Emotionen in Wissensinstitutionen: Zur Bedeutung affektiver Dimensionen in Forschung, Lehre und Unterricht 9783839457351

Mit der florierenden Erforschung menschlicher Emotionalität ging die Erkenntnis einher, dass emotionale Prozesse eine wi

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Emotionen in Wissensinstitutionen: Zur Bedeutung affektiver Dimensionen in Forschung, Lehre und Unterricht
 9783839457351

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Danksagung
Einleitung
Wissenschaft
»And you’ve lost nothing but your illusions… and a little bit of skin.«
Emotionen als Forschungsgegenstand – Emotionen im Forschungsprozess: Zum Umgang mit interaktionalen Daten
Universitäre Lehre
Wie mit Nach-Matrix-Sozialisierten umgehen, oder: emotionale Herausforderungen bei der Vermittlung kulturwissenschaftlicher Inhalte
Learning by Experience
Emotionale Bildung im Schulpraktikum durch Reflexion und Mentalisierung
wie nun emanzipatorische lehre als eine andere form des malens denken
Schule und Unterricht
Das Klassenzimmer als emotionaler Raum
Wie lehren, was die Worte übersteigt?
»Um die Welt zu retten muss man auch mal ein paar alte Damen die Treppe runter schubsen«
Autor*innen

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Sebastian Ernst (Hg.) Emotionen in Wissensinstitutionen

Bildungsforschung  | Band 8

Sebastian Ernst (Dr. phil.), geb. 1981, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde der Universität Potsdam. Seine fachdidaktischen Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der konstruktivistischen Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen sowie der Integration von digitalen Spielen und theatralen Methoden in den Unterricht. Daneben gilt sein Interesse der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Erforschung von Emotionen und Räumen sowie dem Hören und Gehörtem.

Sebastian Ernst (Hg.)

Emotionen in Wissensinstitutionen Zur Bedeutung affektiver Dimensionen in Forschung, Lehre und Unterricht

Finanziert von der Universität Potsdam, Institut für LER

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5735-7 PDF-ISBN 978-3-8394-5735-1 https://doi.org/10.14361/9783839457351 Buchreihen-ISSN: 2699-7681 Buchreihen-eISSN: 2747-3864 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort ........................................................................... 7 Danksagung ..................................................................... 9 Einleitung Sebastian Ernst ..................................................................... 11

Wissenschaft »And you’ve lost nothing but your illusions… and a little bit of skin.« Emotionaler Konstruktivismus und konstruierte Emotionalität in der (Geschichts-)Wissenschaft Sebastian Ernst .................................................................... 29

Emotionen als Forschungsgegenstand – Emotionen im Forschungsprozess: Zum Umgang mit interaktionalen Daten Heike Ortner ........................................................................ 51

Universitäre Lehre Wie mit Nach-Matrix-Sozialisierten umgehen, oder: emotionale Herausforderungen bei der Vermittlung kulturwissenschaftlicher Inhalte Ralf Pröve .......................................................................... 71

Learning by Experience Emotions as border guards and signposts regarding unknown territory Roland Schuster ................................................................... 93

Emotionale Bildung im Schulpraktikum durch Reflexion und Mentalisierung Margit Datler und Bernhard Rauh ................................................... 121

wie nun emanzipatorische lehre als eine andere form des malens denken Maja Linke ........................................................................ 145

Schule und Unterricht Das Klassenzimmer als emotionaler Raum Corinna Lagemann ................................................................ 153

Wie lehren, was die Worte übersteigt? Religiöse Gefühle im religionskundlichen Unterricht Petra Lenz ......................................................................... 171

»Um die Welt zu retten muss man auch mal ein paar alte Damen die Treppe runter schubsen« Digitale Spiele als Ermöglichungsräume für eine emotionsintegrierende Ethikdidaktik Sebastian Ernst .................................................................... 211

Autor*innen ................................................................... 241

Vorwort

Dieser Sammelband sollte ursprünglich auf eine im April 2020 geplante Tagung an der Universität Potsdam folgen. Zu dieser waren Fachwissenschaftler*innen, Fachdidaktiker*innen, Lehrer*innen und Psychotherapeut*innen eingeladen, um sich gemeinsam Emotionen als Einflussfaktor auf das Denken und Handeln forschender, lehrender und lernender Akteur*innen bewusst zu machen, deren Auswirkungen zu thematisieren und geeignete Methoden des Umgangs, der Nutzbarmachung und der Integration von Emotionalität in die wissenschaftliche (Selbst-)Reflexion und den Lehr-Lern-Prozess zu diskutieren. Aufgrund der Corona-Pandemie musste dieses Zusammentreffen allerdings auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Im Juli 2020 fiel daraufhin die Entscheidung, zunächst die geplanten Tagungsbeiträge in Form eines Sammelbandes zu veröffentlichen. Einen Grund dafür lieferten die für den Bildungsbereich diskutierten und durchgeführten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, durch die die Diskussion über die Ziele und die Ausrichtung universitärer Lehre und schulischen Unterrichts neu entfacht wurde. Bezeichnenderweise spielte die emotionale Dimension von Lernen, Lehren und Unterrichten nämlich erneut keine Rolle. Dabei ließe sich beispielsweise durchaus fragen, welche emotionalen Dynamiken sich durch die Online-Lehre ergeben und was dies bedeutet. Das Thema des Bandes ist also gerade jetzt hochaktuell, so dass es nicht sinnvoll erschien, die Veröffentlichung ebenfalls auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Man das Eisen eben schmieden, solange es heiß ist, sicherlich auch dann, wenn man dafür mal vom gewöhnliche Ablauf abweichen muss. Eine Tagung in Form eines Workshops ist allerdings weiterhin geplant. Die hier veröffentlichten Beiträge sollen dieser als Grundlage dienen, um dann gemeinsam darüber hinaus zu denken.

Danksagung

Möglich war dies alles nur durch die tatkräftige Unterstützung und das Engagement aller beteiligten Akteur*innen. Mein besonderer Dank gilt hierbei zunächst den hier versammelten Autor*innen. Dieser Band wäre ohne ihre Mitarbeit und vor allem auch ohne ihre Flexibilität nicht möglich gewesen. Die verschiedenen Perspektiven und Zugänge, die sich in den einzelnen Beiträgen finden, waren mir zudem eine unglaubliche Bereicherung. Besonders hervorheben möchte ich diesbezüglich noch Roland Schuster. Die mit ihm geführten Videotelefonate mündeten jedes Mal in weiterführenden Gedanken und neuen Ideen. Weiterhin danke ich meinem Doktorvater Ralf Pröve, der nicht nur ein guter Freund, sondern auch ein wichtiger beruflicher Wegbegleiter geworden ist. Die regelmäßigen gegenseitigen Supervisionsgespräche haben mir nicht nur durch so manchen Sturm geholfen, sondern sind ein zwar zuweilen schmerzhaftes aber dafür umso wirksameres Mittel zur (wissenschaftlichen) Selbstreflexion. Auch im Hinblick auf die Konzeption der Tagung und des Sammelbandes haben sie mir immer wieder dabei geholfen, Klarheit darüber zu schaffen, wohin die Reise gehen soll. Zu danken habe ich auch Jelena Tomović, die mich durch einen gemeinsam mit Sascha Nicke organisierten Workshop und zugehörigen Sammelband für diese Tagung inspiriert hat und mir auch sonst bei deren Planung mit Rat und Tat zur Seite stand. Ich freue mich sehr auf ihre Doktorarbeit, auch wenn sie leider nicht den von mir favorisierten Titel tragen wird. :) Ebenso dankbar bin ich Annika Hübner. Ihre Anmerkungen zu meinen Texten spornen mich nicht nur an, weiter über die Dinge nachzudenken, sondern haben mir immer wieder Mut gemacht. Ein weiterer wichtiger Quell der Inspiration waren insbesondere die Gespräche mit meiner Kollegin Petra Lenz, die ich für ihr fachdidaktisches Wis-

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Danksagung

sen und Können nur bewundern kann. Ich bin sehr dankbar dafür, mit ihr zusammenarbeiten und dadurch von und mit ihr lernen zu können. Ich danke außerdem dem gesamten Institut für LER, insbesondere Felicitas Krämer und Stefanie Erxleben für die großartige organisatorische und finanzielle Unterstützung. Eine weitere wichtige Person in diesem Umfeld ist Sandra Staffl, der ich für ihre Unterstützung als Wissenschaftliche Hilfskraft sehr dankbar bin. Zu guter Letzt möchte ich mich noch bei Anne Conrad bedanken. Immer wieder ist sie meinen Unsicherheiten und Ängsten mit Verständnis und Zuspruch begegnet und immer wieder hat sie mich dazu herausgefordert, wohlwollend mit mir selbst ins Gericht zu gehen.

Einleitung Sebastian Ernst »We think too much and feel too little« (Charlie Chaplin)

In den letzten Jahrzehnten wurde viel zum Thema Emotionen geforscht. Aus den Ergebnissen dieser Forschungen lässt sich ablesen, dass und wie sich emotionale Prozesse auf Wahrnehmung, Denken und Handeln von Individuen sowie auf die Entstehung, den Wandel und die Verstetigung sozialer Strukturen auswirken.1 Uneinigkeit herrscht dabei u.a. in Bezug auf den Ein1

Siehe dazu beispielhaft Damasio, Antonio R.: Der Spinoza Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen, 8. Aufl., Berlin 2014, von Scheve, Christian: Emotionen und soziale Strukturen. Die affektiven Grundlagen sozialer Ordnung, Frankfurt a.M. 2009, Engelen, Eva-Maria u.a.: Emotions as Bio-cultural Processes: Disciplinary Debates and an Interdisciplinary Outlook, in: Markowitsch, Hans J.; Röttgern-Rössler, Birgitt (Hg.): Emotions as Bio-cultural Processes, New York 2009, S. 23-53, Battacchi, Marco W.; Renna, Margherita; Suslow, Thomas: Emotion und Sprache: Zur Definition der Emotion und ihren Beziehungen zu kognitiven Prozessen, dem Gedächtnis und der Sprache, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1997, Hülshoff, Thomas: Emotionen, 2. Aufl., München 2001, MeierSeethaler, Carola: Gefühl und Urteilskraft. Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft, München 1997, Arnold, Rolf: Seit wann haben Sie das? Grundlagen eines Emotionalen Konstruktivismus, 2. Aufl., Heidelberg 2012, Huber, Matthias: Emotionale Markierungen. Zum grundlegenden Verständnis von Emotionen für bildungswissenschaftliche Überlegungen, in: Huber, Matthias; Krause, Sabine (Hg.): Bildung und Emotion, Wiesbaden 2018, S. 91-110, Hochschild, Arlie: Das gekaufte Herz. Die Kommerzialisierung der Gefühle, erw. Neuausgabe, Frankfurt a.M. 2006, Trepp, Anne-Charlott: Gefühl oder kulturelle Konstruktion? Überlegungen zur Geschichte der Emotionen, in: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 7 (2002), S. 86-103, Stalfort, Jutta: Die Erfindung der Gefühle. Eine Studie über den historischen Wandel menschlicher Emotionalität (17501850), Bielefeld 2013, Ciompi, Luc: Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik, 2. durchg. Aufl., Göttingen 1999, sowie Landweer, Hilge: »Vor der Kreuzspinne braucht man sich nicht zu fürchten.« Emotionen, Situationen und Angemessenheit, in: Gebauer, Gunter; Edler, Markus (Hg.): Sprachen der Emoti-

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fluss, den wiederum soziale Strukturen und damit auch kulturelle Wandlungsprozesse auf die Emotionalität ausüben. Dass es einen solchen gibt, ist zwar unbestritten, ungeklärt scheint jedoch, wie weit dieser reicht und welche Ebenen davon betroffen sind.2 Gilt die kulturell und sozial bedingte Wandelbarkeit also beispielsweise nur für die grundsätzliche Vorstellung davon, was Emotionen sind, für die Ausgestaltung der jeweiligen Emotionskultur und die Kultivierung einzelner Emotionen sowie deren Wertung oder auch für deren Ausdruck und Auslöser, wenn nicht gar für die dabei ausgelösten Empfindungen und Körperprozesse?3 Auch wenn sich die Forschenden somit nicht in allen Details einig sind, betonen diese jedoch recht einvernehmlich, dass sich weder die strikte Trennung von Emotionalität und Rationalität aufrecht erhalten lässt, noch die Vorstellung, dass Emotionen dem Denken und Handeln in ausschließlich negativer Sicht gegenüberstehen.4 Wir können zudem davon ausgehen, dass wir uns als Menschen letztlich immer in irgendeinem emotionalen Zustand befinden. Das scheint insofern auch nötig, als dass Emotionen uns dabei zu helfen scheinen, unsere Wahrnehmung zu lenken, unser Denken zu strukturieren, uns zum Handeln zu motivieren und die sozialen Strukturen unserer Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Ist der einleitende Spruch Chaplins also lediglich Ausdruck einer längst überholten Vorstellung von Emotionen und damit obsolet? Versteht man diesen als banalen Aufruf, lediglich mehr zu fühlen, mag dies so sein. Als Aufforderung, sich die emotionalen Grundlagen unseres (auch politischen!) Handelns bewusst zu machen, Emotionen (vor allem positive wie Liebe) als Handlungsgrundlage aufzuwerten und im Miteinander stärker auf unsere Gefühle und die der

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on. Kultur, Kunst, Gesellschaft, Frankfurt a.M. und New York 2014, S. 49-68, sowie die Beiträge in diesem Band. Stearns und Stearns unterscheiden beispielsweise zwischen dem tatsächlichen Fühlen und den von der Gesellschaft bereitgestellten Fühlnormen. Vgl. Stearns, Carol Z.; Stearns, Peter N.: Emotionology: Clarifying the History of Emotions and Emotional Standards, in: American Historical Review 90 (1985), S. 813-830. Zum Einfluss kultureller Ausgestaltung auf die Empfindungsebene von Emotionen siehe beispielhaft Trepp, S. 88 und ausführlicher Stalfort, S. 26-38. Vieles hängt dabei, wie so oft, davon ab, wie Emotionen verstanden werden und welche Forschungsfragen und -methoden auf diese angewendet werden. Zu den verschiedenen Emotionskonzeptionen in der Forschung siehe beispielhaft Hartmann, Martin: Gefühle. Wie die Wissenschaften sie erklären, 2. akt. Aufl., Frankfurt a.M. und New York 2010.

Einleitung

anderen Rücksicht zu nehmen, bleibt der Ausspruch nicht nur aktuell, sondern gewinnt, angesichts eben jener Erkenntnisse der Emotionsforschung, sogar noch an Relevanz. Nimmt man diese nämlich ernst, so scheint es unwahrscheinlich, dass wir ohne ein Verständnis für die Rolle und Bedeutung von Emotionen für unser Denken und Handeln und einen bewussten Umgang mit diesen, die großen Herausforderungen unserer Zeit, beispielsweise den Klimawandel, bewältigen werden können. Nicht nur müssen Menschen von der Dringlichkeit solcher Probleme überzeugt werden, es gilt auch, diese zum Handeln zu motivieren. Vor allem in politischen Debatten werden Emotionen aber stattdessen immer noch eher als unangemessen angesehen. Ein gutes Beispiel liefert der öffentliche Umgang mit einer von Greta Thunberg im Jahr 2019 auf dem UNKlimagipfel gehaltenen Rede, für die sie von einigen gefeiert und von anderen scharf kritisiert worden ist. Ein zentraler Kritikpunkt war deren Emotionalität. Die Wut der Rede, so ein ehemaliger Sympathisant, zerstöre die Glaubwürdigkeit Thunbergs und zeige, dass sie gar nicht wirklich an Lösungen interessiert sei.5 Sie habe sich, so dieser weiter, somit als Kopf der Bewegung disqualifiziert. Nur wer »sachlich« bleibe, darf also sprechen. Auf der anderen Seite wird die als unangemessen gewertete Emotionalität ihrerseits mit einer emotionalen Reaktion bedacht. Anders als die Wut über die unzureichenden Maßnahmen gegen den Klimawandel erscheint eine solche Empörung aber plötzlich als berechtigt und angemessen. Es geht also gar nicht um eine vermeintliche Emotionslosigkeit des politischen Handelns, sondern um eine spezifische Emotionalität oder besser um mehrere, die miteinander in Konflikt stehen. Die Zuschreibung von Emotionalität wird hier also auf der einen Seite erkannt, um dann als politische Waffe zur Delegitimation genutzt und auf der anderen Seite in ihrem Einfluss und vielleicht sogar in ihrem Vorhandensein negiert bzw. ignoriert zu werden. Dieser Umgang mit Emotionalität, insbesondere auch der eigenen, findet sich aber nicht nur im Bereich politischer Debatten, sondern ebenso, wenn es um Wissenschaft und Forschung oder genauer, um uns als Forschende

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Vgl. Arnsperger, Malte; Giese, Christopher: »Gretas Wut-Rede hat mich tief berührt« – »Greta hat sich disqualifiziert, Focus 2019, online: https://www.focus.de/politik/auslan d/gretas-emotionale-rede-in-new-york-ist-drastisches-auftreten-noetig-oder-stoesst-e s-ab_id_11178190.html.

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geht. Auch hier wird die eigene Emotionalität eher verschwiegen, statt diese offenzulegen, zu reflektieren und womöglich aktiv im Forschungsprozess zu nutzen. Obwohl die Erforschung von Emotionen in den verschiedensten Wissenschaften einen regelrechten Boom erlebt hat, der entsprechend mit einem eigenen Begriff, dem emotional turn,6 kommunizierbar gemacht worden ist, haben sich die Forschenden also diesbezüglich kaum selbst in den Blick genommen und danach gefragt, welche (auch produktive) Rolle Emotionen im eigenen Forschungsprozess spielen.7 Vor allem außerhalb des Kreises der Emotionsforscher*innen werden emotionale Prozesse immer noch als das wissenschaftliche Denken und die entsprechende (Aus-)Bildung störend gedacht.8 Eine zeitgenössischen Erkenntnissen und Anforderungen gerecht werdende wissenschaftliche Reflexion kommt aber nicht mehr umhin, sowohl die eigene Emotionalität als auch die emotionalen Regeln der Forscher*innengemeinschaft einzubeziehen.9 Es geht also nicht nur um den eigenen Umgang mit Versagensängsten und Erwartungsdruck. Darüber hinaus gilt es vor allem darum anzuerkennen, dass Emotionen nicht nur die Wahrnehmung, das Denken und das Handeln der Forschungsobjekte beeinflussen, sondern eben auch das der forschenden Akteur*innen und somit auch deren Forschungsergebnisse. Dies ist dabei keineswegs ausschließlich negativ zu sehen. Emotionen treten auch als körperlich spürbare Belohnungs- und Bestrafungsinstanz auf und sind in dieser Form maßgeblich an der Generierung der nötigen Motivation für die eigenen Forschungsvorhaben beteiligt. Da zudem ein emotionsloser Zustand ohnehin unmöglich erscheint, muss die Frage lauten, wie die eigene Emotionalität in die Forschung (bspw. im Rahmen 6

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Zum Konzept der Turns generell siehe Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, 6. Aufl., Reinbek 2018. Zum Emotional Turn siehe Hitzer, B., & Gammerl, B. (2013). Wohin mit den Gefühlen? Vergangenheit und Zukunft des Emotional Turn in den Geschichtswissenschaften. Berliner Debatte Initial, 24(3), S. 31-40. Eine Ausnahme ist die Ethnologie. Siehe dazu Lubrich, Oliver; Stodulka, Thomas: Emotionen auf Expeditionen. Ein Taschenbuch für die ethnographische Praxis, Bielefeld 2019, S. 11-15. Vgl. Huber, Matthias; Krause, Sabine: Bildung und Emotion, in: Huber, Matthias; Krause, Sabine (Hg.): Bildung und Emotion, Wiesbaden 2018, S. 1-13, S. 3. Ein Beispiel, wie angegangen werden kann findet sich in Lubrich, Oliver; Stodulka, Thomas: Emotionen auf Expeditionen. Ein Taschenbuch für die ethnographische Praxis, Bielefeld 2019. Auch Forscher*innen bilden eigene emotionale Gemeinschaften. Zum Begriff siehe Rosenwein, Barbara H.: Emotional communities in the early Middle Ages, Ithaca 2006, S. 2.

Einleitung

wissenschaftlicher Selbstreflexion und Methodendiskussion) sinnvoll zu integrieren ist, anstatt diese weiter als Störfaktor zu betrachten oder mit Hilfe bestimmter Rationalitätserzählungen zu leugnen. Ähnliches lässt sich für den Bereich von Lehre und Unterricht konstatieren. Auch Klassenzimmer und Hörsäle sind emotionale Räume, die nicht nur verschiedene Emotionen hervorrufen, die intersubjektiv verhandelt werden, sondern zudem durch bestimmte Regeln und Normen des Fühlens gekennzeichnet sind.10 Emotionen gehören dabei grundsätzlich zum Lehren und Lernen dazu.11 Sie sind Voraussetzung, Einflussfaktor und Ergebnis von Lernprozessen.12 Dass sich Emotionen auf das Lernen auswirken, ist dabei keine neue Erkenntnis. Trotz dessen wurde dieser Umstand lange Zeit kaum systematisch aufgearbeitet. Erst in jüngerer Zeit widmen sich didaktische und bildungswissenschaftliche Arbeiten vermehrt auch der emotionalen Dimension von Lehr-Lern-Prozessen.13 Deren Fokus liegt dabei vor allem auf der Er-

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Vgl. dazu Brandenberger, Claudia C.; Hascher, Tina: Emotionen und Lernen im Unterricht, in: Huber, Matthias; Krause, Sabine (Hg.): Bildung und Emotion, Wiesbaden 2018, S. 289-310, S. 289f. Vgl. Huber; Krause, Bildung und Emotion, S. 8., sowie Pekrun, Reinhard: Emotion, Lernen und Leistung, in: Huber, Matthias; Krause, Sabine (Hg.): Bildung und Emotion, Wiesbaden 2018, S. 215-231, S. 215f und S. 220. Vgl. dazu Brandenberger; Hascher, Emotionen und Lernen im Unterricht, S. 293-296. Vgl. dazu Huber; Krause, Bildung und Emotion, S. 1f. Siehe ebenso Standop, Jutta: Emotionen und kognitives schulisches Lernen aus interdisziplinärer Perspektive. Emotionspsychologische, neurobiologische und schulpädagogische Zusammenhänge – ihre Berücksichtigung im schulischen Bildungsauftrag wie den Forschungen zum Unterrichtsklima und der Klassenführung, Frankfurt a.M. 2002 und Hagenauer, Gerda; Hascher, Tina (Hg.): Emotionen und Emotionsregulation in Schule und Hochschule, Düsseldorf 2018, sowie Pekrun, Reinhard: Schüleremotionen und ihre Förderung. Ein blinder Fleck der Unterrichtsforschung, in: Psychologie in Erziehung und Unterricht 45 (1998), S. 230248. Neben den Bildungswissenschaften und der allgemeinen Didaktik betonen auch immer mehr Fachdidaktiken die Rolle von Emotionen für die einzelnen Unterrichtsfächer. Siehe hier beispielhaft für die Geschichtsdidaktik siehe Brauer, Juliane; Lücke, Martin (Hg.): Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, Göttingen 2013, für die Politikdidaktik Petri, Annette: Emotionssensibler Politikunterricht. Konsequenzen aus der Emotionsforschung für Theorie und Praxis politischer Bildung, Frankfurt a.M. 2018, für den Matheunterricht Hascher, Tina; Reindl, Sabine: Emotionen im Mathematikunterricht in der Grundschule, in: Unterrichtswissenschaft 41-3 (2013), S. 268-288 und Knollmann, Martin; Wild, Elke: Alltägliche Lernemotionen im Fach Mathematik: Die Bedeutung von emotionalen Regulationsstrategien, Lernmotivation und Instruktionsqualität, in:

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forschung der Wirkung einzelner, als positiv oder negativ angesehener Emotionen in Bezug auf die zumeist schulische Leistung (daher auch der Begriff der Leistungsemotionen) und der Entwicklung von Methoden zu deren Regulation.14 Im Ergebnis sind dabei vielfältige empirische Belege für die Rolle von Emotionen in Lehr-Lern-Prozessen und zugleich praktische Ansätze zu deren Nutzbarmachung entstanden. Gleichwohl bleiben immer noch viele Fragen unbeantwortet. Ist eine solche Manipulation überhaupt ethisch zulässig und falls ja, inwieweit und zu welchen (Bildungs-)Zwecken?15 Wie lässt sich sicherstellen, dass die Erforschung der Bedeutung von Emotionen für Lehr-Lern-Prozesse nicht dazu führt, lediglich neue Machttechniken zu entwickeln, mit denen Schüler*innen diszipliniert werden können? Darüber hinaus wird auch der Vielfalt emotionaler Stile und Emotionskulturen in Klassenräumen und Hörsälen noch zu wenig Beachtung geschenkt. Eine solche hat nicht nur Auswirkungen auf die Wirksamkeit der Regulationsmethoden, sondern auch auf die Forschung selbst. Das gilt besonders für Methoden, die den emotionalen Zustand aus sprachlichen Äußerungen zu erschließen versuchen. Was die Forschenden unter einer bestimmten Emotion verstehen, fällt eben nicht zwangsläufig mit dem zusammen, was sich die einzelnen Beforschten unter dieser vorstellen. Dies macht einerseits eine saubere Trennung der jeweiligen Forschungs- von den Quellenbegriffen und andererseits die bereits erwähnte erweiterte intensive Selbstreflexion nötig. Auch wissenschaftliche Beobachter*innen sind immer schon sozialisierte Beobachtende, deren Blick durch ihre jeweilige Sozialisation und damit durch das, was sie sich selbst unter Emotionen vorstellen und wie sie diese erleben, geprägt ist.16 Dabei kommt hinzu, dass auch in den Wissenschaften Uneinigkeit in Bezug auf die Definition von Emotionen herrscht. Da mittels dieser bestimmt wird, was Wissenschaftler*innen eigentlich untersuchen und

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Unterrichtswissenschaft 35-4 (2007), S. 334-354, sowie für den Physikunterricht Laukenmann, Matthias u.a.: Eine Untersuchung zum Einfluss emotionaler Faktoren auf das Lernen im Physikunterricht, in: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften 6 (2000), S. 139-155. Siehe dazu beispielhaft Götz, Thomas (Hg.): Emotion, Motivation und selbstreguliertes Lernen, 2. akt. Aufl., Paderborn 2017. Zur Problematik einer solchen angeordneten oder erwarteten Gefühlsarbeit siehe Hochschild, Arlie Russel: Das gekaufte Herz. Die Kommerzialisierung der Gefühle, erw. Neuausgabe, Frankfurt a.M. und New York 2006. Siehe dazu auch Reich, Kersten: Die Ordnung der Blicke. Perspektiven des interaktionistischen Konstruktivismus, Band 1, Neuwied u.a. 1998, S. 26.

Einleitung

welche Ergebnisse deren Analysen hervorzubringen vermögen, entsteht eine Vielfalt an Zugängen, die zwar zu reflektieren aber ausdrücklich auch zu begrüßen ist.17 Es kann also gar nicht darum gehen, sich auf ein wahres Wesen von Emotionen zu einigen, sondern die einzelnen Ansätze und Ergebnisse als komplementäre und komplettierende Elemente zu verstehen, mit denen die eigenen blinden Flecken ausgeleuchtet werden können. Auch deshalb kann noch lange keine Rede davon sein, dass die Erforschung von Emotionen allgemein wie auch speziell in Bezug auf Lehr-Lern-Prozesse abgeschlossen sei. Obwohl nun Emotionen in verschiedenen Wissenschaften als Analysekategorie und Erklärungsansatz fruchtbar gemacht worden sind, verzichten die Fachdidaktiken bisher noch weitestgehend darauf, diese auch als Unterrichtsthema zu behandeln. Zwar betonen Brauer und Lücke in ihrem programmatischen Band »Emotionen, Geschichte und historisches Lernen« ausdrücklich die Bedeutung von Emotionen für das Verstehen historischer Akteur*innen und damit für den Geschichtsunterricht, merken dabei aber zugleich an, dass sich diese Sichtweise bisher kaum in geschichtsdidaktischen Konzepten und Lehrplänen niedergeschlagen habe.18 Hinzu kommt, dass selbst im geschichtsdidaktischen Bereich die Historizität von Emotionen und Emotionskulturen bisher nicht ausreichend reflektiert worden ist.19 Ähnlich sieht es

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Siehe dazu Ernst, Sebastian: Kulturwissenschaftliches Forschen als anlasslose Selbsttherapie, in: Tomović, Jelena; Nicke, Sascha (Hg.): Un-Eindeutige Geschichte(n)?! Theorien und Methoden in den Kultur-/Geschichtswissenschaften, Berlin 2020, S. 219-239, sowie den Beitrag »And you’ve lost nothing but your illusions…and a little bit of skin.« – Emotionaler Konstruktivismus und konstruierte Emotionalität in der (Geschichts-) Wissenschaft in diesem Band. Vgl. Brauer; Lücke, Einführende Überlegungen, S. 14 und 17. So wird beispielsweise in der Einführung des Bandes von Brauer und Lücke zu Recht darauf hingewiesen, dass ein Einfühlen in historische Akteur*innen, vor allem aufgrund eines anderen Erfahrungshorizonts und anderer Deutungsmuster, nicht möglich ist, sondern nur eine Annäherung. Zugleich wird darauf hingewiesen, dass sich die Bedeutung bestimmter Gefühle historisch gewandelt habe. Vgl. Brauer, Juliane; Lücke, Martin: Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Einführende Überlegungen, in: Dies. (Hg.): Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, Göttingen 2013, S. 11-26, S. 13f. Es ändern sich aber eben nicht nur die Bedeutung von Emotionen, die Deutung von Ereignissen, persönliche Erfahrungen und gesellschaftliche Umstände, sondern eben auch das Verständnis und Erleben von Emotionen. Selbst eine Annäherung erscheint also problematisch, insofern sich die Wut des 17. Jahrhunderts gänzlich von einer Wut des 21. Jahrhunderts unterscheiden kann. Vgl. dazu Stalfort. S. 70-91.

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im Hinblick auf die Politikdidaktik aus. Auch hier wird zunehmend die Rolle von Emotionen betont und deren thematische Berücksichtigung im Unterricht eingefordert.20 Gleichzeitig ist aber auch im Vorwort des 2019 erschienenen Bandes »Emotionen im Politikunterricht« davon die Rede, dass »Debatten zusehends emotionaler geführt« werden und politische Auseinandersetzungen nicht nur »affektgeladener«, »stimmungsabhängiger« seien, sondern auch gelegentlich den »emotionalen Siedepunkt« überschreiten würden.21 Diese Aussage aber macht nur vor dem Hintergrund eines ganz konkreten Emotionsverständnisses und einer spezifischen Emotionskultur überhaupt Sinn, die es zu re- und dekonstruieren gilt, um die Wirkmächtigkeit solcher Zuschreibungen zu thematisieren. Eine dezidierte Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Emotionskultur und vor allem auch der eigenen Emotionalität findet in aller Regel nicht statt. Eine Ausnahme bildet hier das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde im Land Brandenburg. Im aktuellen Rahmenlehrplan werden Emotionen explizit als wichtiger Aspekt menschlichen Handels und damit als unerlässlich für einen lebensweltorientierten Unterricht erkannt. Eigene und fremde Emotionen wahrzunehmen und zu deuten gehört entsprechend zu den zu entwickelnden Kompetenzen. Darüber hinaus aber bleibt die Rolle von Emotionen, vor allem auch in Bezug auf Argumentieren und Urteilen, noch weitestgehend unbeachtet.22 Grundsätzlich fehlt es auch an konkreten Vorschlägen und Ideen, wie und auf welche Weise Emotionen in den einzelnen Fächern zum Thema gemacht werden können und sollen und wie eine entsprechende fächerübergreifende oder fachspezifische emotionale Kompetenz als Teil schulischer Bildung zu formulieren sei.23 20 21 22

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Siehe dazu beispielhaft Frech, Siegfried; Richter, Dagmar (Hg.): Emotionen im Politikunterricht, Frankfurt a.M. 2019. Vgl. Frick, Lothar: Vorwort, in: Frech Siegfried; Richter, Dagmar (Hg.): Emotionen im Politikunterricht, Frankfurt a.M. 2019, S. 5-7, S. 5. Vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft Berlin/Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (2017): Rahmenlehrplan Jahrgangsstufen 1-10. Teil C: Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (5-10 Brandenburg), insbesondere die Seiten 5, 7, 13 und 24, online: http://bildungsserver.berlin-brandenb urg.de/fileadmin/bbb/unterricht/rahmenlehrplaene/Rahmenlehrplanprojekt/amtliche _Fassung/Teil_C_L-E-R_2015_11_10_WEB.pdf Ein interessanter Ansatz, der allerdings weniger Emotionen und Emotionalität zum Thema des Unterrichts macht als den Unterricht dahingehend gestaltet, bestimmte Emotionen auch außerhalb der Schule zu regulieren, findet sich in der Biologiedidaktik. Konkret geht es darum, Kindern durch einen entsprechenden Unterricht die Angst

Einleitung

Bis hierher sind also bereits viele wichtige Beiträge zur Erforschung der Bedeutung von Emotionen für das wissenschaftliche Arbeiten und zu deren Rolle in Lehr-Lern-Prozessen geleistet worden. Gleichwohl steht insbesondere die Frage nach deren produktiver Einbindung in jene Praktiken und Prozesse noch am Anfang. Es werden somit weitere sowohl theoretische Ansätze als auch empirische Forschungen benötigt, um sich der Komplexität und Vielschichtigkeit des Themas weiter anzunähern. Der vorliegende Band möchte einen weiteren Beitrag dazu leisten und versammelt, unterteilt in drei thematische Abschnitte, weitere Perspektiven auf die Bedeutung von Emotionen in Forschung, Lehre und Unterricht. Im ersten Abschnitt des Buches liegt der Fokus auf der Forschung. Den Anfang macht ein Beitrag von mir, Sebastian Ernst, in dem ich mein Verständnis von geschichtswissenschaftlicher Forschung skizziere, in dem die forschenden Akteur*innen als sozialisierte, biografisch geprägte, von Vorannahmen und Erfahrungen beeinflusste Konstrukteur*innen von Geschichte ernst genommen werden und die eigene Emotionalität zur konstruktiv nutzbaren Ressource im Forschungsprozess gemacht werden kann. Im nächsten Beitrag widmet sich Heike Ortner der besonderen Problematik der eigenen Emotionalität in Forschungsprozessen, die ihrerseits Emotionen zum Gegenstand haben. Ausgehend von eigenen Beispielen in der interaktionalen Analyse von Emotionen stellt sie heraus, vor welchen methodologischen, ethischen und persönlichen Herausforderungen Forschende hierbei stehen und stellt anschließend methodische Prinzipien von Emotionsanalysen aus linguistischer Sicht zur Diskussion. Ralf Pröve leitet mit seinem Beitrag zur Rolle von Emotionen bei der Vermittlung kulturwissenschaftlicher bzw. kulturgeschichtlicher Inhalte den zweiten Abschnitt zu Emotionen in universitären Lehr-Lern-Prozessen ein. In diesem plädiert er dafür, Gefühle nicht nur als wesentliches Fundament für eine gelungene Lehre anzusehen, sondern deren historiografische Betrachtung zudem als erkenntnistheoretisches Mittel nutzbar zu machen. Im Zentrum steht hierbei die Reflexion über sich selbst und die eigene (Emotions-)Kultur, durch die sich sowohl Dozierende wie auch Studierende in ihrer immer präsenten Doppelrolle als Forschende und Akteur*innen erfahren können.

und den Ekel vor Spinnen zu nehmen. Vgl. Dräger, Manuela; Voigt, Helmut: Von Angst und Ekel zu Interesse, in: Erkenntnisweg Biologiedidaktik 6 (2007), S. 133-149.

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Der Beitrag von Roland Schuster befasst sich aus interventionswissenschaftlicher Sicht mit einem erfahrungsbasierten Ansatz für die Lehre im Bereich der Mitarbeiterführung. Hierbei wird der Unterricht als erfahrungsgenerierende und zugleich sozialisierende Situation begriffen, in die die Beteiligten emotional involviert sind. Die gemeinsame Reflexion nicht nur rationalen, sondern eben auch akuten emotionalen Erlebens, ermögliche es dabei, die durch die Lehrkraft eingebrachten abstrakten Theorien am eigenen Beispiel in die Praxis zu überführen. Wenn die eigene Emotionalität Einfluss auf das Lehren und Lernen hat, dann ist es unerlässlich, dies auch in der Ausbildung von Lehrkräften zu berücksichtigen. Auf Basis psychoanalytisch-pädagogischer Überlegungen entwickeln Margit Datler und Bernhard Rauh in ihrem Beitrag ein Konzept einer entsprechenden emotionalen Bildung für das Schulpraktikum. Ziel dessen ist es, die eigenen Emotionen, die sich in der beruflichen Praxis von Pädagog*innen zwangsläufig einstellen, in den Erziehungs- und Bildungsprozess einbringen zu können und somit eine unbewusste Projektion dieser Emotionen auf die Schüler*innen zu vermeiden. Maja Linke wählt einen künstlerischen Zugang zum Thema. In ihrem Beitrag greift sie den Satz »Malen ist ja eine andere Form des Denkens« des Malers Gerhard Richter auf und denkt/malt diesen in vier kleinformatigen Text-Malereien neu. Das Ergebnis stellt dabei keinen Abschluss dar, sondern betont Denken, Malen und eben auch Lehre als Frage und Befragung, die notwendigerweise unabgeschlossen bleiben (müssen). Der dritte Abschnitt fokussiert schließlich auf Emotionen in schulischen Lehr-Lern-Prozessen und wird durch den Beitrag von Corinna Lagemann eingeleitet. Ausgehend von dem phänomenologischen Ansatz Hermann Schmitz’ zeichnet sie das Klassenzimmer als einen spezifischen emotionalen Raum nach. Lagemann geht es dabei weniger um die individuellen Emotionen der einzelnen Schüler*innen, als vielmehr um Phänomene des kollektiven Fühlens und des emotionalen Klimas, die jenen Raum formen aber auch durch diesen geformt und eingehegt werden (können). Petra Lenz präsentiert in ihrem Beitrag ein Konzept für einen religionskundlichen Unterricht, der nicht vermeintliche Fakten über religiöse Institutionen in den Mittelpunkt stellt, sondern religiöse und spirituelle Erfahrungen von gläubigen Menschen. Zugleich müsse den Schüler*innen der Raum geboten werden, sich reflexiv auch mit den eigenen Gefühlen, inklusive jenen der Abwehr gegenüber Religionen, auseinanderzusetzen. Mit einem solchen, im doppelten Sinne emotionssensiblen Unterricht ließe sich schließlich der

Einleitung

oftmals kognitiven Verständnislosigkeit gegenüber Religionen und religiösen Menschen begegnen. Den Abschluss bildet erneut ein Beitrag von mir. Ausgehend von der Bedeutung von Emotionen für das ethische Handeln, betrachte ich digitale Spiele hinsichtlich ihrer Eignung als Medium für einen emotionsintegrierenden Ethik- und LER-Unterricht. Neben den theoretischen Überlegungen stelle ich anschließend eine Unterrichtsidee zur Diskussion, die ich an zwei Schulen erproben durfte.

Anmerkungen zu Form und Format Bei der Betrachtung der einzelnen Beiträge dürfte den Leser*innen auffallen, dass darauf verzichtet worden ist, die Beiträge in Bezug auf Form und Format einheitlich zu gestalten. Dies war eine bewusste Entscheidung, für die insbesondere drei Gründe ausschlaggebend waren. Erstens ist Sprache immer auch politisch. Ein Beispiel hierfür ist die Wahl von geschlechtergerechter Sprache, für die es jedoch keine einheitliche Form gibt. Die einzelnen Varianten sind zudem nicht einfach austauschbar, sondern gründen sich auf unterschiedlichen Konzepten. Eine Vereinheitlichung würde also nicht nur die von den einzelnen Autor*innen getroffenen Entscheidungen negieren, sondern eine bestimmte Form begünstigen und damit Alternativen unsichtbar machen. Zweitens sind in diesem Band Beiträge aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen versammelt, die unterschiedlichen Konventionen, beispielsweise in Bezug auf die Zitierweise, folgen. Die jeweilige Form lässt sich dabei nicht nur als traditionsbezogene oder rein ästhetische Entscheidung betrachten, sondern enthält immer auch eine Aussage über die grundsätzliche Perspektive, aus der heraus ein Beitrag gedacht worden ist und geschrieben wird. Das Layout kann also durchaus als wichtiger Teil des Textes angesehen werden. Er ist mehr als nur dessen äußere, vom Inhalt vermeintlich unabhängige Form.24 Das gilt umso mehr, als dass die Regeln der Textgestaltung (und dazu zählt auch die Einheitlichkeit) der Wissenschaftsgemeinschaft dazu dienen, auf formaler Ebene den Eindruck von Wissenschaft-

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Im Grunde geht es also darum, wissenschaftliche Arbeiten auch als kreative Arbeite und damit als Gesamt(kunst)werk zu betrachten. In Bezug auf Lyrik oder Versformen würde beispielsweise niemand bezweifeln, dass die Form Teil des Werkes ist bzw. sein kann. Für diesen zusätzlichen Hinweis danke ich übrigens Annika Hübner.

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lichkeit und damit von Qualität zu erzeugen. Formale Vorgaben sind damit Teil wissenschaftlicher Selbstinszenierung und –vergewisserung.25 Entgegen der damit einhergehenden Einhegung, die einen, nicht immer gerechtfertigten Vertrauensvorschub schafft, wird auch auf diese Ebene der Vielfalt der Vorzug gegeben. Drittens schafft die hier gewählte Offenheit eine zusätzliche Freiheit, die, passend zum Thema, ihrerseits emotionale Prozesse sowohl bei den Autor*innen als auch bei den Leser*innen abbildbar macht und hervorrufen kann. So erschöpft sich das emotionale Potential eines Textes eben nicht nur im Inhalt, sondern speist sich ebenso aus der Form. Das gilt dabei ausdrücklich auch für wissenschaftliche Textformen.26 Darüber hinaus steigert sich bei mir persönlich beispielsweise das Wohlbefinden beim Schreiben, wenn ich jene Formen und Zitierweisen nutzen kann, die für die wissenschaftlichen Bereiche, in denen ich sozialisiert bin, üblich sind und mit denen ich mich folglich am sichersten fühle. So wenig wie ich mich dadurch selbst dem Frust aussetze, mein Schreiben an externe Vorgaben anpassen zu müssen, so wenig möchte ich dies folglich auch für die anderen Autor*innen. Auf der anderen Seite kann diese Freiheit aber auch das Bedürfnis nach Ordnung irritieren und so zu Unmut sowohl bei den Lesenden als auch bei den Schreibenden führen. Damit geraten das Lesen und Schreiben der Beiträge im Rahmen dieser Vorgaben selbst zu einem kleinen Experiment emotionaler Beobachtung, in welchem zumindest ein Stück weit die Rolle von Emotionen auch in Bezug auf formale Ordnungen sichtbar werden kann.

Literatur Arnold, Rolf: Seit wann haben Sie das? Grundlagen eines Emotionalen Konstruktivismus, 2. Aufl., Heidelberg 2012. 25

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Etzemüller spricht hierbei von sog. »Wahrheitsinsignien«, die in wissenschaftliche Texte eingeflochten werden, um so mittels formaler Mittel Vertrauen und Relevanz für den Inhalt erzeugen. Vgl. Etzemüller, Thomas: »It’s the performance, stupid« Performanz Evidenz: Der Auftritt in der Wissenschaft, in: ders. (Hg.): Der Auftritt. Performanz in der Wissenschaft, Bielefeld 2019, S. 9-44, S. 22. Siehe dazu beispielhaft Ortner, Heike: Text und Emotion. Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele emotionslinguistischer Textanalyse, Tübingen 2014, S. 106. sowie Schwarz-Friesel, Monika: Sprache und Emotion, 2. akt. und erw. Aufl., Tübingen und Basel 2013, insbesondere die Kapitel 5 und 6.

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Arnsperger, Malte; Giese, Christopher: »Gretas Wut-Rede hat mich tief berührt« – »Greta hat sich disqualifiziert, Focus 2019, online: https://ww w.focus.de/politik/ausland/gretas-emotionale-rede-in-new-york-ist-dra stisches-auftreten-noetig-oder-stoesst-es-ab_id_11178190.html Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, 6. Aufl., Reinbek 2018. Battacchi, Marco W.; Renna, Margherita; Suslow, Thomas: Emotion und Sprache: Zur Definition der Emotion und ihren Beziehungen zu kognitiven Prozessen, dem Gedächtnis und der Sprache, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1997. Brandenberger, Claudia C.; Hascher, Tina: Emotionen und Lernen im Unterricht, in: Huber, Matthias; Krause, Sabine (Hg.): Bildung und Emotion, Wiesbaden 2018, S. 289-310. Brauer, Juliane; Lücke, Martin: Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Einführende Überlegungen, in: Dies. (Hg.): Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, Göttingen 2013, S. 11-26. Brauer, Juliane; Lücke, Martin (Hg.): Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, Göttingen 2013. Ciompi, Luc: Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik, 2. durchg. Aufl., Göttingen 1999. Damasio, Antonio R.: Der Spinoza Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen, 8. Aufl., Berlin 2014. Dräger, Manuela; Voigt, Helmut: Von Angst und Ekel zu Interesse, in: Erkenntnisweg Biologiedidaktik 6 (2007), S. 133-149. Engelen, Eva-Maria u.a.: Emotions as Bio-cultural Processes: Disciplinary Debates and an Interdisciplinary Outlook, in: Markowitsch, Hans J.; Röttgern-Rössler, Birgitt (Hg.): Emotions as Bio-cultural Processes, New York 2009, S. 23-53. Ernst, Sebastian: Kulturwissenschaftliches Forschen als anlasslose Selbsttherapie, in: Tomović, Jelena; Nicke, Sascha (Hg.): Un-Eindeutige Geschichte(n)?! Theorien und Methoden in den Kultur-/Geschichtswissenschaften, Berlin 2020, S. 219-239. Etzemüller, Thomas: »It’s the performance, stupid« Performanz Evidenz: Der Auftritt in der Wissenschaft, in: ders. (Hg.): Der Auftritt. Performanz in der Wissenschaft, Bielefeld 2019, S. 9-44. Frech, Siegfried; Richter, Dagmar (Hg.): Emotionen im Politikunterricht, Frankfurt a.M. 2019.

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Frick, Lothar: Vorwort, in: Frech, Siegfried; Richter, Dagmar (Hg.): Emotionen im Politikunterricht, Frankfurt a.M. 2019, S. 5-7. Götz, Thomas (Hg.): Emotion, Motivation und selbstreguliertes Lernen, 2. akt. Aufl., Paderborn 2017. Hagenauer, Gerda; Hascher, Tina (Hg.): Emotionen und Emotionsregulation in Schule und Hochschule, Münster und New York 2018. Hartmann, Martin: Gefühle. Wie die Wissenschaften sie erklären, 2. akt. Aufl., Frankfurt a.M. und New York 2010. Hascher, Tina; Reindl, Sabine: Emotionen im Mathematikunterricht in der Grundschule, in: Unterrichtswissenschaft 41-3 (2013), S. 268-288. Hitzer, B., & Gammerl, B. (2013). Wohin mit den Gefühlen? Vergangenheit und Zukunft des Emotional Turn in den Geschichtswissenschaften. Berliner Debatte Initial, 24(3), S. 31-40. Hochschild, Arlie: Das gekaufte Herz. Die Kommerzialisierung der Gefühle, erw. Neuausgabe, Frankfurt a.M. 2006. Huber, Matthias: Emotionale Markierungen. Zum grundlegenden Verständnis von Emotionen für bildungswissenschaftliche Überlegungen, in: Huber, Matthias; Krause, Sabine (Hg.): Bildung und Emotion, Wiesbaden 2018, S. 91-110. Huber, Matthias; Krause, Sabine: Bildung und Emotion, in: Huber, Matthias; Krause, Sabine (Hg.): Bildung und Emotion, Wiesbaden 2018, S. 1-13. Hülshoff, Thomas: Emotionen, 2. Aufl., München 2001. Knollmann, Martin; Wild, Elke: Alltägliche Lernemotionen im Fach Mathematik: Die Bedeutung von emotionalen Regulationsstrategien, Lernmotivation und Instruktionsqualität, in: Unterrichtswissenschaft 35-4 (2007), S. 334-354. Landweer, Hilge: »Vor der Kreuzspinne braucht man sich nicht zu fürchten.« Emotionen, Situationen und Angemessenheit, in: Gebauer, Gunter; Edler, Markus (Hg.): Sprachen der Emotion. Kultur, Kunst, Gesellschaft, Frankfurt a.M. und New York 2014, S. 49-68. Laukenmann, Matthias u.a.: Eine Untersuchung zum Einfluss emotionaler Faktoren auf das Lernen im Physikunterricht, in: Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften 6 (2000), S. 139-155. Lubrich, Oliver; Stodulka, Thomas: Emotionen auf Expeditionen. Ein Taschenbuch für die ethnographische Praxis, Bielefeld 2019. Meier-Seethaler, Carola: Gefühl und Urteilskraft. Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft, München 1997.

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Ortner, Heike: Text und Emotion. Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele emotionslinguistischer Textanalyse, Tübingen 2014. Pekrun, Reinhard: Emotion, Lernen und Leistung, in: Huber, Matthias; Krause, Sabine (Hg.): Bildung und Emotion, Wiesbaden 2018, S. 215-231. Pekrun, Reinhard: Schüleremotionen und ihre Förderung. Ein blinder Fleck der Unterrichtsforschung, in: Psychologie in Erziehung und Unterricht 45 (1998), S. 230-248. Petri, Annette: Emotionssensibler Politikunterricht. Konsequenzen aus der Emotionsforschung für Theorie und Praxis politischer Bildung, Frankfurt a.M. 2018. Reich, Kersten: Die Ordnung der Blicke. Perspektiven des interaktionistischen Konstruktivismus, 2 Bände, Neuwied u.a. 1998. Rosenwein, Barbara H.: Emotional communities in the early Middle Ages, Ithaca 2006. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft Berlin/Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (2017): Rahmenlehrplan Jahrgangsstufen 1-10. Teil C: Lebensgestaltung-EthikReligionskunde (5-10 Brandenburg), online: http://bildungsserver.berlinbrandenburg.de/fileadmin/bbb/unterricht/rahmenlehrplaene/Rahmenle hrplanprojekt/amtliche_Fassung/Teil_C_L-E-R_2015_11_10_WEB.pdf. Schwarz-Friesel, Monika: Sprache und Emotion, 2. akt. und erw. Aufl., Tübingen und Basel 2013. Stalfort, Jutta: Die Erfindung der Gefühle. Eine Studie über den historischen Wandel menschlicher Emotionalität (1750-1850), Bielefeld 2013. Standop, Jutta: Emotionen und kognitives schulisches Lernen aus interdisziplinärer Perspektive. Emotionspsychologische, neurobiologische und schulpädagogische Zusammenhänge – ihre Berücksichtigung im schulischen Bildungsauftrag wie den Forschungen zum Unterrichtsklima und der Klassenführung, Frankfurt a.M. 2002. Stearns, Carol Z.; Stearns, Peter N.: Emotionology: Clarifying the History of Emotions and Emotional Standards, in: American Historical Review 90 (1985), S. 813-830. Trepp, Anne-Charlott: Gefühl oder kulturelle Konstruktion? Überlegungen zur Geschichte der Emotionen, in: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 7 (2002), S. 86-103. Von Scheve, Christian: Emotionen und soziale Strukturen. Die affektiven Grundlagen sozialer Ordnung, Frankfurt a.M. 2009.

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»And you’ve lost nothing but your illusions… and a little bit of skin.«1 Emotionaler Konstruktivismus und konstruierte Emotionalität in der (Geschichts-)Wissenschaft Sebastian Ernst

Einen Aufsatz über Emotionen und ihren Einfluss auf die eigene Forschung zu schreiben ist, wie könnte es auch anders sein, selbst eine ziemlich emotionale Angelegenheit. Auf die Freude über die erste Idee, folgen schnell auch die ersten Selbstzweifel. Die eigenen und fremden Erwartungen und Zwänge sind aber lange nicht die einzigen Ursachen von Emotionen. Auch die Auseinandersetzung mit den zu erforschenden Phänomenen selbst und deren bisheriger Deutung kann ganz unterschiedliche Gefühle hervorrufen. Ich möchte dies kurz am Beispiel des Konzepts»Absolutismus« verdeutlichen. Im Zuge meiner Forschung (und Lehre) zu frühneuzeitlichen Gesellschaften werde ich immer wieder mit diesem konfrontiert. Mit »Absolutismus« ist dabei grob die Idee gemeint, dass sich Herrschaft vom Fürsten ausgehend durch seine Befehle nach unten ergießt. Die Untertanen werden hierbei zu passiven Befehlsempfänger*innen, die die Anweisungen entweder befolgen oder aber einen Kopf kürzer gemacht werden. Dieses Konzept löst bei mir einen ganzen emotionalen Cocktail aus. Zum Beispiel ärgere ich mich darüber, dass sich diese Vorstellung von frühneuzeitlicher Herrschaft noch immer hartnäckig hält. Das motiviert mich wiederum dazu, deren Unangemessenheit ausgesprochen deutlich herauszustellen. Vielleicht auch zu deutlich. Und dann fühle ich mich schlecht und ringe mit meiner konstruktivistischen Überzeugung bezüglich der Relativität und Perspektivität historiografischer Erzählungen.

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Dieses wie auch die folgenden Zitate stammen aus dem Film Instinct (USA 1999, R: Jon Turteltaub), der lose auf Daniel Quinns Roman Ismael basiert und im Grunde darauf abzielt, liebgewonnene Erzählungen infrage zu stellen.

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Ich ärgere mich also erst über das Konzept, nur um mich im Anschluss für meine mangelnde Demut zu schämen. Wissenschaftler*innen, zu denen ich mich zähle, sind also unzweifelhaft emotionale Wesen. Als solche bringen sie ihre Emotionalität in ihre Arbeit hinein. Zugleich scheint auch der Akt bzw. die Praxis des Forschens Emotionen hervorzurufen. Damit stellt sich die Frage, welche Rolle die eigene Emotionalität im Forschungsprozess nun eigentlich spielt. Was bedeutet das für die Forschungsergebnisse? Wie kann damit umgegangen werden? Dies möchte ich im Folgenden am Beispiel der Geschichtswissenschaft diskutieren.2

»Now, pay attention, because I’m good at this.« – Grundlagen Zunächst ist allerdings zu klären, was ich hier mit dem Begriff »Emotion« eigentlich meine. Dieser unterliegt nicht nur einem historischen Wandel, sondern ist auch in den Wissenschaften uneinheitlich definiert.3 Je nach einbezogenen Wissensbeständen, Erkenntnisinteressen und Forschungstraditionen aber auch lebensweltlichen Vorstellungen werden dem Phänomen der Emotion verschiedene Bestandteile zugeordnet und unterschiedliche Komponenten betont. Vom jeweiligen Emotionskonzept hängt damit auch ab, welche Wirkungen auf emotionale Prozesse zurückgeführt werden können und somit, wofür diese also ein sinnvolles Erklärungsprinzip abgeben.4 Was in der einen Perspektive als emotionslos erscheint, kann in einer anderen als Ausdruck einer spezifischen Emotionalität verstanden werden, die bestimmte emotionale Prozesse übersieht oder gezielt zu unterdrücken sucht. Weiterhin bedingt diese Entscheidung auch, welche Komponenten als von sozialen und individuellen Einflüssen abhängig gedacht werden können und welche Mittel für die Regulation emotionaler Erregungszustände zur Verfügung stehen. Das bedeutet, immer (also auch im Rahmen wissenschaftlicher Forschungen und 2 3

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Grundsätzlich lässt sich diese Diskussion aber auf sämtliche interpretierenden Wissenschaften (in gewissem Sinne also alle überhaupt) übertragen. Vgl. dazu Lubrich, Oliver; Stodulka, Thomas: Emotionen auf Expeditionen. Ein Taschenbuch für die ethnographische Praxis, Bielefeld 2019, S. 13. Zum historischen Wandel siehe exemplarisch Stalfort, Jutta: Die Erfindung der Gefühle. Eine Studie über den historischen Wandel menschlicher Emotionalität (1750-1850), Bielefeld 2013. Siehe dazu auch Perler, Dominik: Wozu philosophiehistorische Emotionsforschung? Methodologische Überlegungen, in: Edler, Markus; Gebauer, Gunter (Hg.): Sprachen der Emotion. Kultur, Kunst, Gesellschaft, Frankfurt und New York 2014, S. 23-48, S. 28.

Emotionaler Konstruktivismus und konstruierte Emotionalität

Arbeiten) wenn von Emotionen als Ursache oder Wirkung die Rede ist, handelt es sich zunächst um Zuschreibungen gemäß der jeweiligen Definition und nicht um die Erfassung des tatsächlichen Zustands der Akteur*innen. Das gilt damit letztlich auch für die eigene Emotionalität und die folgenden Ausführungen. Es ist also nötig, eine Entscheidung zu treffen, die jedoch nicht das Ziel hat und haben kann, das »wahre Wesen« von Emotionen zu bestimmen.5 Stattdessen geht es darum, eine viable Definition auszuwählen, also eine, die für die eigene Fragestellung tauglich ist.6 In meinem Fall bedeutet das, einen möglichst offenen Ansatz zu wählen, um nicht schon vorab eine Vielzahl an Prozessen auszuschließen, die sich auf den wissenschaftlichen Arbeitsprozess auswirken könnten. Da dieser vor allem in Praktiken des Denkens und Kommunizierens besteht, sollten zugleich besonders die kognitiven und kommunikativen Aspekte im Fokus stehen. Um dann auch die Frage beantworten zu können, wie ein Umgang gestaltet werden kann, sind zugleich Konzepte interessant, die die Wechselwirkungen der einzelnen Komponenten betonen.7 Entsprechend dieser Vorgabe, habe ich mich für einen integrativen Ansatz entschieden, der die biologischen mit den kulturellen Aspekten verbindet und auf den Arbeiten von Damasio, Barret, Ciompi, sowie von Scheve und Hartmann basiert.8 Dieser sieht vor, Emotionen als aus verschiedenen Ebenen bestehend zu begreifen. Da wäre zunächst die kognitive Ebene zu nennen. Bei dieser handelt es sich um die evaluative Funktion von Emotionen, bei der ein äußerer oder innerer Reiz mit bestimmten inneren Zustän5

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Vgl. dazu auch Ciompi, Luc: Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik, 2., durchg. Aufl., Göttingen 1999, S. 67, ebenso Arnold, Rolf: Ach, die Fakten! Wider den Aufstand des schwachen Denkens, Heidelberg 2018, S. 61f, sowie Barrett: Lisa Feldman: How Emotions Are Made. The Secret Life of the Brain, New York 2017, S. 25-41. An die Stelle der »Wahrheit« im Sinne der Passung einer Definition mit der »realen Welt« tritt also das Konzept der Viabilität. Der genutzte Forschungsbegriff muss also in erster Linie tauglich sein, um die Erfahrungen, die damit betrachtet werden, untersuchen zu können. Zum Begriff der Viabilität siehe von Glasersfeld, Ernst: Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme, 8. Aufl., Frankfurt a.M. 2018, S. 43, sowie Simon, S. 68-70. Vgl. dazu Hartmann, Martin: Gefühle. Wie die Wissenschaften sie erklären, 2. akt. Aufl., Frankfurt a.M. und New York, 2010, S. 135. Zu den Wechselwirkungen siehe beispielhaft von Scheve, Christian: Emotionen und soziale Strukturen. Die affektiven Grundlagen sozialer Ordnung, Frankfurt a.M. 2009, S. 106f. Siehe dazu die entsprechenden Einträge im Literaturverzeichnis.

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den (bspw. Bedürfnissen) in Relation gesetzt und diesem daraufhin Bedeutung zugemessen wird.9 Diese bestimmt dann darüber, wie die weitere Verarbeitung abläuft, ob eher schnell und grob mittels vorgefertigter Muster oder langsamer und komplexer, wofür eine ganze Reihe weiterer kognitiver Prozesse aktiviert werden muss.10 Zu diesen gehören der Abruf von Erinnerungen oder Wissensbeständen sowie eine erhöhte Aufmerksamkeit, um langsamer aber adäquater reagieren zu können.11 Dabei kann es auch dazu kommen, dass die zuvor zugeschriebene Bedeutung revidiert wird. Beispielsweise entpuppt sich das als vermeintliche Schlange wahrgenommene Objekt letztlich als Seil oder aber die Steuerrückzahlung fällt leider doch viel niedriger aus als erhofft. Mit dieser Einschätzung sind körperliche Reaktionen wie Hormonausschüttungen, Veränderungen in Herz-Kreislaufsystem und Atmung, das An- oder Entspannen von Muskeln usw. verbunden. Diese physiologische Ebene dient dazu, den Organismus körperlich auf ein entsprechendes Handeln vorzubereiten. Zugleich können sich diese Veränderungen angenehm oder unangenehm anfühlen, stark oder schwach wahrgenommen werden und verschieden lange anhalten, so dass der Organismus in verschiedenem Maße und in unterschiedlicher Dauer zum Handeln motiviert wird.12 Sofern diese Vorgänge durch Mimik oder Gestik sichtbar werden, dienen sie dazu, den eigenen Zustand anderen Artgenoss*innen mitzuteilen. Diese rudimentäre

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Vgl. Damasio, Antonio R.: Der Spinoza Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen, 8. Aufl., Berlin 2014, S. 68f, von Scheve, S. 105f und 112f, Engelen, Eva-Maria u.a.: Emotions as Bio-cultural Processes: Disciplinary Debates and an Interdisciplinary Outlook, in: Markowitsch, Hans J.; Röttgern-Rössler, Birgitt (Hg.): Emotions as Bio-cultural Processes, New York 2009, S. 23-53, S. 30ff, Stalfort, S. 43ff, sowie Hülshoff, Thomas: Emotionen, 2. Aufl., München 2001, S. 14. Zur Varianz dieser Einschätzungsdimensionen siehe beispielhaft von Scheve, S. 114ff. Siehe dazu besonders auch die Bedeutung der Amygdala, die dem Sinneseindruck affektive Bedeutung zuweist. Vgl. von Scheve, S. 89ff. Der Begriff »Informationen« ist hierbei nicht kognitiv zu verengen, sondern kann im Sinne von »Perturbationen« weiter gefasst werden, also allen Einflüssen, die auf das sich erhaltende System einwirken und somit einen Anpassungsdruck erzeugen. Siehe dazu von Scheve, S. 216ff. Vgl. Battacchi, Marco W.; Renna, Margherita; Suslow, Thomas: Emotion und Sprache: Zur Definition der Emotion und ihren Beziehungen zu kognitiven Prozessen, dem Gedächtnis und der Sprache, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1997, S. 41, sowie S. 85 und S. 90. Vgl. ebenso Huber, Matthias: Lernen und Emotion, S. 454, online: https://www.researchgat e.net/publication/321310475_Lernen_und_Emotion Vgl. dazu auch Batachi, S. 40.

