Geographische Bildung in digitalen Kulturen: Perspektiven für Forschung und Lehre 3662664852, 9783662664858, 9783662664865

Welche Herausforderungen für Forschungs- und Lehrkontexte bedingt die tiefgreifende Transformation alltäglicher Räume un

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Geographische Bildung in digitalen Kulturen: Perspektiven für Forschung und Lehre
 3662664852, 9783662664858, 9783662664865

Table of contents :
Zum Geleit
Geographische Bildung in digitalen Kulturen
Perspektiven für Forschung und Lehre
Inhaltsverzeichnis
Autorenverzeichnis
1: Perspektiven auf Geographieunterricht in einer Kultur der Digitalität
1.1 Einführung
1.2 Verortung und Genese des Positionspapiers
1.3 Zehn Perspektiven auf geographische Bildung in digitalen Kulturen
1.4 Zusammenhänge von Lernen, Bildung, geographischer Fachlichkeit und Digitalität
1.5 Lose Enden und ein Ausblick
Literatur
Perspektive 1:
2: Nachhaltige Digitalisierung?
2.1 Einleitung: Digitalisierung als gesellschaftliche Transformation
2.2 Digitalisierung als technisches und räumliches Phänomen
2.3 Die diskursive Konstruktion des Digitalen: Digitalisierung als gesellschaftliche Herausforderung und subjektiv empfundene Zumutung
2.4 Digitalisierung als Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Forschung
2.4.1 Technik- oder Sozialdeterminismus? Ideengeschichtliche Ursprünge und aktuelle Positionen
2.4.2 Der Wandel sozialer Beziehungen: „Expecting more from technology and less from each other“?
2.4.3 Wandel der Ökonomie: „prosumer“, „collaborative commons“ und „sharing economy“
2.5 Geographische Bildung für Nachhaltigkeit und Digitalisierung
2.5.1 Nachhaltige Digitalisierung
2.5.2 Digitalisierung von Nachhaltigkeitsstrategien
2.6 Fazit: Drei Ansprüche an geographische Bildung für eine nachhaltige Digitalisierung
Literatur
3: Virtual Reality, Körper und Stadt
3.1 Einführung
3.2 Ziele
3.3 Bezug zum Fachgegenstand am Beispiel des Smart-City-Diskurses
3.4 Das Konzept
3.4.1 Exemplarischer Aufbau einer Lehrveranstaltung
3.4.2 Die vier Perspektiven der Spurenmethodologie
3.5 Fazit
Literatur
4: Erkenntnisse aus einer körpersensiblen Lehre mit und zu dem digitalen Medium VR
4.1 Einführung
4.2 Ausgewählte Hintergründe zu Virtual Reality
4.3 Erkenntnisse zum Lehr- und Forschungsprojekt
4.3.1 Stadtentwicklung und Nachhaltigkeit
4.3.2 Lehrkonzept und Kompetenzentwicklung
4.3.3 Achtsamkeit
4.4 Abschließende Überlegungen
Literatur
Perspektive 2:
5: Geographie als Weltbeziehungsbildung
5.1 Einleitung
5.2 Lebenswelt und die Bedeutung des Respektierens anderer Weltbeziehungen
5.3 Digitale Kulturen und die Bedeutung von Reflexivität
5.4 Weltbeziehungsbildung und die Bedeutung von Resonanz
5.5 Schluss: Geographie als Weltbeziehungsbildung
Literatur
6: Mit WebGIS und digitalen Geowerkzeugen Fach- und Medienkompetenzen für das 21. Jahrhundert entwickeln
6.1 Einleitung
6.2 Geodaten, WebGIS und Medienbildung
6.3 WebGIS-Angebote im Fachunterricht – Passung mit den Basiskonzepten der Geographiedidaktik
6.4 WebGIS-Angebote im Fachunterricht – Passung zu den Erkenntnissen der Lehr-Lernforschung
6.5 WebGIS-Beispiele – Good Practice
6.6 Notwendige schulische Ausstattung, Planungsaufwand und Handling
6.7 Fazit
Anhang
Übersicht der Unterrichtsbeispiele im digitalen Anhang
Beispiel 02: Regionale Maßstabsebene: Energiewende ja bitte, aber Windräder doch nicht bei uns!
Beispiel 10: Karten – bearbeiten oder manipulieren? Sozialräumliche Strukturen deutscher Städte
Literatur
7: Flipped Classroom unter der Lupe!
7.1 Einleitung
7.2 Theoretische Einführung
7.2.1 Digitalität in der Lehrer*innenbildung
7.2.2 Konzepte und Modelle
7.2.3 Ansprüche an Differenzierung
7.2.4 Anforderungen an die fachbezogene digitale differenzierte Ausbildung
7.3 Flipped Classroom unter der Lupe
7.3.1 Flipped Classroom und Peer Instruction
7.3.2 Die Lehrveranstaltung
7.3.3 Methodisches Vorgehen
7.4 Ergebnisse
7.4.1 Zusammenfassung der Auswertung
7.4.2 Interpretation
7.5 Fazit und Ausblick
Literatur
Perspektive 3:
8: Basiskonzepte als Ausgangspunkte fachlich-unterrichtlicher Erschließungen digitaler Kulturen
8.1 Was der Geographieunterricht aus der COVID-19-Pandemie lernen kann
8.2 Begründung und Struktur von Basiskonzepten
8.3 Braucht es neue Basiskonzepte für die digitale Welt?
8.4 Fazit
Literatur
9: „Computational Thinking“ im GW-Unterricht
9.1 Einleitung
9.2 Der Beitrag von Spatial Citizenship Education
9.3 Der Bildungsauftrag der digitalen Grundbildung
9.4 Computational Thinking als Teil der digitalen Grundbildung
9.5 Wegbeschreibung als Algorithmus und Kommunikationsprozess
9.6 Im unterrichtlichen Kontext
9.7 Reflexion und Evaluierung des Unterrichtsbeispiels
9.8 Basiskonzepte und geographische Bildung
9.9 Fazit
Anhang
Literatur
10: Ungleichheit in geomedienbasierten Bildungskontexten
10.1 Einleitung
10.2 Digitalisierungsbezogene Bildung und Ungleichheit
10.3 Digitalisierungsbezogene geographische Bildung, Partizipation und Ungleichheit
10.4 (Intersektionale) Ungleichheit in VGI und Spatial Citizenship Education
10.5 Fazit
Literatur
Perspektive 4:
11: Mündigkeit als Leitwert geographischer Bildung in einer Kultur der Digitalität
11.1 Gegenbotschaften zum Thema Mündigkeit im Kontext von Digitalität
11.2 Dimensionen einer mündigkeitsorientierten geographischen Bildung im Kontext der Digitalität
11.2.1 Struktur- und Selbstreflexivität in der digitalen Gesellschaft
11.2.2 Sich-seiner-selbst-bewusst-Sein in der digitalen Gesellschaft
11.2.3 Autonomie in der digitalen Gesellschaft
11.3 Förderung einer mündigkeitsorientierten Bildung
11.4 Fazit
Literatur
12: #Saubere Energie
12.1 Einleitung
12.2 Mündige und digitale Teilhabe durch digitale (Geo-)Medien und soziale Netzwerke
12.3 Reflexivität in einer BNE zum Themenbereich #Saubere Energie
12.4 Seminarkonzept
12.5 Übertragbarkeit, Reflexion und Ausblick
Literatur
13: Mündige Entscheidungen in digitalen Spielen
13.1 Einleitung
13.2 Theorie: Mündigkeit und Entscheidungsfindung in digitalen Spielen
13.3 Methodik
13.4 Ergebnisse
13.4.1 Gründe für die Wahl eines gesellschaftlich diskutierten Problems als Spielthema
13.4.2 Polytelische Situationen
13.4.3 Handlungsoptionen
13.4.4 Bewertung und Rückmeldung
13.5 Diskussion
Literatur
Perspektive 5:
14: Plattformurbanismus
14.1 Einleitung: Digitale Stadt und Alltagskultur
14.2 Geschäftsmodelle von Plattformunternehmen und Auswirkungen auf urbane Räume
14.3 Plattformurbanismus im Alltag: über Liefern-Lassen und Ausgeliefert-Werden
14.3.1 Digital Companions: Körper, Code und Raum in der Alltagskultur
14.3.2 Digital Companies: Plattformarbeit, Subjektivierung und Entfremdung
14.4 Ausblick: Digitale Alltagskultur und Stadtraum
Literatur
15: Eine Welt aus Daten
15.1 Neue (Geschäfts-)Modelle und Praktiken
15.1.1 Grundlagen der Entwicklung
15.1.2 Daten, Geodaten, (Geschäfts-)Modelle und Rollen
15.1.3 Nicht kommerzielle Plattformen
15.2 Privatsphäre und Weltaneignung
15.2.1 Privatsphäre
15.2.2 Weltaneignung
15.3 Bedeutung für geographische Bildung
Literatur
16: (Un-)Sichtbarkeit im Geoweb – was Privatsphäre bei der Nutzung digitaler Geomedien bedeutet
16.1 Ausgangspunkt: Voraussetzungen und Schwerpunkte
16.2 Rahmung: Geographiedidaktische Lernumgebung zur Anleitung eines kritisch-reflektierten Umgangs mit digitalen Geomedien
16.2.1 Theoretische Fundierung
16.2.1.1 Fachliche Klärung
16.2.1.2 Fachdidaktische Fundierung
16.2.2 Konzeptuelle Umsetzung
16.2.3 Arbeitsmaterialien
16.3 Ausblick: Reflexion und Übertragbarkeit
Literatur
Perspektive 6:
17: Orientierung-Ermöglichen für eine digitale Berufswelt
17.1 Ein Job mit Perspektive?
17.2 Argumentative Rahmung der Perspektive #6
17.2.1 Neue Berufe sind eine Realität
17.2.2 Lebensnaher Bereich mit konkreter individueller Anknüpfung
17.2.3 Raumwirksamkeit der Digitalisierung
17.2.4 Geographie als geeignetes Fach der Vermittlung
17.3 Orientierung-Ermöglichen als pädagogische Haltung
17.4 Inhaltliche Schwerpunkte der Perspektive #6
17.5 Fachinhalte von Schwerpunkt I: Geographisches Erkenntnisinteresse
17.5.1 Wandel bzw. neue Berufe/Berufsfelder & Future Skills
17.5.2 Digitale Transformation & Postdigitalität
17.5.3 Digital-Ethik & Menschsein-und-Menschbleiben (MesMeb)
17.5.4 Zukünfte-Denken & Zukunftsforschung
17.6 Mögliche Anknüpfpunkte für nächste Schritte
17.7 Ausblick
Literatur
18: GIS-Kompetenz als Future Skill für geographiespezifische Berufsfelder
18.1 Von der Software zum Berufsfeld
18.2 Von EVAP zu MEVAP
18.3 Good Practices geographischer Bildung von GIS-Kompetenzen auf der sekundären und tertiären Stufe
18.3.1 GIS im Regelunterricht der Sekundarstufe II
18.3.2 GIS im Regelunterricht eines Ergänzungsfachs der Sekundarstufe II
18.3.3 GIS an außerschulischen Lernorten
18.3.4 GIS im Lehramtsstudium
18.3.5 GIS in der Hochschule am Beispiel Statistik
18.4 Berufsorientierte Perspektive des GIS-Curriculums durch MEVAP
18.5 Fazit und Ausblick
Literatur
19: Zukunftsszenarien der Arbeitswelt von Geograph*innen
19.1 Studienprojekt und Projektstudie
19.2 Studienprojekt
19.2.1 Ziel, Konzept und inhaltlicher Aufbau
19.2.2 Zielerreichung durch das Studienprojekt
19.3 Projektstudie
19.3.1 Motivation und Methodik
19.3.2 Aufbau und Inhalte des Leitfragebogens
19.3.3 Ergebnisse der Projektstudie
19.3.3.1 Verbalisierung von Zukunftsszenarien und emotionale Einschätzung
19.3.3.2 Stellenwert von Kommunikation und Future Skills
19.3.3.3 Koordination von Wissen und Wissensquellen
19.3.3.4 Einsatz neuer Technologien
19.3.3.5 Einschätzung der Relevanz von vorgegebenen Kompetenzen
19.3.3.6 Vier vorgegebene Statements
19.3.4 Diskussion der Ergebnisse
19.3.4.1 Formulieren von Zukunftsszenarien
19.3.4.2 Ausbaufähig: Wissenskoordination und Wissensquellen
19.3.4.3 Zukunftskompetenzen im geographischen Kontext
19.4 Ausblick
Literatur
Perspektive 7:
20: Hybridität, Code, Netzwerk
20.1 Einleitung
20.2 Realität und Virtualität
20.3 Software/Algorithmen und Raum
20.4 Menschliche und nichtmenschliche Akteur*innen
20.5 Konturen eines neuen Raumkonzepts?
Literatur
21: Urbane Kulturen der Digitalität als Bildungsanlass
21.1 Einleitung
21.2 Die Smart City als Beispiel einer digital durchdrungenen Lebenswelt
21.3 Smart Cities im Spiegel von (digitalen) Raumtheorien
21.4 Smart Citizens?! Beispiele für geographiedidaktische Seminare zum Thema Smart City
21.4.1 Hintergründe
21.4.2 Bausteine
21.5 Die digital durchdrungene Stadt multiperspektivisch erschließen: Fazit und Implikationen für weitere Lehrveranstaltungen
Literatur
22: Raumkonstruktionen in sozialen Medien
22.1 Ortsbezogene Hashtags und Raumkonstruktionen
22.2 Raumkonstruktionen in sozialen Medien
22.3 Räumliche Rezeptions- und Wahrnehmungsprozesse von Jugendlichen in den sozialen Medien
22.3.1 Methodische Vorgehensweise
22.3.2 Präsentation und Diskussion der Ergebnisse
22.4 Fazit und Ausblick
Literatur
Perspektive 8:
23: „Kunden wie du kauften auch …“
23.1 Identität und Digitalität
23.2 (Räumliche) Identitätskonstruktion in sozialen Medien
23.3 Algorithmen, raumbezogene Identität und Bildung
23.4 Fazit
Literatur
24: Algorithmisches Lernen im Sachunterricht
24.1 Einleitung
24.2 Algorithmische Steuerung und gesellschaftlicher Wandel
24.3 Mediales Lernen mit Geomedien im Sachunterricht
24.4 kidi-Maps – Lernen über digitale Geomedien am Beispiel „Mein Schulweg“
24.5 Fazit
Literatur
25: „Meine Identität ist viele“
25.1 Einleitung
25.2 Ausgangslage und theoretische Einbettung – Identitätskonstruktionen im Wandel
25.3 MiDENTITY – Identitätskonstruktionen in digitalen Kulturen mit Jugendlichen erforschen
25.3.1 Projektziele – Forschungs- und Bildungsprojekt zugleich
25.3.2 Forschungsdesign
25.4 „Also, ein Account spiegelt ja meine Identität wider“: Ausgewählte Projektergebnisse
25.4.1 „Also das, was man im täglichen Leben einfach so macht“: Identitätsverständnisse der Schüler*innen
25.4.2 „… du wirst halt beeinflusst, dadurch“: Bedeutung sozialer Medien für Identitätskonstruktionen
25.4.3 „Man konnte sehen, was Likes und Dislikes eigentlich bewirken können“: Reflexion des eigenen Medienhandelns
25.5 Fazit: Thesen zur Analyse des Themenfeldes Identitätskonstruktion in digitalen Kulturen
Literatur
Perspektive 9:
26: „Come in: We’re open“
26.1 Einleitung
26.2 OER und OEP: Eine begriffliche Annäherung
26.3 OER: Chancen, Risiken, Herausforderungen
26.4 Fazit und Ausblick
Literatur
27: Von Bildungsquellen, Wissensströmen und Datenfluten
27.1 Offene digitale Bildungsangebote als Bestandteile gesellschaftlicher Wissens- und Bildungspraxis
27.1.1 Herausforderungen des Lehrens und Lernens in sich wandelnden Wissenswelten: bildungsphilosophische Gedanken
27.1.2 Annäherung an die Betrachtung von offenen digitalen Bildungsangeboten (OER)
27.2 Ausgewählte Beispiele von OER für die geographische Vermittlungspraxis und ihre Potenziale
27.2.1 GeoPortal des Landesmedienzentrums Baden-Württemberg
27.2.2 LehrRaum Geographie
27.2.3 DOING GEO & ETHICS
27.3 Good Practice: Kriterien für einen Einsatz von OER in der geographischen Vermittlungspraxis
Literatur
28: Gestaltung geomedialer Lernumgebungen mittels offener Bildungsressourcen (OER)
28.1 Einleitung
28.2 DiGeo – digitales Fachkonzept und fachspezifische OER
28.3 Grundzüge eines fachspezifischen OER-Anforderungskatalogs
28.3.1 OER und Fachlichkeit: Eine Frage der Qualität!?
28.3.2 Grundzüge eines fachlichen OER-Anforderungskatalogs
28.4 Fazit
Literatur
Perspektive 10:
29: Die Professionalisierung von Lehrkräften für eine geographische Bildung in digitalen Kulturen
29.1 Digitalisierung, geographische Bildung und Professionalisierung von Lehrkräften
29.2 Ansätze der Professionalisierungsforschung und deren fachdidaktische Relevanz für die Lehrer*innenbildung
29.3 Geographiedidaktische Lehrer*innenbildung im Rahmen des Spatial-Citizenship-Ansatzes
29.4 Ausblick
Literatur
30: Verwendung digitaler Medien zur sprachbewussten Professionalisierung von angehenden Geographielehrkräften
30.1 Einleitung
30.2 Professionalisierung angehender Geographielehrkräfte mit digitalen Geomedien für einen sprachbewussten Fachunterricht
30.2.1 Umgang mit digitalen (Geo-)Medien
30.2.2 Vorstellung der Methode (animation live speaking)
30.2.3 Sprachsensibler Geographieunterricht mit Hilfe von (Geo-)Medien
30.3 Vorgehensweise des Seminars und Good-Practice-Material
30.3.1 Ablauf
30.3.2 Reflexion
30.4 Fazit
Literatur
31: Professionalisierung angehender Geographielehrkräfte durch den Einsatz von virtueller Realität
31.1 Einleitung
31.2 Virtual Reality: Psychologische Effekte und Technologie
31.3 Professionelle Handlungskompetenz von Lehrkräften im Kontext der Digitalisierung
31.4 Beispiele für den Einsatz von VR in geographiedidaktischen Seminaren
31.4.1 Leibniz Universität Hannover: Einsatz von Stand-alone-Brillen
31.4.2 Universität Würzburg: Erstellung von Virtual-Reality-Exkursionen zu Unterrichtsthemen in einer Bildung für nachhaltige Entwicklung
31.5 Fazit: Implikationen für die Planung und Durchführung von geographiedidaktischen Lehrveranstaltungen
Literatur
32: Geographische Bildung in digitalen Kulturen
32.1 Zur Aneignung von Innovationen im Lehrberuf: Kontexte
32.2 Digitalisierung in der sekundären Bildung und Corona
32.3 Methodik
32.4 Ergebnisse
32.4.1 Problemfelder im Vergleich der Erhebungszeitpunkte
32.4.2 Professionalisierung von Lehrkräften
32.4.3 To-dos in Bezug auf relevante Problemfelder
32.5 Diskussion und Schlussfolgerungen
Anhang
Literatur

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Fabian Pettig Inga Gryl  Hrsg.

Geographische Bildung in digitalen Kulturen Perspektiven für Forschung und Lehre

Geographische Bildung in digitalen Kulturen

Fabian Pettig  •  Inga Gryl Hrsg.

Geographische Bildung in digitalen Kulturen Perspektiven für Forschung und Lehre

Hrsg. Fabian Pettig Institut für Geographie und Raumforschung Universität Graz Graz, Österreich

Inga Gryl Institut für Geographie Universität Duisburg-Essen Essen, Deutschland

ISBN 978-3-662-66485-8    ISBN 978-3-662-66486-5  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: © Siarhei / stock.adobe.com Planung/Lektorat: Simon Shah-Rohlfs Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.

Zum Geleit

Geographische Bildung in digitalen Kulturen Perspektiven für Forschung und Lehre Das vorliegende Buch stellt einen Baustein auf dem Weg zur systematischen Ausbuchstabierung zehn unterschiedlicher Perspektiven auf den Zusammenhang von Digitalisierung und Bildung für geographische Bildung dar. Die einzelnen Buchteile widmen sich jeweils einer dieser Perspektiven und loten diese auf unterschiedliche Weise aus – explorativ und fundierend in einem einführenden Kommentar, analytisch und empirisch in einem Beitrag mit Forschungsschwerpunkt, praktisch und erprobend anhand von Beispielen aus der Lehre. Dieses Vorgehen sichert inhaltliche Pluralität und macht unterschiedliche Ansätze, Zugangsweisen und Stile sichtbar, die durchaus auch in Spannung zueinander stehen. Die zehn diesem Buch zugrunde liegenden Perspektiven sind das Ergebnis eines kollaborativen Prozesses seitens der Scientific Community der Didaktik der Geographie und über die Disziplingrenzen hinweg, angestoßen durch die Arbeitsgruppe „Geographische Bildung und Digitalisierung“ des Hochschulverbandes für Geographiedidaktik (HGD) unter Leitung von Inga Gryl. Das im Zuge dieses Prozesses entstandene Positionspapier „Der Beitrag des Faches Geographie zur Bildung in einer mediatisierten und digitalisierten Welt“ (HGD 2020) samt der darin formulierten zehn Perspektiven, stellt das Gerüst für das vorliegende Buch, welches ohne die gemeinschaftliche Arbeit am Positionspapier nicht möglich gewesen wäre. Hierfür gilt unser Dank allen Mitautor*innen des Papiers sowie den kritischen Kommentator*innen. Wesentlich für das Gelingen dieses Buches war die kompetente und sorgfältige Begleitung des gesamten Prozesses durch Elena Flucher, Studienassistentin in der Forschungsgruppe Didaktik der Geographie und wirtschaftlichen Bildung an der Universität Graz. Die Idee zum Buch geht auf eine Anfrage und Initiative von Sebastian Müller, ehemals in der Programmplanung beim Springer-Verlag tätig, vom 16.07.2019 an Fabian Pettig zurück. Erste Gespräche zu möglichen Formaten wurden auf dem Deutschen Kongress für Geographie 2019  in Kiel geführt. Für die später folgende verlagsseitige Betreuung des Buchprojekts, die Organisation und Buchproduktion sowie die Klärung einer ganzen V

VI

Zum Geleit

Reihe an Fragen, die im Laufe des Prozesses aufgetaucht sind, gebührt unser Dank Simon Shah-Rohlfs und Stefanie Adam. Jedes Buchkapitel durchlief zwei Peer-Review-Verfahren: Das eine Review wurde von uns als Herausgeber*innen des Bandes verfasst; das andere Review wurde double-blind von Autor*innen des Buches angefertigt. Wir wünschen eine anregende Lektüre und erhoffen uns kritisch-konstruktiven Austausch sowie ständige Weiterentwicklung dieses fluiden Feldes geographischer Bildung! Graz und Essen am 09.11.2022 Fabian Pettig und Inga Gryl

Inhaltsverzeichnis

1 Perspektiven  auf Geographieunterricht in einer Kultur der Digitalität������    1 Fabian Pettig und Inga Gryl Perspektive 1 2 Nachhaltige Digitalisierung?����������������������������������������������������������������������������   23 Tilo Felgenhauer 3 Virtual  Reality, Körper und Stadt��������������������������������������������������������������������   35 Katharina Mohring und Nina Brendel 4 Erkenntnisse  aus einer körpersensiblen Lehre mit und zu dem digitalen Medium VR��������������������������������������������������������������������   45 Katharina Mohring und Nina Brendel Perspektive 2 5 Geographie als Weltbeziehungsbildung ����������������������������������������������������������   57 Antje Schlottmann 6 Mit  WebGIS und digitalen Geowerkzeugen Fach- und Medienkompetenzen für das 21. Jahrhundert entwickeln����������������������������   67 Sebastian Pungel und Dietmar Steinbach 7 Flipped  Classroom unter der Lupe! ����������������������������������������������������������������   81 Monika Reuschenbach

VII

VIII

Inhaltsverzeichnis

Perspektive 3 8 Basiskonzepte als Ausgangspunkte fachlich-­unterrichtlicher Erschließungen digitaler Kulturen������������������������������������������������������������������  101 Thomas Jekel und Herbert Pichler 9 „Computational Thinking“ im GW-­Unterricht����������������������������������������������  111 Claudia Breitfuss-Horner und Alfons Koller 10 Ungleichheit  in geomedienbasierten Bildungskontexten��������������������������������  127 Jana Pokraka Perspektive 4 11 Mündigkeit  als Leitwert geographischer Bildung in einer Kultur der Digitalität ����������������������������������������������������������������������������������������������������  139 Detlef Kanwischer und Christian Dorsch 12 #Saubere Energie ����������������������������������������������������������������������������������������������  149 Miriam Kuckuck und Anne-Kathrin Lindau 13 Mündige  Entscheidungen in digitalen Spielen������������������������������������������������  157 Alexandra Budke und André Czauderna Perspektive 5 14 Plattformurbanismus����������������������������������������������������������������������������������������  173 Yannick Ecker und Anke Strüver 15 Eine Welt aus Daten������������������������������������������������������������������������������������������  181 Nikolai Rohmann 16 (Un-)Sichtbarkeit  im Geoweb – was Privatsphäre bei der Nutzung digitaler Geomedien bedeutet����������������������������������������������������  191 Romy Hofmann Perspektive 6 17 Orientierung-Ermöglichen  für eine digitale Berufswelt��������������������������������  205 Angelika Neudecker 18 GIS-Kompetenz  als Future Skill für geographiespezifische Berufsfelder��������������������������������������������������������������������������������������������������������  219 Christian Sailer, Marcel Engel, Jonathan Otto und Jan Wilkening 19 Zukunftsszenarien  der Arbeitswelt von Geograph*innen ����������������������������  237 Angelika Neudecker, Julia Bäck, Lukas Biskup, Julian Bohnenkamp, Christian Gutsmann, Veronika Kukota, Lars Makarowsky, Steven Müller, Luis Roshoff, Marc Timon Saß, Katharina Topp und Julian Trampel

Inhaltsverzeichnis

IX

Perspektive 7 20 Hybridität, Code, Netzwerk������������������������������������������������������������������������������  253 Fabian Pettig und Inga Gryl 21 Urbane  Kulturen der Digitalität als Bildungsanlass��������������������������������������  267 Stephanie Mittrach, Christian Dorsch und Andreas Eberth 22 Raumkonstruktionen  in sozialen Medien��������������������������������������������������������  277 Christina Reithmeier und Detlef Kanwischer Perspektive 8 23 „Kunden  wie du kauften auch …“ ������������������������������������������������������������������  291 Christian Dorsch 24 Algorithmisches  Lernen im Sachunterricht����������������������������������������������������  299 Markus Peschel, Sarah Bach und Isabel Seibert 25 „Meine  Identität ist viele“ ��������������������������������������������������������������������������������  311 Christiane Hintermann und Herbert Pichler Perspektive 9 26 „Come in: We’re open“�������������������������������������������������������������������������������������  327 Detlef Kanwischer und Uwe Schulze 27 Von  Bildungsquellen, Wissensströmen und Datenfluten��������������������������������  337 Isabelle Kollar, Jochen Laub und Eva Nöthen 28 Gestaltung  geomedialer Lernumgebungen mittels offener Bildungsressourcen (OER)��������������������������������������������������������������������������������  349 Uwe Schulze Perspektive 10 29 Die  Professionalisierung von Lehrkräften für eine geographische Bildung in digitalen Kulturen ��������������������������������������������������������������������������  363 Nicole Raschke 30 Verwendung  digitaler Medien zur sprachbewussten Professionalisierung von angehenden Geographielehrkräften ��������������������������������������������������������  373 Michael Morawski und Miriam Kuckuck 31 Professionalisierung  angehender Geographielehrkräfte durch den Einsatz von virtueller Realität��������������������������������������������������������������������������  383 Stephanie Mittrach, Daniel Wirth, Christiane Meyer und Ulrike Ohl 32 Geographische  Bildung in digitalen Kulturen������������������������������������������������  397 Anna Oberrauch, Thomas Jekel und Claudia Breitfuss-Horner

Autorenverzeichnis

Pettig Fabian  Dr., Assistenzprofessor für Didaktik der Geographie und Wirtschaftskunde an der Universität Graz. Seine Forschung widmet sich transformativem Lernen und einer Bildung für nachhaltige Entwicklung, Digitalität und geographischer Bildung sowie partizipativen Forschungs- und Vermittlungsformaten. Gryl Inga  Dr.in, Professorin für Didaktik des Sachunterrichts am Institut für Geographie der Universität Duisburg-Essen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Digitalität und Bildung, der mündigkeitsorientierten geographischen Bildung, Innovativität sowie Reflexivität/Kritik. Bach Sarah  Dr.in, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Didaktik des Sach­ unterrichts an der Universität des Saarlandes. Sie ist Koordinatorin des vom BMBF finanzierten Projektes MoDiSaar. Bäck Julia  studiert Geographie an der Ruhr-Universität Bochum, wobei der Schwerpunkt auf der Humangeographie liegt. Dies begründet das besondere Interesse an der Thematik Zukunft der Arbeit und die aktive Teilnahme am zweisemestrigen Studienprojekt Work 4.0. Biskup Lukas  studiert Geographie an der Ruhr-Universität Bochum und hat in diesem Zusammenhang das zweisemestrige Studienprojekt Work 4.0 im Sinne des Forschenden Lernens absolviert. Bohnenkamp Julian Sebastian  studierte Geographie an der Ruhr-Universität Bochum (aktuell an der Universität zu Köln), wobei der Schwerpunkt auf der Humangeographie liegt. Dies begründet das besondere Interesse an der Thematik Work 4.0 und die Teilnahme am gleichnamigen zweisemestrigen Studienprojekt. Breitfuss-Horner  Claudia  Mag.a Dr.in, Lehrbeauftrage an der PHDL (Pädagogische Hochschule der Diözese Linz) und AHS-Lehrerin für GW und Informatik. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der informatischen Bildung im GW-Unterricht. Brendel Nina  Dr.in, Professorin für Geographische Bildung am Institut für Umweltwissenschaften und Geographie der Universität Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Lernen und Lehren in der digitalen Welt, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Neue Lern- und Prüfungskulturen sowie der partizipativen Forschung. XI

XII

Autorenverzeichnis

Budke Alexandra  Dr.in, Professorin für Humangeographie und ihre Didaktik am Institut für Geographiedidaktik der Universität zu Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Argumentation, politische Bildung, digitale Medien, interkulturelles Lernen und sprachsensibler ­Geographieunterricht. Czauderna  André  Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Cologne Game Lab der TH Köln. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Game-Based Learning, digitaler Medien in der politischen Bildung, Lernen in Communities of Practice sowie Didaktik der akademischen Game Design Education. Dorsch Christian  Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerunkte fokussieren die Förderung mündigkeitsorientierter Bildung in der Geographie insbesondere unter dem Einfluss der Digitalität sowie das Potenzial von E-Portfolios in der Lehre. Eberth Andreas  Dr., Professor an der Universität Passau. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Bildung für nachhaltige Entwicklung, Raumkonzepte/-theorien, visuelle Geographien, rassismuskritische geographische Bildung und postkoloniale Per­ spektiven. Ecker Yannick  M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Digitale Geographie an der Universität Halle. Seine Forschung widmet sich Veränderungen von Arbeit, Geschlechterarrangements und städtischen Räumen in Geographien der Prekarisierung und Digitalisierung. Engel Marcel  Lic., Mittelschullehrer Geographie am Freien Gymnasium Zürich. Er setzt GIS schon seit einem Jahrzehnt im Geographieunterricht als Werkzeug auf der Sek.-I- und Sek.-II-­Stufe ein. Felgenhauer  Tilo  Dr., Professor für Humangeographie an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz. Seine Forschungsschwerpunkte sind Geographien alltäglichen Technikgebrauchs, die Konstruktion von Räumen durch Sprache und Medien sowie qualitative Methoden in der Humangeographie. Gutsmann Christian  studiert Geographie an der Ruhr-Universität Bochum. Er hat am zweisemestrigen Studienprojekt Work 4.0: Entwicklungsszenarien der Arbeitswelt von Geograph:innen aktiv und im Sinne des orschenden Lernens teilgenommen. Hintermann Christiane  Dr.in, assoziierte Professorin für Fachdidaktik Geographie und wirtschaftliche Bildung an der Universität Wien. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen rassismuskritischer und diversitätsorientierter geographischer Bildung, geographischer Erinnerungsforschung, Medienbildung und Identitätsforschung. Hofmann  Romy  Dr.in, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Didaktik der Geographie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (zum Zeitpunkt des Beitragsentwurfs) und Netzwerkmanagerin bei der Europäischen Metropolregion Nürnberg. Ihre Forschung widmet sich Lernprozessen im digitalen Geographieunterricht sowie geographischer/kultureller Bildung.

