedenfalls in der Prosa, authentisch die Gedanken, die Gefühle der DDR-Arbeiterjugend zeigt. Auf den Brief würde ich nicht weiter eingehen, er ist belanglos.” 22

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Leider bleiben Girnus und vor allem Hermlin noch Ausnahmen. Vielen Literaturwissenschaftlern ist nach wie vor angst und bange vor möglichen Repressalien seitens der Partei. Im ersten Heft 1973 bedauert beispielsweise die Redaktion von “Sinn und Form”, daß während einer “öffentlichen Aussprache” über Plenzdorfs Werk in der Akademie der Künste der DDR im Oktober 1972 “auch die hier anwesenden Germanisten vorzogen zu schweigen”23.

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Trotzdem weckt der eingetretene Wandel Hoffnungen angesichts der weiteren Entwicklung der DDR-Literatur und-Literaturwissenschaft. Es ist noch zu früh, um zu wissen, ob es nachhaltig sein wird. Vieles scheint aber dafür zu sprechen, daß der Trend unumkehrbar ist. Bei einer Rückkehr zu den engen Schaffensprinzipien, wie sie bis zum Anfang der siebziger Jahre verstanden wurden, würde die DDRLiteraturwissenschaft sicherlich ihren Kredit verlieren.   B. Erarbeitung der Gesetzmäßigkeiten der sozialistisch-realistischen Kunst Internationalität der sozialistisch-realistischen Kunst

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Der bewußtseinsbildende Wert dieser — vorrangigen — Aufgabe der Literaturwissenschaft liegt auf der Hand : an Hand der Geschichte des sozialistischen Realismus gilt es den Nachweis zu erbringen, daß die Herausbildung des Sozialismus zu den Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung gehört und für die Menschheit den eigentlichen Anfang ihrer “Menschwerdung” bedeutet. Die Literaturwissenschaft muß hier selbstverständlich an das Erbe anknüpfen und zeigen, was die neue Literatur mit ihm verbindet und was sie von ihm unterscheidet. In einem 1966 in den “Weimarer Beiträgen” erschienenen Artikel erläutert Marianne Lange ausführlich die Aufgaben, vor denen die Literaturwissenschaft steht, wenn die Partei von ihr “exakte Einschätzungen des lebendigen Literaturprozesses nach 1945” fordert : “Diese Aufgabe ist seither aus vielen Gründen immer dringender geworden. Einmal fordern die neuen kulturellen Aufgaben, wie sie in der Rede zum Perspektivplan von Walter Ulbricht auf der II. Tagung des ZK genannt wurden, eine wissenschaftliche Analyse des Erreichten. Andererseits ist es unsere nationale und auch unsere internationale Pflicht, den exakten marxistischen Nachweis der literarischen Ergebnisse dieser letzten zwanzig Jahre unserer Geschichte zu erbringen, in denen unsere traditionsreiche deutsche Literatur sich im Sinne Lenins als ‘wirklich freie, offen mit dem Proletariat verbundene Literatur’ entwickeln konnte. Die marxistische Darstellung dieses komplizierten Prozesses, der sich bei uns unter den Bedingungen der Spaltung der deutschen Nation und ihrer Kultur vollzog und vollzieht, stellt höchste Ansprüche an das marxistische Wissen, an die philosophische, historische, ästhetische und literarische Bildung der Wissenschaftler und erfordert die gemeinsame Erarbeitung und konsequente Anwendung ästhetischer Maßstäbe, worunter der Realismus-Konzeption als dem Kernproblem zentrale Bedeutung zukommt (vgl. Erwin Pracht in seinem Artikel ‘Sozialistischer Realismus und ästhetische Maßstäbe’). Marxistische, das heißt konsequent wissenschaftliche Darstellung der Literaturprozesse erfordert feste Grundsätze als Ausgangsposition und zugleich unendlich viel mehr an empirischer Forschung, Untersuchung der neuen Werke in dem gesellschaftlichen Ensemble, in dem sie wirken — als die tiefsinnig anmutenden und sich dabei doch als so flach und unproduktiv erweisenden gedanklichen Exkurse einiger westdeutscher Germanisten und Publizisten, die sich in letzter Zeit an zusammenfassenden Darstellungen versuchten.”24

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Bei der Herausarbeitung der Gesetzmäßigkeiten der dem Sozialismus eigenen Kunst ist die Literaturwissenschaft dazu aufgefordert, auch die Kunst der anderen sozialistischen Länder, in erster Linie der Sowjetunion, in ihr Forschungsfeld mit einzubeziehen. In dieser Hinsicht ist bereits 1962 in den “Weimarer Beiträgen” folgendes zu lesen : “Die Literaturwissenschaftler müssen sich vergegenwärtigen, daß mit der Oktoberrevolution — und verstärkt mit der Bildung eines sozialistischen Weltlagers nach 1945 — eine qualitativ neue Aufgabe entstanden ist : das wissenschaftliche vergleichende Erarbeiten und Darstellen der literarischen Wechselbeziehungen zwischen den sozialistischen Ländern, die sich durch die Tatsache der

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Widerspiegelung verwandter Bewegungen und ähnlicher Probleme und Sujets gebildet haben.”25 42

Der Zweck der komparatistischen Arbeit ist ein doppelter. Da jedes sozialistische Land auf literarischem Gebiet mit ähnlichen Problemen konfrontiert ist, dient sie zuerst einmal der wechselseitigen Erhellung und Bereicherung der Theorie des sozialistischen Realismus. Die Gegenüberstellung der Kunst der verschiedenen sozialistischen Länder ist aber vor allem darauf ausgerichtet, das Zusammengehörigkeitsgefühl der DDRDeutschen mit diesen Ländern zu vertiefen. Obwohl beiderseits des “Eisernen Vorhangs” Deutsche leben und sich der Staat jenseits von Elbe und Werra weiterhin als “deutsch” bezeichnet, sind für diesen in seiner Selbstdarstellung gesellschaftlichideologische Faktoren wesentlich wichtiger als die ethnischen : die DDR will sich mit ihren östlichen Nachbarn enger verbunden wissen als mit der BRD. Die komparatistische Arbeit der Literaturwissenschaft kommt deshalb der Ideologie entgegen, weil die “unverbrüchliche Freundschaft” mit der Sowjetunion und den anderen Ostblockstaaten auch gegenwärtig weitgehend nur in den Wunschträumen der Partei existiert. Alles spricht dafür, daß diese Länder, vor allem die Sowjetunion, bei den DDR-Deutschen nach wie vor ein wenig schmeichelhaftes Image haben und daß die von der Partei aktiv betriebene Abgrenzungspolitik zur BRD bei ihnen kaum Anklang findet.   C. Stand der Forschung

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Auch hier herrscht über die Leistungen der Literaturwissenschaft ständige Unzufriedenheit. Viele Literaturwissenschaftler weigern sich offenbar, auf den neuen Kurs einzuschwenken. Sie schenken der offiziellen Stimme kaum Gehör. Sie “begnügen” sich meistens mit einer “rein akademischen Arbeitsweise” 26 und betrachten die sozialistisch-realistische Literatur nicht in erster Linie als Faktor des Fortschritts. In allen Beiträgen zu diesem Thema wird aus demselben Faß geschöpft : was sie alle durchzieht, ist nicht das Bestreben, die eher dürftige Theorie der Rezeption der sozialistisch-realistischen Kunst zu bereichern, sondern der krampfhafte Versuch, die ganze Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaftler an die Ziele der Partei zu nageln. Zwei Beispiele genügen, um dies zu veranschaulichen.

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1964 wurde in den “Weimarer Beiträgen” unmittelbar nach der zweiten Bitterfelder Konferenz eine Bilanz der literaturwissenschaftlichen Arbeit gezogen. Was die Redaktion der Zeitschrift in dieser Hinsicht schreibt, ist nicht gerade schmeichelhaft : “Die II. Bitterfelder Konferenz zog Bilanz und steckte neue Ziele : Bilanz über erfolgreiche Jahre der Kulturrevolution in unserer Republik, in denen wichtige und wirksame Kunstwerke entstanden, in denen Kunstverständnis und Kunstbedürfnis allgemein wuchsen, in denen die eigene künstlerische Tätigkeit der Werktätigen sich entwickelte, in denen die kulturschöpferische Kraft der Arbeiterklasse überzeugend sichtbar wurde. Ziele kulturellen Fortschritts in der wissenschaftlichtechnischen Revolution, die die Arbeit auf eine neue Stufe hebt, die neue Menschen braucht und hervorbringt, in der Bildung und Kunst mehr und mehr an Bedeutung gewinnen. Zweierlei bestimmte den Verlauf der Konferenz : Walter Ulbrichts klare, die großen kulturellen Aufgaben und perspektivischen Entwicklungen charakterisierende und zugleich differenzierte Diskussionsrede mit ihrer theoretischen Argumentation, ihren organisatorischen Anregungen und die lebendig-polemischen Beiträge der jungen Schriftstellergeneration, die konkret und kritisch Probleme ihres künstlerischen Schaffens aufwarfen. Es war keineswegs angenehm, auf der Bitterfelder Konferenz zu der verstreuten

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Gruppe von Kunstwissenschaftlern zu gehören, zumal mehrere Diskussionsredner just Literaturkritik und auch Literaturwissenschaft besonderer Unlust oder Unfähigkeit ziehen, der fortschreitenden Kunstentwicklung ebenbürtige Partner zu sein. Die schärfsten Formulierungen fanden sich bei Erich Neutsch, der die Kritik aufforderte, sich Sachkenntnis zu verschaffen, und der im Hinblick auf die Literaturwissenschaft von Lebensfremdheit und auch von abstrakter Prinzipienrederei sprach. Er urteilte : Sie ‘läßt uns in unseren Bemühungen allein. Sie nimmt nicht oder nur spärlich... unsere Literatur zur Kenntnis. Sie versucht nicht bestimmte Dinge zu verallgemeinern.’ Ähnlich äußertesich Christa Wolf, die der Literaturkritik wenig Urteilssicherheit nachsagte und wenig Bereitschaft, sich erschüttern zu lassen, und die als tieferen Grund für Kälte und Schematismus dies sah : ‘Ich habe manchmal den Eindruck, daß viele Kritiken nicht für die Leute geschrieben werden, die sie lesen sollen, und auch nicht für den Autor, sondern für irgendwelche in der Einbildung vorhandenen höheren Instanzen... da schwingt noch die Tendenz zu großer Vorsicht und eventuell sogar Angst aus einer Zeit mit, in der selbständiges Denken und Verantwortungsbewußtsein noch nicht so selbstverständlich waren wie heute... Wenn man schreibt, kann man nicht mit dem Netz arbeiten ; da muß man schon ein kleines Risiko eingehen.’” 27 45

1971 hat sich die Situation noch nicht geändert, auch wenn der Ton der Artikel konzilianter geworden ist : “Recht oft behandeln die Autoren zwar bedeutsame Fragen, zeigen aber wenig Interesse dafür, welchen Platz deren Erforschung in der allgemeinen gesellschaftlichen Kulturpraxis einnimmt. Vor allen Dingen geht es darum, die große Aufgabe zu lösen, die Kultur und insbesondere die Kunst zum Lebenselement aller Menschen, zum festen Bestandteil der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung und der sozialistischen Persönlichkeitsbildung zu machen. Oft genug hat sich erwiesen, daß ein Autor, der tatsächlich praktische Erfahrungen theoretisch verallgemeinern kann, auch fähig ist, Vorlauf für die Kulturpraxis selbst zu schaffen und damit dazu beizutragen, daß die Kultur zum Lebensbedürfnis der ganzen Gesellschaft wird. In diesem Sinne hat die Zeitschrift die besonders wichtige Aufgabe, sich auf ihre Weise in die große Debatte einzufügen, die beispielsweise in unserer Presse über die Kulturentwicklung geführt wird. Zu diesem Zweck wäre die immer nocla vorhandene Tendenz zu überwinden, abstrakt und wissenschaftsimmanent zu bleiben, d.h. Artikel zu schreiben, die mehr der Selbstbewegung der Wissenschaft als einer wirklichen, theoretisch fundierten Brauchbarkeit für die Praxis dienen. Es wäre auch die Gewohnheit aufzugeben, statt der exakten, marxistischen, methodischen Behandlung des Fakts eine allgemeine Einleitung sprechen zu lassen. Erfahrungsgemäß können sich recht viele Autoren noch nicht vorstellen, für wen sie schreiben, welchen Leserkreis sie erreichen und was sie bewirken wollen. Hier dürfte wohl auch der tiefere Grund dafür zu suchen sein, daß manche Artikel noch recht schwer verständlich geschrieben sind, eine Tatsache, über die sich viele Leser beklagen.”28

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Dieser Artikel liefert — neben vielen anderen — den Beweis, wie wenig die Aufforderungen der Partei bei den Literaturwissenschaftlern auf Gegenliebe stoßen.