Emotionaler Konstruktivismus und konstruierte Emotionalität

Kommunikationsebene wird schließlich durch das tatsächliche Handeln erweitert, das zudem dazu dient, die auftretende Emotion zu bewältigen. Dies geschieht in der Regel mittels bestehender Handlungsroutinen, die an die jeweiligen Einschätzungen und physiologischen Erregungen gekoppelt werden und mit diesen ein gemeinsames Muster bilden.13 Wer eine Schlange entdeckt, die bei ihm Angst auslöst, nimmt wahrscheinlich die Beine in die Hand und macht sich davon, wer sich hingegen um seine Steuererklärung betrogen fühlt und darüber wütend ist, verspürt vielleicht eher den Drang, dem Finanzamt mal die Meinung zu sagen. Dies wäre die performative Ebene. Ein großer Teil der emotionalen Prozesse und Muster läuft allerdings unterhalb der Bewusstseinsgrenze ab. Nur diejenigen, die diese Schwelle überschreiten, können zu sog. Fühl- oder Emotionskonzepten weiterentwickelt werden. Dazu werden die entsprechenden emotionalen Prozesse und Empfindungen sprachlich eingehegt und auf diese Weise außerhalb ihres konkreten Auftretens kommunizierbar gemacht.14 Damit können diese dann sozialen und kulturellen Aushandlungs-, Ausgestaltungs-, Normierungs- und Wertungsprozessen unterworfen werden, aus denen sich gruppenspezifische Modellierungen bilden, die in mehr oder weniger expliziten Emotionsregeln ausformuliert werden.15 Diese können sich dabei nicht nur darauf beziehen, wie, wann, wo, von wem, welche Emotionen zu empfinden sind und in welcher Form sie ausgedrückt werden können und dürfen, sondern auch, wie diese zu empfinden sind bzw. was eigentlich empfunden wird. Das wird möglich, weil von der jeweiligen sozialen Gruppe bestimmte Vorstellungen darüber vermittelt werden, welche der prinzipiell wahrnehmbaren Körperpro13

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Vgl. Trepp, Anne-Charlott: Gefühl oder kulturelle Konstruktion? Überlegungen zur Geschichte der Emotionen, in: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 7 (2002), Stuttgart und Weimar 2002, S. 86-103, S. 88. Vgl. ebenso Franks, David D.: The Neuroscience of Emotions, in: Stets, Jan E.; Turner, Jonathan H. (Hg.): Handbook of Sociology of Emotions, New York 2006, S. 38-62, sowie Schwarz-Friesel, Monika: Sprache und Emotion, 2. akt. und erw. Aufl., Tübingen und Basel 2013, S. 113ff und Battacchi, Marco W. u.a.: Emotion und Sprache: Zur Definition der Emotion und ihren Beziehungen zu kognitiven Prozessen, dem Gedächtnis und der Sprache, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1997, S. 24. Zu dem Abruf entsprechender Schemata vgl. von Scheve, S. 166ff. Zur Rolle von Sprache siehe Herlinger, Zoe: Sprache und Chaos – Ambiguität und Paranoia, in: Armin, Miriam; Niekrenz, Elisabeth; Weißbach, Friedrich (Hg.): Chaos. Zur Konstitution, Subversion und Transformation von Ordnung, Berlin 2018, S. 17-30, S. 1721 und ebenso Wehling, Elisabeth: Politisches Framing, Köln 2016, S. 57f. Konkret auf Emotionen bezogen siehe von Scheve, S. 163-177. Vgl. von Scheve, S. 291-296.

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zesse und Empfindungen zu einer emotionalen Erfahrung isoliert werden sollen und welcher Emotion diese zuzurechnen sind. Emotionen sind damit nicht nur etwas, das den Menschen passiv geschieht, sondern etwas, das diese aktiv gestalten und inszenieren, also tun können.16 Wir haben also bis zu einem gewissen Grad Einfluss auf unsere emotionalen Zustände sowie auf deren Ausdruck, vor allem dann, wenn uns die jeweiligen Auslöser und sozialen Regeln bekannt sind.17 Dies ist auch nötig, um den Anforderungen an verschiedene emotionale Räume und Gruppen gerecht werden zu können. Damit wäre die soziale Ebene umrissen. Emotionen bestehen in dieser Konzeption also aus verschiedenen Elementen auf verschiedenen Ebenen, die sich gegenseitig bedingen und in beständiger Wechselwirkung miteinander stehen, so dass die Aktivierung einer bestimmten Emotion auf verschiedenen Wegen erfolgen kann. Ein Lächeln, das in einer bestimmten Situation als Ausdruck von Freude gemäß einer sozialen Erwartung aufgesetzt wird, kann der Empfindung von Freude und der daran gekoppelten positiven Deutung einer Situation also auch vorausgehen.18 Ebenso ist es möglich, einen zunächst unspezifischen Erregungszustand in eine konkrete Emotion wie Angst oder Wut zu kanalisieren, indem entweder eine entsprechende emotionale Selbstzuschreibung vorgenommen oder die Wahrnehmung gezielt auf einen bestimmten Auslöser gelenkt wird, der mit jenen Emotionen für gewöhnlich gekoppelt ist. Ein letzter wichtiger Punkt ist, dass eine emotionale Aktivierung letztlich niemals aus einem emotionslosen Zustand heraus erfolgt. Stattdessen gehen verschiedene emotionale Zustände ineinander über oder vermischen sich.

»You never had control. You only thought you had it.« Emotionen sind in dieser Definition sowohl adaptive als auch schnell abrufbare Muster, die notwendig daran beteiligt sind, ob und wie die Dinge wahrge-

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Sie sind Teil des Habitus eines Menschen, der sowohl bewusst als auch unbewusst vollzogen werden kann. Vgl. dazu den entsprechenden Ansatz von Scheer, Monique: Are Emotions a Kind of Practice (and Is That What Makes Them Have a History)? A Bourdieuian Approach to Understanding Emotion, in: History and Theory 51-2 (2012), S. 193220. Vgl. dazu auch Damasio, S. 65f, sowie von Scheve, S. 296-311. Vgl. Damasio, S. 88.

Emotionaler Konstruktivismus und konstruierte Emotionalität

nommen, gedeutet und handelnd bewältigt werden.19 Das gilt nun aber nicht nur für die beforschten Akteur*innen, sondern ebenso für uns als Forschende und unser Beobachten, Interpretieren und Vermitteln.20 Auch hier entscheiden Emotionen mit, auf welche Dinge wir unsere Wahrnehmung richten, welche Aspekte uns interessant erscheinen21 sowie welche Wissensbestände wir erinnern und in Bezug zu dem Wahrgenommenen setzen können.22 Ebenso beeinflussen diese die Auswahl der uns zur Verfügung stehenden Deutungsangebote. Auch diese sind beispielsweise mit Erinnerungen an Erfolgserlebnisse und Niederlagen sowie an Personen und wissenschaftliche Schulen verbunden, zu denen wir uns, bewusst oder unbewusst, als Anhänger*innen oder Rival*innen positionieren und die uns daher mehr oder weniger attraktiv und sinnvoll erscheinen.23 Weiterhin gilt, dass Informationen und Konzepte, die im Widerspruch zu liebgewonnenen Gewissheiten stehen, eher ignoriert werden.24 Dabei kann die Angst davor, sich falsch entschieden zu haben und bisherige Ergebnisse zu verlieren, diesen Mechanismus verstärken. Auf der anderen Seite sorgen Verstehens-Erlebnisse durch die Anwendung bestimmter methodischer Zugänge dafür, dass wir diese grundsätzlich positiver bewerten. Dies führt nicht nur zu einer grundsätzlichen Motivation das Vorhaben fortzusetzen, sondern auch dazu, es genau auf diese Weise zu tun.25 Von zentraler Bedeutung ist hierbei auch das Vertrauen in sich selbst. Ein methodi-

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Zu den Funktionen siehe auch Huber, Matthias: Emotionale Markierungen. Zum grundlegenden Verständnis von Emotionen für bildungswissenschaftliche Überlegungen, in: Huber, Matthias; Krause, Sabine (Hg.): Bildung und Emotion, Wiesbaden 2018, S. 91-110, S. 93f. Vgl. Edler, Markus; Gebauer, Gunter: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Sprachen der Emotion. Kultur, Kunst, Gesellschaft, Frankfurt a.M. und New York 2014, S. 9-22, S. 10, sowie Ortner, Heike: Text und Emotion. Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele emotionslinguistischer Textanalyse, Tübingen 2014, S. 100. Ciompi bezeichnet das Interesse dabei sogar selbst als »Affekt« und nicht nur als Ausdruck einer bestimmten emotionalen Bedeutungszuweisung. Vgl. Ciompi, S. 202. Zum Zusammenhang von Erinnern und Emotionen siehe von Scheve, S. 207f. Vgl. Trevarthen, Colwyn: The developmental psychology and neuropsychology of emotion in language, in: Lüdtke, Ulrike M. (Hg.): Emotion in language. Theory – research – application, Amsterdam und Philadelphia 2015, S. 3-26, S. 16. Vgl. dazu Lakoff, George; Wehling, Elisabeth: Auf leisen Sohlen ins Gehirn. Politische Sprache und ihre heimliche Macht, Heidelberg 2009, S. 71. Vgl. dazu auch Koelsch, Stefan: Musik, Emotion und Gehirn, in: Edler, Markus; Gebauer, Gunter (Hg.): Sprachen der Emotion. Kultur, Kunst, Gesellschaft, Frankfurt a.M. und New York 2014, S. 155-171, S. 163.

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scher Zugang, der zu schwer erscheint, weil es um das eigene Selbstvertrauen gerade schlecht bestellt ist, wird nur oberflächlich betrachtet aufgrund wissenschaftlicher Überlegungen verworfen. Schließlich spielen Emotionen auch eine wichtige Rolle, wenn die mittels der eigenen Forschung gewonnenen Erkenntnisse dann strukturiert, sprachlich eingefasst und in eine Erzählungen gegossen werden.26 Ob dabei am Ende eine Verfalls- oder Erfolgsgeschichte herauskommt und wer deren Helden und Schurken sind, hängt nicht zuletzt von den Sympathien ab, denen wir den einzelnen Akteur*innen entgegenbringen, sondern generell von den emotionalen Zuständen, in denen wir uns als Forschende jeweils gerade befinden.27 Die all diese Prozesse beeinflussenden Emotionen können dabei entweder von außen in den Forschungsprozess hineingetragen werden oder durch diesen selbst entstehen. Deadlines müssen eingehalten werden, unter den Kolleg*innen herrschen Missgunst oder Zusammenhalt, das Essen in der Mensa schmeckt oder auch nicht, der Arbeitsplatz ist zu laut, zu dunkel, zu leise oder zu hell, wir sitzen bequem und haben ein Lächeln auf den Lippen oder schauen schlecht gelaunt drein, weil wir schon wieder keinen neuen Bürostuhl bekommen haben.28 Ein weiterer Auslöser können die eigenen Erwartungen sein. Basiert die eigene Arbeit dabei auf einem Wissenschaftsverständnis, das als Ziel die Entdeckung objektiver Wahrheiten formuliert, so können sich Zweifel an den eigenen Fähigkeiten oder Ärger über Kolleg*innen verstärken, wenn durch andere Forschungen eigene Ergebnisse und Gewissheiten ins Wanken gebracht werden. Die erzeugten Emotionen und deren Ausdruck unterliegen dabei wiederum selbst einer emotional gestützten Kontrolle durch die Wissenschaft als emotionale Gemeinschaft. Dabei kann die Zuschreibung, das eigene Verhalten sei (zu) emotional sowohl bei den Zuschreibenden negative Emotionen (Ärger) auslösen, als auch bei den Zugeschriebenen (Scham). Aber nicht nur die Umstände des wissenschaftlichen Arbeitens können Emotionen wecken, sondern auch die Forschungsobjekte. Für die Geschichtswissenschaft sind das die historischen Quellen, vor allem in Form von Tex-

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Vgl. Ortner, S. 99f, 102 und 106. Zum erzählenden Charakter von geschichtswissenschaftlichen Arbeiten siehe allgemein White, Hayden: Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in Conrad, Christoph; Kessel, Martina (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, S. 123-157, S. 128. Vgl. Koelsch, S. 157.

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ten.29 Ein wichtiger Aspekt sind hierbei die beschriebenen Situationen und Ereignisse, die, dank Spiegelneuronen, Verknüpfung mit eigenen Erinnerungen oder aber lebhafter Vorstellung zu allerhand emotionalen Erregungszuständen führen können. Das gilt besonders für die Fälle, in denen unsere sittlichen und moralischen Vorstellungen betroffen sind. So erzeugen moralische Vergehen unangenehme emotionale Empfindungen, die sich, je nach Grad der Immersion, sowie Ich-Bezogenheit und gesellschaftlicher Relevanz des moralischen Wertes, bis zu konkreten Emotionen wie (Fremd-)Scham, Ärger oder moralischer Entrüstung entwickeln können.30 Ein Beispiel hierfür liefert vielleicht die Aussage von Wrede, dass Kinder in der Frühen Neuzeit masturbiert wurden, um sie ruhig zu stellen.31 Bestimmend für die emotionale Reaktion auf einen solchen Umstand sind dabei auch unsere eigenen Begriffe, deren Assoziationen und Konnotationen. Entscheidend ist nämlich, dass wir diese Handlung, anders als die Zeitgenoss*innen überhaupt als etwas Sexuelles ansehen und dies mit unserem Verständnis von Kindheit in einem stark moralischen Widerspruch steht. Das jeweilige Begriffsverständnis entscheidet also mit, wie wir emotional auf einen Satz reagieren. Dabei hängen bestimmten Begriffen wie »Verräter« oder »Widerling« klare moralische, ästhetische oder direkt emotionale Wertungen an. Diese können sich dabei sowohl stärker aus dem denotativen Inhalt wie auch aus den Konnotationen oder biografisch bedingten Assoziationen ergeben.32 Unterschieden werden kann dabei zwischen solchen, die Emotionen hervorrufen und solchen, die

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Andere Quellentypen wie Bilder, Filme und Zeitzeug*inneninterviews werden hier ausgeklammert. Dies geschieht zum einen aus Platzgründen und zum anderen erfordert deren Betrachtung aufgrund ihrer spezifischen Eigenheiten eine wenigstens zum Teil andere Herangehensweise. Zum Einfluss von Ich-Bezogenheit und gesellschaftlicher Relevanz siehe Jahr, Silke: Emotionen und Emotionsstrukturen in Sachtexten, Berlin und New York 2000, S. 217. Vgl. Wrede, Brigitta: Was ist Sexualität? Sexualität als Natur, als Kultur und als Diskursprodukt, in: Schmerl, Christiane; Soine, Stefanie; Stein-Hilbers, Marlene (Hg.): Sexuelle Szenen. Inszenierungen von Geschlecht und Sexualität in modernen Gesellschaften, Opladen 2000, S. 25-43, S. 33. Vgl. Ortner, S. 73 und 77. Bei manchen Begriffen basiert die emotionale Erregung dabei auf der Aktivierung bestimmter Gesichtsmuskeln, die mit diesen assoziiert werden. Vgl. dazu Klann-Delius, Gisela: Emotion in language, in: Lüdtke, Ulrich M. (Hg.): Emotion in Language. Theory – research – aplication, Amsterdam und Philadelphia 2005, S. 135-156, S. 141f.

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selbst Emotionen sind.33 Die in einem Text genutzten Frames beeinflussen also nicht nur, wie wir die Inhalte kognitiv, sondern auch emotional verarbeiten.34 Letztlich, das zeigen verschiedene emotionslinguistische Untersuchungen, birgt die gesamte Textgestaltung bis hin zur Satzstruktur ein Emotionalisierungspotential.35 Dieses Potential emotionaler Erregung gilt dabei auch für scheinbar unemotionale Begriffe.36 Damit ist auch Forschungsliteratur davon betroffen. Problematisch ist hierbei, dass in Bezug auf diese noch häufiger der Illusion aufgesessen wird, dass es sich um objektive und sachliche, also unemotionale Texte handle. Aber auch hier kommt Sprache, kommen Begriffe wie »Verräter« oder »Bauer« vor, also solche, die nicht nur ihrem semantischen Gehalt nach problematisch und oft unterdefiniert sind, sondern immer auch emotional aufgeladen.37

»And what do you control for sure, huh?« Emotionale Prozesse werden also sowohl in den Forschungsprozess hineingetragen als auch durch diesen selbst hervorgebracht. Sie fungieren dabei nicht nur als notwendige Hilfestellung in Wahrnehmungs- und Denkprozessen, sondern sind ohnehin so eng mit diesem verbunden, dass eine klare Trennung nicht möglich ist. Das bedeutet auch, dass die Ergebnisse wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion immer von Emotionen beeinflusst sind. Die Frage ist daher, wie mit diesem Umstand umgegangen werden kann. Eine Möglichkeit besteht in der Flucht in das Altbekannte und damit in ein Ideal wissenschaftlicher Praxis, das Emotionen als Störfaktoren ansieht und weiterhin aus dem Denken herauszuhalten sucht. Diesem unmöglichen Wunsch entsprechen zu wollen, kann allerdings, nach allem was bisher gesagt worden ist, entweder dazu führen, sich eines Emotionskonzepts bedienen zu müssen (oder zu wollen), das einen Großteil der emotionalen Einflüsse schlicht ignoriert, um sich 33 34 35 36 37

Vgl. Konstantinidou, Magdalene: Sprache und Gefühl. Semiotische und andere Aspekte einer Relation, Hamburg 1997, S. 54-56. Zum Konzept der Frames siehe Wehling, S. 28. Vgl. Ortner, S. 106. sowie Schwarz-Friesel, insbesondere Kapitel 5 und 6. Vgl. Battacchi, S. 82. Vgl. Ortner, S. 308f, sowie Drescher, Martina: Sprache der Wissenschaft, Sprache der Vernunft? Zum affektleeren Stil in der Wissenschaft, in: Habscheid, Stephan; Fix, Ulla (Hg.): Gruppenstile. Zur sprachlichen Inszenierung sozialer Zugehörigkeit, Frankfurt a.M. 2003, S. 53-79, S. 69.

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so in falscher Gewissheit bezüglich wissenschaftlicher Wahrheit zu wiegen oder dazu, den ohnehin enormen Druck auf sich selbst zu erhöhen, indem ein Zustand erreicht werden soll, der gar nicht erreicht werden kann. Die zweite Möglichkeit wäre, sich endlich der Illusion einer solchen vermeintlich objektiven Wissenschaft zu entledigen. In Bezug auf die Geschichtswissenschaft würde dies als erstes bedeuten, die Gemachtheit von Geschichte anzuerkennen und dies dabei nicht nur auf die sich wandelnde Geschichtswissenschaft oder die Entdeckung neuer Quellen zurückzuführen, sondern vor allem auf die Historiker*innen, die diese schreiben. Es sind nicht die Quellen, die von selbst sprudeln, wie Ralf Pröve es so treffend formuliert, sondern die Historiker*innen, die sie sprudeln lassen oder besser, sprudeln machen.38 Was dabei zutage tritt sind keine unabhängigen Fakten, sondern Interpretationen, die von der Sozialisation und Biografie, von den jeweiligen Wahrnehmungsfiltern, Deutungsmustern, Wissensbeständen, Vorurteilen, Begriffen, Kategorien und eben auch Emotionen der Interpretierenden abhängig sind.39 Weiterhin geben auch nicht die vermeintlichen »Fakten« selbst 38 39

Vgl. Pröve, Ralf: Wer und was lässt hier sprudeln? Bemerkungen zur Quelle, online: ht tp://ralf-proeve.de/quellendefinition/ Vgl. auch van Norden, Jörg: Was machst du für Geschichten? Didaktik eines narrativen Konstruktivismus, Freiburg 2011, S. 56f. Zur biografischen Brechung von sozialisationsbedingten Wissensbeständen siehe Schütz, Alfed; Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003, S. 163-166. Zur Fantasie siehe White, Hayden: Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in Conrad, Christoph; Kessel, Martina (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, S. 123-157, S. 124 und 128-130, sowie Fried, S. 306. Vgl. auch Ciompi, der die Wichtigkeit der Berücksichtigung von der persönlichen »Horizontbeschränkungen« betont. Vgl. Ciompi, Luc: Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik, 2. durchg. Aufl., Göttingen 1999, S. 37. Allgemeiner zur konstruktivistischen Grundannahmen in Bezug auf Wahrnehmung und Wissen siehe ebd., S. 1944, Watzlawick, Paul: Wirklichkeitsanpassung oder angepaßte »Wirklichkeit«? Konstruktivismus und Psychotherapie, in: Gumin, Heinz; Meier, Heinrich (Hg.): Einführung in den Konstruktivismus, 7. Aufl., München 2003, S. 89-107, von Foerster, Heinz: Entdecken oder Erfinden. Wie läßt sich Verstehen verstehen?, in: Gumin, Heinz; Meier, Heinrich (Hg.): Einführung in den Konstruktivismus, 7. Aufl., München 2003, S. 41-88, von Glasersfeld, Ernst: Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität, in: Gumin, Heinz; Meier, Heinrich (Hg.): Einführung in den Konstruktivismus, 7. Aufl., München 2003, S. 9-39, Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J.: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens, 7. Aufl., Frankfurt a.M. 2018, sowie Simon, Fritz B.: Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus, 8. Aufl., Heidelberg 2017, insbesondere S. 35-55.

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über sich Auskunft. Es benötigt auch hier die Historiker*innen, die diese aus ihrer Sicht heraus als logische und sinnvolle Geschichten erzählen.40 Eine solche Sichtweise kann helfen, Ängsten und Selbstzweifeln zu begegnen sowie Demut in Bezug auf die Reichweite der eigenen Wahrheiten zu entwickeln und so die Wertschätzung nicht nur für eine methodische, sondern auch ergebnisbezogene Vielfalt steigern. Aus ihr entspringt damit selbst ein bestimmter emotionaler Habitus. Andererseits kann diese Auffassung aber auch zu Unsicherheit führen und Ängste vor einem vermeintlichen Chaos der Willkür wecken. Dem lässt sich nicht allein mit dem Verweis begegnen, dass die Beseitigung des Chaos durch die Einengung des Zulässigen mittels bestimmter Forschungstraditionen letztlich nur eine Illusion ist, von der wir uns selbst ent-täuschen müssen.41 Es ist zwar richtig, dass wir uns immer entscheiden, auch dann, wenn wir unsere Entscheidungen abgeben und dass dies entweder offen oder versteckt geschehen kann, was uns entweder von Zwängen befreit oder in diese hineinführt. Aber auch hier ist die Rolle von Emotionen anzuerkennen. Wir denken uns die Welt, so Arnold, nicht nur so, wie sie uns erscheint, sondern auch so, wie wir sie aushalten können.42 Damit wird ein anderes Framing nötig, dass der Unsicherheit des Chaos die Freiheit der Entscheidung und des Schaffens explizit entgegensetzt, um sich dann nicht nur mutig seines eigenen Verstandes zu bedienen, sondern auch der eigenen Perspektivität und seinen Emotionen als deren Bedingung und Ausdruck zu stellen. Das macht wiederum eine erweiterte wissenschaftliche

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Vgl. Arnold, S. 26. Ganz so wie wir also in Wolken Muster zu entdecken meinen, tun wir dies mit Logiken in Verhaltensweisen anderer Akteur*innen. In beiden Fällen sind diese nicht einfach da, sondern werden immer auch aktiv durch uns hergestellt, basierend auf dem, was wir gewohnt sind zu sehen und anzunehmen und getrieben von dem Bedürfnis nach einer bekannten Struktur. Siehe dazu auch Kersten, Reich: Die Ordnung der Blicke. Perspektiven des interaktionistischen Konstruktivismus, 2 Bände, Neuwied u.a. 1998, Band 1, S. 26. In den Geschichten werden die historischen Akteur*innen dann letztlich zu Opfern unserer eigenen Zuschreibungen. Vgl. Reich, Kersten: Die Ordnung der Blicke. Perspektiven des interaktionistischen Konstruktivismus, 2 Bände, Neuwied u.a. 1998, Band 2, S. 29. Siehe dazu auch Fried, Johannes: Wissenschaft und Phantasie. Das Beispiel der Geschichte, in: Historische Zeitschrift, Bd. 263, Heft 2 (1996), S. 291-316, S. 293f, sowie Drescher, S. 60. Vgl. Groß, Richard: Ordnung, Chaos und gesellschaftliche Wirklichkeit, in: Armin, Miriam; Niekrenz, Elisabeth; Weißbach, Friedrich (Hg.): Chaos. Zur Konstitution, Subversion und Transformation von Ordnung, Berlin 2018, S. 75-96, S. 88 und 91. Vgl. Arnold, S. 17.

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(Selbst-)Reflexion nötig, die auch die eigenen Konstruktionsbedingungen berücksichtigt.43 Um Beliebigkeit zu vermeiden und Wissenschaftlichkeit herzustellen, reichen dann die gängigen Formen der Quellenkritik und logischen Argumentation nicht mehr aus, da diese die erzählende Person weitestgehend ausblenden. Ergänzend muss eine umfassende Selbstreflexion stattfinden, die neben Zwängen, Werten, Motiven, Vor-Urteilen sowie Denk- und Wahrnehmungsmustern eben ausdrücklich auch die eigenen Emotionen als zentrale Entstehungsbedingung betrachtet und einbezieht.44 Es ist eben nicht nur nötig, sich beim Denken zuzuschauen, sondern auch beim Fühlen als Teil dieses Denkens. Ein erster Schritt dazu ist die Bewusstmachung der eigenen Emotionalität, ihrer Auslöser und Wirkungen.

Bewusstmachen Am Anfang der emotionalen Selbstbetrachtung als Teil wissenschaftlicher Selbstreflexion steht zunächst die Bewusstmachung der eigenen Befindlichkeiten, Erwartungen, Hoffnungen, Ängste, Sehnsüchte, Bedürfnisse, Idealvorstellungen aber auch Werthaltungen, Vorurteile und sonstiger Vorannahmen. Regelmäßige Supervisionsgespräche, wie sie beispielsweise auch in der Ausbildung von Psychotherapeut*innen vorgenommen werden, können dabei sehr hilfreich sein, vor allem um die eigene Wahrnehmung zu spiegeln und durch eine Fremdperspektive blinde Flecken auszuleuchten. Das dabei entstehende emotionale Persönlichkeitsprofil kann dann nicht nur immer wieder zur Erklärung emotionaler Zustände herangezogen werden, sondern dient auch dazu, sich mögliche emotionale Reaktionen schon im Vorfeld bewusst machen zu können, um diese zu kommunizieren, zu verhindern oder nutzbar zu machen. Der nächste Schritt besteht in der Beobachtung der während und durch den Arbeitsprozess auftretenden Emotionen. Eine Methode dazu ist das Emotionstagebuch, das bereits sowohl in der Schule im Rahmen selbstgesteuerter Lernprozesse als auch in der ethnologischen Feldforschung Anwendung

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Arnold spricht hier von einer metafaktischen Reflexion. Vgl. Arnold, S. 9. Im Grunde geht es also darum, die bisherigen Methoden und eigenen Erkenntnisse in einen konstruktivistischen Rahmen einzubetten. Vgl. dazu auch das Interview mit Siegfried Schmidt, in: Pörksen, Bernhard: Die Gewissheit der Ungewissheit. Gespräche zum Konstruktivismus, 4. Aufl., Heidelberg 2019, S. 166-188, insbesondere S. 184.

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findet.45 In diesem wird die emotionale Selbstbeobachtung verschriftlicht. Je vollständiger die Notizen dabei sind, desto besser lassen sich später Rückschlüsse darauf ziehen, wodurch der jeweilige emotionale Zustand ausgelöst wurde sowie warum und welche Wirkungen sich aus diesem ergaben. Festzuhalten wären dabei erstens die aus den Umständen entstehenden Emotionen, also mit welchem Gefühl man ins Archiv geht, wie es sich anfühlt, im Büro zu sitzen, zu lesen, zu denken und zu schreiben und welche Stichpunkte, Texte oder Ideen dabei entstehen und zweitens, jene, die beim Durcharbeiten der Quellen aufkommen. Um diesen auf den Grund zu gehen, ist es zudem nötig, das eigene Vorverständnis zu den jeweiligen Quellen- und Forschungsbegriffen und die mit diesen assoziierten Vorstellungen zu klären. Die Logik der eigenen Erzählung kann sich dabei nicht nur dadurch verändern, ob ein Bauer eher als trotteliger Landarbeiter oder stolzer Grundbesitzer vorgestellt und die Zuschreibung eine Hexe zu sein als albern oder erschreckend bewertet wird, sondern auch, ob dies eher Mitleid oder Abscheu auslöst. Gleiches gilt für Forschungsbegriffe und deren Bewertung. Ob jene Bauern als einer absolutistischen Herrschaft unterworfen als Teilhaber an kommunikativen Aushandlungsprozessen gedacht werden, folgt nicht nur unterschiedlichen Verständnisweisen der historischen Prozesse, sondern evoziert mitunter auch einen anderen emotionalen Blick auf diese, der die weitere Betrachtung prägt. Dabei ist klar, dass eine umfangreiche Analyse nicht für alle Begriffe vorgenommen werden kann. Allerdings sollten wenigstens die zentralen Begriffe, denen man sich zuwendet aber auch die, von denen man sich abwendet, genauer betrachtet werden. Methodisch bietet sich ein freies Assoziieren an oder aber, um tieferliegende Ebenen zu erreichen, das von Ralf Pröve und mir entwickelten Historiografietheater.46 Bei diesem werden durch die Selbst- und Fremdbetrachtung von entweder vorbereiteten oder besser spontan improvisierten Inszenierungen, die auf konkreten historischen Quellen basieren, tief verwurzelte Stereotype und die damit verbundenen emotionalen Reaktionen beobachtbar gemacht. In den entsprechenden Experimenten mit Studierenden konnten so die impliziten Vorstellungen von Soldaten als unnachgiebige Büttel der Obrigkeit und lüsterne Raufbolde sowie von Bauern als arme, geknechtete Landarbeiter zutage gefördert werden. Die Vorurteile sind dabei keineswegs 45 46

Vgl. Stodulka, S. 37-41. Zum freien Assoziieren siehe auch Battacchi, S. 40. Eine Ausarbeitung der Methode von Ralf Pröve und mir befindet sich derzeit in Arbeit.

Emotionaler Konstruktivismus und konstruierte Emotionalität

nur bei Studierenden zu finden und lange nicht immer so eindeutig. Das zeigt und zeigte sich insbesondere auch beim Geschlechterthema. Selbst Personen, die sich diesbezüglich besonders offen und progressiv einschätzten, neigten unter Zeitdruck dazu, auf jene Schablonen zurückzugreifen. Dies sind nur einige Möglichkeiten. Im Zentrum steht dabei immer die genaue Beobachtung der eigenen Person. Dabei ist zu beachten, dass es sich auch bei der Selbstbeobachtung um einen interpretativen Prozess handelt. Es werden also Emotionen als Ursache und Wirkungen zugeschrieben. Was die tatsächlichen emotionalen Zustände angeht, die im Körper wirksam sind, von denen ohnehin nur ein Bruchteil bewusst erfasst werden kann und welche Kräfte mit einem solchen Fokus übersehen werden, lässt sich letztlich nicht mit Sicherheit klären. Dies ist aber auch nicht nötig. Die Zuschreibung schafft zunächst einmal ein Bewusstsein für die eigenen Konstruktionsvorgänge. Darüber hinaus liefert die emotionale Selbstbeobachtung einen Angriffspunkt, um auf den eigenen Schaffensprozess einzuwirken. Es geht also weniger darum, gezielt ganz bestimmte emotionale Prozesse mit Sicherheit zu identifizieren als vielmehr darum, die Voraussetzung zu schaffen, bewusst mit den Konstruktionsbedingungen spielen zu können. In einem weiteren Schritt lässt sich schließlich auch das Ergebnis, also die fertige Erzählung unter emotionalen Gesichtspunkten betrachten. Dies dient nicht nur dazu, dessen emotionales Potential zu analysieren, sondern auch, bisher unbemerkte Emotionen herauszufiltern. Anleitungen zur emotionalen Textanalyse finden sich dabei u.a. in Text und Emotion von Ortner, sowie in Emotionen auf Expedition von Lubrich und Stoldulka.47

Regulieren und Nutzen Die Selbstbetrachtung bildet die Grundlage für eine zumindest begrenzte Kontrolle über den kreativen Prozess des wissenschaftlichen Arbeitens. Die jeweilige Emotionskonzeption entscheidet dabei einerseits darüber, was und wo die Stellschrauben sind, an denen angesetzt werden kann und andererseits, welche Werkzeuge zu deren Bearbeitung zur Verfügung stehen, also welche Methoden der Emotionsregulation anwendbar sind. Diese ermöglichen es dann, den eigenen emotionalen Zustand als Einflussfaktor in den verschiedenen Phasen der Forschung gezielt zu verändern. Dies führt dabei weder näher an eine Wahrheit heran, noch von dieser weg, sondern macht 47

Vgl. Stodulka, S 63-141.

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durch die dabei entstehenden Wirkungen, die zu Unterschieden in den Ergebnissen führen, die eigene Perspektive als schon in sich selbst pluralistische Bandbreite sichtbar. Dabei beginnt auch die eigene Emotionsregulation bei der Selbstreflexion, um so zunächst die Ursachen für bestimmte Einschätzungen anzugehen. Es geht also nicht nur darum, sich die eigenen Erwartungen bewusst zu machen, sondern sich kritisch mit diesen auseinanderzusetzen und eventuell die Bedeutung, die wir den Dingen damit geben, zu verändern. Das Bewusstmachen der eigenen Emotionen stellt dabei selbst bereits eine Methode des Emotionsmanagements dar, indem schon das Benennen Emotionen verstärken, abschwächen oder hervorrufen kann. Die Bewusstmachungsstrategien gehen somit bereits in das Emotionsmanagement über.48 Der Prozess der emotionalen Selbstbeobachtung bleibt dabei notwendig unabgeschlossen und präsentiert immer nur Momentaufnahmen. Das bedeutet auch, dass er nie umfänglich stattfinden kann. Trotzdem wird auf diese Weise nicht nur eine grundsätzliche Sensibilität für Emotionen als Einflussfaktoren geschaffen, sondern auch der Anteil an unreflektierten Emotionen verkleinert. Damit kann der eigene Schaffensprozess besser nachvollzogen und gezielter gestaltet werden. Da emotionale Prozesse auch den Abruf bestimmter Informationen begünstigen, kann es zudem sinnvoll sein, auch gezielt bestimmte Emotionen hervorzurufen. Hierbei wird das, was für die Offenlegung eine besondere Herausforderung darstellt, zum Segen, nämlich die Wechselwirkung der einzelnen Ebenen. Dadurch ist ein Einfluss auf verschiedenen Wegen möglich, beispielsweise durch Veränderung der Mimik und Körperhaltung, durch Bewegungsmuster, durch alles Wahrnehmbare wie Geräusche, Gerüche, Geschmäcker, durch den Wechsel von Ort und Raum usw. Bedingung dafür ist die Kenntnis über die eigenen Emotionsauslöser. Ein Teil dieser lässt sich dabei einem gut geführten Emotionstagebuch entnehmen. Das Ziel besteht jedoch weder darin, nur kurze emotionale Ausbrüche hervorzurufen noch eine durchgehende emotionale Hochstimmung zu erreichen, sondern länger anhaltende emotionale Zustände, mit denen dann in Bezug auf die verschiedenen Arbeitsschritte experimentiert werden kann. Eine radikalere Möglichkeit eröffnet sich im Rahmen der eigenen Emotionsforschung, insofern durch diese der Kontakt zu alternativen emotionalen Stilen oder völlig neuen Konzepten von Emotionalität eröffnet wird. Dies 48

Vgl. Ortner S. 60.

Emotionaler Konstruktivismus und konstruierte Emotionalität

kann dazu führen, nicht nur die eigenen Vorstellungen in Bezug auf Emotionen zu verändern, sondern auch das Empfinden der eigenen emotionalen Prozesse. Als Methode findet dies beispielsweise in der Verhaltenstherapie Anwendung. Neben der (begleiteten) Konfrontation mit angstauslösenden Situationen werden die Patient*innen hier mit Informationen über die Entstehung und Wirkung von emotionalen Prozessen, also einer bestimmten Konzeption und Deutung von Emotionen, versehen, um so das Verhältnis zur eigenen Emotionalität zu verändern, indem diese gewissermaßen entzaubert und mit einer anderen Bedeutung versehen wird. Während dieser Prozess in diesem Fall bewusst angestoßen wird, handelt es sich bei der Veränderung im Rahmen der eigenen Forschung eher um eine unbemerkte Selbsttherapie, die aber auch bewusst angegangen werden kann.49 Die anschließende Frage ist nun, wie viel der eigenen Emotionalität explizit im Ergebnis bspw. einem Aufsatz oder einer Monografie offengelegt werden kann und sollte.

Offenlegen und Kommunizieren Inwieweit die Prozesse und Erkenntnisse nun sichtbar zu machen und jene Experimente als Bestandteil wissenschaftlicher Publikationen offenzulegen sind oder inwieweit dadurch neue wissenschaftliche Erzählformen gedacht werden können oder müssen, kann hier angesichts des Mangels an praktischer Erfahrung erst einmal nur offenbleiben. In jedem Fall aber macht die grundlegende Forderung nach Offenlegung und Transparenz wissenschaftlichen Arbeitens eine grundsätzliche Anpassung der wissenschaftlichen Fachsprache nötig und zwar insofern diese bisher immer noch den Eindruck einer objektiven, unbeteiligten und damit emotionslosen Wissenschaftlichkeit erweckt, indem die eigene Emotionalität hinter scheinbar logisch-argumentativen Zwangsläufigkeiten zum Verschwinden gebracht wird.50 Ein erster Schritt sollte darin bestehen, das Ich-Verbot aufzuheben und so kenntlich zu machen, dass eben nicht die Fakten sich selbst erzählen, sondern ein*e Erzähler*in am Werke ist, eine konkrete Person, die folglich nur eine Perspektive,

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Vgl. dazu Ernst, Sebastian: Kulturwissenschaftliches Forschen als anlasslose Selbsttherapie, in: Tomović, Jelena; Nicke, Sascha (Hg.): Un-Eindeutige Geschichte(n)?! Theorien und Methoden in den Kultur-/Geschichtswissenschaften, Berlin 2020, S. 219-239. Dass es solche gibt und diese sinnvoll sind, soll nicht bestritten werden, auch diesen gegenüber ist jedoch Vorsicht geboten.

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eine Möglichkeit anbietet, die davon abhängig bleibt, wer sie erzählt.51 Das »Ich« wird nämlich nicht einfach dadurch eliminiert, dass es verschwiegen wird, denn ohne es existiert auch keine Forschung. Es wird auf diese Weise lediglich dem reflektierenden Blick entzogen. Weiterhin sollte im Zuge dessen auch der bisherige Begründungsdiskurs wissenschaftlicher Forschung um die den vermeintlichen Sachlogiken vorgeordneten biografisch-emotionalen Gründe erweitert werden. Statt sich hinter Desideraten und Relevanzen zu verstecken, sollte die eigene Verbindung zu einem Thema ebenso benannt werden wie die emotionale Wirkung zentraler Begriffe, um das Beispiel meiner Abscheu vor dem Absolutismuskonzept noch einmal aufzugreifen.

»You got involved… emotionally, it happens.« Emotionen als im wissenschaftlichen Arbeiten immer präsente Einflussfaktoren anzusehen, macht Wissenschaft nicht obsolet, es ist lediglich eine weitere Möglichkeit, die Illusion einer objektiven, Wahrheit produzierenden und von unbeteiligten Beobachter*innen durchgeführten Erkenntnisproduktion zu überwinden. Es geht also um eine Ent-Täuschung im wörtlichen Sinne. Was Emotionen sind und welche Wirkungen sie beim wissenschaftlichen Forschen spielen, hängt dabei seinerseits von einer Konstruktion ab, nämlich dem jeweiligen Emotionskonzept. Entscheidend ist hierbei die Frage, welche Wirkungen überhaupt und auf welche Emotionen zurückgeführt werden. Damit wird die Idee einer emotionslosen Wissenschaft selbst zu einer Entscheidung für ein spezifisches, in diesem Sinne sehr eng gefasstes Emotionskonzept und eines damit zusammenhängenden emotionalen Stils. Auf diese Weise werden der wissenschaftlichen (Selbst-)Reflexion, bestimmte Prozesse entzogen, indem diese einfach übersehen, als nicht existent angenommen werden. Demgegenüber möchte ich für einen anderen Weg werben, bei dem es darum geht, kreativ, konstruktiv und bewusst mit der Konstruiertheit wissenschaftlicher Erzählungen und deren Einflussbedingungen zu spielen. Der Fokus auf Emotionen stellt hierbei eine mögliche Spielweise dar, während das

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Vgl. Etzemüller, Thomas : »It’s the performance, stupid« Performanz Evidenz : Der Auftritt in der Wissenschaft, in : ders. (Hg.): Der Auftritt. Performanz in der Wissenschaft, Bielefeld 2019, S. 9-44, S. 10f.

Emotionaler Konstruktivismus und konstruierte Emotionalität

jeweilige Emotionskonzept festlegt, welche Züge denkbar erscheinen. Die eigene Emotionalität wird dadurch nicht nur als Erklärprinzip im Sinne Heinz von Foersters für die eigenen Konstruktionen herangezogen, sondern als solches auch bewusst und aktiv angewendet.52

Literatur Arnold, Rolf: Ach, die Fakten! Wider den Aufstand des schwachen Denkens, Heidelberg 2018. Barrett: Lisa Feldman: How Emotions Are Made. The Secret Life of the Brain, New York 2017. Battacchi, Marco W.; Renna, Margherita; Suslow, Thomas: Emotion und Sprache: Zur Definition der Emotion und ihren Beziehungen zu kognitiven Prozessen, dem Gedächtnis und der Sprache, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1997. Bröcker, Monika; von Foerster, Heinz: Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt, 4. Aufl., Heidelberg 2019. Ciompi, Luc: Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik, 2., durchg. Aufl., Göttingen 1999. Damasio, Antonio R.: Der Spinoza Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen, 8. Aufl., Berlin 2014. Drescher, Martina: Sprache der Wissenschaft, Sprache der Vernunft? Zum affektleeren Stil in der Wissenschaft, in: Habscheid, Stephan; Fix, Ulla (Hg.): Gruppenstile. Zur sprachlichen Inszenierung sozialer Zugehörigkeit, Frankfurt a.M. 2003, S. 53-79. Edler, Markus; Gebauer, Gunter: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Sprachen der Emotion. Kultur, Kunst, Gesellschaft, Frankfurt a.M. und New York 2014, S. 9-22. Engelen, Eva-Maria u.a.: Emotions as Bio-cultural Processes: Disciplinary Debates and an Interdisciplinary Outlook, in: Markowitsch, Hans J.; Röttgern-Rössler, Birgitt (Hg.): Emotions as Bio-cultural Processes, New York 2009, S. 23-53. Ernst, Sebastian: Kulturwissenschaftliches Forschen als anlasslose Selbsttherapie, in: Tomović, Jelena; Nicke, Sascha (Hg.): Un-Eindeutige Geschich-

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Vgl. Bröcker, Monika; von Foerster, Heinz: Fraktale einer Ethik – oder: Heinz von Foersters Tanz mit der Welt, 4. Aufl., Heidelberg 2019, S. 311.

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te(n)?! Theorien und Methoden in den Kultur-/Geschichtswissenschaften, Berlin 2020, S. 219-239. Etzemüller, Thomas: »It’s the performance, stupid« Performanz Evidenz: Der Auftritt in der Wissenschaft, in: ders. (Hg.): Der Auftritt. Performanz in der Wissenschaft, Bielefeld 2019, S. 9-44. Franks, David D.: The Neuroscience of Emotions, in: Stets, Jan E.; Turner, Jonathan H. (Hg.): Handbook of Sociology of Emotions, New York 2006, S. 38-62. Fried, Johannes: Wissenschaft und Phantasie. Das Beispiel der Geschichte, in: Historische Zeitschrift, Bd. 263-2 (1996), S. 291-316. Groß, Richard: Ordnung, Chaos und gesellschaftliche Wirklichkeit, in: Armin, Miriam; Niekrenz, Elisabeth; Weißbach, Friedrich (Hg.): Chaos. Zur Konstitution, Subversion und Transformation von Ordnung, Berlin 2018, S. 75-96. Hartmann, Martin: Gefühle. Wie die Wissenschaften sie erklären, 2. akt. Aufl., Frankfurt a.M. und New York 2010. Herlinger, Zoe: Sprache und Chaos – Ambiguität und Paranoia, in: Armin, Miriam; Niekrenz, Elisabeth; Weißbach, Friedrich (Hg.): Chaos. Zur Konstitution, Subversion und Transformation von Ordnung, Berlin 2018, S. 1730. Huber, Matthias: Emotionale Markierungen. Zum grundlegenden Verständnis von Emotionen für bildungswissenschaftliche Überlegungen, in: Huber, Matthias; Krause, Sabine (Hg.): Bildung und Emotion, Wiesbaden 2018, S. 91-110. Huber, Matthias: Lernen und Emotion, online: https://www.researchgate.ne t/publication/321310475_Lernen_und_Emotion Hülshoff, Thomas: Emotionen, 2. Aufl., München 2001. Jahr, Silke: Emotionen und Emotionsstrukturen in Sachtexten, Berlin und New York 2000. Klann-Delius, Gisela: Emotion in language, in: Lüdtke, Ulrich M. (Hg.): Emotion in Language. Theory – research – aplication, Amsterdam und Philadelphia 2005, S. 135-156. Koelsch, Stefan: Musik, Emotion und Gehirn, in: Edler, Markus; Gebauer, Gunter (Hg.): Sprachen der Emotion. Kultur, Kunst, Gesellschaft, Frankfurt a.M. und New York 2014, S. 155-171. Konstantinidou, Magdalene: Sprache und Gefühl. Semiotische und andere Aspekte einer Relation, Hamburg 1997.

Emotionaler Konstruktivismus und konstruierte Emotionalität

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Sebastian Ernst

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Emotionen als Forschungsgegenstand – Emotionen im Forschungsprozess: Zum Umgang mit interaktionalen Daten Heike Ortner

1.

Einleitung

»I find’s eh guat, doss ihr so wos mochts, do so forschts – mir nutzt’s hoit nit mehr, für mi ist’s zspat.«1 Mit diesen Worten kommentierte ein Patient2 sichtund hörbar niedergeschlagen meine Vorbereitungen für die Videoaufnahme seiner Therapieeinheit, nachdem er mir das Einverständnis erteilt hatte, diese Interaktion mit seinem Physiotherapeuten für eine Pilotstudie mit dem Titel »Therapeutische Bewegungsinstruktionen in der Neurorehabilitation« aufzuzeichnen. In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass der Proband trotz der Aufklärung vor dem Unterzeichnen der Einverständniserklärung zu hohe Erwartungen in mich als Linguistin setzte. Er schien automatisch davon auszugehen, dass mein Projekt zu einer Optimierung der Therapie führen würde. Die in der Interaktionalen Linguistik übliche Bevorzugung deskriptiver Analyse statt normativ-präskriptiver Bewertung, die ich im Vorgespräch adressatengerecht formuliert hatte, konnte er offenbar nicht ausreichend verarbeiten oder begreifen. Einleitend habe ich die Formulierung ›sicht- und hörbar niedergeschlagen‹ verwendet, ohne dies genauer zu spezifizieren: Der Patient saß vornübergebeugt mit hängenden Schultern auf dem Therapietisch, mied den 1

2

Laut Gedächtnisprotokoll. In der lokalen Varietät geäußert, standarddeutsch in etwa: »Ich finde es eh gut, dass ihr so etwas macht, da so forscht – aber mir nutzt es halt nichts mehr, für mich ist es zu spät.« Seine individuelle Prognose als Patient mit hochaktiver primär-progredienter Multipler Sklerose, einer schwer behandelbaren Verlaufsform, ließ ihm wenig Hoffnung auf nachhaltige Besserung, geschweige denn Heilung seiner Beschwerden.

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Heike Ortner

direkten Blickkontakt und sprach leise sowie prosodisch kaum moduliert. Zudem stand er am Beginn seiner Rehabilitation nach einer schlagartigen Verschlechterung seiner Gehfähigkeit und sah sich wieder jenem Therapeuten gegenüber, der ihn bereits im Jahr zuvor wochenlang betreut hatte. Aus der allgemeinen Situation und aus den körperlich-stimmlichen multimodalen ›Displays‹ auf sein negatives emotionales Erleben in dieser kurzen Gesprächssequenz zu schließen, ist für mich als Forscherin problematisch, für mich als Mitmensch jedoch naheliegend. Solche und ähnliche Begegnungen mit Probandinnen und Probanden im klinischen Bereich führten mich im Laufe des Aufzeichnungsprozesses immer wieder an meine eigene emotionale Grenze und zur bangen Frage: Warum mache ich das? In diesem Beitrag versuche ich eine systematisierende Einordnung von video-dokumentierten Emotionen als Forschungsgegenstand und der eigenen Emotionalität als Begleiterin des Forschungsprozesses. Anhand von zwei Projekten wird gezeigt, vor welche methodologischen, ethischen und persönlichen Herausforderungen eine interaktionale Analyse von Emotionen die Forschenden stellt. Zuerst wird in Abschnitt 2 die erste Perspektive – Emotionen als Forschungsgegenstand – gestreift (vgl. Ortner 2019a sowie Ortner 2019b für Genaueres). In Abschnitt 3 wird die in Publikationen meist verschwiegene Emotionalität im Forschungsprozess explizit reflektiert. Über den unmittelbaren Kontext der beiden genannten Forschungsprojekte hinaus werden allgemeinere methodische Prinzipien von Emotionsanalysen aus linguistischer Sicht zur Diskussion gestellt.

2.

Perspektive I: Emotionen als Forschungsgegenstand

Für die immer noch boomende Erforschung multimodaler Interaktionen (vgl. Deppermann 2018 für einen Überblick) sind nur jene Anteile von Emotionen analysierbar, die sich in der Interaktion multimodal (z.B. gestisch) manifestieren. Analysiert werden nicht ›Emotionen‹ im Sinne eines individuellen Emotionsprozesses mit einer neurophysiologischen, behavioralen, motivationalen, kognitiven und subjektiven Komponente (vgl. Scherer 1990), sondern ›Emotionen‹ im Sinne interaktional ausgedrückter emotionaler Einstellungen (affective stance). In dieser Perspektive sind Emotionen intersubjektive, von allen Partizipierenden gemeinsam hervorgebrachte Ereignisse (vgl. Kärkkäinen 2006).

Emotionen als Forschungsgegenstand – Emotionen im Forschungsprozess

Emotionale Displays (insbesondere in Mimik, Gestik, Proxemik, Blickverhalten, Berührungen, Körperbewegungen) müssen somit im sequenziellen Verlauf aus dem Material heraus rekonstruier- und interpretierbar sein (vgl. z.B. Goodwin/Cekaite/Goodwin 2012). In einfachen Fällen finden sich körperliche Anzeichen wie Weinen oder verbale Hinweise auf emotionales Erleben mit expliziter Emotionsbenennung mittels sogenannter ›erlebensdeklarativer Formeln‹, z.B. Ich freue mich.3 Abgesehen davon, dass so eindeutige Beispiele relativ selten sind, stellt sich in der Analysepraxis aufgrund der angesprochenen interaktionalen Grundüberzeugung das Problem, dass sich sowohl Emotionsbeschreibung als auch Emotionsausdruck im Sinne eines Displays (z.B. mit Affektlauten, Interjektionen, Bewertungen, vgl. Fiehler 1990: 127) in der Interaktion oft erst dadurch rekonstruieren lassen, dass das Anzeigen einer emotionalen Einstellung in einem früheren Turn situativ relevant gesetzt wurde. Nach Du Bois/Kärkkäinen (2012) sollten Analysen auf Aushandlungen sozialer Ausrichtungen (engl. affiliation) und der Rollendistribution (engl. alignment) fokussiert werden. Eine weitere Analysespur liefert die Frage nach dem Stellenwert von Emotionen in situierten Praktiken (vgl. Deppermann/Feilke/Linke 2016 für eine Abgrenzung des Praktikenbegriffs). Beide in der Einleitung genannten Projekte beschäftigten sich mit der multimodalen Analyse von Bewegungsinstruktionen, zum einen in physiotherapeutischen Interaktionen (Projekt 1), zum anderen im Lehr-Lern-Kontext von Pilates-Training (Projekt 2).4 Interaktional relevante Emotionsmanifestationen waren in diesen Projekten einer von mehreren Forschungsgegenständen. In den Analysen waren die Erscheinungsformen der freundlichen Kooperation (affiliation) sowie – insbesondere in der Physiotherapie – Muster der interaktiven Bewältigung negativer Emotionalität zentrale Resultate. Als ebenso bedeutsam erwies sich der Aspekt, dass die Trainer*innen bzw. die Therapeut*innen beständig professionelle Emotionsarbeit leisten. Um diese Seite der Analyse von Emotionen in der Interaktion zu verdeutlichen, möchte ich 3

4

In Hinblick auf verbale Emotionsdisplays hat Fiehler (1990) den Unterschied zwischen Emotionsbeschreibung/-benennung und Emotionsausdruck mit verschiedenen Untertypen herausgearbeitet; vgl. auch Schwarz-Friesel (2013) für ähnliche Abgrenzungen. Bei den Physiotherapie-Aufzeichnungen handelte es sich um ein Pilotprojekt für eine geplante größere Studie (knapp 9 Stunden Audio- und Videomaterial; Erhebungszeitraum: Frühjahr 2018). Das interaktionale Pilates-Material war ein Teilkorpus meines Habilitationsprojektes, das ich 2019 abgeschlossen habe (insgesamt über 1.000 Minuten videographierte Trainingseinheiten in verschiedenen Pilates-Studios, Erhebungszeitraum: Frühjahr 2017). Die Publikation der Habilitationsschrift ist in Vorbereitung.

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Heike Ortner

ein Beispiel aus dem Pilates-Material anführen. Zwei wesentliche Aufgaben von Trainer*innen in ihrer Rolle als professionelle Dienstleister*innen sind das Stimmungsmanagement und die Stärkung des positiven Selbstkonzepts sowie der Selbstwirksamkeitsüberzeugung der Trainierenden als Kund*innen (vgl. Pahmeier 2006: 233f.). Im folgenden Beispiel drückt die Trainerin als Abschluss einer schwierigen Übungssequenz sehr explizit ihre positive Emotionalität aus. Aus emotionsanalytischer Sicht sind insbesondere die Z.01 und die Z.0512 interessant. Die Trainerin äußert mit starker emotionaler Betonung ihren Stolz auf die Gruppe und ruft in Erinnerung, dass die gerade absolvierten Übungen früher nicht möglich waren. Sie löst mit dem Erzählen der Episode vom Anfang des Semesters und mit einem Zitat einer Kundin Gelächter aus, was zeitgleich mit dem Lösen der Schlaufen sichtbar auch zur Lösung der körperlichen Anspannung bei den Trainierenden führt. Die versteckte Kritik in Z.10-11, dass die Gruppe früher offenbar nicht zielgerichtet genug trainiert hat, wird ohne dies auszusprechen mit dem jetzigen Gelingen kontrastiert (im ausgelassenen Teil von Z.13-19 wird nur das frühere Nicht-Können bekräftigt, nach Ende des Transkriptausschnitts wird direkt zur nächsten Übung übergegangen). Der erhobene Zeigefinger (im wahrsten Sinne des Wortes) von Z.0508 und die Taktstockgeste in Z.11 unterstreichen die emphatische Belehrung. Sie löst sich in weiteres Gelächter auf, als die in Z.05-06 zitierte Kundin das Zitat scherzhaft von sich weist. Den hier angewandten motivierenden Praktiken im Trainingsgeschehen (Lob in Z.01 und Necken im restlichen Transkriptausschnitt) ist gemeinsam, dass sie die erlebte Kompetenz der Trainierenden und ihre soziale Eingebundenheit stärken sollen und insofern einerseits kurzfristig das Ausführen der Übung und das Durchhalten, andererseits mittel- und langfristig eine positive Einstellung zur Pilates-Methode, zur Trainerin/zum Trainer und zum Studio erleichtern. Die übergeordnete Funktion derartiger Evaluationen ist insofern in konversationsanalytischer Terminologie die affiliation (Zugehörigkeit, Verbindung, vgl. Jefferson/Sacks/Schegloff 1987). Was die Trainerin empfindet, wie sich die Trainierenden fühlen – das ist nicht Gegenstand der Analyse, wohl aber der gezielte Einsatz des expliziten Emotionsausdrucks in Z.01 als Einleitung einer längeren Evaluationssequenz mit einem narrativen Rückblick auf früher Nicht-Mögliches und gemeinsamem Scherzen (Z.10, Z.19). Dieses Beispiel sollte intersubjektiv konstruierte emotionale Prozesse vor der Kamera veranschaulichen. Emotionen finden jedoch auch hinter, mit und

Emotionen als Forschungsgegenstand – Emotionen im Forschungsprozess

Beispiel: Brutal stolz (I_05, 42:37.611-43.073)

für Kameras statt (vgl. Moritz 2014) – diesem ›Hinter‹, ›Mit‹ und ›Für‹ wende ich mich im nächsten Abschnitt zu.

55

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Heike Ortner

3.

Perspektive II: Emotionen im Forschungsprozess

Um Forschungsprozesse und -ergebnisse zu verorten, bietet sich ein kurzer historischer Exkurs zur Entwicklung der Methoden und Werthaltungen der jeweiligen Disziplin an. Die Wurzeln der ethnographisch arbeitenden Konversationsanalyse (z.B. Sacks, Schegloff, Jefferson), die als Vorläufer der heutigen multimodalen Interaktionsanalyse gilt, liegen in der empirischen Ethnomethodologie nach Garfinkel und Goffman, die beide mit sogenannten ›Krisenexperimenten‹ (bewusste Disruption) sowie mittels teilnehmender Beobachtung soziale Normen im Alltagshandeln untersuchten. Auf Pioniere der Analyse von ›verkörperter Interaktion‹ (embodied interaction) wie unter anderen Goodwin (1981), Heath (1986), Mondada (2007) gehen Prinzipien wie Audio- und Videoaufzeichnung, Standards des Transkribierens und werturteilsfreie Interpretation ohne Mutmaßungen über kognitive Prozesse der Partizipant*innen einher. Die technischen Aufzeichnungsmöglichkeiten, insbesondere immer kostengünstigere und mobilere Geräte sowie die Digitalisierung, bestimmen die Entwicklung der Disziplin mithin wesentlich mit. Neuere Trends wie z.B. Eye-Tracking-Studien zeigen den Zusammenhang zwischen technischen Entwicklungen und Forschungsparadigmen, aber auch die Auswirkungen auf den Wissenschaftsbetrieb besonders deutlich: Aufgrund des »manual annotation load« (Brône/Oben 2018: 9) können Auswertungen von Experimenten dieser Art nur kollaborativ und gestützt durch Künstliche Intelligenz bewältigt werden. Die Frage ist dabei immer wieder, ob sich die Skills der Auswertung und die ethischen Standards in derselben Geschwindigkeit weiterentwickeln wie das technisch Machbare. Die Beschleunigung in allen drei Bereichen – Aufzeichnungs- und Auswertungstechnik, -methodik und -ethik – ist zumindest bei mir persönlich mit einem unterschwelligen Unbehagen verbunden: Kann meine kognitive Leistungsfähigkeit noch mithalten? In der folgenden Tabelle fasse ich, orientiert an der zeitlichen Logik eines interaktionslinguistischen Projekts, die Herausforderungen auf theoretischer, technischer und ethischer Ebene zusammen.