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Jekel Thomas  Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen und Lehrender an den Universitäten Wien und Innsbruck. Neben Forschung im Bereich Spatial Citizenship war er an Curricula der Primar- und Sekundarstufe sowie der Lehrer*innenbildung beteiligt, war lange Zeit Co-Herausgeber der internationalen Zeitschrift GI_Forum Journal und ist Mitglied des Herausgeber*innenteams von GW-Unterricht. Kanwischer Detlef  Dr., Professor für Geographie und ihre Didaktik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Erforschung von metakognitiven Fähigkeiten und Kompetenzstrukturen beim Lernen mit digitalen Geomedien. Kollar Isabelle  Dr.in, wissenschaftliche Mitarbeiterin der AG Geographiedidaktik am Institut für naturwissenschaftliche Bildung der Universität Koblenz-Landau. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen digitaler Geomedien, Kartographie und Vorstellungsforschung. Koller Alfons  Mag., Lehrender an der PHDL (Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Geomedien und Fachdidaktik GW. Kuckuck Miriam  Dr., Universitätsprofessorin für Didaktik des Sachunterrichts am Institut für Geographie und Sachunterricht der Bergischen Universität Wuppertal. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Bildung für nachhaltige Entwicklung, sprachsensibler Geographieunterricht, informatischer Bildung im Sachunterricht sowie politischer Bildung. Kukota  Veronika  studiert Geographie an der Ruhr-Universität Bochum, wobei der Schwerpunkt auf der Humangeographie liegt. Dies begründet das besondere Interesse an der Thematik Work 4.0 und die aktive Teilnahme am gleichnamigen zweisemestrigen Studienprojekt. Laub  Jochen  Dr., StR und wissenschaftlicher Mitarbeiter der AG Geographiedidaktik am Institut für naturwissenschaftliche Bildung an der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen bildungstheoretische Grundfragen des Geographieunterrichts, der Förderung ethischer Urteilsfähigkeit sowie dem Mensch-Umwelt-Verhältnis. Lindau  Anne-Kathrin  Dr.in, Professorin für Didaktik der Geographie am Institut für Geowissenschaften und Geographie der Martin-Luther-Unversität Halle-Wittenberg. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Lehrkräfteprofessionalisierung, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Outdoor Education, Wildnisbildung und Sprache. Makarowsky  Lars  studiert Geographie an der Ruhr-Universität Bochum. Er hat am zweisemestrigen Studienprojekt Work 4.0 aktiv und im Sinne des Forschenden Lernens teilgenommen. Meyer Christiane  Dr.in, Professorin für Didaktik der Geographie am Institut für Didaktik der Naturwissenschaften der Leibniz Universität Hannover. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Bildung für nachhaltige Entwicklung, transformative Bildung, Kulturbewusstsein und Werte-Bildung.

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Mittrach Stephanie  M.Ed., Referentin für Nachhaltigkeit und Leitung Green Office der Leibniz Universität Hannover. Ihre Forschungsschwerpunkte als wissenschaftliche Mitarbeiterin lagen in den Bereichen Bildung für nachhaltige Entwicklung, transformatives Lernen, virtuelle Realität und professionelle (digitale) Handlungskompetenz. Mohring  Katharina  Dr.in, akademische Mitarbeiterin am Institut für Umweltwissenschaften und Geographie an der Universität Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen u.  a. in den Bereichen (urbaner) Gesellschaft-Umwelt-Transformationen sowie des medieninduzierten Wandels in Kommunikationsprozessen. Morawski Michael  Dr., Oberstudienrat im Hochschuldienst am Institut für Geographie und Sachunterricht der Bergischen Universität Wuppertal. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen des sprachsensiblen Geographieunterrichts mit digitalen Medien, Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit, Gamification in der Geographiedidaktik sowie in einer (kritischen) Bildung für nachhaltige Entwicklung. Müller Steven  hat Geographie an der Ruhr-Universität Bochum studiert. In diesem Zusammenhang wurde das Studienprojekt Work 4.0 im Sinne des Forschenden Lernens absolviert. Heute arbeitet er als Verkehrsplaner im öffentlichen Dienst. Neudecker Angelika  Dr., lehrt und forscht an der PH Bern zu den Themen Zukunft Lernen, digitale Transformation, Future Skills, Cosmopoliteracy© und ästhetische Praxis. Als ausgebildete Therapeutin, studierte Ethikerin und promovierte Geographin vertritt sie einen transdisziplinär-­humanistischen Ansatz. Nöthen Eva  Dr.in, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Humangeographie der Goethe-­Universität Frankfurt am Main. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen transformativer Bildung, Medienbildung, Gesellschaft-Umwelt-Beziehungen sowie künstlerischer (Stadt-)Forschung. Oberrauch  Anna  PhD, Mag.a, Hochschullehrperson für Didaktik der Geographie und Wirtschaftskunde an der Pädagogischen Hochschule Tirol. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Bildung für nachhaltige Entwicklung, sozioökonomische Bildung, transformative Bildung, digitale Bildung und geographische Perspektive im Sachunterricht. Ohl Ulrike  Dr.in, Inhaberin des Lehrstuhls für Didaktik der Geographie am Institut für Geographie der Universität Augsburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Lehrkräfteprofessionalität, Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) und transformative Bildung, Umgang mit Komplexität und Kontroversität. Otto  Jonathan  Diplom-Geograph, M.HEd., Lehrer für Geographie, Informatik und Sport an der Wichern-Schule in Hamburg sowie Programmmanager für das Schulprogramm bei der Esri Deutschland GmbH und Lehrbeauftragter für GIS an der Universität Hamburg. Einer seiner Schwerpunkte liegt in der Entwicklung digitaler Bildungskonzepte für Schulen mit einem speziellen Fokus auf die Integration von Geographischen Informationssystemen (GIS) in den Schulunterricht.

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Peschel Markus  Dr., Professor für Didaktik des Sachunterrichts an der Universität des Saarlandes, Fakultät NT. Seine Forschungsschwerpunkte sind in den Bereichen Digitalisierung und  Medien, (Offenes) Experimentieren sowie naturwissenschaftlicher Grundbildung. Pichler Herbert  Mag., Bundeslehrer im Hochschuldienst im Bereich Fachdidaktik Geographie und wirtschaftliche Bildung an der Universität Wien sowie Lehrer, Lehrerfortbilder, Schulbuch- und Lehrplanautor. Seine Arbeitsschwerpunkte reichen von politischer Bildung und kritischer Medienbildung bis zur förderlichen Leistungsbewertung im Fach Geographie und wirtschaftliche Bildung. Pokraka Jana  Dr.in, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Didaktik des Sachunterrichts am Institut für Geographie der Universität Duisburg-Essen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der intersektionalen geographischen Kindheitsforschung, Digitalität und Bildung und der sexuellen Bildung im Sachunterricht. Pungel Sebastian  Fachleiter für Erdkunde/Geographie am ZfsL Bonn – Studienseminar für Gymnasium und Gesamtschule, Lehrkraft am Gymnasium Rodenkirchen Köln und Fortbildner im Bereich Geographieunterricht. Seine Schwerpunkte liegen in den Bereichen Digitalisierung, Exkursionsdidaktik und Entwicklung von Urteils- und Systemkompetenz. Raschke Nicole  Dr.in, Juniorprofessorin für Didaktik der Geographie und Umweltkommunikation an der TU Dresden. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Bildung für nachhaltige Entwicklung, außerschulisches Lernen sowie Digitalisierung in geographischen Bildungskontexten. Reithmeier Christina  M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Rekonstruktion von Sozialräumen Jugendlicher im Kontext von Digitalisierung und geographischen Bildungsprozessen. Reuschenbach  Monika  Dr.in, Professorin für Geographie und Geographiedidaktik an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich des außerschulischen Lernens, des Lernens mit Medien, der Integration von digitalen Kompetenzen in die Ausbildung sowie der Lehrplan- und Lehrmittelentwicklung. Rohmann  Nikolai  M.Ed., regionaler Fachberater am Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen in Schleswig-Holstein. Seine Arbeit fokussiert auf die sinnvolle Verknüpfung von Fachinhalten und Medienkompetenzen, auf die Gestaltung verschiedener Zukünfte von Bildung im Kontext der Postdigitalität und einer Digitalen Ökologie. Roshoff Luis  studiert Geographie an der Ruhr-Universität Bochum, wobei der Schwerpunkt auf der Humangeographie liegt. Dies begründet das besondere Interesse an der Thematik Zukunft der Arbeit und die aktive Teilnahme am zweisemestrigen Studienprojekt Work 4.0.

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Sailer  Christian  Dr., Lehrspezialist am Departement Bau, Umwelt und Geomatik der ETH Zürich. Seine Position ist die Anlaufstelle zur Unterstützung von Dozierenden in den Bereichen Didaktik und Bildungstechnologien sowie Unterstützung von Studierenden bei guten Lerntechniken. Er begleitet anstehende Neuentwicklung oder Weiterentwicklung von Studiengängen und fördert und begleitet Leuchtturmprojekte zu Bildungsinnovationen. Die Auswertung von Lehrevaluationen komplettiert sein Bemühen um die Qualitätssicherung der Lehre im Departement. Saß  Marc  Timon  studiert Geographie an der Ruhr-Universität Bochum, wobei der Schwerpunkt auf der Humangeographie liegt. Dies begründet das besondere Interesse an der Thematik Zukunft der Arbeit und die aktive Teilnahme am Studienprojekt Work 4.0. Schlottmann Antje  Dr.in, ist Professorin für Geographie und ihre Didaktik an der Goethe-­ Universität Frankfurt. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Feldern visuelle Geographien, gesellschaftliche Naturverhältnisse, neue Tiergeographie und transformative Umweltbildung. Schulze Uwe  Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Lernen mit Geoinformationstechnologie in Schule, Hochschule und Gesellschaft, an der Schnittstelle von Geographie, Bildung, Lehrkräfteausbildung und Kompetenzorientierung. Seibert Isabel  Referendarin für Chemie und Erdkunde am Studienseminar für das Lehramt an Gymnasien in Kaiserslautern. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich Digitalisierung und Nachhaltigkeitsbildung im Chemie- und Geographieunterricht. Steinbach Dietmar  Fachleiter für Erdkunde und allgemeine Pädagogik am Studienseminar für Gymnasien in Gießen und Lehrkraft an der Weidigschule Butzbach. Seine weiteren Tätigkeiten sind Fortbildner im Bereich Digitalisierung im Geographieunterricht und in der allgemeinen Schulentwicklung, Curriculumentwicklung, Aufgabenentwicklung für das Landesabitur Hessen und 1. Vorsitzender VDSG – LV Hessen. Strüver Anke  PhD, Professorin für Humangeographie an der Universität Graz am Institut für Geographie und Raumforschung. Sie leitet die AG urban HEAP (Urban Health and Everyday Activities take Place) und das RCE Graz-Styria, Zentrum für nachhaltige Gesellschaftstransformation, und arbeitet zur mikropolitischen urbanen Alltagsorganisation. Topp Katharina  hat ihr Bachelorstudium der Geographie an der Ruhr-Universität Bochum mit einer Arbeit über Coworking Spaces erfolgreich abgeschlossen. Sie hat in diesem Zusammenhang das Studienprojekt Work 4.0 absolviert. Trampel Julian  hat sein Bachelorstudium der Geographie an der Ruhr-Universität Bochum erfolgreich abgeschlossen und dabei am zweisemestrigen Studienprojekt Work 4.0 aktiv und im Sinne des Forschenden Lernens teilgenommen.

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Wilkening Jan  Dr., Professor für Geodatenanalyse und Studiengangsleiter Geovisualisierung an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen webbasierter Geovisualisierung, Campus-Informationssysteme, kognitiver Aspekte der Kartographie sowie der Analyse humangeographischer Daten. Wirth Daniel  Akademischer Rat, Lehrkraft für besondere Aufgaben, Didaktik der Geographie an der Julius-Maximilians-Universität  Würzburg. Seine Forschungs- und Lehrschwerpunkte liegen in der Digitalisierung des Geographieunterrichts, einer Bildung für nachhaltige Entwicklung sowie in der Exkursionsdidaktik.

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Perspektiven auf Geographieunterricht in einer Kultur der Digitalität Eine Heterarchie Fabian Pettig und Inga Gryl

Zusammenfassung

Eine Kultur der Digitalität geht mit komplexen Transformationsprozessen einher. Davon betroffen sind im besonderen Maße alltägliche Raumbezüge und Mensch-­ Umwelt-­Verhältnisse, was die Notwendigkeit und Chance geographischer Bildung in einer digital geprägten Welt andeutet. Das Positionspapier des Hochschulverbands Geographiedidaktik „Der Beitrag des Fachs Geographie zur Bildung in einer durch Digitalisierung und Mediatisierung geprägten Welt“ (HGD, 2020) übersetzt diese Anforderungen in zehn Perspektiven, die vor diesem Hintergrund in den Feldern Unterricht, Lehre und Forschung in geographischer Bildung Denkanstöße zur Weiterentwicklung geben sollen. Dieses Kapitel beschreibt die kollaborative Genese des Papiers zwischen Theorie-/Praxisbezug und fachpolitischer Orientierung. Zugleich wird ein erstes Modell vorgestellt, mit dem die im Papier angelegten vielfältigen Paradigmen zwecks Orientierung, aber auch als Denk- und Reflexionsanstoß sortiert und einer vertieften Diskussion geöffnet werden können. Schlüsselwörter

Positionspapier · Lernen mit, über und durch Medien · Medienbildung · Digitale Geographien F. Pettig (*) Institut für Geographie und Raumforschung, Universität Graz, Graz, Österreich E-Mail: [email protected] I. Gryl Didaktik des Sachunterrichts am Institut für Geographie, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_1

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1.1 Einführung Vielfach beschrieben bewirkt eine Kultur der Digitalität eine massive gesellschaftliche Transition. Diese schafft, revidiert und erneuert nicht nur alltägliche Praktiken, sondern hat auch das Potenzial, den wissenschaftlichen Blick auf diesen Alltag zu verändern, professionelle (auch Forschungs-)Kontexte zu transformieren und schlussendlich auch Bildung neu zu gestalten. Die Dichotomie zwischen analog und digital löst sich zugunsten komplexer Vernetzungen auf: Digitale Daten augmentieren Welt und werden zu einem alltäglichen Mittel des Geographiemachens bzw. der sozialen Konstruktion von Räumen. Praktiken, die das Erleben mit dem Virtuellen vernetzen, greifen in MenschUmwelt-­Verhältnisse auf physisch-materieller Ebene ebenso ein wie auf einer sozial konstruierten. Die Ungleichzeitigkeit und Unabgeschlossenheit der Transformationsprozesse der Digitalisierung und die mit ihr einhergehenden Intentionen und Nebenfolgen eröffnen ein obendrein normativ komplexes Feld. Mit anderen Worten: Die komplexen Verhältnisse von Information, Räumlichkeit und Leiblichkeit sowie damit verbundene, unterschiedliche Maßstabsebenen durchdringende, (im)materiellen Phänomene verdeutlichen, wie eng die Perspektiven der Geographie als Disziplin mit Fragen von Digitalisierung und Digitalität verbunden sind (u. a. Ash et al., 2018; Kanderske & Thielmann, 2019; Bork-Hüffer et al., 2021). Es spricht also einiges dafür, dass Geographieunterricht1 ein Ort ist, an dem Mündigkeit in einer digitalen Welt erlangt werden kann und zugleich digitale Technologien für Bildung aus geographischer Perspektive in Wert gesetzt werden können. Vor diesem Hintergrund wurde im Hochschulverband für Geographiedidaktik (HGD) ein Positionspapier zur geographischen Bildung und Digitalisierung in einem aufwändigen Prozess kollaborativ erarbeitet. Das Positionspapier ist theoretisch fundiert und durch Personen aus verschiedenen Kontexten immer wieder begutachtet worden, bis es seine derzeitige Form – formuliert als zehn Perspektiven auf den Gegenstand – erhalten hat.2 Anliegen des vorliegenden Bandes ist es daher, diese Perspektiven auszubuchstabieren: theoretisch, praktisch und empirisch. Entsprechend sind die Kapitel dieses Buches entlang der Per­ spektiven des Positionspapiers benannt und vereinen in der Regel jeweils einen theoretischen Basistext, einen praktischen Good-Practice-Beitrag und einen empirischen Aufsatz zu einer Perspektive. Vor dem Hintergrund des kollaborativen Charakters des Positionspapiers und der Vielzahl der an diesem Band beteiligten Autor*innen werden eine Reihe

 Mit Blick auf die unterschiedlichen Curricula sind sowohl hier als auch im angesprochenen Positionspapier des HGD mit dem „Fach Geographie“ Fächer wie Geographie, Geographie- und wirtschaftliche Bildung und Erdkunde gemeint – und, mit eventuellen Abstrichen bzgl. zeitlichem Umfang und Anforderungsniveaus, auch weitere Verbundfächer, die (u. a.) geographische Bildung adressieren, wie Natur- und Gesellschaftswissenschaften und Sachunterricht. 2  Das vollständige Positionspapier mit umfangreichem Fußnotenapparat kann unter https://geographiedidaktik.org/positionspapiere-und-leitlinien/ eingesehen werden. 1

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unterschiedlicher Blickwinkel auf den Beitrag des Faches zur Bildung in einer durch Digitalisierung und Mediatisierung geprägten Welt eingebracht. Das vorliegende Kapitel verfolgt nun das Ziel, den vielgestaltigen Band zu rahmen, indem er über die unterschiedlichen Paradigmen hinweg nach Orientierungen sucht und zugleich eine Reflexionsfolie für die Entwicklung geographiedidaktischer Forschung und Lehre bereitstellen will. Hierzu wird (1) die kollaborative Entstehung des Positionspapiers dargelegt und herausgearbeitet, welche Implikationen und Relevanzen dessen Festschreibung als Positionspapier bedingt. Daraufhin folgt (2) die Darstellung des Kernstücks dieses Papiers, der Zehn Perspektiven auf geographische Bildung in einer durch Mediatisierung und Digitalisierung geprägten Welt. Aus diesen wird (3) ein Vorschlag zur Systematisierung der multiparadigmatischen Diskussion zum Gegenstand in der Geographiedidaktik formuliert und dieser zugleich in die medienpädagogische Debatte eingebettet. Es lassen sich daraufhin abschließend (4) einige offene Enden der geographiedidaktischen Unternehmungen in Forschung und Lehre aufzeigen, welche zur Orientierung und Entwicklung des Feldes hilfreich sein könnten.

1.2 Verortung und Genese des Positionspapiers Das Positionspapier „Der Beitrag des Fachs Geographie zur Bildung in einer durch Digitalisierung und Mediatisierung geprägten Welt“ des Hochschulverbands Geographiedidaktik (HGD) wurde am 02.10.2020 durch die Mitgliederversammlung des Verbands verabschiedet. Damit kam es zu einer Zeit, in der Digitalisierung in Bildungskontexten angesichts der Schulschließungen in der Coronapandemie eine sprunghaft gestiegene Aufmerksamkeit erfuhr. Diese kompensatorische Rolle, die Digitalisierung dabei oftmals spielen sollte, wird der Präsenz und dem Potenzial von Digitalisierung aber nicht gerecht, auch nicht im Zusammenhang mit geographischer Bildung. Tatsächlich setzte die Arbeit am Positionspapier unter anderen Vorzeichen zwei Jahre zuvor ein. Doch auch damit ist dieses Papier kein Vorreiter; andere Fachgesellschaften hatten ihre Positionspapiere bereits früher entwickelt, so etwa auch die Gesellschaft für Fachdidaktik (GFD) als Dachverband der Fachdidaktiken in Deutschland. Entsprechend der Idee der GFD war die Mitgestaltung des Papiers „Fachliche Bildung in der digitalen Welt“ (GFD, 2018) auch eine Anregung für die eigene Auseinandersetzung im Fach – beteiligt waren Vertreter*innen aus dem Kreis der späteren Autor*innen des HGD-Positionspapiers. Deutlich früher noch kam beispielsweise das allgemeindidaktische Papier der Kultusministerkonferenz (KMK) „Bildung in der digitalen Welt“ (2016, 2021) heraus, an dessen Lücken im Bereich der Beiträge fachlicher Bildung zur Digitalisierung sich die entsprechenden fachbezogenen Positionspapiere abarbeiten. Dabei ist Positionspapier nicht gleich Positionspapier: Manche formulieren ein Kompetenzmodell oder eine Art Kompetenzmodell, wie das DigComp-­ Modell der EU (Punie & Redecker, 2017) und das der KMK, andere sind eher programmatische Sammlungen von Ideen und Thesen, wie das der Gesellschaft für Didaktik des

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Sachunterrichts (GDSU, 2021); viele verweisen aufeinander oder auf zentrale Modelle (wie auf das TPACK-Modell, Koehler & Mishra, 2009). Mit diesen Erfahrungen konnte aus dem damaligen Vorsitz des HGD heraus eine Arbeitsgruppe unter Leitung/Beteiligung der Herausgeber*innen gegründet werden, „Geographische Bildung und Digitalisierung“, deren explizites Ziel es war, ein Positionspapier des Fachverbands zur Relation des Fachs und seiner Didaktik zur Digitalisierung zu verfassen. Digitalisierung ist im Fach bereits seit Jahrzehnten eine feste Größe (Milson et al., 2012; Kerski, 2003), zunächst durch GIS (Geographische Informationssysteme) und WebGIS im Unterricht, später durch GPS und virtuelle Exkursionen, durch digitale Geomedien sowie durch das Geographie-Machen im Web, und darüber hinaus durch Medieneinsatz und E-Learning generell. Die Notwendigkeit der visuellen Darstellung von weit entfernten Räumen oder geologischen Prozessen hat schon frühzeitig multimediale Elemente in den Geographieunterricht gebracht; das Aufkommen digitaler Kartographie und – insbesondere in den USA – der Ruf nach einer entsprechend ausgebildeten Arbeitnehmerschaft hat GIS im Unterricht befördert. Anzufügen ist dabei aber auch, dass die Bildungsstandards Geographie, ein Verbandsdokument, das trotz der Benennung nicht wie Bildungsstandards der Hauptfächer von der KMK getragen wird, aber eine inoffizielle Referenz für Lehrpläne des Fachs darstellt, bis zur Revision 2020,3 abgesehen von knappen Verweisen auf WebGIS, weitestgehend ohne Digitalisierungsbezug auskam. Damit sind insbesondere auch die Veränderungen der Alltagsgeographien durch die Digitalisierung gemeint, die wesentliche Bestandteile einer geographischen Bildung sein müssen, will sie nicht bedeutungslos sein. Blickt man auf die erste zweitätige Arbeitstagung vier Monate nach der Initiierung der Arbeitsgruppe zur Erstellung des Positionspapiers, wird deutlich, dass die zehn Mitglieder4 dieses engeren Kreises eine Gleichzeitigkeit verschiedener Ziele, je nach Person mit einem Schwerpunkt in die eine oder andere Richtung, im Blick hatten, was wiederum in unterschiedlichen Zielgruppen für das Papier resultiert. Folgende Ziele können für den Prozess identifiziert werden: • Selbstvergewisserung der Community: Ein Positionspapier kann der Selbstvergewisserung nach innen dienen, indem sie dem Fach bestimmte Eigenschaften zuschreibt. Ein Positionspapier zur Digitalisierung ist damit auch ein nicht zu unterschätzendes Symbol für ein Fach, das dieses aktuelle Thema umfassend im Blick hat (oder noch umfassender in den Blick nehmen wird) und damit up to date ist. Ein Positionspapier kann Identifikationsanlass zum Fach sein. Freilich ist auch die Selbstbehauptung in Bezug auf andere Fächer angesprochen, in dem Sinne, dass man Digitalisierung mindestens ebenso gut wie andere könne.  An der Revision war ebenfalls eine der Herausgeber*innen beteiligt: Möglich waren allerdings nur punktuelle Einschübe zum Digitalisierungsbezug sowie ein ausformuliertes Unterrichtsbeispiel. 4  Christian Dorsch, Inga Gryl, André Hermes, Thomas Jekel, Michael Lehner, Christiane Meyer, Fabian Pettig, Jana Pokraka, Gabriele Schrüfer, Uwe Schulze. 3

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• Entwicklung des Fachs: Digitalisierung ist ein Element einer immanenten Entwicklung des Fachs Geographie, angefangen bei der traditionellen Nutzung digitaler Tools wie GIS hin zur Erschließung neuer Themenfelder wie Smart Cities. Ein Positionspapier kann ein Signal an die wissenschaftliche Community sowie an Unterrichtspraktiker*innen sein, dem angesprochenen Gegenstand Aufmerksamkeit zu widmen, um dessen Entwicklung voranzutreiben, bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen in den Blick zu nehmen und fachliche Antworten des Fachs auf diese zu finden. Dies kann Dialoge im Fach anregen und die Gemeinschaftlichkeit eines Forschungsgegenstands und den Mehrwert daraus folgenden Austauschs betonen. Zugleich kann ein Positionspapier bisher marginalisierten Diskursen um den prominenten Gegenstand Sichtbarkeit verschaffen, etwa Fragen der Kultur der Digitalität jenseits des bereits sehr präsenten technischen Vermittlungsinteresses. • Professionalisierung der Lehrkräfte: Ein Positionspapier kann ein Anstoß für die Gestaltung und Entwicklung aller Phasen der Lehrer*innenbildung sein. Bildungspolitische Vorstöße, wie in Deutschland durch die Novelle des Lehramtsbildungsgesetzes, in Österreich die Einführung des Pflichtgegenstands digitale Grundbildung oder in der Schweiz die Stärkung des Bereichs Medien und Informatik im Lehrplan 21 (D-EDK, 2014), stoßen Professionalisierungswellen gezielt an und geben diesen zugleich eine bestimmte Richtung, die aber von jedem Fach noch auszugestalten ist. Das Positionspapier eines Fachverbands kann zudem ein Ausgangspunkt für Dialoge un­ ter den Fachverbänden sein (bspw. zwischen Hochschuldidaktik und Schulgeograph*innen); und hierüber Austausch zwischen universitär Dozierenden, Lehrkräftebildner*innen der zweiten Phase, Fortbildner*innen und Lehrkräften ermöglichen. • Information und Aktivierung der Eltern und Schüler*innen: Eltern, auch wenn sie diese Rolle nicht immer ausfüllen, sind wesentlich für den Bildungserfolg ihrer Kinder (OECD, 2018).5 Sie als Bildungsagenten ihrer Kinder zu begreifen beinhaltet, sie mit einem Papier, das Neuerungen im Schulsystem vorschlägt, ebenfalls zu adressieren und sie nicht auszuschließen. Wenn das Positionspapier Eltern anspricht, kann es im Idealfall Transparenz bzgl. der Entwicklungen im Bildungssystem und der Rollen des Fachs Geographie schaffen, und Eltern Einblicke jenseits der eigenen vergangenen, im Falle Geographie oftmals stereotypbehafteten, etwa länderkundlichen Erfahrungen geben. Gleichzeitig mag neben dem Empowerment der Eltern dann auch ein lobbyistischer Gedanke zum Tragen kommen: Informierte Eltern, die vom Potenzial eines Fachs überzeugt (worden) sind, könnten sich dafür eher einsetzen, als wenn sie die Maßstäbe einer veralteten Facherfahrung anlegen. Diese beiden Stoßrichtungen können auch ebenso an Schüler*innen gerichtet werden, insbesondere im Rahmen der Schüler*innenvertretungen. Im Zuge von Fridays for Future etwa erhielt das Fach Geographie, naheliegend, deutliche Aufmerksamkeit bzgl. Klimawandelbildung (Geowoche, 2021). • Fachpolitischer Zwang auf Ebene des Bildungssystems und Kommunikation an die Politik: Ein Positionspapier ist nicht zuletzt auch ein politisches Lobbyinstrument. 5

 Mit den entsprechenden Konsequenzen für Bildungsgerechtigkeit und soziale Mobilität.