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Was die Erarbeitung der Geschichte der DDR-Literatur anbelangt, so ist es merkwürdig, daß die Literaturwissenschaft dieser ihr auferlegten Aufgabe noch weniger nachkommt als den anderen, bei denen immerhin bereits bedeutende — wenn auch meistens vereinzelte — Forschungsergebnisse erzielt wurden. Noch erstaunlicher ist, wenn man den Wert der neuen Kunst für die gesellschaftliche Praxis bedenkt, daß die Literaturwissenschaft diese Aufgabe trotz der vielen Ermahnungen der Partei nicht als vorrangig zu betrachten scheint.

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Im vorigen ist das Projekt, eine großangelegte Geschichte der deutschen Literatur in elf Bänden zu schreiben, bereits erwähnt worden. Dieses Werk sollte ursprünglich 1971 abgeschlossen sein. Bis heute aber sind nur die Bände Eins, Vier, Fünf, Neun und Zehn erschienen. Der elfte Band, der der Literatur nach 1945 gewidmet ist, soll erst 1976 veröffentlicht werden. Auf die Frage, warum die Arbeit an diesem Band nicht als erste Aufgabe in Angriff genommen und immer wieder verschoben wurde, ist man in der DDR bisher eine Antwort schuldig geblieben. Dem nachstehenden Versuch, dies zu ergründen, ist nur der Wert einer Hypothese zuzumessen.

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Diese Tatsache ist m.E. darauf zurückzu führen, daß sich die Literaturwissenschaft hier vor eine besonders heikle Aufgabe gestellt sieht, und zwar in zweierlei Hinsicht.

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Im Laufe dieser Arbeit ist schon mehrmals darauf hingewiesen worden, wie sehr die Partei bestrebt ist, ihre Kurskorrekturen zu vertuschen ; dabei soll die Fiktion aufrechterhalten bleiben, daß die politisch-ideologische Generallinie der SED grundsätzlich richtig ist und unveränderlich feststeht. Nun hat sich die Kulturpolitik der Partei seit 1949 erheblich gewandelt : man denke nur an die relativ große Freiheit, deren sich die Künstler bis etwa 1950 erfreuten, an die Tauwetterperioden und an den VIII. Parteitag. Bei der Aufarbeitung der Geschichte der DDR-Literatur könnte die Literaturwissenschaft also nicht umhin, die Realität grob zu verfälschen.

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Die Literaturwissenschaftler scheuen sich außerdem, diese Arbeit in Angriff zu nehmen, da sie dabei auch nachweisen müßten, daß die DDR tatsächlich so kunstfreundlich ist, wie sie sich ausgibt. Nun gibt es doch in der Geschichte der DDRLiteratur einiges, das nicht gerade dafür spricht. Bekannt ist, daß nach Kriegsende bedeutende Dichter und Schriftsteller ihren Wohnsitz in der damaligen SBZ nahmen. Nach den Ideologisierungsmaßnahmen gegenüber der Kunst setzte sich ein nicht geringer Teil von ihnen in den Westen ab. Darüberhinaus gerieten viele in der DDR verbliebene Künstler mit der SED-Führung in Konflikt ; genannt seien hier beispielsweise der Dichter und Kabarettist Wolf Biermann, über den 1963 ein Auftrittsund Veröffentlichungsverbot verhängt wurde, das bis heute andauert, und der im Westen besonders gewürdigte Dichter Peter Huchel, der jahrelang in der völligen Isolation zu leben gezwungen wurde, bevor er, fast siebzigjährig, in die BRD übersiedeln durfte.

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Solche Fälle passen schwerlich in das selbstgebastelte Image der DDR. Den gerade erwähnten Künstlern und vielen anderen kann die DDR-Literaturwissenschaft schwerlich künstlerisches Talent absprechen, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren, besonders jetzt, wo doch die Ansprüche der Leserschaft gewachsen sind und eine allzu offene Verzerrung der Wahrheit sicherlich nicht mehr ohne weiteres hingenommen werden würde.

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Wenn die Niederschrift der Geschichte der DDR-Literatur für die Literaturwissenschaft auch nicht die Quadratur des Kreises bedeutet, so ist sie doch nicht weit davon entfernt. Es versteht sich nur zu leicht, daß die DDR-Literaturwissenschaftler das Unvermeidliche solange wie möglich hinausschieben. Man wird gespannt sein zu erfahren, welche Lösung die DDR-Literaturwissenschaft für dieses Problem finden wird...  

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2. Aktive Wirkung der Literaturwissenschaft auf die entstehende Literatur 54

Bei der sozialistisch-realistischen Kunst handelt es sich nicht wie beim Erbe um einen abgeschlossenen Prozeß. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels ist dargelegt worden, daß die Integration des Kunstprozesses in das gesellschaftliche System des Sozialismus die Preisgabe seiner Autonomie zur unmittelbaren Folge hat. Hieraus erwächst in den Augen der Partei eine neue Aufgabe für die Literaturwissenschaft. Sie erhält hier in einem neuen Sinne einen produktiven Charakter : in der DDR entwickelt sie sich zu einer “Leitungswissenschaft”. Die “praktische Teilnahme am Aufbauwerk des Volkes” 29 bedeutet für die Literaturwissenschaft, daß sie über die “wissenschaftliche” Interpretation der bereits geschriebenen Literatur hinaus auch zur Durchsetzung der Parteilinie im Bereich des literarischen Schaffens beizutragen hat.

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Unverständlicherweise läßt Bilke in seinem bereits erwähnten Aufsatz “Die Germanistik der DDR : Literaturwissenschaft in gesellschaftlichem Auftrag” dieses Thema völlig außer acht ; er begnügt sich damit, die Rolle der DDRLiteraturwissenschaft in bezug auf die bereits bestehende Literatur zu untersuchen. Aus zwei Gründen mindert dieses Versäumnis den Wert seiner Arbeit wesentlich. Die neue Aufgabe, die an die Literaturwissenschaft herantritt, wird von der Partei als besonders zentral erachtet. An die Bedeutung dieses an sie gestellten Auftrags für die gesellschaftliche Praxis wird die Literaturwissenschaft in regelmäßigen Abständen erinnert. Als Beispiel dafür kann der 1972 in den “Weimarer Beiträgen” erschienene Aufsatz “Zu den Aufgaben der Kultur-und Kunstwissenschaften nach dem VIII. Parteitag der SED” herangezogen werden : “Die Produktivität aller Untersuchungen der Gesetzmäßigkeiten und Triebkräfte unserer Literaturgesellschaft ist nur vom Ergebnis her, d.h. von ihrer wirklichen gesellschaftlichen Wirksamkeit zu bemessen. Im Einklang mit dem wissenschaftlichen Niveau sind von der praktischen Brauchbarkeit her die wissenschaftlichen Methoden zu prüfen, ist festzustellen, ob sie nicht nur auf Erkenntnis, sondern auch auf Veränderung der Wirklichkeit zielen. Der Einfluß auf die tatsächliche Literaturentwicklung ist dabei ebenso wichtig wie der Anteil an der Herausbildung sozialistischer Persönlichkeiten durch die Vermittlung ästhetischen Bewußtseins.”30

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Darüberhinaus versteckt sich hinter dieser Forderung der Partei an die Literaturwissenschaft die ganze Problematik der Wesensbestimmung der Kunst. Es wird sich heraussteilen, daß die Untersuchung der Rolle der Literaturwissenschaft als Leitungswissenschaft Schlüsse zuläßt in bezug auf die Frage, inwieweit sich das Phänomen Kunst in die ihm zugewiesene Definition hineinpressen läßt.

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Diese neue Aufgabe, vor die sich die Literaturwissenschaft hier gestellt sieht, mag auf den ersten Blick befremden. Eigentlich paßt sie gut in die Konzepte der Partei. Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß alles, was den gesellschaftlichen Prozeß in die gewünschte Richtung vorantreiben kann, auf das Interesse der SED stößt. In dem Maße, in dem am Ende der vierziger Jahre die Kunst immer mehr zu einer gesellschaftlichen Angelegenheit gemacht wurde, gewann die Vorstellung, die Kunstproduktion könne wie etwa die Produktion von industriellen oder landwirtschaftlichen Waren planmäßig gesteuert und gesteigert werden, immer mehr Gestalt. Dabei blieb der durchaus individuelle Charakter des Kunstschaffens völlig unberücksichtigt. In der Vorausprogrammierung des Kunstprozesses durch die Literaturwissenschaft erblickte

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die Partei bald ein geeignetes Mittel, die zwischen Kunstproduktion und Kunstkonsum sich auftuende Kluft zu schließen. 58

Im ersten Teil dieses Abschnitts wird der Frage nachgegangen, welches die theoretischen Grundpositionen der SED bezüglich dieser Aufgabe der Literaturwissenschaft sind. Anschließend wird die Reaktion der Literaturwissenschaft auf die Anforderungen der Partei zu betrachten sein.   A. Aufgaben der Literaturwissenschaft in bezug auf die Leitung des Kunstprozesses

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Die Vorstellungen der Partei hinsichtlich der Rolle der Literaturwissenschaft gegenüber der entstehenden sozialistisch-realistischen Kunst lassen sich praktisch nur in den Fachzeitschriftenaufsätzen finden, die sich mit der Auswertung der Beschlüsse der Parteitage befassen. Sehr Aufschlußreich ist auch in dieser Hinsicht eine 1955 vom Parteifunktionär Alfred Kurella gehaltene Rede anläßlich der Eröffnung des “Instituts für Literatur” in Leipzig31.   a. Die Literaturwissenschaft als Vermittlerin zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und Kunst

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Genauso wie die Literaturwissenschaft zwischen Kunst und gesellschaftlicher Wirklichkeit zu vermitteln hat, in dem Sinne, daß sie durch ‘‘geeignete” Interpretation die literarische Produktion der Leserschaft näherzubringen hat, genauso obliegt es ihr, umgekehrt sich zwischen gesellschaftliche Wirklichkeit und Kunst einzuschalten. Um ihren gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen, muß die sozialistisch-realistische Kunst die Wirklichkeit objektiv abbilden. Der Literaturwissenschaft fällt die Aufgabe zu, den Künstlern den Zugang zur Realität zu erleichtern, um ihnen somit deren künstlerische Eroberung zu ermöglichen. Im bereits erwähnten Artikel “Zu den Aufgaben der Kulturund Kunstwissenschaften nach dem VIII. Parteitag der SED” äußert sich die Redaktion der “Weimarer Beiträge” hierzu folgendermaßen : “Um produktiven Einfluß auf die Kunstentwicklung nehmen zu können, muß sie [die Literaturwissenschaft] bei der kunstspezifischen Aufbereitung der wirklichen gesellschaftlichen, kollektiven, individuellen Triebkräfte, Konflikte usw. unserer Gesellschaft beginnen. Durch eigene und mit den Schriftstellern gemeinsam erworbene Erkenntnis der gesellschaftlichen Praxis sind die gesellschaftlichen Probleme in ihrer poetischen Relevanz zu erschließen.”32

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Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, hat die Literaturwissenschaft die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrem Werden zu erschließen : sie soll die Kunstbedürfnisse der Arbeiterklasse aufspüren und an die Künstler herantragen. Somit kann sie nach Ansicht der Partei der sozialistisch-realistischen Kunst zu höchster Effektivität verhelfen. Immer wieder wird an die Literaturwissenschaftler appelliert, diesen Weisungen der Partei mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Ein Beispiel hierfür liefert der eben erwähnte Beitrag :

 