Emotionen als Forschungsgegenstand – Emotionen im Forschungsprozess

Tabelle 1: Projektlogik und ihre Herausforderungen Ebene

Vor

Während

Nach

Phase

Forschungsfrage/Ziele formulieren Zugang zu Proband*innen sichern

Feldphase: Datengenerierung

Auswertung und Ergebnispräsentation

Theoretisch

Beobachterparadoxon vorwegnehmen Spezifika der Situation und Institution berücksichtigen

Gegenseitige Abhängigkeit von Distanz und Verständnis berücksichtigen

Objektivität, Reflexion und Nachvollzug des Rekonstruierbaren balancieren

Technisch

Aufnahmegeräte vorbereiten Rahmenbedingungen klären (z.B. Raum)

Datenerhebung, Datengenerierung und Datendokumentation sichern

Datenmanagement (Verarbeitung, Bearbeitung, Speichern) und Analysetools managen

Ethisch

Transparent kommunizieren Information geben: Kontext, Ziele, Sicherheit Einverständnis einholen

Kamera als »Objektiv« »Ethics in Action« (Mondada 2014)

Anonymisierung, Datenschutz, Recht auf Löschung bewahren Disseminieren

Angenehme Atmosphäre, Information und Verantwortung als Prinzipien

Auf methodische Prinzipien und die sehr praktischen Fragen zur ethnographischen Arbeit mit Videoaufzeichnungen möchte ich an dieser Stelle nicht näher eingehen, nur darauf aufmerksam machen, dass auch einfach erscheinende technische Entscheidungen weitreichende Auswirkungen haben. Beispielsweise beeinflusst die Kameraposition die Formierung des interaktionalen Raumes (vgl. Mondada 2013: 256); die Bearbeitung des Rohmaterials und technische Affordanzen von Analysesoftware wie Verlangsamung/Beschleunigung und Vergrößerung/Verkleinerung des Videos wirken sich stark auf die Auswertung aus (vgl. Tuma/Schnettler/Knoblauch 2013). Videoaufzeichnungen sind ›performativ‹ (Frankhauser 2016): Durch die Kamera werden Handlungen und ihr Aufeinander-Bezogensein sichtbar gemacht und ob-

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Heike Ortner

jektiviert, teils auch Beschränkungen kompensiert und Informationen zu vormals nicht sichtbaren Beziehungen ergänzt. Dass Objektivierung nicht automatisch mit einer Analysehaltung einhergeht, wird weiter unten angesprochen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich vor allem auf die ethische Ebene vor, während und nach der Videographie. Aus meiner Erfahrung mit den beschriebenen Projekten möchte ich nur zwei emotional besetzte Konflikte vor der Aufzeichnungsphase erwähnen: erstens die Herstellung des Vertrauens der Proband*innen und zweitens das Dilemma zwischen Datenqualität und ethischen Richtlinien. Das Herstellen des Feldzugangs erfordert viel Kommunikation. Institutionen und Beteiligte müssen von der Projektidee überzeugt werden: Im Fall des Physiotherapie-Projektes waren das unter anderem die zuständige Ethikkommission und die Physiotherapeut*innen der Klinik, deren Einverständnis zur Mitarbeit auf einer Informationsveranstaltung und einer schriftlichen Handreichung beruht. Insbesondere im medizinischen Kontext sind Ein- und Ausschlusskriterien zu formulieren (im Kontext der Neurorehabilitation nur voll einwilligungsfähige, volljährige Patient*innen ohne schwere sprachliche Einschränkungen). Bei dieser Art der Lobbyarbeit für die eigene Forschung sind Glaubwürdigkeit und Vertrauen (Putzier 2016: 62) das Kapital. Unabdingbar ist ›informed consent‹: die freiwillige Teilnahme an der Studie basierend auf genauer Information zu Risiken, Datensicherung, Vertraulichkeit, Datenverarbeitung, Recht auf Löschung. Doch wie informiert man welche Interessengruppe (Therapeut*innen gegenüber Patient*innen, Trainer*innen gegenüber Trainierenden)? Alle gleich oder an die Zielgruppe angepasst? Wie geht man mit der Forderung nach ›Verantwortung als Prinzip‹ (Parry et al. 2016) um? Die Aufklärung erfolgt teilweise unter Zeitdruck – und wie freiwillig ist die Teilnahme in dem ganz spezifischen Setting, in dem erhoben wird? Genügt es zu versichern, dass eine Verweigerung der Zustimmung keine negativen Konsequenzen für Patient*innen in einer RehaEinrichtung hat, zumal ich als Forscherin gar keinen Einfluss darauf habe, wie sich eine Ablehnung auf die Therapeut*in-Patient*in-Beziehung auswirkt? Gibt es in einer Pilates-Einheit keinen Gruppendruck? Ist mit der Zustimmung, ausgedrückt durch eine Unterschrift auf der Einverständniserklärung ›alles geritzt‹? Man kann auf solche Fragen selbstbewusst antworten, dass man alles in der eigenen Macht Stehende tut, um die angesprochenen Probleme zu verhindern, und dass man beim geringsten Zweifel abbricht oder im Nachhinein Aufnahmen aus dem Korpus ausschließt und löscht. Und schließlich scha-

Emotionen als Forschungsgegenstand – Emotionen im Forschungsprozess

det eine linguistische Untersuchung niemandem wie etwa eine Medikamentenstudie. Mit mehr Demut fragt man sich, woran man im Vorfeld vielleicht überhaupt nicht gedacht hat, und hinterfragt das ganze Projekt, etwa wenn man unerwartet mit schwerer betroffenen Patient*innen konfrontiert ist und mehr über neurorehabilitative Prozesse erfährt, als man bei der Formulierung der Forschungsfrage nach ›Bewegungsinstruktionen‹ wissen wollte. Nicht nur dazu, sondern auch zu den Probandinnen und Probanden gibt es unterschiedliche Haltungen: In der Vorbereitung erscheinen sie zunächst während der Vorbereitung der Aufzeichnungen als Konstrukt (ausgehend von verschiedenen theoretisch oder stereotyp basierten Vorannahmen). Im Augenblick der direkten Kontaktaufnahme werden sie zu sehr konkreten Personen und im Verlauf des langwierigen Analyseprozesses zu mehr oder weniger anonymen Trägern von teils quantifizierbarer Musterhaftigkeit. Die explizite Forderung nach informed consent ist verhältnismäßig jung, wird mittlerweile aber bereits noch weitergedacht, und zwar dahingehend, dass die Beobachtung und Rückmeldung den Partizipierenden nutzen soll, mehr noch, dass die Forschung zu mehr ›Empowerment‹ führt (vgl. Mondada 2014). Das zweite Dilemma ist der zeitweise Konflikt zwischen Datenqualität und dem Anspruch der non-invasiven Datenerhebung. Dies lässt sich im Prinzip einfach beantworten: Es gibt keinen Kompromiss zwischen Datenqualität und dem Gebot der möglichst geringen Einflussnahme auf die aufzuzeichnende Interaktion; ethischen Erwägungen ist in jedem Fall der Vorzug zu geben. Dennoch wäre naiv anzunehmen, dass die Situation gar nicht beeinflusst wird. Die nicht häufigen, aber gelegentlichen Bezugnahmen auf die Kameras (so klein und unauffällig angebracht sie auch sein mögen) verraten viel darüber. Dies führt uns zum ›Während‹ in Bezug auf den Forschungsprozess (siehe Zeitebene in Tab. 1). Hier werden die vor der Kamera gefilmten Aktivitäten, die Aktivitäten hinter der Kamera (Entscheidungen z.B. über Perspektive, Zoom, später Nachbearbeitung), Aktivitäten für die Kamera (Interaktion mit der Kamera) und später mit der Kamera (z.B. Schnitt, Präsentation) unterschieden (vgl. Moritz 2014: 39): Es handelt sich dabei einerseits um Rahmen, die in der Konzeption eines Forschungsprojekts eine wichtige Rolle spielen, andererseits auch um Deutungsrahmen. Üblicherweise ist die Perspektive der Forscher*innen, nicht der Teilnehmenden fokussiert, die Kamera ist praktisch ›Objektiv‹ im doppelten Wortsinn. Die gegenseitige Abhängigkeit von Forschenden und Beforschten ist hierbei jedoch immer präsent: Die Wissenschaft ist nur mit Kooperation möglich, die Teilnehmenden haben ein Recht

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Heike Ortner

auf situationsadäquate Informiertheit, körperliche und datenschutzrechtliche Sicherheit und müssen sich diesbezüglich auf die Wissenschaft verlassen. Dabei ist eine Balance zwischen Distanz und Verständnis wichtig. Eine in dieser Hinsicht zentrale Frage ist: Welche Rolle spielt die/der Forschende beim Aufnahmeprozess? Ist man anwesend und beobachtet aus der Distanz (als jemand, der nur technische Geräte bedient) oder handelt es sich um teilnehmende Beobachtung? Hier ist teilweise ein Dilemma der zu großen oder der fehlenden Distanz zu verzeichnen: Bei den PhysiotherapieAufzeichnungen habe ich den Raum verlassen; dies bedeutete jedoch nicht, dass ich abwesend war. Bei einem kleinen Teil des Pilates-Materials konnte ich nur unter der Prämisse aufzeichnen, dass ich selbst an den Einheiten teilnahm (fernab der Kamera und nicht von den Trainer*innen adressiert, aber doch im strengen interaktionalen Sinn als Partizipantin). Mithin ist ›objektiv‹, ›werturteilsfrei‹ und ›unvoreingenommen‹ kein Widerspruch zu ›körperlich präsent‹ und ›teilnehmend‹ – und ich wage zu behaupten, dass es keine ›teilnahmslose‹ Beobachtung gibt, sondern nur Abstufungen zwischen ›voller Immersion‹ (mit der Kamera und der/dem Forschenden mitten im Geschehen, z.B. De Stefani/Mondada 2014) und ›Beobachtung aus der Distanz‹. Darauf komme ich gleich noch einmal zurück, wenn es um Haltungen bei der Auswertung geht. Die strikt empirische kontextsensitive Analyse natürlicher Daten geht mit der Notwendigkeit des Erarbeitens von ethnographischem Hintergrundwissen einher, im Fall der für diesen Beitrag relevanten Studien betrifft dies insbesondere Grundzüge der professional stocks of interactional knowledge (vgl. Peräkylä/Vehviläinen 2003) beim Physiotherapie-Material sowie ausreichende Kenntnisse der Pilates-Methode und deren Unterrichtsprinzipien. Interaktionale Auswertungen sind von einem intensiven und schnellen Wechselspiel aus Induktion, Deduktion und Retroduktion (ständige Überarbeitung von Konzepten, Imo/Lanwer 2019: 53) geprägt. Die bereits angesprochene Kernfrage lautet: Was setzen die Interaktionsbeteiligten selbst relevant, beispielsweise in Hinblick auf emotionales Erleben? Andererseits muss die Rolle des filmischen Forschers stärker hinterfragt werden, z.B. die Bedeutung von Standbildern als Sekundärdokument während der Analyse (vgl. Hausendorf/Schmitt 2016). Besonders wichtig ist dabei die bereits angesprochene Kenntnis von ›Teilnehmer*innenkategorien‹, das heißt des unvoreingenommenen ›empathischen Nachvollziehens‹ (Kesselheim 2016: 106) des Geschehens aus der Perspektive der Teilnehmenden.

Emotionen als Forschungsgegenstand – Emotionen im Forschungsprozess

Bedeutet das jederzeitige Recht auf Löschung wiederum, dass im Rahmen der Einverständniserklärung alles in Ordnung ist, was mit dem Material geschieht? Ist wiederum ›alles geritzt‹? Auf diese Frage möchte ich mit drei5 Extremen bei der Analyse antworten, die ich aus eigener Anschauung (nicht zwingend aus eigener Erfahrung) kenne: •





5

Extrem 1 (»Die Goldene Waagschale«): Durch die intensive Analyse wird man zur Expertin bzw. zum Experten für das eigene Material und liest Details heraus, die innerhalb der Interaktion nicht bedeutsam waren. Alles, wirklich alles wird auf die goldene Waagschale gelegt und damit einher geht auch eine überkritische Haltung gegenüber den Partizipierenden, insbesondere den professionellen Akteurinnen und Akteuren (Therapeut*innen, Trainer*innen). Extrem 2 (»Waldblindheit«): Eine auf den ersten Blick sehr ähnliche, bei näherer Betrachtung aber nahezu gegenteilige Haltung ist, dass man ›vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht‹, indem man eine rein analytische Sichtweise anlegt, im Falle interaktionaler Analysen nur noch in Termini wie ›Sequenzialität‹, ›Temporalität‹ und ›Projektion‹. Auch hier geht der Blick für das große Ganze verloren, aber nicht in Hinblick auf Wertungen und Urteile, sondern im Gegenteil lösen sich die beobachteten Situationen in ihre Struktur auf. Das Menschliche, das Emotionale, die spezifische Qualität zwischenmenschlicher Interaktion wird nachrangig. Extrem 3 (»BFF«/»Best Friends Forever«): Wiederum in eine völlig andere Richtung bewegt sich die Analysehaltung, wenn man aufgrund von Betroffenheit/Mitgefühl und vorab geknüpften persönlichen Beziehungen zur Parteiergreifung für die gefilmten Personen neigt. Emotionale Involviertheit ist wie oben ausgeführt nicht prinzipiell abzulehnen und nicht nur aus der Besorgnis heraus, nicht ›objektiv‹ sein zu können. Ebenfalls aus den obigen Ausführungen dürfte hervorgehen, dass die Betonung von vollständiger ›Objektivität‹ auch ohne sprachphilosophische Auseinandersetzung mit dem Begriff insofern ein ›Cave canem‹ ist, als das Absolutsetzen der eigenen Emotionslosigkeit und Unbeeinflussbarkeit die Reflexion unvermeidlicher Emotionen im Forschungsprozess verhindert. Ebenso zu reflektieren ist jedoch die Frage, wie jemand anderes ohne die eigenen Vorkenntnisse und Beziehungen im Zusammenhang mit dem Es handelt sich nicht um eine Skala mit binären Extremwerten.

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Heike Ortner

Material analysieren würde. In größeren Projekten wird versucht, diesen Anspruch mit Interkoderreliabilität zu erfüllen. Die üblicherweise intensiven Diskussionen von Kodierschemata und Analyseleitfäden zeigen aber auch hier, dass Emotion und Person im Forschungsprozess anwesend bleiben. Auch wenn die Auswertung ethisch und wissenschaftlich einwandfrei erfolgt, sind die Konflikte noch nicht beigelegt. Die Verwendung von Transkripten, Abbildungen, Videoausschnitten auf Tagungen, in Beiträgen etc. muss im Vorhinein geklärt sein. Aus eigener Erfahrung (nicht mit ›meinen‹ Daten, dafür öfter als einmal) wird die oben angeführte Extremhaltung der ›Goldenen Waagschale‹ zeitweise in Datensitzungen offenbar: Hier wird das interaktionale Geschehen rekonstruiert, dekonstruiert, aber auch destruiert. Wir betreiben viel Aufwand, um den Proband*innen zu erklären, dass es nicht um Bewertung geht, aber ich habe bereits erlebt, wie in Datensitzungen dem medizinischen Personal die Kompetenz abgesprochen wird, sodass die Forscher*innen zu Verteidiger*innen ›ihrer‹ Proband*innen werden mussten (oder vielmehr in diese defensive Rolle gedrängt wurden). In der »Third Mission« in Form z.B. von Vermittlungsvorträgen ist wiederum der deskriptive linguistische Standpunkt schwer zu vermitteln, schließlich erwarten sich Teile der Öffentlichkeit, dass mit ›ihrem‹ Steuergeld praktische Lösungen erarbeitet werden, die beispielsweise im klinischen Alltag Verwendung finden. Dies ist gerade in der Interaktionalen Linguistik nicht immer der Fall.6 Beobachtung und Rückmeldung können auch als Empowerment der Proband*innen angelegt werden (vgl. Mondada 2014). Die eigene Motivation ist in diesen Fällen nicht automatisch höher. Vieles in der emotionalen Reaktion auf all die genannten Aspekte hängt von der Forscher*innenpersönlichkeit, von ihren Werthaltungen und Zielen in Hinblick auf ›gute Forschung‹ ab. In der folgenden Zusammenfassung wird dieses etwas ›blande‹ Fazit angereichert.

6

Vgl. aber Parry/Land (2013) liefern ein Beispiel für die systematische Auswertung von CA-Studien, um daraus konkrete Empfehlungen für medizinisches Personal in Hinblick auf Gesprächsverhalten abzuleiten. Vgl. auch z.B. die konkret auf die Lösung eines eingegrenzten Problems angelegte Studie von Menz/Lalouschek/Gstettner (2008) sowie Imo (2019), der onkologische Aufklärungsgespräche untersuchte. Allgemein bieten sich medizinische Kontexte für die angewandte Gesprächs-/Interaktionsforschung an.

Emotionen als Forschungsgegenstand – Emotionen im Forschungsprozess

4.

Zusammenfassung und Schluss

Zusammenfassend möchte ich noch einmal die Ebenen persönlicher Emotionen im Forschungsprozess und einige mögliche emotionale Implikationen anführen: Tabelle 2: Zusammenfassung der Perspektiven auf Emotionen im Forschungsprozess Aspekt im Forschungsprozess

Ausgewählte »Werte«

Persönliche Motive und Interessen am Forschungsprozess

Neugierde, Interesse Marktwert/Karriere Bedienen der Stakeholder: Proband*innen, Institutionen, Wissenschaftsbetrieb, Öffentlichkeit

Chronologie des Forschungsprozesses

Theoretisch, technisch und ethisch in Hinblick auf die eigenen Emotionen zu hinterfragen VOR: Transparenz, Information, Einverständnis WÄHREND: Datenerhebung/Datengenerierung/Datendokumentation, Kamera als ›Objektiv‹, Präsenz und Teilnahme in der Situation NACH: Datenmanagement, Analysetools, Anonymisierung/Datenschutz/Recht auf Löschung

Haltung zu den Proband*innen

Proband*innen als Konstrukt Proband*innen als Teil der Situation Proband*innen als Gefährt*innen Proband*innen als Ziel der Bemühungen (Empowerment)

Analysehaltung

Balance zwischen selbstkritischer Objektivität und empathischem Nachvollziehen Extreme: Goldene Waagschale – Waldblindheit – BFF Betroffenheit, Mitgefühl

Umgang mit Ergebnissen

Deskription Praxis/Anwendung Präskription Wissenstransfer

Februar 2020. Ich bin selbst in einer Einrichtung für Neurorehabilitation und frage mich, wie ich mich dabei fühlen würde, wenn eine Wissenschaftlerin (gleich welcher Disziplin) meine Physiotherapie-Einheiten auf Video aufzeichnen würde. Meine Zustimmung wäre der Kollegin sicher, ein gewisses Unbehagen jedoch auch, obwohl ich mehr Wissen über Forschungsprozes-

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Heike Ortner

se als der Bevölkerungsdurchschnitt habe und verstünde, dass es nicht um mich als Person ginge. Das in der Einleitung geschilderte Pilotprojekt hat viele Instanziierungen von Emotionen auf Video eingefangen. Die persönliche Seite des Projekts und meiner privaten Erfahrungen sind von vielfältigen Emotionen geprägt. »Für wissenschaftliche Zwecke«, »deskriptiv statt präskriptiv«, »ethisch einwandfrei«, »Sensibilität in Durchführung und Auswertung« – das ist alles selbstverständlich, in der Praxis aber alles andere als trivial. Die Verantwortung einer Wissenschaftlerin bzw. eines Wissenschaftlers geht weit darüber hinaus, eine Einwilligungserklärung zu erzielen und Daten zu anonymisieren (vgl. Mondada 2014). Auch technische Probleme wie Gerätebeschaffung, Kameraaufstellung und Datenmanagement sind im Vergleich zur ethischen und emotionalen Herausforderung einfach zu lösen. Es geht um eine objektive und doch empathische Haltung, die die Grenzen des Beobachtbaren und des Beobachtens respektiert und selbstkritisch fragt, ob der zu erwartende Erkenntnisgewinn das ethische Risiko rechtfertigt. Und nicht zuletzt geht es um die Offenheit für das selbstkritische Hinterfragen des eigenen Tuns, das noch vor der ersten Kontaktaufnahme mit möglichen Probandinnen und Probanden beginnen muss.

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Universitäre Lehre

Wie mit Nach-Matrix-Sozialisierten umgehen, oder: emotionale Herausforderungen bei der Vermittlung kulturwissenschaftlicher Inhalte Ralf Pröve

I.

Einstieg

Vor kurzem erlitt ich im Hörsaal einen kleinen didaktischen ›Schock‹. Es geschah in meiner Vorlesung über den Konstruktionscharakter von Geschichtswissenschaft, als ich auf die berühmte, geradezu ikonische Pillenszene des aus dem Jahre 1999 stammenden Films Matrix verwies1 . Statt der von mir erwarteten Reaktion auf einen seit etlichen Jahren erfolgreich genutzten Griff in den didaktischen Zauberkasten, nämlich eine Erkenntnis verheißende Resonanz, erntete ich die ratlose Frage einer Studierenden, was das denn überhaupt für ein Film sei, Matrix? Dem Konzept dieses Sammelbandes folgend, der die zentrale Bedeutung von Gefühlen für den Lehrerfolg in Klassenzimmern und Hörsälen herausstellt, möchte ich aus dem Blickwinkel des kulturwissenschaftlich arbeitenden Historikers auf die Ursachen, aber auch auf die Potenziale dieser für mich damals emotional herausfordernden Situation eingehen. Dabei gilt es, sich zunächst durch das Dickicht verschiedenster Zugänge und Ansätze zu kämpfen, die sich mit der Grundthematik Emotion in Schule

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Matrix (1999), Matrix Reloaded (2003), Matrix Revolutions (2003), R: Lana Wachowski (geboren als Larry Wachowski), und Lilly Wachowski (geboren als Andy Wachowski), Die Pillenszene ist zu sehen in: https://www.youtube.com/watch?v=TAI4rZweU6s; letzter Zugriff am 21.7.2020. In dieser Szene wird der Held Neo von Morpheus gefragt, ob er die blaue Pille, die die Wiederaufnahme des alten, behüteten Lebens in der Matrix bedeutet, oder die rote Pille, die aus der Matrix heraus in den »Kaninchenbau« führt, wählt.

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und Universität2 befasst haben und in diesem Dschungel mir meinen eigenen kulturwissenschaftlichen Weg zu bahnen. Schon ein allererster Blick bei diesem Vorhaben offenbart, dass das Metathema Emotion bei offenbar allen akademischen Disziplinen verblüffender Weise lange Zeit nur ein Mauerblümchendasein geführt hatte3 . Allzu lange nämlich wurden Emotionen in Opposition zur Ratio, zur Vernunft begriffen und damit als defizitär, als wissenschaftlich irrelevant ausgemacht4 . Dieses Versäumnis gilt nicht nur für pädagogische und didaktische Fachrichtungen, sondern eben auch für geschichts- und kulturwissenschaftliche Zugänge5 . Erst seit etwa 15-20 Jahren ist hier eine nachhaltige Änderung eingetreten: ganz unterschiedliche Fächer bearbeiten in ihrer jeweiligen disziplinä-

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Obwohl ich in diesem Beitrag vornehmlich auf das universitäre Unterrichtsgeschehen fokussiere, sollte die schulische Situation stets mitgedacht werden. Die Unterschiede zwischen beiden Institutionen fallen ohnehin nicht absolut, sondern lediglich relativ aus; insbesondere zwischen den letzten Mittelstufenjahrgängen und der Oberstufe verschwimmen die Grenzen. So resümieren Matthias Huber und Sabine Krause mit Blick auf die Bildungswissenschaften das Emotionsdefizit wie folgt: Es sei die »das pädagogische Denken und Handeln oft begleitende Abwehrhaltung gegenüber Emotionalität darauf zurückzuführen, dass die vermeintlich konsensuale Auffassung von Emotion und Gefühl als ein negativ konnotiertes, der Bildung entgegenwirkendes Verständnis für ihre Ausblendung in der erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung verantwortlich war und ist«. Huber, Matthias; Krause, Sabine: Bildung und Emotion, in: dies. (Hg.), Bildung und Emotion, Wiesbaden 2018, S. 1-13, hier S. 3. Vgl. dazu etwa auch Pekrun, Reinhard: Schüleremotionen und ihre Förderung. Ein blinder Fleck der Unterrichtsforschung, in: Psychologie in Erziehung und Unterricht 45 (1998), S. 230-248. Wie Becker, Eva S.; Keller, Melanie M.: Erleben und Regulation positiver Emotionen bei Lehrpersonen, in: Hagenauer, Gerda: Hascher, Tina (Hg.): Emotionen und Emotionsregulation in Schule und Hochschule, Münster 2018, S. 165-180, hier S. 167, bemerken, sei auch ein Beweggrund für deren Nichtbeachtung, dass Emotionen als flüchtig und daher als kaum messbar gelten. Gute Ein- und Überblicke verschaffen Saxer, Daniela: Mit Gefühl handeln. Ansätze der Emotionsgeschichte, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 14 (2007), S. 15-29, von Scheve, Christian: Emotionen und soziale Strukturen. Die affektiven Grundlagen sozialer Ordnung, Frankfurt a.M. 2009, Hartmann, Martin: Gefühle. Wie die Wissenschaften sie erklären, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2010, Plamper, Jan: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012 oder Stalfort, Jutta: Die Erfindung der Gefühle. Eine Studie über den historischen Wandel menschlicher Emotionalität (17501850), Bielefeld 2013.

Wie mit Nach-Matrix-Sozialisierten umgehen

ren Fokussierung nunmehr intensiv emotionale Phänomene6 . Insbesondere die Kulturwissenschaften haben vor einigen Jahren sogar eigens einen Emotional Turn ausgerufen. Doch bleiben wir zunächst bei den Unterrichtswissenschaften: BildungsforscherInnen, DidaktikerInnen und pädagogische PsychologInnen haben sich ebenfalls im Rahmen dieses allgemeinen Booms mit dem Thema befasst. Im Blickfeld standen Theorie und Diagnostik distinkter Emotionen erstens, Emotionsregulationsstrategien im Unterricht zweitens, die Herausstreichung von Emotionen in der Lehrsituation drittens sowie der kognitive Effekt von Emotionen viertens.7 Im Einzelnen wurden bestimmte Emotionen wie etwa »Stolz« als bereichernd skizziert und deren positive Wirkung auf die Leistungsbereitschaft beschrieben, emotionsauslösende Faktoren wie schulischer Erfolg oder Misserfolg untersucht oder die Wichtigkeit adäquater Emotionsregulationen für die Aufnahme von Informationen ausgeleuchtet8 . Somit laufen die skizzierten Ansätze auf zwei Wege hinaus: Einerseits geht es darum, problematische und den Lernerfolg scheinbar behindernde Emotionen von SchülerInnen zu erkennen, andererseits diese Emotionen gezielt in als positiv geltende, den Lernerfolg begünstigende Bahnen zu wandeln, indem zum Beispiel Techniken wie Sitzordnung, Raumsituation, Diskussionsatmosphäre, Stimmungslage, Performanz, Auftreten, Gesichts-

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Vgl. dazu den eindrücklichen Beitrag von Brauer, Juliane; Lücke, Martin: Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Einführende Überlegungen, in: dies. (Hg.), Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, Göttingen 2013, S. 11-26, die vehement für die Berücksichtigung von Emotionen in der Didaktiktheorie eintreten. Vgl. auch Klika, Dorle: Bildung und Emotion. Historisch-systematische Zugänge, in: Huber/Krause, Bildung und Emotion, S. 75-89, die nachzeichnet, wie der einst florierende pädagogische Emotionsdiskurs im 19. Jahrhundert zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend abebbte. Hierzu mit einem konzisen Überblick Hascher, Tina; Schmitz, Bernhard: Emotionen und Schule und Hochschule. Perspektiven, in: Hagenauer/Hascher, Emotionen, S. 339343. Vgl. zudem Huber/Krause, Bildung sowie Klika, Bildung. Vgl. hier etwa Fränke, Judith; Wosnitza, Marold: Stolz im Schulalltag. Worauf sind Schülerinnen und Schüler stolz?, in: Hagenauer/Hascher, Emotionen, S. 15-28, Gunzenhauser, Catherine; Stiller, Anne-Kathrin; von Suchodoletz, Antje: Kognitive Neubewertung statt Unterdrückung von Emotionen. Emotionsregulation und Leistung bei Grundschulkindern, in: Hagenauer/Hascher, Emotionen, S. 29-42, Lohbeck, Anette; Moschner, Barbara; Schlesier, Juliane; Wagener, Uta: Emotionsregulationsstrategien, Emotionen und kognitive Lernstrategien von Studierenden, in: Hagenauer/Hascher, Emotionen, S. 57-72.

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ausdruck sowie Mimik und Körperhaltung des Lehrenden oder aber der spezifische Medieneinsatz berücksichtigt werden9 . Diese beeindruckend breit gestreute Hinwendung zu Emotionsphänomenen im Lehrgeschehen vor allem an Schulen, aber eben auch an Universitäten ist erst einmal sehr zu begrüßen. Eine grundsätzliche Herausforderung stellt die definitorische Eingrenzung sowie die damit zusammenhängende (Binnen-)Differenzierung von Emotionen dar. Während der Psychologe Reinhard Pekrun verschiedene Komposita benennt (affektive Emotionen, kognitive Emotionen, motivationelle Emotionen, expressive und physiologische Emotionen), streicht der Bildungsforscher Matthias Huber fünf Kernpunkte für den Konnex von Bildung und Emotion heraus: Emotionen als Erkenntnisquelle zur Entwicklung von Vernunft erstens, Emotionen als Voraussetzung für Lernprozesse zweitens, Emotionen als zentraler Beeinflussungsfaktor für das Lehren und Unterrichten drittens, Emotionen als Voraussetzung von Wahrnehmungsprozessen und Gedächtnisleistungen viertens sowie Emotionen als anthropologisches Grundprinzip fünftens10 . Die Binnendifferenzierung von Emotionen geschieht häufig unreflektiert, indem anscheinend wahllos und oftmals wenig zielführend unter Einschluss tagesaktueller EmotionsNarrationen und umgangssprachlich gefasster Begrifflichkeiten (»Coolness«) ein ganzes Kaleidoskop emotionaler Prozesse thematisiert und versprachlicht wird11 . Sinnvoller wäre es wohl, wie Daniela Saxer es vorschlägt, stattdessen in primäre und sekundäre Emotionen zu differenzieren; ganz nach dem Beispiel

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Vgl. hier etwa Dresek, Markus; Tulis, Maria: Emotionales Erleben und dessen Bedeutung für das Lernen aus Fehlern, in: Hagenauer/Hascher, Emotionen, S. 73-86, Stang, Justine; Urhahne, Detlef: Genauigkeit der Einschätzung von Emotionen von Schülerinnen und Schülern durch Lehrpersonen, in: Hagenauer/Hascher: Emotionen, 151-164, Becker/Keller, Erleben und Regulation, S. 165-180. Vgl. hier Pekrun, Reinhard: The controll-value theory of achievement emotions. Assumptions, corollaries and implications for educational research and practice, in: Educational Psychology Review 18 (2006), S. 315-341, Huber, Matthias: Emotionen im Bildungsverlauf. Entstehung, Wirkung und Interpretation, Wiesbaden 2020, hier S. 2. So benennt etwa Pekrun, Reinhard: Emotion, Lernen und Leistung, in: Huber/Krause (Hg.), Bildung und Emotion, S. 215-232 mit »Lernfreude, Hoffnung, Leistungsstolz, Prüfungsangst, Ärger, Scham, Langeweile und Hoffnungslosigkeit« ebenso ein wildes Durcheinander von Affekten, Gefühlen und Emotionen wie Brauer/Lücke, Emotionen, mit »Liebe, Hass, Wut, Trauer, Vertrauen oder Zuneigung«.

Wie mit Nach-Matrix-Sozialisierten umgehen

der Farbenlehre, die in Grundfarben und Komplementärfarben unterscheidet12 . Auf diese Weise kann es gelingen, sich auf die letztlich doch nur wenigen evolutionsbiologisch und sozialanthropologisch bedingten Kernemotionen zu konzentrieren, von denen sich dann andere, sozusagen Komplementäremotionen ableiten lassen. Ich empfinde gerade die neueren und neuesten Ergebnisse der Bildungsforschung und der Pädagogischen Psychologie als recht beeindruckend und gewinnbringend. In ersten Ansätzen wird sogar begonnen, sich mit dem emotionalen Geschehen von DozentInnen als relevanten Faktor zu beschäftigen13 . Demgegenüber fällt der fachdidaktische Blick deutlich zu kurz aus (in meinem Fall also der Geschichtsdidaktik)14 , indem entweder das Problemfeld Emotion vollkommen verschwiegen wurde15 oder nicht mit, sondern über Emotionen hinweg diskutiert wurde. Doch wie auch immer, aus Sicht des kulturwissenschaftlich arbeitenden Historikers ergeben sich ohnehin einige unbeantwortete Fragen, die sich aus meinem disziplinbedingten Paradigmenwechsel stellen16 . Zwei fundamenta12 13

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Saxer, Mit Gefühl, S. 16. Vgl. hier Hansen, Miriam; Horz, Holger; Mendzheritskaya, Julia; Scherer, Sonja: »Wann, wie und wem gegenüber darf ich meine Emotionen zeigen?« Regeln der emotionalen Darbietung von Hochschullehrenden in der Interaktion mit Studierenden in unterschiedlichen kulturellen Kontexten, in: Hagenauer/Hascher, Emotionen, S. 227241, Kordts-Freudinger, Robert; Thies, Katharina: Regulate this! Emotionsregulation und Lehrorientierungen der Hochschullehrenden, in: Hagenauer/Hascher, Emotionen, S. 211-225; sowie Becker/Keller, Erleben und Regulation. Vgl. hierzu die dezidierte Kritik von Martin Lücke und Juliane Brauer (Brauer/Lücke, Emotionen, bes. S. 17): »Blickt man zum Beispiel in das aktuelle Wörterbuch Geschichtsdidaktik, fehlt nach wie vor die Anerkennung von Emotionen als geschichtsdidaktische Kategorie, geschweige denn Vorschläge für ein funktionales Einbinden von Emotionen in Lernprozesse«. Gemeint ist Mayer, Ulrich (Hg.): Wörterbuch Geschichtsdidaktik, 3. Aufl., Schwalbach/Ts. 2014. So findet sich auch in der zweiten Auflage keine Erwähnung in dem voluminösen zentralen Band von Pandel, Hans-Jürgen: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis, 2. Aufl., Schwalbach/Ts. 2017. Dieser Befund gilt z.B. auch für Trautwein, Ulrich u.a.: Kompetenzen historischen Denkens erfassen. Konzeption, Operationalisierung und Befunde des Projekts »Historical Thinking – Competencies in History« (HiTCH), Göttingen 2019; oder Baumgärtner, Ulrich: Wegweiser Geschichtsdidaktik. Historisches Lernen in der Schule, Paderborn 2019. Für andere Disziplinen liegen bereits einige Überlegungen zur Anwendung und Umsetzung vor. Vgl. dazu etwa zum Mathematikunterricht Porsch, Raphaela: Emotionen in der LehrerInnenbildung, in: Huber/Krause (Hg.), Bildung und Emotion, S. 269-287,

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le Probleme scheinen mir hier sichtbar zu werden. Erstens werden Emotionen semantisch verkürzt gefasst, eine Aufdeckung von deren komplexen Konstruktionscharakteristiken unterbleibt; statt hier also tiefer zu fassen, werden emotionale Phänomene als leicht zu handhabendes Instrumentarium für gelungenen Unterricht begriffen. Die Option, Emotionen vielmehr vor allem als zentralen erkenntnistheoretischen Vektor einzusetzen, wird somit nicht wirklich erkannt17 . In diesem Verständnis von Emotionen fällt dann folgerichtig zweitens die Vorstellung eines letztlich immer noch immanent gedachten asymetrischen, frontal konzipierten Lehrgeschehens, in dem die Person des/der Lehrenden als ab- und herausgehoben begriffen wird, als losgelöste Autorität, sozusagen als alleiniger Regisseur des Unterrichtsgeschehens. Um Emotionen auf beiden Seiten in Klassenzimmern und Hörsälen einzusetzen, ist es aber notwendig, Rolle und Funktion von Lehrenden neu zu interpretieren18 . Dies wiederum bedeutet aus DozentInnensicht, sich viel intensiver als bisher geschehen, mit sich selbst auseinanderzusetzen. Doch hier gilt weiterhin die Maxime der fast schon psycho-pathologischen »Selbstbeschweigung« von Dozierenden und Lehrenden19 . Die Versäumnisse von Fachdidaktik und Bildungswissenschaften sind hierbei vor allem symptomatisch zu verstehen, denn das eigentliche Problem liegt tiefer und hat sowohl bildungspolitische als auch erkenntnistheoretische Ursachen. Die Gründe für das bildungspolitische Manko sind komplex. Sie liegen im Kern in unserem spezifischen westlich-kapitalistischen Gesellschaftsmodell begründet, das entsprechend angepasste bildungspolitische Lehrkonzepte, austarierte Lehrinhalte und ein signifikantes Verständnis von Schule und Universität bewirkt hat. Im Ergebnis geht es, aller fachdidaktischen Träume oder blumiger Reden in den Kultusministerkonferenzen oder den bildungspolitischen Ausschüssen der Län-

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Brandenberger, Claudia C.; Hascher, Tina: Emotionen und Lernen im Unterricht, in: Huber/Krause (Hg.), Bildung und Emotion, S. 289-310, sowie zum Politikunterricht den Sammelband von Frech, Siegfried; Richter, Dagmar (Hg.): Emotionen im Politikunterricht, Frankfurt a.M. 2019. Bis zu einem gewissen Punkt stellt hier der Sammelband von Brauer/Lücke, Emotionen, eine Ausnahme dar, auf die ich noch dezidiert zurückkommen werde. Auf diesen Kontext werde ich weiter unten zurückkommen. Etzemüller, Thomas: Der ›Vf‹ als Subjektform. Wie wird man zum ›Wissenschaftler‹ und (wie) lässt sich das beobachten?, in: Alkmeyer, Thomas; Budde, Gunilla; Freist, Dagmar (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013, S. 175-196.

Wie mit Nach-Matrix-Sozialisierten umgehen

derparlamente zum Trotz nicht um Bildung, sondern um Ausbildung, um die marktlogische Ein- und Aussortierung zukünftiger ArbeitnehmerInnen, SteuerzahlerInnen und VerbraucherInnen. Die Konsequenzen liegen dabei auf der Hand: Der Blick wird zu sehr auf die formalen Abschlüsse und den angestrebten BeamtInnenstatus gelegt. Wissenschaftsministerien und Universitätsleitungen legen, aller Beteuerungen zum Trotz, keinerlei Wert auf die tatsächliche Überprüfung didaktischer Fähigkeiten von HochschullehrerInnen, gehuldigt wird stattdessen dem goldenen Kalb der Drittmitteleinwerbung. Der Schulalltag ist situativ im Kontext von Beamtenrecht, Rahmenlehrplänen und Schulordnungen geprägt von Hierarchie, Anpassung und performativer LehrerInnenautorität. Ein Beispiel: vor einigen Jahren kam eine Studierende im Anschluss an eine Sitzung zu mir, die mich bat, sie bitte nicht an der Seminardiskussion zu beteiligen, sie könne nicht frei vor anderen sprechen. Ich entgegnete, kein Problem, dann sei es ja gut, dass sie nicht Lehramt studiere. Doch, doch, sie studiere allerdings auf Lehramt, möchte Beamtin werden. Auf meine behutsame Nachfrage, ob denn eine solche Berufswahl unter diesen Umständen sinnvoll sei, erfuhr ich, dass sie ja dann Autorität am Pult hätte, die SchülerInnen ihr zuhören müssten und ihr dann das Sprechen leichter fallen würde. Dieser kurze Austausch ließ mich etwas verstört zurück. Mehrere ähnliche Gespräche in den letzten zwei Jahren haben mir dann deutlich gemacht, dass diese Einstellung offenbar keineswegs singulär ist. Natürlich bin ich nicht der erste und auch nicht der letzte, der diese Zustände in Schule und Universität kritisiert und ich weiß auch, dass es seit Jahrzehnten viele alternative Konzepte und vielversprechende Ansätze zur Überwindung dieser unguten Situation gegeben hat und gibt – leider nach wie vor mit bescheidenem Erfolg. Ich möchte hier vor dem soeben skizzierten Hintergrund auf mein Eingangszitat zurückkommen und den Einsatz, ja die Notwendigkeit einer emotionalen, erkenntnistheoretisch fundierten Interaktion in der Lehre thematisieren. Meine These lautet: Wieso eignen sich Emotionen als Trägerwelle für Verstehen und Verständnis von vergangenen Kulturen in so besonderer Weise? Dazu werde ich zunächst die notwendigen kulturwissenschaftlichen Parameter des Fachs Geschichtswissenschaft zusammentragen, um anschließend Vorschläge für eine Operationalisierung von Gefühlskonstrukten in der Lehre aufzeigen.

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II.

Kulturwissenschaftliche Parameter

Die Entwicklung des Fachs Geschichtswissenschaft lässt sich im Großen und Ganzen in drei zeitlich gestaffelte Mainstreams, also bestimmten geschichtsphilosophisch, aber auch gesellschaftspolitisch induzierten Herangehensweisen gliedern20 : erstens die lange Hochphase der sogenannten Großen Männer, in der bis in die 1960er Jahren hinein das Augenmerk auf Ereignisse und zeitlogische Betrachtungsweisen gelegt wurde; zweitens die von den 1960er bis in die 1990er Jahre florierende strukturfunktionalistische Perspektive, in der anhand von Zahlenmaterial der vermuteten Wirkungsweise von Strukturen sozusagen hinter den Menschen nachgespürt wurde; und drittens die seit den 1990er Jahren immer noch anhaltende kulturalistische Wende. In dieser steht die jeweilige Weltwahrnehmung von Menschen im Vordergrund, die wiederum nur indirekt als »Kultur« fassbar ist, also durch Sprache, Kleidung, Geschlecht, Gesten, Gebärden, Körperhaltungen, Handlungen und vieles mehr. Verantwortlich für diese geschichtsphilosophischen Wandlungen sind nicht nur die wissenschaftlichen Paradigmenwechsel oder die gesellschaftlich-politischen Entwicklungen, sondern eben Veränderungen des Menschenbildes: von enthistorisierten Großen Männern, Helden oder Antihelden, denen passive Funktionsträger zur Seite gestellt werden, über Marionetten der Strukturen hin zu autarken Akteuren mit einer je eigenständigen Weltsicht und Handlungsvollmacht. Kernthema dieses kulturalistischen Zugangs bildet demnach eine breit gefasste Akteur-Umwelt-Interaktion, da eine Messung der inneren Vorgänge eben nur indirekt möglich ist. Als wichtigstes methodisches Vorgehen gilt in diesem Kontext der praxeologische Ansatz, die Praxeologie als Theorie der Praxis. Bereits in den 1970er-Jahren begann Pierre Bourdieu damit, eine Theorie des Handelns zu entwickeln21 und somit Menschen als Akteure zu begreifen, die sich in einem sozialen Raum, einem Feld, bewegen, dessen Gesetzmäßigkeiten unterliegen und befolgen und zugleich handelnd die Parameter

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Vgl. im folgenden Pröve, Ralf: Geschichtskunde vs. Geschichtswissenschaft, Vielfalt statt Einfalt: Ein Appell für sozialkonstruktivistisches Forschen und selbstreflektiertes Lehren, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 68 (2020), S. 393-416. Vgl. dazu etwa Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a.M. 1998, sowie ders.: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1993.

Wie mit Nach-Matrix-Sozialisierten umgehen

dieses Raumes und dessen Gesetze stetig verändern.22 Akteurinnen seien also einerseits den Gegebenheiten, den Strukturen (im Sinne Watzlawicks23 also der Wirklichkeit 1. Ordnung) ausgeliefert, andererseits würden sie im Kontext ihrer eigenen Wahrnehmung (also der Wirklichkeit 2. Ordnung) diese immer wieder durch ihr Handeln verändern. In gewisser Weise erfolgt somit eine Vermengung von Struktur und Kultur, wobei unter Struktur sowohl natürliche Strukturen (Klima, Geografie), aber auch von Menschen gemachte Strukturen, also Regeln, Tabus, Rituale, Gewohnheiten, Moden, Gesetze zu verstehen sind. Insofern geht es um die Wahrnehmung von Akteurinnen, deren jeweilige individuelle Aneignung von Wirklichkeit. Eine Aneignung, die über Kommunikationsprozesse und das Handeln, das Praktizieren, erfolgt. Die Differenz zwischen diesen beiden Polen zu beschreiben, deren jeweilige relative Abweichung, hat sich für die Kulturwissenschaften zu einem ubiquitären Messverfahren entwickelt. Dieser geradezu revolutionäre Wandel im Fach Geschichtswissenschaft wird nicht umsonst als Cultural Turn24 , als kulturalistische Wende beschrieben, ganz im Sinne etwa einer (erkenntnistheoretischen) kopernikanischen Wende, wie es Stefan Haas so treffend beschrieben hat25 . Aus dem kulturalistischen Grundkonzept heraus entwickelten sich weitere methodisch-thematische Erkenntnisparadigmen, die jeweils einen Baustein menschlichen Daseins kondensieren, um den herum sich anschließend unterschiedliche Beobachtungen filtern lassen. Neben einigen anderen Turns gehört dazu eben auch der Emotional Turn, also die Vorstellung, dass Menschen, Akteure sich ihre Welt hauptsächlich über und mit Emotionen (eigentlich: Emotionskonstrukten) erschließen und interpretieren. Einen der wichtigsten Bausteine für die kulturalistische Wende bildet der Sozialkonstruktivismus, also in seinem Grundkonzept die Idee, dass Phäno22

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Hilfreiche Erläuterungen bietet Gilcher-Holtey, Ingrid: Kulturelle und symbolische Praktiken: das Unternehmen Pierre Bourdieu, in: Hardtwig, Wolfgang (Hg.), Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996, S. 111-130. Vgl. Watzlawick, Paul: Wirklichkeitsanpassung oder angepasste »Wirklichkeit«? Konstruktivismus und Psychotherapie, in: Gumin, Heinz; Meier, Heinrich (Hg.): Einführung in den Konstruktivismus, München 2010, S. 89-107. Einen ersten Überblick verschafft Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg 2006. Vgl. Haas, Stefan: Theory Turn. Entstehungsbedingungen, Epistemologie und Logik der Cultural Turns in der Geschichtswissenschaft, in: Haas/Wischermann (Hg.), Die Wirklichkeit der Geschichte, S. 11-44, hier S. 11.

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mene, die wir gemeinhin als selbstständig und an sich existierend betrachten, letztlich und im Grunde vom Denken, von der Sprache und der sozialen Praxis des Menschen erschaffen und zusammengesetzt oder eben konstruiert werden. Es gibt also demnach keine objektive und von allem losgelöste Wirklichkeit, sondern stets nur eine vermittelte, konstruierte, also subjektive Wirklichkeit – mithin also eine Pluralität von Wahrheiten und Wirklichkeiten. Die Konsequenzen dieser erkenntnistheoretischen Parameter sind immens. Als Zwischenergebnis deuten sich vier Schwerpunkte an: Erstens die dezidierte Beachtung von Praktiken der Selbstreflektion, zweitens die Funktionsweise von Quelle als Spiegelbild zwischen den Welten, drittens eine umfassende Medienkompetenz und viertens die Umsetzung in Schule und Universität.

III.

Operationalisierung kulturell codierter Emotionen in der Lehre

Ich fasse kurz zusammen: Wir sind bei der Betrachtung kulturwissenschaftlicher Kontexte stets beides, AkteurIn und HistorikerIn, darüber hinaus sind wir mit der anderen, der betrachteten Welt spiegelbildlich über und mit der Quelle verbunden. Daraus resultiert die dezidiert erkenntnistheoretisch motivierte Offenlegung der eigenen Sozialisation, die Anerkennung der persönlichen Zeitgebundenheit, der spezifischen Milieuverhaftung sowie des frühkindlichen Erfahrungspotpourris. Auf diese Weise können Handlungsoptionen, innere Sichtweisen und Identitätskonzepte, aber auch spezifische Formen von Weltwahrnehmung sowohl für den Erkenntnisprozess als auch für die Lehre genutzt werden. Hier kommen Emotionen ins Spiel. Gefühle wie etwa Zorn, Angst, Begehren oder Abscheu sind physiologisch mittels Neurotransmitter oder Muskelaktivität nachweisbare, evolutionsbiologisch bedingte Prozesse (Aktivierung des Hormonausstoßes sowie Erhöhung von Muskeltonus und Blutdruck, was dann etwa zum Zittern, Erbleichen, Tränen- oder Schweißausbruch führen kann), die verhaltenssteuernd und situationsanpassend wirken und somit Homo sapiens in seiner spezifischen Umwelt ein Überleben gewährleisten. Gerade die biologische Evidenz der Spezies Mensch, deren evolutionärer (Erfolgs-)Weg eben nicht als Einzelgänger (z.B. als Maulwurf) oder im Schwarm (z.B. Ameisen und Bienen) erfolgte, sondern in kleineren und mittleren Personenverbänden, macht die Bedeutung schnell

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les- und vermittelbarer Informationsweitergaben innerhalb der Gruppe mittels Emotionen so zentral. Für das absolut notwendige Empfangen und Interpretieren dieser (Umwelt-)Informationen, also im Wortsinn das Mit-Fühlen, macht die seit zehn Jahren florierende Forschung bestimmte Nervenzellen, sogenannte Spiegelneuronen, verantwortlich, deren direkter Nachweis beim Menschen erstmals im Jahre 2010 gelang26 . Mag zu dieser Thematik unter den Naturwissenschaftlern auch noch viel zu forschen und zu diskutieren sein, so könnte sich doch für die Kulturwissenschaften hier ein wichtiger Missing Link schließen. Emotionen stellen somit also körperliche, unbedingte Reaktionen dar, deren physiologische Innen-Vorgänge sich uns letztlich entziehen. Dies gilt in erster Linie auch für mich selbst und natürlich noch viel mehr für mein Gegenüber. Umso mehr können wir aber die emotionalen Auslöser, die Trigger, beobachten, die ebenso kulturell eingebunden und sozial erlernt sind wie die Ausdrucksformen emotionaler Zustände. Diese doppelte kulturelle Codierung von Emotionen (genauer: Emotionskonstruktionen), aus denen sich mehrere, ineinander verschachtelte Ebenen ergeben, lässt sich insbesondere mit Hilfe des praxeologischen Ansatzes entschlüsseln. Es lassen sich vier Schwerpunkte bei einer Durchleuchtung von Emotionskonstruktionen erkennen: Der erste Schwerpunkt beinhaltet vor allem die zumeist verschriftlichten Deutungen und Beschreibungen von Emotionen. Hierzu zählen sowohl wissenschaftliche, aber auch gesellschaftliche, häufig medial vermittelte Debatten und Diskurse über emotionale Zustände, ebenso wie sprachgeschichtliche Ausprägungen von Begriffen, mit denen die Zeitgenossen Emotionen umschrieben haben, oder auch komplexe philosophische Abhandlungen zu dieser Thematik. In allen Fällen handelt es sich um Aufarbeitungen historischer Emotionsetikettierungen. Soziokulturelle Trigger von Emotionen bilden den zweiten Schwerpunkt, der sowohl die erlernten Emotionsdarstellungen in sozialen Räumen und in

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Vgl. Fuchs, Thomas: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologischökologische Konzeption, Stuttgart 2008, Iacoboni, Marco: Woher wir wissen, was andere denken und fühlen. Die neue Wissenschaft der Spiegelneuronen, München 2009 oder Keysers, Christian: Unser empathisches Gehirn. Warum wir verstehen, was andere fühlen, München 2013, Rizzolatti, Giacomo; Sinigaglia, Corrado: Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls, Frankfurt a.M. 2008.

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performativen Situationen als auch das ›Lesen‹ und Verstehen von Emotionsdarstellungen umfasst. So haben Kulturen und Milieus jeweils ganz eigene feste Kanons geschaffen, wo, wie, wann und welche Emotionen zu zeigen sind, etwa bei einer Beerdigung oder anlässlich eines Heiratsantrages. Es geht dabei eben nicht um »tatsächliche« Emotionen, sondern um für andere lesund verstehbare, in sozialen Orten und Kontexten als angemessen empfundene, kommunizierte und performativ verhandelte Emotionsdarstellungen. Um kommunizieren zu können, ist es unerlässlich, verbal, mimisch oder körpersprachlich Emotionsausdrücke einzusetzen, um von anderen überhaupt verstanden zu werden. Man könnte hier auch von emotionalen Standards sprechen27 . Der dritte Schwerpunkt beinhaltet sprachliche Trigger. Zum einen geht es dabei unmittelbar darum, sich über physiologische Emotionszustände auszudrücken und diese zu versprachlichen und damit in einen sehr persönlichen, aber auch gruppenspezifischen Deutungsrahmen zu setzen. Sehr schnell wird dann deutlich, dass eine Definition etwa von Emotionskonzepten wie Liebe oder Hass nicht ohne weiteres möglich ist und wie demzufolge kaum beherrschbar das Gießen emotionalen Empfindens in Worte (und Gesten) umzusetzen ist. Zum anderen wird die emotionale Wirkung von Sprache, aber auch von Bildern geschickt genutzt, um Menschen zu manipulieren, sie dazu zu bringen, ein bestimmtes Produkt zu kaufen oder etwa eine bestimmte Partei zu wählen. Dieser Effekt, diese unbewusst erlernte Verknüpfung von Kognition, Körperphysiologie und sozial antrainiertem Gefühlshaushalt ist Fluch und Segen zugleich, da die einmal erlernten Emotionstrigger immer wieder, eben auch unbewusst, für jederzeit abrufbare Emotionen eingesetzt werden können. Sowohl bei medizinischen Therapien als auch in der Werbeindustrie finden sich dafür ausreichend Beispiele. Einmal erlernte Emotionen sind kontinuierlich, auch gegen den eigenen Willen, abrufbar über Erfahrungs- bzw. Erinnerungsengramme aus Geräuschen, Musik, Gerüchen,

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Mit dem Begriff der »emotionology« prägten Peter N. Stearns und Carol Z. Stearns die Unterscheidung von emotionalem Erleben und emotionalen Standards. Vgl. dies., Emotionology, Clarifying the History of Emotions and Emotional Standards, in: American Historical Review 90 (1985), S. 813-836.

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Geschmäcker, Filmen, Gesten, erlebte Vorgänge, aber eben auch Bilder und Wortsemantiken28 . Von hier aus ist der Weg zum vierten Schwerpunkt nicht mehr weit. So gehört es zu den Standardtherapien in der Psychologie frühkindlich erlittene Triggerung erlernter dissoziativer Emotionserfahrungen bzw. Emotionskonstrukte beim Patienten aufzuarbeiten, die jeweils tiefer liegenden Ursachen aufzudecken und auf diese Weise Auswege aus unguten Zwängen und Störungen aufzuzeigen. Emotionen erhalten somit auf der Basis von Sozialkonstruktivismus und Cultural bzw. Emotional Turn für kulturwissenschaftliche Fragestellungen eine eminente Bedeutung, und zwar zweifach: Sie sind wichtige Indikatoren über vermittelte Gefühlszustände vergangener Kulturen. Da von der gleichen Physis der betrachteten Akteure, der gleichen evolutionsbiologischen Ausgangsbasis für emotionale Zustände auszugehen ist, können wir die jeweiligen Abweichungen, also die kulturell codierten Gefühlshaushalte der untersuchten Kulturen und Milieus weitaus präziser erkennen. Zudem dienen Emotionen mir als ForscherIn zum Ein- und Mitfühlen, versetzen mich überhaupt erst in den Stand, beschriebene Vorgänge zu verstehen und mit emotionalen Zuständen verschlüsselte Sachverhalte aufzudecken. Wie schon oben angesprochen haben Bildungswissenschaften und Fachdidaktiken die Komplexität von Emotionsphänomenen verkannt und weder die doppelte kulturelle Codierung in den Blick genommen noch die erkenntnistheoretischen Potenziale ausgelotet. Selbst der beachtliche und bereits viel weiter als andere Publikationen gehende Sammelband von Juliane Brauer und Martin Lücke über den Konnex von Emotionalität und historischem Lernen greift mir hier zu kurz. So versucht etwa Wolfgang Hasberg mit seinem Modell von Objekt- und Subjektdimensionen der Emotionalität eine Verständnis-Brücke zu bauen zwischen den Lernenden und den Akteuren vergangener Zeiten29 . 28

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Lakoff, George; Wehling, Elisabeth: Auf leisen Sohlen ins Gehirn. Politische Sprache und ihre heimliche Macht, Heidelberg 2014, Wehling, Elisabeth: Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht, Köln 2016. Hasberg, Wolfgang: Emotionalität historischen Lernens. Einblicke in und Ausblicke auf empirische Forschung, in: Brauer/Lücke (Hg.), Emotionen, S. 47-73. In ähnliche Richtungen argumentieren in diesem Band auch Martin Lücke (Fühlen, Wollen, Wissen. Geschichtskulturen als emotionale Gemeinschaften, S. 93-106), Juliane Brauer (Empathie und historische Alteritätserfahrungen, S. 75-92), Bärbel Völkel (Verstörende Imaginationen. Gedanken zum Zusammenhang von historischen Imaginationen

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In meiner Perspektive ergeben sich drei miteinander verflochtene Ebenen: Als Ebene 1 (und hier folge ich zumindest in Teilen durchaus Ansätzen der Bildungsforschung) bezeichne ich die Herbeiführung einer stets ausbalancierten, entspannten und offenen, aber auch erwartungsvollen Grundstimmung im Seminarraum oder Klassenzimmer als wesentliches Fundament. Dazu zählt die immer wieder ganz gezielte Aufbrechung und Störung gesellschaftlich vermittelter, kulturell anerzogener und häufig angstbeladener Erwartungshaltungen, die sich sowohl in der Lehrperson als auch ganz generell in den institutionell-administrativen Logiken von Schule und Universität bis hin in der konkreten Sitzordnung im Raum manifestieren können; auch auf diese Weise kann letztlich stets der Konstruktionscharakter von Lehrsituationen sichtbar gemacht werden. Voraussetzung dafür ist eine gewisse Authentizität und Selbstreflektion, der gezielte Einsatz eigener Stimmungslagen und die ehrliche Offenlegung, was die eigenen Sichtweisen und Leistungserwartungen angeht30 . Ein Ziel stellt dabei die Herstellung bzw. Sicherung einer gegenseitigen Wertschätzung sowohl zwischen Studierenden und Dozenten als auch zwischen den Studierenden dar, die sich in einem achtsamen Umgang und einer erlebten Form der Selbstwirksamkeit ausdrückt. Wichtig ist, dass es dabei eben nicht nur um die Erzeugung emotionaler Prozesse als solche geht, sondern vielmehr über und mittels dieser Emotionen ermöglichte Eröffnung und Ebnung erkenntnistheoretischer Wege. Ebene 2 setzt dann an dieser Stelle ein, indem das doppelt konstruierte Wechselwirkungsfeld von DozentIn, StudentIn und vorliegendem Diskussionsgegenstand (egal ob eine »Quelle« oder einen Forschungsaufsatz) erfasst und immer wieder diskutiert wird. Dabei werden die jeweils bestehenden sozial vermittelten und kulturell codierten Bewertungskontexte regelhaft zur Sprache gebracht, so dass sowohl DozentIn als auch Lernende mittels Selbstreflektion ihre jeweils eigenen eingeübten Wahrnehmungsmuster und Denkpositionen zu be- und hinterfragen haben, ebenso wie auf diese Weise auch die Quelle zu dekonstruieren ist31 . An dieser Stelle wird dann eben auch deut-

30 31

und Emotionen, S. 139-163) oder Carlos Kölbl (Emotionspsychologie und Geschichtsbewusstseinsforschung, eine fruchtbare Kontaktperspektive? Begriffe, Relationierungen, Unterricht, S. 109-124). Mit anderen Worten: die eigene Historisierung vornehmen. Verwiesen sei hier auf das wichtige Bonmot von Clemens Wischermann: »Sich selbst beim Denken zuzusehen gehört leider noch nicht zu den vermittelten Kernkompetenzen eines Geschichtsstudiums.« Wischermann, Clemens: Die historische »Wirk-

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lich, wie eminent wichtig die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ist. Denn nur in einer offenen Seminardiskussionskultur, in der dezidiert auch abweichende Meinungen und alternative Interpretationswege eben nicht im Sinne eines eindimensional begriffenen Wahrheitsverständnisses und durch Ausnutzung der autoritär hinterlegten Position des Dozenten schnöde abgewiesen werden, lassen sich die grundlegenden erkenntnistheoretischen Parameter in ihrem Kern offenbaren. Wird auf der ersten Ebene für eine entspannte emotionale Stimmungslage gesorgt und auf der zweiten Ebene Emotionen im Sinne ihres kulturell konstruierten Charakters thematisiert, so fließen diese in der dritten Ebene zusammen. Hier geht es darum, den Spagat zwischen »tatsächlichen« und konstruierten emotionalen Zuständen zu vollziehen. Auf diese Weise kann es dann gelingen, über damit verbundene Differenzerfahrungen ganz praktisch die Wirksamkeit zentraler Erkenntnistheorien zu erfassen. Somit gerät meine eigene Lebenswelt zu einem Labor, in dem kognitive Prozesse eingeleitet und Verstehensvorgänge für die eigene, aber eben auch zugleich für die andere, vermeintlich fremde Lebenswelt von Anderen initialisiert werden. Ich setze also als Dozent im eben skizzierten Wirkdreieck die jeweilige lebensweltliche Relationalität miteinander in Beziehung, indem ich zum Beispiel in meinem Seminar über Tier-Mensch-Beziehungen in der Frühen Neuzeit zunächst in aufgelockerter Atmosphäre Erlebnisse der Studierenden mit ihrem geliebten Haustier sammele, um dann deren Erfahrungen mit einem passenden Quellentext zu kontrastieren. Dabei wird dann nicht nur der doppelte Konstruktionscharakter von Emotionen (in diesem Fall zu Tieren) aufgezeigt, sondern zugleich ein Verständnis dafür entwickelt, dass meine Gefühle ein zentrales Instrument der Welterklärung darstellen; ein Instrument freilich, dessen sinnvoller Einsatz aber von der Dekonstruktion der jeweiligen Triggerung abhängt. Um zum Schluss auf mein Einstiegsmoment des Matrix-Beispiels zurückzukommen: in meiner thematisch durchaus herausfordernden Vorlesung über Theorie und Methoden der Geschichtswissenschaft thematisiere ich ausführlich das Konzept des Sozialkonstruktivismus. Um ein besseres Verständnis dafür zu erzielen, nutze ich popkulturelle Verweise, solche also,

lichkeit« zwischen Schicksalhaftigkeit und Eigensinn, in: Haas, Stefan; Wischermann, Clemens (Hg.): Die Wirklichkeit der Geschichte. Wissenschaftstheoretische, mediale und lebensweltliche Aspekte eines (post-)konstruktivistischen Wirklichkeitsbegriffes in den Kulturwissenschaften, Stuttgart 2015, S. 101-112, hier S. 112.