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­ eographie ist eines der ‚„kleinen“ Unterrichtsfächer, das stets um seine Stundenzahl G in der Stundentafel kämpft, und angesichts seiner Progression mit einigen gesellschaftlichen Vorurteilen konfrontiert ist. Daher muss das Fach sehr deutlich, über den Verweis auf die klassische Geospatial Workforce hinaus, lebensweltlich relevante Akzente aufzeigen, die das Fach in Bezug auf Digitalisierung mit genügender fachlicher Tiefe erfüllen kann, um seinen Beitrag als eines der treibenden Fächer im Zeitalter der Digitalisierung darzulegen. Ziel ist dabei nicht nur, das Fach und damit die Legitimation der eigenen Arbeit zu sichern, sondern auch, jene Bildungsziele unter Digitalisierungsbezug zu realisieren, die in der fachdidaktischen Community gemeinschaftlich als relevant und normativ sinnvoll eingestuft worden, etwa mündigkeitsorientierte Bildung und Citizenship Education. Eine Argumentation für das Fach Geographie in diesem Zusammenhang ist, dass zahlreiche Phänomene von Digitalisierung raumbezogen sind, und entsprechendes Wissen und Kompetenzen erfordern, so etwa Locative Media, Geoweb, soziale Netzwerke und Smart Cities. Gerade in Verbindung mit politischer Bildung ergeben sich hier kommunizierbare Bildungsziele, etwa, wenn es um die Balance der Macht zwischen Staat, Bürger*in und einer Ökonomie in Form global agierender Technologieunternehmen geht. Dieser Auflistung an Aufgaben zufolge muss das Papier lesbar sein für Fachkolleg*innen, Ausbilder*innen im Lehramt, Lehrkräfte, Eltern, Schüler*innen und Politiker*innen. Diese Zielgruppen sind schwer miteinander in Einklang zu bringen – der Transparenz und Stringenz der Kommunikation aber geschuldet, wären getrennte Papiere aber ebenfalls problematisch. Selbstverständlich bringen die verschiedenen Stoßrichtungen Konsistenzprobleme mit sich, wie der Verweis auf Unterstützung des fachlichen Lernens vs. Vermittlung digitalisierungsbezogener Kompetenzen bereits aufgezeigt hat: Beides kann miteinander einhergehen; die Zielgruppenorientierung der Darstellung kann leiden. Es kommen noch weitere Herausforderungen hinzu: Das Positionspapier ist nicht nur Gegenwartsbeschreibung dessen, was das Fach bereits im Feld bietet, sondern auch Zukunftsvision, gerade, wenn man die heterogene Schullandschaft bis hin zur Ebene individueller Lehrkräfte betrachtet. Es soll progressiv und im gewissen Maße auch offen sein, gerade mit Blick auf die noch bevorstehenden weiteren Entwicklungen der Digitalisierung, aber noch anschlussfähig an gegenwärtige Diskurse und auch Praktiken. Es ist damit Bestandsaufnahme, Versprechen und offene Frage in einem. Ein Positionspapier impliziert Normativität, das heißt, es werden Ideen kommuniziert, wie guter Geographieunterricht unter den Bedingungen von Digitalisierung aussehen soll, und was er bieten muss. Zugleich widerspricht die konsensuelle Festschreibung allerdings in gewisser Weise der Idee eines kontroversen und produktiven wissenschaftlichen Diskurses, welcher Vielfalt, Widersprüche und Ambivalenzen, gerade des Themenfeldes Digitalisierung in Bildungskontexten, sichtbar macht. Wenn das Papier also auch für das wissenschaftliche Tun Relevanz entfalten soll, können nicht alle offenen Enden, Fragen und Spannungen geglättet werden. Prüfstein der Thesenformulierung muss daher deren Resonanzfähigkeit sein, d.  h., dass die Setzungen zugleich als Orientierungshilfen und (Denk-)Anstöße der Diskussion fungieren müssen.

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Die Intensität der Auseinandersetzung, aber auch die Möglichkeit, zu einem Konsens zu kommen, ist natürlich auch dahingehend beeinflusst, welche Personen sich an der Erstellung des Positionspapiers beteiligen. Naheliegend sind nur Personen involviert gewesen, die ein Interesse am Themenfeld und an der Entstehung eines Positionspapiers hatten, was durchaus die Breite der Stimmen limitieren kann, aber zugleich eine Zielführung und auch Tiefe der Auseinandersetzung fördert. Sämtliche Autor*innen und Kommentator*innen sind im Feld im eigenen theoretischen, empirischen und praktischen Arbeiten versiert. Zugleich ist das Feld so weit, dass unterschiedliche Akzentuierungen, etwa aus technischem und gesellschaftswissenschaftlichem Fokus, vertreten waren. Die engere Gruppe bestand aus Fachdidaktiker*innen, teils mit längerer Schulerfahrung, und einem Vertreter aus der Schulpraxis; in der größeren Gruppe der Kommentator*innen waren darüber hinaus auch Fachwissenschaftler*innen vertreten. Als Leitlinien des gemeinsamen Arbeitens lassen sich folgende identifizieren: 1. Technische Neuerungen und weitere Ausprägungen der Kultur der Digitalität werden als Innovationen aufgefasst, die es einer Reflexion zu unterziehen gilt. 2. Auf Basis dieser Reflexionen bedarf es der Sammlung und Formulierung diesbezüglicher fachdidaktischer Innovationen, die über Reaktion und Anwendung hinausgehen, hin zur Inwertsetzung von Digitalisierung als Lernmittel und Gegenstand. 3. Fachdidaktische Innovationen erfordern wiederum Kompetenzen der Lehrenden, die wiederum nicht allein reaktiv sein sollen, weshalb die Formulierungen auch hinsichtlich ihrer Möglichkeiten einer reflexiven und mündigen Professionalisierung zu prüfen sind. 4. Zugleich geht es auch um die strukturellen Bedingungen von Bildung, nicht nur um das Kompetent-Machen der Lehrenden und Lernenden. Die Arbeit der AG bestand nach dem zweitägigem Arbeitstreffen in Essen, bei dem der überwiegende Teil der zentralen Thesen entstanden ist, in einem kontinuierlichen kollaborativen (Über-)Arbeiten der Texte in einem Online-Dokument, mehreren Videokonferenzen zur Konkretisierung, dem Weiterdenken auf Arbeitsgruppentreffen im Rahmen von Konferenzen, Nutzung von E-Mail-Verteilern6 und mehreren Präsentationen auf Verbandsveranstaltungen und Tagungen, um externes Feedback zu erhalten und den Kreis der Kommentator*innen7 zu erweitern. Zur Finalisierung des Positionspapiers, d. h. die ­Erarbeitung der Begleittexte und die formale Gestaltung, kristallisierte sich gegen

 Über einen E-Mail-Verteiler der AG wurde der Kreis der Interessierten, auch über die interne Gruppe hinaus, laufend durch Berichte und Hinweise auf Mitwirkung am kollaborativen Dokument informiert, und über den E-Mail-Verteiler des HGDs wurden weitere Interessierte angesprochen, um den Prozess möglichst transparent zu halten. 7  Alle Personen, die sich am Kommentierungsprozess beteiligt haben und ihren Namen hinterlassen haben, wurden auch namentlich im Positionspapier genannt: Marc Böckler, Tabea Bork-Hüffer, Maximilian Breuer, Tim Elrick, Francis Harvey, Anne-Kathrin Lindau, Veit Maier, Peter Mandl, Florian Ringel, Nikolai Rohmann, Mathias Rodatz, Angelika Neudecker, Nina Scholten, Sandra Sprenger, Dietmar Steinbach, Trill Straube, Kristina Thiemann (alphabetische Reihung). 6

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Ende des Arbeitsprozesses ein dreiköpfiges Redaktionsteam8 heraus. Alle Mitglieder der AG hatten auch während der redaktionellen Arbeiten ständigen Zugriff auf das kollaborative Dokument und wurden über Änderungen und Arbeitsschritte informiert und um Feedback gebeten. Das finale Papier besteht aus zehn zentralen Thesen, deren erste Fassung bereits früh im Arbeitsprozess entstanden ist, einer Präambel, die ebenfalls durch große Teile der Gruppe gemeinsam verfasst wurde, sowie einer umfangreichen fachlichen Hinführung, die in unterschiedlichem Maße von verschiedenen der beteiligten Autor*innen verfasst und revidiert wurde. Die Thesen selbst werden durch einen umfangreiche Fußnotenapparat ergänzt, in dem Literaturbezüge untergebracht sind, um die theoretische Fundierung der Thesen und dabei auch mögliche Kontroversen sichtbar zu machen. Dieses für Positionspapiere durchaus ungewöhnliche Format dient einerseits der Wahrung der Transparenz des Entstehungsprozesses sowie der Inhalte samt dessen Bezugspunkten; andererseits soll der Aufbau des Papiers dessen intendierte Funktion für die Fachentwicklung in einem sich stetig wandelnden Feld unterstreichen.

1.3 Zehn Perspektiven auf geographische Bildung in digitalen Kulturen Das Ergebnis der gemeinsamen Unternehmung wird hier nur ausschnittsweise wiedergegeben, indem die Präambel des Positionspapiers (HGD, 2020, S.  1) ebenso wie das Kernstück, die zehn Perspektiven (ebd., S. 5), hier als Direktzitat zur Darstellung gelangen: Präambel  Die Digitalisierung stellt im Kontext des globalen Wandels mit gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen wie Klimawandel, Globalisierung, Urbanisierung und Migration neue Anforderungen an die Selbst- und Weltverhältnisse des Individuums sowie an eine nachhaltige gesellschaftliche Transformation. Dabei verändern sich unter den Bedingungen des digitalen Wandels nicht nur individuelle Handlungsoptionen sowie gesellschaftliche und ökonomische Praktiken und Machtverhältnisse. Vielmehr kommt es zu einer epochalen Veränderung des bislang bekannten Mensch-Umwelt-Verhältnisses, das nunmehr um die Schnittstelle der digitalen Informationstechnik erweitert wird. Das bedeutet, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen und erfahren, und wie wir gesellschaftlich agieren, wird mehr denn je durch digitale Daten und Informationen sowie Computer-­ basierte und Algorithmen gesteuerte Entscheidungsprozesse bestimmt sein – bewusst oder unbewusst. Im Zentrum geographischer Bildung steht daher der Mensch, dessen ­individuelle Weltaneignung und alltägliches Handeln zunehmend in globale Netzwerkstrukturen und Technologien der geographischen Informationsverarbeitung eingebettet ist. Um Schüler*innen zu Mündigkeit in einer digitalen Welt zu befähigen und digitale Technologien für geographische Bildung angemessen in Wert setzen zu können, wurde 8

 Inga Gryl, Fabian Pettig, Uwe Schulze.

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dieses Positionspapier im Hochschulverband für Geographiedidaktik erarbeitet. Entlang von zehn Perspektiven auf den Beitrag des Faches Geographie zur Bildung unter den Bedingungen der Digitalisierung formuliert es den fachdidaktischen Anspruch der Geographie zur Bildung in einer digital geprägten Welt. In diesem Zusammenhang sollen die aufgezeigten Perspektiven als immer wieder zu betonende Forderungen an die Praxis des Faches verstanden werden und gleichzeitig als ein Angebot zum fachlichen und öffentlichen Diskurs dienen. Zehn Perspektiven  Geographische Bildung in einer durch Digitalisierung und Mediatisierung geprägten Welt … #1 … sensibilisiert dafür, dass die Digitalisierung soziale, ökonomische, ökologische und politische Systeme verändert, und vermittelt daher Leitlinien einer nachhaltigen Digitalisierung. #2 … vermittelt lebensweltbezogene Fertigkeiten und Fähigkeiten sowie fachliche Konzepte im Umgang mit digitaler Geoinformation als Kulturtechnik. #3 … befähigt, aufbauend auf individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten, geographische Phänomene, Strukturen und Prozesse mittels digitaler Geomedien darzustellen, zu systematisieren und zu analysieren. #4 … ermöglicht die mündige Teilhabe an gesellschaftlichen Veränderungen mittels digitaler Geomedien. #5 … reflektiert die (Geschäfts-)Modelle und Praktiken der Geoinformationsindustrie sowie weiterer, nicht kommerzieller Plattformen und ihrer Auswirkungen auf die eigene Weltaneignung sowie die Privatsphäre. #6 … gibt Orientierung für Berufsfelder, die sich im Zuge des digitalen Wandels verändern bzw. neu entstehen. #7 … befähigt, digital durchdrungene Lebenswelten in ihrer Räumlichkeit multitheoretisch, d. h. in unterschiedlichen Zugängen, analysieren und reflektieren zu können. #8 … befähigt zur kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle, der Rolle anderer und der Bedeutung von Algorithmen und künstlicher Intelligenz für die Konstruktion von Identität, gesellschaftlicher Wirklichkeiten und Erkenntnis mittels Geomedien. #9 … berücksichtigt die Möglichkeiten der kollaborativen Gestaltung digitaler geomedialer Lernumgebungen mittels Open Educational Resources (OER), um offene Lehr-­Lerngemeinschaften voranzubringen. #10 … fördert Lehrende, sich in formellen und informellen Kontexten mit den Möglichkeiten der Digitalisierung für das Fach kreativ und kritisch auseinanderzusetzen und hierfür die eigene Professionalisierung zu reflektieren. Diese Professionalisierung ist zugleich Bedingung für eine adäquate geographische Vermittlung im Zeitalter der Digitalisierung.

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1.4 Zusammenhänge von Lernen, Bildung, geographischer Fachlichkeit und Digitalität Die zehn zuvor benannten Perspektiven zeugen von der inhaltlichen, method(olog)ischen und epistemischen Breite der Diskussion um den Zusammenhang von Lernen, Bildung, Fachlichkeit und Digitalität, wie er sich zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Bandes in der deutschsprachigen Geographiedidaktik zeigt. Eine eindeutige, abgeschlossene Definition, was geographische Bildung in digitalen Kulturen bedeutet bzw. zu bedeuten hat, lässt sich aufgrund der diskursiven Vielfalt auch nicht formulieren. Insofern ist das Positionspapier des HGD als eine Arbeitsdefinition zu verstehen, an der es gemeinsam weiterzuarbeiten gilt. Zugleich liegt im Verständnis um unterschiedliche Vorannahmen, Schwerpunkte und Ansätze in der Diskussion das Potenzial, die Möglichkeiten und Grenzen eigener und anderer Zugänge zu erkennen und die reflexive Berücksichtigung blinder Flecken im eigenen Tun Teil der Forschungs-, Lehr- und Unterrichtspraxis werden zu lassen. Denn es ist klar, dass sich mit der Art und Weise, wie über den Zusammenhang der o.  g. Begriffe nachgedacht wird, auch die Fenster der Beobachtung auf den Gegenstand ändern, d. h. die Fragestellungen, die formuliert werden, und die Ansätze, die zur Klärung verfolgt werden. Es ist ein Unterschied, in der Forschung die Optimierung einer Lehr-Lernsituation in der Schule über den Einsatz digitaler Medien anzustreben, die Befähigung Lernender zur Teilhabe an den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen im Zuge des digitalen Wandels im Blick zu halten, oder sich den sozioökonomischen Implikationen des Digitalen in räumlicher Perspektive zu widmen. Die Orientierungen, die eine Bildung in der digitalen Welt geben muss, „können einerseits ein kompetenter und souveräner Umgang mit digitalen Medien sein, andererseits aber auch die Befähigung, sich sozial verantwortlich und kritisch mit dem Gebrauch und den Effekten digitaler Medien für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft auseinandersetzen zu können“ (Bastian & Rummler, 2018, S. i). Eng damit verbunden ist natürlich stets die Frage, welchen Beitrag einzelne Fächer und ihre je spezifischen Gegenstände hierzu leisten können, also was diesbezüglich deren fachspezifische Bildungsinhalte sind. Es existieren bereits Versuche, die geographiedidaktische Diskussion zu ordnen, wobei der in unterschiedlichen Kontexten etablierten Unterscheidung in ein Lernen mit und ein Lernen über das Lernen durch Geo-IKT (Schulze & Gryl, 2022) bzw. Geomedien (Kanwischer & Gryl, 2022) zur Seite gestellt wird. Für unsere Systematisierung wählen wir einen veränderten Ausgangspunkt und formulieren die Heuristik einerseits induktiv aus dem Positionspapier, der gemeinsamen Arbeit in der Arbeitsgruppe und den Schwerpunkten der Beiträge des vorliegenden Buches und betten diese andererseits in unterschiedliche medienpädagogische Diskursstränge ein, um sowohl die Vielfalt der Diskussionen in ihren unterschiedlichen begrifflichen Ausgangspunkten zur Darstellung zu bringen als auch die Anschlussfähigkeit an die medienpädagogische Diskussion zu wahren. Es lassen sich unserer Ansicht nach drei Schwerpunkte in der aktuellen deutschsprachigen geographiedidaktischen Diskussion identifizieren: (1) Geographisches Lernen mit, über und durch

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Abb. 1.1  Multiple Zusammenhänge von Lernen, Bildung, geographischer Fachlichkeit und Digitalität mit den Bezugsfeldern Schule, Hochschule und Weiterbildung

digitale Medien; (2) Geographische Bildung in digitalen Medien; und (3) Digitale Geographien als Bildungsgehalte. In konzeptionellen Ansätzen, empirischen Arbeiten und unterrichtspraktischen Vorschlägen durchdringen sich diese drei Schwerpunkte durchaus (Abb. 1.1). Geographisches Lernen mit, über und durch digitale(n) Medien Erstens wird eine Diskussion um das Lernen mit digitalen Medien – i. S. digital unterstützten Lernens –, das Lernen über digitale Medien – i. S. der Förderung digitalbezogener Kompetenzen – und das Lernen durch digitale Medien – i. S. der Herausbildung personaler, vor allem reflexiver und partizipativer Fähigkeiten – geführt. Zum einen geht es dabei um den erfolgreichen, d. h. effektiven, effizienten und einen Mehrwert bietenden Einsatz digitaler Technologien (sowohl in Form von Hard- als auch Software) im Unterricht. Geographiedidaktische Beispiele sind u. a. Fragen danach, wie der Einsatz digitaler Modelle im Geographieunterricht den Kompetenzerwerb unterstützen kann (z. B. Brockmüller & Siegmund, 2020), oder Fragen nach dem Mehrwert des mobile learning in der geographischen Exkursionspraxis (z.  B.  Feulner, 2020). Die politisch geförderte infrastrukturelle Ausstattung von Bildungseinrichtungen mit Breitbandinternet, WLAN sowie

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digitalen Endgeräten9 wird dabei von bildungspolitischen Forderungen begleitet. So werden zum anderen im Rahmen der KMK-Strategie Bildung in der digitalen Welt „Kompetenzen in der digitalen Welt“ (KMK, 2016) als Querschnittsaufgabe von Schule ausgewiesen, die das Suchen, Bewerten und Verbreiten von Informationen ebenso wie ein Grundverständnis für die technischen Hintergründe aktueller Medien umfassen, und im Unterricht gezielt gefördert werden sollen. In den „ergänzenden Empfehlungen zum Lehren und Lernen in der digitalen Welt“ (KMK, 2021) werden inzwischen fünf übergreifende Kompetenzen als zentral präzisiert: „(1) gelingend kommunizieren können; (2) kreative Lösungen finden können; (3) kompetent handeln können, (3) kritisch denken können sowie (5) zusammenarbeiten können“ (KMK, 2021, S. 8). Auch in Österreich wird eine „digitale Grundbildung“ (BMBWF, 2018) als Querschnittsaufgabe aller Unterrichtsfächer und Schulstufen verbindlich gefordert, zu fördernde Kompetenzbereiche10 ausgewiesen und die digitale Grundbildung als Pflichtgegenstand der Sekundarstufe I mit dem Schuljahr 2022/23 eingeführt (BMBWF, 2022). Auf Ebene der Lehrkräftekompetenzen vergleichen Lorenz und Endberg (2019) den Ansatz Medienpädagogischer Kompetenz (Blömeke, 2000; Herzig, 2004), das TPACK-Modell (Koehler & Mishra, 2009) und das EU-Rahmenpapier DigiCompEdu (Redecker, 2017) miteinander und halten als übergreifende, zentrale Kompetenzbereiche in der deutschsprachigen und internationalen Debatte fest: 1. Das Wissen und die Erfahrung von Lehrpersonen im Umgang mit Technologien und digitalen Ressourcen 2. Die pädagogisch-didaktischen Kompetenzen der Lehrpersonen zur Gestaltung von mediengestütztem Unterricht 3. Das Wissen um die Lernvoraussetzungen der Schüler*innen (Kap. 31). Es existiert in der Diskussion eine Vielzahl an Kompetenzbeschreibungen und Modellen – sowohl bezogen auf Schüler*innen als auch auf Lehrkräfte, entsprechend vielfältig sind die Bezugnahmen in der geographiedidaktischen Diskussion. Einige Autor*innen kritisieren in diesem Kontext die bildungspolitische Überbetonung einer funktionalistischen Sichtweise auf das Lernen mit und über digitale Medien (Bastian, 2017). Hiermit verbunden ist auch die Kritik an neoliberalen Motiven innerhalb der bildungspolitischen Papiere, welche die ökonomische Verwertbarkeit digitalbezogener Kompetenzen betonen und explizit fordern (Dander, 2018, 2020). Des Weiteren wird in der Debatte auch eine uneinheitliche Verwendung der Begriffe Medienkompetenz und auch Medienbildung ­ sowie deren Verflechtungen deutlich. In der Medienpädagogik werden beide Begriffe in Im Rahmen des 8-Punkte-Plans für die Digitalisierung österreichischer Schulen werden bspw. seit 2021 die Jahrgangsstufen 5 und 6 flächendeckend mit mobilen Endgeräten ausgestattet (BMBWF, 2020, o. S.). 10  Unter dem digi.komp-Dachbegriff liegen entsprechende Kompetenzmodelle für sämtliche Schulstufen vor (vgl. https://www.digikomp.at). 9

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zwischen ergänzend verwendet und verdrängen sich nicht gegenseitig (Iske, 2015). Dabei wird deren inhaltliche Nähe unterschiedlich konzipiert und medienbezogene Kompetenz und medienbezogene Bildung teils stärker zusammengedacht (z.  B.  Tulodziecki et  al., 2021) bzw. auch teils deutlich voneinander abgegrenzt (z. B. Jörissen, 2011). Für die Geographiedidaktik fordern jüngst Uwe Schulze und Inga Gryl, „neben der Berücksichtigung des holistischen Kompetenzverständnisses […] zu prüfen, inwiefern die Facetten des auf Geo-IKT bezogenen Lehrens und Lernens nicht auch explizit um den Bezug zu digitalen Geomedien erweitert werden müssten, damit die dominierende technische Wissensproduktion im Umgang mit Geo-IKT um die Kategorien des praktischen und des emanzipatorischen Erkenntnisinteresses Ergänzung findet“ (Schulze & Gryl, 2022, S. 152) – im Sinne eines Lernens durch Medien, welches die kompetenzorientierte Diskussion explizit um bildungsbezogene Implikationen und Ansprüche erweitert. Einen Vorschlag, wie dieses Zusammendenken konzeptionell gelingen und zugleich die epistemologische Eigenständigkeit beider Begriffe gewahrt bleiben kann, formuliert Kerres (2020, S. 21): „Bildung (in der digitalen Welt) ist mehr als die Summe erworbener Kompetenzen im Umgang mit einer durch digitale Medien geprägten Kultur; doch gleichzeitig bedarf sie verschiedener Kompetenzen, um die Gestaltungsoptionen einer digitalen Welt nutzen zu können“. Geographische Bildung in digitalen Medien Zweitens wird eine Diskussion um Aspekte und Gelingensbedingungen einer „Medienbildung“ (Marotzki & Jörissen, 2009) geführt, welche die Autor*innen klar von der Diskussion um medienbezogene Kompetenzen abgrenzen. Dabei gehen sie von einem Medienbegriff aus, welcher Medien nicht als Mittler zwischen Subjekt und Welt konzeptualisiert: Menschen verhalten sich in einer mediatisierten Welt nicht zu Medien, sondern in Medien (Jörissen, 2011), womit auch ein ontologischer Unterschied des Ansatzes zum Lernen mit, über und durch digitale Medien angezeigt ist. Die Medialität unseres Daseins prägt wesentlich die Strukturen von Weltsichten, bedingt neue Formen der Interaktion, des Miteinanders, der algorithmischen Ermöglichung, aber auch Verunmöglichung, bspw. wenn location based services einerseits Handlungsfähigkeit angesichts einer uferlosen Datenflut sicherstellen und zugleich Relevanzfilter zwischen Suchanfrage und -ergebnis schalten und damit beeinflussen, was gefunden wird. Medienbildungsprozesse bieten angesichts dieser veränderten Bedingungen (1) Orientierung, d. h. sie erlauben, sich innerhalb unübersichtlicher und kontingenter gesellschaftlicher Bedingungen Orientierung zu verschaffen und sich zu positionieren; bedürfen zugleich (2) Flexibilisierung, d. h. der Fähigkeit, sich umzuorientieren und etablierte Denk- und Handlungsmuster einer ständigen Revision zu unterziehen und diese reflexiv zur Disposition zu stellen; kultivieren darüber hinaus (3) Tentativität, d. h. eine vorausschauende Haltung, welche Kontingenzerfahrungen gegenüber offenbleibt und Erfahrungsräume öffnet; und erfordern (4) Alterität, d. h. die Begegnung mit Fremdem und Unbekannten, sodass mit diesen ein Umgang erlernt werden kann (Marotzki & Jörissen, 2008, S. 100 f.). Kurzum: Bildung zeigt sich im ­Digitalen dann als Differenzierungsgeschehen zwischen Aneignung und Entfremdung,

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das Selbst-Welt-Verhältnisse zu transformieren vermag (Leineweber, 2020, S. 53). In diesem Konzept von Medienbildung steckt weiterhin immer auch die „Frage der (Möglichkeiten und Bedingungen) gesellschaftlicher Partizipation“ (Marotzki & Jörissen, 2008, S.  102). Die Bedingung der Teilhabe an der Aushandlung des gesellschaftlichen Miteinanders bedingt dabei die Fähigkeit zur Artikulation eigener Sichtweisen über entsprechende Plattformen und Kanäle und berührt somit auch Fragen nach dem kompetenten Umgang mit digitalen Medien. Im Kern zielt eine auf diese Weise verstandene Medienbildung darauf ab, Orientierung in einer „Kultur der Digitalität“ (Stalder, 2016) – sowie den diese auszeichnenden Merkmalen Referenzialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität  – zu gewinnen und zugleich die Teilhabe an deren Artikulationsformen sowie hierüber auch deren kritisch-reflexive Gestaltung zu ermöglichen. Medienbildung adressiert Medien also nicht als Gegenstand, sondern versteht Medialität als die Grundlage und Voraussetzung jeglicher Bildung (Jörissen, 2013). In der jüngeren geographiedidaktischen Diskussion zeichnet sich vor diesem Hintergrund das fachdidaktische Prinzip der „Mündigkeitsorientierung“ (u.  a. Dorsch & Kanwischer, 2019; Kap.  11) ab, welches Anliegen einer zukunftsfähigen Medienbildung im Geographie- bzw. GW-Unterricht adressiert. Hierbei geht es sowohl darum, Schüler*innen dazu zu befähigen, Digitalität kritisch-reflexiv zu analysieren und digitale Medien selbstbestimmt zur Artikulation eigener Visionen und Weltsichten einzusetzen, um hierüber Autonomie im digitalen Zeitalter zu erlangen. Beide Facetten werden auch im Ansatz einer „kritischen geographischen Medienbildung“ (Hintermann et  al., 2020; Pichler et  al., 2021) gefasst und über raumbezogene Identitätskonstruktionen explizit fachspezifisch verankert: Einerseits geht es um die Sensibilität für stereotype mediale Darstellungen von Menschen und Kulturen sowie die Fähigkeit, diese fachlich zu dekonstruieren; andererseits geht es um die Fähigkeit, alternative mediale Darstellungen, d. h. gegenhegemoniale Diskurselemente, artikulieren zu können, um an der diskursiven Aushandlung raumbezogener Identitäten teilzuhaben. Digitale Geographien als Bildungsgehalte Drittens lässt sich eine Diskussion um die Bildungsgehalte des Digitalen für den Geographieunterricht erkennen. Der Fokus liegt hierbei auf den räumlichen wie sozioökonomischen Implikationen digitaler Transformation auf individueller sowie gesellschaftlicher, lokaler sowie globaler Ebene. Ausgangspunkt dieser dritten Perspektive ist der geographische Befund, dass sich das Digitale umfassend „in das interdisziplinäre Brückenfach und seine zentralen Untersuchungsgegenstände – Raum, Räumlichkeiten sowie Gesellschafts-­Umwelt-­Beziehungen – eingeschrieben“ (Bork-Hüffer et al., 2021, S. 12) hat, weshalb bspw. im englischsprachigen Diskurs bereits ein „digital turn“ (Ash et al., 2018) ausgerufen wurde. Als disziplinspezifischer Fluchtpunkt der Bemühungen, diese Entwicklungen systematisch aufzuarbeiten, lässt sich das neuerlich etablierte Feld „Digitaler Geographien“ bestimmen. Mit dieser Wortschöpfung ist angezeigt, dass sich das Digitale quer durch das Fach und dessen Forschungsgegenstände zieht. Das Digitale verändert die Prozesse geographischer Wissensproduktion und Vermittlung ebenso wie die Methoden und Werkzeuge geographischen Erkenntnisgewinns und lässt zudem keinen

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Bereich der Alltagskultur unberührt. Vor diesem Hintergrund schlagen Ash et al. (2018) die Unterscheidung von drei epistemologischen Fenstern entlang unterschiedlicher Fragehorizonte zur Systematisierung des Diskursfeldes der digital geographies vor, die in der internationalen Diskussion breit rezipiert werden: (1) Geographies produced through the digital, d. h. „Wie wird welches geographische Wissen von wem zu welchem Zweck digital (re)produziert?“; (2) Geographies produced by the digital, d. h. „Wie bedingt Digitalität welche Produktion sozialräumlicher Verhältnisse?“; (3) Geographies of the digital, d. h. „Wie prägt Digitalität welche Lebenswelten und alltäglichen Praktiken?“ (Ash et  al., 2018, S. 27–34). Bork-Hüffer et al. (2021, S. 15) ordnen das „paradigmatische Potenzial“ dieser drei Fragehorizonte als ernüchternd ein. Einerseits, da die Geographie auf eine lange Tradition digitaler Datenproduktion und -verarbeitung zur Erkenntnisgewinnung zurückblickt, die in der quantitativen Revolution und computergestützter Analyse und Modellierung gründet (Thatcher, 2019). Andererseits, da die Denkfigur des Turns die Gefahr birgt, längst überholte Dualismen zu perpetuieren, bspw. indem die „Hinwendung zum Digitalen“ die Unterscheidung in eine (alte) analoge und eine (neue) digitale Welt reproduziert, ohne beide in ihrer ontologischen Verschneidung zu reflektieren (Kanderske & Thielmann, 2019). Aber auch wenn man der Lesart folgt, dass die Heuristik von Ash et al. also weniger die proklamierte Wende und Neuausrichtung auf das Digitale bezogener geographischer Forschungsbemühungen einläutet, bündelt sie die fachliche Diskussion in ihrer Genealogie auf handhabbare Art und Weise. Es kristallisieren sich Schwerpunkte und Wegmarken heraus, welche unserer Ansicht nach Reflexionsimpulse für die geographiedidaktische Diskussion liefern und in unterrichtspraktischer Perspektive als Prüfsteine fachbezogener Bildungsfragen fungieren können. Denn die Heuristik erlaubt, Bildungsgehalte des Digitalen auszuloten und analytisch für den Fachunterricht als Bildungsinhalte zu erschließen (vgl. Klafki, 1962). Wir stimmen vor diesem Hintergrund Felgenhauer & Gäbler zu, die ganz grundsätzlich dafür plädieren, „das Digitale nicht primär als technisches, sondern als sozial-kulturelles und historisches Phänomen zu deuten“ (2019, S. 6). Die Potenziale der hierüber sichtbar werdenden Inhalte für den Geographieunterricht gilt es für die Geographiedidaktik noch weitgehend zu heben. Als ein Beispiel auf diesem Weg kann der Ansatz „viraler Raumkonstruktionen“ (Kanwischer & Schlottmann, 2017) gelten, welcher mediale Bedeutungszuschreibungen bzw. Prozesse der Raumproduktion im Web 2.0 für Bildungskontexte erschließt.