“Die Ermittlung und Vermittlung wirklich ästhetischer Bedürfnisse kann nicht mehr zum Spezialgebiet einiger weniger Wissenschaftler bleiben, sondern muß zum Bestandteil unseres gesamten Wissenschaftsbereiches werden.” 33

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b. Wissenschaftliche Voraussagen über die Entwicklung des Kunstprozesses 62

Die Aufdeckung der Gesetzmäßigkeiten des Kunstprozesses und die damit verbundene Bereicherung der Theorie des sozialistischen Realismus dient nach offiziellen Ansichten zuerst einmal zur Formung sozialistischer Persönlichkeiten durch Vertiefung ihres Geschichtsbewußtseins. Sie kann aber auch auf eine andere Weise in Beziehung zur Gegenwart gesetzt werden : sie bildet die Grundlage zur prognostischen Tätigkeit seitens der Literaturwissenschaft 34. Alle Errungenschaften des literarischen Erbes und der sozialistisch-realistischen Literatur können somit aufs neue produktiv gemacht werden. Aus den gewonnenen Erkenntnissen lassen sich für die Entwicklung des Kunstprozesses Folgerungen ziehen, die dessen optimale Ausnutzung für die Sache der Revolution ermöglichen sollen.   c. Produktiver Einfluß der Literaturwissenschaft auf den eigentlichen Schaffensprozeß

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Die Einflußnahme der Literaturwissenschaft auf den Kunstprozeß geht nach Ansicht der Partei noch viel weiter als bisher ausgeführt. Sie ist auch dazu aufgerufen, darüber hinaus in die Sphäre des eigentlichen künstlerischen Schaffens einzudringen. Obwohl in der DDR-Kunsttheorie der schöpferischen Freiheit des Künstlers ohnedies ein nur sehr enger Spielraum zugestanden wird, darf auch dieser nach offiziellen Vorstellungen vom Einfluß der Literaturwissenschaft nicht verschont bleiben.

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Mit der Eröffnung des “Instituts für Literatur" in Leipzig versuchte die Partei 1955 ihre Ansichten in die Tat umzusetzen. Es ist für diese Arbeit sehr aufschlußreich, die Eröffnungsrede von Alfred Kurella detailliert zu analysieren, denn sie reflektiert ziemlich genau, wie das Kunstschaffen von der Partei verstanden wird.

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In seiner Rede ist Kurella bestrebt, die Eröffnung dieser “Lehrund Studienanstalt zur Fortbildung des schriftstellerischen Nach Wuchses” zu rechtfertigen. Dazu führt er zuerst einmal folgendes — im Grunde wenig stichhaltiges — Argument an : “Wir nehmen es als völlig selbstverständlich hin, daß Maler und Bildhauer Kunstschulen und Akademien absolvieren, daß Komponisten das Konservatorium besuchen und Architekten lange Jahre an Bauhochschulen studieren. Bei all diesen Künsten nehmen wir eine ‘Lehre’ nicht nur als selbstverständlich, sondern als notwendig hin. Nur beim Schriftsteller, beim Dichter machen wir eine Ausnahme. Sucht man zu ergründen, worauf die Ausnahmestellung beruht, die man dem Schriftsteller damit einräumt, so bekommt man meist ein sehr einfaches Argument zu hören : die Schriftstellerei, die Dichtung bediene sich der allgemeinsten, von allen Menschen natürlich gehandhabten Fähigkeiten, der Sprache, der Rede, der wörtlichen Mitteilung, der Erzählung, und da gäbe es nur verschiedene Grade der Handhabung ; diese aber seien Sache der Begabung und nicht eigentlich erlernbar. Richtig ist an dieser Auffassung zweifellos, daß die Ausdrucksmittel des Schriftstellers in viel höherem Maße als die des Malers, des Bildhauers oder Musikers dem Arsenal der alltäglichen Lebensäußerungen des Menschen entnommen sind. Aber das ist nur eine formale Feststellung. Handelt es sich hier doch um die Sprache, um jenes Ausdrucksmittel des Menschen, das untrennbar mit dem Denken und dadurch aufs engste mit allen anderen Sphären seiner Tätigkeit verbunden ist. Bei näherer Betrachtung verwandelt sich das Argument, das gegen eine ‘Lehre’ in Dingen der Literatur angeführt wird, in sein Gegenteil und man wundert sich dann, daß die Gesellschaft bisher jene Künstler, die mit ihren Kunstwerken so besonders vielfältig und nachhaltig auf alle Sphären des menschlichen Lebens einzuwirken imstande sind, in ihrer Entwicklung sich selbst

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überlassen und nicht einmal den Versuch unternommen hat, ‘Technische Hochschulen’ für diese Ingenieure der menschlichen Seelen einzurichten.” 35 66

Nachdem er dann kurz an die offizielle Kunstdefinition erinnert hat, macht er sich daran, die Begriffe “Meisterschaft” und “Talent” gegeneinander abzugrenzen. Wohl räumt er ein — wie könnte er anders —, daß “Meisterschaft” (oder “Begabung”) an sich “nicht lehrbar” ist ; er fügt aber sofort hinzu, daß “sie gefördert und entwickelt werden kann”36. Wie dies geschehen soll, dazu hat er eine Antwort parat : “Dazu gehört, daß alle anderen Seiten des begabten Menschen allseitig weitergebildet werden und daß der Künstler als ganzer Mensch sich formt und bereichert, daß er seine Kontakte mit der Wirklichkeit verbreitert und vertieft, daß er die Organe, die Sinne schult und verfeinert, mit denen er die Wirklichkeit — sei es spontan, sei es bewußt — in sich aufnimmt. Jeder große Künstler hat, soweit Zeit und Umstände es ihm erlaubten, in diesem Sinne gehandelt, hat in diesem Sinne “gelernt”. Was aber gelernt werden kann, kann auch gelehrt werden.” 37

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Doch damit nicht genug. Kurella wendet sich anschließend der Einflußnahme auf den eigentlichen künstlerischen Schaffensprozeß zu, den er symptomatischerweise eher “künstlerische Arbeit” nennen möchte38. Im Schaffen von Kunst erblickt er zwei Seiten : nach ihm setzt sich ein Kunstwerk aus Talent + Arbeit zusammen. Da er auf der einen Seite nicht umhin kann anzuerkennen, daß das Talent, das Genie, also kurzum das, was den Künstler vom Nicht-Künstler unterscheidet, eine Rolle spielt, und auf der anderen Seite hat zugeben müssen, daß das Talent “nicht lehrbar” ist, versucht er, diese Komponente des künstlerischen Schaffens aufs Äußerste zu reduzieren, während er der Komponente “Arbeit” entscheidende Bedeutung zumißt : “Alle großen Künstler haben in ihren Selbstzeugnissen immer wieder betont, wie entscheidend diese “Arbeit” für das Zustandekommen von Kunst ist, und haben in ihrem Leben und Tun mit oft schier übermenschlicher Anstrengung bewiesen, wie schwer der Künstler arbeiten muß, wenn er seiner Berufung gerecht werden will. Heute, wo ein Teil der Kritik und auch manch ein junger Künstler gar zu sehr auf das ‘Talent’ pocht, kann man gar nicht energisch genug auf den Arbeitscharakter dieser Seite des Kunstschaffens hinweisen. Maxim Gorki nannte das Talent einen Funken, der an sich noch nichts bedeutet. Erst die Arbeit schüre ihn zur Flamme, in der dann das Erz des Wirklichkeitsstoffes zu Edelmetall ausgeschmolzen wird. Wir glauben nicht, daß in dieser Etappe des künstlerischen Schaffens allein oder auch nur vornehmlich die Entscheidung über die ‘Meisterschaft’ fällt. Aber diese zweite Seite des künstlerischen Prozesses ist natürlich eminent wichtig, und sie enthält zudem eine Fülle erlernbarer Momente. Alle großen Künstler sind zu dem geworden, als was wir sie kennen, indem sie einen großen Teil ihrer Energie und ihrer Fähigkeiten auf dieses mühsame Lernen, auf diesen unendlichen Prozeß der Auseinandersetzung des Eigenen, Persönlichen, Einmaligen mit den konventionellen Elementen der Kunst, mit dem Traditionellen verwendet haben.” 39

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Schließlich zieht er das Fazit, daß die neue Schule durchaus geeignet sei, der DDR die Künstler zu geben, die sie brauche : “Hier wenden wir uns an den Künstler als Kunstschaffenden und bemühen uns um die allseitige Entwicklung seiner spezifisch formbildenden Fähigkeit. Auch hier nehmen wir Kurs auf einen Typus von Künstler, der sich unterscheidet von dem, den die dekadente Kunsttheorie vertritt. Was wir fördern, ist der künstlerisch schaffende Mensch, der sich bewußt mit der Kunst der Vergangenheit und ihren Ausdrucksmitteln auseinandersetzt, um aus ihr ein Maximum von künstlerischen Wirkungsmitteln zu gewinnen ; ein Künstler, dem es vor allem daran liegt, den künstlerischen Ausdruck in den Dienst der großen fortschrittlichen Ideen seiner Zeit zu stellen, zu denen er sich selbst emporgearbeitet hat.” 40

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Viel mehr als die wenigen in verschiedenen Zeitschriftenaufsätzen verstreuten Informationen und die in ihrer Oberflächlichkeit und Primitivität geradezu lächerlichen Ausführungen von Kurella läßt sich zur Theorie der Einflußnahme der Literaturwissenschaft auf die enstehende Litartur nicht finden. Wir wenden uns nunmehr den bisherigen Leistungen der Literaturwissenschaft auf diesem Gebiet zu.   B. Leistungen der Literaturwissenschaft

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Tut sich die Literaturwissenschaft bereits schwer, bei der Interpretation der bestehenden Literatur den Weisungen der Partei zu folgen, so stößt die neue an sie gestellte Forderung auf noch mehr Widerstand. Trotz aller Ermahnungen der SED hat die Literaturwissenschaft in dieser Hinsicht eine eindeutig negative Haltung an den Tag gelegt : diese an sie herantretende Aufgabe hat sie bis zum Ende der sechziger Jahre einfach aus ihrem Forschungsbereich ausgeklammert. Sie hat weder auf den Kunstprozeß eingewirkt noch die Grundpositionen der Partei mit theoretischem Material bereichert.

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1968 nimmt sich eine Literaturwissenschaftlerin des Themas einigermaßen eingehend an. In einem Beitrag widmet Hannelore Kuhnt dieser Aufgabe der Literaturwissenschaft einige Seiten41. Nach durchaus orthodoxen Überlegungen — bereits der Titel zeigt, in welchen Gewässern sie sich bewegt —, die beweisen, daß sie in Sachen Kulturpolitik mit dem Regime an einem Strang zieht, erweist sie sich als echte Literaturwissenschaftlerin, indem sie versucht, die Kunst vor “fremden” Einflüssen zu retten. Sie äußert ein paar Gedanken zum Thema der Leitung des Kunstprozesses, die sich schwerlich anders verstehen lassen als eine — allerdings sehr vorsichtig formulierte — Reaktion gegen die Neigung der Partei, die Kunstproduktion wie die Herstellung anderer Konsumgüter zu betrachten. Dabei distanziert sie sich implizite von Kurellas Auffassungen : “Kunstproduktion ist ihrem Wesen nach eine höchst arbeitsteilige, komplizierte und individuelle Produktion, bei der die Subjektivität des Produzenten unvergleichlich hohe Bedeutung hat. Ähnlich verhält es sich auch mit der künstlerischen Rezeption, die in erster Linie intellektuelle, emotionale, volitive und eine ganze Skala von sozialen Verhaltensweisen des Individuums auslöst, vor allem aber dazu anregt, Erfahrungen bewußt werden zu lassen und Überzeugungen herauszubilden. Die Unterschiede der Menschen in Bildung, Verstand, Gefühl und Verhalten, also ihre Individualität, haben in keinem anderen Produktions-und Reproduktionsprozess so große Bedeutung wie im Bereich von Kunst und Literatur. Dieser Umstand erschwert eine lineare und streng kausale Planung kultureller Prozesse oder macht eine Planung in diesem beschränkten Sinne unmöglich.” 42

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Sie möchte den Einfluß der Literaturwissenschaft auf bestimmte Aspekte des Kunstschaffens reduziert sehen : “Anders indessen verhält es sich mit der Prognose, Perspektivgestaltung und Planbarkeit des kulturellen Klimas, der musischen Atmosphäre im gesamtstaatlichen Bereich.”43

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Etwas weiter präzisiert sie diesen Gedanken : “Planbar im kulturellen Bereich und der berechenbaren Perspektivgestaltung unterworfen ist die Gesamtheit der Invariablen — also die Gesamtheit der politischen und sozialen Bedingungen und ihrer künstlerisch-kulturellen Substanz, deren Variable und deren Funktion eine in Qualität und Quantität nicht genau zu bestimmende Vielzahl kultureller Leistungen sein wird.” 44

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Die Diskussion um diese Aufgabe nimmt die Literaturwissenschaft eigentlich erst nach dem VIII. Parteitag in Angriff. Nachdem jahrelang die ununterbrochenen Aufforderungen der SED bei ihr nur äußerst geringe Resonanz gefunden hatten, tritt sie plötzlich aus ihrem Schweigen heraus. Zwischen Dezember 1971 und Dezember 1972 finden sich in den “Weimarer Beiträgen" sieben Aufsätze zu diesem Thema. Warum die DDR-Literaturwissenschaft so lange gewartet hat, ist sicherlich auf die Angst zurückzuführen, sich durch kritische Stellungnahme zu dieser ihr von den Parteiideologen bis 1971 in völliger Unkenntnis der Eigengesetzlichkeit der Kunst auferlegten Aufgabe das Mißfallen der SED zuzuziehen.