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die emotionalisierter Bestandteil der studentischen Lebenswelt sind, um auf diese Weise zu signalisieren: das was so abgehoben und wissenschaftlich klingt, war immer schon Bestandteil des eigenen Daseins. Freilich, und jetzt kommen wir zu meinem »Schock«, besteht die Herausforderung mit zunehmendem zeitlichen Abstand zwischen mir und den Studierenden darin, jeweils noch die popkulturelle Referenz der entsprechenden Alterskohorte zu erreichen. Insbesondere unter soziologischen Vorzeichen wird hier bekanntlich mit Modellen gearbeitet, die etwa zehn bis maximal 15 Geburtsjahre umfassen32 . Die VertreterInnen einzelner Kohorten seien dann hinsichtlich ähnlicher Erfahrungen in Kindheit und Jugend (Produkte, Medien, technische Entwicklungen, Ereignisse usw.) im Hinblick auf Alltagswelt und Lebenseinstellungen vergleichbar. Von einem kräftigen Augenzwinkern begleitet entstamme ich demnach der Kohorte der Babyboomer (55-65 Jahre), gefolgt von der Generation X (»Generation Golf« oder »Generation Nutella«), die wiederum von der Generation Y (den »Millenials« oder »IMM: Irgendwas mit Medien«) abgelöst wird und diese dann von der jüngsten Generation Z (»Schneeflocken«, »Zoomer«), die jetzt in den Lebenszwanzigern sind. Mir wurde also nicht nur unmissverständlich vor Augen geführt, wieder ein wenig älter geworden zu sein, sondern mir auch die Herausforderung bewusst, demnächst neue popkulturelle Anleihen finden zu müssen.

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Vgl. hier etwa Renn, Heinz: Lebenslauf-Lebenszeit-Kohortenanalyse, in: Voges, Wolfgang (Hg.): Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung, Opladen 1987, S. 261298; Diekmann, Andreas: Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen, Reinbek bei Hamburg 1995. Hinzu kommen unzählige Popularisierungen des Themas, vgl. dazu nur Illies, Florian: Generation Golf. Eine Inspektion. 13. Aufl., Frankfurt a.M. 2011, Tögel, Andreas: Schluss mit lustig. Wie die Babyboomer die Zukunft der Jugend ruinieren, Wien 2018, von Becker, Bernhard: Babyboomer. Die Generation der Vielen, Berlin 2014, Rupps, Martin: Wir Babyboomer. Die wahre Geschichte, Freiburg i.Br. 2008, Giammarco, Francesco: Millennials und die Generation Z: Stress mit den Kleinen, in: Zeit-Online vom 9. Oktober 2020 (https://www.zeit.de/2 020/42/millennials-generation-z-generationskonflikt-fridays-for-future; letzter Zugriff am 11.10.2020) oder Bode, Sabine: Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. 10. Aufl., Stuttgart 2013. Großes Interesse bringen diesem Phänomen naturgemäß auch MarktforscherInnen und Werbefirmen entgegen. Vgl. dazu Pompe, Hans-Georg (Hg.): Boom-Branchen 50plus. Wie Unternehmen den Best-Ager-Markt für sich nutzen können, Wiesbaden 2012.

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IV.

Resümee

Emotionen sind zentraler Bestandteil menschlicher Existenz und keinesfalls im Gegensatz zur Vernunft zu verstehen. Dabei ist strikt zu trennen zwischen den evolutionär-biologisch bedingten emotionalen »tatsächlichen« Vorgängen im Körper, die sich letztlich einer näheren Betrachtung entziehen, sowie den kulturell codierten und sozial erlernten Emotionszuständen. Diesen emotionalen Standards kommt dabei eine kommunikative und soziale Basisfunktion zu, indem sie in zwei Richtungen wirken: einerseits werden Emotionen immer wieder neu interpretiert und diskursiv definiert, andererseits situativ abgerufen und dargestellt, je nach sozialem Raum und sozialer Praktik. Diese doppelte kulturelle Codierung oder Konstruktion lässt sich vor allem mit Hilfe des praxeologischen Ansatzes entziffern. Diese Zusammenhänge wurden von vielen Disziplinen erst relativ spät diskutiert; erst vor etwa 15-20 Jahren setzte unter den Vorzeichen von Postmoderne und Sozialkonstruktivismus ein Cultural Turn, zu dem eben auch ein Emotional Turn zählt, ein. Diese neuen thematischen Zugänge wurden nicht nur von den Kulturwissenschaften beschritten, sondern auch von den Bildungswissenschaften und – weniger ausgeprägt – den jeweiligen Fachdidaktiken. Allerdings wurde bisher der doppelte Konstruktionscharakter von Emotionen nicht wirklich erkannt und stattdessen das Augenmerk viel stärker auf vermeintliche »tatsächliche« Emotionen gelegt. Eine Konsequenz besteht nun darin, emotionale Zustände als Mittel zur Erkenntnisgenerierung eben nicht zu nutzen und stattdessen Emotionen lediglich als Stilmittel einzusetzen. Dieses Stilmittel gelte es zu optimieren, indem unerwünschte Emotionen verdrängt und vielmehr als positiv geltende Emotionen hervorgebracht werden sollen, und fungiert somit letztlich, da dies nicht offen und mittels dezidierter Thematisierung mit den Studierenden geschieht, als manipulatorisches Werkzeug für das Unterrichtsgeschehen. Dahinter steht das grundsätzliche bildungspolitisch, aber letztlich auch gesellschaftspolitisch induzierte Manko in Schule und Universität, trotz ritualhaft vorgebrachter gegenteiliger Bekundungen, die Person des/der Lehrenden stets als abgehoben, als losgelöste Autorität zu begreifen. Dazu passt das eindimensional gedachte Richtig-Falsch-Verständnis im Unterrichtsgeschehen, so dass vorgebrachte alternative Ideen von Schülern oder Studierenden eben nicht weiter diskutiert werden. Vor allem aber die Selbstbeschweigung, die mangelnde Selbstthematisierung von DozentInnen verhindert in meiner Sicht den nachhaltigen Einsatz emotionaler Zustände.

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Von Scheve, Christian: Emotionen und soziale Strukturen. Die affektiven Grundlagen sozialer Ordnung, Frankfurt a.M. 2009. Völkel, Bärbel: Verstörende Imaginationen. Gedanken zum Zusammenhang von historischen Imaginationen und Emotionen, in: Brauer, Juliane; Lücke, Martin (Hg.): Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, Göttingen 2013, S. 139-163. Watzlawick, Paul: Wirklichkeitsanpassung oder angepasste »Wirklichkeit«? Konstruktivismus und Psychotherapie, in: Gumin, Heinz; Meier, Heinrich (Hg.): Einführung in den Konstruktivismus, München 2010, S. 89-107. Wehling, Elisabeth: Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht, Köln 2016. Wischermann, Clemens: Die historische »Wirklichkeit« zwischen Schicksalhaftigkeit und Eigensinn, in: Haas, Stefan; Wischermann, Clemens (Hg.): Die Wirklichkeit der Geschichte. Wissenschaftstheoretische, mediale und lebensweltliche Aspekte eines (post-)konstruktivistischen Wirklichkeitsbegriffes in den Kulturwissenschaften, Stuttgart 2015, S. 101-112.

Learning by Experience1 Emotions as border guards and signposts regarding unknown territory Roland Schuster

Introduction The focus of the paper is on facilitated learning by experience. It is thought that to common reflect on current action leads to learning by experience (Krainz, 2006: 13). This assumption is based on the perspective of intervention science (Schuster, 2016: 56–68). The lecturer’s challenge then is to enable and facilitate the process of action, and reflection. They, along with the syllabus, are an integral part of the learning/teaching endeavor. The intervention science perspective holds that, besides teaching styles and content, the organizational context (i.e., the educational institution) can also provide insight into how learners and teachers are affected by the organization. In doing so, learners and teachers can (1) improve their coping strategies within organizational environments and (2) practice to consciously act within the boundaries of their organizational role (Hirschhorn, 1985; Krainz, 2011). Gagnon and Collinson (2014: 664) also emphasize the importance of recognizing “broader organizational and discursive conditions, effects and implications” with regard to leadership and its development. One goal of this paper is to show how learning can take place by mutual reflection of experiences lived through in the here and now situation of a teaching process. Additionally to the reflection of the here and now, lecturers offer 1

This is the enhanced version of the conference paper: FACILITATED LEARNING BY EXPERIENCE: EXPLORING THE BOUNDARIES OF UNKNOWN TERRITORY, presented at the Poetics of Leadership Conference, Institute for Leadership and Sustainability (IFLAS), University of Cumbria, and Crossfields Institute, Ambleside, UK, September 7th-8th 2018.

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students explanations, theories and/or concepts on a given subject, and invite students to share their viewpoints, experience, and knowledge. Another goal is to provide students opportunities to engage in reflection on their individual experiences of the past there and then combined with the reflection of the actual experience of the teaching process here and now. The expression there and then signifies that a student presents a story within the classroom, he or she lived through somewhere else.

FIGURE 1 Context of the Course Chosen as Example

Figure 1 depicts the context of a specific course. The innermost sphere, specific course, represents the shared here and now, while the spheres radiating outward—specific study program, specific university, university system, and society—represent the abstract there and then. The term here and now signifies that attention is based on ongoing communication and that everybody present is able to observe and contribute in relation to the ongoing communication. Stories, examples, and theories mentioned within this ongoing communication signify the there and then. The challenge and the reward of reflecting on the here and now lies in the emotional involvement and the possibility for students and lecturers to address this involvement directly. It is this individual emotional involvement that transfers abstract theory into practice.

Learning by Experience

INTERVENTION SCIENCE PERSPECTIVE Intervention science perspective acknowledges the advantage of definitions, explanations, models, and language as possible channels for exchanging experience; it also accepts that experience can be described but not defined because experience is continuous during a human being’s lifespan (Lerchster & Heintel, 2019: 28–29). Spengler expresses experience as follows: “Certain ineffable stirrings of a soul can be imparted by one man to the sensibility of another man through a look, two bars of a melody, an almost imperceptible movement. That is the real language of souls, and it remains incomprehensible to the outsider. The word as utterance, as poetic element, may establish the link, but the word as notion, as element of scientific prose, never. […] To attempt to get an “exact” science out of the ever-mysterious soul is futile. […] A soul image is never anything but the image of one quite definite soul. No observer can ever step outside the conditions and the limitations of his time and circle, and whatever it may be that he “knows” or “cognizes,” the very cognition itself involves in all cases choice, direction and inner form and is therefore ab initio an expression of his proper soul.” (Spengler, 1918: 300–303) Intervention science perspective is rooted in the idea that not only individuals but also social systems need to be self-aware in order to improve their decision-making skills. Intervention research, the application of intervention science in the field, is used to develop decision-making ability (Heintel: 147). Heintel (2005: 146) argues that intervention research is about self-enlightenment and that collectives—institutions, organizations— must learn to become aware of their particularity if they want to improve their decision-making abilities. Intervention research aims to integrate concepts from other disciplines as well as the experience of concerned practitioners and laypersons. For this reason, in the context of teaching, intervention researchers must integrate learners as co-teachers into their teaching to enable the transfer of theory into students’ practice. Education can be described as follows: subjection, the practice of existing norms, and accompanied reflection (Schuster, 2016: 58). An example of an act of subjection by a person is when he or she signs a contract that establishes the basic framework for cooperation with the education institution. The act of practicing existing norms may be measured by taking a test successfully

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which makes it possible to take the next steps towards clearly defined goals. Students must align their actions based on existing norms to succeed. Assimilated students are the outcome (Schuster, 2016: 59–61) of such an alignment. It is important to note that reflecting on cases there and then is not an escape from normative education because organizational pre-conditions on the roles of lecturers, students, and institutions persist in the unconscious. However, an accompanied reflection of the here and now by students and lecturers on their own situations, roles, and tasks may present a path to reflection that allows for learning by experience (Schuster, 2016: 62-64). For example, in the course Leadership & Motivation, students (in the same class) form groups, choose their roles as leaders or followers, and perform tasks provided by the lecturers. The course begins with students recollecting their experiences of cases they lived through there and then. In fulfilling the task, the mutual experience of the teaching process here and now takes place (Schuster & Lobnig, 2017: 7). All of this takes place within the context of an educational institution. The process where students reflect on their experiences of there and then introduces different perspectives, changes the view of the case, and re-calibrates the emotional and rational attachment. This procedure provides certain learning opportunities but with the drawback that only one person is directly connected to the case. Contrarily, the experience of the teaching process itself is shared by students as well as lecturers. It is the experience of the here and now of mutual interaction, where everyone is emotionally as well as rationally involved. In this situation everybody is an eyewitness and a doer and what happens is teaching praxis. In addition, the organizational context of the institution of education also plays a role in that lecturers cannot avoid their authority qua office, and students cannot avoid their twofold roles as subordinates and customers (Schöch, 2005). To integrate the complexity of the transfer theory of leadership into practice, it is necessary for lecturers to address students’ institutional roles, students’ representatives, and their own role. Lecturers do this in the plenary when they talk about the assessment criteria (Schuster & Lobnig, 2017: 5), and course rules. Lecturers also inform students that questions, requests, and complaints are to be brought to the plenary and will not be dealt with in private via email or during office hours (see sequence 1). The classroom setting includes two modes—the plenary students and lecturers sit in a large circle, and groups of seven to eight students working on their own.

Learning by Experience

This teaching design challenges one of the tools of hierarchy, namely, divide and rule2 . Experience showed that Study Program Director Y solved a hierarchical contradiction by bargaining with a student individually (see Sequence 1c below). This is a detour that works when just few students claim special treatment and when communication amongst students is weak or non-existent. This detour is unfair, but it can make everyday administration easier. The paradox is that organizations cannot be run strictly by rules. In fact, a strict adherence to the rulebook is often a threat unions can use to influence companies. The teaching design utilizes actual appearing situations, like the one with Study Program Director Y, to process those with students in the here and now. When bringing an individual student’s issues to the plenary, painful and unavoidable contradictions become visible. When organizational issues of an educational institution are addressed, lecturer’s authority qua office, its reach and its limits, and students’ twofold status as subordinates and customers become visible. It is important for lecturers to be able to differentiate the respective authority of their roles—individual, professional, and institutional—to address students’ issues consistently. It is also important that lecturers inform students of the role and authority guiding a decision to counteract an unconscious standardization of students’ minds (Schuster & Radel, 2018: 285–286). Figure 2 shows the differentiation of lecturers’ authority, namely internal (individual), professional, and institutional.

FIGURE 2 Detailed View on the Authority of the Lecturer(s). Adapted from ‘A Reflection on the (Harvard) Case Method from a Group Dynamics Perspective’ by Schuster & Radel (2018: 286)

To raise awareness with regard to teaching is a sensitive matter because it concerns aspects of power and domination. Fear and anxiety are also relevant 2

The famous Latin expression is divide et impera.

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here. The fear of confronting emotions, and the anxiety of relinquishing one’s power as a lecturer by relativizing emotions (including fear), and losing one’s authority over students (Schuster, 2018: 70). Besides, research has shown that lecturers need to inform study program directors and coordinators that recurring complaints from students regarding the lecturer might be a vital part of the didactics. Without the support of superiors, this participatory format is hard to achieve and maintain (Schuster & Radel, 2018: 309). To include a given situation and consciously detect, reflect, and work through necessary contradictions is the core of didactics inspired by intervention science. According to Krainer and Heintel, necessary contradictions are those “[…] that are always given and always have to be solved […]. They produce conflicts in our everyday life, our organizations, and our global society” (Krainer & Heintel, 2015: 254–256).

The Connection of Experience, Consciousness, FEELINGS, Emotions, and Thinking The connection between experience, consciousness, feelings, emotions, and thinking will provide an orientation to this study. Based on Nina Bull’s attitude theory of emotion (1968: 23), I will differentiate two contradictory poles of human data processing—Feeling-Thinking-Behavior (FTB)-process and FTBprogram. To clarify, the term experience in the context of this paper is used in the narrow sense. Specifically: (1) There is no other moment for experience than the now. In addition, the past can be remembered, and the future can be imagined. (2) There is no way to repeat experience in this narrow sense. (3) The entire body experiences. Consciousness is the outcome of a very complex metabolic process based on that experience. (4) Becoming conscious includes a very complex metabolic process and takes approximately half a second (Nørretranders & Sydenham, 1998: 213–250). (5) Taking conscious experience into account is a contradiction. It is not possible to experience the now without a metabolic process, that requires time for the unconscious processing of a vast amount of data. (6) To become conscious of experience involves a reduction of a massive amount of data; thus, consciousness is strongly selective (Norretranders, 1998; Zimmermann, 1985: 82–139)

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(7) The last step in human data processing of experience is thinking (e.g., reasoning, conceptualizing), which may lead to consciousness. According to Norretranders, it is a biological fact that thinking related to experience can only be in the past. (Norretranders, 1998: 213-250).

Human creation of consciousness is connected to experience. Damasio (1999: 314-315), emphasizes the function of feeling with regard to consciousness and argues that: “Feeling is, in effect, the barrier, because the realization of human consciousness may require the existence of feelings. The ‘looks’ of emotion can be stimulated, but what feelings feel like cannot be duplicated in silicon. Feelings cannot be duplicated unless flesh is duplicated, unless the brain’s actions on flesh are duplicated, unless the brain’s sensing of flesh after it has been acted upon by the brain is duplicated.” Damasio argues for the important role of the body (the flesh) of an individual, with regard to consciousness. That being the case, experience will vary in different bodies (individuals). This leads to the assumption that it is useful to be aware of human data processing so as to be able to find and transcend non-conscious individual and/or collective prejudices. Levine (2010: 338), a trauma specialist, points out the accuracy of a concept developed by Bull (1968) and states: “[…] what Nina Bull has deeply grasped, is the reciprocal relationship between the expression of emotion and the sensate feeling of emotion. When we are mindlessly expressing emotion that is precisely what we are, in fact, doing. Emotional reactivity almost always precludes conscious awareness. On the other hand, restraint and containment of the expressive impulse allows us to become aware of our underlying postural attitude. Therefore, it is the restraint that brings a feeling into conscious awareness.” This fits Damasio’s (1999: 150) view, that the brain is the “body’s captive audience” and that: “[…] under no normal condition is the brain ever excused from receiving continuous reports on the internal milieu and visceral states, and under most conditions, even when no active movement is being performed, the brain is also being informed of the state of its musculoskeletal apparatus.”

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Heinz von Foerster (2003: 221) on the interaction of experience and human data processing states that: “[…] the synaptic gap can be seen as the microenvironment of a sensitive tip, the spine, and with this interpretation in mind we may compare the sensitivity of the central nervous system (CNS) to changes of the internal environment (the sum total of all microenvironments) to those of the external environment (all sensory receptors). Since there are only 100 million sensory receptors, and about 10,000 billion synapses in our nervous system, we are 100 thousand times more receptive to changes in our internal than in our external environment.” The above quote shows that emotions are an integral part of the human body’s production of consciousness and have an impact on thinking. The thinking process, as described by Schuster (2018:65-69), is presented as follows: a) Due to a given stimulus, unconscious bodily processes cause a postural attitude which ultimately leads to a purely instinctive action. b) As evolution progresses, the body begins to process changes in postural attitudes as well as by the acceleration of the heartbeat and the original stimulus, by means of feelings. This perception through feelings leads to the experience of emotion in the sense of being-moved. Being-moved means that the decision in relation to the action is already anticipated. c) Subsequently, social as well as individual factors, and the changes in the quality of the stimuli, lead to a complex set of attitudes, body reactions, and feelings. These feelings and the emotions they generate lead to the development of further processing by means of thinking, which ultimately leads to conscious action.

Figure 3 shows, highly compressed and simplified, the evolutionary development of thinking. The argument in C represents the current state and is based on Ciompi’s (1997: 262 et seq.) concept of affect logic. While the process of feeling, thinking and behaving designates the rather general form of human perception, the program of feeling, thinking and behaving is seen as an adaptation to a certain task, a specialization. These are circular relationships for the individual and between the individual and the collective level, with both levels influencing each other. In a practical, didactic application, experiences on the individual level and the group level are depicted in Figure 4.

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FIGURE 3 Evolutionary Development of Thinking. Adapted from ‘The Attitude Theory of Emotion’ by Bull (1968: 23) and from ‘Lehren, Lernen und Emotion’ by Schuster (2018: 65-69)

FIGURE 4 Circular Coherences of Feeling, Thinking and Behavior. Adapted from ‘Lehren, Lernen und Emotion’ by Schuster (2018: 67)

When learning any (vocational) specialization, this general process of feeling, thinking, and behavior (FTB-process) becomes the desired program of feeling, thinking, and behavior (FTB-program). In this sense, culture can also be viewed as a FTB-program. In the FTB-program, the connections between feeling→thinking and feeling→behavior become emotionally implicit and sink into the unconscious—as

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in no longer noticing a daily tram that passes in front of our window on a regular basis. This sub-consciousness indicates an essential contradiction—that learning can lead to certain automated sequences to reach a goal economically but can also be a restriction for new possibilities (Ciompi, 1997: 275). Figure 5 outlines this distinction of human data processing, namely, FTB-process and FTB-program. The FTB-process seeks a destination. The determination of the goal is the goal. The FTB-program works towards a presumed goal.

FIGURE 5 Process Resp. Program of Feeling, Thinking and Behavior. Adapted from ‘Lehren, Lernen und Emotion’ by Schuster (2018: 68)

The emotionally painful process of learning (Salzberger-Wittenberg, 1999: 54-59) has to be reflected, to teach learners to use the FTB-process creatively. If people are stuck within the FTB-program, the feelings and associated emotions degenerate into destructive doorkeepers of the norm. In contrast, not finding a decision regarding a common goal might be a sign of being stuck in the FTB-process. The assumption is that leadership skills must include the ability to discriminate between the FTB-program and the FTB-process and, based on the situation, switch into either mode. This can only be accomplished by complementing normative teaching with explorative elements. Therefore, lecturers must set aside normative certainty and be open to uncertainty as an outcome

Learning by Experience

of the explorative process—at both the course and the educational institution levels.

Exploring the Boundary of Unknown Territory To illustrate how to complement normative teaching with explorative elements, the praxis of experience-centered leadership education is described below (Schuster & Radel, 2018: 305-309). In total, three sequences (seq. 1-3) are presented. Each sequence contains a table including lecturers’ intervention and the assumption for the intervention. Selected examples describe the effects of interventions within teaching praxis. How the sequences connect to the range of action of lecturers is presented later.

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Sequence 1   Lecturers’ intervention (seq. 1)

Assumptions for the intervention (seq. 1)

At the first meeting the lecturers describe the assessment criteria to the students (cf. Schuster & Lobnig, 2017: 5) and state that questions, requests, and complaints should be presented at the plenary and not in private via email or during office hours. If students have already sent emails with questions, the lecturers will answer those questions at the plenary. Students are told that common requests must be communicated via students’ representative(s).

The intention is to confront students with the situation in the educational institution, define the boundaries of the course, and the extent and limits of lecturers’ institutional authority (Figure 6). In requiring that individual student’s questions be brought to the plenary, the following can happen:

a)The questions disappear because individual students do not want to share their questions with the plenary. b)The questions are asked and show inherent conflicts between individual wants and institutional restraints. c)Students turn to the next level of hierarchy (i.e., the Study Program Director), or complain about the lecturers’ approach.

Regarding 1b: Approximately one month before the first lecture, a student wrote an email to the lecturer, introducing himself as a student representative and asking for information on course details. The email-text ended with the line “I would then gladly share the information with my peers as the class representative” and was signed with the student’s name and designation as class representative. I answered that course details would be discussed at the first meeting and invited students to read the required papers online, ahead of the class. Immediately after sending the email, I uploaded the relevant papers for the course. At the first meeting of the class, a question regarding reading material was asked. The lecturer mentioned the email and it turned out that the students’ representative had not informed his/her fellow students about the lecturer’s instructions. Neither did the fellow students know that this ‘official’ email had been sent to the lecturer. This demonstrates that the student contacted

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the lecturer to meet an individual need by using his official role as class representative. This was a very interesting learning for everybody in the plenary. It was also the beginning of a conflict that involved the lecturer, the students’ representative, a second lecturer, and Study Program Director X. Regarding 1c: One semester a student disappeared after the first class meeting. Investigation showed that Study Program Director Y had granted this student a recognition of acquired credits retrospectively. This was done despite an oral agreement between Study Program Director Y and the lecturer that the lecturer would decide whether to recognize acquired credits or not. Study Program Director Y did not mention his action to the lecturer. The assumption is that after attending the first class of the course, the student convinced Study Program Director Y to grant him/her recognition of acquired credits. Examples 1b and 1c above show that lecturers need to be aware of and prepared for hierarchical power plays.

FIGURE 6 Differentiation of Authority within Student and Lecturer Roles Respectively

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Sequence 2

 

Lecturers’ intervention (seq. 2)

Assumption for the intervention (seq. 2)

At the first meeting students are told that they earn points for grades by attending the course. Lecturers emphasize that there is no other condition than being in the classroom.

The paradox of a requirement, free of conditions, is used to (d) confront students with institutional authority, (e) prevent as if behavior and (f) establish an environment that is, to a certain degree, free of institutional and professional authority thereby providing leeway for students. The requirement of attendance, without a task provided, is based on pure institutional authority. Experience shows that this requirement is a challenge for students who prefer to work towards predefined goals; but is appreciated by students who enjoy the leeway.

Regarding 2d: The lecturer once spotted a student typing on her cell phone. He asked her what she was doing. It turned out that she was looking for a certain literature reference the lecturer had mentioned a few seconds earlier. As students sometimes switch into passive-aggressive mode by chatting and reading and not paying attention in the plenary, the lecturer assumed that this is what the student was doing. As a lecturer it is important to not make assumptions, to contain any emotions stirred up by students’ behavior, and to explore the behavior calmly by asking the student why he or she is talking and not paying attention. Regarding 2d: A group of students continued to talk amongst themselves and ignore the lecture. When questioned by the lecturer whether the group wanted to share something with the plenary, the students just laughed and answered with a “No”. This student behavior continued until the lecturer told the students, in an angry voice, how annoying their chatting and how phony their friendliness appeared to him. Experience shows that sometimes an authentic expression of a felt insult is necessary to re-establish healthy boundaries. This is especially true in situations where lecturers’ individual authority (Figure 6) is all that is left to him or her in a professional setting.

Learning by Experience

Sequence 3   Lecturers’ intervention (seq. 3)

Assumption for the intervention (seq. 3)

During the first meeting, students are told to form groups with a maximum of eight people and to choose a leader. The rules for the group formation are to maximize the diversity of the group and to minimize the inclusion of acquaintances as members.

This intervention shifted the focus away from the institutional to the professional authority of the lecturer(s). Students’ questions regarding the intervention are answered according to intervention science theory. (g) This is necessary to counterbalance the rather disturbing and confrontational first step described above (sequence 2). (h) This condition maximizes diversity and leads to a mutual communication process because students need to explore their diversity to get to know each other. (i) The condition for minimizing inclusion of acquaintances splits routine relationships and lowers the potential for defensive behavior with regard to learning. (j) The task to choose a leader requires a group decision and is used to explore the groups’ ability to cope with the requirement.

Regarding 3g: The first lecturer started by outlining strict rules regarding attendance and challenged the students with his institutional authority. This led to a situation where students refused to fulfill a task provided by this lecturer. The second lecturer intervened and was able to communicate his perception of the sequence to the plenary, present an objective view of lecturers’ institutional authority, and cool down the emotional heat. In doing so, the second lecturer re-directed the relationship between the first lecturer and the students in a fruitful way. This situation shows that it is necessary to have a team of two lecturers for approximately 40 students in the plenary. Lecturers need mutual feedback to maintain equilibrium in the plenary and for

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their own mental health. In addition, the presence of two lecturers facilitates students’ recognition and acceptance of authority. Regarding 3h: During their exploration of diversity within a lecture, students realized that two students in the class did not speak German at all. The official language for the master’s program was English and all the attending students, except the two, spoke German as a first or second language. This is an interesting finding because it reveals the superficial level of communication among students—that it took a diversity exercise for students, who had spent three to four days a week in the same classroom for over two semesters, to learn who among them did not speak German. Regarding 3i: When the students groups are formed, lecturers interview the members and ask questions about diversity and how well students know each other. A lecturer recalled a group consisting of students who had worked together in the previous semester and who revealed that they had ignored the requirement to work with students with whom they had no previous acquaintance. This shows the nature of resistance within social processes but also that this resistance can be addressed by communication as demonstrated by the finding in 3h. Again, it was the process within the plenary that made this revelation possible. Regarding 3j: Once each group has selected its group leader they work on their tasks as a group. Since this is an explorative process, the requirement is to choose a leader. However, no advice on how students should fulfil the requirement is provided. After the completion of each group’s tasks, the decision process regarding the choice of the group leader is reflected within the plenary. Below is a collection of flipchart notes of different groups showing how and/or why the group leader was chosen for courses offered in 2017 and 2018.

Learning by Experience

  Group 1 of 6 (2017) flipchart notes

Group 2 of 6 (2017) flipchart notes





• • •



Leader was nominated by one person based on previous leadership. No other nomination or volunteers were in the running. Acceptance was quick. Challenges or issues: low student involvement, whispering in smaller groups, conflict avoidance. Outcome: One female leader.

• •

The chosen leader is already a well-established leader and no one else wanted to do it. Issues: situation was clear and the decision quick. Outcome: One male leader.

Group 3 of 6 (2017) flipchart notes

Group 4 of 6 (2017) flipchart notes





• • • •

Trust in her experience as a student representative in the past. Proposed and accepted by all group members. Leader issues: leader absence, lack of orientation and motivation. Outcome: One female leader (former student representative). Comment: The lack of orientation and motivation was probably because of the absence of the leader when the reflection took place and when the flipchart comments were captured.

• •

Nobody else wanted to be the leader→she wanted to do it. Outcome: One female leader, rotating leaders. Comment: The rotation of leaders turned out to be stressful because it was difficult to keep the other groups and the team of lecturers informed regarding who was the actual leader at a given moment.

Group 5 of 6 (2017) flipchart notes

Group 6 of 6 (2017) flipchart notes

• •



• •

• • •

Representing group’s interests. Communicative, experienced (international). Former group work. Assertiveness, responsible allocation of tasks, emotional intelligence, temper & passion, fostering fairness/equality. Beautiful & charismatic. Outcome: One female leader Comment: This group gave no indication of the process of choosing the leader.

• • • •

Asked if anybody would like to be the leader and no one responded. Wrote all the members down. Selected a member from another group to pick a name blindfolded. Z was selected as our leader! Outcome: One female leader.

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  Group 1 of 5 (2018) flip-chart-notes

Group 2 of 5 (2018) flip-chart-notes







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Student representative→authority, instant collective decision—“We all know who it is going to be”→everyone had the same assumption. Issues: + mutual agreement / + quick decision / + positive feelings about the decision / - no criteria used / - no real discussion (quick assumption). Open discussion (no anonymity). Outcome: One male leader who was also the student representative.





Immediate nomination of two people→discussion & avoidance→letting the coin decide. Issues: Group pressure, decision from group members, not from leaders, we let the coin decide (2 choices). Outcome: One leader and one deputy leader (both female).

Group 3 of 5 (2018) flipchart notes

Group 4 of 5 (2018) flipchart notes









Suggestion→voted→accepted / fast decision making. Issues: + fair decision / + group agreement mutually, decision was too quick, more of a gut feeling. Outcome: One female leader.

• •

• Group 5 of 5 (2018) flipchart notes •





Self-exclusion of those not interested→two members wanted to try the leader role→discussion of who should be the leader→suggestion to have a team of leaders was accepted. Issues: + gender mix / + increased objectivity, flexibility creativity / + shared responsibility. Outcome: One female and one male leader.

Group offered a member the position of the leader→member rejected the offer→ group tossed pieces of paper with names on it in a hat→random selection (by chance it was the member that was asked at the beginning). Issues: It is not the most professional way of electing a leader. The leader might not be happy with the choice→not the most effective way / + democratic & anonymous / + less time consuming Outcome: One female leader.

Learning by Experience

These findings facilitated discussions within the plenary on choosing group leaders and gave lecturers empirical data to support theories on group and organizational dynamics. Furthermore, this was the first step in a process that developed over time and allowed the groups to experience the impact of their choices and to reflect on later events and their possible connection to their initial choice of leader. Regarding 3j: Group 3 of 6 expressed its lack of orientation and motivation which may have been connected to the absence of their chosen leader during the reflection period. The lecturers utilized the experience and the emotional reaction of the followers to theorize about leader-follower relationships. In addition, the experience provided the members of group 3 of 6 an individualized and deep understanding of what the absence of the leader meant for them. It was possible to couple the theoretical concept with their unique, individual experience. Regarding 3j: Group 1 of 5 was missing its leader at a subsequent class meeting and none of the members knew where he was. This was annoying for group members because when the lecturers called a meeting of group leaders to inform them about an upcoming task, group 1 of 5 was excluded from participating in the new task because their leader was absent. The leader of group 1 of 5 did attend the next meeting of the plenary where he explained that he had planned on missing two of the course meetings but had not shared this plan with members of his group. Members of group 1 of 5, who had chosen this student as their leader for his reliability and engagement as student representative, also did not discuss the details of the course with each other. As the flipchart notes of group 1 of 5 above show, the group was reflecting on the fact that it did not have a real discussion but to everybody’s astonishment, the insight was not utilized to actually engage in a real discussion. It appears as if the group thought that by choosing a leader all the upcoming tasks related to the course would be magically resolved. The lecturers interpreted this finding as resistance to the challenges of the course and an indication of group 1 of 5’s avoidance of reality by a magical approach to solving the problem of selecting the right leader (Stokes, 1994: 21).

Range of Action of Sequences (1-3) Sequence 1 shows how lecturers focus on the rules of the educational institution, the predefined roles of students and elected student representatives, and the institutional authority of the lecturers (Figure 6). The goal of this ap-

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proach is to create awareness that education is connected to a larger system and grounded in (Austrian) law. In this approach, changes are slow and take place at an institutional level. The rules are binding for students as well as for lecturers. This is in keeping with Bendell, Sutherland and Little’s (2017: 433) third recommendation for sustainable leadership in which they state “…consider the political and moral aspects of authority and basis for legitimacy of leadership acts. By doing so, encourage a focus on how one’s potential actions relate to the needs of the collective, stakeholders, and wider society.” Sequence 2 shows how lecturers offer students the opportunity to leave the normative arena and explore unknown territory. This is demonstrated by the paradox of the requirement free approach. Students are free to express their own opinion, regulate their participation according to their needs, and set their personal boundaries; but they must attend lectures. This can be a painful process for lecturers because of the phenomena of counter-dependence (also found in adolescents) that the students can display within the plenary (Heintel & Krainz, 2000: 106–107). But this state of counter-dependence is precisely why the exploratory process offers excellent potential for learning experiences. This premise fits Bendell et al.’s (2017: 433) first recommendation for sustainable leadership where they state: “Explore purpose and meaning as central to personal and professional action. By doing so, enable individuals to clarify their provisional understanding of personal aims and how they may or may not relate to existing organizational aims, to support a more holistic assessment of personal and organizational performance.” Sequence 3 shows how lecturers initiate students’ self-organization. The emphasis on the institutional authority of the preceding sequences is now extended by the introduction of the professional authority of the lecturer(s). This is achieved by dividing the roles of the lecturers. One lecturer emphasizes institutional authority, the other focuses on facilitating the process. To keep the process within tolerable limits, it is important to use moderation to compensate for emotional reactions to a strict bureaucratic stance. A successful process leads to objectification of the authority complex represented by lecturers (Figure 2). This sequence also marks the step when the plenary is resolved by forming groups that work separately. Thereafter, the setting of the course enters the sphere of indirect communication, namely, the political sphere (Heintel, 1977: 93). Communication now occurs in a parallel fashion and groups must communicate internally as well as externally to keep

Learning by Experience

track. By establishing leaders and instituting exclusive meetings for leaders, the lecturers introduce hierarchy into students’ relationships (Schuster & Lobnig, 2017: 8). This leads to students’ hierarchical differentiation within the micro cosmos of the course. In this approach, follower students are confronted by their group leader’s institutional authority. Also, both lecturers emphasize their professional authority and focus on facilitating the communication processes among the groups and the group leaders. In this phase, the conditions for learning by experiencing leadership, hierarchy, leader-follower exchange, direct and indirect communication, and organizational and group dynamics are been established (Schuster & Lobnig 2017: 6). This fits with Bendell et al.’s second recommendation for sustainable leadership which states: “Recognize that organizational or social change is affected by people at all levels and through social processes, so knowledge about collective action is key. By doing so, encourage people to learn more about how groups can function more effectively through enhanced collaboration.” (Bendell, Sutherland, & Little, 2017: 433) Figure 7 shows lecturers’ range of action with regard to the experience-centered teaching approach (ECTA). Based on lecturers’ institutional authority, their professional as well as their individual authority are consciously applied to address the feeling-thinking-behavior-program as well as the FTB-process. By presenting transcendent knowledge on leadership, lecturers as professional authorities provide structure, guidance, and orientation to students. In contrast, lecturers as facilitators invite the students to mutually enter into and utilize a large, creative space. The difficulty lies in balancing the two contradictory poles.

Discussion In this study I explored an experience-centered teaching approach (ECTA) that places students and lecturers in a situation of not knowing. This is because the experience-centered teaching approach is based on the premise that the future can never be fully known. Thus far, Universities of Applied Sciences (UAS) in Austria have continued to accept the normative approach to education. However, the idealization of the benefits of the normative approach to education may well be a fallacy and may even have complicated students’ learning process. The intervention science approach seeks to balance the best

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FIGURE 7 Range of Action of Lecturers. Adapted from ‘A Reflection on the (Harvard) Case Method from a Group Dynamics Perspective’ by Schuster & Radel (2018: 305308)

aspects of the normative and the explorative approaches to education (Schuster, 2015: 227). A great challenge for lecturers is to utilize this paradoxical teaching to demonstrate that certainties are illusory (Liessmann, 2014: 175), and that the normative approach to teaching is an illusion that enables society to function with some degree of predictability. Such an approach to teaching can weaken lecturers’ institutional authority (Figure 7), pushing students to normative schools of science instead of emancipating them from conventional learning. The success of the emancipatory, experience-centered teaching approach is dependent on the culture of the educational institution. It includes the inevitable political power play involving students, student representatives, lecturers and study program leaders. Only a conscious reflection on the power play will lead to the success of this teaching approach. The foundation of the explorative approach is group dynamics (Bion, 2013; Colman & Bexton, 1975; Cytrynbaum & Noumair, 2004; Miller, 1987; Schindler, 2016), particularly the Klagenfurt School of Group Dynamics (Duwe, 2018; Schüller & Spindler, 2013). The best-known formats are the T-groups, and the Organizational Training, and the Group Relations conferences (Schuster &

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Radel, 2018: 303). Shapiro & Carr (2012: 77) describe the setting of the Tavistock-style group relations conference as follows: “Within the conference institution as a whole, the entire membership—in separate groups, one large group, and varying inter-group events—begins to shape its dynamic interaction with the staff they have authorized to lead the learning task. A temporary institution is being created for the purpose of studying itself.” The retreat setting, where the staff as well as the participants lived for 14 days, the sophisticated arrangement of the plenary, several groups of varying sizes, and spaces and time for relaxation helped to contain the uncertainty of the shared exploration (Shapiro & Carr 74-75). The here and now teaching approach used the basic idea of the explorative conference institution format described by Shapiro & Carr (2012: 74-77). Since the boundaries of the educational schedule at the Universities of Applied Sciences (UAS) system are flexible, the explorative parts were counterbalanced by normative components and, compared to the conference institution format, required rather intense guidance by the lecturers (Schuster & Radel, 2018: 304-305). My research partners and I will continue to conduct ongoing intervention research to generate more data on the effects of the exploratory, experiencecentered teaching approach on students, lecturers/researchers, and educational institutions to refine lecturers’/researchers’ interventions. We will seek lecturers with a background in the normative teaching and research approach who are interested in widening their teaching and research approach to include experience-centered teaching. To end, I would like to differentiate intervention research from field experiments as the distinction is important (Eden, 2017). Intervention research follows a meticulous process with outcomes that are unique and a microcosm of a particular environment. Therefore, they are not generalizable to other similar situations. Heintel called it “collective individuality” (2005: 146). What is generalizable and replicable for use in other settings is the research process and its design. Nonetheless, it might be interesting to join forces with researchers who apply field experiments or other research and to combine those approaches with intervention research to study teaching and education in general.   The creation of this scientific work was partially funded by the city of Vienna, department economic affairs, labor and Statistics (MA23).

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Emotionale Bildung im Schulpraktikum durch Reflexion und Mentalisierung Margit Datler und Bernhard Rauh

Betrachtet man die Ideengeschichte der Pädagogik seit der Moderne, so ist festzuhalten, dass sich ihr Verhältnis zu Emotionen sehr ambivalent darstellt. Fast gleichzeitig wird einerseits ein Bekämpfen und Kontrollieren von als hinderlich stilisierten Emotionen, andererseits ein Idealisieren und Überbetonen von als produktiv erachteten Emotionen propagiert. So wird in der Einladung zur Tagung/zum Band ein Dispositiv vom Ausschluss von Emotionen in Forschung und Bildungsarbeit gezeichnet: Fakten, die ohne emotionale Bedeutung seien; Beobachter*innen, die emotional unbeteiligt und Lehrer*innen, die emotional neutral blieben. Dieses Dispositiv wird unsere Wissensproduktion und die Beiträge orientieren, möglicherweise mehr auf einen GegenDiskurs und weniger auf einen Diskurs untereinander. Unser Beitrag baut auf psychoanalytischen Zugängen zur Thematik auf. Diese kommen im aktuellen Mainstreamdiskurs über den Zusammenhang von »Bildung und Emotion« (vgl. Huber & Krause 2018) kaum vor, obwohl sie sich schon seit weit über 100 Jahren sehr differenziert und immer wieder neu mit dem Einfluss von Emotionen auf unser Leben beschäftigen. Vielleicht kann unser Diskursbeitrag die Bedeutung der durch die Psychoanalyse angeregten Überlegungen zur emotionalen Dimension der Begleitung von Studierenden im Praktikum verdeutlichen. Eingangs werden wir eine zeitgeschichtliche Kontextualisierung der Emotionalisierung von Gesellschaft und Bildung skizzieren (1.), auf aus unserer Sicht unvermeidliche Emotionen in Erziehung und Bildung eingehen (2.) und allgemeine Überlegungen für die Professionalisierung für den Umgang mit Emotionen anstellen (3.), bevor wir das vor diesem Hintergrund sowie auf der Basis psychoanalytisch-pädagogischer Überlegungen entwickelte Konzept einer emotionalen Bildung im Schulpraktikum präsentieren (4.).

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Margit Datler und Bernhard Rauh

Wir sind uns bewusst, dass in unserem Beitrag wichtige Aspekte des Themas Emotionen und Bildung lediglich angerissen werden können. Sie müssten detaillierter ausgearbeitet und vor allem systematischer analysiert werden, als es in dieser einführenden und damit unvermeidlich skizzenhaften Darstellung möglich ist.

1.

Emotionalisierung der Gesellschaft und der Bildung in der Spätmoderne

In seiner Zeitdiagnose geht Reckwitz (2019) von einer tiefgreifenden Emotionalisierung unserer spätmodernen Kultur aus. Eine »Konjunktur der Emotionsforschung« wird von Anz (2007, S. 207) festgestellt. Emotionen1 scheinen zu einem zentralen Feld wissenschaftlicher Forschung geworden zu sein. Ein »Affective Turn« (Clough & Halley 2007) bzw. »Emotional Turn« (Gammerl & Hitzer 2013) wird beschrieben, vereinzelt ist sogar die Rede von einer Auflösung der Dichotomie von »Verstand und Gefühl, Kognition und Emotion« (Anz 2007, S. 208). Dieser »Turn« wird allerdings nicht uneingeschränkt begrüßt, da einerseits zwar progressiv-emanzipatorische, andererseits auch regressiv-einengende Momente in dieser Betonung der Bedeutung von Emotionen erkannt werden. Unterscheidet man Unterphasen der Moderne, so lassen sich drei Leitorientierungen differenzieren. Dominierte in der Frühmoderne das Motiv, Kinder ungeachtet der Emotionen an den Stand und dessen Normen anzupassen, galt in der Hochmoderne die Maxime, sich rational, bisweilen antiemotional und affektneutral zu organisieren und Emotionen zu unterdrücken, wird in der Spätmoderne mit ihren Selbstverwirklichungsimperativen eine authentische Emotion und deren Ausdruck wesentlich, um sich als Subjekt zu konstituieren. Für die Spätmoderne ist es zentral, dass in ihr eine spezifische »Emotionskultur« (Reckwitz 2019) und damit gesellschaftliche Dynamiken der Emotionalisierung konstitutiv sind. Kulturell-gesellschaftliche Prozesse und Emotionen werden als interdependent, als sich wechselseitig beeinflussend, be-

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Wie Emotionen, Empfindungen, Affekte und Gefühle miteinander in ein Verhältnis gesetzt werden, wird sehr unterschiedlich gehandhabt. Im vorliegenden Beitrag soll »Emotionen« als Oberbegriff für Körperempfindungen, unbewusste Affekte und bewusste bzw. bewusstseinsnahe Gefühle verwendet werden.

Emotionale Bildung im Schulpraktikum durch Reflexion und Mentalisierung

griffen. In der »Gesellschaft der Singularitäten« (Reckwitz 2017) lassen sich die Einflussfaktoren für die gesellschaftlich-interaktionale Produktion positiver wie auch negativer Emotionen systematisieren. Positive Emotionalisierungen (Spaß, Freude, Lust, Fröhlichkeit) werden gefordert und medial verstärkt, hingegen sollen negative Emotionen (Anstrengung, Enttäuschung, Ärger, Trauer, Unlust, Scham) vermieden werden. Auch in der Spätmoderne ist das Subjekt nicht frei vom Erleben von negativen Emotionen, sodass von einer Transformation der Emotionen auszugehen ist, nicht von einem Weniger an negativen Emotionen. Wie jede Transformation verändert auch diese die Anforderungen an die Fähigkeit, Emotionen unter Belastung regulieren zu können. Es ist davon auszugehen, dass gesellschaftlich-kulturelle Faktoren Emotionen beeinflussen, vielleicht erschaffen sie Emotionen sogar erst, die nicht als Primäraffekte vorhanden sind, wie z.B. Scham. Emotionen gelten als »kulturell, sozial, diskursiv reguliert, formiert und überformt« (Magyar-Haas 2018, S. 21). Emotionen sind demnach sozial, kulturell und historisch mitkonstruiert. Die sozialen und normativen Aspekte einer »Emotionskultur« (Reckwitz 2019) sind unbedingt mit zu reflektieren. Der Einfluss von Emotionen auf die pädagogische Beziehung und die personale, kognitive, soziale, voluntative/motivationale und moralische Entwicklung ist in aktuellen Forschungsergebnissen verschiedener Disziplinen unbestritten (z.B. Damasio 2004; Wessel 2015, S. 355ff. und 486ff.). Die Interaktion von emotionalen und kognitiven Prozessen ist allgemeiner Wissensbestand. Außerhalb von rational-choice-Theorien findet die Bedeutung von Emotionen für die Entscheidungsfindung und unser Verhalten breite Anerkennung. Vor allem durch die Ergebnisse und Erkenntnisse der jüngeren neuropsychologischen Forschung wurde belegt, wie eng emotionale und kognitive Prozesse zusammenspielen bzw. -hängen. Damasio (2004), LeDoux (2001) und Roth (2001) haben aufgezeigt, dass Emotionen vielleicht sogar das Leitsystem sind, welches unsere Beziehungen zur physischen, sozialen und kulturellen Welt vorgängig strukturiert. Gemäß diesem Paradigma wäre davon auszugehen, »daß (sic!) Gefühle und Empfindungen … keine Eindringlinge in das Reich der Vernunft sind, sondern, zu unserem Nach- und Vorteil, in ihre Netze verflochten« sind (Damasio 2004, S. 12; Hervorh. i. Original). Die Relevanz dieser Erkenntnisse für die erziehungs- und bildungswissenschaftliche Disziplin, die Erziehungs- und Bildungstheorie, die Konstruktion von pädagogischer Professionalität und die Professionalisierung von Lehrkräften sowie die Analyse von pädagogischen Situationen und Prozessen scheint aber dennoch nicht hinreichend bewusst zu sein.

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2.

Emotionen in Erziehung und Bildung

Emotionen sind in einen Erziehungs- und Bildungsprozess eingebunden und in der Interaktion mit Kognitionen entstehen komplexe emotional-kognitive Schemata. Deshalb kann es gerade in Erziehung und Bildung nicht darum gehen, »gefühlsentleert« (Mertens 1998, S. 108) zu handeln, sich emotional nicht berühren zu lassen und rein kognitiv vorzugehen. Auch ist es nicht zielführend, die eigenen Phantasien, Wünsche und Ambivalenzen oder die Besetzung der Objekte zu verdrängen, unabhängig davon, ob sie aggressiver oder libidinöser Art sind. Eine anti-emotional strukturierte pädagogische Kultur würde die Angst, emotional berührt zu werden bzw. sich von anderen emotional ansprechen zu lassen, immens steigern, sodass sie abgewehrt werden muss. Eine solche »Kultur« würde psychische Energie in hohem Maße binden, die dann an anderer Stelle, z.B. für kognitive Prozesse nicht zur Verfügung stünde. Die Denktätigkeit, die Fähigkeit zu Analyse und Entscheidung und damit ein pädagogisch verantwortliches Handeln wäre beeinträchtigt, sodass nur in wenig komplexen Systemen, z.B. einer binären Logik wie Kampf-Flucht oder einer eindeutigen Wenn-Dann-Logik gedacht werden könnte, was das unbewusste Ausagieren abgewehrter Emotionen stark begünstigt. Demzufolge kann es in Erziehung und Bildung nicht um eine »Lobotomisierung«, ein Durchtrennen der Verbindungen zwischen Emotion und Kognition gehen. Es sollen zwar beide Bereiche analytisch differenziert und auseinandergehalten, aber eben auch integrativ und zusammen gedacht werden, wie par excellence die eigene emotionale Beteiligung von Lehrkräften an kognitiven (und sozialen) Prozessen im Unterricht. Das ist umso wichtiger, da nicht verdrängt werden sollte, dass in Erziehung und Bildung in der Spätmoderne – neben positiven Emotionen – auch negative, mitunter sehr negativ ausgeprägte Emotionen in Lehrkräften wachgerufen werden: Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit, der Entwertung und Kränkung. Diese werden deutlich massiver, intensiver und bedrohlicher als früher erlebt, da sie durch das Propagieren einer schulischen Wertschätzungskultur sowie das Verbot der körperlichen Züchtigung und psychischen Gewaltanwendung nicht länger kompensiert werden können und dürfen – was eine große gesellschaftliche Errungenschaft darstellt. Erst eine Einbeziehung der Emotionen, des emotionalen Erlebens, erlaubt eine differenzierte Analyse und Bewertung von Situationen und Interaktionsdynamiken. Die Reflexion der emotionalen Reaktion auf ein Kind, psychoana-

Emotionale Bildung im Schulpraktikum durch Reflexion und Mentalisierung

lytisch als Gegenübertragung verstanden, eröffnet einen Zugang zur inneren Welt des Kindes und damit pädagogische Handlungsmöglichkeiten. Insbesondere Devereux (1976, S. 124) hat darauf aufmerksam gemacht, dass begriffene negative Emotionen eine »Quelle der Gelassenheit und der Kreativität« und damit auch guter Praxis in Wissenschaft sowie Erziehung und Bildung seien. Hingegen bergen negative Emotionen die unbenannt und damit un-begriffen bleiben, so lässt sich im Umkehrschluss folgern, das Risiko von Rigidität, Härte, Aufgeregtheit oder dumpf-monotoner Anwendung von Techniken, wie es z.B. markant im Film Elternschule (Bücheler & Adolph 2018) zu beobachten ist. Die Emotionen, die sich in der beruflichen Praxis von Pädagog*innen zwangsläufig einstellen, sollten wahrgenommen und erkenntnisgenerierend in den Erziehungs- und Bildungsprozess eingebracht werden, denn der Versuch, das Erleben bzw. wahrgenommene Emotionen zu eliminieren, fördert eine unbewusste Projektion dieser Emotionen auf die Klientel. Damit wirkt eine mentalisierende Integration von negativen (und positiven) Emotionen präventiv: Kinder sind möglicherweise gar nicht böse oder einfach so aggressiv, sie wollen nicht provozieren, sondern sie handeln aus Gründen, die von Pädagog*innen bisher noch unverstanden geblieben sind. Auch die Konsequenzen, die einem bestimmten, als störend klassifizierten Verhalten folgen, sind dann andere, da der emotionale Hintergrund des Handelns der pädagogischen Akteure thematisiert wird. Scheinbar konsequente und grenzsetzende Handlungen entpuppten sich bei reflektierter Betrachtung möglicherweise als Rationalisierungen von eigenen negativen Emotionen. Redl und Wineman (1976, S. 106ff.) verweisen auf die Gefahr, dass Pädagog*innen bei Strafen unbewusst Zorn und Hass, Sadismus und Racheimpulse ausleben, z.B. auch schon dann, wenn sie Kinder ausschließen, begründet mit der Argumentationsfigur einer logischen Konsequenz. Sehr intensive Emotionen, insbesondere dann, wenn sie stark negativ getönt sind, werden gesellschaftlich-kulturell in der Regel als problematisch gedeutet. Bei diesen Emotionen scheint die begriffliche Entgegensetzung von Emotion und Kognition, von Gefühl und Verstand besonders plausibel zu sein, da Emotionen zwar eine Chance, aber auch ein großes Risiko darstellen können.

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3.

Professionalisierung für den Umgang mit Emotionen

In einem psychoanalytisch-pädagogischen Professionsverständnis bildet eine Integration der Emotionen die Leitorientierung für den Umgang mit eigenen und fremden Emotionen. Pädagog*innen müssen sich im Feld der Bedeutung und des Entstehens von Emotionen, ihrer Entwicklung und Überformung professionalisieren. Die oben skizzierte neurowissenschaftliche Perspektive stützt die Argumentation, dass es in der Lehrkräftebildung auch darum gehen sollte, Emotionen bei sich und anderen wahrnehmen zu lernen, produktiv mit ihnen zu arbeiten, ihnen eben nicht ausgeliefert zu sein, sondern eigene Emotionen und die anderer gezielt und reflektiert regulieren zu können. Erziehungsund Bildungsprozesse bei Schüler*innen, die Probleme mit der emotionalen Selbstregulation haben, drohen zu scheitern, wenn Lehrkräfte selbst voller Wut und Aggression sind und emotional ungefiltert und unkontrolliert reagieren – was gerne als authentische Reaktion rationalisiert und gerechtfertigt wird. Boger & Wawerek (2020) entlarven diesen Authentizitätskult als ein Risiko für die pädagogische Professionalisierung. Heftige Emotionen kommen weder aus dem Nichts noch entstehen sie ausschließlich im »Hier und Jetzt«, sondern die biographischen Vorerfahrungen von Lehrkräften und Schüler*innen tragen zu bestimmten emotionalen Dynamiken in der Schule bei. Deshalb sollte die Lehrkräftebildung ein Ort sein, an dem Emotionen nicht nichts zu suchen haben, sondern wahrgenommen und einer »Mentalisierung«2 (Fonagy et al. 2002) zugeführt werden, damit sie nicht den Bildungsanliegen zuwiderlaufende unbewusste und unbeabsichtigte Dynamiken entfalten. Professionalisierungskonzepte sollten auf die emotionale Beziehung rekurrieren und Lehrkräfte dahingehend bilden, dass sie den Schüler*innen das Gefühl von Sicherheit vermitteln und sie durch eine förderliche Beziehung unterstützen, heftige und unangenehme Emotionen zu regulieren sowie durch eine zugewandte sprachliche Fassung (Symbolisierung) deren störende und bildungshemmende Wirkung zu reduzieren. Standardisierte Reaktionen auf Schüler*innenverhalten können kaum etwas von dem leisten. Zudem sind auch die Emotionen von Lehrkräften über Symbolisierung einer Bearbeitung zugänglich zu machen. Das Durcharbeiten von Emotio2

Mentalisieren meint die grundlegende Fähigkeit, das eigene Verhalten oder das Verhalten anderer durch Zuschreibung mentaler Zustände interpretieren zu können (Fonagy et al. 2002, S. 31).

Emotionale Bildung im Schulpraktikum durch Reflexion und Mentalisierung

nen, die mit der beruflichen Tätigkeit verbunden sind, und eine Spiegelung durch zugewandte Andere fördert eine psychische Integration abgelehnter und abgewehrter Emotionen, unterstützt die psychische Kapazität zur Selbstregulation und erweitert das Handlungsspektrum von Lehrkräften in sozialen Situationen. Ein Leugnen von Emotionen, wie es leider noch immer häufig in der Lehrkräftebildung und an Schulen vorzufinden ist, gefährdet eine pädagogische Professionalisierung von Lehrkräften. Ein passender Ausgangspunkt besteht darin, Emotionen sich selbst und anderen zuzugestehen (vgl. Adorno 1971, S. 83) und zu versuchen, sie sich bewusst zu machen, zu reflektieren. Aus dieser Perspektive sollte die Lehrkräftebildung vermitteln, wie man Emotionen bewusst wahrnimmt, zuordnet und bewertet und wie man sich entgegen einem zeittypischen spätmodernen Selbstverwirklichungsimperativ beim Emotionsausdruck bzw. emotional bestimmten Handlungsmotiven zurückhalten kann. Emotionen eben gerade nicht auszuleben und nur selektiv »authentisch« sein zu wollen und das auch zu können – das ist es was in einer professionellen pädagogischen Beziehung den qualitativen Unterschied ausmacht.   Im Schulpraktikum, das die Referenzsituation unserer Überlegungen darstellt, ist eine propädeutische Professionalisierung das Ziel. Mehr ist hier nicht zu erreichen, alles andere mutet utopisch an. Als theoriegeleitete und methodisch gestützte Reflexion des eigenen Handelns und Verhaltens erfordert diese Propädeutik ein Mehrfaches: zunächst die Wahrnehmung der fremden und eigenen Emotionen, ein Wissen um eigene emotionalbiographische Dispositionen und eine Ahnung von den eigenen Abwehr- und Bewältigungsstrategien. Was ist also zu tun, allgemein und in der Praktikumsbegleitung? Es geht darum, Emotionen zu nutzen, sie als »Grenzwächter und Wegweiser für Neuland« zu verwenden, wie es Schuster (2020) in seinem Beitragstitel so treffend formuliert. Das emotionale Erleben ist sinngenerierend aufzuschließen, ein Verstehen von sich selbst und den eigenen emotionalen Barrieren ist zu entfalten, um aus dem Erleben eine bewusste Erfahrung zu machen. Es besteht ein breites Bewusstsein darüber, dass angehende Lehrkräfte im Schulpraktikum mit emotional intensiven Geschehnissen konfrontiert sind. Oft wird diesem Erleben insofern kaum Bedeutung beigemessen, als es von

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Margit Datler und Bernhard Rauh

Praktikumsbegleiter*innen nicht zum Gegenstand von kontinuierlichem und theoriegeleitetem gemeinsamen Mentalisieren gemacht wird. Im Erasmus+ Projekt Professionalisierung für inklusive Bildung durch reflexive Praktika3 wurde diese Leerstelle aufgegriffen.

4.

Wie setzen wir unsere – vor diesem Hintergrund entwickelten – Überlegungen konzeptionell um? Ein Konzept emotionaler Bildung

Als ein Produkt wurde im Projekt ein Praktikumsbegleitmodul erarbeitet und inzwischen mehrfach erprobt, das Wege skizziert, wie zukünftigen Lehrkräften ein theoriebasierter, methodischer Zugang zum Verstehen situationsspezifischer Interaktionsverläufe im Unterricht eröffnet werden kann. Ein zweites Produkt stellt eine spezifisch darauf abgestimmte Fortbildung für Praktikumsbegleiter*innen dar.4 Das Reflektieren/Mentalisieren der durch die Interaktion evozierten Emotionen ist ein wesentlicher Bestandteil der Praktikumsbegleitung. Drei Jahre hindurch haben Menschen aus drei Ländern und fünf Organisationen im Erasmus+ Projekt pro-inklusiv-reflexiv Forschungserfahrungen, Wissen und Lehrerfahrungen gebündelt, in ergänzender Weise zusammengeführt und weiter vorangetrieben, Pilotveranstaltungen durchgeführt und evaluiert. Ausgewählte Überlegungen aus unserem Erasmus+ Projekt – zunächst aus dem Intellectual Output 1, dem Praktikumsbegleitmodul – wollen wir hier vorstellen.