1.5 Lose Enden und ein Ausblick Mit Blick auf das Anliegen dieses Kapitels ist festzuhalten, dass mit der Unterscheidung unterschiedlicher Stränge in der geographiedidaktischen Diskussion in deren Einbettung in medienpädagogische Debatten ein Modell entstanden ist, welches vielleicht dazu geeignet ist, über unterschiedliche Paradigmen hinweg Orientierung für geographiedidaktische Forschung und Lehre zu bieten. Zugleich hat der Versuch der Systematisierung auch weiße Flecken in der fachdidaktischen Diskussion offengelegt:

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1. Es fällt auf, dass bislang nur eine begrenzte kritische Reflexion der Überbetonung einer Arbeitsmarktorientierung digitalbezogener Kompetenzmodelle und politischer Agenden (Mitchell, 2018) in der geographiedidaktischen Diskussion vorliegt. Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass die Forderung nach „kritischer Reflexion“ inzwischen zum Standardrepertoire geographiedidaktischer Ansätze und Modelle gehört. Die Reflexion darf aber nicht allein innerhalb bestehender Ordnungen verharren, sondern muss auch diese Ordnungen selbst kritisch in den Blick nehmen – ganz im Sinne eines emanzipatorischen Erkenntnisideals. Denn die kritische Aufarbeitung solcher Tendenzen ist unmittelbar von fachdidaktischer Relevanz, wenn nach deren bildungsbezogenen Implikationen für den Geographieunterricht gefragt wird. 2. Die konzeptionelle Verhältnisbestimmung von Lernen und Bildung im Kontext von Digitalität sowie damit verbundener unterrichtspraktischer Konsequenzen werden zurzeit in der geographiedidaktischen Diskussion nur vereinzelt dann aber vielversprechend, adressiert. Eine reflektiertere Begriffsverwendung im Allgemeinen sowie die intensivere Berücksichtigung von Ansätzen und Konzepten aus der medienpädagogischen Diskussion im Besonderen versprechen, neue Fragestellungen in der geographiedidaktischen Diskussion aufzuwerfen. 3. Dieses Verhältnis muss auch als praxisorientierte Verhältnisbestimmung von Lernen und Bildung im Kontext von Digitalität mit Blick auf unterrichtspraktische Konsequenzen durchdacht werden. Bisweilen erfolgt dabei obgleich in der geographiedidaktischen Diskussion erste Überlegungen zur Differenzierung vorliegen (vgl. Dorsch & Kanwischer 2019), zuweilen eine synonyme Verwendung von Bildung und Mündigkeit, die weder dem einen noch dem anderen Begriff gerecht wird, und daher auch der Verhältnisbestimmung zum Lernen nicht dienlich ist. Es braucht eine theoretisch fundierte und methodisch mit Blick auf das Bildungspotenzial der Begriffe im Kontext Kultur der Digitalität durchdachte Praxis. 4. Soweit steht die systematische(re) Erschließung von Bildungsgehalten des Digitalen für das Unterrichtsfach Geographie noch aus. Es scheint überaus lohnend, die sozialräumlichen Relevanzen und Bedeutungsstrukturen des Digitalen, bspw. mit Blick auf Raumaneignungsprozesse, die Transformation von (Alltags-)Praktiken oder auch intersektionale Ungleichheit, stärker fachdidaktisch auf deren Bildungswerte hin zu reflektieren, um lebensweltbezogene und auch zeitgemäße Unterrichtsinhalte zu identifizieren und in die Schulpraxis implementieren zu können. Die gegenwärtige Diskussion im Unterrichtsfach und darüber hinaus der Austausch in der Arbeitsgruppe „Geographische Bildung und Digitalisierung“ sowie die vielen digitalbezogenen Beispiele geographiedidaktischer Forschung, Entwicklung und Lehre zeugen von dem großen Potenzial des Schulfachs Geographie für die Kultivierung eines kritisch-­ kompetenten Umgangs mit den Möglichkeiten des Digitalen wie auch die emanzipiert-­ selbstbestimmte Teilhabe in einer Kultur der Digitalität – es bleibt aber viel zu tun. Der vorliegende Band bündelt Bausteine auf diesem lohnenswerten Weg.

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Danksagung Ohne all die Mitwirkenden am Positionspapier wäre dieses Kapitel nicht möglich gewesen; dafür herzlichen Dank! Bei Thomas Jekel bedanken wir uns für die kritisch-­konstruktive Durchsicht einer früheren Version dieses Kapitels.

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1  Perspektiven auf Geographieunterricht in einer Kultur der Digitalität

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Perspektive 1

Geographische Bildung in digitalen Kulturen sensibilisiert dafür, dass die Digitalisierung soziale, ökonomische, ökologische und politische Systeme verändert, und vermittelt daher Leitlinien einer nachhaltigen Digitalisierung. Kap. 2: Basiskommentar Dieses Kapitel bestimmt Digitalisierung im gesellschaftlichen Sinne: Wie wird Digitalisierung diskursiv gerahmt? Welche Spannungslinien ergeben sich für soziale Beziehungen und wirtschaftliche Praktiken? Darauf aufbauend wird die Frage erörtert, welche Rolle geographisches Wissen und Praktiken der Geomediennutzung für eine nachhaltige Digitalisierung spielen können. Kap. 3: Good-Practice-Beispiel Das vorgestellte Lehrveranstaltungsformat dient dem Aufbau von fachgegenstandsbezogenem Wissen zu Gesellschaft-Umwelt-Verhältnissen und Nachhaltigkeit in der Stadtentwicklung sowie von digitaler und medialer Kompetenz in der Reflexion von Virtual Reality (VR) als geographisches Vermittlungstool. Hierzu gestalten Studierende auf der Basis eigener Forschungen in der Stadt VR-Exkursionen. Kap. 4: Forschungsbeitrag In dem Forschungsprojekt wurden Geographie-Lehramtsstudierende begleitet, auf Basis eigener Forschungen zu Stadtentwicklungsprozessen in Wien VR-Exkursionen zu produzieren. Das Lehrkonzept berücksichtigt vor allem die affektive und emotionale Wirkung von VR. Wir leiten daraus den Bedarf einer transformativen Lehre ab, die einen Gewinn für eine nachhaltigkeitsbezogene Bildung darstellt.

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Nachhaltige Digitalisierung? Zum Wandel von Diskursen, Sozialbeziehungen, Technik und Alltagspraxis Tilo Felgenhauer

Zusammenfassung

Die Digitalisierung steht für einen umfassenden gesellschaftlichen Wandel – u. a. im Hinblick auf soziale Beziehungen, wirtschaftliche Aktivitäten und die Rekonfiguration, aber auch Verfestigung von Machtverhältnissen. Dabei fällt auf der Ebene der öffentlich geführten (deutschsprachigen) Diskussionen um Digitalisierung ein deutlicher Technikskeptizismus und teilweise -determinismus auf: Das Digitale wird vor allem als der Gesellschaft äußere Kraft verstanden, die innerhalb der Gesellschaft Veränderungen fordert und anstößt. Technik erscheint aktiv und Gesellschaft als eher passiver Resonanzraum. Neue kulturwissenschaftliche und techniktheoretische Ansätze machen demgegenüber eine Perspektive der praktischen Verwobenheit, der Koevolution von Digitalität und Alltagspraxis stark. Eine sozial und ökologisch nachhaltige Digitalisierung müsste demnach nicht nur Nachhaltigkeit im klassischen Sinne befördern (z. B. Ressourcenverbrauch digitaler Infrastruktur senken, nachhaltige soziale und ökonomische Praktiken mit digitalen Mitteln fördern), sondern grundlegender auch gängige alltägliche technikdeterministische Deutungsmuster (Technik steuert Gesellschaft) aufbrechen. Eine neue praktische Erfahrung des Räumlichen kann hierfür ein wichtiges Beispiel geben, indem etwa der zunehmend immersive Charakter von Geomedien gestärkt und im Zuge dessen die zunehmend „nahtlose“ Verschränkung von context (Medien im Raum) und content (Raum in den Medien) realisiert wird.

T. Felgenhauer (*) Humangeographie, Pädagogische Hochschule Oberösterreich, Linz, Österreich E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_2

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T. Felgenhauer Schlüsselwörter

Techniktheorie · Technikdeterminismus · Mediale Präsenz · Nachhaltige Digitalisierung

2.1 Einleitung: Digitalisierung als gesellschaftliche Transformation „Digitalisierung“ wandelt sich vom Fach- und Sachbegriff zum vielfältig schillernden Kulturphänomen. So wie sich der im Kern rein symbolische Algorithmus in handfesten, realen Praktiken materialisiert, so verschränkt sich Digitalisierung als Konzept mit vielfältigen Deutungs-, Sinn- und Handlungsebenen: Digitalisierung begegnet uns als rein technischer Prozess, als zu vollziehender Modernisierungsschritt, als progressives politisches Programm, als Maßnahme und Sachzwang, als individuell empfundene oder mindestens erwartete Herausforderung, und nicht zuletzt als Diagnosekategorie des gesellschaftswissenschaftlichen Blickes. Um dieses Feld aufzuschließen, wird im Folgenden die Transformation der Gesellschaft im Zuge der Digitalisierung in vier Schritten skizziert. Zunächst soll Digitalisierung als Begriff in technischer und räumlicher Hinsicht bestimmt werden (Abschn. 2.2). Wie sich Alltagserfahrungen in Narrativen um Digitalisierung verfestigen, soll am Beispiel von populärer Sachbuchliteratur zum Thema dargestellt werden (Abschn. 2.3). Ausgewählte sozial- und kulturwissenschaftliche Ansätze, die über die öffentlich bereits breit diskutierten Aspekte hinausweisen, werden im dritten Teil präsentiert (Abschn. 2.4). Im letzten Schritt (Abschn. 2.5) soll dargelegt werden, wie Digitalisierung mit Blick auf Bildungskontexte nachhaltig zu gestalten wäre – im weiteren Sinne dauerhafter und stabiler Nutzungs- und Partizipationsformen und im engeren ökologischen Sinne.

2.2 Digitalisierung als technisches und räumliches Phänomen Die Leistung von Technik für den Menschen besteht nach Ingo Schulz-Schaeffer (1999, S. 419) darin, zuverlässig wiederholbare Verkettungen von Ereignissen bzw. Operationen herzustellen. Technik hält gewissermaßen fertige Sets von Ereignisabfolgen für uns bereit. Im Falle des digitalen Algorithmus erreicht diese Leistung von Technik eine ganz neue Qualität. Nicht nur können Operationen in nie gekanntem Ausmaß, Geschwindigkeit und Komplexität Technik „übereignet“ werden. Der binäre Code des digitalen Algorithmus steht auch für eine neue Zeichenhaftigkeit von Technik. Das Symbolische, die Programmzeile, formt sich zu materiellen Ereignissen in unserer Alltagswelt. Digitale Technik wandert außerdem aus den konventionellen Gehäusen der Desktopcomputer aus, die in ihrer Gestalt noch dem klassischen technischen Artefakt entsprechen: objekthaft, begrenzt, stationär. Im Zuge der digitalen Durchdringung des Alltags verschwindet der Computer zunehmend als physisches Objekt und ist gleichzeitig umso präsenter, allgegenwärtiger in seinen Wirkungen und Leistungen, wie es Mark Weiser mit

2  Nachhaltige Digitalisierung?

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seiner Vision des „ubiquitous computing“ bereits 1991 prognostizierte (Weiser, 1991). Diese Allgegenwart des Digitalen ist getragen von einer zunehmenden Vernetzung und Mobilität der Technik (vgl. Felgenhauer & Gäbler, 2019, S. 7–10). Geräte, Infrastrukturen und Nutzer*innen verbinden sich in immer vielfältigerer Form. Materielle Infrastrukturen sind zunehmend räumlich ausgreifend, dabei immer reibungsloser routinehaft nutzbar und gleichzeitig zunehmend intransparent. Die Nähe des Zugangs und die Ferne der technischen Verarbeitung klaffen weit auseinander. Deshalb gilt es, unter der grundsätzlichen Bedingung global verfügbarer digitaler Medien für neue Raumbindungen und Raumproduktionen des Digitalen zu sensibilisieren, indem man beispielsweise die oft unbekannten Geographien globaler, materieller Infrastrukturen des Digitalen aufdeckt (vgl. Parks & Starosielski, 2015). Noch stärker lebensweltbezogen sollte die Rolle des Räumlichen sowohl als context (Medien im Raum, z.  B. Überwachungskameras) als auch als content (Raum in den Medien, z.  B.  Google Earth) des Handelns verdeutlicht werden (vgl. Adams, 2010; Abend & Harvey, 2017). Gerade innovative Geomedien stehen für eine praktische Konvergenz von context und content und für eine zunehmend immersive Raumerfahrung (vgl. Graham et  al., 2013; Bauder, 2021; Kap.  4). Im Zuge dessen werden die prinzipiell sehr unterschiedlichen Räumlichkeiten von technischem System, Nutzer*in und Gesellschaft miteinander verbunden (vgl. Felgenhauer, 2015, S. 102–104).

2.3 Die diskursive Konstruktion des Digitalen: Digitalisierung als gesellschaftliche Herausforderung und subjektiv empfundene Zumutung Was Digitalisierung im technischen Sinne ist, lässt sich aus sozialwissenschaftlicher Sicht nicht von der Frage trennen, wie die Gesellschaft die Digitalisierung als Phänomen rahmt und konstruiert. Dies spiegelt sich in breit geführten Diskussionen um die Wirkungen, die Einordnung und Bewertung digitaler Technik im Alltag. Zahlreiche Diskursbeiträge einer informierten, aktivistischen Netzkritik (stellv. O’Neil, 2016; Buolamwini, 2016; Festival re:publica) wären hier zu nennen. Gerade im deutschen Sprachraum dürften aber auch einige feuilletonistische Sachbuchbestseller bekannter Autoren einen deutlichen Einfluss ausüben (stellv. Schirrmacher, 2011, 2015; Spitzer, 2014; Wilkens, 2015). Autoren, die genau nicht als ausgewiesene „Digital-Experten“ gelten können, wohl aber als versierte Übersetzer und Kommunikatoren in Richtung einer interessierten, kritischen, gebildeten, aber nicht zwingend technikaffinen Laienöffentlichkeit – ein Publikum jenseits der „Digital Natives“. Diese Bücher (!) spiegeln zwar nicht unbedingt dominierende, aber doch wiederkehrende Deutungsmuster,1 welche die Risiken der Digitalisierung betonen. Digita Es handelt sich hierbei nicht um eine systematische Diskursanalyse im engen methodischen Sinne. Ziel ist es, eine der außerwissenschaftlichen Arenen der Interpretation des Phänomens Digitalisierung zu skizzieren. 1

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lisierung steht dann – nicht nur, aber auch – für ungezügelten Medienkonsum, schwindende Kontrolle über das eigene Leben, Verarmung direkter Sinneserfahrungen und damit Verlust authentischen Erlebens, die Suspendierung klassischer politischer Institutionen und die Obsoleszenz traditioneller Bildungsbestände. Bei der Lektüre zeigt sich ein ­wiederkehrendes Schema der Problemkonstruktion mit drei Elementen: Empathie, Evidenz und Normativität. 1. Empathie zeigt sich darin, wie die Autoren selbst empfundene subjektive Zumutungen und Überforderungen im Umgang mit dem Digitalen offen schildern, weil sie davon ausgehen, dass auch die Leserschaft vielfach ähnliche Erfahrungen macht. Frank Schirrmacher schreibt in „Payback“ (2011) über seinen mit digitalen Medien überladenen Alltag Kapitel wie „Mein Kopf kommt nicht mehr mit“ (ebd., S.  13) oder „Multi-­Tasking ist Körperverletzung“ (ebd., S. 69): „Ich lebe ständig mit dem Gefühl, eine Information zu versäumen oder zu vergessen …“ (ebd., S. 15). Manfred Spitzer beschreibt in „Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“ (2014) die Überforderung von Schulkindern durch die Reiz- und Informationsflut digitaler Medien. Digitalisierung steht für Zerstreuung, Ablenkung, Konzentrationsschwäche, die Auslagerung kognitiver Fähigkeiten in digitale Systeme und die Erosion realer sozialer Kontakte. 2. Evidenz ist das Mittel der Vergewisserung, dass die eigene Intuition kein Einzelfall ist, dass die empfundenen Zumutungen der Digitalisierung überindividuell geteilt werden (den anderen geht es auch so wie mir) oder diese gar „objektiv“ generalisierbar sind. Letzteres wird durch die Hinterlegung mit wissenschaftlichen Befunden oder durch die Anrufung wissenschaftlicher Autoritäten erreicht. So beziehen sich sowohl Spitzer als auch Schirrmacher bspw. auf international bekannte Studien2 namhafter Autoren zu den problematischen Folgen von „Multi-Tasking“ (Spitzer, 2014, S. 205, 227; Schirrmacher, 2011, S. 71). Damit fungieren die Sachbuchautoren als Übersetzer zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Die von den Leser*innen im Zusammenhang mit der Digitalisierung alltäglich empfundene Ablenkung, Überforderung und Nervosität wird wissenschaftlich „beglaubigt“ und erscheint dann weniger als persönliches Defizit. 3. Normativität prägt die Schlussfolgerungen aus den Darstellungen. Im Kontext wertender und abwägender Bilanzierungen (siehe auch „Internet. Segen oder Fluch“, Passig & Lobo, 2012) wird versucht, Antworten zu geben auf die Frage, was nun zu tun ist angesichts der dramatischen Umwälzungen. Fast nie enden die Argumentationen damit, Digitalisierung rundherum abzulehnen. Für den eigenen Alltag werden mehr oder weniger einfache Verhaltensregeln der Dosierung und Reflektion des Gebrauchs digitaler Medien ausgegeben im Sinne der Psychohygiene (digital detoxing; „Analog  Windisch, E. & Medman, N. (2008). Understanding Digital Natives. Ericsson Business Review 1, 36–39; Anderson, J. & Rainie, L. (2012). Millenials will benefit and suffer due to their hyperconnected lives. Pew Research Center’s Internet & American Life Project; Ophir, E., Nass, C. & Wagner, A. (2009). Cognitive control in media multitaskers. PNAS 106 (37), 15583–15587.

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ist das neue Bio“, Wilkens, 2015) mit dem Ziel, Lebensqualität und Selbstbestimmung zu erhalten. Auf der Ebene des politischen und demokratischen Umgangs mit digitaler Technologie werden Themen der gesetzlichen Regulierung, der Überwachung, Transparenz und Fairness verhandelt.3 Im Falle der genannten Titel bewegt sich Digitalisierung also zwischen subjektiver Erfahrung, Sachkunde/Wissenschaft und politischer Argumentation. Immer wieder begegnet man einer Rhetorik der „Auswirkungen“ (auf die Arbeit, Bildung, das Zusammenleben usw.) und weniger der Kreativität und Innovation. Digitalisierung erscheint ebenso unabwendbar wie kaum gestaltbar und wird als „übergriffig“ empfunden. Strategien des politischen Umgangs mit dieser Transformation arbeiten entsprechend im „Bewältigungsmodus“. Somit wird letztlich eine lang bekannte Grundfigur erneuert: Technik wirkt auf Gesellschaft, Technik steuert Gesellschaft.

2.4 Digitalisierung als Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Forschung 2.4.1 Technik- oder Sozialdeterminismus? Ideengeschichtliche Ursprünge und aktuelle Positionen Technik als Gegenüber oder gar Gegenspieler der Gesellschaft zu deuten, ist ein bereits in der „vor-digitalen“ Technikphilosophie angelegtes Muster. Während Technik ursprünglich als „nahtlose“ Organverstärkung oder Organersatz für das „Mängelwesen Mensch“ (Herder) erschien, ist die immer komplexere Technik der Moderne und Spätmoderne durch Autonomie und Intransparenz gekennzeichnet, wie etwa in der Debatte um großtechnische Systeme der 1960er-Jahre und in der andauernden Debatte um die Kernenergie (vgl. Gehlen, 2007 [1957]; Habermas, 1969). Technik wandelt sich vom einfach zuhandenen Werkzeug zum opaken System und steht zunehmend für die Entkopplung des Menschen vom Sein durch Technik (z.  B. bei Heidegger, 2014 [1962]), den Verlust unmittelbarer Erfahrung und insgesamt für die Entfremdung des Menschen von seiner Beziehung zur Welt (Massenkultur und Massenkonsum, Taylorismus in der Arbeitswelt). Technik wird vor diesem Hintergrund oft negativ bestimmt über das, was sie aufzulösen droht. Technik steht zunehmend für Distanzierung, Undurchsichtigkeit, Indirektheit des Weltzugangs, Entwurzelung und letztlich Kontrollverlust. Technikkritische Positionen in der Debatte um die Digitalisierung können also auch als ein Echo auf diese – im Prinzip seit der Romantik bestehende – Denklinie verstanden werden.

 Im Sammelband mit dem Titel „Technologischer Totalitarismus“ (Schirrmacher, 2015) äußern sich überwiegend kritische Stimmen zum Thema, u. a. Martin Schulz, Hans Magnus Enzensberger und der Herausgeber selbst. Sie dokumentieren eine umfangreiche Debatte zum Thema, die in der FAZ geführt wurde. 3

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Verlassen wird dieses Denkmuster (Technik wirkt auf Gesellschaft) durch neue techniksoziologische Theorien (vgl. Rammert, 2007, S.  21  ff.). Technik kann als soziale ­Konstruktion verstanden werden. Technikgenese und Innovation erklären sich aus ihrem sozialen Umfeld. Die duale Konstellation von Technik und Gesellschaft insgesamt wird überwunden durch Konzepte der verteilten Handlungsmacht zwischen Mensch und Maschine (Rammert, 2007, S. 105 ff.), der „Koevolution von Technik und Gesellschaft“ (Dolata & Werle, 2007, S. 16) und in Ansätzen der Akteur-Netzwerk-Theorie (vgl. Bellinger & Krieger, 2006). Auch in der systemtheoretischen Soziologie werden aktuell Technik und Gesellschaft mit Blick auf die Digitalisierung viel enger zusammengedacht. So dreht der Soziologe Armin Nassehi (2019) die Frage nach den Auswirkungen der Digitalisierung um. Er fragt nicht zuerst, vor welche Fragen und Probleme die Digitalisierung die Gesellschaft stellt, sondern auf welche gesellschaftlichen Fragen die Digitalisierung antwortet. Für welche Probleme ist das Digitale die Lösung? Seiner systemtheoretischen Argumentation nach ist das Digitale die Antwort auf eine „wuchernde“ Komplexität der Gesellschaft, die nur durch das Erkennen von Regelhaftigkeit gemanagt werden kann: „Das Bezugsproblem der Digitalisierung ist die Komplexität und vor allem die Regelmäßigkeit der Gesellschaft selbst“ (ebd., S. 28, 36). Die Gesellschaft „[…] enthält Muster, die man auf den ersten Blick nicht erkennt. Der zweite Blick, dem sie freilich ansichtig werden, ist zunehmend ein digitaler Blick“ (ebd., S. 28). Das genau für diesen Blick typische struktur-funktionale, quantitativ-modellierende Denken ist in der modernen Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert in Planung, Bürokratie und Wissenschaft angelegt, kommt mit der Digitalisierung – so seine These – aber erst zu seiner vollen Entfaltung. Im Digitalen findet die moderne Gesellschaft zu sich selbst. In Nassehis Denkfigur ist das Digitale eben keine äußere Kraft, sondern entsteht in der Mitte einer sich selbst steuernden modernen Gesellschaft.

2.4.2 Der Wandel sozialer Beziehungen: „Expecting more from technology and less from each other“?4 Die Digitalisierung prägt die alltägliche Erfahrung der Lebenswelt. Der Computer steht nicht mehr als Bezugsobjekt des Handelns im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit, sondern verschmilzt mit der Welt, verschwindet im Hintergrund (jedenfalls, solange er reibungslos funktioniert). Technik verbirgt sich weitgehend hinter intuitiv nutzbaren Interfaces, mit deren Hilfe uns dann der Zugang zu (gefilterten)5 Informationen und soziale Kontakte ermöglicht werden. Digitalisierung bedeutet die Entwicklung weg von klassischen Massenmedien (z.  B.  Zeitung, Rundfunk = One-to-Many) hin zur Vernetzung als Vervielfältigung von  Miller (2012, S. 276), mit Bezug auf Turkle (2011).  Eli Parisers Begriff der „Filter Bubble“ (2011) bezeichnet die Selektivität und Individualität der präsentierten Netzinhalte. 4 5

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Kommunikationszusammenhängen (Internet/Web 2.0 = Many-to-Many). Diese neue vernetzte Welt hebt die vorangehenden Modi nicht auf, fügt diesen aber neue Möglichkeiten hinzu, z. B. in Form sogenannter sozialer Medien. Digitalisierung erscheint damit in neuer soziokultureller Qualität. Digitale, webbasierte Medien sind durch die Vernetzung ihrer Inhalte (vom linearen zum Hypertext) und die Eröffnung neuer Teilhabemöglichkeiten (Interaktivität, vgl. Miller, 2011, S. 15 f.) ebenso gekennzeichnet wie durch die Vernetzung ihrer Nutzer*innen. Wellman (2002) postuliert einen „networked individualism“ als neue prototypische Vergesellschaftungsform, die kleinräumige und hinsichtlich der Kontaktzahl überschaubare Sozialverbände durch global geknüpfte, aber tendenziell flüchtigere Netzwerke zwischen Individuen ersetzt. Dagegen wird aktuell ebenfalls eine neue Renaissance der Gemeinschaftlichkeit (Stalder, 2016, S. 129 ff.) im Digitalen beobachtet. Überindividuelle Kollektive und Identitäten entstehen zunehmend als Produkt digitalisierter Kommunikation. Diese These passt auch zur aktuellen Renaissance traditioneller kultureller Identitäten in digitalisierten Kontexten. Auch überkommene, lokale und nationale Identitäten formieren und stabilisieren sich über die neuen Kanäle und Plattformen (vgl. Felgenhauer, 2017; z. B. zu Nationalismus in den sozialen Medien in Deutschland und Österreich siehe Fuchs, 2020). Trotz neuer Vernetzungsmöglichkeiten und digitaler Vergemeinschaftung sieht Vincent Miller (2012) in der neuen Vielfalt digital mediatisierter Sozialkontakte eine „Krise der [physischen, T. F.] Präsenz“, die er für die Ausbildung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen als zentral erachtet: „We live in a world where we are increasingly connected and where our social horizons, interactions, influences and presences are less and less spatially limited, but our horizons of care or responsibility to others are still very much based on physical proximity.“ (Miller, 2012, S. 281)

Die Krise der Präsenz besteht also in sozialer Hinsicht in der wachsenden Kluft zwischen Verfügbarkeit und Verbindlichkeit. Während sich erstere inflationär vermehrt, bleiben verbindliche und ethisch verantwortungsvolle Kontakte auf die physische Kopräsenz beschränkt. „Artifizielle Präsenz“, nach Lambert Wiesing (2005) das Wesen von Medien überhaupt, bleibt aus Millers Sicht in soziokultureller Hinsicht dagegen defizitär und unzulänglich. Dieser These gilt es gerade aus geographischer Sicht mit Blick auf die Erfahrung des Ortes und des Anderen mit neuen, immersiven Geomedien zu begegnen (s. u.).

2.4.3 Wandel der Ökonomie: „prosumer“, „collaborative commons“ und „sharing economy“ In ökonomischer Hinsicht verändert das erweiterte Handlungsspektrum im Netz das Verständnis von Produzent*innen und Konsument*innen. Im Web 2.0 verschmelzen beide Rollen zum „Prosumer“ (vgl. Miller, 2011, S. 86–88), der an der Gestaltung des Angebots mitwirkt. Eine digitale „Maker Culture“ entdeckt das Selbermachen als Feld der Sinnstiftung und Emanzipation.

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Damit verändert sich auch das Koordinatensystem des digitalen Kapitalismus. Während der nach konventionellen Prinzipien der Profitmaximierung und Kundenorientierung arbeitende E-Commerce von immer stärkeren Konzentrationsprozessen erfasst wird, entstehen gleichzeitig neue Freiräume einer wachsenden „sharing economy“ (Rifkin, 2014). Die Produkte dieser Ökonomie sind als „collaborative commons“ nicht den klassischen Marktgesetzen und der Preisbildung unterworfen. Gerade immaterielle Güter der Kultur und Information sind ohne klassische Stückkosten beliebig oft reproduzierbar. Damit sinkt die Schwelle, diese Güter kostenlos zu verteilen, anstatt sie in klassischer Weise zu vermarkten. Dieses „Ende der Knappheit“ (David, 2017) stellt Grundprinzipien des globalen Kapitalismus in Frage und bedroht damit natürlich auch klassische „analoge“ Erwerbsmodelle. Gleichzeitig laufen Entwicklungen der wachsenden Monopolisierung in der Plattformökonomie ebenfalls ungebrochen weiter. Vielfältige Formen des Digital Divide hinsichtlich Klasse, Bildung, Geschlecht, Ethnie oder Alter bestehen fort trotz prinzipiell abgesenkter Zugangsschwellen (vgl. Warf, 2018a, b; Lange & Santarius, 2018, S.  101  f.). Insgesamt stehen Tendenzen der sozialen, ökonomischen und technischen Konvergenz (z. B. neue Teilhabemöglichkeiten, ein neues Konsument*innenbewusstsein, mehr Informationen über die Anbieter*innen eines Produktes, das Smartphone als erschwingliches Universalmedium/Universalwerkzeug) neue Entwicklungen der Divergenz in Form von Machtasymmetrien und teilweise wachsenden Ungleichheiten, vor allem im Hinblick auf Wissen, Fertigkeiten und Zugangsrechten, gegenüber.