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Anlaß zur Diskussion war eine von der Redaktion der “Weimader Beiträge” an die DDRSchriftsteller gerichtete Meinungsumfrage über ihr Verhältnis zur Literaturwissenschaft : “Es wurde erfragt, ob sie sich der Tradition verpflichtet fühlen und welcher, und wie ihre Beziehung zur Literatur der Vergangenheit aussieht. Außerdem erfragten wir, inwieweit die Literaturwissenschaft ihnen den Zugang zur Literatur erleichtert hat.”45

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Aus den Antworten von zwölf der befragten Schriftsteller geht deutlich hervor, wie es um die von der Partei geforderte Zusammenarbeit von Literaturwissenschaftlern und Künstlern in Wirklichkeit bestellt ist.

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Die überwiegende Mehrheit der Schriftsteller legt eine sehr negative Einstellung zu den Leistungen der Literaturwissenschaft an den Tag. Wohl fühlen sich manche von ihnen der Literaturwissenschaft verpflichtet, was ihre Beziehung zur literarischen Tradition anbelangt. So äußert sich Günter De Bruyn folgendermaßen : “Erleichtert hat mir die Literaturwissenschaft den Zugang zu literarischen Werken der Vergangenheit selbstverständlich, und zwar um so mehr, je weniger abstrakt, je mehr historisch konkret, detailgeladen vorgegangen wurde.”46

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Auch Paul Wiens vertritt eine ähnliche Meinung : “Literaturgeschichten haben mir den Zugang zu literarischen Werken der Vergangenheit erleichtert. Es gibt viele Dinge, die ich nicht weiß. Wenn ich z.B. etwas über japanische Literatur oder über Mörike erfahren will, schlage ich in einschlägigen Arbeiten nach.”47

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Auf die zweite Frage aber antworten alle mit einem klaren — wenn auch manchmal nuancierten — Nein. Besonders interessant ist die Reaktion von Stephan Hermlin. Der Dichter nimmt die Gelegenheit wahr, um seine Bewunderung für den verpönten Lukács und seinen Unmut über manche Literaturwissenschaftler zu äußern : “Eine direkte Antwort möchte ich auf die Frage geben, ob die Literaturwissenschaft (Brecht sagte mir einmal : ‘Gibt es das eigentlich ? ’) mir den Zugang zur Literatur erleichterte. Obwohl ich gern mit ‘Nein’ antworten würde, wäre das doch nicht gerecht. Aber einzelne literaturwissenschaftliche Arbeiten haben mir in manchen Punkten für mich wichtige Aufschlüsse gebracht. Ich benutze ständig alle möglichen Literaturgeschichten, nicht um ihre oft beschränkten Urteile zu übernehmen, sondern weil sie Material enthalten, das man nicht immer im Kopf haben kann. Bestimmte Theoretiker habe ich von früh an gelesen, mit Staunen und zugleich durchaus skeptisch — ich meine vor allem Georg Lukács, diesen außerordentlichen Denker, der mich ständig in Verwunderung setzte durch seine amusische Schlüssigkeit, seine Fähigkeit, wirklichkeitsfremde Kategorien und Hierarchien zu entwickeln, wobei ihm aber im einzelnen sehr feine Analysen gelangen, wie etwa im Falle Thomas Manns. Es ist eigentlich überflüssig zu bemerken, daß Lukács mitsamt seinen Fehlern turmhoch über gewissen Epigonen

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steht, die, freilich unter ängstlicher Ausklammerung seines Namens, seine Erkenntnisse und Irrtümer lediglich zu plagiieren vermögen.” 48 80

Am radikalsten äußern sich Otto Gotsche und Siegfried Pitschmann : “Die Literaturwissenschaft hat im Grunde in keiner Weise geholfen, meine Entwicklung zu fördern. Die einzige Einwirkung, an die ich mich erinnere, hatte Franz Mehring, Seine Aufsätze über Naturalismus und seine ‘Ästhetischen Streifzüge’ waren eine Fundgrube für Arbeiterkorrespondenten, aus denen schreibende Arbeiter wurden. Was er über Gerhart Hauptmanns ‘Weber’ und ‘Fuhrmann Henschel’ sagte, was er über Ibsen und Raabe schrieb, war Anleitung und Tat. Er hat dazu beigetragen, einige Grundfragen lösen zu helfen.” 49 “Die Literaturwissenschaft hat mir den Zugang zur Literatur nie erleichtert.” 50

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Es fragt sich, was die Redaktion der “Weimarer Beiträge” dazu bewogen hat, sich mit solchen Fragen an die DDR-Schriftsteller zu wenden und die Antworten von zwölf unter ihnen in extenso zu veröffentlichen.

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Kaum vorstellbar ist, daß sie sich dazu über die herrschende Situation Klarheit verschaffen wollte. An dem Ergebnis war nicht zu zweifeln : sie wußte nur zu genau, wie total der Mißerfolg der Literaturwissenschaft in dieser Hinsicht war.

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Andere Gründe müssen also den Ausschlag gegeben haben. Zwei Hypothesen lassen sich aufstellen.

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Denkbar ist, daß die Redaktion der Zeitschrift dadurch erneut den Literaturwissenschaftlern vor Augen hat führen wollen, wie unzulänglich ihre Leistungen sind. Anstatt diese ständig abzukanzeln — was sich als besonders erfolglos erwiesen hat —, hätte sie in der direkten Konfrontation der Literaturwissenschaftler mit ihrer Arbeit ein anderes Mittel erblickt, um deren Anteilnahme an der Leitung des Kunstprozesses endlich in Gang zu bringen.

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Wahrscheinlicher ist aber, daß diese Rundfrage als eine — sehr vorsichtig getarnte — Auflehnung gegen die Forderungen der Partei zu interpretieren ist. Die Redaktion der “Weimarer Beiträge” war sich nur zu bewußt, daß die Weisungen der SED der Besonderheit der Kunst keine Rechnung tragen. Was sie dadurch vermutlich hat bewirken wollen, ist, der Erkenntnis zum Durchbruch zu verhelfen, daß der bis dahin von der Partei beschrittene Weg korrekturbedürftig ist. Wohl hat sie das Ziel der literaturwissenschaftlichen Forschung — die Effektivität für die gesellschaftliche Praxis — nicht in Frage stellen wollen ; dies bleibt nach wie vor undenkbar. Sie hat aber insofern versucht, eine Reform einzuleiten, als sie sich durch Meinungsumfrage erhofft hat, über die Mittel, die zu den von der SED gesteckten Zielen führen, selber entscheiden zu können.

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Für diese Hypothese spricht zweierlei : das Datum der Veröffentlichung der Umfrage und die Art und Weise, wie die Literaturwissenschaftler auf diese “Provokation” 51 für die Literaturwissenschaft reagiert haben.

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Die Umfrage ist im letzten Heft 1971 der “Weimarer Beiträge” erschienen. Der Beitrag “Zu den Aufgaben der Kultur-und Kunstwissenschaften nach dem VIII. Parteitag der SED” stand im nächsten Heft. Die Redaktion der Zeitschrift wußte genau, daß die Partei ihre Forderungen bezüglich der Leitung des Kunstprozesses nicht geändert hatte. Es ist vielleicht nicht abwegig anzunehmen, daß Anneliese Große und ihre Mitarbeiter der Auswertung der Beschlüsse des Parteitages haben vorgreifen wollen, um diese insofern zu relativieren, als deren Unbrauchbarkeit von vornherein unterstrichen wurde. Darüberhinaus war sich die Redaktion der “Weimarer Beiträge” darüber im klaren, daß

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die Veröffentlichung der Umfrage bei den klardenkenden Literaturwissenschaftlern Reaktionen hervorrufen würde. Sie wußte, wie ihnen in dieser Hinsicht zumute war und daß viele von ihnen es nicht versäumen würden, die neugewonnene Freiheit auszunutzen, um sich mit ihren Kommentaren von den Wunschvorstellungen der Partei zu distanzieren. Die Umfrage hat die Redaktion der “Weimarer Beiträge” womöglich als Stimulus betrachtet, um die Literaturwissenschaftler dazu zu bringen, ihre — wirkliche — Meinung zum Problem beizusteuern und somit endlich die als Ballast empfundenen unangemessenen Forderungen der Partei über Bord zu werfen. 88

Wie dem auch sei, eines ist nicht von der Hand zu weisen : die Zeitschrift “Weimarer Beiträge” läßt sich nicht mehr zum Sprachrohr der Partei degradieren. Sie hat einen großen Schritt nach vorne getan, indem sie in einer Zeit, wo in der DDR die Freizügigkeit der Meinungen noch lange keine Selbstverständlichkeit ist, die Beiträge von Literaturwissenschaftlern, die sich nicht gerade durch bedingungslose Identifikation mit den offiziellen Kunstauffassungen auszeichnen, abgedruckt hat. Die Stellungnahmen der “provozierten” Literaturwissenschaftler zeigen eine Offenheit, die nicht wenig überrascht.