4.1.

Leitende Kerngedanken

Vorweg seien vier leitende Hauptgedanken genannt, die unserem Bestreben, das Reflektieren des Erlebens zum Verstehen situationsspezifischer Interaktionsverläufe in der Schulpraxis zu nutzen, zugrunde liegen.

3 4

Erasmus+ Strategische Partnerschaft Professionalisierung für inklusive Bildung durch reflevixe Praktika (2017-1-DE01-KA203-003557; Laufzeit: 1.9.2017 bis 31.8.2020). Beide Produkte sind über die Projekthomepage abrufbar (pro-inklusiv-reflexiv.eu).

Emotionale Bildung im Schulpraktikum durch Reflexion und Mentalisierung

Bedeutung des Erlebens Vorrangig für unsere Forschung ist die Erkenntnis, dass unsere Wahrnehmung, unser Denken, unser Handeln beständig mit dem Aufkommen von mehr oder weniger intensiven Emotionen begleitet ist. Immer wieder sind wir erstaunt, wie wenig Gewicht diesen wissenschaftlich belegten Ergebnissen in der Lehrkräftebildung beigemessen wird. Dies spiegelt sich etwa in der im Vergleich hierzu großen Anzahl von Publikationen über Diskussionen von Unterrichtsmodellen, Unterrichtsmethoden und -didaktiken oder den Einsatz von Unterrichtsmaterialien wider. Die Auseinandersetzung mit diesen fachspezifischen Themen ist wesentlich, um Schüler*innen in ihrem Wissenserwerb anzuleiten und zu unterstützen. Es gibt Publikationen, vorwiegend aufzufinden im Bereich der Psychoanalytischen Pädagogik, in denen immer wieder darauf hingewiesen wird, dass ein Wissen um die Bedeutung von Emotionen in Lehrer-Schüler-Beziehungen, in Lehr-Lern-Situationen und in der Gestaltung derselben, die Grundlage für alle pädagogischen Tätigkeiten bildet (z.B. Fröhlich & Göppel 2003; Göppel, H. Hirblinger, A. Hirblinger, Würker 2010; Rauh et al. 2020). Diese bisher vernachlässigten Emotionen in schulischen Situationen sollen durch das Forschungsprojekt pro-inklusivreflexiv in ihrer Bedeutung gewürdigt und einer gezielten Nutzung zugeführt werden.

Reflexiver Blick auf Schüler*in, Schülergruppe und Lehrperson Werden in Lehrerzimmern oder in Elterngesprächen Überlegungen zu malignem Schüler*innenverhalten oder Lernschwierigkeiten getätigt, tauschen sich Lehrpersonen nicht selten lediglich über Veränderungen des Schüler*innenverhaltens, bevorzugt im Bereich der Leistungserbringung aus. Ihr Blick richtet sich dann einzig und allein auf den betroffenen Schüler bzw. die betroffene Schülerin. In solchen Gesprächen wird die Wechselseitigkeit der Lehrer-Schüler-Beziehung leicht aufgelöst. Es erfolgt eine Spaltung, bei der die am Geschehen beteiligte Lehrperson als Beziehungs- und Interaktionspartner*in a priori aus der Reflexion ausgeklammert wird. Es wird so getan, als ob der Schüler bzw. die Schülerin in einem pädagogisch interaktionsfreien Beziehungsraum allein von sich aus konflikthaftes Verhalten ohne jeglichen Anlass zeige. Diese verkürzte Sichtweise mag in der konkreten Situation von der einen oder anderen Lehrperson als angenehm erlebt werden, wenn in diesen Gesprächen ihr Anteil an der Beziehungs- und Unterrichtsgestaltung nicht zur Sprache kommt und nicht reflektiert wird. Das

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reduziert zwar die Komplexität ungemein, aber gleichzeitig wird durch diese Vorgehensweise auf das Nutzbarmachen wesentlicher Potentiale verzichtet, die ein Erfassen und Abwägen weiterer pädagogischer Handlungsoptionen ermöglichen könnte. In der Konzeption des Praktikumsbegleitmodus war es dem Forscher*innenteam wichtig, in den im Seminar anzubahnenden Reflexionsprozess von Beginn an Erlebens- und Handlungsanteile der Lehrperson und Anteile des Schülers, der Schülerin bzw. der Schülergruppe gleichwertig mit aufzunehmen. Das ist eine grundlegende Voraussetzung für das Analysieren situationsspezifischer Interaktionsverläufe, für das Erkennen von Möglichkeiten und Grenzen von Lehrerhandeln und für das Setzen abgestimmter pädagogischer Angebote. Es orientiert sich an der von Heimann konturierten kleinsten pädagogischen Analyseeinheit, der »pädagogischen Situation« (1947/1976, S. 59), in deren Zentrum »Beziehungen zwischen … wechselwirkenden Einzelpersonen« (Fischer 1932/1954, S. 124; vgl. Heimann 1947/1976, S. 59), z.B. Lehrkräften und Schüler*innen, stehen. Dieser Bereich stellt ein Kernstück des Praktikumsbegleitmoduls dar.

Bedeutung biographischer Aspekte – bei Schüler*in und Lehrperson Forschungsergebnisse zur Bedeutung der Biographie von Lehrpersonen für deren Erleben und Handeln sind inzwischen allgemein anerkannt (z.B. Reh & Schelle 2006). Die Einflussnahme biographischer Erfahrungen in Bezug auf Berufswahl, auf Vorstellungen vom Lehrersein, die Bildung einer beruflichen Identität, das Engagement in schulischen Belangen, die Gestaltung von Unterrichtssituationen, die Gestaltung von Lehrer-Schüler-Beziehungen etc. werden in ihren vielfältigen Zusammenhängen thematisiert und diskutiert. Ähnlich wie beim Wissen um die Bedeutung des Erlebens in schulischen Situationen ist auch im Bereich der Forschung zur Schüler-Lehrer-Biographie festzustellen, dass zur Reflexion biographischer Bezüge in Studium und Ausbildung wenig Zeit zur Verfügung gestellt wird. Im Praktikumsbegleitmodul widmen sich die ersten Teilmodule der Gewordenheit der Lehramtsstudierenden. Wir erachten das Wissen um eigene schulbiographische Erfahrungen, um selbst erlebte Lehr-Lernprozesse sowie um den biographischen Verlauf der Schüler*innen, der wiederum für das interaktive Zusammenspiel im Unterricht bedeutsam ist, als essenziell, da all dies für das Verstehen von beobachtbarem Schüler*innenverhalten äußerst hilfreich ist.

Emotionale Bildung im Schulpraktikum durch Reflexion und Mentalisierung

Handlungsleitende Theorien gemeinsam mit Studierenden erarbeiten Eine weitere Intention ist, dass Lehrende mit Studierenden handlungsleitende Theorien für die in der Schulpraxis zu absolvierenden Tätigkeiten erarbeiten. Die im Bereich der Schulpraxis lehrenden Personen (HochschulLehrende, Praxisbegleiter*innen, Mentor*innen), die Studierende in der Zeit des Schulpraktikums begleiten, sollten – bildlich gesprochen – gemeinsam an einem Strang ziehen. Ein gemeinsames Theorieverständnis, sich ergänzende theoriegestützte Bedeutungszuschreibungen von beobachtbarem Schülerund Lehrerverhalten sowie von ineinandergreifenden Abfolgen von Interaktionen, bis hin zum Umgang mit gesetzlichen Verordnungen und schulorganisatorischen Vorgaben, sollte gegeben sein. Um dies (formal und inhaltlich) zu gewährleisten, ist für die Arbeit mit unserem Praktikumsbegleitmodul eine spezifisch darauf abgestimmte Lehrer*innenfortbildung entwickelt worden.

4.2.

Grundzüge des Praktikumsbegleitmoduls

Nach diesen Vorbemerkungen werden Spezifika des Praktikumsbegleitmoduls vorgestellt. Durch die Bearbeitung von acht Teilmodulen erschließen sich Lehramtsstudierenden Möglichkeiten, sich jenes Wissen und jene Fähigkeiten anzueignen, die für ein Grundverständnis des Analysierens und Verstehens situationsspezifischer (konflikthafter) Interaktionsverläufe erforderlich sind. In jedem Teilmodul wird ein daraufhin spezifizierter Themenbereich fokussiert. Alle Teilmodule bauen inhaltlich aufeinander auf und greifen inhaltlich ineinander, »kommunizieren miteinander«, und sind durch einen theoretischen Kernstrang miteinander verknüpft. Im Schulpraktikum sind Studierende mit hoch emotionalen Prozessen konfrontiert, die in verschiedenen Bereichen ihren Ursprung haben: In ihrer Rolle als Lehrperson treffen sie oft erstmalig direkt auf Schüler*innen mit unterschiedlichsten kognitiven, sozial-emotionalen und physischen Bedürfnissen. Sie haben den Aufgabenstellungen des differenzierten Unterrichtens nachzukommen und wollen ebenso den Erwartungshaltungen der Praxisbegleitlehrpersonen wie auch ihren eigenen (bewussten und unbewussten) Vorstellungen entsprechen. Studierende verfügen über subjektive, psychische und kognitive Strukturen, subjektive Wahrnehmungs-, Erlebens- und Handlungsmodi sowie über subjektiv unterschiedliche Ressourcen ihrer Mentalisierungsfähigkeit (abhängig von ihrem Stresslevel in der Situation), die im Praktikum bedeutungsvoll zum Tragen kommen.

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Die Praktikumsbegleitlehrveranstaltung ist deshalb so konzipiert, dass Praktikumsbegleiter*innen den Studierenden einen stabilen äußeren Rahmen zur Verfügung stellen, der Lehramtsstudierende unterstützen soll, im Verlauf des Praktikums – unter Anleitung der Lehrperson – einen Zugang zu ihrem »inneren« (mentalen) Raum zu finden und diesen für ihre pädagogische Arbeit mehr und mehr reflexiv nutzen zu lernen. Es stellt eine Zielsetzung dar, dass Studierende das im Schulpraktikum Erlebte, vor allem für sie unverständliche Verhaltensweisen von Schüler*innen und (allgemein) belastende Erfahrungen, welche ihre pädagogische Aufgabe des Unterrichtens und Förderns in der Folge negativ beeinflussen könnten, in einer differenzierten Art wahrnehmen, kognitiv erfassen und nicht von vornherein abwehren, verzerrt wahrnehmen oder leugnen. Ihr Erleben soll besprechbar gemacht, für sie und andere kommunizierbar werden, um es in einem weiteren Schritt reflektieren zu können, damit es zu einer bewussten Erfahrung und verfügbar wird. Hierfür bedarf es bestimmter Kompetenzen bei Studierenden, die sie zu erwerben bzw. zu vertiefen haben, und es bedarf bestimmter Theorien und Konzepte, die als gemeinsame Denkmodelle dienen. Bei diesem Unterfangen beziehen wir uns v.a. auf tiefenpsychologische Konzepte. Folgende zwei Grundannahmen sind leitend, da wir davon ausgehen, dass sie unser Verhalten und Erleben in hohem Maße mitbestimmen: 1. Jegliches manifeste, beobachtbare Verhalten ist immer Ausdruck und Folge von (bewusstem und unbewusstem) Erleben. UND: 2. Nach dem Konzept der Affektregulierung sind alle Personen immerzu bestrebt, in einer bestmöglichen Weise ein möglichst hohes Maß an subjektivem Wohlbefinden herbeizuführen, zu stabilisieren und im Weiteren zu steigern bzw. subjektiv unangenehme Gefühlszustände zu beseitigen, zu lindern oder deren Auftreten zu vermeiden.

In jedem Teilmodul werden die Studierenden aufgefordert, sich mit ihrer Gewordenheit, ihren Vorstellungen, ihren Erwartungshaltungen, ihren Emotionen und ihren Erlebensweisen auseinanderzusetzen. Dann wird der Blick durch die Lehrveranstaltungsleitung auf themenspezifische wissenschaftliche Theorien gewandt und in Folge gemeinsam überlegt, welche Relevanz dies in Hinblick auf im Schulpraktikum Erlebtes, Lehrer-Schüler-Beziehungen, Schülerbiografien sowie Interaktionsverläufe im Unterricht haben könnte. Durch diese (sich wiederholende) Vorgehensweise wird versucht, Studierende darauf aufmerksam zu machen, wie eng ihre psychischen Wahrnehmungs-

Emotionale Bildung im Schulpraktikum durch Reflexion und Mentalisierung

strukturen, ihr Denken, ihr Handeln mit ihrem emotionalen Erleben schulischer Situationen im Schulpraktikum verknüpft sind. Ebenso wird verdeutlicht, welchen Anteil sie als Beteiligte in gelingende und weniger gelingende Lehr-Lern-Situationen, in Schülerbeziehungen, in Konfliktdeeskalationen etc. einbringen mögen. Im Weiteren sollen diese Erfahrungen und Erkenntnisse ihren Blick auf Schüler*innen weiten und sie befähigen, sie mit deren unterschiedlichen Bedürfnissen wahrzunehmen. Auf den ersten Blick scheinen diese Anforderungen überzogen zu wirken; das hier in einigen Sätzen Formulierte kann nicht in einem Praktikumssemester von allen Studierenden auf einem hohen Niveau erreicht werden. Stattdessen geht es im Besonderen darum, Studierende möglichst früh in diese diskursive Form des zur Sprache Bringens von Erlebtem, des Reflektierens und Mentalisierens, des Herstellens von Zusammenhängen, des Verwendens von Theorien für das Verstehen von Verhalten und Interaktionsabläufen einzuführen. Ihnen soll die Erfahrung einer reflektierten Praxis ermöglicht werden, um sie in die Haltung eines »reflective practioner« (Schön 1983) und die Arbeit mit Tools einzuführen sowie deren Handhabung zu trainieren, um damit eine ausbaufähige Basis für eine weiterführende Professionalisierung zu legen.

4.3.

Vorstellung ausgewählter Elemente

4.3.1.

Reflexion biographisch bedeutsamer Erfahrungen

Im ersten Teilmodul wird zunächst der biographische Anteil der Studierenden thematisiert und reflektiert. Es wird gemeinsam der Grundaufgabe nachgegangen, sich bewusst zu machen, wie der/die Studierende sich und andere in verschiedenen Lebenssituationen wahrgenommen hat, wie sie/er sich im ›Hier und Jetzt‹ erlebt, welchen Einfluss Personen und Kontexte auf sein/ihr jeweiliges Erleben hatten und haben, und welche Strategien (Wahrnehmungs-, Denk-, Erlebens-, Handlungsmuster) sie/er im Laufe ihres/seines Lebens entwickelt hat, damit er/sie sich in allen Situationen möglichst wohl fühlt.5 Um Studierende anzuleiten, intensiv ins Nachdenken über eigene Erlebnisweisen und die Bedeutung von Erlebtem in den bisherigen Beziehungen (in privatem wie beruflichem Rahmen) in Hinsicht auf ihr aktuelles Erleben 5

Ausführliche methodisch-didaktische Hinweise und theoretische Verortungen zu diesem und zu den weiteren Teilmodulen sind im IO1, Praktikumsbegleitmodul, zu finden (https://pro-inklusiv-reflexiv.eu/intellectual-outputs/).

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von Beziehungen und Situationen zu kommen, wird »kleinschrittig« re-konstruiert. Sind z.B. Studierende aufgefordert, ihnen bedeutungsvolle angenehme wie unangenehme Erlebnisse zu notieren, könnten in der reflexiven Besprechung u.a. folgende Fragestellungen der Seminarleitung, die hier auszugsweise genannt werden, zu einer verstärkten Beschäftigung mit sich führen (Praktikumsbegleitmodul, S. 10-15): • • •

• • • •

Wie haben Sie sich in dem beschriebenen Ereignis wahrgenommen? Was haben Sie gedacht? Wie haben Sie sich gefühlt? – Wenn Sie in Ihren Text schauen, haben Sie Gefühle benannt? Falls nicht, ergänzen Sie bitte jetzt Emotionen, die Sie damals in dieser Situation vermutlich gespürt haben! Was haben Sie nach dieser Interaktion gedacht? Wie haben Sie sich danach gefühlt? Wie denken Sie heute darüber? Wie fühlen Sie sich jetzt, wenn Sie daran denken? Enthalten die beschriebenen Interaktionen etwas für Sie Charakteristisches? – Sind Verhaltensmuster erkennbar? Sind Ihre Verhaltenstendenzen über die Zeit eher ähnlich geblieben oder hat sich etwas verändert?

Um eine subjektbezogene Professionalisierung der Studierenden anzubahnen und voranzutreiben, stehen – kurz zusammengefasst – folgende biographische Grundsatzfragen im Vordergrund: • • • • •

Welche Erlebens-/Verhaltensmuster lassen sich bei mir erkennen? Womit bringe ich diese Tatsache in Zusammenhang? – Wie verstehe ich das? Was an Bekanntem (mir Vertrautem) und/oder Neuem (mir Fremdem) habe ich über mich erfahren? Was bleibt für mich momentan noch unverständlich, irritierend? Welche Bedeutung hat all dies für mich jetzt?

Diese Überlegungen zu persönlichen Wahrnehmungsweisen der Studierenden werden mit Erkenntnissen aus der Fachliteratur verknüpft, hier in Bezug auf die Entwicklung und die Relevanz psychischer Strukturen. Es wird Studierenden nahegebracht, dass psychische Strukturen von Beginn unseres Lebens an gebildet werden, dass sie mit unseren früheren wie aktuellen Bezie-

Emotionale Bildung im Schulpraktikum durch Reflexion und Mentalisierung

hungserfahrungen und sozial-gesellschaftlichen Gegebenheiten zusammenhängen und unser Wahrnehmen und Handeln beeinflussen, dass sie träge sind und sich nur langsam verändern lassen. Mit dieser Basis sollten Studierende weniger bzw. nicht mehr davon ausgehen, dass, wenn sie einmal etwas sagen und erklären und dies einmal von dem Schüler/der Schülerin verstanden worden ist, sogleich eine anhaltende erwünschte Verhaltensveränderung einsetzt.

4.3.2.

Reflexion biographisch bedeutsamer Schulerfahrungen

In einem weiteren Schritt setzen sich Studierende reflexiv mit bedeutsamen Erfahrungen und ihrem Erleben während ihrer Schulzeit auseinander. Der/die Studierende wird sensibilisiert, wie er/sie Schule (Lernen und soziale Beziehungen) erlebt hat und seinen/ihren Bezug zum Wissen analysieren kann (z.B. Angst vor dem Fach Englisch oder Bewegung und Sport, Vorliebe für Physik etc.). Studierende erfahren, wie vielfältig positiv und/oder negativ die Schulzeit von ihnen und anderen erlebt worden ist, und dass es keine einzig »wahre und wirkliche« Form von Schule gibt. Im Praktikumsbegleitmodul (pro-inklusiv-reflexiv 2020a, S. 18f.) wird als Resümee des reflexiven Erarbeitens formuliert: »Meine schulischen Erfahrungen haben mit mir zu tun, gründen in meinen spezifisch ausgebildeten Wahrnehmungsstrukturen, meinen bewussten und unbewussten Hoffnungen, Wünschen, Ängsten etc. Meine Erfahrungen wurden durch die Schulorganisation (Leitung, Lehrerpersönlichkeiten, Schulmaterialien, Schulgebäude, Klassenzusammensetzung etc.) am jeweiligen Schulstandort beeinflusst und haben meine Vorstellungen von ›Schule‹ geprägt. Ich gehe daher mit meinen ausgebildeten Repräsentanzen von ›Schule, Unterricht, Rolle der Lehrperson und der Schüler*innen‹ in die jetzige Schulpraxis und ich werde eine ›Schule‹ vorfinden, die damit ziemlich übereinstimmt, teilweise übereinstimmt oder gänzlich anders ist. Diese Gegebenheiten am Schulstandort können mir den Einstieg als Lehrperson erleichtern oder zunächst erschweren«.

4.3.3.

Bezug zum Wissen und Erwartungen und Befürchtungen in Bezug auf das Schulpraktikum

Studierende werden in den Teilmodulen drei und vier aufgefordert, zu reflektieren, welche Gedanken und Gefühle sie während ihres Studiums bewegt haben bzw. momentan bewegen, wie es ihnen mit den Anforderungen ergangen ist, womit sie Probleme haben (Leistungserbringung, soziale Beziehun-

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gen, Berufsfeld/Berufswahl), womit sie dies in Zusammenhang bringen und wie sie das verstehen. Wieder geht es um die Frage, wie das im Einzelfall und allgemein verstanden werden könnte. Anschließend werden Gedanken, Gefühle, Erwartungshaltungen, Befürchtungen in Hinblick auf ihr Schulpraktikum sowie auf die aktuelle Schulpraxissituation in den Blick genommen.

4.3.4.

Blick auf den Schüler und die Schülerin

Das bisher Erarbeitete bildet die Grundlage für den nächsten thematischen Schwerpunkt, der das Herzstück des Praktikumsbegleitseminars darstellt. Der Blick wird auf unterrichtliche Interaktionsgeschehnisse gerichtet. In der Schulpraxis treffen auf die Studierendenpersönlichkeit (mit reflektierten schul-biografischen Erfahrungen und den unbewusst gebliebenen Anteilen) Schüler*innen und Praxislehrkräfte mit ihren individuell ausgebildeten psychischen Strukturen und ihren unbewussten Konflikten. Es eröffnet sich im Unterricht für alle Beteiligten ein höchst lebendiger Schauplatz für Beziehungen im Sinne der Affektregulierung mit sehr angenehmen, aber womöglich auch bedrohlichen und schmerzlichen Wahrnehmungen. Zunächst erfolgen einzelne Schülerbeobachtungen (orientiert an der Methode der Beobachtung nach dem Tavistock-Modell), um die Komplexität zu reduzieren. Studierende sitzen im Klassenraum und beobachten mit gleichschwebender Aufmerksamkeit einen Schüler/eine Schülerin. Sie verfassen danach ein deskriptives Gedächtnisprotokoll, in dem möglichst detailliert das beobachtbare Schüler*innenverhalten und Interagieren beschrieben wird. Auf Mimik (Lächeln, zusammengezogene Augenbrauen, aufeinandergepresste Lippen etc.) und Gestik (Zappeln, Hände fausten etc.) ist besonders zu achten, weil hier beobachtbare, ausgedrückte Emotionen später in der Besprechung des Beobachtungsprotokolls Vermutungen über das Erleben des Schülers/der Schülerin erlauben. Die Protokollbesprechung erfolgt nach Richtlinien, die ausführlich im Praktikumbegleitmodul ausgeführt sind (pro-inklusiv-reflexiv 2020a, S. 26ff.). Knapp skizziert geht es um folgende Fragestellungen: • •

Wie mag der/die Schüler*in sich im Unterricht und in den beobachteten Interaktionen erleben? Welche Verhaltensmuster lassen sich beim Schüler/bei der Schülerin erkennen?

Emotionale Bildung im Schulpraktikum durch Reflexion und Mentalisierung

• • • • • •

Welcher situationsspezifische Interaktionsverlauf ist erkennbar? Womit bringe ich dies in Zusammenhang? Wie verstehe ich das? Wie könnte man das grundsätzlich verstehen? Was an Bekanntem (mir Vertrautem) und/oder Neuem (mir Fremdem) habe ich erfahren? Was bleibt für mich momentan (noch) unverständlich, irritierend?

Werden Studierende mit dieser Art von Fragen an ein Reflektieren über das Handeln und Verhalten eines Schülers/einer Schülerin herangeführt, können unreflektierte Zuschreibungen, die der Abwehr und damit der Regulierung der eigenen Emotionen der Studierenden dienen, eher vermieden werden. Praxisbegleiter*in und Studierende »wissen« nicht vorab, dass ein*e Schüler*in bloß aufsässig ist, sich nicht genügend anstrengt, negative Aufmerksamkeit will etc. Gemeinsam wird anhand der oben angeführten Fragestellungen versucht, sich dem vermuteten Erleben anzunähern und mit Hilfe von Theoriemodellen die Vermutungen zu begründen. Studierende sollten ein Interesse entwickeln, Verhalten verstehen und dahinterliegende »versteckte« Bedürfnisse differenziert erkennen zu wollen, um darauf ein spezifisches pädagogisches Angebot geben zu können. Mit dieser Arbeit ist verbunden, dass Studierende zur Einsicht kommen, dass kein Verhalten rein »zufällig« passiert, denn in jeglichem Verhalten sind immer bewusste und unbewusste Anteile und Konflikte verborgen. In den Besprechungen erfahren Studierende, dass Interaktionsabläufe gleichsam nach einem »Reißverschlussprinzip« ablaufen: Person A verhält sich (bewusst und unbewusst) in einer bestimmten Art und Weise (Blick, Sprache, Körperhaltung) und löst dadurch in Person B etwas Situationsspezifisches aus (Phantasien, Gefühle, Gedanken) – dies wiederum veranlasst Person B sich (bewusst und unbewusst) in einer bestimmten Art und Weise in dieser Situation Person A gegenüber zu verhalten – dies wiederum evoziert in dieser Situation in Person A bestimmte Überlegungen, Erinnerungen, Stimmungen. Wird eine beobachtete und protokollierte Handlungssequenz in dieser differenzierten Herangehensweise gemeinsam unter dem Primat der Frage nach dem Erleben reflektiert (Wie mag sich der Schüler/die Schülerin in dieser Situation erleben? Wie kann man die Folgehandlung unter Bezugnahme auf das vermutete Erleben verstehen?), kann ein Interaktionsverlauf eher nachvollzogen werden. Für ein in der Situation zunächst überraschendes, irritierendes Schüler*innenverhalten kann (ansatzweise)

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während der Besprechung des Beobachtungsprotokolls ein Nachvollziehen und ein Verstehen der Schüler*innenhandlung erfolgen – wenn das Erleben der beteiligten Personen in die Reflexion mit hineingenommen wird. Das Beobachten, Protokollieren und Besprechen von Unterrichtssituationen bereiten die nächste Phase des Reflexionsprozesses der Studierenden vor. Sie sind nun angehalten, über sich als Lehrperson in Ich-Form möglichst detailliert Unterrichtssituationen aus ihrer Schulpraxis zu beschreiben.

4.3.5.

Blick auf Lehrer-Schüler-Interaktion

Im Seminar wird mit Praxisprotokollen6 weitergearbeitet. Alle bisherigen Überlegungen werden nun verdichtet zum Ausdruck gebracht. Das Sein und das Tun eines Menschen (Schüler*in, Praxisbegleiter*in, Schulleitung, Eltern) löst in mir als studentische Lehrperson in der momentanen Situation, aufgrund meiner Gewordenheit – meiner (spezifischen) psychischen Strukturen, mehr oder weniger intensive, mehr oder weniger angenehme wie unangenehme Emotionen aus. Das beeinflusst mein Erleben, meine aufkommenden Gedanken, (re-)aktiviert Erinnerungen, die wiederum meine spezifischen Folgehandlung(en) in der aktuellen Situation mitbestimmen. Meine Aktionen provozieren bestimmte Re-Aktionen im anderen und stellen immer strukturspezifische Beziehungserfahrungen dar. Das Erfassen und das Erkennen situationsspezifischer Interaktionsmerkmale eröffnet die Möglichkeit, als Lehrperson aus einem malignen Interaktionsverlauf »auszusteigen«, mir der Beeinflussung meiner Wahrnehmungsmodi durch Emotionen und das spezifische Verhalten der mit mir interagierenden Person gewahr zu werden sowie Handlungsmöglichkeiten (Antworten) zu überlegen. Soweit es gelingt, sich in der Gruppe einem Verstehen des Interaktionsverlaufs anzunähern, wird gemeinsam nach Handlungsalternativen für zukünftige Situationen gesucht. In den Besprechungen wird auch thematisiert, dass komplexe Zusammenhänge und Faktoren (Schulhierarchie, gesetzliche Bestimmungen, diagnostische Abklärungen, Organisationsdynamik etc.) direkt und indirekt auf die schulischen Prozesse Einfluss nehmen und Handlungsoptionen ermöglichen bzw. einschränken.

6

Publiziert ist diese Art von Praxisreflexion in Fallanalysen mit der Work Discussion Methode (Literaturangaben s. pro-inklusiv-reflexiv 2020a).

Emotionale Bildung im Schulpraktikum durch Reflexion und Mentalisierung

4.3.6.

Erfassen der Bedeutung des emotionalen Erlebens

Studierende setzen sich mit der Annahme auseinander, dass Emotionen und ihre Regulation neben Interaktionsverläufen auch Unterrichtsgeschehen und schulische Prozesse allgemein und grundlegend beeinflussen. In einem zweiten Schritt soll (an)erkannt werden, dass sie als Lehrperson mit verschiedenen und verschieden intensiven Gefühlen konfrontiert sind. Gefühle, die Menschen subjektiv als bedrohlich erleben, wehren sie (unbewusst) ab, um sich emotional zu stabilisieren. Diese stressreduzierende Lösung hat den Preis, dass sie sich einen Weg verschließen, sich selbst zu verstehen und Anliegen und Bedürfnisse ihrer Gegenüber wahrzunehmen. Dies gilt auch für Studierende im Schulpraktikum. Können sie den vorfindbaren Rahmen des entsprechend gestalteten Praktikumsbegleitseminars nutzen, um in einer haltenden und sie wenig beschämenden Art über im Praktikum aufkommende unangenehme Emotionen zu sprechen und darüber in ein gemeinsames Nachdenken über deren Bedeutung zu kommen, kann die Angst gemildert und ein offener Zugang zu sich, zu Schüler*innen und Lehrpersonen gefördert werden.

5. Abschließende Überlegungen Wenn man sich das Referierte vor Augen hält, dann wird schnell klar, dass es in der Lehrkräftebildung sowie der Lehrer*innenpraxis weder um eine unmittelbare Anwendung von Theorien noch um berufliche Routinen geht, die einfach nur zu wiederholen sind, sondern um eine Transformation. Die Identität des Betroffenen und ihre Bewusstheit darüber sind immer von Bedeutung. Die zukünftigen Lehrkräfte erarbeiten sich ihre Kompetenzen, indem sie ein bewusstes Verhältnis zu ihren Lebensbezügen entwickeln, sich auf diese Art und Weise bilden, transformieren (vgl. IO2, pro-inklusiv-reflexiv 2020b, S. 5). Bei all dem ist zentral, dass die Personen, die Studierende im Praktikum begleiten, diese dabei unterstützen, sich zu einem reflexiven Praktiker (vgl. Schön 1983) zu entwickeln, d.h. zu jemandem, der sich fragt, was sein Fühlen, Hören, Sehen und Handeln leitet. Die Studierenden sollen also lernen, sich auf etwas bewusst emotional einzulassen und reflektierend wieder Distanz zu gewinnen. So werden sie darauf vorbereitet, Situationen aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen und zu hinterfragen. Dies eignet man sich nicht einfach so an, sondern es bedarf mitunter der Transformation des Bezugs zu sich selbst. Manche angehende Lehrkräfte empfinden dies als Zumutung. Ihre Widerstände sind dementsprechend stark und äußern sich entweder in

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Form von Taubheit oder Aggressivität (IO2, pro-inklusiv-reflexiv 2020b, S. 7). Das soll nicht moralisierend verstanden werden, sondern als Hinweis auf die emotionale Situation, in der sich Studierende im Praktikum befinden und was in der Lehrkräftebildung zu berücksichtigen ist. Binden wir die Überlegungen abschließend zurück an die Frage der Lehrkräftebildung in der Spätmoderne. Pfaller (2018) attestiert ein Verschwinden von »Erwachsenensprache« aus Politik und Kultur und damit eine gesellschaftliche Entwicklung, die sich auf subjektive Befindlichkeiten konzentriert und den reflexiven Diskurs über emotionales Erleben unterlässt. Das Praktikumsbegleitmodul ist als eine programmatische Konzeption zu verstehen, die beide Aspekte, subjektives Erleben und reflexive Sprache, wieder zusammenführen will. Emotionales Erleben soll in eine möglichst kohärente Erfahrung überführt werden, die bewusst ist, nicht nur vor- oder alltags-, sondern wissenschaftssprachlich repräsentiert, damit auch fachlich angemessen kommuniziert werden kann und schulische Praxis strukturiert.

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wie nun emanzipatorische lehre als eine andere form des malens denken Maja Linke

Öl auf Karton, 4-teilig, je 29,7 x 21 cm, 2021.

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Schule und Unterricht

Das Klassenzimmer als emotionaler Raum Corinna Lagemann

Einleitung Gemeinhin gilt das öffentliche Bildungswesen, also staatlich anerkannte Schulen, Universitäten und andere Bildungseinrichtungen, als Ort der Wissensvermittlung und Persönlichkeitsbildung, an dem größtmögliche Neutralität und Objektivität herrscht bzw. herrschen soll. Nicht nur sollen relevante Inhalte frei von weltanschaulichen und ideologischen Prinzipien vermittelt werden; es gilt auch, Chancengleichheit und -gerechtigkeit zu wahren und nicht zuletzt vergleichbare und überprüfbare Ergebnisse zu erzielen. Dies wird mittels Rahmenlehrplänen und klar definierten Lernzielen angestrebt, die nach Möglichkeit in einem gegebenen zeitlichen und räumlichen Rahmen erfüllt werden müssen und wobei die Lehrkraft Rechenschaft darüber abzulegen hat, sollte dies in einzelnen Lerngruppen nicht gelingen. Um dies zu gewährleisten, ist der Schulalltag stark formalisiert und¨ standardisiert. Der Unterricht findet immer zu selben Zeit und am selben Ort statt, die Konstellation der Lerngruppen ist immer gleich und die Lerninhalte sind streng in fachlich gebundene Abschnitte segmentiert. Dieser Struktur stehen die individuellen Befindlichkeiten aller Betroffenen ebenso entgegen wie die sich daraus ergebenden Gruppendynamiken, die sich nur allzu oft den formalen Sachzwängen zu widersetzen suchen. In der praktischen Arbeit mit Schulklassen macht man die Erfahrung, dass die Zusammenarbeit stark durch die Stimmung, durch einzelne Konflikte innerhalb der Lerngruppe, durch Befindlichkeiten einzelner etc. beeinflusst wird, teilweise in einem Maße, das einen regelhaften Unterricht unmöglich macht. Was für jede*n Lehrende*n eine Selbstverständlichkeit darstellt, findet kaum Berücksichtigung im Schulalltag. Das Ziel dieses Artikels ist eine Beschreibung von emotionalen Gruppendynamiken in der Schule und den Wechselwirkungen mit den formalen Ge-

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Corinna Lagemann

gebenheiten. Lerngruppen und Klassenverbände werden hierbei als soziale Gefüge verstanden, die über eigene spezifische emotionale Dynamiken verfügen, welche die Gruppe maßgeblich bestimmen und in dieser Form ausschließlich in ihrem Setting, d.i. in der Schule, wirksam sind. Die vorherrschende Atmosphäre strukturiert die Gruppe und stiftet eine besondere Form von Zusammenhalt, lässt die Gruppe als Einheit auftreten – eine Einheit, die nur im jeweiligen Setting Relevanz und eine bestimmte Autorität besitzt und überdies von außen nur schwer durchschaubar und steuerbar ist. Wichtig ist zu erwähnen, dass der Begriff ›Zusammenhalt‹ nicht auf eine besondere Einigkeit und Harmonie innerhalb der Gruppe abzielt; vielmehr meint er den Umstand, dass die Gruppe ein stabiles System darstellt, innerhalb dessen jedes Mitglied seine besondere Rolle spielt, die eben nur unter den schulischen Rahmenbedingungen Bestand hat. Die affektive Dynamik erfährt eine Rahmung durch die formalen Strukturen im Schulalltag; das emotionale Gefüge und die rahmende Struktur stehen in einem spannungsreichen Wechselverhältnis, dergestalt, dass das atmosphärische Geschehen in der Gruppe maßgeblich den Arbeits- und Lernprozess aller Beteiligten beeinflusst. Begreift man Schule nicht nur als Arbeitsund Lernort in fachlicher Hinsicht, sondern auch als den Bereich, wo Schüler*innen wesentlich sozialisiert werden, so verdient dieser Umstand auch aus dieser Perspektive besondere Aufmerksamkeit. Gleichzeitig lässt sich feststellen, dass dieser Tatsache im schulischen Alltag kaum Rechnung getragen wird bzw. dass dies stark dem Engagement der jeweiligen Lehrkraft obliegt und kaum im Lehrplan verankert ist – weder in Form von Strukturen, noch innerhalb der fachlichen Curricula. Hier besteht eine Diskrepanz zwischen idealisierter und teils erzwungener Objektivität und formaler Korrektheit einerseits und dem atmosphärischen Gefüge und den individuellen Befindlichkeiten andererseits, das jedem Formalisierungsund Standardisierungsvorhaben diametral entgegensteht. Der Kieler Phänomenologe Hermann Schmitz (*1928) begreift Gefühle und Stimmungen nicht als private mentale Zustande, sondern als Atmosphären, die über eine spezifische räumliche und zeitliche Struktur und Präsenz und damit über eine personenübergreifende Wirkmächtigkeit verfügen, wobei die räumliche und zeitliche Organisation von den naturwissenschaftlichen Konzepten abweicht. Raum wird hier verstanden als erlebter und gefühlter Raum, welcher durch die Stimmungen der in ihm befindlichen Personen konstituiert und gestaltet wird.

Das Klassenzimmer als emotionaler Raum

Anhand dieser Theorie und mithilfe der Schmitzschen Terminologie soll im vorliegenden Artikel der oben vorgestellte Sachverhalt beschrieben werden. Dabei gehe ich zunächst auf Schmitz’ Konzept der Räumlichkeit sowie auf seinen Atmosphärenbegriff ein. Hier muss auf individuelles Fühlen ebenso eingegangen werden wie auf kollektives – macht doch gerade das Konglomerat und Zusammenspiel vieler individueller Emotionen und die kollektive affektive Bezugnahme aufs Geschehen das atmosphärisch dynamische Gefüge innerhalb der Gruppe aus. Außerdem soll die Rolle der formalen Struktur in der Schule beleuchtet werden. Zwar steht sie mit den emotionalen Dynamiken grundsätzlich im Konflikt, andererseits rahmt sie das Geschehen auch und kann bestimmte Lern- und Arbeitsprozesse begünstigen, indem sie die affektive Dynamik einhegt und räumlich und zeitlich begrenzt.

Gefühle als Atmosphären Hermann Schmitz entfaltet seine Konzeption der Stimmungen und Gefühle als Atmosphären vor dem Hintergrund einer eigenen Theorie der Räumlichkeit. Raum wird bei Schmitz nicht als geometrisches Konstrukt verstanden, innerhalb dessen man, losgelöst von der eigenen Perspektive, objektiv überprüfbar Abstände, Entfernungen und konkrete Orte angeben kann. Dieser Raum, in dem wir uns alltagssprachlich zumeist bewegen und auf den wir uns in der Regel sprachlich beziehen, stellt eine Abstraktion vom erlebten, gefühlten Raum dar, der sich aus unserer Bezugnahme auf die Umgebung und aus unserer leiblichen Anwesenheit in derselben konstituiert. Hermann Schmitz stellt eine umfangreiche, komplexe Theorie verschiedener Schichten der Räumlichkeit vor, welche hier nicht im Detail wiedergegeben werden kann und muss. Die Grundzüge der Konzeption sollen umrissen werden, um die Überlegungen zur atmosphärischen Dimension des Fühlens und somit die Auffassung von Schule als gefühltem Raum zu plausibilisieren.

Schichten der Räumlichkeit Die räumliche Schicht, die jedem Erleben zugrunde liegt, wird Weiteraum genannt. Dieser Begriff bezeichnet die Erfahrung der umgebenden Räumlichkeit in ihrer reinen Weite – oder Enge – ohne klare Gliederung, Abstände oder Richtungen. Der einzige fixe und für die Definition des Weiteraums

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unerlässliche Punkt ist der eigene Leib, die Perspektive des wahrnehmenden Subjekts, welches das Zentrum des Raumes bildet; bei Schmitz stellt dieser im Zusammenhang mit der Räumlichkeit den absoluten Ort dar. »Der Weiteraum besteht in Weite, sofern in dieser ein absoluter Ort (oder eine Mannigfaltigkeit solcher Orte) […] sich abhebt. Reiner Weiteraum ist beständig präsent im Spüren des Klimas […]. Am eigenen Leib spürt man ein vage ergossenes Klima, in dem man sich befindet, und den eigenen Leib, der sich an seinem absoluten Ort als betroffener davon abhebt.«1 Mit dem Weiteraum sind also Phänomene wie Witterungsverhältnisse und Klima einerseits, aber auch Gefühlsphänomene wie die alltagssprachlich so genannte ›dicke Luft‹, feierliche Stille, dumpfe Schwermut etc.2 assoziiert. Gemeint sind leibliche Erfahrungen und Stimmungen, die keinen definierbaren Gegenstand haben, sondern gleichsam zwischen den Menschen im Raum vorhanden sind und die in ihm befindlichen Menschen auf die eine oder andere Art betreffen und ergreifen können.3 An dieser Stelle drangen sich bereits Assoziationen aus dem Schulalltag auf. Als Lehrperson kennt man vermutlich folgende Situation: man betritt den Raum einer vertrauten Klasse oder Lerngruppe, in der Erwartung bekannter Gegebenheiten und Herausforderungen, findet die Klasse dann aber in einer sonderbaren Stimmung vor, die anders ist als sonst. Vielleicht liegt eine nervöse Gereiztheit in der Luft, vielleicht eine bleierne Müdigkeit, möglicherweise ist die Gruppe fröhlich und albern und schwer zur Ruhe zu bringen, oder es schlägt einem gar Feindseligkeit entgegen. Sehr wahrscheinlich kann man als in der Stimmung Außenstehende*r keinen Anlass, keine Quellen oder Ursachen der veränderten Stimmung ausmachen, sondern man nimmt nur eine Atmosphäre wahr, die sich gleichmäßig über die Gruppe zu legen scheint und den Raum – aber auch nur diesen! – bis in den letzten Winkel durchdringt. 1 2 3

Schmitz, Hermann, Der unerschöpfliche Gegenstand, Bouvier Verlag, Bonn 2007, S. 280. Vgl. Ebd., S. 292f. Die Idee der Stimmung, die gewissermaßen zwischen den Menschen aus dem In-derWelt-sein selbst aufsteigt, geht auf eine sehr prominente Theorie Martin Heideggers zurück, der in Sein und Zeit seine Konzeption der Befindlichkeit als das Dasein durchdringendes und bestimmendes Existenzial vorstellt (vgl. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1927, insbes. S. 136.) Diese Auffassung ist wegweisend in der Phänomenologie der Gegenwart und wird von Hermann Schmitz aufgegriffen und um seine komplexe Theorie der Räumlichkeit und des eigenleiblichen Spürens erweitert und ausdifferenziert.

Das Klassenzimmer als emotionaler Raum

Dies ist es, was Schmitz mit »vage ergossenem Klima« meint, welches man »am eigenen Leibe spürt«, der sich wiederum selbst spürbar davon abhebt.4 Sobald der Weiteraum – und mit ihm die vorgefundene Atmosphäre – Struktur und Gliederung erfährt, spricht man mit Schmitz vom Richtungsraum. Der Richtungsraum ist im Weiteraum fundiert und erhält seine Struktur durch die ihn durchziehenden leiblichen Richtungen des zentralen, den Raum konstituierenden erlebenden Subjekts. Hermann Schmitz beschreibt die Entstehung des Richtungsraums wie folgt: »Der Raum präsentiert sich (dann) als leiblich zentrierter Richtungsraum. In diesem vermitteln leibliche Richtungen wie der Blick oder die motorischen des Greifens, Schreitens, Fallens und der Gebärden zwischen dem absoluten Ganzort des Leibes und der Weite, indem sie unumkehrbar aus der Enge in die Weite führen und diese in Richtungen gliedern.«5 Im Zentrum der Schmitzschen Konzeption des Raumes steht also grundsätzlich das leibliche Subjekt, das Individuum, das seine Umgebung durch leiblich affektive Bezugnahme konstituiert und gestaltet. Diese Bezugnahme realisiert sich zum einen durch leibliche Tendenzen und Richtungen (siehe oben), zum anderen durch leibliche Interaktion. Das Individuum bewegt sich durch die Welt und ist dabei nicht nur mit einer gewissen Rezeptivität und Responsivität ausgestattet, sondern auch pragmatisch auf seine Umwelt ausgerichtet. Das leibliche Subjekt befindet sich in stetiger Konfrontation und Interaktion mit seiner Umgebung und damit auch mit der sozialen Situation, in welcher es sich immer befindet – es ist stets auf andere Subjekte bezogen und diese Form der Interaktion, Konfrontation und wechselseitiger Bezugnahme spannt den spezifischen Raum eines jeden Subjekts auf, in welchem es sich befindet und bewegt. Auch wenn die Rede von den unterschiedlichen Schichten der Räumlichkeit in Schmitz’ Terminologie ungewohnt und sehr abstrakt erscheinen mögen, so dürften die zitierten Beispiele aus dem Schulalltag weitgehend bekannt sein. Was seine affektive Wirkmächtigkeit in Schüler*innengruppen angeht, ist vor allem der Blick zu erwähnen, ebenso aber Gesten, ein besonderer Tonfall, eine Stimmlage, die Körpersprache, ein Hin- oder Abwenden – all dies sind Phänomene mit einer gewissen Autorität, die ganze Gruppen mit

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Siehe oben. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 282.

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einem Schlag in einen bestimmten affektiven Zustand versetzen und Stimmungen innerhalb der Gruppe verändern können. Der Raum, der sich hier aufspannt, ist demzufolge kein geometrischer mit messbaren Abständen und Lagebezeichnungen;6 es ist vielmehr der erund gelebte, der gefühlte Raum, der durch die Gemengelage verschiedener affektiver Phänomene gefärbt und geprägt ist.

Der Gefühlsraum Deutet man mit Hermann Schmitz Gefühle und Stimmungen als dem Klima vergleichbare räumlich ausgedehnte, gewissermaßen ›von außen‹ einwirkende Phänomene, so entgeht man der verbreiteten Auffassung, Gefühle seien private mentale Innenzustände, die man sich beim Gegenüber erst erschließen müsse. Letztere, eher psychologistische, Konzeption vermag Phänomene des kollektiven Fühlens und des emotionalen Klimas nicht hinreichend zu beschreiben, das uns jedoch im Alltag immer wieder begegnet, das, so Schmitz, stets den Hintergrund allen Erlebens darstellt.7 Eine Vielzahl aktueller Publikationen befassen sich mit entsprechenden Phänomenen. Steffen Kammler und Steffen Kluck etwa weisen in ihrem Aufsatz »Der Geist einer Zeit und eines Ortes. Anmerkungen zur Bedeutung von Situationen in sozialer Hinsicht.« auf die geringe Reflexion kollektiven Fühlens hin, in welches wir doch immerhin stets eingebettet sind und welches uns im größeren Rahmen in den Nachrichten und den Medien immer wieder begegnet. Als Beispiele nennen sie die kollektive Begeisterung während der Fußballweltmeisterschaft 2006, die Verunsicherung nach dem Ausbruch des Eyjafjallajökull auf Island; sie benennen geläufige Redewendungen wie ›Atmosphären des Misstrauens‹, ›Klima der Angst‹ etc.8

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Der Vollständigkeit halber sei aber auch dieser hier noch genannt: der geometrische Raum wird innerhalb dieser Konzeption Ortsraum genannt. Er wird als Abstraktion der leiblich konstituierten Raumschichten aufgefasst und ist als solche eher leibfern. Nicht das erlebende Subjekt bildet sein Zentrum; vielmehr werden die Objekte der Bezugnahme miteinander ins Verhältnis gesetzt, zwischen denen man dann Entfernungen, Abstande, sowie genaue Orte angeben kann. Vgl. Schmitz, Hermann, Der unerschöpfliche Gegenstand, … S. 292. Kammler, Steffen und Kluck, Steffen, ,,Der Geist einer Zeit und eines Ortes. Anmerkungen zur Bedeutung von Situationen in sozialer Hinsicht.« In: M. Großheim, C. Lagemann, A. Hild, N. Trcka (Hg.): Leib, Ort, Gefühl. Perspektiven der räumlichen Erfahrung. Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2015. S. 35-56.

Das Klassenzimmer als emotionaler Raum

Auch Nina Trcka benennt in ihrem Aufsatz »Ein Klima der Angst. Über Kollektivität und Geschichtlichkeit von Stimmungen« die beklemmende atmosphärische Verfasstheit ganzer Gesellschaften angesichts autoritärer Regime.9 Zwar drehen sich diese Aufsätze – zugegeben – um kollektives Fühlen im größeren Rahmen als dem Schulalltag an staatlichen Schulen, aber gerade dies zeigt die Allgegenwart des Phänomens und die Relevanz phänomenologischer Emotionsforschung für eine Vielzahl von Lebensbereichen, insbesondere dort, wo viele Menschen mit individuellen Bedürfnissen in Zweck- und Zwangsgemeinschaften aufeinandertreffen und miteinander auskommen und arbeiten müssen. Die Schule ist ein solcher Ort. Hermann Schmitz nun beschreibt die Atmosphäre – die klimatische ebenso wie die emotionale – als »randlos durch die Weite ergossen«;10 sie werde »am eigenen Leib gespürt, aber nicht als Zustand des eigenen Leibes«.11 Den meisten dürfte das Gefühl bekannt sein, das einen beschleicht, wenn man mit einer Atmosphäre konfrontiert ist, die zunächst einmal nicht der eigenen stimmungsmäßigen Verfasstheit entspricht. Gleichsam körperlich (oder besser: leiblich!) spürt man, wie ein Zustand angespannter Unruhe einen selbst ergreift, wie man nervös und gereizt wird, wie sich vielleicht der Herzschlag erhöht und wie man nicht mehr in der Lage ist, entspannt und selbstsicher aufzutreten, bzw. wie es ein hohes Maß an selbstregulativer Eigenleistung und Fähigkeit zur Abgrenzung von der vorgefundenen Atmosphäre erfordert – all dies, ganz ohne dass man den Anlass der Unruhe und der Anspannung kennt. Ähnlich verhält es sich im Falle bleierner Müdigkeit – auch ein Zustand, in dem man Lerngruppen mehr oder weniger unerwartet vorfinden kann. Betritt man eine Gruppe, die still ›vor sich hindämmert‹, dabei die desinteressierte Müdigkeit durch träge Blicke und eine entsprechende Körperhaltung demonstriert, wird man innerhalb kurzer Zeit ebenfalls den Antrieb verlieren, sich in größerem Maße einzubringen, Diskussionen anregen oder ein produktives Klima herstellen zu wollen. Die wahrscheinlichen Konsequenzen für die Person, die von außen hinzutritt, sind einerseits, dass

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Trcka, Nina, ,,Ein Klima der Angst. Über Kollektivität und Geschichtlichkeit von Stimmungen«. In: K. Andermann und U. Eberlein (Hg.): Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie. Akademie Verlag, Berlin 2011. Schmitz, Hermann, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 292. Ebd., S. 293. Auf die zentrale Bedeutung des Leibes bei der Konstitution des Raumes wurde oben bereits eingegangen.

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sie sich gleichsam anstecken lasst und ebenfalls träge wird und in ihrem Antrieb erlahmt, oder andererseits, dass die eigene Stimmung dergestalt mit der vorgefundenen Atmosphäre kollidiert, dass sie ärgerlich darüber wird, die eigenen Vorhaben und Pläne mit der Gruppe nicht realisieren zu können.12 In jedem Fall wird man in der einen oder anderen Weise zum Träger bzw. zu einem weiteren Überträger der Atmosphäre, in der einen oder anderen Weise. Zwar liegt die Stimmung, wie bereits ausgeführt wurde, gewissermaßen im Raum und in der Luft, aber selbstverständlich tragen die anwesenden Personen die Atmosphäre und bestimmen das Gefüge durch ihre Art der Auseinandersetzung damit.13 Schmitz beschreibt verschiedene Weisen, wie ein Gefühl zum je eigenen Gefühl werden kann bzw. wie man auf begegnende und ergreifende Atmosphären reagieren kann – dies wurde in den Beispielen bereits angerissen. Eine Möglichkeit ist, dass die hinzutretende Person – in unserem Fall höchstwahrscheinlich die Lehrkraft – angesteckt und leiblich von der Atmosphäre ergriffen wird. Hermann Schmitz beschreibt diese Ansteckung mit den Begriffen des affektiven Betroffenseins und der leiblichen Kommunikation: das betroffene Individuum reagiert leiblich spürbar auf die ihm begegnende Atmosphäre, es schwingt gewissermaßen mit und verliert die Fähigkeit zur Abgrenzung vom Geschehen. Man wird gewissermaßen Teil des emotionalen Gefüges und ebenfalls Träger der Atmosphäre. Entscheidend ist, dass dies geschieht, ganz ohne dass man den Anlass für die Stimmung und das Befinden der Gruppe teilen oder auch nur kennen muss! Als Lehrerin für Englisch oder Mathematik wird man kaum an der ermüdenden Sportstunde teilgenommen haben, die die Klasse in die beschriebene Schläfrigkeit versetzt hat. Auch ist die Lehrkraft kaum an den möglichen Streitereien innerhalb der Klasse beteiligt, die die Ursache für die aufgeheizte Unruhe ist,

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An diesen Beispielen ist leicht zu erkennen, dass ich mich hier am Schulalltag orientiere. Dabei beschreibe und argumentiere ich aus der Perspektive der Lehrperson. Die Beschreibungen treffen aber auf jedwede Person zu, die von außen auf die Gruppe stößt. Das kann ebenso ein*e Schüler*in sein, die sich von der allgemeinen Dynamik nicht gemeint fühlt, vielleicht später erst in den Unterricht kommt, von einem möglichen Anlass für gereizte oder feindselige Stimmung nichts weiß, nicht am ermüdenden Sportunterricht teilgenommen hat, und dergleichen mehr. Vgl. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 293.

Das Klassenzimmer als emotionaler Raum

die man unter Umständen vorfindet – dennoch wird man einbezogen und leiblich spürbar Teil der Gefühlsdynamik.14 Eine andere, dem Mitschwingen entgegengesetzte Möglichkeit der Auseinandersetzung ist der bei Schmitz so bezeichnete »Gefühlskontrast«.15 Anstatt mitzuschwingen und sich von der Atmosphäre in der Gruppe anstecken zu lassen, findet eine starke Abgrenzung statt, die vom betroffenen Individuum als Verstärkung des eigenen Gefühls bzw. als konträre Reaktion auf die vorgefundene Atmosphäre erlebt wird. Stellen wir uns folgendes Szenario vor: die Lehrkraft betritt die Klasse hoch motiviert, gründlich vorbereitet und mit einigem Ernst und Ehrgeiz, da es ein wichtiges Unterrichtsziel zu erreichen gilt. Vielleicht ist eine Prüfung vorzubereiten, vielleicht steht ein Unterrichtsbesuch an – in jedem Fall steht für die Lehrkraft einiges auf dem Spiel und es hängt einiges vom Gelingen der bevorstehenden Stunde ab. Die Klasse hingegen ist durchdrungen von ausgelassener Heiterkeit, die Schüler*innen sind albern, in Privatgespräche verstrickt, schwer zur Ruhe zu bringen und nicht bereit, sich dem Ernst der Sache zu stellen und konzentriert auf den Unterricht einzulassen. Die Lehrkraft wird auf unterschiedlichen Wegen versuchen, Ruhe und ein produktives Arbeitsklima herzustellen; dass sie sich angesichts der eigenen Ernsthaftigkeit und Anspannung hinsichtlich der Erreichung der eigenen Ziele von der Heiterkeit anstecken lasst, ist höchst unwahrscheinlich. Im Gegenteil wird die Anspannung wachsen und einen immer größeren Kontrast zur spaßigen Stimmung in der Gruppe darstellen, bis die Lehrkraft nach einer gewissen Zeit erst deutlich gereizt und dann ärgerlich wird – ärgerlich darüber, dass die eigenen Vorhaben an der affektiven Gruppendynamik gescheitert sind. Die gesamte Situation wird für alle Beteiligten als starker Gefühlskontrast spürbar sein. Hermann Schmitz begründet dieses Erleben mit der starken Autorität von ergreifenden Atmosphären. Während leibliche Regungen wie z.B. die oben beschriebene Müdigkeit zwar in einem gewissen Maße auch anstecken können, aber im Grunde auch in ihrer Unvereinbarkeit reibungslos nebeneinander Platz finden können, stellen

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Es hängt nun stark vom eigenen Persönlichkeitsstil, von der Fähigkeit zur Abgrenzung (in Schmitz’ Terminologie ›personale Emanzipation‹) und der eigenen Fassung ab, wie die Auseinandersetzung mit der Atmosphäre vonstattengeht, dies zu erörtern übersteigt jedoch den Rahmen dieses Beitrags. Es sei nur erwähnt, damit der Eindruck eines allzu eindimensionalen Ursache-Wirkungs-Prinzips vermieden werden kann. Schmitz, Hermann, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 295.

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»Gefühle als randlos ergossene Atmosphären dagegen einen totalen Anspruch, den ganzen Bereich der jeweils präsenten Bühne des Geschehens mit allem, was sich darauf abspielt, in ihren Bann zu ziehen, und verwickeln dadurch den von ihnen Ergriffenen in den peinlichen Kontrast, wenn ihr Anspruch an dem unvereinbaren abprallt, den ein konträres Gefühl stellt, das sich in der betreffenden Konstellation ebenso oder starker zur Geltung bringt.«16 Der Anspruch, den Atmosphären im Raum erheben, wird im leiblichen Ergriffensein erlebt, darin, wie man eine vorhandene Stimmung am eigenen Leib in ihrer ganzen Präsenz spürt, auch wenn sie (noch) nicht die eigene ist oder wenn man sie – wie gerade beschrieben – stark abwehrt, weil die eigene gefühlsmäßige Verfasstheit ihrerseits den Anspruch auf Geltung erhebt.

Affektive Gruppendynamik – Atmosphäre und soziales Gefüge In den vorstehenden Abschnitten wurde die Atmosphäre als stabile Ganzheit begriffen. Die Perspektive meiner Beschreibung war die einer außenstehenden Person, im vorliegenden Falle der Lehrkraft oder einer anderen Person, die gewissermaßen von außen auf das Geschehen hinzutritt. Die Lerngruppe wurde als homogene, durch die vorherrschende Atmosphäre bestimmte und zusammengehaltene Einheit beschrieben, mit der sich die hinzutretende Person auseinandersetzen muss. Im Folgenden soll auf die Dynamik innerhalb der Gruppe eingegangen werden, denn hier treffen individuelle Befindlichkeiten der Gruppenmitglieder aufeinander, gleichzeitig herrscht immer schon ein gewisses Klima in der Gruppe, bedingt und getragen durch gemeinsame Erlebnisse, Erfahrungen miteinander und gemeinsame Ziele – z.B. eine Prüfung zu bestehen, eine Klassenfahrt zu planen, eine Ausbildung zu beenden und dergleichen mehr. Dieses Zusammenspiel aus dem Gruppenklima einerseits und individuellen Gefühlen andererseits bestimmt das atmosphärische Gefüge in der Gruppe, das sich stets aufs Neue wandeln und verschieben kann. So kann man die Gruppe als stabiles Gebilde betrachten, in welchem ein spezifisches Klima vorherrschend ist. Eine Klasse kann sehr lebhaft und fröhlich miteinander und von einem starken Zusammenhalt geprägt sein, gleichzeitig kann dieselbe Klasse sehr interessiert und ehrgeizig und an der gemeinsamen Verfolgung

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Ebd., S. 296.