2.5 Geographische Bildung für Nachhaltigkeit und Digitalisierung Die skizzierten Themen der Digitalisierung – deren Grundverständnis, die sozialen Beziehungen in digitalisierten Kontexten und die ökonomischen Transformationen – werfen die Frage nach einer nachhaltig gestalteten Digitalisierung auf. Diese würde entsprechend eine einseitige, deterministische Sichtweise auf die Digitalisierung begrifflich überwinden, soziale Bindungen stärken und neue, nachhaltige ökonomische Praktiken stützen. Doch wie gestaltete sich dieses Grundanliegen, wenn man es aus einer spezifisch geographischen und bildungsorientierten Perspektive betrachtet? Dem Brundtland-Bericht (UN, 1987) folgend, erweist sich eine Entwicklung dann als nachhaltig, wenn sie „… die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“. In dieser allgemeinen Deutung ist nachhaltige Entwicklung ein Grundsatz, dem nicht nur Fragen der ökologischen Existenz des Menschen (Abschn. 2.4.2), sondern auch eine so grundlegende gesellschaftliche Transformation wie die Digitalisierung unterstellt werden müsste (Abschn. 2.4.1).

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2.5.1 Nachhaltige Digitalisierung Angesichts der Rasanz des digitalen Wandels der Gesellschaft wäre eine nachhaltige Digitalisierung eine Entwicklung, welche die gesellschaftlichen Grundlagen, auf denen sie beruht, nicht aufzehrt, sondern dauerhaft erhält. Zum Beispiel, indem demokratisch verfasste Wohlfahrtsstaaten und ihre Bürger auch weiterhin in der Lage sind, Bildung, Politik und Kultur in demokratischer und eben digitaler Form wesentlich mitzugestalten. Dazu gehört zunächst ein niedrigschwelliger Zugang zu digitalen (Geo-)Medien, eine wenigstens prinzipiell gegebene Transparenz der algorithmischen Kernstruktur des Digitalen, und die Ermöglichung und Motivation zur Teilhabe an der Gestaltung der digitalen Welt. Daten als neuer „Rohstoff“ dieser Welt sind als prinzipielles Gemeingut demokratisch zu regulieren. Darauf aufbauend geht es natürlich auch um die Vermittlung von Wissen, welches die kritische Reflexion über die dem Digitalen inhärenten Schließungen und Machtstrukturen ermöglicht und auch dazu motiviert, die Chancen und Risiken der Digitalisierung in mündiger und emanzipierter Weise mitzudenken (vgl. Burbules et al., 2020). Die Geographie als Schulfach kann zur Aufklärung über die digitale Welt beitragen, indem nicht nur digitale Medien als Werkzeuge Eingang in den Unterricht finden (z. B. GIS), sondern indem Digitalisierung auch selbst zum Gegenstand des Unterrichts wird (vgl. Felgenhauer & Gäbler, 2019). Die komplexen räumlichen Bezüge global vernetzter digitaler Infrastrukturen sind zu beleuchten: Die Geographien der Serverzentren, Unterseekabel und Satellitensysteme, Energiebedarfe und Ressourcenbilanzen von Produktion und Betrieb digitaler „Hardware“, die Formen der digitalen Vergemeinschaftung oder umgekehrt eines „digital divide“ (zwischen Zentren und Peripherien, globalem Norden/Süden, zwischen gesellschaftlichen Gruppen oder Regionen) könnten dann ebenso diskutiert werden wie die durch digitale Medien verbreiteten Raumbilder und Images. Damit würde Digitalisierung nicht nur als Form und Methode des Lernens, sondern auch als Inhalt des Unterrichts vermittelt. Eine zeitgemäße Geomedienbildung bringt beides zusammen (vgl. Schulze et al., 2020 zu „DiGeo“; Kap. 3).

2.5.2 Digitalisierung von Nachhaltigkeitsstrategien Den ökologischen Herausforderungen der Gegenwart (Nachhaltigkeit im ökologischen Sinn) wird zunehmend mit digitalen Mitteln begegnet werden (vgl. Lange & Santarius, 2018). Energienutzung, Emissionskontrolle, Effizienzsteigerungen und intelligente Konzepte für Mobilität, Wirtschaft und Wohnen werden Nachhaltigkeit im Zuge einer gleichzeitigen Digitalisierung erlangen (können). Die Geographie als das maßgeblich für Mensch-Umwelt-Beziehungen zuständige Fach ist hierfür ein bedeutsamer Kommunikator. Dabei wird es darauf ankommen, nicht nur normativ gemeinhin als nachhaltig erachtete Alltagsroutinen einzuüben, sondern auch dauerhafte Zielkonflikte und Spannungslinien zu erkennen und wirklich offene Fragen zu stellen, z. B.: Wann sollen wir natürliche

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Ressourcen in größtmöglichem Umfang konservieren und wann dürfen diese auch ­transformiert werden?6 Was ist das neue Leitbild sozioökonomischer Entwicklung: „Postwachstum“ und Konsumverzicht oder ein „Green Capitalism“ der nachhaltigen Investments (vgl. Paech, 2011)? Ist die „smart city“ (kritisch: Bauriedl, 2018) gleichzeitig auch eine „sustainable city“? Welche Rolle soll die Digitalisierung für eine nachhaltige Entwicklung spielen? Soll sie im Sinne einer zunehmend immateriellen „Ökonomie der Zeichen“ helfen, Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln? Oder soll die Digitalisierung Nachhaltigkeitsstrategien einer erneuten lokalen Verankerung stützen?7 Die durchaus ambivalente Rolle der Digitalisierung für das Erkennen, den Aufbau und die Pflege nachhaltiger Weltbeziehungen wird eines der wichtigsten Themen geographischer Bildung der kommenden Jahre sein.

2.6 Fazit: Drei Ansprüche an geographische Bildung für eine nachhaltige Digitalisierung Aus den skizzierten Feldern  – der innergesellschaftlichen Problemkonstruktion (Digitalisierungsdiskurse), der sozialwissenschaftlichen Deutung und der Diskussion um Nachhaltigkeit – lassen sich drei Ansprüche für die geographische Bildung schlussfolgern: 1. Gestaltung statt Determinismus: Ziel ist ein gestalterisch-kreativer Umgang mit dem Digitalen statt eines Denkens in Figuren des Technikdeterminismus (i. S. v. Handeln im „Bewältigungsmodus“/Gesellschaft reagiert auf die Digitalisierung). Speziell geographische Bildung vermittelt dementsprechend einen schöpferischen Umgang mit Geoinformation und eine kreative Aneignung von Räumlichkeit mit digitalen Mitteln und Methoden. 2. Immersive Raumerfahrung: Geographische Bildung schafft Gelegenheiten für ein „Eintauchen“ in die räumliche Lebenswelt. Sie ist damit eine Antwort auf die diagnostizierte „Krise der Präsenz“ (Miller, 2012). Geographien des Digitalen bieten dann eine Bereicherung der Raumerfahrung und stehen genau nicht für deren Verarmung und Reduktion. Damit unterstützen sie auch gehaltvolle, d. h. verbindliche, verantwortungsvolle und solidarische Sozialbeziehungen und offene politische Aushandlungsprozesse. 3. Nachhaltigkeit als gesellschaftliches und räumliches Spannungsfeld: Geographische Bildung reproduziert nicht nur „Konsensbegriffe“ wie „Nachhaltigkeit“ und „Zukunftsfähigkeit“ in affirmativer Form, sondern arbeitet systematisch Spannungslinien und auch Ambivalenzen heraus, die in gesellschaftlichen Geographien des Digitalen eingelagert sind – beispielsweise mit Blick auf Raumnutzungskonflikte und Ungleichgewichte in raumbezogenen Machtressourcen und Wissensbeständen.  Dies entspricht dem Gegensatz zwischen starker und schwacher Nachhaltigkeit, vgl. Grunwald & Kopfmüller, 2012, S. 65–68. 7  Vgl. Rob Hopkins’ (2008) Leitbild der „Transition Towns“. 6

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Alle drei Aspekte können anhand des folgenden Lehrbeispiels zu Stadtentwicklungsvisionen nachvollzogen werden. Das Format der Virtual-Reality-Stadtexkursion fördert den aktiven und kreativ-gestaltenden Umgang mit digitalen Geomedien, intensiviert die Raumerfahrung und hilft, zunächst abstrakte konkurrierende Interessen der Raumnutzung plastisch zu erfahren und kritisch zu reflektieren.

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Virtual Reality, Körper und Stadt Ein Lehrkonzept zur Produktion von VR-Exkursionen Katharina Mohring und Nina Brendel

Zusammenfassung

In diesem Kapitel wird ein Format für die geographische Hochschullehre vorgestellt, mit dem Fachwissen zu nachhaltigen Gesellschaft-Umwelt-Transformationen in Städten vermittelt und zugleich eine reflektierende und kritische Position zur Virtual-­ Reality-­Technik als Vermittlungstool angeregt werden kann. Studierende und Dozierende gestalteten gemeinsam Arbeits- und Lernwege, um städtische Praktiken in Virtual-Reality-Exkursionen (VREX) sichtbar und erfahrbar zu machen. Das Kapitel stellt den Prozess vor, wie Studierende von der konzeptionellen und empirischen Auseinandersetzung mit dem Fachgegenstand (z. B. im Zuge einer Exkursion) zur Produktion und dem Design der digitalen VR-Exkursion gelangen können. Dieser Prozess orientiert sich in seinen Phasen an einer Spurenmethodologie. Für den Prozess leitend ist die Annahme, dass VR immer dann zum Einsatz kommen sollte, wenn für das Verstehen von Fachgegenständen die körperbezogene Perspektive durchdacht und reflektiert werden soll. Schlüsselwörter

Virtual Reality · VR-Exkursion · Stadt · Gesellschaft-Umwelt-Verhältnis · Geographische Hochschulbildung

K. Mohring (*) · N. Brendel Institut für Umweltwissenschaften und Geographie, Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_3

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3.1 Einführung In diesem Kapitel wird ein Format für die geographische Hochschullehre vorgestellt, mit dem Fachwissen zu Nachhaltigkeit und Gesellschaft-Umwelt-Transformationen in Städten vermittelt und eine reflektierende und kritische Position zur Virtual-Reality-Technik als Vermittlungstool angeregt werden kann. Hierbei werden Studierende dazu befähigt, auf Basis von eigenen Erhebungs- und Reflexionsprozessen zu urbanen Praktiken digitale, auf 360-Grad-Bildern oder -Videos basierende Virtual-Reality (VR)-Exkursionen zu entwickeln. Die daraus entstehenden VR-Exkursionen ermöglichen zukünftigen Nutzer*innen (Studierende oder Schüler*innen der Oberstufe) mittels einer VR-Brille in digitale Umgebungen „einzutauchen“ und urbane Praktiken zu erleben. Das Lehrkonzept fußt auf einer Methodologie, die konstruktivistische und phänomenologische, körperbezogene Elemente beinhaltet. Dies ergibt sich notwendig aus der Art und Weise, wie Informationen und Raum in VR angeeignet werden. Das Medium VR zieht eine eigene „achtsame“ Dimension ein, die es notwendig macht, stärker auf den eigenen Körper und das Verhältnis zu urbanen Umgebungen zu achten. Im Folgenden werden der Hintergrund erläutert und das Vorgehen vorgestellt.

3.2 Ziele Das Hauptziel ist es, die Studierenden durch die Produktion von VR-Exkursionen zu einem mündigen Umgang mit digitalen Medien (Schulze et al., 2020) sowie zu einer kritischen Urteilsfähigkeit im Umgang mit Wandelprozessen urbaner Gesellschaft-­Umwelt-­ Verhältnisse anzuregen. Dabei sollen sie die enge Verschränkung gegenstandsfeld- und körperbezogener Aneignungsprozesse verstehen. Hierfür lassen sich zwei Gründe anführen, die zugleich Erkenntnisziele der Lehrveranstaltung sind: 1. Ein mediengeographischer Grund besteht darin, dass die VR-Technologie ein immersives Raumerleben ermöglicht (Slater, 2009). Nutzer*innen empfinden das Gesehene als authentisch und akzeptieren es als „zweiten“ Ort. Bedeutsam ist, dass die körperlichen Reaktionen auf die virtuellen Umgebungen jenen auf alltäglich erlebten, nicht digitalen Situationen ähneln (ebd.). Die virtuelle Umgebung wird affektiv und emotional angeeignet (ebd.; Dörner & Steinecke, 2019); sie wirkt atmosphärisch und löst Stimmungen aus. Das schreibt maßgeblich daran mit, wie die Informationen gewertet werden. Um VR als Vermittlungstool reflektieren zu können, muss die Symbiose von Medialität und Körperlichkeit sowie der körperliche Zugang zur städtischen Umgebung notwendigerweise mitbedacht werden (Mohring & Brendel, 2021; vgl. auch Gryl & Prokraka, 2018). Das meint zum einen, dass die Produktion von VR-Umgebungen als ein (machtvoller) geographischer Visualisierungsprozess zu verstehen ist (Dodge et  al., 2008); zum anderen, dass VR gerade dann zum Einsatz kommen sollte, wenn für das

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Verstehen von urbanen Praktiken die körperbezogene Perspektive durchdacht und reflektiert werden muss. Es macht beispielsweise einen Unterschied, ob mit Hilfe eines Fotos von einer belebten Straßenkreuzung diskutiert werden soll, dass es wichtig ist, Fußgänger*innen bei der Planung von Verkehrswegen kollaborativ einzubinden; oder ob man in einer 360-Grad-Umgebung inmitten einer belebten Straßenkreuzung in ­unmittelbarer Nähe zu vorbeifahrenden Autos steht und körperlich die Enge und Bedrohlichkeit der Situation fühlt. 2. Ein zweiter Grund ist es, ein kritisches, emanzipatorisches und transformationssensibles Konzeptverständnis von Nachhaltigkeit in Bezug auf Stadtentwicklung aufzubauen. Das bezieht sich auf ein integratives Nachhaltigkeitsverständnis (Grunwald & Kopfmüller, 2012), d. h. die Studierenden sollen im Kern das Zusammenspiel sozialer, ökonomischer, ökologischer, politischer und kultureller Dimensionen verstehen und städtische Praktiken im Hinblick auf inter- und intragenerationale Gerechtigkeit bewerten können. Der Einzug der körperlichen Komponente verweist darüber hinaus auf eine übergeordnete Debatte: die Bedeutung von Achtsamkeit (Kap. 4). Achtsamkeit meint hierbei, dass das Bewusstsein für eigene und fremde Bedürfnisse angeregt wird (z. B. Schmidt, 2020; Manemann, 2014). Die phänomenologische Einbeziehung körperbezogener Erfahrungen soll zur Reflexion, aber auch zum Aufbau von Resonanzbeziehungen zwischen den Menschen, der Natur und der Umwelt beitragen (Rosa, 2016). Die einzelnen Umsetzungsschritte bis zur Entstehung der VR-Exkursion berücksichtigen diese zwei Gründe. Die Schritte orientieren sich an der Spurensuche-Methodologie nach Hard (1989, 1995) und werden an zwei Hauptkriterien ausgerichtet: erstens einem kon­ struktivistischen Forschungsverständnis, d. h. die Lehre ist weder hinsichtlich der Lehrmethodik, des Zugangs zum Forschungsgegenstand oder in Bezug auf das Medium VR normativ oder instruktiv. Damit wird den Zielen einer transformativen Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) entsprochen, die Urteils- und Kritikfähigkeit sowie Selbstwirksamkeit als Schlüsselkompetenzen identifiziert (Rieckmann, 2017; Vare & Scott, 2007). Zweitens werden phänomenologische (an der Körpererfahrung orientierte) Zugänge integriert. Das hat zugleich den Effekt, dass die Studierenden das Konzept Körper als relevanten Zugang zu Stadtentwicklungsdebatten aufnehmen können (Strüver, 2020).

3.3 Bezug zum Fachgegenstand am Beispiel des Smart-City-­Diskurses Das fachliche Ziel ist eine Auseinandersetzung mit Stadtentwicklungskonzepten, die auf Gesellschaft-Umwelt-Verhältnisse verweisen, z. B. smarte, grüne oder nachhaltige Städte. Angedacht ist es, dass einzelne Studierende bzw. kleine Arbeitsgruppen jeweils einen Fokus wählen. Innerhalb der größeren Studierendengruppe sollen verschiedene Konzepte bearbeitet werden. Übergeordnet ist die Auseinandersetzung zur „Zukunftsfähigkeit“ von

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Städten im Sinne einer urbanen Transformation (Luks, 2019). Die Behandlung mehrerer Stadtkonzepte zielt darauf ab, verschiedene Möglichkeiten zu diskutieren, wie Städte sich transformieren können, um dem von der Brundtland-Kommission definierten Grundsatz einer nachhaltigen globalen Entwicklung zu entsprechen.1 Eine besondere Auslegung des integrativen Zugangs ist die Herausarbeitung der körperbezogenen Dimension und damit die Position des einzelnen Menschen. Im Smart-City-Diskurs beispielsweise steht die digitale Transformation urbaner Gesellschaften im Vordergrund (z. B. Hayat, 2016; Hoelscher, 2016). Damit werden u. a. Wege zu Klimaverträglichkeit und Ressourcenschonung erhofft (Hayat, 2016). Der Bezug auf Körper und Menschen kann unter den Stichworten a) Berücksichtigung von Bedürfnissen („smart citizen“, ebd., S. 185) und b) Zugriff und Kontrolle („smart bodies“, Lindner, 2018, S. 164) diskutiert werden. Smart Citizen bezieht sich auf einen Wandel des städtischen Steuerungsverständnis und die Etablierung von kollaborativen Teilhabeformaten (Hayat, 2016, S. 185). Bottom-up-Strukturen sollen gleichberechtigt eingebaut und Interessen und Bedürfnisse der Städter*innen integriert werden. Diese Interessen sind immer auch körperliche – wenn es zum Beispiel um Wegekonzepte, Ampelschaltungsphasen, Videoüberwachung etc. geht. Die Perspektive von Smart Bodies beinhaltet dagegen, dass auf Körper digital zugegriffen wird (Lindner, 2018, S.  164), z. B. über die Verortung der Smartphones, über digitale Formen der Vernetzungen über Social-Media-Profile, über Augmentierungen der Alltagswelt durch Apps (Gryl & Prokraka, 2018) oder über intelligente Lenkung von Bewegungen im öffentlichen Raum. Diese vielfältigen Zugriffe auf Körper produzieren Abhängigkeiten, die  – und das ist durchaus kritisch zu sehen – über Algorithmen gesteuert werden (Lindner, 2018). Im urbanen Alltag tritt der Körper durch das alltägliche Praktizieren und Aneignen von Stadt durch die Bewohner*innen und durch das (oft nicht bewusst wahrgenommene) Lenken und Steuern der Menschen in Erscheinung (Hubbard, 2018, S.  209  ff.; Strüver, 2020). Smarte Städte perfektionieren diese Lenkung durch den Einsatz intelligenter, technologisch orientierter Konzepte. Aber auch jede weitere Stadtentwicklungsvorstellung kann auf die körperbezogene Perspektive hin geprüft werden. Die 360-Grad-VR-Umgebungen können – gerade aufgrund ihres Zugriffs auf den Körper – bei einem achtsamen Einsatz in Bildungskontexten dabei helfen, diese z. T. verborgenen Zusammenhänge von Stadt und Körper sichtbar zu machen.2

 Städte sollen sich integrativ unter Berücksichtigung des Schutzes natürlicher Systeme und unter Berücksichtigung globaler Abhängigkeiten entwickeln können und so eine gerechte Entwicklung für gegenwärtige und zukünftige Generationen sicherstellen (Næss, 2001). Dieses Ziel kann über verschiedene Wege erreicht werden und ist nicht mit dem Diskurs zur „nachhaltigen Stadtentwicklung“ (Rink, 2018) gleichzusetzen. 2  Zu Smart Cities beispielsweise entstand im Rahmen einer Exkursion nach Wien eine VR-­Exkursion, die die Reduktion von Autoverkehr als Smart-City-Strategie der Stadt Wien im Fokus hatte und sowohl die Zugänglichkeit und Nutzung von Alternativangeboten der Stadt (z. B. Fahrradleihsysteme, Smart Citizen) als auch die Lenkung von Menschen im ÖPNV oder durch Fußwegekonzepte für Fußgänger*innen (Smart Body) in den Blick nahmen. 1

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3.4 Das Konzept Das Lehrformat ist darauf ausgerichtet, dass Studierende VR-Exkursionen selbst produzieren. Die Studierenden halten hierfür urbane Situationen in 360-Grad-Aufnahmen fest, die auf Spuren urbaner Praxis verweisen und die sie mit körperbezogenen Erlebensprozessen in Verbindung bringen. Die Bilder oder Videos werden in städtischen Umgebungen aufgenommen und können durch weitere Inhalte (Diagramme, Bilder etc.) angereichert und mittels einer Software (z. B. Uptale) zu einer VR-Exkursion verbunden werden.3 Das Format richtet sich an einer vierperspektivischen Vorgehensweise aus, deren erste drei Perspektiven in Anlehnung an die Spurenmethodologie von Hard (1995, S.  62  ff.) entwickelt wurden. Hard bezeichnet die Perspektiven als Fantasien, um auf ihren übergeordneten und kreativen Charakter hinzuweisen. Die vierte Perspektive der „digitalen Visualisierungsfantasie“ wurde durch die Autor*innen im Rahmen der Konzeption des Lehrformats ergänzt.

3.4.1 Exemplarischer Aufbau einer Lehrveranstaltung Abb. 3.1 verdeutlicht die Phasen der Lehrveranstaltung. Hier wird davon ausgegangen, dass der Forschungs- und Produktionsprozess während einer zusammenhängenden mehrtägigen Exkursion stattfindet. Der Exkursion vorgelagert (z.  T. in einem Vorbereitungsseminar) werden die fachliche Einarbeitung in die Stadtentwicklungsdiskurse mit ausgewählten Fachtexten, die Einarbeitung in technische Voraussetzungen sowie in die Wirkungen von 360-Grad-VR-Umgebungen. Während der Exkursion arbeiten die Studierenden in Gruppen zu einem thematischen Schwerpunkt. Im ersten Teil geht es um die Erarbeitung urbaner Praktiken im Kontext der thematischen Schwerpunkte, also um die Identifizierung, Bewertung und Reflexion städtischer Spuren. Diese Phase trägt den Charakter empirischer Forschungsprozesse. Die hierbei gesammelten Erkenntnisse dienen als Grundlage für die Produktion fachlich fundierter und körpersensibler VR-Exkursionen, die in einem zweiten Teil erfolgt. Hierzu werden ausgewählte Orte sowie Situation des urbanen Lebens digitalisiert und als VR-Exkursion aufbereitet. Im Laufe der Exkursion sind Phasen des Übergangs methodisch so zu gestalten, dass jede der vier Fantasien – die im Prinzip vor, während und nach der Exkursion angeregt werden können und nicht als lineare Abläufe zu verstehen sind – einmal explizit reflektiert werden können. In der Nachbereitungsphase werden weitere

 Für die Digitalisierung von städtischen Szenen werden 360-Grad-Kameras, Mikrofone sowie Stative benötigt. Nicht zu empfehlen sind Aufnahmen in Bewegung, da die Gefahr von Cybersickness (Übelkeit) beim Anschauen der Aufnahmen steigt. Die fertigen VR-Exkursionen können mit einem Smartphone und einer einfachen VR-Brille (Papp- oder Plastikgehäuse mit Linsen) angeschaut werden. 3

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Abb. 3.1  Aufbau der Lehrveranstaltung

Materialien erarbeitet und die Veranstaltung abschließend evaluiert (vgl. exemplarisch zur Umsetzung einer Exkursion auch Mohring & Brendel, 2020).

3.4.2 Die vier Perspektiven der Spurenmethodologie Die (1) Spurenfantasie charakterisiert vor allem den eher explorativ ausgerichteten Findungsprozess zu Beginn einer empirischen Forschung. Aus der Vielfalt des städtischen Alltags müssen einzelne Aspekte wie bauliche Gestaltungen oder Handlungen ausgewählt werden, die den Studierenden als relevant für den eigenen thematischen Zugang erscheinen. Die Studierenden entwickeln bereits bei der Lektüre der Fachliteratur erste Hypothesen dazu, welche urbanen Praktiken aufgrund ihres Themenschwerpunktes erwartbar sind. Dieser explorative Findungsprozess wird durch die Schaffung gemeinsamer Erfahrungen mit unterschiedlichem Charakter während der Exkursion (bevorzugt zu Beginn) gestärkt. Es eignen sich verschiedene Impulse zu Stadtentwicklungsthemen mit Bezügen zu Nachhaltigkeit oder Stadt-Umwelt-Verhältnissen, am besten mit der Möglichkeit, städtische Situationen zu erleben (beispielsweise über Führungen, Vorträge vor Ort). Die Studierenden erhalten so ein möglichst breites Angebot zu urbanen Praktiken

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sowie jeweiligen ­Deutungsmustern (beispielsweise durch Stadtplaner*innen, Umweltaktivist*innen etc.). Der Einbezug der phänomenologischen Perspektive muss hierbei durch die Lehrenden aktiv unterstützt werden. Dies kann mit Hilfe von Reflexionsangeboten wie z. B. Gesprächen und Übungen geschehen – unterstützt durch Frageanreize und Methoden der phänomenologischen Forschung zum Wahrnehmen städtischer Umgebungen, z.  B.  Go-Along (Kusenbach, 2003), Walking Interviews (Müller & Müller, 2018), Standbildübung (Mohring & Brendel, 2020). Im Mittelpunkt steht das Zur-Sprache-Bringen körperlicher Empfindungen sowie die Verknüpfung dieser Erfahrungen mit dem gewählten thematischen Schwerpunkt. Auch das stille Reflektieren kann viel zu dem Spurenfinden beitragen. Hierzu eignet sich u. a. das Führen eines Reflexionstagebuchs, welches die Studierenden bis zum Schluss der Exkursion begleiten kann. Die (2) Hypothesenfantasie zielt auf einen fachlichen Erkenntnisprozess. Es muss – bevorzugt über Gespräche oder Peer-to-Peer-Feedback-Runden – geprüft werden, mit welchen Hypothesen zu den fachlichen Zugängen die Studierenden die ausgewählten Spuren verbinden und ob diese Hypothesen mit Blick auf die vorab rezipierte Fachliteratur standhalten. Das Ziel ist es, dass die Studierenden sich selbst einen empirischen Forschungsauftrag geben: Die mit den Spuren verbundenen Hinweise auf Stadtentwicklungen müssen fragengeleitet weiter ausgearbeitet und mit Informationen angereichert werden. Hierzu wird (3) Operationalisierungsfantasie benötigt. Die Prüfung der Annahmen und die Ausarbeitung der städtischen Hinweise entsprechen einem (kleinen) empirischen Forschungsprozess. Die Studierenden erarbeiten zu ihrem neu gewonnenen Fokus weitere empirische Erhebungsschritte. In einem abgegrenzten Format wie der Exkursion eignen sich qualitative Interviews mit Expert*innen oder Bewohner*innen oder Dokumentenanalysen. Die hierbei ermittelten Daten und Materialien eignen sich als Quellen für das Zusatzmaterial für die VR-Exkursionen. Die (4) digitale Visualisierungsfantasie kennzeichnet insbesondere die Phase der Produktion der VR-Exkursionen. Die Studierenden transferieren ihre Erkenntnisse zu urbanen Spuren in eine vermittelbare Form. Das bedeutet, die empirische Fragestellung neu zu formulieren; diesmal mit Blick darauf, welchen Vermittlungsfokus die VR-Exkursion einnehmen soll. Diese Phase kann auch als Spurenlegen bezeichnet werden. Die Studierenden entwickeln Storyboards zum digitalen Erscheinungsbild der VR-Exkursion. Sie entscheiden darüber, welche Orte und welche Situationen der Stadt in 360-Grad-Panorama-Bilder oder -Videos, mit oder ohne Ton, umgewandelt werden und in welcher Art diese Panoramen digital verknüpft und als VR-Exkursion verfügbar gemacht werden. Hier müssen fachliche und körperbezogene Kriterien herangezogen und vor dem Hintergrund der Vermittlung neu bewertet werden. Obwohl vor allem zu Beginn der Exkursion Spurenfantasie gefragt ist, bleibt das Schauen auf die Spur eine fortdauernde Praxis während der Exkursion. Wenn die Studierenden die Digitalisierung der städtischen Praktiken planen – also Orte und Situationen wählen, die sie als Grundlage für die 360-Grad-Aufnahmen nehmen möchten – müssen sie spätestens erneut Spurenfantasie beweisen; hier nun jedoch mit einer weiteren Reflexionsebene: Welche Spur eignet sich als Spur „für andere“.

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3.5 Fazit Im Ergebnis des vorgestellten Konzeptes entstehen geographische VR-Exkursionen zu Stadtentwicklungsthemen, die zum einen wichtige Aspekte der Fachdebatte aufgreifen und die Spezifika der vorgestellten Städte berücksichtigen; die aber zum anderen in der inhaltlichen Konzeption die Besonderheit des Verbreitungsmediums Virtual Reality mitberücksichtigt haben, d. h. die affektive und emotionale, körperbezogene Dimension der Aneignung von virtuellen Raumumgebungen als inhaltlich relevant für den Produktionsund Vermittlungsprozess aufgreifen. Zugleich wird als geographiedidaktisches Ziel erreicht, dass ein mündiger, kritisch-reflexiver Umgang mit digitalen Medien, Stadtentwicklungskonzepten und dem Konzept der (transformationsbezogenen) Nachhaltigkeit angeregt wird.