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Der im fünften Heft 1972 veröffentlichte Kommentar von Hans Joachim Bernhard bringt an sich nichts Neues zur Problematik. In der Darlegung seines Standpunktes erweist sich Bernhard als ein der Partei treuergebener Literaturwissenschaftler. Nachdem er den Wert der Antworten mancher Schriftsteller relativiert hat, zieht er aus der Umfrage Folgerungen für die Literaturwissenschaft, die in keiner Weise von den längst bekannten und ständig wiederholten Ermahnungen der Partei abweichen : “Wir als Literaturwissenschaftler müssen uns fragen : Kennst du die Probleme des Autors, der Epoche, des Genres gründlich genug, um mit einem begründeten Urteil wirklich Hilfe geben zu können ? (Hier soll freilich auch kein Absolutheitsanspruch aufgestellt werden, der aus Sorge um das noch zu Erfassende ein tätiges Eingreifen in den Literaturprozeß letztlich verhindert.) Ist da Achtung am Werk vor der schöpferischen Leistung des Künstlers, oder drückt sich in einer gewissen Oberflächlichkeit nicht eine Partnerschaft immer gefährdende Überheblichkeit aus ? Sicher wird kaum ein Literaturwissenschaftler der Meinung sein, daß es da bei ihm nichts einzusehen und zu ändern gäbe. Jeder wird am besten bei sich anfangen. Ich weiß, wie oft ich selbst zurückgeblieben bin hinter jenen sehr treffenden Anforderungen an die Kritik, die Arnold Zweig einmal in einem Frühwerk so formulierte : ‘Kritik, die Bestand hat, ist Frucht von Liebe ; kenntlich als Liebe durch ihre flammende Gründlichkeit und dadurch, daß nie ein Verdikt gesprochen wird, ohne daß in Ton, Gebärde oder Inhalt auch die Segnungen der Umkehr und die mögliche und erreichbare Glorie gegeben wird.’ Hier geht es um die Liebe, die Leidenschaft in den Beziehungen zum Gegenstand der Kritik, der Forschung, die nicht ein verquastes Auch-Interesse an der Kunst und Literatur meinen, sondern Sachlichkeit, Gerechtigkeit, Ausdauer und Einfühlungsvermögen, in denen sich die Tiefe der Beziehung zur Literatur bewährt. Die Gründlichkeit, in der sie sich äußert, ist Voraussetzung jener Qualität, auf die Kritik nie verzichten kann und darf : Wege vorzuschlagen, Varianten herauszustellen, anscheinend falsche Schritte in ihrem Wesen und ihren Folgen zu erklären.”52

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Auch der letzte Satz seines Beitrages geht in die gleiche Richtung : “Eine nächste Umfrage in den ‘Weimarer Beiträgen’ darf hierzu nicht mehr ein so niederschmetterndes Ergebnis bringen, wenn wir den Anforderungen bei der Entwicklung der sozialistischen Nationalliteratur und den Aufgabenstellungen des VIII. Parteitags gerecht werden wollen. Sie wird es nicht, wenn wir ihn und unsere Aufgaben richtig verstehen.”53

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Interessanter ist die Stellungnahme der Chefredakteurin der “Weimarer Beiträge”. Nach einer kurzen Bestandsaufnahme der Leistungen der Literaturwissenschaft kommt sie auf das hier behandelte Problem zu sprechen. Dabei distanziert sie sich deutlich von den Forderungen der Partei. Ihre Ausführungen erinnern an die von Hannelore Kuhnt : “In unserer weiteren Arbeit ist ein Zustand anzustreben, in dem uns der Künstler als Partner in dem vorhandenen Streben nach größerer geistiger Kollektivität schätzt. Der Einfluß auf das Kunstgeschehen wird aber dennoch in der Regel nur selten direkt und unmittelbar wirken, sondern letztlich vor allem durch das gesamte geistig-schöpferische Klima der gesamtgesellschaftlichen Diskussion um Kunstfragen, das durch Wissenschaft und Kritik ganz wesentlich mitbestimmt werden kann. Kritiken der Künstler als wirklich produktive Herausforderung zu verstehen, wird einem marxistisch denkenden und handelnden Wissenschaftler einzig angemessen sein. In der Debatte darüber wurde bedacht, noch vorhandene Oberflächlichkeit, mangelnde ideologische und ästhetische Begründung für Lob oder Tadel, schematische Einschachtelung usw. zu überwinden und eine Sprache zu finden, die persönliches Engagement mit objektiver Wertung verbindet. Feinfühligkeit ohne jeden Abstrich an Prinzipienfestigkeit sind bereits in der Ausbildung zu erproben. Hervorgehoben wurde immer wieder, die ganze Problematik des Kunstschöpferischen und der Kunstwirkung stärker als bisher in die Forschungsarbeit einzubeziehen. Letztlich geht es immer wieder darum, nicht nur anregende Partner einer schöpferischen Diskussion über Fragen der Kunst zu werden, sondern wirkliche Gemeinsamkeit in der Diskussion über die Wirklichkeit selbst zu erreichen, die in der Kunst angeeignet, gestaltet und gewertet wird.” 54

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In seinem Beitrag “Literaturwissenschaft – Volksbildung - Schriftsteller” geht Hans Richter energisch gegen die der Literaturwissenschaft von der SED auferlegten Aufgaben an. Obwohl seine Überlegungen sich hauptsächlich auf die an den Hochschulen tätigen Literaturwissenschaftler beziehen, sind sie für die Wandlung der DDR-Literaturwissenschaft typisch. Seine Grundthese läßt sich folgendermaßen resümieren : die Literaturwissenschaft hat für die gesellschaftliche Praxis eine wichtige Rolle zu spielen ; sie kann es aber nicht in erster Linie als Leitungswissenschaft, sondern durch Bewußtseinsbildung. Um seinen Argumenten mehr Gewicht zu geben, stellt Richter seinen Ausführungen einen Auszug aus Bechers “Das poetische Prinzip” voraus : “Es muß noch einmal... darauf hingewiesen werden, daß der Kritiker weder die Hebamme noch die Amme des Schriftstellers ist. Die Kritik ist eine durchaus selbständige Literaturgattung und wendet sich ebenso wie der Schriftsteller zunächst und vor allem an das Publikum. Ebensowenig wie der Schriftsteller für den Schriftsteller oder für den Kritiker schreibt, ebensowenig schreibt der Literaturkritiker für den Literaturkritiker oder für den Schriftsteller. Literaturkritik ist zunächst und vor allem dazu da, dem Leser zu helfen, seinen Geschmack zu bilden, und ihn zu einem Literaturliebhaber, zu einem Literaturkenner zu erziehen... Selbstredend kann, wenn er will, der Schriftsteller vom Kritiker lernen (und umgekehrt), aber er soll immer wieder sich im klaren sein darüber, daß der Kritiker zunächst und vor allem das Interesse der Leser zu vertreten hat und das Interesse des Schriftstellers nur insofern, als er durch Erziehung des Leserpublikums dessen literarische Ansprüche steigert : so hilft er dem Schriftsteller, indem er dem wahren Interesse der Literatur dient.” 55

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Dann wertet er eine Diskussion der Literaturwissenschaftler der Universität Jena über die Aufgaben ihres Faches aus. Obwohl diese Diskussion noch nicht abgeschlossen sei, gehe klar aus ihr hervor, daß “die an einer lehrerbildenden Einrichtung tätigen Literaturwissenschaftler ihren ersten Adressaten und Partner nicht im Schriftsteller

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suchen können”. Die Aufgabe der Literaturwissenschaft in dieser Hinsicht legt er wie folgt dar : “Hauptproblem der literaturwissenschaftlichen Ausbildung unserer Deutschlehrer ist gegenwärtig und auf lange Sicht : der schwierige und nicht immer aussichtsreiche Kampf darum, daß der Student genügend und gründlich liest, daß er sich ein richtig konzipiertes und fundiertes Literaturgeschichtsbild (Zentrum : die sozialistische Gegenwartsliteratur) erarbeitet ; daß er zu einem Unterricht befähigt wird, der gesellschaftlich fruchtbares Lesen guter Literatur lehrt und anerzieht, indem er der Dialektik von Historizität und Aktualität der Literatur wirklich gerecht wird und Dichtung auf dieser Grundlage zum bildenden, notwendigen Erlebnis werden läßt.”56 94

Wenn er zwischen Literaturwissenschaftlern und Schriftstellern eine Zusammenarbeit für wünschenswert hält, so auch deshalb, weil für ihn diese Frage “für den mit der Deutschlehrerausbildung Beschäftigten einen unmittelbar praktischen wichtigen Aspekt”57 hat. Er definiert dann, was er selber unter dem von der Partei geforderten Dialog zwischen Literaturwissenschaftlern und Schriftstellern versteht : “Der gewünschte Einfluß auf das entstehende Werk dürfte also keinesfalls als einseitig belehrende Wirkung des Theoretikers auf den Praktiker gemeint werden. Wünschenswert und fruchtbar allein ist ein echtes Zusammenwirken. Und der beste ‘Einfluß’ des Literaturwissenschaftlers auf den Schriftsteller könnte sich darin erweisen, daß es ihm gelingt, diesen zur ausdrücklichen theoretischen Reflexion seiner Schaffensprobleme herauszufordern und ihm dabei durch Zuspruch und Widerspruch zu helfen. Die Debatte über das entstehende Werk kann fördern, sie kann aber auch sehr leicht hemmen. Die kontinuierliche Diskussion über die ‘Schriftstellerästhetik’ dürfte das gesamte Schaffen — nicht bloß das gerade ‘entstehende’ Werk — auf eine oft indirekte, gelegentlich auch auf eine direkte Weise befruchten. Für die Arbeit an einem neuen Buch wird die erneute Debatte über ein schon abgeschlossenes Werk unter Umständen fruchtbarer als das analytische Eindringen in den gerade laufenden Schaffensprozeß. Im anderen Falle mag das rigorose Infragestellen eines begonnenen Unternehmens eine äußerst fruchtbare Krise einleiten.”58

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Noch besser als Richters Beitrag zeigt Günter Hartungs Stellungnahme, wie sehr sich die DDR-Literaturwissenschaft gegenwärtig bemüht, sich trotz der Einmischung der Partei in ihre Angelegenheiten als echte Wissenschaft von der Literatur zu bewähren. Hartung schlägt im Grunde in die gleiche Kerbe wie Richter. Er stellt die Rolle der Literaturwissenschaft als Leitungswissenschaft in Frage. Er geht aber insofern weiter als Richter, als er das Obel an der Wurzel packt : er redet mutig der Notwendigkeit das Wort zu, die Definition des Begriffes “Kunst” neu zu überdenken. Was ihn vor allem stört, ist der in der offiziellen Kunsttheorie oft verwandte Ausdruck “relative Eigengesetzlichkeit der Kunst”, den er als Verlegenheitsformulierung entlarvt : “Ich halte es [aber] für notwendig, daß die ‘relative Eigengesetzlichkeit’ der Literatur, von der so viel die Rede ist, ein wenig genauer bestimmt wird. (Im Jargon der Literaturgeschichte heißt sie gern ‘der Literaturprozeß’, welches Wort fatal an einen Prozeß gemahnt, der der Literatur gemacht wird ; gern macht man mit ihr kurzen Prozeß.)”59

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Die Vorwürfe, die er am Schluß seiner Oberlegungen gegen die Literaturwissenschaft erhebt, sind im Grunde nichts anderes als ein Aufruf an die Literaturwissenschaft, ihre eigene Führung selbst in die Hände zu nehmen : “Unsere Zunft ist vor diese Aufgabe [der Einflußnahme auf den Kunstprozeß] gestellt worden, als sie weder von der Anzahl noch der Schulung ihrer Kader her für sie gerüstet war ; wir haben es auch nicht verstanden, die zu Anfang versäumte

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Prinzipien-und Verfahrensdiskussion während und mit der Arbeit zu entfalten ; sie hat sich nur zögernd entwickelt, gehemmt durch verdeckte Richtungskämpfe. Die praktische Bedeutung und das Ansehen der germanistischen Literaturwissenschaft unserer Republik wird aber davon abhängen, wie weit sie zu einer selbstkritischen Analyse und zu praktischen Schlußfolgerungen kommen wird, die sich in ihren neuen Arbeiten niederschlagen.”60

III. - Konkretes Beispiel : Rezeption von Christa Wolfs Roman “Nachdenken über Christa T.” 97

Die Art und Weise, wie die DDR-Literaturwissenschaftler neu entstandene Werke beurteilen, enthüllt nicht selten ein hohes Maß an Unsicherheit. Je nachdem, ob sie die DDR-Literatur nur anhand des eng aufgefaßten Realismus-Kriteriums bewerten und in ihr demgemäß praktisch nur ideologische Nahrung für das “Volk” erblicken oder ob sie sich um eine weniger einseitige Interpretation bemühen, kommen sie zu verschiedenen Ergebnissen. Bemerkenswert ist, daß die Unterschiede in der Regel um so größer sind, je geschätzter die Schriftsteller beim westdeutschen Leserpublikum sind 61. In den meisten Fällen geht es um Autoren, deren politisches Engagement für den Sozialismus nicht bezweifelt werden kann. Der “Fall Plenzdorf”, über den in diesem Kapitel bereits berichtet wurde, zeigt schon die Meinungsverschiedenheiten über die Anwendung der Prinzipien des sozialistischen Realismus auf literarische Werke. Viele andere Namen könnten hier als Beispiel stehen, wie etwa der 1955 von der BRD in die DDR übergesiedelte Dramaturg Peter Hacks62, der 1971 in den Westen gekommene Lyriker Peter Huchel63 oder auch — und sicherlich nicht zuletzt — der Theaterschriftsteller und Bühnenregisseur Bertolt Brecht selbst, zumindest was seine literarische Produktion nach der Übersiedlung in die DDR anbelangt64.