Das Klassenzimmer als emotionaler Raum

von Lernzielen orientiert – oder auch in erster Linie gesellig und ›verquatscht‹ und dabei weniger am Erreichen des Klassenziels interessiert sein. Es ist auch denkbar, dass eine Klasse sehr ruhig und ›unterkühlt‹ ist, dass die einzelnen Mitglieder nicht viel miteinander zu tun haben und als Einzelpersonen nebeneinandersitzen und mehr oder weniger ehrgeizig ihre Ziele verfolgen. Im ungünstigsten Fall hat man es mit einer Klasse zu tun, die von Feindseligkeit und Streitereien durchdrungen ist, vielleicht spielt Mobbing eine Rolle – auch dies kann eine Struktur sein, die eine Lerngruppe beherrscht und definiert und eine besondere Form der Einheit schafft. Innerhalb dieser übergeordneten atmosphärischen Struktur gibt es jedoch ständige Verschiebungen durch die individuellen Gefühle und Bedürfnisse der einzelnen Schüler*innen. Diese erheben innerhalb der Gruppe Anspruch auf Geltung und vermögen das Gesamtgefüge immer aufs Neue zu verändern. Diese Struktur kann anhand Schmitz’ Unterscheidung von Stimmungen und zentrierten Gefühlen und seine Beschreibung der entsprechenden Transformationsprozesse verstanden werden. Schmitz versteht Stimmungen und ihre Zentrierung zu konkreten Gefühlen analog zu seinem Schichtmodell der Räumlichkeit; dies wurde oben bereits angerissen. Dem Weiteraum entspricht die (noch) diffuse ungerichtete Stimmung, welche sich aber in der Gruppe z.B. durch äußere Impulse oder auch durch innerhalb der Gruppe auftretende Veränderungen auf unterschiedliche Weise verdichten oder zentrieren kann, was die gesamte stimmungsmäßige Ausrichtung der Gruppe verändern kann. Diese Verschiebungen innerhalb der Gruppe ergeben sich entweder durch Impulse von außen (dazu später mehr) oder durch leibliche Bezugnahme der Gruppenmitglieder untereinander und aufeinander. Nehmen wir zum Beispiel die lebhafte, gesellige Klasse. In der bereits heiteren, gelösten Stimmung (die den Unterricht einerseits unterhaltsam, andererseits auch zeitweise schwierig machen kann) genügen Blicke, die sich einzelne Schüler*innen zuwerfen, um die heitere Stimmung weiter steigen zu lassen. Haltloses Gekicher der im Blickkontakt befindlichen Schüler ist die eine Konsequenz, eine weitere Konsequenz kann eine zuerst stark abgegrenzte, im Verlauf verärgerte Reaktion von Schüler*innen sein, die bei aller Heiterkeit doch eher auf konzentriertes Arbeiten oder auch einfach nur auf Ruhe an ihrem Arbeitsplatz bedacht sind. In beiden Fällen ereignet sich eine Zentrierung der Stimmung an diesen beiden Punkten: bei den kichernden, albernen Schüler*innen einerseits und bei den latent verärgerten Jugend-

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lichen andererseits.17 Hinzu kommt die Lehrkraft, die durch ihre Reaktion – sei es Mitschwingen in der heiteren Stimmung, weil die Zeit es erlaubt, sei es Intervention und die Androhung von Konsequenzen in Form von Leistungskontrollen, schlechten Bewertungen oder Elterngesprächen – neue Impulse setzt und die Stimmung der gesamten Gruppe neu auszurichten vermag. Durch den Impuls von außen, durch neue Ziele (z.B. die Vermeidung der angedrohten Leistungskontrolle durch stärkere Selbstregulation) kann es gelingen, dass die Gruppe sich sammelt und am neuen, von außen gesetzten Ziel neu orientiert. Deutlich ist auf jeden Fall, wie sich Impulse innerhalb und außerhalb der Gruppe, leiblich vermittelt und spürbar (Blickkontakt der heiteren Jugendlichen, sichtlich genervtes Abwenden und strenger Blick der ruhebedürftigen und arbeitswilligen Schüler*innen und mehr oder weniger strenges, in Tonfall und Körperhaltung vermitteltes Auftreten der Lehrkraft) auf das bestehende atmosphärische Gefüge auswirken, wie sie es transformieren, wobei die Gruppe in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung und atmosphärischen Verfasstheit stabil bleibt. Ähnlich, wenngleich deutlich weniger erfreulich und unterhaltsam, liegt der Fall in einer Gruppe, die von Feindseligkeit und Mobbingstrukturen durchdrungen ist. Auch hier findet man eine die Gruppe definierende Grundstimmung vor, in diesem Fall ist sie durch Argwohn, Angst und Feindseligkeit geprägt. Auch hier sind es in erster Linie Blicke, die angstvoll, drohend oder abschätzig den Raum durchziehen und die ohnehin schlechte Stimmung in der jeweils durch den Blick hergestellte Beziehung konkretisieren und zentrieren. Ist das Klima in der Klasse grundsätzlich schlecht und aufgeheizt, so wird sich diese Dynamik in alle Richtungen, zwischen scheinbar beliebigen Schüler*innen entwickeln lassen; das Problem kann gewissermaßen wandern, die feindselige Atmosphäre ›sucht‹ sich ihren Weg und ihre Zentren. Diese Dynamik ist von außen kaum zu durchschauen, denn innerhalb einer von Argwohn und damit von Heimlichkeit geprägter Gruppe bilden sich Allianzen ebenso wie Gegnerschaften ständig unausgesprochen neu, allein realisiert durch Blickkontakt, der Suche nach Nähe einerseits und Ausgrenzung und Abwehr andererseits. Auch hier wird die Lehrkraft zunächst versuchen, neue Impulse durch das Unterrichtsgeschehen zu setzen, schließlich gilt es in erster Linie, das Klassenziel zu erreichen, gleichzeitig

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Dieses Beispiel stammt aus meiner eigenen Tätigkeit als Klassenleitung einer Berufsschulklasse an der Jane-Addams-Schule in Berlin Friedrichshain.

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hätte die Konzentration auf fachliche Inhalte die Funktion, die Aufmerksamkeit der Klasse in einer Sache zu bündeln, die mit den zwischenmenschlichen Problemen innerhalb der Gruppe nichts zu tun hat. Meine Beispiele orientieren sich stark an meinen eigenen Erfahrungen im Schulalltag, hauptsächlich während der Tätigkeit an einem Oberstufenzentrum für Sozialwesen. In der Beschreibung folge ich Hermann Schmitz und seinen Überlegungen zur Zentrierung von Stimmungen in Verdichtungsbereichen und Verankerungspunkten. Seine Konzeption legt nahe, dass nicht die einzelnen Ereignisse (z.B. der Streit zwischen einzelnen Klassenmitgliedern, der Witz, den ein*e Schüler*in gemacht hat, die von der Lehrkraft angedrohte Sanktion etc.) die Ursache für bestimmte Stimmungslagen sind, sondern dass vielmehr eine Atmosphäre bereits vorherrschend ist, die sich in o.g. Ereignissen zeigt bzw. diese begünstigt und sich in ihnen zentriert; das Gefühl (d.i. die Atmosphäre) zentriert sich dann, »wenn es dem affektiv von ihm Betroffenen ein Thema (oder Themen) für seine Zuwendung anbietet.«18 Diese Möglichkeiten zur Zentrierung werden bei Schmitz als Verdichtungsbereich und Verankerungspunkt bezeichnet. Mit Verankerungspunkt ist der Anlass bzw. das gemeint, was als Inhalt des Gefühls erlebt wird; bei eine*r von Mobbing bedrohten Schüler*in z.B. die Angst, in der folgenden Pause angegriffen oder bloßgestellt zu werden, der Verdichtungsbereich ist die Person, die das Gefühl auslöst, also diejenige, die konkret gefürchtet wird. Hermann Schmitz formuliert das Geschehen der Zentrierung wie folgt: »… darüber hinaus ist das Zentrum eines zentrierten Gefühls nicht ein beliebiger Gegenstand, der etwa durch einen Zielpunkt symbolisiert werden konnte, sondern es besitzt in zahlreichen […] Fällen eine zur Eigenart der betreffenden Atmosphäre gehörige Zweigliedrigkeit in Gestalt von Verdichtungsbereich und Verankerungspunkt […]«19 und weiter: »Eine große Klasse zentrierter Gefühle bedarf der Spaltung des Zentrums in Verdichtungsbereich und Verankerungspunkt, wobei jener irgend eine Sache ist, dieser meist ein Sachverhalt. […] Verdichtungsbereich des Zorns ist

18 19

Schmitz, Hermann, Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz. Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2016, S. 237. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 297.

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der Mensch oder Gegenstand, auf den man zornig ist, Verankerungspunkt der Sachverhalt, über den man zornig ist.«20 Geht man mit Schmitz davon aus, dass die bereits vorhandene Atmosphäre sich in der beschriebenen Weise stets ihre Zentrierungen und ihre Themen ›sucht‹, wird leicht plausibel, wie sich das Gefüge innerhalb der Gruppe immer neu formiert und strukturiert und wie auch von außen kommende Impulse die Zentrierung auf sich ziehen und der Gruppe neue gemeinsame Themen geben können. An dieser Stelle könnte man ausführlich auf die Begriffe der leiblichen Kommunikation und der leiblichen Dynamik überhaupt eingehen; dies sind Begriffe, die in Schmitz’ Konzeption zentral sind und mithilfe derer man das affektive Geschehen sowohl im Individuum als auch seine intersubjektive Dimension präzise beschreiben kann. Jedoch übersteigt das den Rahmen dieses Artikels und ist auch nicht notwendig, um die räumliche Struktur der Gefühlsdynamik im vorliegenden Kontext zu beschreiben.

Atmosphäre und Alltag – Zur Bedeutung der formalen Struktur Aus dem oben Beschriebenen ist leicht ersichtlich, dass das atmosphärische Geschehen nicht zu den mehr oder weniger starren Vorgaben des zeitlichen und räumlichen Ablaufs des Schulalltags passt. Oftmals machen die vorherrschenden Stimmungen und die Verschiebungen und neuen Schwerpunktsetzungen (durch verschiedene Arten der Zentrierung) das Einhalten des Klassenziels unmöglich oder für die Gruppe zumindest zweitrangig. Auch ist klar, dass unter den üblicherweise gegebenen Umständen eine objektive Bewertung der Schüler*innen im Unterrichtsgeschehen kaum möglich (im Sinne wirklicher Objektivität) ist – dennoch erfolgt die Bewertung nach den immer gleichen Standards und das muss auch so sein. Zu groß ist jedoch die Beeinflussung durch die je eigene stimmungsmäßige Verfasstheit und durch die Verstrickung in die affektive Gruppendynamik. Hier soll nun aber nicht einer Idee des Fahrenlassens aller Strukturen und Bewertungen das Wort geredet werden, vielmehr mochte ich auf die rahmende und ordnende Funktion auch der starren Regeln und Ablaufe hinweisen. Hermann Schmitz entwickelt innerhalb seiner Theorie die Konzeption

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Ebd., S. 302.

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des Wohnens als »Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum«, wobei sich das Wohnen hier nicht streng auf das eigene Heim bezieht, sondern auf alle Orte und Statten, an denen sich das Individuum gewohnheitsmäßig aufhält, wo es Befriedigung seiner leiblichen Bedürfnisse und die Möglichkeiten zur Verrichtung seines Alltags und seiner Erfordernisse findet.21 Die Schule ist ein solcher Ort, verbringen Angehörige der Schulgemeinschaft doch täglich viele Stunden dort, pflegen soziale Kontakte, essen, ruhen und arbeiten dort. Die Schule, ebenso wie andere Arbeitsstätten, das bei Schmitz als Beispiel angeführte japanische Teehaus oder auch die Kirche, bieten gleichsam eine Bühne, auf der bestimmte Gefühle sich ereignen können und stellen gleichzeitig einen Rahmen und eine Begrenzung dafür her. Schmitz formuliert wie folgt: »Die Räumlichkeit der Gefühle wird daran eindringlich, dass Menschen immer wieder solche Stätten des Wohnens – statt bloßer Unterbringung unter Dach und Fach – bedürfen, um die Gefühle gewissermaßen einzufangen, zu verwalten und zu gestalten.«22 Und weiter: »Wohnen ist ein Verfügen über Atmosphärisches, welchem Verfügen durch eine Umfriedung ein Spielraum gewahrt wird; daher ist die Wohnung ein geschützter Raum, in dem der Mensch dank der filternden Umfriedung in gewissem Maß Gelegenheit hat, sich mit den abgründigen Erregungen zu arrangieren, indem er sie in einer Hinsicht züchtet, in einer anderen dämpft und so im günstigen Fall für ein schonendes, aber auch intensives und nuancenreiches Klima des Gefühls sorgt.«23 Im Klartext und auf die Schule bezogen bedeutet dies, dass die in der Gruppe entstehenden Atmosphären und stimmungsmäßigen Verfasstheiten und Verwerfungen verwaltet werden, dergestalt, dass sie schon allein durch die zeitliche Begrenzung einer Schulstunde sowie durch die räumliche Begrenzung des Klassenzimmers oder Schulgeländes eine Rahmung erfahren und sich außerhalb dieses zeitlichen und räumlichen Rahmens schon merklich entspannen, wenn nicht gar auflösen – zumindest aber verändern – werden.

21 22 23

Vgl. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 318. Ebd., S. 319. Ebd., S. 320.

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Lockert sich das Gefüge, so verändern sich auch die Zentrierungen und Verdichtungen. Eine weitere Strukturierung und Verwaltung ergibt sich aus den äußeren Impulsen durch die Lehrkraft, die zwar selbst Teil des Geschehens und auch Träger*in der Atmosphäre ist, gleichzeitig aber durch die Moderation des Geschehens und das Setzen neuer Aufgaben und Ziele die Atmosphäre zu lenken vermag. Die Schule ist ein Hort eines spezifischen Gefühlslebens, denn nur dort finden sich bestimmte Gruppen mit ihren typischen Zielen und affektiven Gegebenheiten in ihrer besonderen Zusammensetzung. Die Schule ist ein Ort, die durch eine besondere Art der Einrichtung die einen Gefühle und Ziele begünstigen und kultivieren und andere eher¨ ausschließen oder zumindest dämpfen soll.

Ausblick und Schluss Das Ziel dieses Textes war es, das Zusammenspiel des Fühlens in sozialen Kontexten und seiner formalen Rahmung durch die formalen Erfordernisse und Gegebenheiten des Schulalltags aufzuzeigen; dies sollte mithilfe des begrifflichen Instrumentariums dargestellt werden, das Hermann Schmitz in seiner Atmosphärentheorie entwickelt. Diese Theorie konnte im vorliegenden Zusammenhang nur stark verkürzt und vereinfacht dargestellt werden. Hier war es hinreichend, um die Entstehung und die Dynamik affektiver Gruppendynamiken zu beschreiben und auch ihre Kollision mit und die Möglichkeit ihrer Umfriedung durch die formale Struktur anzudeuten. Was bleibt, sind ein paar Überlegungen, wie man diesem Zusammenhang im Schulalltag Rechnung tragen kann, stoßen doch Lehrkräfte und Schüler*innen immer wieder an ihre Grenzen, wenn es darum geht, den formalen Erfordernissen gerecht zu werden, während doch eigentlich stimmungsmäßig gerade etwas ganz anderes im Fokus steht. Vom Vorteil wäre sicherlich mehr Spielraum in Länge und Gestaltung des Unterrichts. Eine freiere Wahl auch schulfremder Orte, Wechsel der Umgebung (wie es an privaten Schulen durchaus praktiziert wird!) sowie Unterricht, der eher Projektbezug hat und damit interdisziplinäres Arbeiten sowie die Ansprache einer größeren Vielzahl von Bedürfnissen und Kompetenzen ermöglicht, würde hier mehr Möglichkeiten der Gefühlskultivierung geben. Auch wäre hier mehr Zeit, Raum und Möglichkeit zur Beziehungsarbeit zwischen Lehrpersonal und Schüler*innen, ganz einfach dadurch, dass man ge-

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meinsam einen komplexeren und vielseitigeren Alltag bewältigen müsste und sich besser und anders kennenlernt, als dies im immer gleichen Rahmen innerhalb des Regelschulalltags der Fall ist. Es ist klar, dass dies nicht flächendeckend umsetzbar und auch nicht für jede*n günstig und machbar ist. Es ist eine Idee, wie der im Verlauf dieses Artikels beschriebenen Dynamik im Idealfall Rechnung getragen werden konnte.

Literatur Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1927. Kammler, Steffen und Kluck, Steffen, »Der Geist einer Zeit und eines Ortes. Anmerkungen zur Bedeutung von Situationen in sozialer Hinsicht.« In: M. Großheim, C. Lagemann, A. Hild, N. Trcka (Hg.): Leib, Ort, Gefühl. Perspektiven der räumlichen Erfahrung. Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2015. Schmitz, Hermann, Der unerschöpfliche Gegenstand, Bouvier Verlag, Bonn 2007. Schmitz, Hermann, Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz. Verlag Karl Alber, Freiburg/München 2016. Trcka, Nina, »Ein Klima der Angst. Über Kollektivität und Geschichtlichkeit von Stimmungen«. In: K. Andermann und U. Eberlein (Hg.): Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie. Akademie Verlag, Berlin 2011.

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Wie lehren, was die Worte übersteigt? Religiöse Gefühle im religionskundlichen Unterricht Petra Lenz

Einleitung/Aufriss Viele Jahre unterrichtete ich das bekenntnisfreie Fach LebensgestaltungEthik-Religionskunde (L-E-R) im Land Brandenburg. Dabei machte ich immer wieder die Erfahrung, dass Schüler*innen desinteressiert, mitunter sehr emotional und abweisend reagierten, wenn es im Unterricht um Religion(en) ging. Herausgefordert durch eigenes biografisches Erleben, setzte ich mich intensiv mit meiner eigenen Religiosität auseinander. Ich studierte und praktizierte über Jahre hinweg den Buddhismus, bevor ich Philosophie studierte und an der Universität zukünftigen Lehrer*innen das fachdidaktische Einmaleins näherbrachte. Dabei stieß ich nicht selten bei Studierenden, wie zuvor bei meinen Schüler*innen, auf Ablehnung, wenn es um die religionskundlichen Anteile des Faches ging. Die Frage, wie Religion(en) im Unterricht zur Sprache gebracht werden könne(n), so dass die Lernenden die Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand als sinn- und wertvoll erleben, beschäftigte mich weiter. Meine Antwort darauf fand ich im Jahre 2009 auf dem Camino Francés.

1.

Erfahrungen sind das Salz in der Suppe »Durch meinen Körper geht ein tiefes Erschaudern: Trauer und friedliche Ruhe erfassen mich zugleich und mit derselben Intensität. Es scheint, als sei jede Zelle in mir in Bewegung geraten und flösse mit gleichbleibender, beständiger Kraft in mich hinein und aus mir heraus. Ich fühle mich mit jedem Atemzug sowohl schwer als auch leicht. Bewegungslos verharre ich auf der alten, hölzernen Kirchenbank, während sich mein Körper in Raum und Zeit

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aufzulösen scheint. Die Atome meines Leibes diffundieren mit den sandigen Wänden der Iglesia San Salvador, verschmelzen mit der Kühle des Raumes, mit den gotischen Fresken, der Malerei am Altarhimmel, den aus Stein gefertigten Tafeln, den Sarkophagen der Sankt-Jakobsritter und den tanzenden Staubpartikeln in den Lichtstrahlen, die durch das kleine Fenster über dem aus granitenen Altaraufsatz fallen und den Raum mit diffuser Helligkeit füllen. Doch da ist noch mehr…. Eine Energie, die den Raum und alles, was in ihm ist, durchwirkt. Nicht zu fassen und nicht zu begreifen, wirkt sie in alles hinein, durch alles hindurch. Ist es das Hostienwunder von O’Cebreiro, welches über seine Darstellung auf dem Retabel wirkt? Ich wische den absurden Gedanken weg und werde zugleich meiner Tränen gewahr, die mir über das Gesicht laufen und auf meiner Wanderhose dunkle Flecke hinterlassen haben. Ein Aufbäumen gegen die Tränen wird von einer unsichtbaren Hand, die sich auf meine Schultern legt, weggewischt. Von tiefem Frieden erfüllt, weine ich.« (Tagebucheintrag der Autorin, 25.September 2009)

Was geschah in Vilar de Donas? Wie lange ich in diesem Zustand verharrte? Ich weiß nicht! Jedoch erinnere ich mich an die unendliche, stille Freude, die mich beim Verlassen der kleinen Kirche in der Gegend von Palas del Rei ergriff. Meine Freundin, die in der brütenden galicischen Sommerhitze auf einer Steinmauer vor der romanischen Kirche saß, brauchte keine Worte, um zu verstehen. Schweigend nahmen wir unsere Rucksäcke und machten uns auf den Weg zur Pilgerherberge. Trotz der fast 30 Kilometer, die an diesem Tage schon hinter uns lagen, schienen meine Füße über den steinigen Weg zu schweben und selbst die Schmerzen im Rücken waren verflogen. Ich fühlte mich erfrischt und getragen. Erst am Abend, als wir nach einem ausgiebigen Menü mit Pilgerfreunden am Feuer saßen und bei einem Glas Rotwein den Tag ausklingen ließen, verflüchtigte sich dieses Gefühl. Die Strapazen der letzten Wochen waren wieder spürbar. Bis Santiago de Compostela waren es noch knapp 70 km. In drei Tagen würde unser Weg dort nach 500 km Pilgerschaft enden. Diese Erfahrung lässt mich bis heute nicht los. Brachte die Erschöpfung meine Biochemie durcheinander? Spielten mir die Endorphine einen Streich? Oder war ich nach den vielen Tagen des Laufens durch die gnadenlose Hitze der Meseta, über steile, felsige Anstiege, durch sanfte, mit Heidekraut bewachsene Hügel, durch Wälder aus Korkbäumen, Esskastanien und Eu-

Wie lehren, was die Worte übersteigt?

kalyptus, durch kleine, verfallene und menschenleere Dörfer, den Gesprächen mit Pilgern aus allen Ecken der Welt und der täglichen Omnipräsenz von Glauben und Religiosität »bereit« für eine Erfahrung von Transzendenz? Die Begegnung mit »kultivierten« Sedimentierungen von Religiosität auf dem Weg waren mannigfaltig, bunt, überbordend und prunkvoll Raum ergreifend, schlicht und unsichtbar, wortlos sprechend in Fresken, Heiligenbildern, Symbolen, Zeichen, sichtbar in Stein gehauen, in prunkvollen Kathedralen und schlichten Kirchlein oder den mannigfaltigen Hinterlassenschaften der Pilger geronnen, die ihrem Glauben Ausdruck gab. Sie durchdrangen mehr oder weniger offensichtlich die flüchtigen Begegnungen auf dem Wege, die kurzen Pausen am Tage und die Gespräche am Abend. Derart »infiziert«, suchte ich in und mit mir und später in der theoretischen Reflexion über dieses Erlebnis nach einer Evidenz, dass es »etwas gibt«, dass »da etwas war«, es zwingend etwas geben musste, was meine und unsere Lebenswelt übersteigt. Dieser Gedanke und die Intuition, dass da »etwas ist«, war mir nicht neu. Schließlich beschäftigte mich diese Frage schon lange Zeit; sie war mir in meinen religionswissenschaftlichen, psychologischen, soziologischen und philosophischen Studien begegnet und nicht zuletzt im Tibetisch Buddhistischen Zentrum in Berlin, welches ich viele Jahre besuchte. Doch vor der Antwort auf die Frage, ob »da etwas ist«, steht die Frage nach der Art der Erfahrung, die mich auf dem Camino überwältigte.

Was war das für eine Erfahrung? Erfahrung, so Aristotels in der Metaphysik, ist ein im Bereich des Vorwissenschaftlichen angesiedeltes »Wissen des Besonderen« und Grundlage aller theoretischen, allgemeinen Erkenntnis. Erfahrungen unterscheiden sich somit kategorial vom Ergebnis der theoretischen Reflexion über sie. Ich selbst habe die geschilderte Erfahrung als eine religiöse oder spirituelle Erfahrung gedeutet. Im akademischen Diskurs ist diese Zuordnung zumindest fraglich, da Konzepte wie Religion oder Religiosität, Glauben, Spiritualität usw. aus bestimmten Begriffsbildungen hervorgehen, die der Theoriebildung verschiedener Forschungsrichtungen unterliegen und jeweils in unterschiedlicher Weise zur Analyse des Untersuchungsgegenstandes, zur Urteilsbildung und Reflexion verwendet werden. Daher sollte »sehr genau unterschieden [werden], auf welcher Ebene man Bezeichnungen wie ›religiös‹ oder ›spirituell‹ verwenden möchte und auf welche Weise

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sie in das analytische Instrumentarium der empirischen Religionsforscher Eingang finden können oder sollten. Wenn man vor allem derartigen Orientierungen und Positionierungen, derartigen Selbstdeutungen und Selbstreflexionen auf der empirischen Ebene nachspüren möchte, so ist es von Vorteil, zunächst auf eine Bestimmung von ›Religiosität‹ oder auch ›Spiritualität‹ auf der analytischen Ebene zu verzichten und stattdessen den ›Sitz im Leben‹ von derartigen Bezeichnungen zu eruieren. Dazu bietet sich auf der analytischen Ebene vor allem das Konzept der Erfahrung an.«1 Die eingangs geschilderte Erfahrung gibt meine subjektive Wahrnehmung, mein Empfinden und Fühlen, mein ganz individuelles Erleben eben jener Situation wider. Sie ist Ausdruck meiner Beziehung zur Welt und anschlussfähig an philosophische Reflektionen über Erfahrungen bei Wilhelm Dilthey oder Hans-Georg Gadamer. Charakterisiert werden Erfahrungen durch das jeweilig subjektive Erwarten, Handeln und Widerfahren. Meine Erfahrung in der Iglesia San Salvador war eingebettet in den Kontext einer Pilgerreise. Die Idee dazu war viele Jahre zuvor entstanden und nicht primär religiös motiviert: Ich hatte mich nicht auf den Weg gemacht, um mein persönliches Heil zu finden, Gottes Geheiß zu folgen oder mich vom Alltag abkehren zu wollen.2 Trotzdem mir meine Gründe bewusst waren und ich mich lange und gründlich vorbereitet hatte, stellte ich mir, nicht zuletzt aufgrund der physischen und psychischen Herausforderungen, die Frage, warum ich mich »auf den Weg« gemacht hatte. Je mehr ich dieser Frage nachsann, umso deutlicher wurde mir bewusst, dass das Ergründen der Existenz eines höheren Selbst, Ultimaten, Numinosen, Gottes oder welche Worte man für eine Entität oder Sphäre auch finden mag, die das Irdische übersteigt, mich mehr beschäftigte, als ich dachte. Doch nun war da diese Erfahrung, der ich nicht ausweichen konnte, und mir wurde bewusst: Ich hatte sie tatsächlich gesucht! Ein Jahr zuvor war ich zum ersten Mal auf dem Camino Francés unterwegs. Wir starteten auf der »klassischen« Route in Saint-Jean-Pied-de-Port. Am dritten Tag, unterwegs in Navarra, würden wir einen kleinen Umweg von drei Kilometern in Kauf nehmen, um die romanische Kirche Santa María de

1 2

Popp-Baier 2008, S. 4. Wer mehr über die Motivation der Jakobspilger erfahren möchte, dem sei der lesenswerte Aufsatz von Jenny Vorpahl über Pilgerberichte der Jakobspilger zwischen Neuzeit und Moderne empfohlen. Siehe dazu Vorpahl 2012.

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Eunate zu besuchen. Unser Pilgerführer3 beschrieb die kleine Kirche als einen Ort mit einer speziellen, übersinnlichen Stimmung. Für den Rundgang sollte man die Wanderstiefel ausziehen und barfuß die Kirche umrunden. So könne man die mysteriöse und spirituelle Kraft, welche den magischen Ort umgebe, besser spüren.4 Derart erwartungsvoll näherten wir uns Eunate. Wir zogen wie geheißen unsere Wanderstiefel aus und liefen auf den kühlen Pflastersteinen um die Kirche. Ich erinnere genau, wie ich bei jedem Schritt, mit jedem Atemzug darauf wartete, dass sich ein erhebendes, tragendes Gefühl einstellen möge, ausgelöst durch überirdische Kräfte. Immerhin gilt die Kirche Santa María de Eunate vielen Menschen neben Notre Dame und dem Taj Mahal als irdischer Kraftort. Jedoch – es geschah nichts dergleichen. Später näherte ich mich mit ähnlichen Erwartungen den Kathedralen in Astorga, Borgos, León und vielen anderen Orten. Doch das, was ich erleben und erfühlen wollte, stellte sich nicht ein. Selbst beim Höhepunkt der Pilgerschaft, im überfüllten Pilgergottesdienst in der Kathedrale von Santiago de Compostela, umringt von Pilgern mit erschöpften und dennoch überglücklichen Gesichtern, beeindruckt vom Porta de la Gloria (Glorientor), der Puerta Santa (heiligen Pforte) und all dem, was es im prunkvollen, vom Weihrauchduft des Botafumeiro erfüllten Innenraum der Kathedrale zu sehen gab und dem Wissen darum, dass die Gebeine des Apostels Jakobus angeblich in der Krypta lägen, wartete ich vergeblich auf ein übersinnliches Überwältigtsein. Meine Erwartungen wurden an diesen Orten »enttäuscht«. In Santiago de Compostela lag das überwältigende Erlebnis in der Iglesia San Salvador in Vilar de Donas hinter mir. Es hatte mich etwas auf besondere, eindrückliche Weise gelehrt, was ich längst wusste und nun auf andere, leibliche Weise verstanden hatte: Erfahrungen sind nicht planbar! Ich hatte verstanden, dass meine Erfahrungen Widerfahrnisse sind, die im Zusammenhang zu meinen ganz persönlichen Wissensbeständen, Bedürfnissen, Wünschen, Ängsten und Hoffnungen stehen. Erfahrungen sind immer die meinen: Abhängig von meinem Lebenskontext, meiner Biografie, meinem »Ich«, dass ICH bin, in seiner ganz individuellen Stellung zur Welt. Im Nachhinein bedürfen diese Erfahrungen der Interpretation und Reflexion.

3

4

Mit Pilgerführer ist ein kleines, gedrucktes Büchlein gemeint, das in die Hosentasche passt und im Rucksack leicht zu verstauen ist. Es beschreibt vorgeschlagene Etappen des Weges, gibt Auskünfte zu Pilgerherbergen und deren Ausstattung, Einkaufsmöglichkeiten und Sehenswürdigkeiten. Vgl. Joos & Kasper 2009, S. 88.

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Für Hans-Georg Gadamer, für den Erfahrung ein Geschehen ist, »das widerfährt, indem es dem gegenwärtigen Bewußtsein das Überlieferte als seine Wahrheit zuspielt«,5 gehört der Erfahrungsbegriff zu den »unaufgeklärtesten Begriffen [.], die wir besitzen«.6 Als Grund führt er an, dass der ursprüngliche Gehalt des Begriffs in seiner Verwendung durch dessen exponierten Gebrauch in den Naturwissenschaften und deren erkenntnistheoretischen Methoden verkürzt wird. Die auf wissenschaftliche Objektivität ausgerichtete Theorie der Erfahrung vernachlässige deren innere Geschichtlichkeit, so Gadamer.7 Als das allgemeinste Wesen von Erfahrung charakterisiert Gadamer den Fakt, dass eine Erfahrung so lange Gültigkeit besitzt, wie sie nicht widerlegt wird.8 Die Erfahrung, die »man macht«, versteht er als die eigentliche Erfahrung, die immer eine negative ist. »Wenn wir an einem Gegenstand eine Erfahrung machen, so heißt das, daß wir die Dinge bisher nicht richtig gesehen haben und nun besser wissen, wie es damit steht. Die Negativität der Erfahrung hat also einen eigentümlich produktiven Sinn. Sie ist nicht einfach eine Täuschung, die durchschaut wird und insofern eine Berechtigung, sondern ein weitgreifendes Wissen, das erworben wird. Es kann also nicht ein beliebig aufgelesener Gegenstand sein, an dem man eine Erfahrung macht, sondern er muß so sein, daß man an ihm ein besseres Wissen nicht nur über ihn, sondern über das, was man vorher zu wissen meinte, also über ein Allgemeineres gewinnt.«9 Gadamer nennt die Art der Erfahrung, die eine solche Negation leistet, eine dialektische Erfahrung. Wie Gadamer betont Luhmann die Passivität des Erfahrungsprozesses: »Erfahrung ist überraschende Information, […]. Erfahrung ist nie das reine, unmodifizierte Eintreffen des Erwarteten – wenn ich die Treppe hinuntergehe, ist das keine Erfahrung, daß die Treppe noch da ist –, sondern nur die informative Modifikation des Erwarteten in einzelnen Hinsichten. Daher kann Erfahrung die sinngebenden, Erfahrungsmöglichkeiten eröffnenden Erwartungsstrukturen nie direkt, sondern nur indirekt, durch Nichtmodifikation,

5 6 7 8 9

Figal 2007, S. 4. Gadamer 1990, S. 352. Vgl. ebd., S. 352. Vgl. ebd., S. 358. Ebd., S. 359.

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bestätigen. Erfahrung ist eine laufende Rekonstruktion der sinnhaft konstituierten Wirklichkeit durch Abarbeitung von Enttäuschungen, durch normalisierende Verarbeitung von Information.«10 Mit Bezug auf Hegel argumentiert Gadamer weiter, dass Erfahrung selbst nie Wissenschaft sein kann. »Sie steht in einem unaufhebbaren Gegensatz zum Wissen und zu derjenigen Belehrung, die aus theoretischem oder technischem Allgemeinwissen fließt. Die Wahrheit der Erfahrung enthält stets den Bezug auf neue Erfahrungen. […] Die Dialektik der Erfahrung hat ihre Vollendung nicht in einem abschließenden Wissen, sondern in jener Offenheit für Erfahrung, die durch Erfahrung selbst freigespielt wird.«11 Als drittes Moment einer Erfahrung arbeite Gadamer das der Endlichkeit heraus. »An ihr findet das Machenkönnen und das Selbstbewußtsein seiner planenden Vernunft seine Grenze. Es erweist sich als bloßer Schein, daß sich alles rückgängig machen läßt, daß immer für alles Zeit ist und alles irgendwann wiederkehrt. Der in der Geschichte Stehende und Handelnde macht vielmehr ständig die Erfahrung, daß nichts wiederkehrt. Anerkennen dessen, was ist, meint hier nicht: Erkennen dessen, was einmal da ist, sondern Einsicht in die Grenzen, innerhalb deren Zukunft für Erwartung und Planung endlicher Wesen eine endliche und begrenzte ist. Eigentliche Erfahrung ist somit Erfahrung der eigenen Geschichtlichkeit.«12

War da (wirklich) was – oder doch nichts? Menschen, denen eine solche Erfahrung wie die eingangs geschilderte widerfährt, erleben diese als real. Sie müssen selbige nicht von einer Wissenschaft bestätigt wissen: »Es ist, als gäbe es im menschlichen Bewußtsein ein Empfinden von Realität, ein Gefühl von objektiver Gegenwart, von ›da ist etwas‹ – eine Wahrnehmung, die tiefer und allgemeiner reicht als irgendeiner der besonderen ›Sinne‹, denen die gängige Psychologie das ursprüngliche Entdecken realer 10 11 12

Habermas & Luhmann 1990, S. 41f. Kursivstellung im Original. Gadamer 1990, S. 361. Ebd., S. 363.

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Existenz zuspricht. Ist dies aber so, dann dürfen wir annehmen, daß die Sinne unsere Einstellungen und unsere Verhaltensweisen normalerweise dadurch prägen, daß sie zuerst dieses Realitätsempfinden erregen; und alles andere, beispielsweise eine Idee, die dieses Empfinden in ähnlicher Weise erregt, hätte dasselbe Privileg, das normalerweise die Sinnesobjekte besitzen, nämlich real zu sein. Insofern religiöse Vorstellungen in der Lage sind, an dieses Realitätsempfinden zu rühren, müßte man trotz aller Bedenken an sie glauben, selbst wenn sie so vage und unerreichbar wären, daß man sich fast nichts unter ihnen vorstellen kann; selbst wenn sie, was ihr Was-Sein angeht, Nicht-Seiendes wären.«13 Dieses »Gefühl von objektiver Gegenwart« ist eine andere Art Realität als die verdinglichten religiösen Objekte, wie sie der Pilger unterwegs in Stein gehauen, bildlich dargestellt oder schriftlich fixiert vorfindet. Mit Platons Ideenlehre, die auch James als Referenz dient, kann dieses »Gefühl von objektiver Gegenwart« als die wirkliche, ewige, unveränderliche und vollkommene Idee des Religiösen »an sich« verstanden werden; als Teil der wirklichen, jenseitigen Welt, deren Realpräsenz im hiesigen »Schattenreich« die religiösen Artefakte sind.14 Sie liegen sozusagen an der Oberfläche menschlicher Wahrnehmungen, was William James zu der Aussage veranlasst, »daß der Teil des Lebens, den der Rationalismus erfaßt, relativ oberflächlich ist«.15 Die Versuche der Wissenschaft, derartige Erlebnisse und Erfahrungen aus dem Bereich der Objektivität oder Wahrheit auszugrenzen, weist James zurück und stellt die berechtigte Frage, warum nur die Wissenschaften den wahren und richtigen Zugang zur Welt besitzen sollten. Vielmehr scheint es James plausibel, dass die Welt aus unterschiedlichen Realitätssphären bestehen könnte, in denen wir Begriffe auf verschiedene Art und Weise benutzen und unterschiedliche Haltungen einnehmen.16 Die Aberkennung oder auch Abwertung der Möglichkeit verschiedener Realitätssphären erklärt den Verweis derartiger Erfahrungen in das Reich der Mythen, psychischer Abnormalitäten und Pathologien. Umgekehrt scheint eine Haltung zur Anerkennung möglicher Wahrheiten außerhalb oder neben der mit den Methoden der objektiven Na-

13 14 15 16

James 2014, S. 89f. Kursivstellung in Original. Vgl. Platon 2000, 7. Buch 532a. James 2014, S. 105. Mit der Frage, ob die Philosophie den Wahrheitsnachweis menschlichen Göttlichkeitsempfindens leisten kann, setzt sich James ab. S. 425 auseinander. Vgl. ebd., S. 150f.

Wie lehren, was die Worte übersteigt?

turwissenschaften zugänglichen Welterkenntnis eine entscheidende Voraussetzung, bestimmten Erfahrungen einen religiösen Gehalt zuzusprechen. Um meiner Selbstdeutung der geschilderten Erfahrung als »religiös« oder »spirituell« eine gewisse Evidenz zu verleihen, führt so eine erste Spurensuche in die Psychologie, gleichwohl zuvorderst die Philosophie oder Phänomenologie als für die Antwortsuche prädestiniert erscheinen mögen. Für einen Psychologen, so James, »sollten die religiösen Neigungen des Menschen mindestens ebenso interessant sein wie alles andere, was zu seiner geistigen Verfassung gehört«.17 Um einer psychologischen Untersuchung gerecht zu werden, fokussiert sich James auf »religiöse Gefühle und Antriebe«18 und damit auf das Individuelle der Erfahrung, die persönliche Religion. Vom institutionellen Bereich, kirchlicher Organisation, systematischer Theologie und deren Gottesbegriffen und Ritualen, sieht er in seiner Untersuchung ab. Unter der Prämisse, dass es so etwas wie eine religiöse Erfahrung gibt, nimmt er die mannigfaltigen Selbstauskünfte über religiöse Erfahrungen deskriptiv-hermeneutisch in den Blick, wie sie in religiösen Schriften und Autobiographien zu finden sind. Wie der Religionsbegriff selbst äquivok ist, sind auch religiöse Empfindungen eine »Sammelbezeichnung für die vielen Gefühle […], die wechselnde religöse Objekte auslösen können«.19 Religiöse Empfindungen sind damit, so James, nichts Eigenständiges: Religiöse Liebe, Furcht oder Ehrfurcht sind nichts Spezifisches, sondern lediglich Ausdruck des natürlichen menschlichen Gefühls der Liebe, Furcht oder Ehrfurcht. »Als konkrete Geisteszustände, die durch das Gefühl plus einer spezifischen Art von Objekten zustande kommen, sind religiöse Emotionen natürlich psy17

18 19

Ebd., S. 38. Auch Hans Joas formuliert: »Nicht bei der Geschichte der Religion durch alle Zeiten und Kulturen hindurch, sondern bei den in jeder Gegenwart und Kultur möglichen, die Menschen überwältigenden oder tiefgreifenden Erfahrungen, die unter Umständen als »religiöse« Erfahrungen bezeichnet werden, setzt ein anderer Versuch ein, sich dem Phänomen des Religiösen zu nähern und es zum Gegenstand wissenschaftlicher Analysen zu machen: die Religionspsychologie.« (Joas 2017, S. 61). Der niederländische Professor für Religionspsychologie Jacob A. van Belzen wendet dagegen ein, dass sich die Psychologie mit ihren originärem Gegenstandsbereich beschäftigen solle, zu welchem die Frage der »religiösen Erfahrung« eher nicht gehöre. Jedoch begründe gerade diese Frage die Existenz der Religionspsychologie, in welcher es »um die Anwendung von psychologischen Einsichten und Forschungsmöglichkeiten auf ein spezifisches Gebiet« (van Belzen 2004, S. 42) gehe. James 2014, S. 38. Ebd., S. 60.

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chische Daseinsformen, die von anderen konkreten Emotionen unterschieden werden können; aber es gibt keinen Grund für die Annahme, es existiere eine einfache abstrakte ›religiöse Emotion‹ als eine eigenständige elementare Gemütsbewegung, die ausnahmslos in jeder religiösen Erfahrung gegenwärtig wäre.«20 In diesem Sinne versteht James unter Religion die »Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen in ihrer Abgeschiedenheit, die von sich selbst glauben, daß sie in Beziehung zum Göttlichen stehen«.21 Die eingangs geschilderten Emotionen können mit James als religiöse Emotionen im Kontext des Pilgerns und dem Besuch der Iglesia San Salvador gedeutet werden. Offenbar war dort »etwas« anwesend, das für mich den Wert bzw. das Wesen der religiösen Erfahrung ausmacht: Ein Element oder eine Qualität, die an keinem anderen Ort anzutreffen ist und in mir diese intensive Erfahrung auslöste. Für den geschilderten Bewusstseinszustand, »in dem an die Stelle unseres Selbstbestätigungs- und Selbstbehauptungswillens die Bereitschaft tritt, zu verstummen und zu einem Nichts zu werden in den Fluten und Orkanen Gottes«22 bedurfte es keiner eigenen Willensanstrengung. Dieser glückliche, feierliche, entspannte Zustand der Verzauberung und reiner Gegenwartspräsenz, diese Sphäre der Kraft und der zusätzlichen Dimension des Gefühls, dieses Geschenk und Glück, so James, findet sich nur in den Religionen und ist nicht jedem Menschen zugänglich.23 Warum jedoch machen einige Menschen derartige psycho-physische Erfahrung und andere nicht? Eine erste Antwort darauf könnte lauten, dass manche Menschen »empfänglicher« für die Signale religiöser Objekte sind als andere. Doch was »macht« Menschen religiös sensibel und gibt es überhaupt derartige »religiöse Objekte«? Schließlich können wir erst dann, wenn es überhaupt religiöse Objekte gibt, diese als Verursacher religiöser Sensibilität oder religiöser Gefühle etikettieren. Noch einmal nach Vilar de Donas in die Iglesia San Salvador: Um angemessen zu beschreiben, was ich dort erlebte, fehlten mir die Worte. Es gab keine Abstraktion auf intellektueller Ebene, deren Mitteilung einer anderen Person auch nur annähernd mein Erleben hätte verständlich machen können. Sie hätte meine Gefühle fühlen müssen, um zu verstehen. Meine Freundin, 20 21 22 23

Ebd. Kursivstellung im Original. Ebd., S. 63f. Ebd., S. 79. Vgl. ebd., S. 77f.

Wie lehren, was die Worte übersteigt?

die mit mir gemeinsam auf Pilgerschaft war, kannte solche Erfahrungen, weshalb es keiner Worte zwischen uns bedurfte. Anderen gegenüber zog ich es später vor zu schweigen. Versuche, das Erlebnis verbal mitzuteilen, waren immer wieder gescheitert. Es war, als existiere eine Kommunikationsbarriere; als wäre das, was es zu kommunizieren gäbe, nicht anschlussfähig; als fehle das resonanzerzeugende Medium. Ich fühlte mich von einer höheren Macht durchdrungen, ergriffen und gehalten. Ich selbst war damals willenlos dem Wirken dieser Kraft ausgesetzt. Dieser bis zum Abend andauernde Zustand hinterließ in mir die Einsicht in das Wirken einer Macht, deren Wahrheitsgehalt keinen Zweifel zuließ, gleichwohl er die Grenzen meines Verstandes überstieg. Bei James, der derartige unaussprechbare, passive und flüchtige Erfahrungen noetischer Qualität mystische Erfahrungen nennt und in diesen die Wurzel und das Zentrum mystischer Bewusstseinszustände verortet,24 finden sich sogleich Begründungen dafür, warum Andere diese oft belächeln oder nicht verstehen (wollen). Das mystische Bewusstsein ist für James »im großen und ganzen pantheistisch und optimistisch oder zumindest das Gegenteil von pessimistisch. Es ist antinaturalistisch und harmoniert aufs beste mit der Zweimalgeborenen-Mentalität und den überweltlichen Geistesverfassungen«.25 Auf einer bestimmten Entwicklungsstufe genießen sie für Individuen, die derartige Erfahrungen machen, eine hohe Autorität. Für Außenstehende jedoch nicht. Daher besteht für Menschen, denen solche Erfahrungen nicht zuteilwerden, kein Anlass, diese Offenbarungen anzunehmen. Das mystische Bewusstsein stellt nicht nur eine Herausforderung für das rationale Denken dar, sondern bricht mit diesem und eröffnet die Möglichkeit einer anderen Wahrheit.26 Dieser Gedanke bietet einen Schlüssel für meine Antwortsuche auf die Frage, wie es gelingen kann, dass Schüler*innen und Studierende die Auseinandersetzung mit dem Gegenstand Religion als sinn- und wertvoll erleben und nicht mit Desinteresse oder abwertend reagieren. Setzen wir voraus, dass sich das Desinteresse und die Abwehr nicht auf institutionelle Bedingungen von Schule und Bildung richtet und nicht auf der Beziehungsebene zur Lehrperson angesiedelt ist, bleibt die Herausforderung des mystischen Bewusstseins für das rationale Denken als Grund für die geschilderten Reaktionen.

24 25 26

Vgl. ebd., S. 383ff. Ebd., S. 418. Vgl. ebd., S. 418.

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Die gewöhnliche Verwendung des Begriffs der Rationalität für Handeln, Verstehen und Erkennen setzt in der analytischen Philosophie Intentionalität voraus. Handlungen sind genau dann rational, wenn sie in Beziehung zu den rationalen Meinungen und Wünschen der handelnden Akteure stehen. Wir sprechen Handlungen, Wünschen und Normen zu, rational zu sein, wenn sie wohlbegründet sind. Anderenfalls gelten sie als irrational.27 Unser Verständnis der Begriffe Rationalität und Rationalismus wurde maßgeblich von Max Weber geprägt, wie er sie in seinen Vorarbeiten zur im Jahre 1904/05 publizierten Studie Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus analysierte. Zunächst verstand Weber unter Rationalisierung ein Ordnen und Systematisieren von Elementen nach bestimmten Kriterien, später arbeitete die Unterscheidung des Begriffs als Prozess und dessen Ergebnis heraus. Im Weberschen Begriffsverständnis ist die Rationalität des einzelnen Individuums ohne Rückbindung an den Rationalismus der Epoche nicht zu denken. Sie führt im Laufe der Geschichte zur Rationalisierung der Institutionen, so auch des Bildungswesens. Die zentrale Herausforderung für eine Bildung, die Religion(en) zum Gegenstand des Lernens macht, besteht dann in einer kulturbestimmenden Rationalität als »ein spezifischer Typus des menschlichen Denkens in der Form einer kausallogischen, möglichst linear-zielführenden Zweck-Mittel-Relation, in welcher ein Objekt unter dem Zweck der Nutzbarmachung mit den Mitteln der Kalkulation gedanklich und/oder praktisch bearbeitet wird. Anders als die primäre aisthetische Wahrnehmung, die ihren Gegenstand in dessen sinnlich-emotionalen Anmutungsqualitäten aufnimmt, abstrahiert die Rationalität davon und fokussiert das Objekt auf dessen berechenbare Quantitäten. Das sind in der Wissenschaft skalierte Messwerte, in der ökonomischen Rationalität taxierbare Geldwerte, in den anwendungsbezogenen Techniken beherrschbare Mittel zur effektiven Handhabung von Objekten«.28 Die Sozialisation in eine derartig durchrationalisierte Lebenswelt macht die Annahme plausibel, dass sich die Ablehnung und das Desinteresse die Schüler*innen bei der Begegnung mit dem Unterrichtsgegenstand Religion(en) auf die ihnen fremde, andersartige Rationalität richtet, der sie vor-urteilsbehaftet gegenübertreten. Wenn die Wissenschaften, welche die Wissensgegenstände der Unterrichtsinhalte bereitstellen, ihren Untersuchungsobjekten 27 28

Vgl. Gosepath 1992, Spalte 62f. Vietta 2012, S. 13 (im Original gesamtes Zitat in Kursivstellung).

Wie lehren, was die Worte übersteigt?

nicht voraussetzungs- und damit vorurteilsfrei entgegentreten und Denkweisen, die andersartigen Rationalitäten unterliegen, abwerten, ist es nicht verwunderlich, wenn Wahrnehmungen, die in uns eine »lebhafte Resonanz«29 auslösen, aber nicht mit der gängigen Rationalität erklärbar sind, auf Ablehnung stoßen. Wenn der Soziologe Hartmut Rosa Resonanz als antwortgebende Weltbeziehung beschreibt, die ermöglicht wird, »wo starke Wertungen berührt werden«, wenn »beide Seiten mit eigener Stimme sprechen«,30 erklärt dies die fehlende Resonanz der Schüler*innen zum Gegenstand Religion(en).31 Ausgestattet mit kognitiven Landkarten, die durch unser kulturelles Weltbild32 geprägt sind, ist möglicherweise ihre »Stimmgabel« nicht in Resonanz mit diesem Unterrichtsgegenstand zu bringen. Wenn wir aber mit Hartmut Rosa davon ausgehen, dass Subjekte »auf Resonanzerfahrung hin angelegt sind, so können sie darauf hoffen, als ›zweite Stimmgabel‹ von etwas Begegnendem zum Klingen gebracht zu werden – oder aber im Sinne der ›ersten Stimmgabel‹ so lange zu suchen, bis sie ,Widerhall‹ finden«.33 Dem Verstehen, dass Menschen, die an ein höheres Wesen, einen Gott oder eine transzendente Kraft glauben und ihre Sinnsetzung im Leben daran binden, geht die Öffnung für Resonanzbeziehungen voraus. So wird es möglich, biografische Resonanzerfahrungen wie die eingangs geschilderte als Geschenk zu interpretieren, welches sich als Widerfahrnis ereignet. Das Ergebnis der Resonanz bleibt, wie das Ereignis selbst, unverfügbar und offen.34 Um den Blick der Schüler*innen für »eine größere und umfassender Welt«35 weiten zu können, ist es nötig, hinter die rational-abstrakte Weltsicht zurücktreten und den Fokus auf den biologischen Ursprung der menschlichen Kultur zu richten: Das Gefühl.36 Meine eigenen, frühesten Erinnerungen an die Frage nach dem Ultimaten reichen bis in meine Kindheit zurück. Später tauchte sie immer wieder 29 30 31 32 33 34 35 36

James 2014, S. 418. Rosa 2016, S. 298. Den fehlenden Resonanzraum ostdeutscher Schüler*innen für Religionen resümiert auch Kenngott 2013, S. 29. Vgl. Rosa 2016, S. 215ff. Ebd., S. 212. Vgl. Rosa 2018, S. 67f. James 2014, S. 422. Antonio Damasio, einer der einflussreichsten Neurowissenschaftler unserer Zeit, entfaltet diesen Gedanken in seinem Buch Am Anfang war das Gefühl. Siehe dazu Damasio 2017.

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auf, angeregt durch persönliche Gespräche, darstellende Kunst, akademische Exkurse und nicht zuletzt biografisch-existentielle Erfahrungen. Die Antworten, die ich darauf »in mir« fand, waren in verschiedenen Lebensabschnitten unterschiedlich: Oft zweifelnd, dann wieder bestätigend und oft sich widersprechend, resultierend aus dem, was ich mit mir erlebte, wahrnahm und fühlte und dem, wie sich mein Wissen und Denken dazu positionierten. Verstand und Gefühl stritten um die »richtige« Antwort. Mit James könnte man dieses Ringen um »Wahrheit« als Ausdruck der Zwiespältigkeit des menschlichen Wesens deuten, welches der religiösen Erfahrung zugrunde liegt.37 Nun ist es äußerst vorteilhaft, ein Gehirn zu besitzen. Es ist umso unentbehrlicher, je komplexer die Umweltansprüche an den Organismus werden. Doch je mehr wir uns in die Tiefen des Bewusstseins begeben, weg von den höheren Denkprozessen, hin zu Gefühlen, Emotionen und basalen Lebensregulationen, umso weniger wird es benötigt. Die Grundmechanismen des (Über-)Lebens funktionieren automatisch. Wir benötigen kein Denken, um unseren Energiehaushalt zu regulieren, unsere abgestorbenen Körperzellen zu ersetzen oder unser inneres chemisches Gleichgewicht aufrecht zu erhalten.38 Um den Blick auf Religion(en) zu weitern, müssen wir akzeptieren, dass unser Verstand »nicht alles« ist und (nicht nur religiöses) Lernen mit tieferen Bewusstseinsebenen zu tun hat. Wollen wir das, worum es bei Religion(en) im Kern geht, nicht vernachlässigen, gilt es diese, im Laufe der Evolution ausgefeilten Mechanismen, genauer in den Blick zu nehmen.

2.

Den Blick auf Religion(en) weiten

Der Neurobiologe Damasio würdigt die Beschreibung des Prozesshaften der Gefühle bei James und kritisiert die Vernachlässigung der intellektuellen Bewertung der das Gefühl verursachenden Situation.39 Damasio beschreibt Gefühle als »die Wahrnehmung eines bestimmten Körperzustandes in Verbindung mit der Wahrnehmung einer bestimmten Art zu denken und solcher Gedanken, die sich mit bestimmten Themen beschäftigen. Gefühle entstehen, wenn die bloße Akkumulation kartierter Einzeldaten ein bestimmtes Stadi-

37 38 39

Vgl. James 2014, S. 127f. Vgl. Damasio 2018, S. 41. Vgl. Damasio 2006, insbesondere S. 181. Siehe auch Damsio 2018, S. 107.

Wie lehren, was die Worte übersteigt?

um erreicht«.40 Der menschliche Körper mit seinen vielen Teilen, die permanent in einer Anzahl von Hirnstrukturen ihre Abbildung finden, bilden den Ursprung der Wahrnehmungen, die den Kern des Gefühls ausmachen. Diese Leseweise ermöglicht ein Verständnis meines eingangs geschilderten Überwältigtseins in der Iglesia San Salvador als Resultat meiner biografischen Erfahrungen mit Religio(en) und den langjährigen Reflexionen über sie. Meine im Körper kartierten Körperzustände bildeten die Inhalte dieser Wahrnehmungen. Oder, um es kürzer auszudrücken: Gefühle sind im Wesentlichen Vorstellungen des Inneren eines Körpers unter bestimmten Umständen.41 Im konkreten Beispiel unter den Bedingungen einer mehrwöchigen, mental und physisch herausfordernden, Pilgerreise. Wenn im Unterschied zu anderen, visuellen Wahrnehmungen, »die Objekte und Ereignisse, die den Vorgang auslösen, innerhalb des Körpers und nicht außerhalb seiner Grenzen«42 anzusiedeln sind, war mein Körper, mein ICH, bereit für diese Erfahrung. Mein Gehirn konnte aus diesem Grunde direkt auf das auslösende Objekt reagieren, welches in mir angelegt bzw. kartiert war. Während sich dieses gefühlsauslösende Objekt während des (Nach-)Denkens darüber selbst nicht veränderte, veränderte es sich jedoch während des Gefühls so, als würde es eine andere Farbe annehmen.43 Wie meine Gedanken, blieben auch meine Gefühle für andere verborgen. Niemand, der mir in und außerhalb der kleinen Kirche begegnete, konnte sie erkennen. Als »das persönliche Eigentum des Organismus, in dessen Gehirn sie sich abspielen«,44 waren und sind sie meine privaten, nicht sichtbaren Gefühle, die auf der Bühne des Geistes auftreten. Dass jedoch »etwas« mit mir geschehen war, blieb meiner Freundin nicht verborgen. Ganz offensichtlich sandte ich auf der Körperebene Signale aus, die sie davon in Kenntnis setzen. Dem weltweit führende Mimikforscher und Psychologen Paul Ekman zufolge, ist es das charakteristische Merkmale von Emotionen, dass sie ein Signal aufweisen, das andere davon in Kenntnis setzt, dass mit uns etwas geschieht. Dies unterscheidet sie von Gedanken und Vorstellungen. Sie ereignen sich unbewusst und automatisch in Sekundenschnelle, sind von kurzer Dauer und gehen mit Empfindungen einher.45

40 41 42 43 44 45

Damasio 2018, S. 104. Vgl. ebd., S. 101 – 110. Ebd., S. 110. Vgl. ebd., S. 110ff. Ebd., S. 38. Vgl. Dalai Lama & Ekman 2011, S. 48ff.

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Unter dem »Mikroskop der kognitiven Neurowissenschaften«46 versteht Damasio Emotionen analog zu Ekman als öffentlich sichtbare Akte oder Bewegungen, die eng mit Gefühlen verknüpft sind und unbewusst entstehen. Sie tragen als Teil der automatisch ablaufenden, grundlegenden homöostatischen Mechanismen zur Steuerung menschlichen Lebens bei und auf höherer Ebene auch zu Gefühlen. Als »komplexer Ablauf chemischer und neuraler Reaktionen«47 entstanden evolutionär zuerst die aus einfachen Reaktionen bestehenden und für das Überleben des Organismus sorgenden Emotionen (bspw. Freude, Traurigkeit, Scham, Mitgefühl, Furcht und Stolz) und erst dann die Gefühle. Sie werden vom Gehirn erzeugt, »wenn es einen emotional besetzten Stimulus (EBS) entdeckt, ein Objekt oder Ereignis, dessen Gegenwart – entweder konkret oder in Erinnerung – die Emotion auslöst.«48 Mein Erschaudern in der Iglesia San Salvador, mein Ergriffensein, das energetische Durchflutetsein und meine Ruhe waren etwas anderes als eine Stimmung, wenngleich die Grenze fließend ist. Meine Freundin konnte dieses emotionale Ergriffensein »lesen«, auch wenn es nicht offensichtlich war. Damasio stellt sich solche Hintergrundemotionen »als ein weitgehend unvorhersagbares Ergebnis mehrerer gleichzeitig ablaufender Regulationsprozesse auf dem riesigen Spielfeld vor, den unser Organismus darstellt. Dazu gehören Anpassungsprozesse des Stoffwechsels, hervorgerufen durch irgendein inneres Bedürfnis, das auf seine Befriedigung wartet oder gerade gestillt worden ist, oder durch irgendeine äußere Situation erst eingeschätzt und auf die dann mit anderen Emotionen, Antrieben oder geistigen Prozessen reagiert wird.«49 Mein nonverbales Ausdrucksverhalten hingegen machten meine Überraschung und mein Glück sichtbar. »Emotionen sind nun einmal keine Privatangelegenheit«.50 Wie andere primäre Emotionen51 zeigen sie sich 46 47 48 49 50 51

Damasio 2018, S. 38. Ebd., S. 67. Ebd., S. 67. Ebd., S. 56f. Ekman 2010, S. 74. Primäre Gefühle nennt Damasio die angeborenen, präorganisierten oder auch »Jamessche Gefühle«, die auf den Schaltkreisen des limbischen Systems, insbesondere der Amygdala, beruhen (vgl. Damasio 2006, S. 186). Die sekundären Gefühle folgen auf die primären Gefühle im Rahmen der individuellen Entwicklung. Sie treten auf, »sobald wir Empfindungen haben und systematische Verknüpfungen zwischen Kate-

Wie lehren, was die Worte übersteigt?

bei Menschen aller Kulturen im Gesicht, in der Stimme und in Verhaltensweisen.52 Manche Bestandteile dieser Prozesse lassen sich nur durch wissenschaftliche Methoden wie die Messung von Blutdruck, Puls, Hauttemperatur, Hormontests oder die elektrophysiologische Messung von Hirnwellenmustern nachweisen.53 Emotionen54 dienen der Regulation der Lebensvorgänge: Sie schützen uns bspw. direkt vor Gefahren oder helfen uns indirekt beim Anbahnen oder der Pflege sozialer Beziehungen.55 Sehr wahrscheinlich hat die Fähigkeit zu sozialen Emotionen wie Mitgefühl, Verlegenheit, Scham, Schuld, Bewunderung, Entrüstung oder Verachtung56 bei der Herausbildung komplexer kultureller Mechanismen zur Steuerung des Sozialverhaltens eine Rolle gespielt. Der Gedanke, »dass beim Menschen einige emotionale Reaktionen sozialer Art hervorgerufen werden, ohne dass der die Reaktion auslösende Reiz für den Reagierenden und eventuelle Beobachter unmittelbar ersichtlich wäre«,57 ist für unsere Fragestellung, wie Religion(en) als Unterrichtsgegenstand zur Sprache gebracht werden können, von besonderem Interesse. Religiös motiviertes Handeln, Mitgefühl, Achtsamkeit oder christliche Nächstenliebe sind Perspektiven eines Unterrichts über Religion(en). Eine

52 53

54 55 56 57

gorien von Objekten und Situationen auf der einen Seite und primären Gefühlen auf der anderen Seite herstellen.« (Damasio 2006, S. 187). Am häufigsten werden Furcht, Ekel, Wut, Überraschung, Traurigkeit und Glück als primäre Emotionen genannt (vgl. Damasio 2018, S. 57). Vgl. Ekman 2010. Vgl. Damasio 2018, S. 38ff. Insbesondere in unserem Kontext interessant sind die Studien mit dem buddhistischen Mönch Matthieu Ricard. Erstmals begegnete er mir vor ca. 15 Jahren im Dialog mit seinem Vater Jean-Francois Revel, einem Agnostiker und international anerkannten Philosophen (vgl. Revel & Ricard 2003). Der bekannte Emotionsforscher Paul Ekman führte später gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern Studien mit Matthieu Ricard durch, um den Zusammenhang von vegetativen, subjektiven und verhaltensbezogenen Aspekten von Emotionen besser zu erforschen (vgl. Ekman et al. 1983, Levenson et al. 1990, Ekman & Davidson, 1993). Paul Ekman bezieht sich in seinem Gespräch mit dem Dalai Lama über Emotionale Achtsamkeit immer wieder auf diese Studien (vgl. Dalai Lama & Ekman, 2011). Zu den eigentlichen Emotionen zählen Ekel, Furcht, Glück, Trauer, Mitgefühl und Scham. Vgl. Damasio 2018, S. 51. Vgl. ebd., S. 58. Ebd., S. 61.