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Erkenntnisse aus einer körpersensiblen Lehre mit und zu dem digitalen Medium VR Potenziale für eine nachhaltigkeitsbezogene geographische Bildung Katharina Mohring und Nina Brendel

Zusammenfassung

Nutzer*innen von Virtual Reality erleben die virtuellen Umgebungen sehr immersiv, mit vielfältigen affektiven und emotionalen Reaktionen. Diese körperbezogene Komponente stellte eine zentrale Grundlage für die vorgestellte lehrveranstaltungsbegleitende Forschung dar. Studierende im Lehramt Geographie produzierten hierbei eigenständig und selbstgesteuert VR-Exkursionen im Themenfeld zukunftsfähiger Städte. Das zugrunde liegende Lehrkonzept vereinte einen konstruktivistischen Zugang zum Fachgegenstand und eine konstruktivistische Exkursionsdidaktik mit phänomenologischen Methoden zum körpersensiblen Erfahren von Stadt. Die Studierenden setzten Körper-Umgebungs-Verhältnisse in Bezug zum Fachgegenstand und zum Medium VR und transferierten dies in eine virtuelle Lernumgebung. Die körpersensible Ausrichtung des Lehr-Lernformats ermöglicht es im Sinne einer kritisch-emanzipatorischen Bildung zu einem Lernen ‚als‘ Nachhaltigkeit und ‚mit bzw. durch‘ Medien zu gelangen. Schlüsselwörter

Virtual Reality · Körper · Nachhaltigkeit · Achtsamkeit · Transformation

K. Mohring (*) · N. Brendel Institut für Umweltwissenschaften und Geographie, Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_4

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4.1 Einführung Das Medium VR macht ein besonderes Kommunikationsangebot, welches sich von dem Anschauen von Bildern oder Lesen von Texten unterscheidet. Die virtuelle Welt scheint die Nutzer*innen zu umgeben, sie stehen mitten im Bild und reagieren körperlich (affektiv und emotional) auf diese Umgebungen (Slater & Sanchez-Vives, 2016). Diese körperbezogene Aneignung von Raum ist sehr wirkmächtig und beeinflusst bei einem Einsatz in Bildungskontexten nachweislich Lernprozesse (Bailenson, 2018). Vor diesem Hintergrund ist die Anleitung zu einem „mündigen“, also „selbstbestimmte(n) und kritisch-reflexive(n) Auftreten in einer digitalen Kultur“ der Studierenden sicherzustellen (Schulze et  al., 2020, S.  114), insbesondere im Fach Geographie mit dem Fokus auf raumkonstituierende und -konstruierende Prozesse. Ein weiteres Kompetenzziel, dem wir besondere Aufmerksamkeit schnenken, ist die Stärkung von Achtsamkeit als Ausdruck eines Selbst-Welt-Verhältnisses (Schmidt, 2020) im Sinne des ‚mir kann es nur gut gehen, wenn es anderen gut geht‘ (Manemann, 2014, S. 77).1 Mündigkeit und Achtsamkeit entsprechen kritisch-­emanzipatorischen Bildungsidealen, wenn auch aus verschiedenen Bereichen. Dennoch ist ihre Ausrichtung ähnlich angelegt. In der mündigkeitsorientierten Medienbildung geht es weniger um das Lernen „über“ digitale (Geo-)Medien als um das Lernen „mit“ und „durch“ digitale (Geo-)Medien (Schulze et al., 2020, S. 117). In der kritisch-­ emanzipatorischen Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)2 wird eine Transformation von Bildungskonzepten zu einem Lernen „als“ Nachhaltigkeit angestrebt (im Gegensatz zu: „für“ oder „über“ Nachhaltigkeit, Vare & Scott, 2007, S. 194). Beide Zugänge konzentrieren sich auf die Bewältigung von Transformationsprozessen durch Bildung. Beide erfordern neue Denkansätze, andere Wertvorstellungen und Praktiken – und neue Wege, dies in Bildung zu integrieren. In diesem Kapitel stellen wir Ergebnisse einer auf diese zweifache Zielstellung zugeschnittene lehrveranstaltungsbegleitende Forschung für das Fach Geographie vor. In der Lehrveranstaltung erprobten wir ein humangeographisch-geographiedidaktisches ­Konzept

 Achtsamkeit ordnet sich in der hier verwendeten Begriffsauslegung in einen Teilbereich der Transformationsforschung ein, welche sich auf Gesellschaft-Umwelt-Verhältnisse bezieht. Es lassen sich auch ähnliche Konzepte wie z. B. Resonanz (Rosa, 2016) zuordnen. Achtsamkeit zielt auf das Erreichen eines „gelingenden Lebens in dieser Welt“ (Schmidt, 2020, S.  104) und bezieht sich auf Selbst- und Fremdsorge (im Unterschied zu dem eher Ich-zentrierten Mental Health-Verständnis). Das Konzept ist als eine Reaktion auf gestörte Resonanzbeziehungen zwischen Menschen, Umwelt und Natur zu verstehen (Rosa, 2014). 2  Im Fokus dieses Ansatzes steht die Stärkung kritischer Urteilsfähigkeit in Bezug auf Expertenwissen und Modellvorstellungen sowie der Aufbau einer Wissensbasis. Das Ziel ist die Befähigung von Lernenden, auf der Basis gegenwärtigen Wissens eine Wahl über alternative Zukünfte treffen zu können (Getzin & Singer-Brodowski, 2016, S. 40; Vare & Scott, 2007, S. 193 f.; Rieckmann, 2017; auch Segbers & Kanwischer, 2015). 1

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zur Stärkung digitaler Medienkompetenz zu VR in Verknüpfung mit einer nachhaltigkeitsbezogenen3 Fachthematik. Elf Geographie-Studierende im Master-Lehramtsstudium4 haben auf einer sechstägigen Exkursion in Wien auf der Grundlage von verschiedenen Stadtentwicklungskonzepten VR-Exkursionen (VREX) produziert, die wiederum als eigene Lernumgebungen für andere Lehrformate (auch in Schule) genutzt werden können. Im ersten Teil der Veranstaltung ging es um Wissensaneignung sowie Erforschung urbaner Praxis anhand abgegrenzter empirischer Forschungsprojekte, im zweiten Teil konzipierten die Studierenden auf der Basis der Forschungsergebnisse VREX und produzierten die hierfür notwendigen 360-Grad-Aufnahmen und weiteres Material vor Ort (Brendel & Mohring, 2020; Mohring & Brendel, 2021). Das Konzept integriert Elemente der konstruktivistischen Spurenmethodologie von Hard (1989, 1995), phänomenologische Methoden zum Erleben von Stadt (z.  B.  Kazig, 2007) sowie eine an eine ethnographische Methodologie orientierte Didaktik, in der die leibliche Teilhabe der Studierenden in den didaktischen Prozess miteinbezogen wird (Segbers & Kanwischer, 2015).

4.2 Ausgewählte Hintergründe zu Virtual Reality Um den konzeptionellen Ansatz unserer Forschung einordnen zu können, folgen einige einleitende Bemerkungen zu unserem Zugang zu VR. Mit der Virtual-Reality-Technologie werden digitale 360-Grad-Umgebungen (computergeneriert oder als 360-Grad-Panorama-­ Bilder oder -videos) produziert, die für Nutzer*innen als sie umgebende Räume erscheinen (Slater & Wilbur, 1997, S. 2). Technisch ist dies möglich, da die Daten auf eine VR-­Brille projiziert und mittels Bewegungssensoren die Kopf- und Körperbewegung erfasst werden. Mit der Bewegung ändert sich das Bild. Das erzeugt die Illusion, sich zusätzlich zu dem physischen Ort an einem weiteren Ort zu befinden (Slater, 2009). Der Effekt ist es, dass Menschen mit ihrem ganzen Körper antworten (ebd., S.  3549), d.  h. es werden viele Körpersinne zugleich angesprochen (u.  a. die Tiefensensibilität, Dörner & Steinecke, 2019). Hasse (2015) weist darauf hin, dass nicht nur im Alltagserleben, sondern auch durch das Anschauen von Bildern Atmosphären entstehen können, die einen Einfluss auf das Aneignen der bildhaften Information haben. Das lässt sich auf VR übertragen, mit dem  Der Nachhaltigkeitsdiskurs kann in seiner Breite an dieser Stelle nicht nachvollzogen werden (siehe für einen Überblick z.  B.  Gottschlich, 2017). Wir schließen an ein integratives und transformatives Verständnis von Nachhaltigkeit an. Es wird davon ausgegangen, dass ein umfassender Wandel der Gesellschaft nötig ist, um gerechte Lebensverhältnisse für die Gegenwart und Zukunft sicherzustellen (Luks, 2019, S. 3). 4  Die Lehrveranstaltung erfolgte im Rahmen des regulären Curriculums des Masterstudiums. Es wurden keine Vorerfahrungen erwartet. Die teilnehmenden Studierenden verfügten nicht oder nur marginal über Erfahrungen in Bezug auf Virtual Reality. Sie konnten auf unterschiedliches Vorwissen in Bezug auf das Nachhaltigkeitskonzept verweisen, hatten jedoch keine vertieften theoretischen Kenntnisse über die im Seminar bearbeiteten Stadtentwicklungsdiskurse. 3

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verstärkenden Effekt, dass die digitale Umgebung sich durch die eigene Bewegung verändert. Durch die körperliche Beteiligung wird die virtuelle Umgebung als ein atmosphärischer Ort wahrgenommen und das Gefühl von Authentizität erzeugt (wie im Alltagserleben, vgl. Kazig, 2007). Diese VR-Umgebungen können Stress und Angst reduzieren, emotionale Beteiligung und Empathie erzeugen und sogar Verhaltensänderungen anregen (z.  B.  Bailenson, 2018; Slater & Sanchez-Vives, 2016). Dabei wird sich des Effektes bedient, das auch unbewusste Körperprozesse angesprochen werden und virtuell erlebte Erfahrungen sich als Körperwissen einprägen. Aus geographischer Sicht ist das ein „machtvoller“ Raumkonstruktionsprozess, welcher mit Chancen und ebenso mit Risiken verbunden ist, wie Dodge et  al. (2008) in Bezug auf das geographische Visualisieren verdeutlichen. Die Raumumgebung in VR wird eher unmittelbar und „naiv“ aufgenommen, d.  h. die VR-Umgebung muss hinsichtlich ihrer vermeintlich naheliegenden und einfachen Erfassbarkeit nachträglich hinterfragt und eingeordnet werden (ebd., S. 2 ff.; Hasse, 2015, S. 36). Zugleich ist VR eine designte und programmierte digitale Umgebung, die normativen, ethischen und politischen Motiven der Programmierer*innen unterliegt (in Anlehnung an Dodge et al., 2008, S. 7 f.). Die beabsichtigten oder unbeabsichtigten Konsequenzen für die Nutzer*innen können massiv ausfallen. Zum Beispiel kann das Erleben von Krisenszenarios in VR dazu führen, dass die Lernenden das „Chaos“ und Stressreaktionen erfahren, die typisch für ein realistisches Krisenerleben sind (Bailenson et al., 2008, S. 110). Hinzu kommen limitierende Effekte bei der Nutzung der Hardware, wie z. B. „Cybersickness“ (Übelkeit und Schwindel, Dörner & Steinecke, 2019, S. 69 ff.). Auch die Nutzung der VR-Brille in sozialen Settings kann Unsicherheit auslösen (Southgate et al., 2019). Ein Einsatz von VR in Bildungskontexten sollte daher achtsam erfolgen.

4.3 Erkenntnisse zum Lehr- und Forschungsprojekt In unserem einleitend skizzierten Lehr- und Forschungsprojekt haben wir die kritisch-­ transformativen Bildungsideale der Medien- und Nachhaltigkeitsbildung umgesetzt (vgl. ausführlich hierzu auch Brendel & Mohring, 2020; Mohring & Brendel, 2020). Das Ziel der Lehre ist die Stärkung von Selbstwirksamkeit von Lernenden (und zukünftigen Lehrenden) im Umgang mit VR durch die Produktion des digitalen Formats VR und zugleich die Anregung der Auseinandersetzung mit dem Fachgegenstand der Stadtentwicklung im Kontext eigener und fremder Selbst-Welt-Verhältnisse. Die im Folgenden vorgestellten Ergebnisse der begleitenden explorativen Studie5 fokussieren auf die digitalisierungs- und  Die begleitende Forschung war ethnographisch ausgelegt und basierte auf Feldnotizen, Gesprächsprotokollen, Abfragetools und durch die Studierenden erstellte Produkte wie z. B. bildliche Repräsentationen von Wien vor und nach der Veranstaltung (vgl. Brendel & Mohring, 2020). Reflexionsübungen und Gruppendiskussionen stellten weitere Methoden zur Triangulation dar. Die 5

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nachhaltigkeitsbezogene Dimension und verdeutlichen hieran die transformierende Wirkung einer auf Virtual Reality zugeschnittenen Lehre.

4.3.1 Stadtentwicklung und Nachhaltigkeit Im Zentrum der fachlichen Aufarbeitung in Wien standen Stadtentwicklungsdiskurse zur smarten Stadt (z. B. Hayat, 2016), zur grünen und lebenswerten Stadt (z. B. Hasse, 2017; Klöti et al., 2016) und zur (sozial) nachhaltigen Stadt (z. B. Brocchi, 2017). Die Auswahl diente dazu, sich mehrperspektivisch mit der Zukunftsfähigkeit von Städten auseinanderzusetzen und hierbei vor allem urbane Gesellschaft-Umwelt-Verhältnisse zu reflektieren. Die Studierenden erarbeiteten fachtheoretische Konzepte auf Basis von Fachliteratur, erhielten weiter Informationen durch Führungen und Vorträge in Wien und führten eigene empirische Forschungen (mit leitfadengestützten Interviews oder inhaltsanalytischen Dokumentenauswertungen) durch. Eine zentrale Zielstellung war die Reflexion des emotional-­leiblichen Erfahrens als relevante Dimension städtischer Entwicklung. Dies stellt auch erkenntnistheoretisch eine wichtige aktuelle Strömung der Geographie dar und wird zunehmend (wieder) für Stadtforschung diskutiert (Schurr & Strüver, 2016; Hasse, 2017; Kazig, 2007). Die Einbindung dieser Perspektive gelang vor allem in den Gruppengesprächen mit Bezug auf die soziale Dimension von Nachhaltigkeit. Die Studierenden bewerteten die ihnen präsentierten urbanen Projekte (z. B. eine Stadtführung mit Nachhaltigkeitsfokus) vor dem Hintergrund von Partizipation und Teilhabe an urbanen Gestaltungsprozessen eher kritisch (Studentin: „Wer profitiert wirklich davon?“). Dadurch, dass die Studierenden in Wien mehrere thematisch unterschiedliche Vorträge und Führungen erlebten, griffen sie in Diskussionen kontrastierende Eindrücke auf. Als besonders wichtig wurde von allen Studierenden eine gemeinsame Diskussion über das Konzept Nachhaltigkeit als Leitbild eingeschätzt. Hierbei wurde die dem Konzept inne liegende Kontroversität thematisiert (Grunwald & Kopfmüller, 2012, S. 53–75). Das galt vor allem für den Konflikt zwischen ökonomischem Wachstum und Nachhaltigkeit (Student: „Unser Konsum ist das Problem.“) und dem Konflikt zwischen ökologisch orientierten versus integrativen Nachhaltigkeitsmodellen (Student: „Heißt Nachhaltigkeit nicht eigentlich nur Schutz der Natur?“). Die Vielfalt der Impulse, die Auseinandersetzung mit den eigenen Wahrnehmungen sowie die eigene Forschung unterstützte die multiperspektivische und kritisch-reflektierte Auseinandersetzung mit dem Nachhaltigkeitskonzept und ebenso mit den Fachkonzepten der Stadtentwicklung. Deutlich intensiviert wurde diese Auseinandersetzung, als die Studierenden aktiv in die Planung und Produktion der VREX überwechselten. Die VREX wurden so gestaltet, dass verschiedenen bildlichen, textlichen und verbalen Daten wurden schließlich qualitativ ausgewertet (z. B. Bildanalyse) und miteinander in Beziehung gesetzt (z. B. Feldbeobachtungen mit Gruppendiskussionen).

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die Kontroversen, insbesondere in Bezug auf körperbezogene Bedürfnisse, nachvollzogen werden können. Die Studierenden integrierten Gerechtigkeit im Zugang zu Verkehrsangeboten (Thema: Smarte Verkehrsentwicklung), Bottom-up-Beteiligungsformate (Thema: Urban Gardening und grüne Städte) und Nutzungskonflikte im städtischen Raum (Thema: soziale Nachhaltigkeit). Außerdem wurde die Auswahl der 360-Grad-Bilder anhand von Wahrnehmungskriterien begründet. Zum Beispiel wurde für die Verkehrsthematik eine 360-Grad-Umgebung gewählt, die den begrenzten Platz für Fußgänger*innen in der Innenstadt visualisierte. Durch das VR-Erleben kann die Beengtheit körperlich nachempfunden werden. Die Ausgestaltungen der VREX entsprechen zusammengefasst zum einen den aktuellen Fachdiskursen, nehmen aber zum anderen eine Akzentuierung vor, die es ermöglicht, über die Sorge um eigene und fremde Bedürfnisse in urbanen Kontexten sowie über erwünschte oder weniger erwünschte Entwicklungen in Städten zu diskutieren.

4.3.2 Lehrkonzept und Kompetenzentwicklung Der Lehrveranstaltung liegt ein fachlich-fachdidaktisches Konzept zugrunde, welches eine forschungsbezogene und eine produktions- oder designbezogene Phase beinhaltet (Kap.  3). Die Studierenden reflektierten zur Erforschung städtischer Prozesse eigene Hypothesen in Bezug auf die beobachteten Spuren („Spurenphantasie“, Hard, 1995, S. 62), prüften weitere Hypothesen („Hypothesenphantasie“, ebd.), vertieften die Erkenntnisse über empirische Forschung („Operationalisierungsphantasie“, ebd.) und reflektierten das eigene Spurenlegen in der VR-Exkursion in Form der „digitalen Visualisierungsphantasie“. Diesem konstruktivistisch angelegten forschenden Prozess der Studierenden passte sich das forschungsmethodische Vorgehen der Dozentinnen an. Die Wahl der Lehrmethoden wurde situativ entschieden, sodass es fachlich, didaktisch sowie zeitlich und örtlich sowohl für den Lerngewinn der Studierenden als auch für die forschungsbezogenen Erkenntnisse gewinnbringend war. Das Vorgehen stärkte die Selbstbestimmtheit und Eigenverantwortung der Studierenden bei der Bearbeitung der Projekte. Die Studierenden hoben die „Zeit für Reflexion“, die „Freiräume“ sowie das „selbstbestimmte Arbeiten“ als gewinnbringend hervor (vgl. hierzu auch Brendel & Mohring, 2020). Vor allem zu Beginn des aktiven Produzierens der VREX ging dies mit einer Verunsicherung der Studierenden hinsichtlich der eigenen inhaltlichen Intentionen und Vermittlungsziele einher, die durch Peer-to-Peer-Feedbacks aufgegriffen und gelöst werden konnten. Wir bezeichnen diesen Übergang als Rollenwechsel, da anhand der gruppendynamischen Prozesse sowie Diskussionen ein Wechsel zu einer höheren Eigenverantwortung und zu einer stärkeren Reflexion möglicher Fremdsichten auf das Thema registriert werden konnte. Das bezog sich unter anderem auf die Reflexion von Raumkonzepten. Es verfestigten sich konstruktivistische Sichten auf Raum, da die Differenz zwischen Eigen- und Fremderfahrung antizipiert werden musste – sowohl in Bezug auf die (subjektive) Aneignung von Raum als auch auf das „machtvolle“ Konstruieren von Rauminformationen im Rahmen des Produzierens von VR (ebd.).

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4.3.3 Achtsamkeit Ein wichtiger Bestandteil des Konzeptes ist die Integration des phänomenologischen Erfahrens von visuellen und nicht visuellen Situationen (angelehnt an Dickel, 2013, S. 72). Das Ziel war es, das leiblich-körperliche Erleben in Bezug zu Umgebungen über nonverbale (z. B. über Gestiken, Kazig, 2007) und verbale Impulse zu erschließen. Dazu gehörten Achtsamkeits- und Reflexionsübungen mit Fragen wie z. B.: Wie fühle ich mich gerade? Wie fühlt sich mein Körper an – in diesem Moment, an diesem Ort? Die Reflexionsgespräche zeigten auf, dass vor allem die Standbildübung6 (im Detail beschrieben in Mohring & Brendel, 2020) erfolgreich war, um auf die körperbezogene Ebene städtischer Aneignung aufmerksam zu machen. Die Studierenden zeigten eine gesteigerte Reflexion ihrer Wahrnehmung des Raumes im Zusammenhang mit ihrem emotionalen Zustand und körperlichen Wohlbefinden. Dieser Schritt war unerlässlich, um zu verstehen, in welchem Maße affektive und emotionale Aspekte an der Interpretation städtischer Praxis beteiligt sind. Die Entwicklung des Produktes VREX führte zugleich dazu, dass diese Perspektive nicht auf das eigene Ich beschränkt blieb. Die Studierenden orientierten sich bei der Gestaltung der empirischen Forschung und der VREX daran, welche körperbezogenen Empfindungen sich exemplarisch vermitteln lassen (z.  B.  Beengtheit, s. o.). Hierbei mussten fachlich begründete Entscheidungen für 360-Grad-Aufnahmen in der Stadt getroffen und Körper-Umgebungs-Verhältnisse konzeptionell mitberücksichtigt werden. Fachliche Perspektiven und individuelle Wahrnehmungen wurden in dem Zuge neu verhandelt. Die Bewertung der städtischen Situation verschob sich von der eigenen individuellen Wahrnehmung zu den möglichen Interpretationen zukünftiger Nutzer*innen. Das kann nicht als Beweis für den einleitend beschriebenen Wertewandel gesehen werden, jedoch ist u. E. der angeregte Reflexionsprozess ein Weg dahin. Einen Einfluss hatte ebenso die moderierende und begleitende Rolle der Dozentinnen, eine Berücksichtigung der Kleingruppendynamiken und eine Flexibilität in der Gestaltung, z. B. durch eine bedachte Auswahl der Orte für Forschung und Diskussionen (angelehnt an das Konzept der agilen Didaktik nach Arn, 2017). Alle Studierenden haben in den Evaluationen diesen Ansatz positiv hervorgehoben. Als besondere Momente für die eigene Fortentwicklung wurden auch Gespräche „bis in die Nacht“ gesehen. In der abschließenden Gruppendiskussion entstand der Konsens, dass diese Form der Exkursion als Beispiel einer konstruktivistischen Exkursionsdidaktik empfunden wurde („Mir ist klar geworden, wie man Schüler entdeckend lernen lässt“, Zitat aus der Gruppendiskussion; „konsequente Umsetzung eines konstruktivistischen Lernparadigmas“, Zitat aus Evaluationsbericht). Einige Studierende äußerten, dies als Lehrkräfte ähnlich umsetzen zu wollen. Als Fazit können wir Achtsamkeit nicht unmittelbar als Folge dieser Veranstaltung ableiten. Es ist jedoch eine zugrunde liegende Leitidee unserer Lehre (vgl. Mohring & Brendel, 2021).  Die Studierenden nahmen Körperhaltungen ein, um ihre Empfindungen in einer städtischen Umgebung zum Ausdruck zu bringen. Anschließend wurden sie eingeladen, ihre Gesten und Körperhaltungen zu beschreiben, was in Feldnotizen festgehalten wurde. 6

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Um eine achtsame Haltung anzuregen, haben wir selbst diese Haltung eingenommen. Die Äußerungen in der Gruppendiskussion (in denen von den Studierenden z.  T. auch aus ihren Reflexionstagebüchern berichtet wurde) legen den Schluss nahe, dass hier eine Wirkung erzielt und eine Kompetenzentwicklung angestoßen wurde.

4.4 Abschließende Überlegungen Das größte Potenzial unseres Lehrkonzeptes sehen wir in der Integration von Körper und Emotionen in die Bewertung von urbanen Prozessen. Das kann auch losgelöst von VR als bedeutsam angesehen werden, ist jedoch im Kontext von VR als Betrachtungsebene zwingend notwendig. Die Studierenden können sich u. E. nur so der Verantwortung bewusstwerden, die mit dem Einsatz von VR in der Bildung einhergeht. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer „transformierten“ Lehre, bei der die Aneignung, Vermittlung und auch Produktion von Raum in Bezug auf körperbezogene Prozesse und VR de- und rekonstruiert wird (in Anlehnung an Schlottmann & Miggelbrink, 2015). Das Durchlaufen der Schritte von der Aneignung zur Produktion ermöglicht einen ganzheitlichen Blick auf das digitale Medium VR als Ergebnis eines geographischen Visualisierungsprozess und stärkt einen mündigen Umgang für einen Einsatz in Bildungsprozessen. Diese Akzentsetzung ist ebenso als ein Gewinn für die nachhaltigkeitsbezogene Bildung zu sehen. Sie verhilft zu einem Verstehen von Nachhaltigkeit als Modell- und Leitbildvorstellung, akzentuiert die soziale Nachhaltigkeit in der fachgegenständlichen Auseinandersetzung, entspricht den Anregungen einer transformationssensiblen BNE und bietet einen Zugang zu Achtsamkeit. Insbesondere Letzteres hat eine weitreichende Bedeutung für gegenwärtige gesellschaftliche Aushandlungen. Im Sinne einer „neuen Humanökologie“ (Manemann, 2014) wird in den Blick genommen, wie über geographische Bildung Selbstwirksamkeit und Befähigungen im Umgang mit Wandel angelegt werden können. Achtsamkeit setzt darauf, dass der Mensch mit Blick auf die gestörten und krisenhaften Weltzustände sich seiner selbst in dieser Welt bewusst wird und eine Empfindsamkeit für die Mit-Welt entwickelt. Achtsamkeit kann so als eine „notwendige, transformative Strategie für den Fortbestand der Menschheit“ verstanden werden (Schmidt, 2020, S. 107), die jedoch (auch) entsprechende Bildungsprozesse benötigt (Manemann, 2014).

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4  Erkenntnisse aus einer körpersensiblen Lehre mit und zu dem digitalen Medium VR

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Perspektive 2

Geographische Bildung in digitalen Kulturen vermittelt lebensweltbezogene Fertigkeiten und Fähigkeiten sowie fachliche Konzepte im Umgang mit digitaler Geoinformation als Kulturtechnik. Kap. 5: Basiskommentar Geographische Bildung ist in den oftmals kontrovers diskutierten digitalen Kulturen auf unterschiedlichste Weise möglich. Um sie gleichermaßen theoriegeleitet, fachlich fundiert und lebensweltlich anschlussfähig stattfinden zu lassen, so die Autorin, bedarf es aber einer Zuwendung zu eigenen und fremden Weltbeziehungen, die wesentlich auf Respekt, Reflexivität und Resonanz fußt. Kap. 6: Good-Practice-Beispiel Web-GIS-Anwendungen gehören mittlerweile in nahezu allen Bereichen, in denen Geodaten genutzt werden, zum Standard und sind auch in der Schule nicht neu. Dennoch braucht eine didaktische Inwertsetzung stets eine gute Fundierung und Kompetenzorientierung. Die Anforderungen an eine Einbindung von Web-GIS in den Schulkontext werden in diesem Kapitel diskutiert. Beispiele aus dem und Gelingensbedingungen für den Geographieunterricht werden vorgestellt mit dem Ziel, die Schüler*innen auf das Leben in der (geo-)digitalisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts vorzubereiten. Kap. 7: Forschungsbeitrag Im medienintensiven Fach Geographie sind digitale (Geo-)Medien selbstverständlich, Kompetenzen zur Erkenntnisgewinnung sind Teil der geographischen Bildung. Corona-­ bedingt konnten 2020/21 viele Erfahrungen gesammelt werden – so auch in der Lehrer*innenbildung. Ob sich Lehrveranstaltungen aber auch wirklich systematisch und im Sinne einer Kultur der Digitalität weiterentwickeln, wird in diesem Kapitel anhand einer explorativen Erprobung analysiert.

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Geographie als Weltbeziehungsbildung Zur Bedeutung von Respekt, Reflexivität und Resonanz Antje Schlottmann

Zusammenfassung

Das Aufhalten von Kindern und Jugendlichen in digitalen Welten wird kontrovers beurteilt. Inwiefern findet geographische Bildung aber nicht genau dort statt? Unter welchen Bedingungen ist es möglich, solche Bildung anzuleiten? Inwiefern vermittelt sie lebensweltbezogene Fähigkeiten sowie fachliche Konzepte im Umgang mit digitaler Geoinformation? In diesem Basiskommentar erschließe ich zunächst die Lebenswelt als Bedingung von Fachlichkeit. Dabei zeigt sich auch die Bedeutung des Respektierens fremder Lebenswelten in der Praxis der Vermittlung. Dann wende ich mich den Ermöglichungen und den (machtdurchdrungenen) Einschränkungen digitaler Kulturen zu und betone die Bedeutung von Reflexivität in den reziproken Praktiken des Lehrens und Lernens. Schließlich begründe ich, warum auch eine theoriegeleitete Befassung mit Resonanz für die Diskussion und die künftige Entwicklung einer geographischen Bildung als „Weltbeziehungsbildung“ in digitalen Kulturen lohnend scheint. Schlüsselwörter

Neue Medien · Videogames · Entfremdung · Lebenswelt · Anverwandlung

A. Schlottmann (*) Geographie und ihre Didaktik, Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_5

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5.1 Einleitung Mein Sohn spielt Fortnite. Mit Freunden verabredet er sich zum Zocken und jagt durch virtuelle Räume virtuellen Gegnern hinterher. Seither kennt er sich bestens mit Waffen aus und kommentiert Tagesschaubilder aus Kriegsgebieten entsprechend. Mein Sohn spielt auch Minecraft. Mit Freunden erkundet er Höhlen und baut Gebäude und Vorrichtungen aus Rohstoffen, die er nicht nur abbaut, verarbeitet und lagert, sondern mit denen er auch namentlich und materialkundlich souverän hantiert, vom Obsidian bis zum Diamanten. Dieses Spiel spielt er aus der Egoperspektive mit schnell wechselnden Ansichten. Er kann aber auch in eine Third-Person-Perspektive wechseln, z. B. um die von ihm geschaffene Welt, in der er sich laut Anbieter frei bewegen kann, der Mutter (und allen, die den Nerv dazu haben) im gewohnteren Überblick zu präsentieren. Mein Sohn ist auch auf TikTok und folgt Influencer*innen. Seither ist er öfter mal „abwesend“, aber auch früher als ich über Pressemitteilungen zu aktuellen Corona-Regeln informiert und weiß, warum sich Olivenöl nicht zum Steak-braten eignet. Fortnite, Minecraft, TikTok, Facebook, Instagram … unsere Kinder wachsen in digitalen Räumen, Welten, Kulturen auf. Selbstverständlich. Im Diskursraum der Erwachsenen stehen vor allem viele Fragen. Von Eltern, Pädagog*innen und Wissenschaftler*innen werden sie gestellt, sie sind normativ, praxisbezogen oder analytisch ausgerichtet und lassen sich kaum abschließend beantworten. Wie gut ist die digitale Welt für Kinder? Ist sie gefährlich? Ist sie lehrreich? Macht sie süchtig? Soll ich mein Kind überhaupt eintreten lassen in die virtuelle Welt, und wenn ja, wie lange? Metaperspektivisch ließe sich aber auch fragen: Wer sind hier eigentlich die Lernenden? Meinem Sohn kann ich bei Fragen zu Materialverbindungen und der digitalen Umsetzung seiner Designvorstellungen in der Minecraft-Oberwelt nicht wirklich helfen. Und geographisch gefragt: Was sind die räumlichen und sozialen Koordinaten dieser virtuellen Aufenthaltsorte? Sind es grundlegend andere („dunkle“) Welten mit anderen sozialräumlichen Gesetzen oder doch nur fleischlose Kopien des echten Lebens („second life“)? Und selbst wenn wir sie als Teil der einen Wirklichkeit und damit auch als Teil der Geographien des eigenen Lebens von Kindern und Jugendlichen verstehen: Welche neue oder andere Art von Orientierung wird benötigt, aber auch welche Art von Verständnis, um diesen Teil, vielmehr diese Dimension kindlicher Lebenswelt, in die (fachbezogene) Förderung und Forderung sinnvoll einzubeziehen? Im Folgenden versuche ich zunächst, den Begriff der Lebenswelt für die Betrachtung der Bildung in digitalen Kulturen und speziell mit Geomedien aufzubereiten. Nach dieser Öffnung des Feldes, welche die Bedeutung von Respekt und Reflexivität hervorhebt, frage ich, inwiefern auch eine theoriegeleitete Befassung mit Resonanz (und deren Verlust) für die Diskussion und die künftige Entwicklung einer auf digitale lebensweltbezogene Fähigkeiten ausgerichteten geographischen Bildung lohnend scheint.