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Das beste Beispiel liefert jedoch vielleicht die DDR-Rezeption von Christa Wolfs Roman “Nachdenken über Christa T.”. Christa Wolf, die zweifelsohne zu den talentiertesten DDR-Autoren gehört, hat immer aktiv am politischen und “ideologischen” Leben des DDR-Staates teilgenommen. Nach dem Studium der Germanistik war sie u.a. 1953 bis 1959 wissenschaftliche Mitarbeiterin des DDR-Schriftstellerverbandes, Redakteurin der Zeitschrift “Neue deutsche Literatur” und Cheflektorin des Jugendbuchverlags “Neues Leben”. Von 1959 bis 1962 arbeitete sie in Halle als Lektorin des Mitteldeutschen Verlages. Auch stand sie einmal auf der Liste der Kandidaten für das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, wurde allerdings nie gewählt 65. In der BRD haben ihre Werke hohe Auflagen erlebt. Auch im östlichen Teil Deutschlands wird sie besonders gern gelesen. Ihre 1963 erschienene Erzählung “Der geteilte Himmel” — die ihr übrigens schon seitens mancher DDR-Kritiker heftige Vorwürfe eingetragen hat66 — wurde kaum nach ihrer Veröffentlichung zum Bestseller : im Mitteldeutschen Verlag wurde sie in 300.000 Exemplaren gedruckt. Auch wurde die Erzählung 1964 von der DDR-Filmgesellschaft DEFA erfolgreich verfilmt.

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Ob Christa Wolf mit ihrem Roman “Nachdenken über Christa T.” einen ähnlichen Erfolg beim DDR-Leserpublikum gehabt hätte, läßt sich allerdings nicht sagen. Dieses Werk, von dem die Autorin eine erste Fassung bereits 1965 vorgelegt haben soll 67, erschien schließlich Anfang 1969 im Mitteldeutschen Verlag in einer besonders niedrigen Auflage — deren Höhe läßt sich nicht ermitteln ; die Schätzungen schwanken zwischen 500 und 4000 — . Die wenigen Exemplare, die in Buchhandlungen gelangten, wurden

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bald aus dem Verkehr gezogen. Bis vor kurzem blieb den DDR-Deutschen das Recht vorenthalten, den Roman zu kaufen68. 100

“Nachdenken über Christa T.” zeigt deutlich, daß für Christa Wolf — trotz ihrer politischen Überzeugungen — das Schreiben eine viel zu anspruchsvolle Aufgabe ist, als daß sie ihre Arbeit als Schriftstellerin nur an den Zielen der Partei unter Ausschaltung ihrer eigenen Auffassung der Literatur ausrichten würde.

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Der Roman bietet an und für sich kein Modell sozialistischen Lebens. Christa T., die Hauptfigur, stellt nicht gerade den Typus des positiven Helden dar, wie ihn die Theorie des sozialistischen Realismus sieht. Sie bejaht zwar den Sozialismus ; sie läßt keinen Zweifel daran, daß die neue Gesellschaftsform, die in der DDR entsteht, für sie die einzige wahrhaft humanistische ist. Wenn aber ihr Verhältnis zur DDR positiv ist, so ist es alles andere als aktiv. Die dialektischen Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft hat Christa Wolf nicht in den Vordergrund des Konflikts gerückt. Der Hauptheldin kommt es nicht in erster Linie darauf an, der Arbeiterklasse zur Verwirklichung ihrer “historischen Mission” zu verhelfen. Sie isoliert sich vielmehr von der Gesellschaft, zieht sich in ihre Innenwelt zurück und versucht auf diese Weise “zu sich selbst zu kommen”69. Aber dies gelingt ihr nicht. Auch das Ende des Romans mildert die pessimistische Grundstimmung nicht : Christa T. stirbt an Leukämie.

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Die Reaktion der Kritik auf den Roman ließ nicht auf sich warten. Anfang 1969 — kurz nachdem die Zensur ihr strenges Urteil gefällt hatte — erschienen zuerst einmal zwei Besprechungen, die erste in “Sinn und Form” von Hermann Kähler unter dem Titel “Christa Wolfs Elegie”70, die zweite in "Neue deutsche Literatur” von Horst Haase unter dem Titel “Nachdenken über ein Buch”71. Dies ist an sich ein Paradoxon, wenn man bedenkt, daß der Roman nicht verkauft werden durfte und daß eine Rezension u.a. dazu dient, ein Buch anzuzeigen.

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Beide Kritiker bemühen sich um eine sachliche Beurteilung des Romans, den sie in erster Linie als Kunstwerk betrachten. Sie gehen nicht von einer rein didaktischen Auffassung der Literatur aus und verwahren sich gegen eine allzu dogmatische Verwendung der Prinzipien des sozialistischen Realismus. Sie sind bestrebt, dem Roman gerecht zu werden, indem sie nicht einseitig bei ideologischen Überlegungen verweilen, sondern auch andere Bewertungselemente in Betracht ziehen, wie etwa die Struktur, die Erzählmittel und die Erzählperspektive. Wohl erheben beide — z.T. schwerwiegende — Einwände gegen Christa Wolf, — Haase stört vor allem die Haltung der Hauptheldin zur Wissenschaft : “Weil der Sozialismus in dieser Welt existiert, können Moral und Wissenschaft am gleichen Strang ziehen, müssen sie es ! Nur unter diesen Bedingungen kann heute humanes Denken und Tun zur Geltung gelangen. Es gibt durchaus keinen Grund, Wissenschaft und Technik zugunsten edlen moralischen Empfindens so links liegen zu lassen und mit herablassender Verachtung zu behandeln, wie es hier geschieht.” 72 —,

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ihre Rezension enthält aber noch lange nicht nur negative Kritik. Diese wird durch die Hervorhebung der Qualitäten des Romans mehr als ausgeglichen. Haase kommt sogar zu folgender Schlußfolgerung : ‘‘Dieses heitere und sichere Bekenntnis zu unserer Zeit nach all den Konflikten und Gefährdungen macht uns diese Gestalt, dieses Buch wertvoll. Deshalb brauchen wir diese Christa T., brauchen wir sie jetzt, wie die Erzählerin formuliert, weil humanistisches Verantwortungs-bewußtsein gegenüber der Gesellschaft und vor sich selbst, moralische Entschiedenheit im Denken und Tun und die differenzierte

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Empfindung der schöpferischen Subjektivität des Menschen immer stärker zur Bedingung unserer sozialistischen Entwicklung werden. Christa Wolf will uns in der Gestalt der Christa T. dafür ein Beispiel anbieten. Kein Vor-Bild, sondern ein Beispiel. Von den Stärken und Schwächen dieses Beispiels soll gelernt werden.” 73 105

In beiden Rezensionen wird das Talent von Christa Wolf mit soviel Nachdruck gewürdigt, daß sich die Frage aufdrängt, ob Haase und Kähler es in erster Linie auf eine objektive Analyse abgesehen haben oder ob ihnen, in dem Bewußtsein, daß sie es hier mit einer besonders starken literarischen Leistung zu tun hatten, nicht vielmehr darum zu tun war, den Roman von Christa Wolf zu verteidigen, d.h. für die DDR zu retten ; in diesem Fall wären ihre Einwände eher als Konzessionen an die offizielle Literaturtheorie zu betrachten. Diese Frage muß aus naheliegenden Gründen offen bleiben.

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Kurz danach entartete aber die Diskussion über den Roman in eine rein politischideologische Polemik. Ein am 14. Mai 1969 in der Zeitung “Neues Deutschland” veröffentlichter Kommentar von Heinz Sachs, dem Leiter des Mitteldeutschen Verlages, läßt schon einiges von den Gründen ahnen, die zum Verbot des Romans geführt haben. Folgende Äußerung von Sachs ist nichts anderes als eine Selbstkritik : “Es wurde festgestellt, daß es innerhalb des Verlages ästhetische Auffassungen gibt, mit denen sich nur ungenügend auseinandergesetzt wird. (...) Unbestreitbar liegt mit diesem Buch ein Versuch der Autorin vor, Antworten zu suchen auf die Frage ‘Wie soll man leben ?’ Aber es ist nicht zu übersehen, daß die Heldin des Romans so angelegt ist, daß eine Beantwortung dieser Frage auf sozialistische Art schwerfällt, die es von vornherein unmöglich erscheinen läßt, daß das Mädchen Christa T. zum Vorbild werden kann. Zu dieser Heldenwahl kommt, daß Christa Wolf die Möglichkeiten, die die sozialistische Gesellschaft dem einzelnen bietet (...) nicht zur Geltung bringt. Christa Wolf findet keine Distanz zu ihrer Heldin. Pessimismus wird zur ästhetischen Grundstimmung des Buches. Die Antwort, die Christa Wolf letzten Endes findet, bleibt eine allgemein-humanistische. Wenn aber sozialistische Literatur ihre Funktion erfüllen und Weltgeltung finden soll, kann sie das nur, wenn sie auf allgemein bewegende Fragen spezifisch sozialistische Antworten gibt. Gerade aber hier liegt das entscheidende Versäumnis des Verlages in der Zusammenarbeit mit der Autorin Christa Wolf.”74

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Einen viel besseren Aufschluß gibt jedoch der VI. Deutsche Schriftstellerkongreß, der in Ost-Berlin im Mai 1969 stattfand. Vor allem zwei Referate sind in dieser Hinsicht vielsagend. Beide, “Das Neue und das Bleibende in unserer Literatur” von Max Walter Schulz und “Zu einigen Entwicklungsproblemen der sozialistischen Epik von 1963-1968/69” von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Dr. Werner Neubert, erschienen im 9. Heft 1969 der Zeitschrift “Neue deutsche Literatur” 75.

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Diese Aufsätze können als Beispiel für literarische Kritik stehen, wie sie die Partei wünscht. Sie zeigen deutlich, wie sehr sich manche DDR-Literaturwissenschaftler durch ideologische Scheuklappen den Zugang zur Literatur versperren können. Wenn man die Argumentation von Schulz und Neubert liest, hat es den Anschein, als seien literarische Werke für sie bloße Illustration ideologischer Thesen. Sie sind sich offenbar nicht bewußt, daß die konsequente und nuancenlose Ausführung der Parteiweisungen eher auf eine Verarmung als auf eine Bereicherung der DDR-Literatur hinausläuft.

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Die Kommentare der beiden Literaturwissenschaftler verstehen sich nicht als Beiträge zur Diskussion über den Roman. Beide scheinen fest davon überzeugt zu sein, daß sie ihn als die einzigen richtig interpretieren. Sie empfinden es nicht einmal als notwendig, die Überlegungen von Haase und Kähler zu widerlegen. Die

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Selbstsicherheit, mit der sie ihre — wohl dürftigen und wenig überzeugenden — Argumente vorbringen, macht stutzig. 110

Schulz und Neubert verwahren sich gegen alle Versuche, den strengen Kanon des sozialistischen Realismus zu sprengen. Nach ihnen muß auch ein Schriftsteller seine Arbeit gesellschaftlichen Zielsetzungen völlig unterordnen.