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Vernachlässigung der Aufmerksamkeit darauf, dass Schüler*innen den Reizauslöser dieser emotional getriggerten Verhaltensweisen möglicherweise nicht erkennen oder nachvollziehen können, hat zur Folge, dass der Unterricht seine intendierte Lern-Wirkung nicht entfalten kann, weil bestehendes Desinteresse nicht aufgelöst und schlimmstenfalls Abneigungen verstärkt werden. Auch wenn unter unseren modernen Lebensbedingungen einige menschliche Emotionen ungewöhnlich oder manchem auch unpassend erscheinen mögen, ist ihre Vorteilhaftigkeit für die Regulation der Lebensvorgänge im Verlauf der Evolution nicht in Frage zu stellen.58 Mitgefühl und Mitleid sind zwei für den Aufbau einer Gemeinschaft unverzichtbare Eigenschaften.59 Gerade hier liegt ein Argument der unterrichtlichen Würdigung des (historischen und gegenwärtigen) Beitrags religiös motivierten Handelns für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Kulturpsychologen wie Vygotsky60 haben darauf verwiesen, dass psychische Funktionen doppelt entstehen: Zunächst kulturell und dann individuell. »Alles Erkennen, Erfahren, Handeln, Wünschen und Phantasieren kann nur aus historischkultureller Gegebenheit und Vermittlung begriffen werden«.61 Somit werden Emotionen von Überzeugungen, Bewertungen und Wünschen geprägt, die durch Systeme von Überzeugungen bestimmt sind, durch Werte und Sitten. Sie sind erworbene, soziokulturell determinierte Muster von Erfahrungen und Ausdrucksweisen, die in spezifisch sozialen Situationen zur Anwendung kommen. Die individuelle Art und Weise des Antwortgebens innerhalb eines bestimmten Kontextes ist das spezifisch Emotionale.62 Die daraus folgende Perspektive der kulturellen Konstruktion von Subjektivität ist für die zu diskutierenden Zugänge für ein Lernen über Religion(en) nicht zu vernachlässigen, um den Zugang der Schüler*innen für religiöse Widerfahrnisse, für aistehetische Wahrnehmung und aisthetisches Lernen zu öffnen.

58 59 60 61 62

Vgl. Damasio 2018, S. 51. Ekmann 2010, S. 249. Vgl. Vygotski 1978. van Belzen 2004, S. 43. Vgl. ebd., S. 43.

Wie lehren, was die Worte übersteigt?

3.

Wie nun lehren, was die Worte übersteigt?

Religionskundlichen Unterricht gibt es nur im Land Brandenburg mit dem Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde und fristet ansonsten ein Schattendasein im deutschsprachigen Raum. Lediglich in der Schweiz gibt es Entwicklungen in diese Richtung. So, wie sich das Fach L-E-R an eine religiös plurale Schülerschaft richtet und intendiert, dass religiöse Schüler*innen mit weltanschaulich und religiös andersgläubigen, atheistischen und areligiösen Schüler*innen über Fragen des guten Lebens und Sinnsetzungen nachdenken, ist auch der schulische »Religionsunterricht für alle« in der Schweiz für religiös-weltanschaulich plurale Schülerschaft konzipiert. Religionskundlicher Unterricht ist, anders der bekenntnisgebundene Religionsunterricht, kein Angebot einer Religionsgemeinschaft, sondern ein religiös- und weltanschaulich neutrales Unterrichtsangebot des Staates. Der bekenntnisfreie religionskundliche Unterricht richtet sich an alle Schüler*innen; die weltanschauliche oder religiöse Gebundenheit der Lehrkraft ist nicht relevant.63 Auf der Basis empirischer Untersuchungen von Unterricht nimmt Katharina Frank eine terminologische Trennung von Religions- und religionskundlichem Unterricht vor. Dafür nutzt sie u.a. den auf Goffman zurückgehenden Begriff der »Rahmung« und den systemtheoretischen Kommunikationsbegriff von Luhmann. Sie begründet dies damit, dass die Rahmung etwas über unsere Kommunikationsabsichten mit dem Gegenstand aussagt.64 Religionskundlichen Unterricht bestimmt sie so über die Kommunikation »in wissen-

63

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Vgl. Kenngott 2017. Das Brandenburgische Schulgesetz formuliert in § 11, Abs. 3: »Das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde wird bekenntnisfrei, religiös und weltanschaulich neutral unterrichtet. Die Eltern werden über Ziele, Inhalte und Formen des Unterrichts in Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde rechtzeitig und umfassend informiert. Gegenüber der religiösen oder weltanschaulichen Gebundenheit von Schülerinnen und Schülern ist Offenheit und Toleranz zu wahren. Schülerinnen und Schüler, deren Eltern gegenüber der Schule erklären, dass ihr Kind Religionsunterricht anstelle des Faches Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde erhalten soll, und den Besuch eines solchen Unterrichts nachweisen, sind von der Verpflichtung zur Teilnahme am Unterricht in dem Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde befreit. Bei Schülerinnen und Schülern, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, tritt die eigene Erklärung an die Stelle der Erklärung der Eltern.« https://bravors.brandenburg.de/gesetze/bbgsc hulg [letzter Zugriff 11.12.2020] Vgl. Frank 2013, S. 63f.

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schaftlich und sozial validierten Codes«, welcher »religionskundliches Wissen generiert«65 und Schüler*innen nicht ins System der Religion inkludiert, wie es die Aufgabe des Religionsunterrichts ist, sondern ins Erziehungssystem. Entsprechend geht eine »religionskundliche Didaktik konsequent von empirisch beobachtbaren Sachverhalten und Erkenntnissen aus, die die religionswissenschaftliche Forschung bereitstellt. Gleich wie die Religionswissenschaft reflektiert die religionskundliche Didaktik den Religionsbegriff immer mit. Für »Religion« im religionskundlichen Unterricht wird sie sich an einem Alltagsbegriff von Religion orientieren. »Religion« wird terminologisch jedenfalls nicht so weit gefasst, dass sie als anthropologische Konstante verstanden werden kann […].«66 Der Unterricht steht in unterrichtlicher Nähe zur Religionswissenschaft, »als er das Wissen derselben – transponiert auf die verschiedenen Schulstufen – weitergibt.«67 Die vordringliche Aufgabe einer religionskundlichen Didaktik sieht EvaMaria Kenngott darin, »den Wissensbereich Religion in bekenntnisneutraler Darstellung in die schulische Bildung zu integrieren sowie eine bekenntnisneutrale Vermittlung des Gegenstands Religion auszubuchstabieren.«68 Wie der Gegenstand Religion im religionskundlichen Unterricht auszubuchstabieren ist, ist abhängig davon, was die Bezugswissenschaft Religionswissenschaft unter Religion versteht. In ihrem konstruktiven Zugehen auf die Theologie bietet sich die Religionswissenschaft als Bezugsdisziplin sowohl für den Religionsunterricht als auch den religionskundlichen Unterricht an. Der Religionswissenschaftler Udo Tworuschka hebt insbesondere die Verbindung von Erkenntnissuche der Religionswissenschaft mit praktischen Nützlichkeitsaspekten hervor, welche lebenstaugliches Wissen generiert.69 Die Religionswissenschaft versteht sich heute »als »bekenntnisunabhängige Gesellschafts-und Kulturwissenschaft«, die empirisch, methodisch-agnostisch (eigene Religiosität/Nicht-Religiosität einklammernd), deskriptiv, wahrheits-,

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Ebd., S. 88. Ebd., S. 91f. Ebd., S. 88. Kenngott 2017. Vgl. Tworuschka 2020, S. 19.

Wie lehren, was die Worte übersteigt?

wert- und bekenntnisneutral«70 arbeitet. Eben diesem Verständnis als empirische Wissenschaft folgt auch Katharina Frank in ihren Überlegungen zu einer religionskundlichen Didaktik. Seinen Niederschlag findet dies bspw. in der Skizze eines empiriebasierten Kompetenz- und Ausbildungsmodells für ein religionswissenschaftliches Grundlagenstudium: »Um eine Kommunikation als »Religion« oder »religiös« bezeichnen zu können, müssen daher zwei Ausprägungen gegeben sein: der kollektive Geltungsgrund und der transzendente Weltbezug. Entgegen anderer Bestimmungen […] wird Spiritualität hier demnach nicht bzw. nur beschränkt (»religiöse Spiritualität«) zu »Religion« gezählt. Sofern sie nicht Teil eines systematisierten und Gültigkeit beanspruchenden Symbolbestandes ist, entbehrt sie nämlich eines kollektiven Geltungsanspruchs.«71 Dieses Religionsverständnis fußt auf einem Paradigma, welchem sich die religionswissenschaftliche Forschungsgemeinde verpflichtet fühlt. Hineinsozialisiert in eine tradierte Art und Weise, folgt das Erforschen und Erkennen des Gegenstands vorgegebenen Denkwegen. Letztendlich sehen alle Beteiligten, gewissermaßen durch ein traditionsverhaftetes Denken gezwungen, das Gleiche.72 Lehrer*innen erwerben eben jenes religionswissenschaftliche Verständnis in ihrem Studium, wodurch es eine bestimmte Fachkultur bestimmt, in welcher wiederum Rahmenlehrpläne erstellt und letztendlich Schüler*innen unterrichtet werden. Wenn jedoch innerhalb der Wissenschaftsgemeinde ein (inter)religiöses Interesse von Religionswissenschaften als anstößig und die »erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen«73 nicht wertgeschätzt werden, führt das vorherrschende Paradigma dazu, dass Religion lediglich als beliebiger Ausdruck von Kul-

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71 72 73

Ebd., S. 20. Tworuschka zitiert mit der Beschreibung der Religionswissenschaft als »bekenntnisunabhängige Gesellschafts- und Kulturwissenschaft« die offizielle Auffassung der DVRW (Deutsche Vereinigung für Religionswissenschaft; online: https://ww w.dvrw.uni-hannover.de/rewi0.html. Frank 2015, S. 44. Vgl. Tworuschka 2020, S. 20. Gustav Mensching, zitiert nach Tworuschka 2020, S. 21. Im Original: Gustav Mensching (1959): Die Religion. Erscheinungsformen, Strukturtypen und Lebensgesetze, Stuttgart: Schwab, S. 18f.

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tur erscheint.74 Wenn es jedoch nicht gelingt, die Eigenart von Religion zu benennen, unterliegt sie der Gefahr der Selbstauflösung.75 Die unterschiedlichen Ansätze, den Begriff der Religion zu fassen, zeugen eindrücklich vom äquivoken Begriffsgebrauch.76 Weitestgehende Einigkeit herrscht in der religionswissenschaftlichen Forschung über die Unzulässigkeit der Gleichsetzung von Religiosität und Konfessionszugehörigkeit. Unter der Prämisse, dass sich ein religionskundlicher Unterricht an alle Schüler*innen richtet, scheint mir der transzendente Weltbezug das zentrale Definitionskriterium zu sein, um alle am Unterricht Beteiligten in ein Gespräch über Religion(en) einbeziehen zu können. Die Shell Jugend-Studie aus dem Jahre 2006, welche den Zusammenhang von Religiosität und dem Wertesystem von Jugendlichen untersucht, basiert auf dem religionssoziologischen Verständnis von Religiosität von Meulemann (1998). Dieser bindet Religiosität an die Vorstellung vom Tod und somit an einen »Bereich jenseits der gegebenen Welt«.77 Unter der Perspektive dieses Begriffsverständnisses kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass ca. zwei Drittel der Jugendlichen religiös sind. Legt man den Gottesglauben zur Beantwortung der Frage nach der Religiosität zugrunde, sind 49 % der Jugendlichen religiös. An einen persönlichen Gott, wie es der Lehrmeinung der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland entspricht, glauben 30 % dieser Jugendlichen, an die Existenz einer überirdischen Macht 19 %.78 Die Unterschiede im Hinblick auf die individuelle Ausprägung der Religiosität zeigen sich in einer Studie der Mercator-Stiftung aus dem Jahre 2017. Sie ergab, dass lediglich für 5 % der einheimischen Katholiken und 8 % der einheimischen Protestanten Religion »sehr wichtig« ist, wohingegen für 16 % der protestantischen Jugendlichen, sowohl mit als auch ohne Migrationshintergrund, Religion »überhaupt nicht wichtig« ist.79 Die Gruppe der 12-25jährigen, also die Altersgruppe der Schüler*innen, die an einem Unterricht über Religion(en) teilnehmen, erweist sich als religiös besonders heterogen. Jugendliche mit einem klassisch-traditionellen Glaubensverständnis stehen den wenig oder areligiösen Jugendlichen gegenüber, die nicht an einen

74 75 76 77 78 79

Vgl. Tworuschka 2020, S. 21. Vgl. Pollack 2018, S. 20f. Ein Überblick findet sich bei Pollack 2018. Gensicke 2006, S. 205. Vgl. ebd., S. 206 – 209. Zum Verständnis Jugendlicher von Religion siehe Willems 2019. Vgl. Diehl et al. 2017, S. 26f.

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persönlichen Gott oder eine überirdische Macht glauben. Die kirchenfern religiösen und glaubensunsicheren Jugendlichen sind zwischen diesen beiden Gruppen einzuordnen.80 Dass para-religiöse Phänomene wie bspw. das Schicksal, Engel, Außerirdische, Ufos, der Satan, Telepathie oder Hellsehen Einfluss auf ihr Leben haben, glauben 58 % der Jugendlichen.81 Einzureihen sind diese Befunde in den sozialwissenschaftlichen Diskurs um die Säkularisierungsthese.82 Sie bestärken die sog. These der Individualisierung von Religion, welche eine sich den Institutionen abwendende Transformation des Religiösen hin zu individualisierten Formen des Religiösen behauptet. Eine immer unbestimmtere Gottesvorstellung, an dessen Stelle ein höheres Wesen tritt, ist charakteristisch für diesen Transformationsprozess, der sich in Selbstfindungstechniken, esoterischer Spiritualität und Sinnsuche ausdrückt.83 Die religionssoziologischen Befunde legen nahe, Religionswissenschaft als Bezugswissenschaft eines religionskundlichen Unterrichts als »Wahrnehmungswissenschaft, die sich u.a. auch sozial- und kulturwissenschaftlicher Methoden bedient«,84 zu verstehen. Eine solche Perspektive wäre nicht nur anschlussfähig an die subjektive, erlebnishafte Innenperspektive der Schüler*innen, ohne die wissenschaftlich-objektive Außenperspektive zu vernachlässigen, sondern würde auch einem universalistischen Verständnis von Religion zuträglich sein. Werden gegenwärtige Probleme und Konflikte sowohl theoretisch, bspw. mit der Arbeit an Texten, als auch durch den Einbezug erfahrungsgenerierter Einsichten bearbeitet, nimmt der Unterricht Anleihen am charakteristischen Methodenrepertoire der Praktischen Religionswissenschaft. Die Intention einer solchen Beschäftigung geht dann über ein Beschreiben und Erklären hinaus, sondern kann wirkliche Orientierung bieten, indem sie Verstehen85 anbahnt. Nicht nur die interdisziplinäre Ausrichtung der Praktischen Religionswissenschaft macht sie interessant und anschlussfähig für ei80 81 82

83 84 85

Vgl. Gensicke 2006, S. 210f. Vgl. ebd., S. 211 – 216. Ausführlich zur Säkularisierungsthese siehe Pollack 2018, S. 303 – 327 und Pickel 2013. Pollack kritisiert, dass in der Diskussion um die Säkularisierungsthese unterschiedliche Religionsbegriffe benutzt werden. Siehe dazu Pollack 2018, S. 314. Pollack 2009, S. 125 – 149, insbesondere S. 147 – 149. Tworuschka 2020, S. 20, Fußnote 7. Zum Begriff des Verstehens als Hauptbegriff der Religionsphänomenologie siehe Pollack 2018, S. 29ff.

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ne religionskundliche Didaktik, sondern auch deren kulturanalytischen, sozialwissenschaftlichen, religionswissenschaftlichen und theologischen Methoden. Wenn sie ihren Ausgangspunkt in der Analyse gegenwärtiger und problematisch gewordener, defizitärer Wirklichkeiten nimmt, um Handlungsoptionen für ein besseres Handeln zu ermöglichen, stimmt dies mit dem Anliegen und fachdidaktischen Konzept des Faches L-E-R überein.86 Wenn sich die Praktische Religionswissenschaft den Grundsätzen der Wahrnehmungswissenschaften, der Hermeneutik, Empirie und Handlungsorientierung verpflichtet fühlt, sind hier Anleihen für einen religionskundlichen Unterricht zu finden, welcher die Erfahrung nicht ausklammert.87 Dann können am Unterrichtsgegenstand Religion(en) nicht nur die Bereitschaft zu Offenheit und Toleranz geschult, sondern auch folgende Kompetenzen gefördert werden: »Empathie, die Sensibilität, fremdes Erleben, fremde Denk- und Handlungsweisen nachzuvollziehen, ohne das Eigene aufzugeben, bewusst und reflektiert Perspektivenwechsel herbeizuführen. Wer möchte, dass Schüler/-innen Menschen anderer Religionen verstehen, sollte ihre aktive Wahrnehmung schulen, sie auf nonverbale Zeichen (Gestik, Mimik) achten und ›achtsam‹ kommunizieren lassen.«88 Nicht zuletzt gilt Empathie als Schlüsselkompetenz prosozialer, altruistischer und interreligiöser Kompetenzen. Eine Hinbewegung zu einem Unterricht, in dem Religion(en) nicht vorzugsweise als kognitive Tatsachen erscheinen, sondern als Ganzes und nicht seiner emotionalen Wurzeln beraubt, trägt das Potential in sich, dass das, was Religion(en) ausmacht, sichtbar und damit lernbar gemacht werden kann. »Auch religionskundlicher Unterricht muss […] zeigen, dass sich in einer Religion ein Selbst-, Welt- und Lebensverständnis angesichts von Transzendenz manifestiert (bzw. Verständnisse im Plural), das auf vielfache Weise zum Ausdruck gebracht wird; bspw. in religiöser Sprache, durch religiöse Vollzüge, durch das Befolgen von Geboten, durch die Formung des Lebens. Religion(en) sollten also als eine Dimension des Lebens thematisiert werden, die Menschen als ganze in ihren Lebensvollzügen prägt. Wird die Darstellung

86 87 88

Zum Kompetenzmodell des Faches Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde siehe Hafner & Lenz 2014. Vgl. Tworuschka 2020, S. 22f. Ebd., S. 25f. Kursivstellung im Original.

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von Religion auf wissenswerte Tatsachen reduziert, wird sie im besten Falle zum interessanten Kulturgut.«89 Erfahrungen wie die eingangs geschilderte können dazu dienen, diese Reduktion von Religion(en) auf reines Tatsachenwissen durch eine Naturalisierung des Forschungsobjekts zu vermeiden und einer »Entsubjektivierung und Dekontextualisierung«90 vorzubeugen.

Erfahrungen erfahrbar machen Im Gegensatz zu Tatsachenwissen sind Erfahrungen ganzheitlich, bleiben bei demjenigen, der sie erlebt, haften und prägen zukünftige Lebensabschnitte. Es »ist jene Erfahrung, die stets selber erworben sein muß und niemanden erspart werden kann. Erfahrung ist hier etwas, was zum geschichtlichen Wesen des Menschen gehört.«91 Anders als Worte, von denen die Philosophie lebt, überschäumen Wahrheit und Wirklichkeit »unser Dasein in einer Weise, die über verbale Formulierungen hinausgeht. In jedem lebensweltlichen Akt der Wahrnehmung ist etwas Glitzerndes und Funkelndes, das sich nicht einfangen lassen will und für das die Reflexion zu spät kommt. Niemand weiß dies so gut wie der Philosoph. […] Gerade im religiösen Bereich kann der Glaube an die Wahrheit von Formeln die persönliche Erfahrung nie ganz ersetzen.«92 Auch wenn es im religionskundlichen Unterricht dezidiert nicht darum geht, Schüler*innen in religiöse Glaubensformeln einzuführen, so kann es auch nicht alleinig darum gehen, ihnen Wissen über Religion(en) zu vermitteln. Vielmehr muss das »Glitzernde und Funkelnde« von Erfahrungen in den Unterricht hinein strahlen und im lernenden Subjekt zum Leuchten gebracht werden, will man dem Gegenstand Religion(en) gerecht werden. James Vorgehen, Religion(en) über religiöse Erfahrungen in den Blick zu nehmen, scheint dafür als Denkschablone geeignet. Wie sich James von der tradierten wissenschaftlichen Betrachtung von Religion(en) als Lehrgebäuden einerseits und sozialen Institutionen andererseits abgrenzt, so grenzt sich ein religionskundlicher Unterricht, der sich an Erfahrungen orientiert, von einem empi89 90 91 92

Kenngott 2013, S. 45f. van Belzen 2004, S. 42. Gadamer 1990, S. 361f. James 2014, S. 449.

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risch verstandenen Unterricht über Religion(en) ab. Mit James vertrete auch ich »die Auffassung, daß wir auch religiöse Doktrinen und religiöse Institutionen erst dann richtig verstehen und analysieren können, wenn wir sie vom Ausgangspunkt menschlicher Erfahrung aus betrachten.«93 Für Ulrike PoppBeier »können Erfahrungen vor allem als Sinneinheiten verstanden werden, die mittels Interpretation und Evaluation durch das Subjekt gebildet werden. Das Geschehen, als dessen Subjekt ›ich‹ mich begreife, wird nach Ablauf diversen Geschehens als dieses Geschehen aus der Mannigfaltigkeit der potentiellen Beschreibungen herausgebildet. Diese ›historische‹ Sinnbildungsleistung bedarf einer spezifischen Sprachform, und zwar der narrativen Form, der Geschichte […], wobei allerdings neben der Rekonstruktion des elementaren Erfahrungsprozesses durch die Narration eine erzählte Geschichte immer auch Deskriptionen, Argumentationen und Evaluationen umfasst.«94 Diese Begriffsbestimmung ermöglicht eine erste Suchbewegung, um letztendlich unterrichtswirksame Lehr-Lern-Szenarien entwickeln zu können. Anleihen finden sich in der narrativen Psychologie, die ihr Augenmerk auf »vorhandene tonangebende Geschichten in der Konstruktion und Artikulation von Identität« lenkt.95 Der Ansatz der narrativen Psychologie, dass Menschen ihr Leben in Geschichten denken, fühlen und handeln, bietet Anknüpfungspunkte für die unterrichtliche Arbeit mit narrativen Texten, Biografien, dem Erzählen des eigenen »Selbst« und zum biografischen Philosophieren. Dabei geht es nicht darum, eine lebensweltliche Erfahrung, sondern eine hermeneutische Erfahrung machen zu lassen. Wenn jedoch in der Religionswissenschaften von ›Hermeneutik‹ kaum die Rede ist, wie Tworuschka betont,96 stimmt dies mit der empirischen Ausrichtung der Religionswissenschaft überein. Wenn ein religionskundlicher Unterricht jedoch ein weiteres Verständnis von Religion(en) zugrunde legen will, kann er auf die Hermeneutik nicht verzichten. In einer hermeneutischen Erfahrung soll eine sprachliche Überlieferung erfahren werden. Gadamer schreibt,

93 94 95 96

Joas 2017, S. 65. Popp-Baier 2008, S. 5. van Belzen 2004, S. 44. Vgl. Tworuschka 2020, S 20.

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»daß Verstehen von Überlieferung den überlieferten Text nicht als die Lebensäußerung eines Du versteht, sondern als ein Sinngehalt, der von aller Bindung an die Meinenden, an Ich und Du, abgelöst ist. Gleichwohl muß das Verhalten zum Du und der Sinn von Erfahrung, der dort statthat, der hermeneutischen Erfahrung dienen können. Denn ein echter Kommunikationspartner, mit dem wir ebenso zusammengehören wie das Ich mit dem Du, ist auch eine Überlieferung.«97 Um Objektivität zu gewährleisten, ist dafür eine Orientierung an der hermeneutischen Methode nötig. Mit dieser soll der überlieferten Erfahrung unvoreingenommen und vorurteilsfrei gegenübergetreten werden, indem derjenige, der eine solche Erfahrung untersucht, alle subjektiven Momente in Bezug auf diese ausschaltet. Nur so ist ein Erkennen ihres Gehaltes ohne subjektive »Verunreinigungen« möglich, was ermöglicht, die Erfahrung in ihrer eigenen Ich-Bezogenheit zu erkennen. Das historische Bewusstsein sucht »im Anderen der Vergangenheit nicht den Fall einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit, sondern ein historisch Einmaliges.«98 Weiter führt Gadamer aus: »Das historische Bewußtsein, das Überlieferung verstehen will, darf sich nicht auf die methodisch-kritische Arbeitsweise, mit der es an die Quellen herantritt, verlassen, als ob diese es davor bewahrte, seine eigenen Urteile und Vorurteile einzumengen. Es muß in Wahrheit die eigene Geschichtlichkeit mitdenken. In Überlieferungen stehen, so hatten wir formuliert, schränkt nicht die Freiheit des Erkennens ein, sondern ermöglicht sie.«99 Dabei hat der Rezipient offen für die Überlieferung des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins zu sein, in dem die Gültigkeit des Anspruchs der Überlieferung in einer Weise anerkannt wird, die sich nicht lediglich auf die Andersartigkeit der Vergangenheit bezieht, sondern derart, dass sie dem, der dieser Überlieferung gegenübertritt, etwas mitzuteilen hat.100 Stellen wir uns vor, eine religiöse Erfahrung wie die eingangs beschriebene oder wie sie vielgestaltig bei James zum Untersuchungsgegenstand gemacht wird, wird als Medium im Unterricht genutzt, um ein Lernen über Religion(en) zu ermöglichen. Mit diesen Narrationen werden unweigerlich Emotionen i. d. S. ausgelöst, dass mit den Schüler*innen tatsächlich etwas 97 98 99 100

Gadamer 1990, S. 363f. Ebd., S. 366. Ebd., S. 366f. Vgl. ebd., S. 367.

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geschieht. Dabei ist es »die Bewertung des Ereignisses durch eine Person, die eine Emotion auslöst, nicht das Ereignis selbst.«101 Im Unterricht begegnet den Lehrkräften eine oft starke (emotionale) Ablehnung alles Religiösen oder mit Religion in Verbindung Stehenden. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass diese emotionale Ablehnung das Lernen oftmals nicht nur erschwert, sondern sogar verhindert. »Emotionen können uns den Zugriff auf alles verwehren, was wir wissen, auf Informationen, die wir sonst sofort abrufbereit hätten, die uns aber unzugänglich bleiben, solange das Gefühl besteht. Wenn uns ein unangebrachtes Gefühl beherrscht, deuten wir das Geschehen so, dass es mit diesem Gefühl in Einklang steht, und ignorieren unser Wissen, das nicht mit ihm übereinstimmt.«102 Wenn wir uns selbst und den Schüler*innen im Unterricht nicht die Frage stellen, warum wir oder sie ein bestimmtes Gefühl empfinden, ignorieren wir auch die Informationen, die zur augenblicklichen Gefühlslage passen. »Mit anderen Worten: Derselbe Mechanismus, der unsere Aufmerksamkeit lenkt und zentriert, kann unsere Fähigkeit untergraben, neue Informationen einerseits und mit bereits in unserem Gehirn gespeicherten Wissen andererseits angemessen umzugehen.«103 Die didaktische Frage, wie Desinteresse und Abwehr gegenüber Religion(en) im Unterricht vermieden und das gemeinsame Nachdenken über (religiöse) Sinnstiftungen in einer religiös-weltanschaulich pluralen Schülerschaft ermöglicht werden kann, scheint eine Lösung in Bestrebungen zu finden, Offenheit für Erfahrungen (Gadamer) zu ermöglichen. Dabei geht es mir nicht darum, Schüler*innen mit Situationen zu konfrontieren, in der Hoffnung, dass sie Erfahrungen machen, die sie selbst als religiös verstehen. Eine derartige Überwältigung104 stünde im Widerspruch zum Neutralitätsgebot und entzöge sich aufgrund des subjektiven Widerfahrnischarakters von Erfahrungen ohnehin der Planbarkeit. Meine didaktischen Überlegungen richten sich vielmehr darauf, Schüler*innen Lernangebote zu machen, in und mit denen

101 102 103 104

Dalai Lama & Ekman 2011, S. 50. Ekman 2010, S. 54f. Ebd., S. 54. Zum Überwältigungsverbot und Neutralitätsgebot verweise ich an dieser Stelle nur kurz auf den Beutelsbacher Konsens aus dem Jahre 1976. Dieser besitzt auch für den religionskundlichen Unterricht Gültigkeit.

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sie ihre ganz eigenen Erfahrungen machen können, um sie dann zu reflektieren. Die in den Erfahrungen enthaltenen emotionalen Tönungen und Verwurzelungen bieten die Anschlussmöglichkeit, die gemeinsame Klammer, um Religion(en) zum Gegenstand des Unterrichts zu machen. Wenn wir mit James Religion(en) als Erfahrungen, Handlungen und Gefühle verstehen, die Menschen für sich selbst so interpretieren, dass sie Ausdruck der Beziehung zu einem Göttlichen sind,105 können eben jene Erfahrungen von anderen Menschen, die eine andere weltanschaulich-religiöse Sozialisation erfahren haben, anders fühlen, denken und handeln, ganz anders interpretiert werden. Wenn (religiöse) Unterrichtsinhalte direkt zu beobachtbaren Verhaltensweisen bei Schüler*innen führen, die als Abwehrreaktionen gegen diese Inhalte gedeutet werden können oder begründet angenommen werden kann, dass derartige Vorbehalte existieren, ist es der erste Schritt zur Offenheit, diese Emotionen kontrollieren zu können. Dass dies nicht einfach ist, erschließt sich unmittelbar, weil erfahrungsgesättigt. Die Begründung liegt darin, dass unser neuronales Emotionssystem nicht auf die Löschung von Emotionsauslösern, sondern deren Konservierung ausgelegt ist. Dabei spielen in der Regel frühere Erfahrungen eine Rolle, die mit dem auslösenden Thema selbst nichts oder eher auf unterer, psychischer Ebene zu tun haben.106 Sollen sich Schüler*innen nicht nur Wissen aneignen, sondern ihre Kompetenzen erweitern, darf der Unterricht die motivationalen und volitionalen Aspekte des Lernens und der Person nicht vernachlässigen. Wenn Schüler*innen befähigt werden sollen, in variablen, problemhaften Situationen nicht nur den Willen zum Handeln aufzubringen, sondern auch über die personalen und sozialen Fähigkeiten dazu verfügen sollen, handeln zu können, um es schlussendlich auch zu tun,107 darf die emotionale Verfasstheit nicht vernachlässigt werden. Der (religionskundliche) Unterricht kann dann nicht anders, als sich in ein Spannungsfeld von empirischer Wissenschaft und »unartikuliertem Wahrheitsempfinden«108 zu begeben.

105 106 107 108

Vgl. James 2014, S. 63f. Vgl. Ekman 2010, S. 62. Vgl. Weinert 2001, S. 21. James 2014, S. 106.

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Das »Glitzernde und Funkelnde« zum Leuchten bringen Voraussetzung für jegliche didaktische Überlegung dieser Art ist die Anerkennung, dass wir mit unserem So-Sein, mit unseren Emotionen und Gefühlen, leben. Jeder von uns, jede Lehrkraft, jeder Schüler und jede Schülerin hat ein eigenes »emotionales Profil«.109 Unser Bewusstsein ist dann, wenn uns eine Emotion widerfährt, voll aktiv, jedoch hat unser Selbst zu diesen Emotionen keinen beobachtenden Zugang.110 Die Folge ist, dass unsere emotionalen Muster oft unerkannt bleiben und das »emotionale Profil« schwer zu verändern ist. Die einen werden sehr schnell emotional, andere später. Ziel des Unterrichts kann es nicht sein, Emotionsprofile zu diagnostizieren oder gar zu »therapieren«. Jedoch scheint es unbestritten eine gute Idee zu sein, zu lernen, besser mit den eigenen Emotionen, aber auch mit denen der Anderen, leben zu können. Dafür genügt es nicht, Emotionen lediglich als Wissen in den Unterricht zu bringen. Zu wissen, was Emotionen sind, wie diese entstehen und das Menschen sehr unterschiedlich emotional reagieren, wird die Schüler*innen nicht dazu befähigen, anders, vielleicht angemessener, auf jeden Fall sozial ausgeglichener zu interagieren. Sollen Schüler*innen einen kompetenten Umgang mit ihren und den Emotionen anderer lernen, bedarf es zweierlei: Eines Beziehungslernens111 im Sinne einer Resonanzerzeugung, die es im »Klassenzimmer knistern«112 lässt und Lernen überhaupt erst ermöglicht und eines Verständnisses von Lernen jenseits der alten Wege einer linearen, inputorientierten Abbildungsdidaktik, welches Reflexionsschleifen in die didaktischen Interventionen einbindet. Diese Reflexionsschleifen sind dadurch charakterisiert, dass die Lehrenden ihr eigenes Vorgehen immer wieder hinterfragen, zu sich selbst in Distanz gehen und auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse den Unterricht stärker prozesshaft und situationsangemessen planen.113 Didaktische Interventionen als »Kunst des Dazwischengehens«114 sollen es den Schüler*innen ermöglichen, sich Wissen und Können anzueignen, um kompetent handeln zu können:

109 110 111 112 113 114

Dalai Lama & Ekman 2011, S. 47. Siehe auch S. 47 f, S. 58, S. 60-63 und S. 276. Vgl. ebd., S. 51. Vgl. Felten 2020. Vgl. Rosa et al. 2016. Vgl. Arnold 2018, S. 110ff. Ebd., S. 108.

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»Ein ermöglichungsdidaktisches Vorgehen orientiert sich an den Lernenden und traut diesen grundsätzlich mehr zu, als wir gewohnt sind, ihnen zuzutrauen. Die Ermöglichungsdidaktik […] richtet die Skepsis der Reflexion somit in erster Linie auch gegen das, was uns Lehrenden so zu sein scheint, wie es uns scheint. An die Stelle der ›Vermittlung‹, die nicht im Sinne einer Übertragung möglich ist, obgleich wir davon reden, muss die Konstruktion durch die Lernenden treten, welche durch nichts – und schon gar nicht durch das ›Behandeln‹ seitens des Lehrers oder der Lehrerin – wirklich ersetzt werden kann.«115 Um unter der Prämisse von Vorbehalten gegenüber Religion(en) ein »Dazwischengehen« möglich zu machen, müssen wir zwei kategorial unterschiedliche Aspekte betrachten: Das subjektive, emotionale Erleben bei der Begegnung mit dem Sachinhalt Religion(en) und diesen Sachinhalt selbst, inklusive des Wissens, dass menschliche Kultur und Religion(en) aus dem Gefühl entstehen.116 Wie unterschiedlich das ist, was es dafür braucht, formuliert Paul Ekman im Gespräch mit dem Dalai Lama treffend so: »Das Wissen kann man lernen. Doch es ist nicht leicht, die Fähigkeit der beobachtenden Bewusstheit zu erlernen – im Augenblick zu sein, sich des Zündfunkens vor der Flamme bewusst zu sein. Man braucht beides. Man braucht das Wissen, und man braucht die Fertigkeit. Wissen kam man sich einfach durch Lesen eines Buches aneignen. Die Fertigkeiten kann man sich nicht durch ein Buch aneignen, man muss sie immer wieder einüben. Es handelt sich um zwei unterschiedliche, aber miteinander zusammenhängende Dinge, die für ein ausgeglichenes Leben wichtig sind.«117 Wie Wissensvermittlung und –aneignung lehr- und lernbar gemacht werden können, lernen die Schüler*innen in allen Fächern. Dazu bedarf es an dieser Stelle keiner Worte. Wie jedoch der Umgang mit Emotionen erlernt werden kann, fristet ein Schattendasein. Jedoch brauchen wir beides: Sowohl Gedankenarbeit als auch Gefühlsarbeit.118 Die Gefühlsarbeit selbst intendiert das, was wir als emotionale Kompetenz beschreiben können. Der Begriff Empathie nimmt darin eine Schlüsselstellung ein. 115 116 117 118

Ebd., S. 117. Vgl. Damasio 2017. Dalai Lama & Ekman 2011, S. 70. Vgl. Arnold 2019, S. 29ff.

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»Kognitive Empathie lässt uns erkennen, was ein anderer fühlt. Emotionale Empathie lässt und fühlen, was der andere fühlt, und das Mitleiden bringt uns dazu, dass wir dem anderen helfen wollen, seine Situation und seine Gefühle zu bewältigen. Um eine der genannten Formen des Mitfühlens entwickeln zu können, müssen wir zunächst einmal über kognitive Empathie verfügen; um mitzuleiden bedarf es allerdings nicht notwendigerweise der Fähigkeit zu emotionaler Empathie.«119 Diese Differenzierung von Ekman macht deutlich, wo der unterrichtliche Schwerpunkt liegen muss: Auf der kognitiven Empathie. Sie ist die Prämisse dafür, fühlen zu können, was der andere fühlt und Mitgefühl zu entwickeln. Im religionskundlichen Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde wird diese kognitive Empathie als Fähigkeit beschrieben, fremde Emotionen und Gefühle wahrnehmen, erkennen und beschreiben, Emotionen und Gefühlen deuten, interpretieren und erschließen zu können sowie eigenen Lebensvorstellungen und -gefühlen emotional und rational Ausdruck zu verleihen.120 Um diese emotionale Kompetenz zu fördern, bedarf es der Aufmerksamkeit auf zwei gegensätzliche Ausrichtungen der Gemütsbewegung: Der angenommenen emotionalen Abwehrbewegungen gegen den Unterrichtsgegenstand Religion(en) und der von den Rahmenlehrplänen intendierten Hinbewegung zu selbigen, wobei letztere mit dem Terminus Öffnung beschrieben werden kann. In der ersten, weg vom Gegenstand Religion(en) gerichteten Gemütsbewegung können sich Schüler*innen in einer Phase befinden, »in der unser Denken keine Informationen verarbeiten kann, die zu dem uns beherrschenden Gefühl nicht passen, es nicht nähren und rechtfertigen«.121 Ekman bezeichnet diese Phase als Refraktärzeit. Dauert diese Phase länger an, Minuten oder gar Stunden, kann das Verhalten unangemessen sein. In einem ersten Schritt geht es demnach darum, diese zu verkürzen, zu verhindern oder zu umgehen, um die Aufnahme von Informationen zu ermöglichen. Erst dann können sich die Schüler*innen auf den schwierigen Weg begeben, »sich schrittweise auf der Stufenleiter der Wahrnehmung, der Empfindung, der Erkenntnis und des Bewusstseins dem anzunähern, was ein menschliches

119 Ekman 2010, S. 249. Kursivstellung im Original. 120 Vgl. Hafner & Lenz 2014, S. 88ff. 121 Ekman 2010, S. 56.

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Gehirn auszeichnet: die Fähigkeit, sich selbst immer wieder neu infrage zu stellen«.122 Emotional bedingten Reaktionen wie bestimmte Gesten, Handlungen und Reaktionsweisen sind nicht evolutionär angelegt, sondern »wahrscheinlich kulturell- oder persönlichkeitsspezifisch«123 erworben im Prozess der Erfahrung mit Emotionsauslösern und der Bewertung individueller Reaktionen. Das Lernen kann demnach genau an der Stelle ansetzen, wo es um die willentliche Einflussnahme auf Impulse geht, um die Veränderung des Ausdrucks oder des Handelns.124 Um das emotionale Verhalten zu bändigen, bedarf es Verstehen, Zeit, Konzentration und Übung. Dafür sind jene Faktoren zu aktivieren, die genau dafür Sorge tragen. Eine erste Möglichkeit zu lernen, zwischen Auslöser und Reaktion zu treten, besteht darin, dass sich Schüler*innen darüber klarer werden, was genau sie in diese (Religion(en) ablehnende) Gefühlslage versetzt. In einem nächsten Schritt kann der Moment protokolliert werden, in welchem der Schüler oder die Schülerin selbst eine bestimmte emotionale Reaktion bemerkt oder von anderen mitgeteilt bekommt. Wichtig ist auch zu erfassen, was zuvor geschah. Je mehr Informationen sichtbar werden, umso eher kann die Person Schlüsse ziehen, was genau der Auslöser ist und die Situationen neu bewerten.125 So kann gelernt werden, »emotionales Verhalten, das wir im Nachhinein bereuen würden zu dämpfen, unsere Mimik zu beschränken oder zu unterbinden, unser Handeln und Reden zu beherrschen und zu mäßigen. Wir können auch lernen, nicht zu sehr der Selbstkontrolle zu unterliegen und nicht gefühllos zu wirken, falls das unser Problem sein sollte. Noch besser wäre es jedoch, wenn wir fertigbrächten, selbst zu entscheiden, was wir fühlen und wie wir unseren Emotionen konstruktiv Ausdruck verleihen könnten.«126

122

Gerald Hüther, zitiert nach Arnold 2018, S. 103. Im Original: Gerald Hüther (2007): Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 120. 123 Ekman 2010, S. 88. 124 Vgl. ebd., S. 74 – 89. 125 Vgl. ebd., S. 68 – 73. 126 Ebd., S. 75.

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Einen weiteren Punkt, der für schulische Lernprozesse interessant und anschlussfähig ist, beschreibt Ekman mit der Veränderung des emotionalen Bewusstseins. »Wir müssen imstande sein, einen Schritt zurückzutreten – und zwar noch während wir das Gefühl empfinden –, sodass wir uns fragen können, ob wir mit dem, was unser Gefühl uns zu tun heißt, fortfahren oder ob wir eine bewusste Entscheidung treffen wollen, wie es mit unserem Gefühl weitergehen soll. Dazu gehört mehr, als sich nur dessen bewußt zu werden, was wir empfinden; es handelt sich um eine andere, höher entwickelte, schwer zu beschreibende Form von Bewusstsein. Es kommt dem nahe, was die Buddhisten als mindfulness bezeichnen (im Deutschen ist dafür der Begriff »Achtsamkeit« gebräuchlich).«127 Ekman umschreibt diese Art der Achtsamkeit mit »Acht geben auf die eigenen emotionalen Empfindungen«.128 Dieses Bewusstsein für die eigene Emotionalität kann eine Person davon abhalten, unangemessenes Handeln zu unterbinden, Worte zurückzuhalten oder den Lauf der Gefühle zu unterbinden. Hierfür bedarf es Übungen, die das Bewusstsein auf die körperlichen Veränderungen richten, wenn Emotionen aufsteigen. Die körperlichen Veränderungen sind diejenigen Signale, die uns darüber informieren, dass wir emotional werden. Dafür eignen sich bspw. das Wahrnehmen und Beschreiben von Emotionen oder das Imitieren von Gesichtsausdrücken. So kann gelernt werden, emotionale Reaktionen des Gegenübers zu lesen. Aus den Reaktionen der Anderen können nachfolgend Rückschlüsse auf die eigene emotionale Wirkung auf andere Person geleitet werden. Arnold schlägt ein »Echolot« als Übung für die emotionale Kompetenz vor. Das Potential der Methode sieht er darin, dass sie uns in die Lage versetzt, »die Handlungssituationen unseres alltäglichen Lebens auch daraufhin »auszuloten« oder zu »scannen«, inwieweit dieses lediglich ein Echo auf den Ausdruck eigener projektiver, angetriebener oder defensiver Mechanismen unseres eigenen Inneren«129 sind. Fünf 127

128 129

Ebd., S. 104. Für eine weiterführende Erläuterung der Bedeutung von Achtsamkeit verweise ich auf den kurzen Abschnitt von B. Allan Wallace »Über die Bedeutung von Achtsamkeit« in Dalai Lama & Ekman 2011, S. 72. Wallace ist Mönch und Gründungsdirektor des gemeinnützigen Santa Barbara Institute for Consciousness Studies und hat zahlreiche Bücher über den Buddhismus geschrieben. Ausführlich siehe B. Allan Wallace (2008): »What did the Buddha realy mean by ›Mindfulness‹?, Tricycle, Vol. 17, No. 3. Ekman 2010, S. 107. Siehe auch Seiten 107 – 116 zur näheren Erläuterung. Arnold 2018, S. 103.

Wie lehren, was die Worte übersteigt?

Fragen können sowohl den Lehrenden als auch den Lernenden helfen, sich selbst auf die Schliche zu kommen: - »In welchen früheren Situationen wurden ähnliche Gefühle erlebt (genaue Beschreibung bzw. Imagination dieser Situation und der mit ihnen verbundenen Gefühle)? - Wie habe ich reagiert? - Wer waren die Akteure in diesen Situationen? - Welche Erwartung, Sehnsucht oder Angst lag hinter diesen Gefühlen? - Welche anderen Verhaltensweisen wären prinzipiell denkbar (gewesen)?«130 Übungen der Selbstbeobachtung und Fremdwahrnehmung, Selbstreflexion und Bewertung des Handelns ergänzen das Methodenrepertoire ebenso wie Übungen zur Wertebildung. Nötig ist für all das eine Sprachbildung, die unseren Wortschatz erweitert, um unsere Emotionen verbalisieren zu können, »vor allem wenn es um konstruktive und destruktive Aspekte jeder einzelnen von ihnen geht.«131 Achtsamkeits-Meditationen können diese Lernprozesse begleiten.132

Fazit Ein religionskundlicher Unterricht, der sich ausschließlich auf die Vermittlung von empirischem Wissen beschränkt, wird weder dem Gegenstand Religion(en) gerecht noch ermöglicht er einen kompetenten Umgang mit der eigenen Religion bzw. Religiosität und der Anders- oder Nichtreligiöser. Vielmehr trägt er das Potential in sich, Abwehrhaltungen gegenüber allem Religiösen zu verstärken. Aus diesem Grund ist es dringend geboten, Unterricht über Religion(en) als Aneignungsunterricht zu verstehen, der emotionale Lernanlässe bietet. Diese Vorstellung stößt jedoch an das vorherrschende Verständnis eines Unterrichts über Religion(en), welches in einem empirischen Wissenschaftsverständnis feststeckt und auf einem Verständnis von Religion(en) fußt, welches sich auf Gruppen und Transzendenz bezieht und

130 Ebd., S. 103f. 131 Dalai Lama & Ekman 2011, S. 44. 132 Vgl. Ekman 2010, S. 354f.

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Spiritualität ausgrenzt. Nicht zuletzt liegt hierin ein Grund, warum Spiritualität in der Schule nach wie vor und zu Unrecht ein »Schmuddeldasein« duldet und in die esoterische Ecke verbannt wird.133 Für den religionskundlichen Unterricht wie für jeden anderen Unterricht über Religion(en) brauchen wir einen Religionsbegriff, der sich der Erfahrung, Spiritualität, Einfühlung und Wahrnehmung öffnet. Orte zu besuchen, die aisthetische Erfahrungen ermöglichen, wie sie mir in der Iglesia San Salvador möglich waren, sind dazu ein geeigneter Weg.

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»Um die Welt zu retten muss man auch mal ein paar alte Damen die Treppe runter schubsen«1 Digitale Spiele als Ermöglichungsräume für eine emotionsintegrierende Ethikdidaktik Sebastian Ernst »Wie wir uns auch entscheiden, ich werde wohl nicht mit einem reinen Gewissen aus dieser Nummer rauskommen.«2

Emotionen übernehmen wichtige Funktionen in unserem Leben. Sie beeinflussen unsere Wahrnehmung, unser Denken und unser Handeln. Sie sind nötig, um wichtige oder gefährliche von unwichtigen oder harmlosen Situationen zu unterscheiden, um passende Entscheidungen zu treffen und um sich für eine Handlung motivieren zu können.3 Das gilt besonders auch für moralisches Handeln. Zu wissen, was moralisch richtig ist, reicht eben nicht aus, um auch entsprechend zu handeln. Selbst Serienmörder, so der Emotionsforscher David D. Franks würden durchaus wissen, dass »what they were doing was wrong, but they did not feel this wrong enough to have it inhibit their actions«.4 Trotz dessen scheinen Emotionen in moralischen Diskussio-

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Das Zitat im Titel ist die Aussage eines der Protagonisten des Computerspiels »Day of the Tentacle« (LucasArts 1993). Mit diesem muss man tatsächlich, eben um die Welt zu retten, eine alte Dame die Treppe runterschubsen. Huang, S. L.: Nullsummenspiel, München 2019, S. 354. Siehe dazu ausführlich die Arbeiten von Damasio, von Scheve, Meier-Seethaler, Barrett, Hartman sowie Ciompi. Für eine Zusammenfassung siehe Ernst, Ärgerliche Räume, sowie, in Kurzform, Ernst, Kulturwissenschaftliches Forschen. Franks, David D.: The Neuroscience of Emotions, in: Stets, Jan E.; Turner, Jonathan H. (Hg.): Handbook of Sociology of Emotions, New York 2007, S. 38-62, S. 40.

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nen eher einen schlechten Ruf zu genießen. Ein Beispiel hierfür ist der bereits in der Einleitung dieses Bandes angesprochen Fall der Klimaaktivistin Greta Thunberg, bei dem dieser eine zu emotionale Herangehensweise an das Problem des Klimawandels unterstellt worden ist.5 Emotionen sind also einerseits für moralisches Handeln nötig und spielen andererseits auch als Zuschreibungen in moralischen Diskussionen eine zentrale aber eher negative Rolle. Wer zu emotional, zu ängstlich, zu aggressiv, zu mitleidig oder eben all dies nicht genug ist, läuft Gefahr, nicht ernst genommen zu werden. Für einen sich an lebensweltlich relevanten Kompetenzen ausrichtenden Ethik- und LER-Unterricht, stellt sich somit nicht mehr die Frage, ob Emotionen thematisiert werden sollten, sondern wie dies geschehen kann und daran anschließend, welche Medien und Methoden einer solchen emotionsintegrierenden Ethikdidaktik angemessen sein könnten. Im Folgenden soll neben einer theoretischen Betrachtung dieser Frage auch ein praktisches Beispiel zur Diskussion gestellt werden. Bei diesem handelt es sich um eine gemeinsam mit Juliane Beilke und Julia Willems entwickelte Unterrichtsschablone für die Förderung der Ethischen Partizipationskompetenz mittels digitaler Spiele im Fach LER. Diese wurde in zwei Durchläufen in mehreren 7. und 9. Klassen des Hannah-Arendt-Gymnasiums in Potsdam und des Puschkin-Gymnasiums in Hennigsdorf getestet und weiterentwickelt.

Ethische Partizipationskompetenz Bevor Medien und Methoden ausgewählt werden können, muss zunächst einmal geklärt werden, welches Ziel überhaupt erreicht werden soll. Für die hier vorgestellte Einheit ist es die Förderung der Ethischen Partizipationskompetenz. Mit dieser ist die Befähigung gemeint, »in Konfliktsituationen Entscheidungs- und Handlungsoptionen zu erkennen, zu prüfen und anzuwenden« sowie, sich aktiv an der Diskussion ethisch-moralischer Fragestellungen beteiligen zu können.6 Interessieren soll hier vor allem der erste Teil, also die Fähigkeit, tatsächliche Konfliktsituationen nachhaltig lösen 5 6

Vgl. https://www.focus.de/politik/ausland/gretas-emotionale-rede-in-new-york-ist-dra stisches-auftreten-noetig-oder-stoesst-es-ab_id_11178190.html Vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft Berlin/Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (2017): Rahmenlehrplan Jahrgangsstufen 1-10. Teil C: Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (5-10 Brandenburg), http://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/unterricht/rahmenlehrpl

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zu können. Soll das bewusst geschehen, so sind an diesem Prozess viele verschiedene Teilkompetenzen beteiligt, die auch entsprechend ausgebildet werden müssen. Dazu gehört zunächst einmal, moralische Konflikte in der eigenen Lebenswelt überhaupt als solche wahrnehmen zu können. Anschließend müssen diese auch analysiert werden. Dabei genügt es allerdings nicht, nur die in Konflikt stehenden Werte und moralischen Regeln herauszufiltern. Um eine nachhaltige Lösung zu erreichen, muss auch betrachtet werden, wer beteiligt ist (auch ich selbst?) und in welcher Beziehung die beteiligten Akteur*innen zueinander stehen. Ebenso ist zu berücksichtigen, welche Vorstellungen, Erwartungen, Bedürfnisse, Interessen, Befindlichkeiten und Emotionen sich dabei gegenüberstehen. Dabei muss entschieden werden können, welche Elemente der Situation relevant und welche Erwartungen und Bedürfnisse legitim sind. Dabei gibt es selten nur eine Perspektive. Die notwendige Berücksichtigung anderer Sichtweisen wird jedoch dadurch erschwert, dass häufig nicht alle Beteiligten auch befragt werden können, sei es aus Zeitgründen oder aufgrund anderer Beschränkungen. Damit kommt der Fähigkeit, sich in andere Hineinzuversetzen (und damit auch in deren emotionalen Zustand) eine große Bedeutung zu. Wichtig ist zudem die Fähigkeit, Handlungsmöglichkeiten erkennen und erarbeiten zu können. Dafür ist nicht nur Kreativität nötig, sondern auch der Einbezug von Zwängen und Abhängigkeiten, die die realen Möglichkeiten stark begrenzen. Zugleich sind die möglichen Folgen zu beachten. Diese müssen in Bezug auf die Beteiligten antizipiert und abgewogen werden. Auch hier ist wieder die Übernahme von Perspektiven und das Hineinversetzen in andere nötig. Um sich dann auch bewusst für eine Handlungsoption entscheiden zu können, müssen auch noch gute Gründe gefunden werden, nicht nur, um die Beteiligten zu überzeugen, sondern ebenso, um das eigene Handeln später vor sich selbst rechtfertigen zu können. Reale Konfliktsituationen zeichnen sich dabei vor allem durch einen Handlungszwang aus. Ein Nichthandeln ist hier ebenfalls eine Entscheidung, die Konsequenzen hat. Ist trotz aller Widrigkeiten eine Entscheidung gefallen, so muss diese auch umgesetzt werden. Dazu müssen sich die Handelnden zunächst einmal motivieren oder wenigstens motivieren lassen. Ist auch dieses Problem gelöst, treten schließlich Folgen ein, nicht nur die erwarteten, sondern auch unerwartete. Besonders in dilemmaartigen Konfliktsituationen, in denen neben dem aene/Rahmenlehrplanprojekt/amtliche_Fassung/Teil_C_L-E-R_2015_11_10_WEB.pdf, S. 4

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Mangel an Zeit auch noch wenige Alternativen zur Hand sind, bedeutet das, mit den Konsequenzen leben zu müssen. Es gilt, Verantwortung zu übernehmen und die möglicherweise auftretenden Schuldgefühle oder das schlechte Gewissen mittels verschiedener Strategien, die dafür bekannt sein müssen, zu bewältigen. Am Ende dieser wahrscheinlich noch immer nicht ganz vollständigen Aufzählung ist schließlich noch die Reflexion zu nennen, für die lebensweltlich sicherlich nicht immer genug Zeit und Motivation aufgebracht wird, die aber wichtig ist, um zukünftig besser mit solchen Situationen umgehen zu können und sich diesen überhaupt erneut stellen zu wollen. Solche bewussten ethischen Entscheidungen und Handlungen sind allerdings nur eine Variante. In den meisten Fällen des Alltags handeln wir (notwendig) spontan und ohne diesen reflexiven Prozess.7 Damit sich auch dieses spontane Handeln unseren ethischen Reflexionen annähert, müssen entsprechende moralische Wahrnehmungs- und Handlungsmuster ausgebildet werden, die es zugleich immer wieder bewusst zu machen und zu hinterfragen gilt.

Der Mensch als emotionaler Problemlöser An dem gesamten eben skizzierten Prozess des Lösens moralischer Konflikte sind Emotionen nun nicht nur beteiligt, sie sind, wie sich aus den Erkenntnissen der Emotionsforschung der letzten Jahrzehnte ergibt und im Folgenden gezeigt werden soll, für diesen sogar unerlässlich. Trotz dessen wird in Bezug auf das Morallernen allzu häufig noch an der schmeichelnden Illusion eines rationalen, objektiven und emotionslos die Faktenlage betrachtenden Entscheiders festgehalten. Emotionen erscheinen hierbei als nicht relevant, irrational, subjektiv und als Störfaktor. Demgegenüber betont beispielsweise Landweer, dass es ohne Gefühl überhaupt keine Moral gäbe!8 Das fängt bereits bei der Einschätzung einer Situation als moralischen Konflikt an.9 Landweer spricht hierbei von einem Gespür für die ethische Dimension einer Situation. Nehmen wir das Beispiel des Veganismus. Ob dieser als eine rein ästhetische und damit private Entscheidung aufgefasst wird, in die niemand

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Siehe zu dieser Unterscheidung Varela, Francisco J.: Ethisches Können, Frankfurt a.M. und New York 1994, S. 10-12. Vgl. Landweer, S. 57. Vgl. ebd., S. 52f.

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hineinzureden hat oder als hochgradig moralische und politische Forderung, hat also damit zu tun, welche Emotionen dabei im Spiel sind. Niemand möchte gern der Böse sein oder Schuld auf sich laden. Aus diesem Umstand ergibt sich letztlich auch ein Interesse, das dazu führen kann, einem bestimmten Aspekt genau deswegen die moralische Relevanz abzusprechen. Die verbalisierte Begründung dafür, also der Aspekt, der in den moralischen Diskurs eingebracht wird, ist jedoch in der Regel ein anderer. Ebenso ist die Gegenseite selbst schnell dabei, dem Gegenüber andere Intentionen zu unterstellen, als dieser äußert. Emotionen sind nicht nur daran beteiligt, ob eine Situation als moralisch wahrgenommen wird und ob man sich darin einig wird. Sie spielen auch eine Rolle bei der weiteren Analyse, Einordnung und Deutung einer Situation.10 Emotionen dienen hierbei als erste Bewertungsinstanz, die auf Basis schnell abrufbarer (Vor-)Urteile beispielsweise festlegt, ob das Wahrgenommene für den Organismus erwünscht oder gefährlich ist. Auf dieser Basis werden dann weitere kognitive (genauere Beobachtung und Abruf von Wissensbeständen) und physiologische (Erhöhung von Blutdruck und Puls) Prozesse eingeleitet oder blockiert.11 Es sind die Emotionen, die den Dingen Bedeutung geben, sie als relevant erscheinen lassen und sie für uns hierarchisieren. Die Bedeutung kann dabei auf psychologischer Ebene spürbar werden, sich also gut oder schlecht anfühlen, intensiv oder schwach sein usw. In diesem Fall liefern sie zugleich die Motivation für ein entsprechendes Handeln. An die emotionale Wahrnehmung einer Situation können dabei auch konkrete Handlungsmuster gebunden sein, die dann entweder zu jenen spontanen moralischen Handlungen führen oder aber die denkbaren Handlungsmöglichkeiten hierarchisieren bzw. eingrenzen. Das gilt besonders für solche Muster, die bereits in der Vergangenheit als erfolgreich wahrgenommen worden sind und sich

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Siehe dazu auch Nunner-Winkler, Gertrud: Zum Verständnis von Moral – Entwicklungen in der Kindheit, in: Horster, Detlef (Hg.): Moralentwicklung von Kindern und Jugendliche, Wiesbaden 2007, S. 51-76, S. 56, sowie Meier-Seethaler, S. 293-298 und Ernst, Selbsttherapie Emotionale Zustände sind also auch an der Auswahl der Art und Weise der Informationsverarbeitung beteiligt, also an der Entscheidung, ob und welche Schemata abgerufen werden oder eine genauere Analyse der Situation vorgenommen wird. Interessant ist dabei der Umstand, dass positive emotionale Zustände eher Schemata zu begünstigen scheinen und negative eher eine genauere Analyse. Vgl. von Scheve, S. 216ff.

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daher als angenehme Option präsentieren.12 Das Verständnis einer moralischen Regel ist somit ausdrücklich nicht mit den Motiven nach ihr zu handeln gleichzusetzen.13 Das bloße Wissen um die Gültigkeit reicht nicht aus. Wann immer das Handeln nicht automatisiert durch Abruf bestimmter Muster geschieht, ist eine entsprechende Motivation nötig. Wie wichtig diese ist, zeigen auch die entsprechenden empirischen Untersuchungen zu Moralentwicklung deutlich.14 Motiviert bin ich dabei zu Handlungen, die meinen verinnerlichten Werten entsprechend und somit bei deren Ausführung angenehme Emotionen erwarten lassen oder bei Unterlassung zu einem schlechten Gewissen oder Schuld führen. Diese Erwartungen werden dabei in Bezug zu den weiteren Folgen und deren emotionaler Bewertung gesetzt. Ein aktives Eingreifen in einen Konflikt kommt nur dann zustande, wenn der Wunsch »ein guter Mensch« zu sein stärker wiegt als die Angst davor, dadurch selbst zum Opfer zu werden. Je nachdem, wie sich die entsprechenden Handlungen schließlich bewähren, werden sie verfestigt oder verändert und selbst emotional belegt. Im schlimmsten Fall können Misserfolge oder negative Emotionen in Bezug auf die Ergebnisse der eigenen Handlungsweisen dazu führen, Konfliktlöseversuche in Zukunft zu vermeiden.15 Es bringt also nichts, moralische Dilemmata lösen zu können, wenn das schlechte Gewissen hinterher so sehr nagt, dass man im nächsten Konflikt aus Angst davor, sich erneut schlecht zu fühlen oder gleich ganz zu versagen, handlungsunfähig wird. Für eine nachhaltige Konfliktlösungskompetenz, vor allem in schwierigen Situationen, sind somit Methoden im Umgang mit den eigenen Folgeemotionen wie Scham, Schuld und schlechtem Gewissen nötig. Die Förderung moralischer Lernprozesse ist damit zugleich auf die Vermittlung von Methoden der Emotionsregulation angewiesen. Werden diese Aspekte berücksichtigt, dann können nicht nur

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Siehe zusammenfassend zur Funktion von Emotionen beispielhaft Huber, Matthias: Emotionale Markierungen. Zum grundlegenden Verständnis von Emotionen für bildungswissenschaftliche Überlegungen, in: Huber, Matthias; Krause, Sabine (Hg.): Bildung und Emotion, Wiesbaden 2018, S. 91-110, S. 93f, sowie Meier-Seethaler, Carola: Gefühl und Urteilskraft, S. 293-298 und Ernst, Kulturwissenschaftliches Forschen, S. Vgl. Nunner-Winkler, Entwicklungen, S. 51. Vgl. beispielhaft ebd., sowie Billmann-Machecha, Elfriede; Horster, Detlef: Wie entwickelt sich moralisches Wollen? Eine empirische Annäherung, in: Horster, Detlef (Hg.): Moralentwicklung von Kindern und Jugendliche, Wiesbaden 2007, S. 77-102 und Keller, Monika: Moralentwicklung und moralische Sozialisation, in: Horster, Detlef (Hg.): Moralentwicklung von Kindern und Jugendliche, Wiesbaden 2007, S. 17-49. Vgl. Damasio, S. 171f.