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5.2 Lebenswelt und die Bedeutung des Respektierens anderer Weltbeziehungen Lebenswelt ist die Welt, in der wir leben. Das ist einfach. Wie mag das Konzept aber analytisch differenzierter gefasst werden, um bei der Diskussion zu lebensweltorientierter Bildung zu helfen? Das ist nicht ganz so einfach. Die Lebenswelt ist ein gleichzeitig anthropologisch universelles und doch von der subjektiven Erfahrung des Einzelnen ausgehendes relationales Konzept (Schütz & Luckmann, 1988). Der Soziologe Alfred Schütz fasst unter Lebenswelt aber nicht eine rein private Erfahrungswelt, sondern auch die ­„Alltagswelt“ als die dem Subjekt vorgegebene intersubjektive Kulturwelt. Seine „Soziologie des Alltags“ betont zudem, dass alle an das Subjekt herantretenden Tatsachen immer schon interpretierte Tatsachen sind, die auf intersubjektiv geteilte Sinnzusammenhänge und Deutungsmuster verweisen. Auf der Grundlage dieser Deutungsmuster und einer kulturell geformten Sinnwelt, nach Kraus (2013) auch „Lebenslage“, werden Erfahrungen und Handeln erst möglich. Gleichzeitig sind es aber die alltäglichen Einstellungen, die den Zugang zu kulturellem und wissenschaftlichem Weltverständnis ermöglichen. Kurz: Kultur reicht in den Alltag und gleichzeitig ist der Alltag Ausgangspunkt jeder Kultur. Lebensweltorientierte Bildung ist so verstanden reflexive Bildungsarbeit an alltäglichen Selbstverständlichkeiten (Warum sehen wir die Dinge, wie wir sie sehen? Was halten wir für „normal“ und warum?), ohne die eine Vermittlung von fachlichen Konzepten gar nicht möglich ist. Gleichzeitig reichen fachliche Konzepte und Wissensbestände als kulturelle Weltbilder hinein in die Lebenswelten von lernenden Subjekten. Aus dieser Perspektive zeigt sich die wechselseitige Bedingtheit von Fachlichkeit und Alltag. Gelungene Vermittlung verbindet Lebenswelt und Fachlichkeit in dem Bewusstsein, dass alltagsweltliche Fähigkeiten nicht a-wissenschaftlich, sondern vor-wissenschaftlich sind. Anschlussfähiger Kommunikation kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Die Lebenswelt wird dann pädagogisch relevant hinsichtlich der Erfordernis der Lehrenden, zu Vermittelndes an die Lebenswelt der Lernenden anzuschließen, auch wenn die jeweiligen Lebenswelten nur bedingt zusammenfallen und sich schwerlich erfassen lassen. Gerade in Bezug auf die digitalen Kulturen ist daher der Respekt der Andersartigkeit von Lebenswelten sowie das Respektieren von Schüler*innen als kompetente Herstellende ihrer „Geographie des eigenen Lebens“ (Daum & Werlen, 2002) eine Bedingung dafür, dass (geleitete) Bildung überhaupt stattfinden kann. Bildungstheoretisch ist diese Perspektive zudem zentral im Hinblick auf das Verständnis von Fachlichkeit, insofern von einer „ungefächerten“ äußeren Realität (Rhode-­ Jüchtern, 2020, S. 16) und von Problemorientierung als leitendes didaktisches Prinzip ausgegangen wird. Aus dieser Perspektive steht die gemeinsame, lebensweltlich fundierte Problemdefinition im Vordergrund der wissenschaftlichen Welterschließung bzw. das mit Schüler*innen Auf-die-Suche-Gehen danach, was eigentlich das (lohnende) Problem ist (vgl. Rhode-Jüchtern, 2009, S. 116 ff.; Rhode-Jüchtern & Schneider, 2012). Das lässt sich verbinden mit der (An-)Erkennung eines lebensweltlich geleiteten und fachlich gerichteten Blicks auf Welt, seinen „Filtern“ und „blinden Flecken“. Ein solches Verständnis ist auch

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Ausgangspunkt von Überlegungen zu Bildung als strukturaler Transformation der individuellen Weltanschauung, eine Veränderung von Selbst- und Weltverhältnissen, die nicht zuletzt durch Fähigkeiten der Reflexion und Selbstbeobachtung gestützt wird (Jörissen & Marotzki, 2009). So fundiert lässt sich vorläufig festhalten: • Alltagsweltliches Tun macht Raum, Gesellschaft und Kultur und ist gleichzeitig räumlich, gesellschaftlich, kulturell bestimmt. Es braucht ein Verständnis der variablen Position von lernenden und lehrenden Subjekten in dieser Wechselbeziehung. • Die (digitale) Alltagswelt von Subjekten ist bildend, auch geographisch bildend. Es braucht ein tieferes, d. h. auch mehr nachvollziehendes denn analytisches Verständnis davon, in welcher Weise sie das ist. • Es gibt keine „richtige“ Lebenswelt. Es braucht (nicht nur bei Lehrenden, sondern auch bei Vorbildenden) ein tieferes, den eigenen Normen bewusstes Verständnis der Möglichkeiten, welche Angebote (geographische) Bildung bei der (heute digital geprägten) lebensweltlichen Auseinandersetzung mit Lebenslagen bieten kann. • Die Lebenswelt bzw. lebensweltliche Fähigkeiten sind die Bedingung von Fachlichkeit bzw. der Vermittlung fachlicher Konzepte, also auch Bedingung der Möglichkeit fachlicher Bildung. Es braucht ein tieferes, nachvollziehendes Verständnis und als Voraussetzung insbesondere das Respektieren des (mentalen und leiblichen) welter­schlie­ ßenden Zugangs von Lernenden.

5.3 Digitale Kulturen und die Bedeutung von Reflexivität Die sich verändernde geomedial geprägte Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen im Zuge von Globalisierung und Digitalisierung ist ein wichtiges fachdidaktisches Forschungsfeld (siehe u.  a. Gryl et  al., 2013). Die Humangeographie hat die zugrunde liegende Veränderung als „Schrumpfung der Welt“ und als „raum-zeitliche Entankerung“ gefasst (Werlen, 2010; Wardenga, 2002). Veränderungen sind aber häufig auch Befunde, die sich aus einer Betrachtung von außen ergeben und, insbesondere in Verbindung mit dem der Digitalisierung, eine „Welt, wie wir sie kannten“ in Anschlag bringen – wobei das „Wir“ meist nicht die Jüngeren sind. Die sogenannten „digital natives“ werden erst zu solchen aus der Sicht der Generation der digital non-natives. Und für die globalisierten Jugendlichen ist eine „Entankerung“ kaum als solche erlebbar, im Gegenteil, findet in digitalen Kulturen ungebrochen Verräumlichung und Verankerung statt (Felgenhauer & Gäbler, 2018). Ihre Perspektive ist hingegen intergenerational und intersozial (etwa von alten Akademiker*innen) schwerlich nachzuvollziehen, da lebensweltlich ganz woanders. Wie ergiebig ist also die Diagnostik von Veränderung bzw. der Topoi von Gewinn und Verlust? In Verbindung mit dem Begriff von Lebenswelt ergibt sich: Ein Vergleich ist kon­ struktiv und weiterführend, wenn er nicht (rückwärtsgewandt) einen Urzustand als erstrebenswert setzt und wenn er Lebenswelten mehr beobachtet denn wertet. Sich der dem

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eigenen Weltbild zugrunde liegenden Werte und Normen reflexiv bewusst zu werden, ist demnach geboten, wenngleich ein durchaus anspruchsvolles Unterfangen. Diese Reflexivität müsste sich dann sowohl auf die zugrunde gelegte Theorie wie auch die Praxis einer lebensweltorientierten Vermittlung, insbesondere im Kontext der „neuen“ digitalen Kulturtechniken, beziehen. Dazu gehört auch, den Einwand zu berücksichtigen, dass die Diskussion zur „schönen neuen Digitalwelt“ und ihrer bildungstheoretischen und -praktischen Implikationen eine zutiefst westlich und zu großen Teilen kolonialistisch-paternalistisch geprägte ist, die gleichförmige Subjekte und homogene Gruppen wie die „digital natives“, die im lebensweltlichen Umgang mit Medien richtig zu erziehenden „Kinder“ oder die „digital Rückständigen“ oder „Abgekoppelten“ konstruiert. Wichtig erscheint zudem die Einsicht, dass sich erst aus einer privilegierten Position heraus digitale Geoinformation als „Kulturtechnik“ beobachten lässt. In didaktischer Hinsicht wird aber vor allem die Frage „Was ist?“ (nicht: Was war? Was wird? Und auch nicht: Was soll sein?) zentral. Dieses lebensweltliche „Was ist?“ ist der Schlüssel zur Einschätzung, inwiefern die bildenden Lebenswelten sehr unterschiedlich digital handelnder Lernender kommunikativ zugänglich, mitteilbar und verstehbar sind, nicht zuletzt, um geographische Bildung und den Erwerb von „powerful knowledge“ (Roberts, 2014) darauf auszurichten. Wie kann nun der unterrichtliche Umgang mit digitaler Geoinformation (gemeint sind nicht nur die als solche deklarierten „Bildungsmedien“, sondern auch alltagsweltliche Medien wie Google Maps oder TikTok) zu mehr Mündigkeit im Sinne einer Orientierung in der eigenen Lebenswelt, einer kritisch-reflexiven Bestimmung der Lebenslage, aber auch in Bezug auf die wissenschaftliche Kultur und den Umgang mit fachlichen Konzepten führen? Unter welchen Bedingungen kann geographische Bildung in digitalen Kulturen lebensweltbezogene Fertigkeiten und Fähigkeiten vermitteln? Als vorläufiger Befund ergibt sich: • Die digital zugängliche Pluralität von Sprachlichkeit und Bildlichkeit sowie von Konzepten und Paradigmen, welche die Lebenslage von Subjekten bestimmen und welche diese (bereits) lebensweltlich teilen, ist eine hervorragende Ausgangslage einer auf (lebensweltliche) Mündigkeit ausgerichteten Bildung. Es gilt, diese zu nutzen und gleichzeitig kritisch zu reflektieren. • Lehrende sind gerade bzgl. der digitalen Geomedien auch Lernende. Sie können aber prinzipiell mit und an den Medien Lernenden lebensweltlich anschlussfähige Zugänge zur Welt in ihrer Vielschichtigkeit, Multiperspektivität und Kontingenz eröffnen und dabei anleiten, gesellschaftliche Konstruiertheit von Welt und deren Machtdurchdrungenheit zu reflektieren und kritisch zu beurteilen. • Digitale (Geo-)Medien sind in Diskurse eingebettet und entsprechend niemals herrschaftsfrei. Sie unterliegen und vermitteln Deutungshoheiten. Sie sind vielleicht theoretisch, nicht aber praktisch für alle Prosument*innen gleichermaßen offen und lassen nicht jede*n gleichermaßen teilhaben (Schlottmann, 2013). Diese (exkludierende) Macht der digitalen Instrumente wird durch das zunehmende lebensweltliche Normal-

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verständnis in deren Anwendung (etwa Google Maps) oftmals verkannt. Ihre Anwendung in der Vermittlungsarbeit bedarf daher grundsätzlich der kritischen Reflexion ihrer sprachlichen, visuellen und nicht zuletzt leiblichen Wirkmächtigkeiten sowie der Position der Vermittelnden.

5.4 Weltbeziehungsbildung und die Bedeutung von Resonanz Digitale Kulturen unter dem Blickwinkel des lebensweltlichen Bezugs von Subjekten zu ihrer (normierten, akademisierten, politisierten, kapitalisierten etc.) Umwelt zu beobachten, erscheint also bildungstheoretisch und -praktisch sinnvoll. Die Diskussion um Mündigkeit in der digitalen Welt als zentrales Bildungsziel betont dabei die Bedeutung der Ausbildung einer kritisch-reflexiven Haltung im Prozess der lebensweltlichen Selbstbewusstwerdung, der Selbstbestimmung und Selbstgestaltung (Dorsch & Kanwischer, 2020, S. 30 ff.). Allerdings bleibt die Bedeutung von Leiblichkeit und leiblicher Kommunikation bei der Vermittlung lebensweltbezogener Fähigkeiten oft unterbestimmt und ist doch außerordentlich wichtig. Das Konzept der Resonanz, das der Sozialphilosoph Hartmut Rosa theoretisch fundiert und auch explizit für die Pädagogik und das Handlungsfeld Schule anschlussfähig gemacht hat (Rosa, 2020; Rosa & Endres, 2016), wird hier interessant. Mit Resonanzerfahrung meint er den momenthaften „Dreiklang aus konvergierenden Bewegungen von Leib, Geist und erfahrbarer Welt“ (Rosa, 2020, S. 290) im Sinne einer gelingenden Weltbeziehung. Bildung ist aus der Rosa-Perspektive gleichbedeutend mit „von etwas berührt und verwandelt werden“, und zwar leiblich wie geistig. Ihr Ziel muss daher die „Eröffnung und Etablierung von Resonanzachsen“ sein (Rosa, 2020, S.  408). Bildung in einem resonanztheoretisch verstandenen Sinne zielt insofern „weder auf Selbst- noch auf Weltbildung, sondern auf Weltbeziehungsbildung“ (ebd.). Resonanzerfahrungen sind zwischen Menschen wie auch zwischen Menschen und Materialitäten oder Gehörtem oder Gelesenem möglich, wobei wichtig ist, dass dabei ein wechselseitiges Antworten (kein aufs Subjekt bezogenes Echo) entsteht (Rosa, 2020, S. 298). Resonante Weltbeziehungen haben nach Rosa vier wesentliche Dimensionen, welche in sozialanalytischer Hinsicht die differenzierte Betrachtung von sozialen Institutionen (wie etwa Schule oder Unterricht) oder sozialen Räumen (wie etwa dem Spielplatz oder aber eben auch Facebook) bieten: Resonanzerfahrungen sind erstens verbunden mit Affekt und der Erfahrung von Selbstwirksamkeit, zweitens durch Emotionalität gekennzeichnet, drittens entsteht durch sie (wechselseitige) Transformation im Sinne der „Anverwandlung“ von Welt und viertens sind sie durch Unverfügbarkeit und Ergebnisoffenheit gekennzeichnet. Das andere der gelingenden Weltbeziehung durch Resonanzerfahrung ist die Entfremdung, der stumme Modus der Weltbeziehung, den Rosa auch als „beziehungslose Beziehung“ begreift (ebd., S. 305). Resonanzerfahrung und Entfremdung versteht Rosa aber gleichzeitig als in einem dialektischen Verhältnis stehend.

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Welches enorme Potenzial eine so fundierte Perspektive für geographische Bildung hat, kann ich hier nur andeuten. Gesellschaftsdiagnostisch lässt sich mit ihr zunächst von einem Verlust von Resonanzerfahrung in der spätmodernen digitalisierten Gesellschaft ausgehen. Neben des ebenfalls von Rosa theoretisch entwickelten Befunds der „Beschleunigung“ (Rosa, 2013) zeigt sich eine zunehmende Entkörperlichung des Weltzugangs. Diese Befunde der Veränderung verbindet Rosa mit einem lebensweltlich differenzierten Blick, wobei immer auch leibliche Erfahrung, „Gestimmtheit“ und die leiblich wie kognitiv erlebte „Verstummung“ von Weltbeziehungen zentral sind (Rosa, 2020, S. 292). Eine wichtige Frage, die sich daraus hinsichtlich des (lernenden) Umgangs mit digitalen Geomedien ergibt, ist die, inwiefern und unter welchen Bedingungen sie zur (Wieder-)Belebung von Resonanzerfahrungen führen kann. Auch digitale Räume, so wird mit Rosa deutlich, bieten Resonanzerfahrungen. Die Likes für einen Post sind selbstbestätigende Antworten. Vermeintliche Entfremdungsmedien wie Videogames geben den Spieler*innen durchaus etwas, das sie berührt und zu ihnen spricht. Sie erfahren im virtuellen Raum Selbstwirksamkeit und atmosphärische Stimmung, werden emotional berührt. In dieser Hinsicht sind digitale (Geo-)Medien, so unterschiedlich sie auch sein mögen, nicht zu unterscheiden von klassischen Bildungsmedien, von Büchern oder Schallplatten. Sie sind Beziehungsträger zwischen Subjekt und Welt. Unterschiede, die es empirisch genauer auszuloten gilt, finden sich vielleicht aber bezüglich des Potenzials, sich reflexiv mit dem Erfahrenen auseinanderzusetzen und neue Resonanzachsen zu öffnen. Vorgegebene, sich wiederholende Bilder könnten etwa die Autonomie des Blickes beschränken und damit eine Anverwandlung von Welt, für die freies Schauen und zwischenmenschlicher Augenkontakt so wichtig ist (Rosa, 2020, S. 311 f.). Insbesondere neue Medien und Games bieten aber auch Erfahrungen von Autonomie und Selbstwirksamkeit, beim Heranzoomen von Erdausschnitten ebenso wie bei der Erschaffung einer digitalen Welt und der Kommunikation mit Mitspieler*innen und Avataren. Fraglich ist, ob nicht gerade eine algorithmisch hergestellte Beherrschbarkeit und ein Mangel der Erfahrung von Kontingenz und Unverfügbarkeit, wie sie hingegen die Auseinandersetzung mit widerständigen Materialitäten, Menschen oder Haustieren bietet (Melson & Fine, 2015), auch entfremdend wirkt. Inwiefern stehen die Verfügbarkeit der digitalen Medien und die Erwartbarkeit ihres Angebots einer Resonanzerfahrung entgegen (Rosa, 2020, S. 317)? Inwiefern lässt sich Entfremdung durch das Entdecken virtueller Welten kompensieren bzw. inwiefern lässt sich auch dort Resonanz erfahren? Die Ambivalenz von Resonanzermöglichung und Entfremdungswirklichkeit ist schließlich auch für die leibliche Dimension näher zu erkunden. Geomedien bilden in der Systematik von Jürgen Hasse (2014) mathematische Räume und sind gleichzeitig auch  – in unterschiedlichem Maße – Denkräume. Sie sind aber nur eingeschränkt leibliche Räume, die „stumm“ bleiben, wenn sich die leibliche Erfahrung haptisch auf Tastatur oder Maus zentriert, visuell auf eine vorgefertigte, gerahmte und vorselektierte Bildlichkeit und auditiv auf sich wiederholende Dauertonschleifen. Andererseits wird aber leibliche Resonanzerfahrungen geomedial zunehmend möglich und wichtig, nicht zuletzt im Hinblick auf die

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erst in jüngster Zeit auch in sozialwissenschaftlicher Forschung bzw. für eine „phänomenologische Resonanztheorie“ bedeutsamen Spiegelneuronen (Rosa, 2020, S.  246  ff.). Erleben von virtuellen Realitäten kann so durchaus die Ausbildung von Empathiefähigkeit fördern. Das visuelle Miterleben von digitalen Akteuren beim Fußballschauen wie beim Fortnite-Spielen kann durch Inkorporierung und kinästhetische Effekte durchaus Koordinations- und Orientierungskompetenz fördern.

5.5 Schluss: Geographie als Weltbeziehungsbildung Inwiefern und vor allem unter welchen Bedingungen vermag geographische Bildung in digitalen Kulturen zur Vermittlung lebensweltbezogener Fertigkeiten und Fähigkeiten sowie fachlicher Konzepte im Umgang mit digitaler Geoinformation beizutragen? Pauschale Antworten kann es hierzu schwerlich geben, sondern vor allem weiterfüh­ rende Fragen: 1. Die Befassung mit der Dialektik von Alltagswelt bzw. Lebenswelt und (gesellschaftlich strukturierter) Umwelt bzw. Lebenslage unterstreicht die Bedeutung lebensweltlicher Anschlüsse in der Vermittlung in zweifacher Richtung. Zum einen sind fachliche Konzepte und Befunde ohne lebensweltlichen Bezug schwer vermittelbar, zum anderen sind die Lebenswelten der Lernenden eine zentrale Voraussetzung für die Wirklichkeit von fachlichen Gegenständen und müssen sich insofern auch an den Lernenden nicht nur ausrichten, sondern auch von ihnen verwirklicht werden. Das impliziert einen grundsätzlichen Respekt gegenüber den alltagsweltlichen (sozialräumlichen) Kompetenzen von Lernenden und die Frage, wie geographische Bildung darauf aufbauen kann. Was und wie müssen Lehrende dazu von den lebensweltlichen Fähigkeiten ihrer Schüler*innen lernen? 2. Die Befassung mit digitalen Kulturen und der Dialektik von Entankerung und (Wieder-)Verankerung durch die Digitalisierung unterstreicht die Bedeutung von Positionalität und Selbstreflexivität im theoretischen und praktischen Umgang mit digitalen Geomedien. Ist geographische Bildung in digitalen Kulturen nicht genau dann gewinnbringend, wenn sie es schafft, Lernenden die sich medial eröffnende Paradigmenpluralität und (raum-)konzeptionelle Vielfalt zu vermitteln und sie gleichzeitig der eigenen Privilegierung und blinden Flecken gewahr werden zu lassen? Das impliziert für Lehrende die kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit der (Un-)Möglichkeit des Hintergehens der eigenen Weltbilder und Ansprüche, etwa im Umgang mit Ergebnisoffenheit. Zudem gilt es, die Wirkmächtigkeiten von Geomedien vermittlungspraktisch reflexiv zu erschließen. 3. Die Befassung mit der Dialektik von Resonanzerfahrung und Entfremdung zeigt schließlich, dass lebensweltlicher Bezug von und ein kritisch-reflexiver Umgang mit (Geo-)Medien im Kontext ihres Potenzials zur Bildung von Weltbeziehung zu diskutieren sind. Affekt, Emotion, Anverwandlung und Unverfügbarkeit sind dabei zen­

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trale Analysekategorien und eine große Frage, die sich daran anschließend stellt, ist die, wie es in der Praxis gelingen kann, im Digitalen materielle, gedankliche und soziale Resonanzräume zu schaffen bzw. die bereits vorhandenen hinsichtlich ihres weltbeziehungsbildenden Potenzials auszuschöpfen. Fortnite zum Beispiel entfaltet (bei allem Suchtpotenzial) auch Resonanzpotenzial, vor allem dadurch, dass es ein kooperatives Spiel ist. Die Spieler*innen interagieren in ­Sprache und Bild, müssen sich räumlich koordinieren und erleben durchaus hochemotional Niederlagen und Gewinne. Was mich abschließend noch einmal zu der Einsicht bringt, dass Geomedien eben nicht in einer „anderen“ Welt des Digitalen, sondern im Sozialen wirklich sind und werden, und es daher (die alte Beton-Weisheit) darauf ankommt, was man draus macht. Wie auch immer angegangen, scheinen mir dazu Respekt, Reflexivität und Resonanz fruchtbare und weiterzuentwickelnde Leitlinien zu sein.

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Mit WebGIS und digitalen Geowerkzeugen Fach- und Medienkompetenzen für das 21. Jahrhundert entwickeln Herausforderungen, Gelingensbedingungen und Unterrichtsbeispiele Sebastian Pungel und Dietmar Steinbach

Zusammenfassung

WebGIS-Anwendungen gehören mittlerweile in allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen, in denen Geodaten genutzt werden, zum Standard und sind auch in der Schule nicht neu. Die Diskussion über die Anforderungen zur kognitiven Anregung der Lernenden, über Möglichkeiten der fachlichen sowie der überfachlichen Kompetenzentwicklung und die inhaltliche Einbindung ist jedoch mit der wachsenden Bandbreite professioneller und neuer Vorgaben in den Curricula für die Schule weiter vorangeschritten. Beispiele aus dem und Gelingensbedingungen für den Geographieunterricht mit dem Ziel, die Schüler*innen auf das Leben in der digitalisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts vorzubereiten, werden in diesem Kapitel vorgestellt. Schlüsselwörter

WEBGIS · Geographische Informationssysteme · Online-Kartendienste · Medienkompetenz · Reflexive Kartenarbeit Ergänzende Information Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann [https://doi.org/10.1007/978-­3-­662-­66486-­5_6].

S. Pungel (*) Erdkunde/Geographie, ZfsL Bonn, Seminar GyGe, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Steinbach Erdkunde und allgemeine Pädagogik, Gymnasien in Gießen, Gießen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_6

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6.1 Einleitung „Geoinformationen sind alle Daten mit Bezug zu einem bestimmten Standort oder geographischen Gebiet. Komplexe Zusammenhänge können mit fach- und grenzüberschreitenden Geoinformationen transparent dargestellt werden. Sie bilden damit die Grundlage für zukunftsorientierte Planung und politisches Handeln. Geoinformationen … sind eine unverzichtbare Grundlage der öffentlichen Daseinsvorsorge und bei der Bewältigung von Naturkatastrophen. Über eine Vielzahl von Webdiensten und -portalen [WebGIS-Anwendungen] werden sie von Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Bürgerinnen und Bürgern genutzt.“ (BMI, 2020, o. S.)

Dieser Text des BMI zeigt eindrücklich die aktuelle und zukünftig weiterwachsende Bedeutung der raumbezogenen digitalen Daten und deren Analyse. Die Arbeit mit Geodaten gehört mittlerweile zu unserer Kultur, da sie nicht nur in der ökonomischen und politischen Praxis, sondern auch in Verwaltung Alltag ist. Daraus lässt sich für die Schule ein Bildungsauftrag ableiten, wenn es ernst genommen wird, dass hier digitale Kulturtechniken vermittelt werden, sprich zu erwerben sind (vgl. KMK, 2016). Aufgrund der mannigfaltigen gesellschaftlichen Bedeutung werden in der Bundesrepublik und in vielen Staaten weltweit zahlreiche Bemühungen unternommen, eine Geodateninfrastruktur zu schaffen, mit deren Hilfe den gesellschaftlichen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen des 21.  Jahrhunderts begegnet werden kann. Schaufenster dieser Entwicklung sind das Geoportal Deutschland, dessen Pendants in den Bundesländern und weitere WebGIS-Anwendungen, durch die auf diese wachsenden Datenpools geblickt werden kann.

6.2 Geodaten, WebGIS und Medienbildung Wechselt man die Perspektive und betrachtet die Arbeit in der Schule mit digitalen Geodaten aus der Sicht der Medienbildung, zeigen sich hier zahlreiche Bildungschancen im Hinblick auf die Kompetenzen für ein selbstständiges und mündiges Leben in einer sich immer weiter digitalisierten Welt, die Schüler*innen voraussichtlich brauchen werden. Die sechs entsprechenden Kompetenzbereiche, die dazu von der Kultusministerkonferenz (KMK) in der Strategie „Bildung in der digitalen Welt“ (vgl. KMK, 2016) benannt werden (Abb.  6.1), sind über die Arbeit mit digitalen Geodaten bzw. den entsprechenden Geoportalen im Geographieunterricht in für die Lernenden herausfordernde und relevante inhaltliche Kontexte zu stellen. Somit kann die Geographie in der Schule über diesen Weg den (über-)fachlichen Ansprüchen nicht nur gerecht werden, sondern den Kindern und Jugendlichen die gesellschaftliche Bedeutung von digitalen Kompetenzen durch fachliche und interdisziplinäre Problemstellungen, die für die Lernenden eine Bedeutsamkeit besitzen, begreiflich machen. Orientierung für die Möglichkeiten einer solchermaßen kompetenzfördernden Einbindung von WebGIS und digitalen Geowerkzeugen in den Geographieunterricht bieten

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Abb. 6.1  Kompetenzbereiche der KMK „Bildung in der digitalen Welt“ (nach KMK, 2016)

e­ inerseits die Basiskonzepte der Geographiedidaktik im Hinblick auf die Wahl der Kontexte und Problemstellungen, andererseits das Lehr-Lernmodell für kompetenzorientierten Unterricht nach Leisen (2011) in der Adaption von Hoffmann (2012), das Anforderungen an die Strukturierung und Steuerung von Lernprozessen formuliert.

6.3 WebGIS-Angebote im Fachunterricht – Passung mit den Basiskonzepten der Geographiedidaktik Worin liegt die Verbindung zwischen den WebGIS-Angeboten und den aktuellen Basiskonzepten der Geographie (Abb. 6.2) (vgl. Fögele & Mehren, 2020)? Da ein GIS zunächst nur ein „Informationssystem“ darstellt, ist es die Aufgabe der Didaktik, dieses Medium in einen für Lernende sinnvollen Kontext zu stellen. Keine Methode, erst recht kein digitales Werkzeug, kann für sich einen eigenständigen Bildungsgehalt proklamieren. Aufgrund der thematischen Vielfalt der Angebote und deren umfassenden Datenansatz zeigt sich für die Schüler*innen schnell, dass bei der Bearbeitung der zentralen geographischen Fragestellungen die Nutzung von WebGIS-Angeboten eine sinnvolle und gewinnbringende

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Abb. 6.2  Basiskonzepte des Geographieunterrichts (Fögele et al., 2021)

Technik darstellt. Das ist kein Zufall, denn die zentralen Herausforderungen der Menschheit sind überwiegend geographischer Natur (vgl. hierzu z. B. die 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung der UN). Ihre Komplexität ist beispielhaft für Probleme, deren Lösung nur durch die Analyse vieler Facetten des jeweiligen Systems gelingen kann. Raumdaten sind hierfür die Grundlage, denn sie ermöglichen von der Quartiersentwicklung bis zum Klimamodell die Prognose der Auswirkungen verschiedener Handlungsalternativen und machen dadurch erst fundierte Entscheidungen möglich. Damit sie als Arbeitsgrundlage aber auch zur Vermittlung von Entscheidungen zur Verfügung stehen können, werden sie zunehmend von Institutionen, Organisationen und Unternehmen erhoben und über WebGIS-­Portale einer breiten Öffentlichkeit, also auch den Schüler*innen, zugänglich gemacht.