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Am Anfang seines Referats sagt Schulz deutlich, woraus er die Kriterien ableitet, an denen Literatur gemessen werden müsse : “Der Maßstab der literarischen Leistung wird abgenommen vom Wegmaß und von der Perspektive unserer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Der Maßstab besitzt eine zweiwertige Größe : Breite und Tiefe. Unter maßstabsetzenden Leistungen unserer Literatur verstehen wir die Werke, die die Tiefe der lebendigen gestalthaften Erkenntnis unseres Lebens am glücklichsten vereinen mit der Breite der Wirkung.”76

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Es liegt auf der Hand, daß von Christa Wolfs Roman wenig Impulse ausgehen, die auf den Entwicklungsprozeß des sozialistischen Menschen in der von der Partei gewünschten Richtung wirken können. Die Selbstentwicklung des Menschen kann nämlich nach marxistischen Ansichten nicht außerhalb der Gesellschaft realisiert werden. Kein Wunder daher, daß bei Schulz der Roman auf Ablehnung stößt. Christa Wolf habe an der Grundaufgabe der Literatur vorbeigesehen. Der Roman sei zuerst einmal nicht dazu angetan, der Sache des Sozialismus zu dienen : “Hier drängt sich ein offenes Wort über Christa Wolfs ‘Nachdenken über Christa T.’ auf. Wir kennen Christa Wolf als eine talentierte Mitstreiterin unserer Sache. Gerade deshalb dürfen wir unsere Enttäuschung über ihr neues Buch nicht verbergen. Wie auch immer parteilich die subjektiv ehrliche Absicht des Buches auch gemeint sein mag : So wie die Geschichte nun einmal erzählt ist, ist sie angetan, unsere Lebensbewußtheit zu bezweifeln, bewältigte Vergangenheit zu erschüttern, ein gebrochenes Verhältnis zum Hier und Heute und Morgen zu erzeugen. — Wem nützt das ?”77

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Darüberhinaus könne ein solcher Roman vom Klassenfeind als Waffe gegen die DDR mißbraucht werden. Dies sei schon der Fall gewesen ; die Rezension von Reich-Ranicki führt er als Beispiel an : “Wem nützt eine subjektiv ehrliche, parteilich gemeinte Absicht, wenn sie streckenweise im literarischen Text und im Gesamteindruck die Doppelbödigkeit der Aussage so eindeutig provoziert, daß sich die andere Seite nur zu wählen braucht, was ihr beliebt, nur herauszulesen braucht, was sie gern herauslesen möchte. Wir sind nun einmal noch nicht allein auf der Welt, wir Sozialisten. Wir lassen uns unser Urteil nicht vom Gegner diktieren. Wenn aber ein Mann wie ReichRanicki, der Anna Seghers’ neuen großen Roman aufs niederträchtigste beschimpfte und besudelte, gleichzeitig das ‘Nachdenken über Christa T.” so kommentiert : ‘Sagen wir klar, Christa T. stirbt an Leukämie, aber sie leidet an der DDR’ - — · dann muß uns das auch zu denken geben, um so mehr, als eine alte Methode wieder einmal praktiziert wird : Die DDR-Schriftsteller sind gegeneinander auszuspielen. Wer ein deutig parteilich schreibt, wird — je eindeutiger je schlimmer — ohne Ansehen der literarischen Leistung literarisch disqualifiziert. Wer dagegen den Anschein erweckt, mit dem Arbeiter-und-BauernStaat und der Partei der Arbeiterklasse unzufrieden zu sein, rückt ohne weiteres Ansehen, wieviel Augen der literarischen Qualität er tatsächlich geworfen hat, gleich um zehn Felder vor.”78

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Schließlich fühlt sich Schulz als DDR-Literaturwissenschaftler verpflichtet, Christa Wolf zu “helfen”. Er will nicht, daß seine Kritik nur vernichtend sei ; durch pathetischen

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Aufruf zur Selbstbesinnung hofft er die Schriftstellerin auf den “rechten” Weg, von dem sie abgekommen sei, zurückzubringen : “Wir wären Prügel wert, wenn wir die diversante Absicht nicht durchschauten. Wo es die subjektiv ehrliche Absicht zu schützen gilt, werden wir sie lieber schützen. Unter uns brauchte es allerdings dazu einiges mehr an Offenheit und wechselseitiger Bereitschaft zu prinzipieller kameradschaftlicher Kritik. In dieser Verantwortung rufen wir Christa Wolf zu : Besinn dich auf dein Herkommen, besinn dich auf unser Fortkommen, wenn du mit deiner klugen Feder der deutschen Arbeiterklasse, ihrer Partei und der Sache des Sozialismus dienen willst.” 79

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In ihrer Beurteilung des Romans ziehen die Verfasser des Beitrags “Zu einigen Entwicklungsproblemen der sozialistischen Epik 1963-1968/69” dieselben Saiten auf. Sie gehen auf den literarischen Entwicklungsweg von Christa Wolf ein und vergleichen somit die Erzählung “Der geteilte Himmel” mit dem Roman “Nachdenken über Christa T.”. Es überrascht wenig, daß sie beim letzteren Werk einen Qualitätsverfall gegenüber dem ersteren erblicken, da sie beide ausschließlich an dem gesellschaftlichideologischen Bewusstsein der Autorin messen : “Er ist zu bedauern, daß der wesentliche Beitrag der Autorin, vielfältige Bezüge von Individuellem und Gesellschaftlichem intensiv zu fassen, in der neuen Erzählung “Nachdenken über Christa T.” nicht ausgeweitet, sondern stark nach der Seite des Subjektiven hin reduziert wurde. Eine im Brechtschen Sinne gemeinte Vernachlässigung der Kausalität zwischen Psyche und Umwelt muß festgestellt werden. Sich leitmotivisch auf Johannes R. Becher berufend, hat Christa Wolf nicht — wie dieser es anstrebte — ein Bild des ganzen sozialistischen Menschen gewonnen ; ein “Zu-sich-selber-Kommen des Menschen” kann nicht als eine abstrakte, von der konkreten gesellschaftlichen Praxis losgelöste Entwicklung verstanden werden.”80

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Daß der Roman 1973 und 1974 zwei Neuauflagen erlebt hat, zeigt deutlich, daß derartige “Interpretationen”, die literarische Werke auf eine so grobe Weise für ideologische Zielsetzungen mißbrauchen, heute nicht mehr tonangebend sind.

NOTES 1. Zitiert nach Erhard John, Zum Problem der Beziehungen zwischen Kunst und Volk, in : Weimarer Beiträge, 1960, Heft 3, S. 564. 2. In diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß für die marxistisch-leninistische Philosophie “wissenschaftliche Voraussagen” (Prognosen) über die weitere Entwicklung der menschlichen Gesellschaft möglich sind, da deren Gesetzmäßigkeiten angeblich bekannt sind. Vgl. hierzu das “Philosophische Wörterbuch” : “Prognosen sind nicht nur ein Mittel zur Erkenntnis der objektiven Realität, sondern auch zur praktischen Veränderung derselben, und üben deshalb auch eine pragmatische Funktion aus. Dies gilt vor allem — wenn auch nicht ausschließlich — für Zukunftsprognosen im Bereich der gesellschaftlichen Entwicklung.” (s.v. Prognose). 3. In : Ideengestalt und ideologische Prinzipien des sozialistischen Realismus (Autorenkollektiv unter der Leitung von Werner Jehser), in : Zur Theorie des sozialistischen Realismus, op. cit., S.

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503-581 ; S. 559. In der bereits herangezogenen Abhandlung “Sozialistischer Realismus. Positionen. Probleme. Perspektiven. Eine Einführung” kann man folgendes lesen : “Die marxistische Weltanschauung vertreten schließt also ein bestimmtes Herangehen an die Gegenwart ein, nämlich die Betrachtung der Gegenwart aus der Perspektive der Zukunft, wobei alle soeben angeführten Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind. Gorki sagte, daß es nicht genüge, nur die beiden Wirklichkeiten Zu kennen, ‘die der Vergangenheit und die der Gegenwart, an deren Schaffung wir einen gewissen Anteil haben’. Die Künstler müßten auch noch die dritte Wirklichkeit, die Wirklichkeit der Zukunft kennen und in ihren Alltag einbeziehen. ‘Sonst begreifen wir nicht, was die Methode des sozialistischen Realismus ist’.” (S. 60). 4. Dokumente des VIII. Parteitages der SED, op. cit., S. 126. 5. In : Sozialistischer Realismus. Positionen. Probleme. Perspektiven. Eine Einführung, op. cit., S. 252. 6. Vgl. S. 127 und S. 160 ff. 7. Zitiert nach Werner Jehser (u.a.), Ideengehalt und ideologische Prinzipien des sozialistischen Realismus, op. cit., S. 555. 8. Dieses Zitat findet sich in “Sozialistischer Realismus. Positionen. Probleme. Perspektiven. Eine Einführung”, op. cit., S. 220. 9. S. 228. 10. Weitere Beispiele werden im letzten Abschnitt dieses Kapitels gegeben (S. 160 ff.). 11. Sabine Brandt : Der sozialistische Realismus, op. cit., S. 63. 12. Diese “Aufgabe” übernimmt oft der Lehrstuhl für marxistisch-leninistiche Kultur- und Kunstwissenschaften beim ZK der SED. 13. Zitiert nach dem Klappentext der Suhrkamp Ausgabe (1973). 14. S. 254-310. 15. 1972, Heft 4, S. 908. 16. Im Beitrag “Diskussion um Plenzdorf”, S. 219-252 ; S. 219, 220. 17. S. 219. 18. S. 220. 19. S. 220. 20. S. 221. 21. S. 221. 22. S. 244. 23. S. 219. 24. Marianne Lange : Die nationale Bedeutung der marxistischen Literaturwissenschaft in der Deutschen Demokratischen Republik, in : Weimarer Beiträge, 1966, Heft 2, S. 179-185 ; S. 180. 25. In : Aktuelle Aufgaben der Germanistik nach dem XXII. Parteitag der KPdSU und dem 14. Plenum des ZK der SED, Weimarer Beiträge, 1962, Heft 11, S. 241-263 ; S. 253, 254. 26. ebda., S. 242. 27. In : II. Bitterfelder Konferenz und Literaturwissenschaft, Weimarer Beiträge, 1964, Heft IV, S. 483-494 ; S. 483. 28. Anneliese Große : Bilanz, in : Weimarer Beiträge, 1971, Heft 1, S. 5-9 ; S. 7. 29. Willi Beitz : Zu einigen Fragen der Effektivität und des wissenschaftlichen Niveaus in der Literaturwissenschaft, op. cit., S. 84. 30. Op. cit., S. 11. 31. Alfred Kurella : Von der Lehrbarkeit der literarischen Meisterschaft. (Vortrag zur Eröffnung des Instituts für Literatur in Leipzig), 1955, Kritik in der Zeit, op. cit, S. 335-349. 32. S. 11. 33. S. 15. 34. Vgl. Anmerkung 2 (IV. Kapitel). 35. S. 335, 336. Bezeichnend ist die Anspielung auf Stalins Definition des Schriftstellers.

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36. S. 339. 37. S. 339, 340. 38. S. 340. 39. S. 340, 341. 40. S. 341. 41. Hannelore Kuhnt : Gedanken zur Kontinuität sozialistischer Kulturpolitik, in : Weimarer Beiträge, 1968, Sonderheft 2, S. 189-209. 42. S. 206. 43. S. 206. 44. S. 207. 45. In : Traditionsbeziehungen unserer Schriftsteller. Antworten auf eine Umfrage der Redaktion, Weimarer Beiträge, 1971, Heft 12, S. 89-103 ; S. 89. 46. S. 89, 90. 47. S. 103, 48. S. 92, 93. 49. S. 91, 92. 50. s. 100. 51. So bezeichnet Ursula Reinhold die Antworten der Schriftsteller auf die Umfrage ; in : Einige Bemerkungen zum Problem Tradition, Weimarer Beiträge, 1971, Heft 12, S. 104-120 ; S. 119. 52. Hans Joachim Bernhard, unter dem Titel “Provokation für die Literaturwissenschaft”, Weimarer Beiträge, 1972, Heft 5, S. 143-147 ; S. 145. 53. S. 147. 54. Hannelore Kuhnt : Zur weiteren Entwicklung der Kultur-und Kunstwissenschaften, Weimarer Beiträge, 1972, Heft 8, S. 5-9 ; S. 9. 55. Hans Richter : Literaturwissenschaft-Volksbildung-Schriftsteller, in : Weimarer Beiträge, 1972, Heft 9, S. 175-180 ; S. 175. Zu diesen Äußerungen Bechers schreibt Richter : “Er (Becher) spricht dort zwar nur von der Literaturkritik, aber der Kontext erlaubt durchaus, in den Begriff der Literaturkritik den Begriff der Literaturwissenschaft einzuschließen.” (S. 175). 56. S. 176, 57. S. 177. 58. S. 179. 59. Günter Hartung : Zum Verhältnis von Literaturwissenschaft und Literatur, in : Weimarer Beiträge, 1972, Heft 12, S. 171-183 ; S. 180, 181. 60. S. 183. 61. Dies ist selbstverständlich kein wissenschaftliches Kriterium für die Qualität ihrer Werke. 62. Peter Hacks’1958 erschienenes Stück “Die Sorgen und die Macht”, in dem die Gegenwartsprobleme der DDR behandelt werden, wurde heftig kritisiert. Hierzu schreibt Konrad Franke : “Mittlere Funktionäre der Sozialistischen Einheitspartei fanden, er sehe die Gegenwart zu grau, sein Sozialismus sei zu mühselig, bei ihm sei erst der Kommunismus schön. Auch verstörte sie, daß in ‘Die Sorgen und die Macht’ zwar die Parteisekretäre den Wettbewerb vereinbaren, daß aber die Antriebe für die Arbeiter, an dem Wettbewerb teilzunehmen, materieller, auch erotischer, nicht politischer Natur sind” (op. cit. S. 482). Die zweite (1960) und die dritte (1962) Fassung des Stückes wurden auch vom Spielplan abgesetzt. 63. Vgl. S. 141. 64. Erwähnt sei hier sein 1949 geschriebenes Stück “Die Tage der Commune”, das erst 1956 aufgeführt werden durfte. 65. Eine ausführlichere Biographie Christa Wolfs findet sich in Jürgen P. Wallmanns Beitrag “Christa Wolf : Nachdenken über Christa T.”, Neue Deutsche Hefte, 1969, Heft 4, S. 149-155. 66. “Der

geteilte

Himmel”

hat

bereits

heftige

Diskussionen

ausgelöst.