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Moralprinzipien und moralische Regeln erlernt, sondern auch die entsprechenden Motivationen verstetigt werden. Die Möglichkeit dazu ergibt sich vor allem auch daraus, dass Emotionen keineswegs rein subjektiv sind, sondern grundsätzlich sozial vermittelt werden und kultureller Prägung unterliegen. Dies betrifft dabei nicht nur Auslöser und Ausdruck, sondern ebenso das Empfinden dieser.16 In ihnen vermischen sich angeeignete gesellschaftliche Werte mit biografischen Erfahrungen und kulturell bereitgestellten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern. Emotionen bieten somit eine Erklärung für unser Verhalten und machen dieses daher bis zu einem gewissen Grad vorhersagbar.17 Entsprechend erscheint es nötig, dass wir uns in andere hineinversetzen und Vermutungen darüber anstellen können, welchen Dingen sie welche Bedeutung beimessen, welche Bedürfnisse und Interessen sie haben, welchen Zwängen sie ausgesetzt sind und vor allem auch, in welchen emotionalen Zuständen sie sich gerade befinden. Was uns selbst oder scheinbar objektiv als nur leicht unangenehm erscheint, kann vor dem Hintergrund der Erfahrungen anderer Menschen zu drastischen Reaktionen führen. Das Einfühlen in andere wird somit zu einer zentralen Kompetenz.18 Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Begründung des eigenen Handelns. Auch diese vermeintlich rein rationale Domäne kommt nicht ohne emotionale Prozesse aus. So kann der eigene Lösungsvorschlag auch trotz scheinbar guter Argumente schnell abgelehnt werden. Die Wahrscheinlichkeit dessen

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Zur Abhängigkeit des konkreten Empfindens von kulturell erlernten Emotionskonzepten und Sprache siehe u.a. Trepp, Anne-Charlott: Gefühl oder kulturelle Konstruktion? Überlegungen zur Geschichte der Emotionen, in: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 2002, Band 7, Kulturen der Gefühle in Mittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart und Weimar 2002, S. 86-103, S. 88f, Reddy, William: The Navigation of Feeling: A Framework for the History of Emotions, New York 2001, S. 35f, sowie Sommers, Shula: Understanding Emotions: Some Interdisciplinary Considerations, in: Stearns, Carol Z.; Stearns, Peter N. (Hg.): Emotion and Social Change. Toward a new Psychohistory, New York 1988, S. 23-38, S. 28-30, Stalfort, Jutta: Die Erfindung der Gefühle. Eine Studie über den historischen Wandel menschlicher Emotionalität (1750-1850), Bielefeld 2013, S. 82-85, 108-112 und 162-163 und Engelen, Eva-Maria u.a.: Emotions as Bio-cultural Processes: Disciplinary Debates and an Interdisciplinary Outlook, in: Markowitsch, Hans J.; Röttgern-Rössler, Birgitt (Hg.): Emotions as Bio-cultural Processes, New York 2009, S. 23-53, S. 36. Vgl. dazu auch Hartmann, Gefühle, S. 14. Vgl. Landweer, S. 53.

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steigt dabei nicht nur je schlechter es dabei um die jeweilige Selbstreflexion bestellt ist, sondern auch, je stärker die eigenen Verhaltensroutinen mit dem Selbstbild verbunden und damit emotional abgesichert sind. Jede*r Veganer*in kann davon ein Lied singen. Bereits dieser Satz kann schnell als Angriff auf die Legitimitität des eigenen Verhaltens aufgefasst werden. Spüren Sie also selbst einmal gezielt nach, was er bei Ihnen auslöst, besonders dann, wenn Sie in diesem Fall auf der Seite der vermeintlich Unbelehrbaren stehen. Der Zwang, nur die scheinbare Rationalität von Argumenten anzuerkennen, verschleiert dabei unsere emotionalen Bindungen an bestimmte Aussagen und Behauptungen, statt diese in den Diskurs zu integrieren und somit zu reflektieren. Eine wichtige Rolle spielt hierbei auch das Verhältnis zur jeweiligen Person oder dessen gesellschaftlicher Rolle. Je mehr wir dieser zugetan sind, umso eher sind wir bereit, uns in sie hineinzuversetzen und ihre Bedürfnisse aber auch Argumente anzuerkennen, insbesondere dann, wenn sie auch noch mit unseren eigenen konformgehen. Ähnliches gilt für moralische und soziale Regeln und Werte. Diese müssen uns persönlich wichtig geworden sein und bedeutsam erscheinen, damit wir sie berücksichtigen.19 Das kann dabei durchaus einschließen, sich nicht den unangenehmen Empfindungen und Folgen durch deren Übertretung auszusetzen, erschöpft sich aber nicht darin.20 Das bedeutet nicht nur, dass uns ein vermeintlich emotionsloses Denken laut Meier-Seethaler immer zu einer »partiellen Wertblindheit« führe, sondern auch, dass sich Wertorientierung nicht allein durch Argumentation erreichen lässt.21 Zwar beeinflusst auch das Denken das Fühlen, aber ohne Offenlegung und Thematisierung der emotionalen Prozesse, bleibt dies zufällig und unbemerkt.

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Vgl. Nunner-Winkler, Entwicklungen, S. 53. Vgl. Landweer, Hilge: »Vor der Kreuzspinne braucht man sich nicht zu fürchten.« Emotionen, Situationen und Angemessenheit, in: Edler, Makrus; Gebauer, Gunter (Hg.): Sprachen der Emotion. Kultur, Kunst, Gesellschaft, Frankfurt a.M. und New York, S. 4968, S. 53-55. Ein Sonderfall stellt dabei das Bedürfnis dar, überhaupt gut zu sein. In diesem Fall sind uns die konkreten Regeln vielleicht nicht wichtig, Hauptsache, sie führen dazu, unser positives Selbstbild zu erhalten. Vgl. auch Nunner-Winkler, Entwicklungen, S. 66. Vgl. dazu Meier-Seethaler, S. 20 sowie Arnold, Rolf: Seit wann haben Sie das? Grundlagen eines Emotionalen Konstruktivismus, 2. Aufl., Heidelberg 2012, S. 55.

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Heinz und seine Frau22 Ungeachtet dieser Befunde verbleiben viele der Standardmethoden des LERund Ethikunterrichts weiterhin in einer rationalistischen und moralphilosophischen Engführung gefangen, die einen Großteil der lebensweltlichen Aspekte und der emotionalen Prozesse ausklammern. Besonders deutlich wird dies an der sog. Dilemmadiskussion, die (mittlerweile in verschiedenen Ausgestaltungen) immer noch eine zentrale Stellung als Methode für das Morallernen einnimmt.23 Die Kritik am zugrunde liegenden Kohlbergschen Stufenmodell der Moralentwicklung einmal außen vor gelassen, lässt sich auch hier vor allem die Lebensweltferne monieren. So werden auch laut Raters viel zu selten unauflösbare Konflikte oder zumindest solche, in denen Restzweifel bestehen bleiben, behandelt.24 Aber gerade mit diesen müsse der Umgang geübt werden.25 Ein Mangel an Gewissheit ist die Regel und nicht die Ausnahme, nicht nur, weil eine vollständige Beschreibung einer realen Situation ohnehin unmöglich bleibt, sondern auch, weil sich reale Konflikte in der Zeit des Nachdenkens weiterentwickeln.26 Ebenso fehlt häufig das Verständnis für die Notwendigkeit, den Umgang mit Schuld, Verantwortung und schlechtem

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Die Überschrift verweist auf den Klassiker schlechthin unter den Dilemmageschichten. Die Frau von Heinz ist schwer erkrankt, könnte jedoch eventuell durch ein neues Medikament geheilt werden. Für dieses hat Heinz jedoch kein Geld. Alle anderen legalen Mittel sind ebenfalls erfolglos ausgeschöpft worden. Für Heinz stellt sich nun die Frage, ob er das Medikament von einem Apotheker stehlen sollte. Mittlerweile ist dieses Beispiel wieder erschreckend real geworden. Die folgenden Ausführungen beziehen sich zwar auf die klassische Dilemma-Methode nach Kohlberg, die hier angeführten Argumente lassen sich aber auch auf andere Varianten wie bspw. das Konstanzer Modell oder die Argumentationsmethode nach Hall anwenden. Vgl. dazu Lind, S. 73 und Hall, Robert T.: Unterricht über Werte. Lernhilfen und Unterrichtsmodelle, München u.a. 1979, S. 47-55. Vgl. Raters, Marie-Luise: Das moralische Dilemma im Ethik-Unterricht, Moralphilosophische Überlegungen zur Dilemma-Methode nach Lawrence Kohlberg, Dresden 2001, S. 125. Ein Beispiel wäre die Triage im Zuge der »Corona-Krise«. Hier mussten Ärzt*innen entscheiden, welche Patient*innen eine lebensrettende Behandlung bekommen sollten und welche nicht, da die Kapazitäten nicht für alle ausreichten. Bei den Prognosen, welche Personen die besten Überlebenschancen hatten, blieben nicht nur Restzweifel, jede Entscheidung bedeutete auch den wahrscheinlichen Tod mindestens einer Person. Vgl. ebd., S. 166. Vgl. ebd., S. 137f.

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Gewissen zu einzuüben.27 Ein Grund dafür könnte der Verzicht auf spürbare oder zumindest für die Schüler*innen bedeutsame Konsequenzen sein, so dass diese einen entsprechenden Fokus mangels Involvierung auch gar nicht einfordern.28 Entsprechend gering kann auch die Motivation ausfallen, sich überhaupt mit dem jeweiligen Szenario auseinanderzusetzen. Leider erfährt diese ohnehin wenig Beachtung. Zwar gibt es empirische Untersuchungen und Modelle, die auch diese erfassen, aber eine gezielte Einbindung und Reflexion findet in der Regel nicht statt.29 Da ist es nicht verwunderlich, dass übersehen wird, dass in den meisten alltäglichen moralischen Konflikten eher Eigeninteressen den moralischen Normen gegenüberstehen und damit ganz andere Abwägungsprozesse in Gang sind, die auch gänzlich anderen Motivationen folgen. Die alltägliche Lebenswelt ist weder praktisch, noch aufgrund des illusorischen Charakters dieses Konstrukts, theoretisch ein idealer moralphilosophischer Diskurs.30 Es bringt also nichts, gebetsmühlenartig die Forderung nach einer unmöglichen Neutralität und emotionslosen Sachlichkeit zu wiederholen. Stattdessen sollte ein erster Schritt darin bestehen, Emotionen als Einflussfaktoren explizit zu thematisieren. Diese können und sollten dabei, ebenso wie andere Aussagen auch, ernst genommen werden, um sie dann unter Bezugnahmen auf deren Funktion, einer kritischen Reflexion zu unterziehen ohne sie dabei vorzuverurteilen. Um Landweers Terminologie aufzugreifen, lässt sich also durchaus über deren Angemessenheit diskutieren. Zugleich muss der Umgang mit moralischen Konflikten aktiv trainiert werden. Das kann nicht bedeuten, Schüler*innen ständig schweren Konflikten auszusetzen und die Konsequenzen drastisch spürbar zu machen. Es stellt sich aber die Frage, ob nicht zumindest einige der (emotionalen) Schwierigkeiten auch simuliert werden könnten. Um dies möglich zu machen, benötigt es entsprechende Medien und Herangehensweisen. Abstrakte Fallbeispiele mit Figuren wie dem berühmten Heinz und seiner Frau sind letztlich nur leere Platzhalter und keine Charaktere, die mit Ängsten, Hoffnungen, sozialen Zwängen und eigenen Wertvorstellungen ausgestattet sind, die es zu erfassen und zu beachten gilt. Ein empathisches Einfühlen ist auf diese Weise gar nicht möglich, sondern allenfalls ein freies Fantasieren darüber.

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Vgl. ebd., S. 160. Vgl. ebd., S. 153. Vgl. Nunner-Winkler und Lind. Einen solchen gibt es noch nicht einmal unter Moralphilosoph*innen.

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Eine Erweiterung zu den bisherigen Ansätzen stellt die Narrative Ethik dar. Hierbei werden die moralischen Konfliktsituationen in Geschichten verpackt, die erst einmal erschlossen werden müssen.31 Dazu gehört auch, sich in die entsprechenden Charaktere hineinzuversetzen. Zugleich sorgt die narrative Aufarbeitung dafür, dass es durchaus mehr als zwei sich gegenseitig ausschließende Handlungsmöglichkeiten geben kann, die manchmal auch erst einmal gefunden werden müssen. Die Sogwirkung von guten Geschichten kann zudem dazu führen, ein stärkeres Interesse daran zu entwickeln, den vorgestellten Konflikt auch durchdenken und lösen zu wollen. Auf die Entscheidung wirken dabei mitunter verschiedenste Emotionen ein, die sich auch aus der Sympathie oder Antipathie gegenüber den Protagonist*innen ergeben. Die Narrativierung stellt damit einen wichtigen Schritt dar, um sowohl lebensweltliche Relevanz zu erzeugen, als auch Emotionen ins Spiel zu bringen. Was weiterhin fehlt ist jedoch das Handeln. Auch bei der Bearbeitung der Geschichten wird vor allem eher das Denken als das Handeln geübt. Gerade um dieses geht es aber.32 Es ist etwas anderes, sich die Theorie über das Schwimmen anzueignen und tatsächlich ins kalte Wasser geworfen zu werden und die Fähigkeit zu haben, sich in diesem Element behaupten zu können.33 Der Mensch ist immer auch Körper und diesem daher ausgesetzt. Um Werte oder auch moralische Regeln zu tragfähigen Leitlinien des Handelns zu machen, müssen sich diese im Umgang bewähren, also auch in ihren Wirkungen erleben lassen.34 Wird dies nicht getan, besteht wortwörtlich die Gefahr, wieder in alte Muster zurückzufallen, denn wo keine neuen vorhanden sind, bleibt vor allem in Situationen, in denen die Handelnden unter Druck stehen oder schnelle Entscheidungen nötig sind, nur die Orientierung an den bisher bewährten, vor-reflexiven Handlungsabläufen. Eine Möglichkeit, körperliches Handeln in Konfliktsituationen zu üben, bieten theatrale Methoden wie das Theater der Unterdrücken bzw. das Forumtheater Augusto Boals.35 Hierbei werden die Zuschauenden zunächst mit

31 32 33 34 35

Vgl. Haker, Hille: Narrative Ethik, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik, 32 (2010), S. 74-82. Vgl. Raters, S. 152. Das gilt ebenso für den Bereich des moralischen Denkens und Handelns. Vigl dazu auch Lind, S. 18. Vgl. Arnold, Grundlinien, S. 55. Vgl. dazu Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für für Schauspieler und Nicht-Schauspieler, Frankfurt a.M. 1989.

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einem (meist kurzen) Theaterstück konfrontiert, das in einem zweiten Durchlauf jederzeit gestoppt werden kann und auch soll, so dass die Zuschauenden dann an die Stelle der Schauspieler*innen treten und sich so an der Konfliktlösung zu beteiligen. Damit dies funktioniert, ist allerdings viel Vorbereitung nötig, vor allem dann, wenn nicht auf ein bereits bestehendes Projekt zurückgegriffen werden kann. In diesem Fall muss selbst ein Stück adaptiert oder entwickelt werden und es gilt eine Entscheidung darüber zu treffen, welche Personen die anfängliche Inszenierung verwirklichen. Diese sollten dabei über genug Improvisationsgabe verfügen, um auf die Veränderungen durch das Plenum reagieren zu können. Dazu ist es nötig, bereits eine gute Vorstellung davon zu haben, wie Konflikte entstehen und sich entwickeln. Auf Seiten des Plenums hingegen erfordert die spontane Mitwirkung in einer solchen theatralen Inszenierung nicht nur eine Menge Mut, die direkte körperliche Konfrontation kann auch überfordern, zu tatsächlichen Konflikten führen oder bereits bestehende verstärken. Auf der anderen Seite kann die dargestellte Geschichte auch Gefahr laufen, schnell einvernehmlich gelöst zu werden, um der Situation zu entkommen. Was geschieht, hängt zudem vor allem von der Vorstellungskraft der Beteiligten ab. Nichtsdestotrotz handelt es sich hier um eine lohnende Variante, spielerisch mit Konflikten umzugehen und dabei den Körper zu integrieren. Die hier vorgestellten Methoden, auch die Dilemmadiskussion, haben also durchaus ihren Sinn, da sie gezielt bestimmte Aspekte betrachten und einige Teilkompetenzen trainieren. Eine schulische Ethikdidaktik, deren Kompetenzerwerb auf die Lebenswelt gerichtet ist (eine wissenschaftliche Karriere eingeschlossen!), sollte aber bemüht sein, auch die bisher vernachlässigten Aspekte zu ergänzen.36 Inwieweit digitale Spiele bzw. das Spielen hierfür ein geeignetes Medium sein könnten, soll im Folgenden diskutiert werden.

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Vgl. dazu auch Keller, S. 42.

Digitale Spiele als Ermöglichungsräume

Digitale Spiele als Ermöglichungsräume für moralische und emotionale Erfahrungen Was digitale Spiele sind, darüber wird seit Jahrzehnten gestritten.37 Aus Sicht der Didaktik sind diese interdisziplinären Grabenkämpfe um Zuständigkeiten und Deutungshoheiten allerdings kaum relevant. Wichtig ist hier vor allem der Aspekt, dass digitale Spiele deren Nutzer*innen mittels bestimmter Motivationsstrategien dazu bringen, in einem vorgegebenen Rahmen bestimmte Probleme zu lösen und die dafür nötigen Fähigkeiten zu entwickeln. Digitale Spiele regen also recht erfolgreich zu informellen Lernprozessen an. Die Frage, die sich aus didaktischer Sicht stellt ist folglich, wie sich diese in formelle Lernprozesse zur Entwicklung emotionaler Kompetenzen umwandeln lassen. Digitale Spiele erschaffen Welten.38 Diese können sehr einfach oder sehr komplex gestaltet sein, mit vielen Figuren, unterschiedlichen Gesellschaften, einer Vielzahl an Ereignissen und eigenen Geschichten, die es erst einmal zu entdecken und zu verstehen gilt. Die Nutzer*innen können sich in dieser im Rahmen bestimmter Grenzen des Möglichen frei bewegen. Sie sind also nicht nur Rezipient*innen, sondern mit Handlungsmacht ausgestattete Akteur*innen, deren Eingreifen nötig ist, um voranzukommen.39 Das bedeutet, dass, im Unterschied zu anderen Medien und Erzählweisen, die hier vorgefundenen Situationen mit ihren (virtuellen) sozialen und kulturellen Kontexten nicht nur analysiert und gedeutet werden können, sondern als Probleme handelnd zu bewältigen sind. Dabei gilt es, durchaus unter Zeitdruck und mit ungewissem Ausgang, Entscheidungen zu treffen, deren Konsequenzen, anders als beispielsweise bei Gedankenexperimenten, tatsächlich sichtbar und erfahrbar gemacht werden. Entscheidend ist nun, dass einige digitale Spiele ausdrücklich auch moralische Konfliktsituationen simulieren und es auf diese Weise ermöglichen, Erfahrungen mit deren Bewältigung zu sammeln. Durch das Probehandeln in der virtuellen Welt können dabei Handlungsmuster und -motivationen geschaffen werden, die dann zumindest einen Schritt

37

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Vgl. Günzel, Stephan: Raum(bild)handlung im Computerspiel, in: Strohmeier, Alexandra (Hg.): Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transidziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften, Bielfeld 2013, S. 489-509. Jenkins vergleicht digitale Spiel in dieser Hinsicht mit Themenparks. Vgl. Günzel, S. 501f. Vgl. Matuszkiewicz.

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auf dem Weg zum tatsächlichen Handeln auch in der eigenen alltäglichen Lebenswelt darstellen.40 Dank Virtualität und Fiktionalität, erlauben digitale Spiele dabei zugleich ein gefahrloses Experimentieren mit Möglichkeiten und Optionen.41 Das heißt allerdings nicht, dass dies automatisch zu einer Gleichgültigkeit des Handelns führt. Deren immersive Wirkung kann zu einem »emotional investment« führen, das bei Spielenden nicht das Interesse an der Erreichung der Spielziele oder eines Highscores wecken kann, sondern auch am Ausgang des Spiels und am Wohlergehen der Charaktere.42 Digitale Spiele haben also das Potential, (moralische) Konfliktsituation zu simulieren, in die die Nutzer*innen emotional involviert sind, so dass ihnen die Entscheidungen die sie treffen bzw. die möglichen Konsequenzen etwas bedeuten. Auf diese Weise können virtuelle Dilemmasituationen weit besser für realweltliche Dilemmata sensibilisieren als abstrakte Gedankenspiele oder rezipierte Geschichten. Nicht nur führen sie (durch die ebenso notwendige Reduktion des Inhalts) zu deren Komplexität hin, sie bereiten auch auf bestimmte Erfahrungen vor. An die Stelle einer abstrakten Diskussion über das Für und Wider moralischer Theorien tritt somit die Frage nach dem richtigen Handeln in konkreten Situationen, geprägt durch eigene erlebte und emotional erlittene Konsequenzen. Die in diesem Rahmen gemachten Erfahrungen können schließlich Basis nicht nur eines handlungs-, sondern auch erfahrungsbasierten Unterrichts sein.

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Varela spricht hierbei von Mikroidentitäten, die konkrete Handlungsbereitschaften für bestimmte Mikrowelten bevorraten und so erst jenes alltägliche, spontan moralisches Handeln ermölichen. Vgl. Varela, S. 16. Zum Thema der Gefahrlosigkeit der Erfahrung siehe Mitgutsch, Konstantin;/Schrammel, Sabrina: Computerspielen als medial-kulturelle Praktik. Ein medienpädagogischkulturtheoretischer Zugang zum Phänomen Computerspielen, in: MedienPädagogik Themenheft 15/16 (2009), online unter: www.medienpaed.com/article/view/100, S. 2. Vgl. Boltz, Liz Owens u.a.: Rethinking Technology & Creativitiy in the 21st Century: Empathy through Gaming – Perspective Taking in a Complex World, in: TechTrends 59(6) (2014), S. 3-8, S. 6.

Digitale Spiele als Ermöglichungsräume

Digitale Spiele im Unterricht Diese und andere Potentiale von digitalen Spielen sind im Grunde bekannt.43 Allerdings existieren bisher kaum konkrete Vorschläge wie der Unterricht mit ihnen gestaltet werden kann, so dass jene Potentiale auch verwirklicht werden. Das ist deswegen besonders problematisch als in Bezug auf den Einsatz digitaler Spiele einiges zu beachten ist. Das fängt bei der Auswahl eines geeigneten Computerspiels an, denn die einzelnen Genres und Titel unterscheiden sich mitunter sehr stark voneinander. Ein erster wichtiger Punkt sind die technischen Grundvoraussetzungen, die auch von der vorhandenen Hardware erfüllt werden müssen. Als nächstes sind die Anforderungen an das Können der Nutzer*innen entscheidend. Digitale Spiele, die für das jeweilige Alter zu schwer sind oder deren Steuerung zu kompliziert ist und die daher nur langsam erlernt werden können, scheiden für den Unterricht aus. Ebenso sollten die Inhalte altersgerecht aufgearbeitet sein, um auch verstanden werden zu können. Am wichtigsten für das Gelingen sind jedoch die Relevanz und die Ausgestaltung der Inhalte für das anvisierte Thema. In Bezug

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Siehe dazu beispielhaft Boltz, Fromme, Johannes u.a.: Bildungspotentiale digitaler Spiele und Spielkulturen, in: MedienPädagogik Themenheft 15/16 (2009), online unter: www.medienpaed.com/article/view/103, Grizzard, Matthew u.a.: Being Bad in a Video Game Can Make Us More Morally Sensitive, in: Cyberpsychology, Behaviour and Social Networking 17(8) (2009), S. 499-504, Lewis, Nicky; Weaver, Andrew J.: Mirrored Morality: An Exploration of Moral Choice in Video Games, in: Cyberpsychology, Behaviour and Social Networking 15(11) (2012), S. 610-614, Mitgutsch/Schrammel, PPetko, Dominik: Unterrichten mit Computerspielen. Didaktische Potenziale und Ansätze für den gezielten Einsatz in Schule und Ausbildung, in: MedienPädagogik Themenheft 15/16 (2008), online unter: www.medienpaed.com/article/vi ew/106, Simkins, David D.; Steinkuehler, Constance: Critical Ethical Reasoning ans Role-Play, in: Games and Culture 3 (2008), S. 333-355, Wimmer, Jeffrey: Moralische Dilemmata in digitalen Spielen. Wie Computerspiele die ethische Reflexion fördern können, in: Communicatio Socialis, 47(3) (2014), S. 274-282, Maisenhölder, Patrick: Philosophieren lernen mit digitalen Spielen. Die Nutzung digitaler Spiele zur Vermittlung philosophisch-ethischer Inhalte und Kompetenzen am Beispiel des Kontraktualismus und Minecraft, in: Digitale Spiele im Diskurs, 2018, online unter: https://ub-deposit.fernuni-hagen.de/servlets/MCRFileNodeServlet/mir_derivate_0 0001647/DSiD_Maisenh%C3%B6lder_philosophieren_digitale_Spiele_2018.pdf, sowie Christen, Markus; Katsarov, Johannes: Serious Moral Games. Videospiele als Werkzeuge der Ethikbildung, in: Digitale Spiele im Diskurs, 2018, online unter: https://ub-depo sit.fernuni-hagen.de/receive/mir_mods_00001221.

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auf die Förderung der Ethischen Partizipationskompetenz müssen auch tatsächlich moralische Konfliktsituationen auftauchen, die es handelnd zu bewältigen gilt. Die möglichen Handlungsoptionen sollten dabei nicht zu eng vorgegeben und die Konsequenzen der Entscheidungen spürbar sein, ohne dabei jedoch zu flach auszufallen. Die Folgen dürfen also nicht nur in einer Veränderung der Punktzahl bestehen. Ist ein geeignetes Spiel gefunden, muss es als nächstes entsprechend des Themas und des angestrebten Kompetenzerwerbs nutzbar gemacht werden. Dafür muss sichergestellt werden, dass es auf eine bestimmte Art gespielt werden kann und auch wird.44 Grundsätzlich kann dabei zwischen zwei »Idealtypen« unterschieden werden, die hier als die narrative und die ludische Spielweise bezeichnet werden sollen und jeweils andere planbestimmte Interessen im Sinne Schütz’ verfolgen.45 Ziel der ludischen Spielweise ist die Bewältigung des Spiels als spielerische Herausforderung. Es geht also darum, dieses so schnell, so gut oder überhaupt zu gewinnen. Die entsprechenden Handlungen orientieren sich daher vor allem an den Spielregeln und der Überwindung der vom Spiel bereitgestellten Hindernisse, die dabei als spielerische verstanden werden. Demgegenüber zielt eine narrative Spielweise darauf ab, das Spiel auf seiner Erzählebene zu verstehen und gemäß dieser seine Handlungen auszurichten. Das Mögliche ist hierbei zusätzlich durch die Vorstellungen des Spielenden in Bezug auf das Sinnvolle oder Richtige im Rahmen der erzählten Geschichte und der darin vorkommenden Charaktere begrenzt. Nur im Rahmen dieser Spielweise treten überhaupt moralische Konflikte als solche zutage.46 Sie sind eben ausdrücklich nicht nur spielerische Hürden, denen allein mit spielerischen Fertigkeiten begegnen werden kann, sondern solche, die den Einsatz ethischer Kompetenzen erfordern.47 Eine solche Spielweise lässt sich jedoch nicht er-

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Diese Herausforderung ähnelt derjenigen im Umgang mit dem Medium Film. Auch hier verpuffen Potentiale, wenn dieser nicht richtig in den Unterricht eingebunden wird. Vgl. Schütz, S. 172. Das bedeutet allerdings nicht, dass nicht auch eine ludische Spielweise eingesetzt werden kann, um die Ethische Partizipationskompetenz zu fördern. Dies erfordert dann jedoch weitere Mitspieler*innen im Rahmen eines Multiplayspiels, so dass die dabei entstehenden Konflikte zum Thema gemacht werden können. Sicart verwendet hierfür den Begriff des Ethical Gameplay. Vgl. Sicart, Michel: Digital Games as Ethical Technologies, in: Sageng, John Richard u.a. (Hg.): The Philosophy of Computer Games, Dordrecht u.a. 2012, S. 101-124, S. 105.

Digitale Spiele als Ermöglichungsräume

zwingen.48 Die Entscheidung, ob die Nutzer*innen das Angebot des digitalen Spiels, Situationen als moralische Konflikte zu interpretieren, annehmen oder eben nicht, liegt letztlich bei diesen selbst. Gleichwohl können einige Vorkehrungen getroffen werden, um eine solche Spielweise zu begünstigen. Diese sind schon deswegen dringend angeraten, weil die Nutzung digitaler Spiele im Unterricht noch recht neu ist und es daher keine bereits bestehenden Muster gibt (wie etwas beim Schauen eines Films im Unterricht), sondern diese erst entwickelt und vermittelt werden müssen. Es muss also seitens der Lehrkraft und des Lernsettings deutlich gemacht werden, dass es nicht darum geht, ein Spiel wie in der Freizeit zu spielen. Da Sprache nicht nur das Denken, sondern auch das Handeln prägt, sollte bereits auf dieser Ebene angesetzt werden.49 Hier bietet es sich an, beispielsweise von einem Experiment mittels einer digitalen Simulation zu sprechen. Dies gilt dabei nicht nur in der Kommunikation gegenüber den Schüler*innen. Auch die Lehrkräfte dürfen digitale Spiele nicht nur als Freizeitmedium begreifen, sondern sollten sie als praktischen Teil eines Gedankenexperiments verstehen. Eine solche Anbindung an ein bereits bekanntes Medium vereinfacht dessen gedankliche und didaktische Integration in den Unterricht. Weiterhin ist besondere Vorsicht auch in Bezug auf die durch das Spiel erzeugten Emotionen geboten. So stehen diese beispielsweise in der Kritik, nicht »echt« zu sein. Dagegen wendet sich Lankoski und betont, dass es auch im digitalen Spiel reale Bedrohungen gibt, die Angst oder Wut erzeugen, bspw. der mögliche Tod einer geliebten Spielfigur, mit der man sich identifiziert oder in deren Ausbau man viel Zeit investiert hat.50 Dieses emotionale

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Dieses Problem betrifft allerdings nicht nur digitale Spiele, sondern letztlich jedwede Unterrichtsmaterialien zum Üben moralischer Konfliktlösung. Grund ist deren spielerisch-übender Charakter. Es handelt sich nämlich weder um eine ernsthafte moralische Situation, noch ausschließlich um eine solche, sondern immer auch um eine soziale und Unterrichtssituation. Dies gilt selbst für sehr formal gehaltene Dilemmata wie das berühmte Heinz-Dilemma. Auch hier muss das Interesse nicht darin bestehen, das Beispiel als moralischen Konflikt zu behandeln und zu lösen, sondern der Lehrperson zu gefallen oder die Mitdiskutierenden zu »besiegen«. Mit Wehling gesprochen geht es darum, ein entsprechendes Framing zu etablieren, das die gewollten Handlungen und Sichtweisen begünstigt. Vgl. Wehling, Elisabeth: Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht, Köln 2016, S. 17f. Vgl. Lankoski, Petri: Computer Games and Emotions, in: Sageng, John Richard u.a. (Hg.): The Philosophy of Computer Games, Dordrecht u.a. 2012, S. 39-55, S. 44.

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Potential steigert sich, je größer die Immersionseffekte werden und die Situation des fiktionalen »Als-ob« vergessen wird, weil die Spielenden für den Moment im Spiel versinken. Ebenso kann die Identifikation mit der Spielfigur als Repräsentation des eigenen Selbst dazu beitragen, virtuell Erfahrenes mit tatsächlichen, auf sich das eigene Wohlergehen bezogenen Emotionen zu beantworten, die nicht weniger »echt« sind als in anderen Fällen. Ein weiterer Auslöser sind empathische Empfindungen. Dank der Spiegelneuronen reicht es aus, andere, auch fiktive andere, zu beobachten, um mit diesen mitfühlen zu können.51 Die Performance der Nutzer*innen kann dabei nicht nur durch Empathie, sondern auch durch Sympathie im Sinne von »feelings of pity and sorrow for someone else’s misfortune« geprägt sein.52 Auch durch das Handeln in virtuellen Settings können also durchaus moralische bzw. soziale Emotionen wie Schuld und Mitleid hervorgerufen werden.53 Allerdings muss das entsprechend vorbereitet und angeleitet werden. Dafür ist es nötig, die Aufgabenstellung entsprechend angepasst und ausgerichtet werden. Von den Schüler*innen sollte also nicht verlangt werden, das Spiel zu spielen, sondern sich beispielsweise in ein*n Protagonist*in hineinzuversetzen, sich deren Motive, Hoffnungen und Ängste vorzustellen und entsprechend dieser zu handeln. Wird die Aufgabenstellung nicht entsprechend formuliert, kann es passieren, dass vor allem solche Emotionen entstehen, die in Bezug auf das Spielen als Praktik auftreten, also beispielsweise der Frust darüber, ein Level nicht geschafft zu haben oder Freude über eine besonders begehrtes Achievement.54 Entsprechend werden auch nur diese benannt. Die eigenen, während des Spielens erlebten Empfindungen sind aber nicht bedeutungslos. Sie können wunderbar dazu dienen, Emotionen überhaupt als Einflussfaktoren auf menschliches Wahrnehmen, Denken und Handeln zu betrachten. Aber auch hier ist Vorsicht geboten. Noch immer werden Emotionen insbesondere bei männlich sozialisierten Schüler*innen als Ausdruck von Schwäche oder Irrationalität und damit als wenig wertvoll angesehen. Ebenso gelten sie entgegen der aktuellen Forschung allzu oft noch immer als privates Phänomen. Deren

51 52 53 54

Vgl. ebd., S. 47. Vgl. Boltz, S. 6. Vgl. Butler, S. 79, Lewis, S. 610, Boltz, S. 5 und Grizzard. Bei Achievements handelt es sich um besondere Belohnungen, die die Spielenden für bestimmte Leistungen in Spielen erhaltenund die häufig auch online von anderen eingesehen werden können.

Digitale Spiele als Ermöglichungsräume

explizierte Beobachtung, Benennung, Thematisierung und Reflexion wird zudem in der Schule kaum geübt. Dies kann zu Zurückhaltung und Ängsten führen, die es zu berücksichtigen gilt. Es ist also nicht nur nötig, die entsprechenden Wahrnehmungs- und Reflexionsfähigkeiten zu üben, sondern auch die Thematisierung von Emotionen zu normalisieren, einen Vertrauensrahmen dafür zu schaffen und behutsam vorzugehen. Besonders am Anfang scheint es daher ratsam, den Schüler*innen Spiegelcharaktere anzubieten, so dass diese aus dem Schutz der vermeintlichen Rolle heraus ihre eigene Emotionalität zu Sprache bringen können. Wann immer nun Emotionen im Unterricht zielgerichtet hervorgerufen werden, sollten diese also ausdrücklich auch thematisiert werden. Darüber hinaus ist es in manchen Fällen, besonders bei starken und negativen Gefühlen ratsam, Nachsorge zu betreiben, damit die Schüler*innen nicht damit allein gelassen werden. Damit ist gemeint, dass nicht nur verschiedene Artikulations-, sondern auch Bewältigungsmöglichkeiten zum Thema gemacht werden sollten.55

55

Damit ist allerdings ausdrücklich keine Psychotherapie im landläufigen Sinne gemeint. Dies kann und soll Schule nicht leisten. Allerdings soll sie (wissenschaftlich fundierte) Angebote machen, wie bestimmte Phänomene in der Welt verstanden (und damit auch bewältigt) werden können, Im Fall von LER geht es dabei ausdrücklich um lebensweltliche Phänomene, zu denen eben auch Emotionen gehören, die hier auch noch explizit zum Unterrichtsthema gemacht werden. Auch die diesbezüglich gemachten Angebote können sich die Schüler*innen dann aneignen. Wenn hierbei von Therapie gesprochen wird, dann in einem weit gefassten Sinne und zwar insofern die Aneignung von neuen oder alternativen Angeboten eine Veränderung der eigenen Wirklichkeitskonstruktion bewirkt. Damit aber ist nicht nur jede Form von Unterricht immer auch Therapie, sondern bereits die wissenschaftliche Forschung. Siehe dazu beispielhaft Ernst, Sebastian: Kulturwissenschaftliches Forschen als anlasslose Selbsttherapie, in: Tomović, Jelena; Nicke, Sascha (Hg.): »Un-Eindeutige Geschichte(n)?! Theorien und Methoden in den Kultur-/Geschichtswissenschaften«, Berlin 2020, S. 225-246. Allgemein beruht ein solches Verständnis auf Watzlawicks konstruktivistischem Therapieansatz. Vgl. dazu Watzlawick, Paul: Wirklichkeitsanpassung oder angepaßte »Wirklichkeit«? Konstruktivismus und Psychotherapie, in Gumin, Heinz; Meier, Heinrich (Hg.): Einführung in den Konstruktivismus. Veröffentlichungen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung Band 5, München 2010, 89-107.

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Gibt es ein richtiges Leben im Falschen? – Ein Unterrichtsbeispiel »Nun standen wir vor dieser Entscheidung. Und wir würden mit den Konsequenzen leben müssen.«56 Im Folgenden soll nun ein mögliches Unterrichtsbeispiel skizziert und zur Diskussion gestellt werden. Dieses basiert auf dem 2016 erschienenen Beholder, das für Android, Microsoft Windows, iOS, Nintendo Switch, PlayStation 4, Linux, Mac OS, Xbox One und macOS erhältlich ist. Das Spiel hat eine USKFreigabe ab 12 Jahren. Die Grafik ist einem Comic-Stil gehalten und Gewalt vor allem indirekt sichtbar. In Beholder übernehmen die Spielenden die Rolle des Familienvaters Herrn Stein, der vom Ministerium für Zuweisung eines fiktiven Überwachungsstaates dazu abgeordnet wird, die Bewohner*innen eines Mehrfamilienhauses heimlich auszuspionieren und über diese Meldung zu erstatten. Um klar zu machen was passiert, wenn dieser Anordnung nicht Folge geleistet wird, wird der Spielende zu Beginn mit dem Schicksal des Vorgängers konfrontiert. Gerade im Haus angekommen ist zu sehen, wie dieser unsanft durch die Polizei abgeführt wird. Um die ihnen zugewiesene Aufgabe zu erfüllen, können sich die Spielenden der verschiedensten Mittel bedienen, von der Installation geheimer Überwachungskameras bis hin zum Einbrechen in die Wohnungen der Mieter*innen. Im Laufe der Zeit werden die Anweisungen und Verbote des Ministeriums nicht nur immer absurder, auch die Situation der Familie verschlechtert sich. Die Tochter wird schwer krank und der Sohn soll einen verhassten Job annehmen, weil das Geld für die Universität fehlt. Die nötigen Einnahmen zur Versorgung der Angehörigen lassen sich dabei nicht nur mit der Verfertigung von Berichten verdienen, sondern auch mit Erpressung, Diebstahl und Schwarzmarkthandel. Die Spielenden können sich allerdings auch entscheiden, möglichst unter dem Radar des Staates, anderen zu helfen und diese etwa bei der Flucht vor der Polizei zu unterstützen. Die Folgen sind dabei zunächst nicht absehbar, so dass die Spielenden durchaus immer wieder in schwierige Entscheidungssituationen geraten. Die Einheit, in der dieses Spiel genutzt wurde, trug den Titel »Gibt es ein richtiges Leben im Falschen?« Ziel war es, durch die 56

Huang, S. 355.

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Konfrontation mit dem Szenario die Rolle der Umstände unter besonderer Berücksichtigung der sich aus diesen ergebenden Emotionen für moralisches Handeln zu thematisieren.

1. Phase Einstieg Der Einstieg wurde in den beiden Testreihen unterschiedlich gestaltet. In einem Fall konnte direkt an die vorhergehende Einheit angeschlossen werden, die mit der Besprechung eines fiktiven Geiseldilemmas endete. Im zweiten Fall wurde die Einheit mit Ausschnitten aus dem Buch 1984 von George Orwell sowie aus dessen Verfilmung begonnen. Dies diente nicht nur der emotionalen Einstimmung auf ein dystopisches Setting, sondern auch dazu, zunächst die Analyse von Situationen und die Bewertung der Handlungen der Charaktere aus der Außenperspektive vorzunehmen, um diese dann später ins Verhältnis zu den eigenen Handlungen setzen zu können. Dazu sollten die Schüler*innen zunächst eigene Verhaltensrichtlinien für das Leben in einer solchen Welt formulieren und begründen. Da mittlerweile auch ein kostenloser Kurzfilm zum Spiel (»Beholder – Official Short Film«) auf Steam erhältlich ist, kann auch dieser zur Einstimmung genutzt werden. Ebenso würde sich ein Einstieg mit Zeitzeug*innenberichten aus der DDR anbieten.57 Um einen stärkeren Lebensweltbezug zu den Schüler*innen zu erreichen, wäre es ebenso möglich, von einer fiktiven Social-Media-Freundschaft auszugehen, bei der jene*r Freund*in in einem totalitären Regime lebt und schließlich um einen Rat bittet. Der Fall des Widerstands an einer Berufsschule in Nürnberg gegen die Abschiebung eines der Mitschüler bietet sich ebenfalls als Rahmen oder Einstieg an.58

2. Phase Spielvorbereitung Bevor mit dem eigentlichen Experiment begonnen wird, sollte in das Szenario der simulierten Welt eingeführt und emotional darauf eingestimmt werden. Dafür wurde im Beispiel zunächst das Intro gezeigt und zur Klärung von

57 58

Für diesen Tipp danke ich Petra Lenz. Zu dem Fall siehe beispielhaft Przybilla, Olaf; Sprick, Max: Geplante Abschiebung löst Tumulte an Nürnberger Berufsschule aus, in: Süddeutsche Zeitung vom 31.05.2017, online unter: https://www.sueddeutsche.de/bayern/franken-geplante-abschiebung-loesttumulte-an-nuernberger-berufsschule-aus-1.3529011.

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Fragen besprochen. Im Anschluss sollten erste Vermutungen darüber geäußert werden, was wohl die Aufgabe des Protagonisten sei, was diesen erwarte, wenn er diese nicht erfülle und welche Befürchtungen, Hoffnungen und Ziele dieser angesichts dessen haben könnte. Anschließend wurden kurz der Simulationsbildschirm und die Steuerung vorgestellt. Dies ist ratsam, um später Unterbrechungen in der emotionalen Involvierung und der narrativen Spielweise zu minimieren.

3. Phase Experiment Als nächstes folgte die eigentliche Experimentierphase, in der eigene Erfahrungen gesammelt werden konnten und selbst gehandelt werden musste. Was aus der unbeteiligten Außenperspektive leicht erscheinen mag, konnte nun eine ganz andere Qualität bekommen. Um die entsprechenden Erfahrungen zu ermöglichen, muss allerdings die Aufgabenstellung entsprechend formuliert werden. Dabei wurde mit zwei verschiedenen Varianten experimentiert. Variante eins sah vor, Zweiergruppen zu bilden, bei der immer eine Person mit der Durchführung der Simulation beschäftigt ist, während die andere ein Protokoll anfertigt, in dem wichtige Situationen und der Umgang mit diesen stichpunktartig notiert werden sollte. Dazu wurde ein Arbeitsblatt angefertigt. Nach der Hälfte der Zeit wurden die Rollen getauscht. Im Anschluss an die Simulationshandlung hatte die jeweilige Schülerin Zeit, die protokollierten Situationen Revue passieren zu lassen und ihre Entscheidung zu begründen, sowie, die aus ihrer Sicht im Protagonisten vorgehenden Emotionen zu beschreiben. Der Vorteil dieser Variante liegt darin, dass sich ganz auf die Simulation konzentriert werden kann und mitunter Handlungen und Situationen reflektiert werden müssen, die im ersten Moment gar nicht konfliktbehaftet wahrgenommen worden sind. In der zweiten Variante blieben die einzelnen Schüler*innen für sich. Auch hier mussten sie stichpunktartig wichtige Situationen und deren Bewältigung samt Begründung notieren. Im Anschluss daran bestand die Aufgabe darin, einen besonders schwierigen Tag oder auch mehrere herauszusuchen und ein Videotagebuch anzufertigen. Hierbei konnten sie sich in Gruppen zusammenfinden, um sich bei der Herstellung gegenseitig zu unterstützen. Der Vorteil liegt hierbei einerseits in dem spannenden und der Lebenswelt näherem Medium und andererseits in der Möglichkeit, Emotionen nicht nur mit bestimmten Situationen, sondern auch mit spezifischen Ausdrücken in Form von Körperhaltung, Sprechweise, Sprachnutzung usw. zu verbinden, die dann im Video nachgestellt und in

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der Analyse hinsichtlich ihrer Adäquatheit besprochen werden können. Damit wird auch die mitunter auftretende Problematik der Verbalisierung von Emotionen umgangen. In beiden Fällen starteten die Schüler*innen gemäß der Aufgabenstellung in das Spiel und konnten sich selbst für eine der beiden Schwierigkeitsgrade entscheiden. Es wurde allerdings dazu geraten, dass diejenigen, die wenig Erfahrung mit Computersimulationen hatten, sich eher an der einfacheren Version versuchen. Die Simulationsphase sollte nicht länger als 90 Minuten dauern.

4. Phase Auswertung Um anschließend in die Diskussion einzusteigen, wurde in einem ersten Schritt die Spielerfahrung ganz allgemein thematisiert. Dabei ging es darum, das Erlebte noch einmal ins Gedächtnis zu rufen und sich zunächst gemeinsam und frei darüber auszutauschen. Anschließend wurden einige Einträge der Videotagebücher bzw. Protokolle präsentiert und gemeinsam besprochen. Dabei ging es darum, Handlungsweisen und Begründungsmuster, unter besonderer Berücksichtigung der Emotionen, zu sammeln, miteinander zu vergleichen und schließlich im Hinblick auf die Frage zu diskutieren, ob es ein richtiges Leben im Falschen gäbe bzw. wonach sich Menschen in einer solchen Situation richten könnten und sollten.

5. Phase Konfrontation und Diskussion Um die Perspektiven der Schüler*innen und die Diskussion um weitere Alternativen und Gegenargumente zu erweitern, wurden im nächsten Schritt die Ansichten einiger Autor*innen hinzugegeben. In den Testreihen handelte es sich hierbei um einen Ausschnitt aus Henry David Thoreaus Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat mit Fokus auf die Rolle des Gewissens (alternativ das Zitat »Es geht nicht so sehr darum zu überleben, sondern menschlich zu bleiben« aus Orwells 1984). Wenn der Fokus mehr auf der Diskussion moralischer Systemen liegen soll, empfiehlt es sich hingegen einige dieser (bspw. den Utilitarismus) vorzustellen und ebenfalls in der Simulation zu erproben. Das fördert nicht nur das Verständnis, sondern eröffnet auch zusätzliche Möglichkeiten der Kritik und legt Lücken in der Logik der Systeme offen. In der durchgeführten Einheit erschien besonders Thoreaus Standpunkt sinnvoll, da die Auswertung der Protokolle und Videos ergab, dass viele Schü-

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ler*innen vor allem sich selbst und ihre Familien ins Zentrum ihrer Entscheidungen rückten und diesem Verhalten so ein scheinbar völlig konträres Prinzip entgegengesetzt werden konnte, an dem diese sich dann argumentativ abarbeiten konnten. Bis hierhin erscheinen Emotionen eher als Störfaktoren oder Begrenzungsfaktoren moralischen Handelns. Der nächste Schritt bestand somit darin, die Perspektive auf Emotionen zu erweitern. Hierbei empfiehlt es sich, auf entsprechende moralphilosophische und -psychologische Arbeiten (bspw. von Nussbaum, Landweer, Meier-Seethaler, Hursthouse etc.)59 zurückzugreifen und diese für den Unterricht aufzuarbeiten. Dabei ist es auch in diesem Fall wichtig, eine Kontroverse zu ermöglichen, indem natürlich auch Positionen zur Sprache kommen sollten, die Emotionen aus der Moral heraushalten wollen.

6. Phase Verarbeitung und Abschluss Auf die Phasen der Erarbeitung folgte die Abschlussdiskussion. Um diese spannend zu gestalten, wurde erneut auf das Setting des Spiels zurückgegriffen. Für einen der Probeläufe wurde eines des mögliche Spielende aufgegriffen, bei dem es zur Revolution kommt, in der diejenigen, die das Regime gestützt haben, zur Verantwortung gezogen werden. Für den Unterricht wurde dies zum Anlass einer moralischen Gerichtsverhandlung genommen. Dafür mussten die entsprechenden Verteidigungs- und Anklagestrategien entworfen werden, um diese dann gegeneinander ins Feld zu führen. Dabei kann und sollte ausdrücklich auch auf die Argumente der gelesenen Texte zurückgegriffen werden. Die Aufteilung der Gruppen in Richter*innen, Geschworene, Ankläger*innen und Beklagte kann dabei durchaus gemäß der Positionierung in der Diskussion oder gerade entgegen dieser erfolgen, um einen weiteren Perspektivwechsel zu provozieren. Im anderen Probelauf wurden die Schüler*innen noch einmal mit dem Szenario des Intros konfrontiert. Diesmal sollten allerdings diese sein, die entweder bald abgeholt werden würden oder erfolgreich fliehen können. In der kurzen Zeit, die ihnen noch bleibt, sollten sie einen kurzen geheimen Brief an ihren Nachfolger schreiben, in dem sie, unter Berücksichtigung all dessen

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Siehe Literaturverzeichnis: Nussbaum, Hursthouse, Meier-Seethaler, Landweer und Döring.

Digitale Spiele als Ermöglichungsräume

was geschehen ist, kurz von dem berichten, was der Job bedeutet und Ratschläge erteilen, wie jemand in einer solchen Situation handeln sollte. Dabei sollten überlegt werden, wie mit Schuld, Ängsten, Verantwortung, sozialen Bindungen usw. umgegangen werden kann. Eine weitere, alternative Aufgabe für die Endphase wäre, konkrete Wege entwickeln zu lassen, Verantwortung für die eigenen Taten zu übernehmen und Schuld zu bewältigen. Auch hier könnte es sich um einen Brief handeln, der an die Opfer oder deren Angehörige geschrieben werden muss oder um ein Rollenspiel mit entsprechenden Szenen.

7. Phase Metadiskussion Damit endete das Gedankenexperiment. Es ist aber durchaus sinnvoll, die Einheit noch weiterzuführen und auch das verwendete Medium explizit zu thematisieren. Dabei geht es nicht nur um die Ausbildung von Medienkompetenz, die ohnehin immer mitläuft. Wurden bis hierhin vor allem scheinbar die Emotionen der Spielcharaktere betrachtet, so können anschließend stärker die der Spielenden betrachtet werden. Kommerzielle Spiele sind so gestaltet, dass sie auch gespielt werden wollen, um sich entsprechend zu verkaufen. Sie müssen also irgendeine Form emotionaler Bindung erzeugen, die die Spielenden dazu treibt, weiterzumachen. Mit anderen Worten, die Spielenden sollen emotional manipuliert werden. Es werden Spannung, Ängste, Mitleid usw. erzeugt, um die Spielenden tiefer in das Spiel eindringen zu lassen. Diese Emotionen können dabei auch die Handlungen beeinflussen. Für den Unterricht kann es dann darum gehen zu analysieren, auf welche Weise, mit welchen Mitteln und wozu digitale Spiele welche Emotionen bei den Spielenden erzeugen und wie sich dies auf das Handeln in Form des Spielverhaltens auswirkt. Auch hier ist es möglich, allgemein über mögliche Emotionen zu sprechen, so dass eigene Emotionen »gefahrlos« kommuniziert werden können. Eine solche Analyse der emotionalen Manipulation und deren Mittel kann wiederum dazu überleiten, sich explizit mit Emotionen und deren Rolle auch im Alltag auseinanderzusetzen. Ausgehend von fiktionalen Situationen, die zunächst scheinbar nichts mit den Schüler*innen selbst zu tun haben, kann weiter in die Lebenswelt bzw. den Alltag vorgestoßen werden. Ob dabei stärker die L- und R-Dimension bedient oder erst an dieser Stelle explizit auf die Rolle moralischer Emotionen eingegangen wird, hängt vom jeweiligen Fach und der weiteren Planung ab. Wünschenswert wäre es allerdings, den Blick

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zu erweitern und Emotionen umfassend und aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, etwa gemeinsam mit dem Biologie- und Geschichtsunterricht oder der Politischen Bildung. Damit könnten nicht nur weitere Vorurteile über Emotionen, sondern im Zuge dessen auch Hemmungen vor der Thematisierung eigener Emotionalität abgebaut werden, ganz zu schweigen von den neuen, spannenden Zugängen auf bereits bekannte Phänomene.

Fazit Ein Konzept von ethischem Lernen, das einerseits auf lebensweltliche Übertragungen in beide Richtungen setzt und andererseits die emotionale Dimension moralischen Handelns und Konfliktlösens beachtet, benötigt entsprechend ausgerichtete Methoden und Medien. Digitale Spiele scheinen vielversprechende Kandidaten dafür zu sein. Richtig ausgewählt und eingesetzt, eröffnen sie Ermöglichungsräume für eine emotionsintegrierende und auf lebensweltliches Handeln ausgerichtete Ethikdidaktik. Digitale Spiele können also nicht nur dazu eingesetzt werden, um Emotionalität in Bezug auf ethisches Handeln zu thematisieren, sondern ermöglichen es den Lernenden auch, in einem zwar geschützten aber trotzdem involvierenden Rahmen eigene Erfahrungen mit emotionalen Prozessen und konkreten Anderen zu machen, die ebenso mit Emotionen, Bedürfnissen und Interessen ausgestattet sind oder diese zumindest glaubhaft simulieren. Diese Erfahrungen bilden dann das Material, an dem sich die Schüler*innen abarbeiten können. Dafür ist es jedoch nötig, bestimmte Dinge zu beachten. Das fängt bei einem entsprechenden Framing an, um digitale Spiele als ernsthafte Unterrichtmedien zu etablieren. Darüber hinaus sind auch hier die Einbindung und die Aufgabenstellung zentrale Stellschrauben, um aus einem Freizeitspielen ein unterrichtliches Experimentieren zu machen.

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Autor*innen

Margit Datler ist Professorin an der KPH Wien Krems. Dort lehrt sie im Bereich der Primarstufen- und in der Sekundarstufenlehrer*innenausbildung im Verbund Nord-Ost (PHs und Universität Wien). Sie ist Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Lehrer*innenprofessionalisierung und der Kleinkindforschung. Sie ist Mitglied in der Infant Observation Study Group Vienna, sowie in der DGfEKommission Psychoanalytische Pädagogik. Sebastian Ernst ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde der Universität Potsdam. In seinen Forschungen beschäftigt er sich mit der konstruktivistischen Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen sowie der Integration von digitalen Spielen und theatralen Methoden in den Unterricht. Daneben gilt sein Interesse der kulturhistorisch ausgerichteten Erforschung von Emotionen und Räumen sowie dem Hören und Gehörten. Corinna Lagemann hat Amerikanistik und Philosophie in Paderborn sowie an der Humboldt Universität zu Berlin studiert. Seit 2018 ist sie im Schuldienst tätig; zunächst als Lehrerin für Englisch und Lernfeld 1 (Berufliche Identität und Biographiarbeit) am OSZ für Sozialwesen, Jane-Addams-Schule in Berlin Friedrichshain. Seit Oktober 2020 ist sie Lehrerin für Englisch und LER an der Schule Finowfurt (Oberschule mit Grundschulteil). Derzeit arbeitet sie an ihrer Promotion am Philosophischen Institut der Freien Universität Berlin zum Zusammenhang von Gefühlen und Zeitlichkeit bei Martin Heidegger und Herman Schmitz. Petra Lenz ist Akademische Mitarbeiterin im Bereich der Fachdidaktik L-E-R der Universität Potsdam und begleitet als Systemischer Coach Menschen

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bei der Suche nach individuellen Wegen der Lebensgestaltung. Sie studierte Mathematik und Geografie auf Lehramt. Darauf folgte eine berufsbegleitende Fortbildung im Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde und ein Magisterstudium der Philosophie und Erziehungswissenschaften sowie eine Weiterbildung zum Systemischen Gesundheits-und Resilienzcoach. In ihren Studien setzt sie Petra Lenz intensiv mit philosophischen, soziologischen, psychologischen, pädagogischen und religionswissenschaftlichen Themen auseinander. Ihre Forschungsinteressen beziehen sich auf Fragen des ethisch-moralischen und religionskundlichen Lehrens und Lernens sowie auf Gesundheit und Krankheit. Maja Linke studierte Malerei/Grafik an der Academie Beeldende Kunsten Maastricht (NL) und promovierte 2013 in Freier Kunst/Künstlerischer Forschung an der Bauhaus-Universität Weimar. Seit 2018 ist sie Universitätslektorin und seit 2019 Leitung der künstlerischen Fachpraxis am Institut für Kunstwissenschaft-Filmwissenschaft-Kunstpädagogik (IKFK) der Universität Bremen. Ihre Schwerpunkte sind künstlerisches Forschen, TextBild-Verbindungen, Bildpolitiken und die Entwicklung einer »Aisthetischen Unfügsamkeit«. Heike Ortner ist assoziierte Professorin am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck. Ihre Dissertation trug den Titel »Text und Emotion. Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele emotionslinguistischer Textanalyse« (erschienen 2014 bei Narr Francke Attempto). Neben dem Zusammenhang zwischen Sprache und Emotion widmet sie sich in ihrer aktuellen Forschung Multimodalität in Medienprodukten und Interaktion, institutionellen und interpersonalen Diskursen über Gesundheit sowie Bewegungsinstruktionen als interaktive sprachliche Praxis. Ralf Pröve ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Potsdam und verantwortlich für das Arbeitsgebiet Sozialgeschichte. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Sozial- und Kulturgeschichte, der Historiografiegeschichte, der Alltagsgeschichte sowie die Geschichtsphilosophie. Darüber hinaus beschäftigt er sich mit der Entwicklung von Methoden für eine sozialkonstruktivistisch orientierte Hochschullehre. Bernhard Rauh ist Inhaber des Lehrstuhls Pädagogik bei Verhaltensstörungen einschließlich inklusiver Pädagogik an der Fakultät für Humanwissen-

Autor*innen

schaften der Universität Regensburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Psychoanalytische Pädagogik, psychodynamische Zugänge zu emotional-sozialen Störungen, Inklusionsdiskurse und reflexive Professionalisierung von Lehrkräften für den Umgang mit Heterogenität. Er bietet zudem gruppenanalytische Weiterbildungen an und ist analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeu i.A. Roland Schuster forscht und lehrt an der Fachhochschule des BFI Wien und an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin. Außerdem ist er mit dem Thema Social Competence in Action aktiv in der Community für Interventionswissenschaft und -forschung vertreten. In seiner Rolle als stellvertretender Studiengangsleiter und Fachbereichsleiter Technik des Bachelor-Studiengangs Technisches Vertriebsmanagement an der Fachhochschule des BFI Wien lebt er die Umsetzung theoretischer Konzepte in die Management-Praxis. R. J. Schuster ist ifag® – zertifizierter Gruppendynamiker und mit der internationalen Gruppendynamik-Community in lebhaften online Austausch.

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Pädagogik Kay Biesel, Felix Brandhorst, Regina Rätz, Hans-Ullrich Krause

Deutschland schützt seine Kinder! Eine Streitschrift zum Kinderschutz 2019, 242 S., kart., 1 SW-Abbildung 22,99 € (DE), 978-3-8376-4248-3 E-Book: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4248-7 EPUB: 20,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4248-3

Karin Lackner, Lisa Schilhan, Christian Kaier (Hg.)

Publikationsberatung an Universitäten Ein Praxisleitfaden zum Aufbau publikationsunterstützender Services 2020, 396 S., kart., 14 SW-Abbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-5072-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5072-7 ISBN 978-3-7328-5072-3

Julia Heisig, Ivana Scharf, Heide Schönfeld

Kunstlabore: Für mehr Kunst in Schulen! Ein Ratgeber zur Qualität künstlerischer Arbeit in Schulen 2020, 216 S., Klappbroschur, durchgängig vierfarbig 27,99 € (DE), 978-3-8376-4985-7 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4985-1

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Pädagogik Nadja Köffler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer, Peter Stöger (Hg.)

Bildung und Liebe Interdisziplinäre Perspektiven 2018, 412 S., kart., 11 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4359-6 E-Book: PDF: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4359-0

Joachim Willems (Hg.)

Religion in der Schule Pädagogische Praxis zwischen Diskriminierung und Anerkennung 2020, 432 S., kart. 39,00 € (DE), 978-3-8376-5355-7 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5355-1

Ulaș Aktaș (Hg.)

Vulnerabilität Pädagogisch-ästhetische Beiträge zu Korporalität, Sozialität und Politik 2020, 194 S., kart., 26 SW-Abbildungen, 26 Farbabbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-5444-8 E-Book: PDF: 38,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5444-2

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