Der

DDR-

Literaturwissenschaftler Martin Reso hat die interessantesten kristischen Äußerungen zu dieser

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Erzählung in der Aufsatzsammlung “‘Der geteilte Himmel’ und seine Kritiker”, (Halle (Saale), 1965) herausgegeben. 67. Für diese Hinweise stütze ich mich besonders auf Heinrich Mohrs Aufsatz : Produktive Sehnsucht. Struktur, Thematik und politische Relevanz von Christa Wolfs “Nachdenken über Christa T.”, in : Basis, 1971, S. 191-233. 68. Der Roman ist 1973 und 1974 neuaufgelegt worden. 69. Vgl. das Motto des Romans : “Was ist das : Dieses Zu-sich-selber-Kommen des Menschen ?” nach Johannes R. Becher. 70. 1969, Heft 1, S. 251-261. 71. 1969, Heft 4, S. 174-185. 72. S. 183. 73. S. 179. 74. Heinz Sachs : Verleger sein heißt ideologisch kämpfen, in : Neues Deutschland (vom 14. Mai 1969). Zitiert nach Heinrich Mohr, op. cit, S. 217. 75. S. 24-51 und S. 148-174. 76. S. 24. 77. S. 47. 78. S. 47, 48. 79. S. 50. 80. s. 156.

108

Abschliessende Betrachtung

1

Überblickt man den bisherigen Entwicklungsweg der DDR-Literaturwissenschaft, dann springt sofort ins Auge, daß er alles andere als geradlinig verläuft. Sowohl was die Rezeption des literarischen Erbes als auch das Verhältnis zur sozialistisch-realistischen Literatur anbelangt, ist die Geschichte der literaturwissenschaftlichen Forschung in der DDR vielmehr durch wiederholte Kursschwankungen charakterisiert, angefangen bei den Ideologisierungsmaßnahmen gegen Ende der vierziger Jahre über die “Tauwetterperioden” bis hin zum VIII. Parteitag.

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Wenn man den derzeitigen Stand der Forschung resümiert, erweist sich der Ertrag als verblüffend dürftig, vor allem wenn man die investierte Arbeit bedenkt. Abgesehen von vereinzelten Glanzleistungen, die auch im Westen vielfach als solche Anerkennung gefunden haben und die eher als Ausnahmen, die die Regel bestätigen, zu betrachten sind, hat die DDR-Literaturwissenschaft sehr wenig vorzulegen, vor allem auf dem Gebiet der Kunsttheorie, wo sie es nie weitergebracht hat als zur Ausarbeitung einiger zweifelhafter Theoreme, die das literarische Denken in nichts fördern.

3

In den vorstehenden Kapiteln ist an mehreren Stellen deutlich gemacht worden, daß eine pauschale Aburteilung der DDR-Literaturwissenschaft und ihrer Methoden trotz alledem nicht gerechtfertigt ist. Es ist falsch, sie wegen ihrer bisherigen Mängel — wie schwerwiegend sie auch sein mögen — als bloßes Propagandainstrument in den Händen der Partei abzutun und ihr deshalb ein für allemal die Fähigkeit abzusprechen, sich zu einer echten Wissenschaft von der Literatur zu entwickeln. Derartige Meinungen, die noch bisweilen im Westen anzutreffen sind, gründen sich eher auf Vorurteile als auf Sachkenntnis und sind als Relikte des kalten Krieges zu betrachten.

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Mit der Politisierung und Ideologisierung der DDR-Literaturwissenschaft geht nicht notwendigerweise die Lahmlegung ihrer produktiven Kräfte einher, auch wenn dies mehr als zwanzig Jahre lang der Fall gewesen ist. Die Unfruchtbarkeit der literaturwissenschaftlichen Forschung in der DDR ist zuerst einmal darauf zurückzuführen, daß die Heranbildung echter marxistischer Literaturwissenschaftler viele Jahre in Anspruch nahm. Eine entscheidende Rolle hat auch die Tatsache gespielt, daß der politische Druck auf die Literaturwissenschaft bis zum Ende der sechziger Jahre so stark war, daß sie ohnedies keine Möglichkeit gehabt hätte, sich ihres Gegenstands auf eine angemessene Weise anzunehmen : solange die Hauptsorge der Partei darin bestand, die Kunst ungeachtet ihrer Eigenart als politisch-ideologische

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Waffe im Kampf um den Aufbau des Sozialismus einzusetzen, blieb der Literaturwissenschaft nichts anderes übrig, als sich in Hoffnung auf günstigere Zeiten in das Gewand des Dulders zu hüllen. 5

Nachdem sie festgestellt hatte, daß ihren krampfhaften Bemühungen, die Literaturwissenschaft nach ihren Vorstellungen zu formen, keine Erfolge beschieden worden waren, mußte die Partei am Anfang der siebziger Jahre von dieser ihrer starren Haltung abrücken. Ohne Übertreibung kann gesagt werden, daß im Kampf zwischen Partei und Literaturwissenschaft letztere schließlich — vorläufig jedenfalls — den Sieg davongetragen hat. Sie hat sich insofern als Lehrmeisterin der Partei erwiesen, als sie sich durch Passivität gegen die ihr auferlegten unangemessenen Aufgaben solange zur Wehr setzte, bis die Partei zum Einlenken gezwungen wurde.

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Für die Änderung der Kulturpolitik der Partei mag auch ein anderer Grund eine nicht geringe Rolle gespielt haben. Die von der SED stets geforderte Hebung des Kulturniveaus der Bevölkerung hat sich im Laufe der Zeit als eine zweischneidige Waffe erwiesen. Einerseits sind durch den Einfluß der Kultur vermutlich nicht wenige DDRDeutsche dazu gebracht worden, sich für die Sache des Sozialismus zu engagieren. Anderseits aber ist die SED insofern zum Opfer ihrer Politik geworden, als parallel mit der Bildung auch der kritische Sinn wächst. Auf dem Gebiet der literaturwissenschaftlichen Forschung bedeutet dies, daß die Interessierten sich nicht mehr alles bieten lassen, was man ihnen auftischt. Die Partei ist sich sicherlich allmählich der Gefahr bewußt geworden, daß die Literaturwissenschaft nicht mehr ernstgenommen werden könnte, wenn ihr das Recht genommen bleibt, Arbeiten vorzulegen, die das Wesen der Kunst nicht grob verkennen.

7

Der VIII. Parteitag leitete die überfälligen Reformen ein. Die Einsicht, daß die Gewährung eines größeren Bewegungsspielraumes für die Literaturwissenschaft wohl am zuträglichsten sei, eröffnete Perspektiven, die zwei Jahrzehnte lang in den Bereich der Illusionen gehört hatten.

8

Mit den Zugeständnissen der Partei ist eines der Haupthindernisse weggefallen, die einer fachspezifischen Orientierung der Forschung im Wege stehen. Allerdings hat die SED keineswegs auf ihren Führungsanspruch verzichtet. Ein dogmatisches Prinzip hat sie nicht aufgegeben : die Literaturwissenschaft bleibt für sie weiterhin inhärenter Bestandteil der revolutionären Bewegung der Arbeiterklasse.

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Der VIII. Parteitag ist für die Geschichte der DDR-Literaturwissenschaft insofern eine bedeutende Zäsur, als ihr jetzt viel mehr Freiheit gewährt wird, um selber über die Mittel zu bestimmen, mit deren Hilfe sie als Triebkraft des Fortschritts am effektivsten sein kann. Dazu gehört, daß den Literaturwissenschaftlern mehr als bisher die Möglichkeit gegeben wird, sich ihrem Fach angemesseneren Aufgaben zuzuwenden, auch wenn sie weiterhin gezwungen sind, sich an die gerade erwähnten Grundsätze zu halten.

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Über Ausmaß und Grenzen des neugewährten Freiheitsraums informiert die Entwicklung der Literaturwissenschaft nach dem VIII. Parteitag, über die in den vorstehenden Kapiteln ausführlich berichtet wurde. Es hat sich gezeigt, daß jetzt der Literaturwissenschaft für ein sachgemäßes Herangehen an ihren Gegenstand ein Weg offen steht. So haben beispielsweise manche Literaturwissenschaftler den Mut aufgebracht, über die unangemessenen Forderungen der Partei unfrisierte Gedanken offen darzulegen.

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Somit erscheinen die Aussichten für die Zukunft als nicht zu düster. Dank des eingetretenen Wandels ist die DDR-Literaturwissenschaft aus der Lähmung herausgekommen. Trotz der weltanschaulich bedingten Ausrichtung der Forschung darf sie sich jetzt — endlich — an die Literatur als Kunst und nicht als bloßes Überbauphänomen heranmachen. Einen allzu großen Optimismus hinsichtlich der Weiterentwicklung der DDR-Literaturwissenschaft muß jedoch ein Riegel vorgeschoben werden. Diese bleibt nach wie vor eine Gesellschaftswissenschaft, was die Forschung immerhin noch in beachtlichem Maße behindert.

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Es ist schwer, hinsichtlich der weiteren Entwicklung der DDR-Literaturwissenschaft Voraussagen zu machen. 1971 hat die Partei einen Fuß in den Rubikon getaucht. Es ist kaum anzunehmen, daß sie umkehren und zur Kulturpolitik der fünfziger Jahre zurückkehren wird, nachdem sie feststellen mußte, wie sehr diese ihren Interessen zuwiderlaufen kann. Auf der anderen Seite steht vorerst nicht in Sicht, daß die SED in nächster Zeit von der Theorie, daß für die literaturwissenschaftliche Forschung gesellschaftliche Zielsetzungen maßgebend sind, auf irgendeine Weise abkommen könnte. Dazu kommt noch, daß sich das Klima der Angst, das das literaturwissenschaftliche Leben in der DDR bis zum VIII. Parteitag durchweg beherrscht hatte, nicht in einem Tag abbauen läßt. Im Laufe der Untersuchung ist betont worden, daß nach 1971 unter den Literaturwissenschaftlern nur eine Minderheit es gewagt hat, sich über die alten Richtlinien der Partei hinwegzusetzen. In den nächsten Jahren wird sich die Situation in dieser Hinsicht wahrscheinlich nur langsam ändern.

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Das Literaturverständnis — oder richtiger gesagt : das Literaturunverständnis — der Partei hatte die Literaturwissenschaft zu einem Propagandainstrument degradiert. Gegenwärtig hat sich die Situation gewandelt. Alles deutet darauf hin, daß in den kommenden Jahren die DDR-Literaturwissenschaft einen Beitrag zum Fortschritt des literarischen Denkens leisten wird. Aufgrund ihrer besonderen Situation wird sie ihren Blick wohl weiterhin hauptsächlich auf die gesellschaftliche Wirkungsweise der Literatur richten. Aber innerhalb solcher Grenzen werden vermutlich bald Arbeiten vorliegen, die zum Nachdenken anregen und hoffentlich die Basis eines fruchtbaren Dialogs mit der westlichen Literaturwissenschaft bilden werden.

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