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Damit können sich die Lernenden Grundlagen im Umgang mit vielfältigen räumlichen Daten und ihrer Nutzung für Entscheidungen und sowie deren Vermittlung aneignen, wie es die Herausforderungen des 21.  Jahrhunderts erfordern. Aufgrund dieses Zusammenhangs ist es keine Überraschung, dass durch den Einsatz von WebGIS-Angeboten alle aktuellen in der Geographie diskutierten Basiskonzepte (Abb.  6.2) unterrichtlich umgesetzt werden können. Dadurch kann in den hier aufgeführten Beispielen immer ein Bezug zu den Basiskonzepten hergestellt werden, weshalb bei den in diesem Kapitel vorgestellten Beispielen auch jeweils ein Verweis hinzugefügt wurde, auf welchem der Basiskonzepte dieses fußt. Allen voran steht in diesem Zusammenhang aber die Arbeit auf unterschiedlichen Maßstabsebenen von lokal bis global. Die Arbeit mit Geodaten funktioniert nicht nur auf allen Maßstabsebenen, sondern der Maßstabswechsel ist meist innerhalb eines Angebotes sinnvoll oder gar nötig (Beispiel 05). Über diesen Weg werden für die Lernenden drei „Bildungs-Fliegen“ mit einer Klappe geschlagen: Erstens wird die digitale Kulturtechnik „Umgang mit digitalen Geodaten“ in für die Schüler*innen bedeutsamen Kontexten geschult, zweitens erweitern sie ihre überfachliche Medienkompetenz und drittens erwerben sie fachliche Kompetenzen, die notwendig sind, den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen. So kann prinzipiell für jede Altersstufe an weiterführenden Schulen unter Berücksichtigung von Abstraktionsfähigkeit, altersgemäßer Raumerschließung und Entwicklungsstand ein gewinnbringender unterrichtlicher Einsatz ermöglicht werden.

6.4 WebGIS-Angebote im Fachunterricht – Passung zu den Erkenntnissen der Lehr-Lernforschung Schüler*innen, die über den Entstehungsprozess veröffentlichter Karten diskutieren, dabei staunend zwischen „Manipulation“ und „Bearbeitung“ schwanken und für ihre Kursfahrt in Eigeninitiative eine digitale Kartierung vorbereiten – was braucht es dazu? Hier soll kurz umrissen werden, wie der Einsatz digitaler Medien im gewählten Kontext zu vertiefter Auseinandersetzung mit Lerninhalten und zu Kompetenzentwicklung führen kann. Betrachtet man zunächst die Schritte des Lehr-Lernmodells in der Adaption für die WebGIS-Nutzung (Hoffmann, 2012) (Abb.  6.3), wird deutlich, dass es für Kompetenzentwicklung darauf ankommt, dass Lernende im Kontext einer Problem- oder Fragestellung auf der Basis ihres Vorwissens aktiv mit den Lerninhalten umgehen und sich im Gespräch reflektierend mit den unterschiedlichen Lernprodukten und dem Lernzugewinn auseinandersetzen. Sicherwerden und Üben schließt letztendlich auch den Transfer der gewonnenen Einsichten und Fähigkeiten auf andere Kontexte ein, sodass wir auch das Übertragen auf „variable Situationen“ mitbedacht haben. Im Bereich der materiellen Steuerung sollten hierbei zentrale Erkenntnisse der Lehr-Lernforschung eingelöst werden. Erfolgreiches Lernen braucht lohnende Fragestellungen und konkrete Zielsetzungen, die gut auf die Schüler*innen angepasst sind, sie heraus-, aber nicht überfordern. Sie müssen im Rahmen einer sinnvollen Abfolge der Lernschritte in den Erkennt-

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Abb. 6.3  Modell des Lehr-Lernprozesses bei WebGIS-Anwendungen (Hoffmann, 2012)

nisstufen zu bearbeiten sein. In der personalen Steuerung hat die Lehrkraft die Aufgabe, Raum für Kommunikation über das Lernen zu geben. Im Fokus steht hier besonders die Reflexion der ­Lernprodukte und des Lernzugewinns, welchen die Lehrkräfte aktiv im Gespräch unterstützen müssen. Hierin wird einer der einflussreichsten Faktoren für das Tiefenverständnis der Lernenden gesehen (vgl. Hattie & Zierer, 2017, S. 87 f.). Mehren und Mehren (2020, S.  5  f.) heben in dieser Hinsicht die Optimierung der Tiefenstruktur des Unterrichts im Bereich des kognitiven Anregungspotenzials hervor. Auch sie benennen kognitiv herausfordernde Aufgaben, die in Komplexität, Vorwissen sowie Bedeutsamkeit auf die Lernenden abgestimmt sein sollten und diese zur aktiven Auseinandersetzung und Reflexion anregen. Für die vertiefte und reflektierte Beschäftigung mit Gegenständen und Inhalten bedarf es zudem einer entsprechend förderlichen, anspruchsvollen Gestaltung des Unterrichtsgesprächs und eines herausfordernden Transfers. Für ein erfolgreiches geographisches Lernen mit, über und durch den Einsatz von WebGIS und digitalen Geowerkzeugen müssen somit folgende Fragen geklärt werden: Wie sieht eine komplexe, anregende Aufgabenstellung aus? Wie kann der Grad der Herausforderung an die Lerngruppe angepasst werden? Welche Aufgaben, Impulse und welcher Transfer führen zu einer vertieften Auseinandersetzung mit den Gegenständen, Inhalten und Erkenntniswegen? Hinweise zur Beantwortung dieser Fragen werden auf der Ebene der Unterrichtsbeispiele konkretisiert.

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6.5 WebGIS-Beispiele – Good Practice Die im Anhang dieses Kapitels (Beispiele 01–08) vorgestellten WebGIS-Angebote werden überwiegend von Institutionen unterschiedlicher administrativer Ebenen (z. B. Regionen, Bundesländer, Europäische Union) mit Content gefüllt und zur Verfügung gestellt, wobei in der Regel die aktuellen Datensätze im Internet zur Verfügung stehen. Diese können in meist benutzerfreundlichen Oberflächen abgerufen werden. Im letzten Jahrzehnt hat sich die digitale Technik und Infrastruktur so weit entwickelt, dass die 2007 von der EU verabschiedete „INSPIRE“-Richtlinie (IN frastructure for SP atialInfo R mation in E urope) weitestgehend umgesetzt werden kann (vgl. Steinbach, 2020). Das bedeutet, dass wir auch in der Schule auf Geodaten zugreifen können, welche meist in interaktiven und intuitiv aufgebauten Kartenviewern aufbereitet sind, um direkt aktuelle Fragestellungen mit den Schüler*innen zu diskutieren. Neben dieser zunehmenden Datenverfügbarkeit hat man auch Zugriff über WebGIS-Programme, die nicht themengebunden sind, sondern eine Arbeitsoberfläche als übergreifenden Zugang zu diesen Daten bieten. Hinsichtlich der Funktionalität kann als ein solches Werkzeug ArcGIS Online gesehen werden, das im Gegensatz zu auf INSPIRE-basierenden Angeboten nicht öffentlich, sondern ein privat-­ wirtschaftliches Angebot ist. Dieses wird in drei Beispielen vorgestellt. Es erfordert eine kostenlose Registrierung der Schulen, ermöglicht dadurch aber auch den einfachen Zugriff auf gut kuratierte Geodaten und Analysemöglichkeiten ohne Einbußen der Benutzerfreundlichkeit. Es bietet zudem über Erweiterung die Möglichkeit, digitale Kartierungen vorzubereiten und mit mobilen Geräten (z. B. den schülereigenen Smartphones) Geodaten zu erfassen. Desktop-Programme wie bspw. ArcGIS oder QGIS bieten zwar aktuell noch deutlich mehr Analysemöglichkeiten, jedoch müssen Versuche der letzten zwei Jahrzehnte, sie in den regulären Unterricht zu integrieren, als gescheitert betrachtet werden. Die Komplexität der Handhabung und die notwendige dauernde Betreuung der Installation waren im Schulalltag nicht leistbar. Des Weiteren sei an dieser Stelle erwähnt, dass auch andere Anbieter, wie z.  B. die Schulbuchverlage (Beispiel 06), interaktive Kartendienste im Internet zur Verfügung stellen. Somit wächst das Angebot an für den Geographieunterricht relevanten WebGIS-­ Angeboten stetig, auch in exotisch anmutenden Themenbereichen, wie z. B. die weltweite Echtzeit-Blitzortung unter www.blitzortung.org. Durch die langsam wachsende digitale Ausstattung der Schulen entstehen auch erste, gezielt für den Unterricht erstellte Angebote wie das SchulGIS Sachsen (in Kooperation mit der Firma Esri) (http://webgis.sachsen. schule/webgis/index.html), die Geo-Werkzeuge des Landemedienzentrums Baden-­ Württemberg (www.lmz-­bw.de/medien-­und-­bildung/sesam-­mediathek/geoportal/digitale-­ geomedien/geo-­werkzeuge) oder die Angebote der GIS-Station in Heidelberg ­(www.gis-­ station.rgeo.de).

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6.6 Notwendige schulische Ausstattung, Planungsaufwand und Handling WebGIS-Angebote sind als internetbasierte, interaktive Anwendungen einfach aufzurufen. Man muss lediglich mittels eines Browsers die entsprechende URL anwählen und kann das Portal sofort nutzen. Auch wenn die Optik der unterschiedlichen Seiten variiert, sind die Grundfunktionen (z.  B.  Koordinatenabfrage, Adresssuche, Streckenmessung, Kartendruck oder Export) überall zu finden und auch die hierzu genutzten Schaltflächen nutzen überwiegend die gleichen Symbole. Auch werden die Angebote immer benutzerfreundlicher, sodass selbst Schüler*innen, die lediglich über basale Medienkompetenzen verfügen, nach einer Eingewöhnungszeit gut damit zurechtkommen. Allerdings befinden wir uns in einer Phase sehr schneller Entwicklung, sodass es an dieser Stelle nur ansatzweise möglich ist, ganz konkrete Unterrichtskonzepte zu präsentieren. Die bisherige Alltagserfahrung zeigt aber, dass Schüler*innen, die mit einem (mobilen) Endgerät ausgestattet sind, welches über eine ordentliche Internetanbindung verfügt, auch gut mit derartigen Angeboten arbeiten können. Des Weiteren werden immer mehr Internetseiten im Hinblick auf ihre „Barrierefreiheit“ umgestaltet, sodass die Nutzung auch mit dem Smartphone oder dem Tablet reibungslos funktioniert. Nichtsdestotrotz bleibt es Lehrkräften nicht erspart, sich mit dem jeweiligen Angebot vertraut zu machen, eventuelle didaktisch-­methodische Probleme zu antizipieren und das Handling im Zusammenhang mit z. B. dem pädagogischen Netzwerk der jeweiligen Schule abzuklären. Auf jeden Fall muss ein Weg gefunden werden, wie die Ergebnisse der Schüler*innen gespeichert und geteilt werden können. Häufig bietet die „Exportfunktion“ als PDF-Datei eine gute Option. Sollte dies nicht möglich sein, bleibt immer noch die wenig elegante, aber praktikable Möglichkeit, einen Screenshot über die „Druck“-Taste zu erstellen und die Bilddatei als E-Mail-­Anhang zu versenden. Für fortgeschrittene Nutzer*innen oder auch zur Differenzierung innerhalb der Lerngruppe sind Features wie das Hinzuladen von externen Diensten oder das Kombinieren von Layern weitere Möglichkeiten, um die Arbeit mit WebGIS-Angeboten zu vertiefen. Manche Angebote wie das SchulGIS und ArcGIS Online ermöglichen die Speicherung erarbeiteter Karten und Daten im Netz und teilweise auch die Freigabe über einen URL-Link. So können Schüler*innen Kartenbearbeitungen leicht als Ergebnis in Plenumsphasen einbringen und Lehrkräfte ihnen umgekehrt vorbereitete Karten für Hausaufgaben zur Verfügung stellen. Vorbereitend sollten Lehrkräfte sich die Nutzung der Angebote und des Datenaustauschs erschließen, was ggf. auch eine (kostenfreie) Anmeldung einschließen kann. Bei dem Stand der hier angesprochenen aktuellen Angebote sollte man sich jedoch von einem Einarbeiten nicht mehr abschrecken lassen, da sich eine starke positive Verschiebung im Vergleich von Aufwand und Nutzen ergeben hat.

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6.7 Fazit Die schulische Arbeit mit Geodaten ist in besonderem Maße zukunftsorientiert. Die Schüler*innen können über deren Nutzung ihre Medienkompetenz und in zahlreichen Bereichen geographische Kompetenzen schulen. Die Sinnhaftigkeit des Einsatzes spiegelt sich u. a. in der einfach herzustellenden Verbindung zu den geographischen Basiskonzepten wider. Aufgrund des intuitiven, einfachen Handlings aktueller WebGIS-Anwendungen können diese so eingesetzt wer-den, dass nicht mehr alle Energie auf der Sichtebene des Unterrichts in „Klickanleitungen“ verpufft, sondern Raum für Lernprozesse auf der Tiefenstruktur des Unterrichts entsteht, die durch Austausch- und Reflexionsimpulse gefördert werden können. So ist die Verwendung derartiger Angebote schnell in den Regelunterricht zu integrieren  – adäquate Technikausstattung und Internetanbindung vorausgesetzt. Auf der bis zum Jahr 2021 innerhalb der EU durch die Mitgliedsstaaten umzusetzenden „ISPIRE“-Richtlinie sind die meisten WebGIS-Angebote der öffentlichen Hand noch nicht gänzlich fertiggestellt. Im Rahmen des INSPIRE-Umsetzungsplans bis zum Jahr 2021 sollen für insgesamt 34 Fachthemen (von Atmosphärische Bedingungen bis Zuchtanlagen in Aquakulturen) zehntausende harmonisierte Datensätze aus allen EU-­ Mitgliedsstaaten zur allgemeinen Nutzung bereitstehen. Über diese EU-Richtlinie hinaus gibt es mittlerweile zahlreiche weitere Angebote von Institutionen und Organisationen, die sich z. T. auf einen kleinen lokalen Raum beziehen, ein ganzes Land abdecken oder globale Vergleiche ermöglichen. Eine Reihe von Internetpräsenzen sind bereits jetzt sinnvoll im Geographieunterricht einsetzbar, jedoch ist ein aufmerksames Beobachten der Entwicklung geboten, um über die immer weiterwachsenden Möglichkeiten auf dem Laufenden zu bleiben. Inwieweit auch bei den aktuellsten Angeboten Lernen im Bereich der lebensweltbezogenen Fähigkeiten und Fertigkeiten geschieht, hängt auch in Zukunft davon ab, wie wir Gelingensbedingungen für Lernprozesse auf der Ebene der Tiefenstruktur auf die Arbeit mit digitalen Geowerkzeugen übertragen. Die Unterrichtsbeispiele im Anhang sollen in dieser Hinsicht konkrete Impulse darstellen; weitere Beispiele stehen als Zusatzmaterial online zur Verfügung. Sie finden dieses unter der zu Beginn des Kapitels angegebenen DOI im Bereich „Elektronisches Zusatzmaterial“.

Anhang Übersicht der Unterrichtsbeispiele im digitalen Anhang 1 Lokale Maßstabsebene: Wie erkläre ich meiner Oma meinen neuen Schulweg? 2 Regionale Maßstabsebene: Energiewende ja bitte, aber Windräder doch nicht bei uns!

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3 Maßstabsebene Bundesland: Muss ich in die Stadt ziehen, um eine Ausbildung zu machen? 4 Nationale Maßstabsebene: Manipulieren mit Karten: Verödet Ostdeutschland zunehmend? 5 Kontinentale Maßstabsebene (Europäische Union): Wo wird in Europa Urlaub gemacht? 6 Globale Maßstabsebene: Unterschiedliche Entwicklung in der Welt mit dem HDI untersuchen 7 Thematischer Ansatz: Grundwasser(über)nutzung des Ogallala Aquifers im Mittleren Westen der USA 8 Thematischer Ansatz: Vulnerabilität in Japan 9 Räumliche Korrelationen untersuchen. Ethnische Segregation in den USA 10 Karten – bearbeiten oder manipulieren? Sozialräumliche Strukturen deutscher Städte 11 Karten – bearbeiten oder manipulieren? Fossile Energieträger und CO2-Emissionen 12 Kollaborative, digitale Kartierung: Wo bekommt Gentrifizierung ein Gesicht?

 eispiel 02: Regionale Maßstabsebene: Energiewende ja bitte, aber B Windräder doch nicht bei uns!

Klassenstufe ab 9

Themenfeld: Energieerzeugung, regenerative Energiequellen

Bezug zu den Basiskonzepten

Systemkomponenten (Funktion) und Mensch-Umwelt-System

Fachliche Kompetenzentwicklung

B1, K2 und M3 (DGFG Bildungsstandards mittlerer Abschluss)

Konkretisierte Ziele der Medienkompetenz

2.5 und 5.4 (KMK – Bildung in der digitalen Welt)

Kognitiv herausfordernde Aufgaben

Reflektiere über die Notwendigkeit der Energiewende. Erörtere, welche Anzeichen du für die Energiewende in deiner Umgebung feststellen kannst. Untersuche die Potenziale, die es in unserer Region für die Nutzung erneuerbarer Energieträger gibt. Arbeite die unterschiedlichen Argumentationslinien für konkrete Standortentscheidungen.

Mögliches Lernprodukt

Anfertigen einer Ist-Soll-Analyse zur Energiewende im Heimatraum.

Kognitive Anregungen und Reflexionsimpulse

Inwiefern ist die Diskussion um erneuerbare Energien eine Diskussion um eine Entwicklung hin zu Nachhaltigkeit?

Mögliche Anpassung an die Lerngruppe

Das Ein- und Ausblenden unterschiedlicher Layer sollte nach dem Grad der individuellen Abstraktionsfähigkeit erfolgen.

Welche Bedeutung hat die „subjektiver Raumwahrnehmung“ (4 Raumkonzepte) in einem solchen Zusammenhang?

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Abb. 6.4  Klima-Energie-Atlas (Screenshot) (Regionalverband FrankfurtRheinMain)

Die Diskussion um die Nutzung unterschiedlicher Energieträger gehört in die Themenbereiche Klima, Klimawandel und nachhaltiger Umgang mit (Energie-)Rohstoffen. Deutschland befindet sich mitten in der Energiewende und die Lernenden können neben der konkreten Beobachtung auf einer Exkursion über derartige Kartenangebote den Stand der Veränderungen analysieren (z. B. Abb. 6.4). Ergänzung sind z. B. Solarkataster, Windenergiekarten o.  Ä. (z.  B. www.energieatlas.nrw.de, solarkataster.rlp.de oder www. energieland.hessen.de/solar-­kataster), die das Potenzial der erneuerbaren Energien in der Region grundsätzlich aufzeigen, sodass die Lernenden den Ist-Stand mit den vorhandenen Möglichkeiten in Beziehung setzen können.

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 eispiel 10: Karten – bearbeiten oder manipulieren? Sozialräumliche B Strukturen deutscher Städte

Klassenstufe: ab10

Themenfeld: Stadtentwicklung und Stadtstrukturen

Bezug zu den Basiskonzepten

Systemkomponenten (Struktur),

Fachliche Kompetenzentwicklung

F5, M3, B2 (DGFG Bildungsstandards mittlerer Abschluss)

Konkretisierte Ziele der Medienkompetenz

3.1 Werkzeuge zur Bearbeitung digitaler Karten in WebGIS kennen und nutzen

Raumkonzepte (konstruierter Raum)

6.1 Gestaltungsmittel von digitalen Kartenanwenden und bewerten, Wirkungen analysieren (KMK – Bildung in der digitalen Welt)

Kognitiv herausfordernde Aufgaben

Wie sind die sozialräumlichen Strukturen in Ihrer Stadt und wie wollen Sie sie in der Rolle X darstellen? (z. B. für den Flyer einer kommunalen Oppositionspartei)

Mögliches Lernprodukt

Schüler*innen erstellen auf der Basis deutschlandweit verfügbarer Daten zu Kaufkraft, Haushaltseinkommen etc. (Nachbarschaftsebene) eine thematische Karte zu einer Stadt, indem sie Layer auswählen und deren Darstellung bearbeiten (Farbschemata und Klassengrenzen)

Kognitive Anregungen und Reflexions-

Wer hat Interesse mit Medien (Karten) Wahrnehmung zu beeinflussen?

impulse

Wie gespalten ist unsere Stadt? (bezugnehmend auf einen Text mit dem Titel „Segregation in Deutschland. Die Spaltung der Städte nimmt zu.“ (Werner 2018).

Wie kann man den Ausdruck einer Karte beeinflussen? Warum hat die Kartendarstellung welche Wirkung? Welche Konnotationen zu Farben haben sie bewusst/unbewusst verwendet? Kann eine Karte überhaupt Realität widerspiegeln? Darf man Karten so bearbeiten? Was bedeuten unsere Erkenntnisse das für das Lesen fremder Karten?

Mögliche Anpassung an die Lerngruppe

Karte wird mit 1-2 Layern vorbereitet, deren Darstellung mit Anleitung bearbeitet werden kann. (Freigabe per URL-Kurzlink) Karte wird von Lernenden nach einer Anleitung bzw. nach einer Demonstration durch die Lehrkraft bearbeitet

„Segregation in Deutschland: Die soziale Spaltung der Städte nimmt zu“ lautete 2018 im Berliner Tagesspiegel eine Überschrift (Werner, 2018). Ein starkes Thema, das durch Demonstrationen gegen Gentrifizierung und der Entwicklung von Suppenküchen und Tafeln in Realität und Medien sichtbare Aktualität und Relevanz hat. Wie sieht das eigentlich in der eigenen Stadt aus? Eine Analyse der sozialräumlichen Strukturen kann für viele Lernende auf Lebensweltbezug bauen, die Frage nach der realen Ausprägung, Untersuchungsmöglichkeiten und die Diskussion über Handlungsbedarf hervorrufen. Das Unterrichtsvorhaben zielt einerseits auf das Entwickeln von Fachwissen über Strukturen und Prozesse im Bereich der Stadtgeographie, andererseits auf die Entwicklung von Medienkompetenzen im Bereich der Gestaltung von digitalen Karten und der Beurteilung der interessengeleiteten Darstellung von Geodaten. Da über das Portal ArcGIS

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Online deutschlandweit sozioökonomische Daten bis auf Nachbarschaftsebene verfügbar und in ihrer Darstellung veränderbar sind, wird auch hier als WebGIS die Plattform ArcGIS Online gewählt. Schüler*innen können diskutieren wer  – zum Beispiel im Kontext der Kommunalwahlen – ein Interesse haben kann, die Stadt eher einheitlich oder eher gespalten darzustellen. In Kleingruppen erarbeitet und mit Slogans versehen, wird in der Diskussion der Lernprodukte deutlich, dass Karten Konstrukte mit einer in ihnen zum Ausdruck kommenden Perspektivität sind. Der Vergleich der beiden Kartendarstellungen (Abb. 6.5a, b), die

Abb. 6.5  ArcGIS-Online-Kartenbearbeitung mit gleichem Datensatz: Köln – die gespaltene Stadt (oben); „Kölle – „Mer stonn zesamme“ (unten) (Screenshots) (auf der Basis von Esri ArcGIS Online 2021, Geodaten: Nexiga GmbH)

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auf demselben Datensatz beruhen, macht dies noch einmal deutlich. Damit ermöglicht diese Arbeit den Schüler*innen eine Entwicklung ihrer reflexiven Kartenkompetenz, denn sie „stärkt das Bewusstsein für die Auswahl- und Gestaltungsentscheidungen im Zuge der Kartenkonstruktion, aber auch der subjektiven Rezeption durch Kartenkonsumentinnen und -konsumenten“ (Gryl, 2016, S. 8).

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Flipped Classroom unter der Lupe! Ansprüche an eine lernprozess-differenzierte, fachbezogene digitale Geographieausbildung Monika Reuschenbach

Zusammenfassung

In diesem Kapitel wird ein Modell entwickelt, das die Entwicklung und Bewertung von Lehrveranstaltungen in der geographiedidaktischen Ausbildung erlaubt, wenn Lehrende neben fachbezogenen auch digitale Kompetenzen vermitteln und Lernwege differenziert gestalten wollen. Das Modell wird dann für die Analyse einer Veranstaltung an der Pädagogischen Hochschule Zürich verwendet, die nach Flipped Classroom unterrichtet wurde. Dabei wird deskriptiv anhand von Kriterien und der Einschätzung von Studierenden untersucht, ob sich Flipped Classroom für die oben genannten Ansprüche eignet. Schließlich werden daraus Empfehlungen abgeleitet, worauf bei der Entwicklung entsprechender Lehrveranstaltungen zu achten ist. Schlüsselwörter

Flipped Classroom · Kompetenzmodell · Evaluation · Lehrveranstaltung · Differenzierung

M. Reuschenbach (*) Geographie und Geographiedidaktik, Pädagogische Hochschule Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_7

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7.1 Einleitung Die Frage, wie sich die Lehrer*innenbildung stets weiterentwickeln, professionalisieren und an aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen anpassen kann, ist auch für die Geographiedidaktik relevant. Ein Beispiel dafür ist die Digitalisierung. Sie hat in den letzten Jahren prominent Einzug gehalten in Lehrpläne, in der Schweiz beispielsweise mit dem Lehrplan 21 als überfachliches Anliegen, das alle Fächer dazu anhält, digitale Kompetenzen zu fördern. Das vorliegende Kapitel widmet sich vor diesem Hintergrund der Frage, wie Lehrveranstaltungen auch in der Geographieausbildung gestaltet werden müssen, wenn fachbezogene digitale Kompetenzen gefördert sowie Lernprozesse differenziert werden sollen. Es zielt darauf ab, einen Kriterienkatalog zu entwickeln und explorativ zu erproben, mit dem die Planung strukturiert und die Durchführung evaluiert werden kann. Aufgrund der Tatsache, dass – zumindest in der Schweiz – Forschungsgelder für solche Fragestellungen sehr begrenzt verfügbar sind und die Auseinandersetzung damit zudem nur parallel zum Tagesgeschäft möglich ist, sind lediglich schrittweise Annäherungen an Erkenntnisse möglich. In diesem Sinn handelt es sich beim methodischen Vorgehen dieses Kapitels um eine erste explorative Erprobung eines Analyserasters zur Bewertung einer Lehrveranstaltung, die auch zum Ziel hatte, fachbezogene digitale Kompetenzen zu fördern. Die Erkenntnisse wurden zweiteilig erhoben: durch eine Befragung von Studierenden und durch die Auswertung von Unterrichtsmaterialien. Das Datenmaterial wurde inhaltsanalytisch ausgewertet. Das Vorgehen liefert erste Erkenntnisse sowohl zu Lehrveranstaltungen, die dem Anspruch an digitale fachbezogene Kompetenzförderung nachgehen, als auch zu möglichen methodischen Erhebungsinstrumenten. Insbesondere das Analyseraster kann aufgrund der gemachten Erfahrungen nun weiter differenziert und verallgemeinert werden.

7.2 Theoretische Einführung 7.2.1 Digitalität in der Lehrer*innenbildung Die Schule als Ort formaler Bildungsprozesse hat die wichtige Aufgabe, Lernende dazu zu befähigen, sich in einer durch Digitalität geprägten Welt zurechtzufinden. Gesellschaft und Berufswelt stellen neue Anforderungen an Kinder und Jugendliche, diese müssen sich neu orientieren. Zudem kann die Schule die außerschulisch heterogenen Voraussetzungen im Umgang mit digitalen Medien und Technologien ausgleichen (van Ackeren et al., 2019). Entsprechend gefordert sind daher auch Hochschulen, die angehende Lehrpersonen als Vermittler*innen digitaler Kompetenzen ausbilden. Sie müssen „Lehrpersonen bereits in ihrer Ausbildung dazu befähigen, digitale Medien kompetent und didaktisch reflektiert für die (fachspezifische) Gestaltung von Lehren und Lernen […] einzusetzen, damit sie Kompetenzen für eine zielgerichtete Orientierungs- und Handlungsfähigkeit der Schüler*innen in der digital geprägten Gesellschaft fördern können“ (ebd., S. 106). Insbesondere müssen Studierende lernen, digitale Medien im fachlichen Kontext zur Gewinnung, Verarbeitung

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und Darstellung von fachbezogenem Wissen und dem Erwerb fachlicher Fähigkeiten anzuwenden. Das erfordert eine Anpassung von Unterrichtsinhalten und -methoden sowie neue Kompetenzanforderungen (ebd., S. 107; Petko et al., 2018, S. 163).

7.2.2 Konzepte und Modelle Auf der konzeptionellen Ebene liegen derzeit zwei Modelle vor, die eine Integration von digitalen Kompetenzen in die Fachdidaktik an Hochschulen sinnvoll stützen. Abb. 7.1 zeigt das ‚Model of Teacher Professional Growth‘ von Clarke und Hollingsworth (2002). Es gilt als Grundlage für medienspezifische Maßnahmen in der Lehrer*innenbildung und geht davon aus, dass sich wirksame Bildung von Lehrpersonen in vier Bereichen abspielt. Die Bereiche sind über Handlungsaktivitäten und Reflexionsprozesse miteinander verbunden: Im persönlichen Bereich (1) geht es darum, Kenntnisse und Haltungen transparent zu machen und darauf aufbauend Wissen, Überzeugungen und Einstellungen der Studierenden gegenüber der Kultur der Digitalität zu fördern, sodass eine differenzierte Sicht auf neue Lehr-Lernprozesse und -settings resultiert. Das ist wichtig, weil angehende Lehrpersonen nicht immer über die Voraussetzungen verfügen, die man von Digital Natives erwarten würde (vgl. Schmidt, 2020; Drossel et al., 2020). Im externalen Bereich (2) geht es darum, sich mit vielfältigsten inhaltsbezogenen Anregungen rund um Digitalität auseinanderzusetzen und ein Repertoire an Ideen aufzubauen.

(1)

Externaler Bereich (2)

Wissen Einstellungen Gewohnheiten P -/Postkonzept Differenzierte Sichtweise

Informationen & Stimuli Impulse und Anregungen Verankerung medienbezogener Themen Basis Lehrplan

Bereich der sichtbaren Wirkungen (4)

Praktischer Bereich (3)

Einsicht Wirksamkeit der Medien, Einbettung in Kontext und Nutzung

Professionelles Handeln & Ausprobieren Innovative Medienpraxis erleben Arbeits- und Lerninstrument: Aneignung, Verarbeitung, Kooperation, Kommunikation, Leistungsnachweis Digital Lernformen Reflexion

Beschluss

Reflexion

Abb. 7.1  Model of Teacher Professional Growth (nach Clarke und Hollingsworth, 2002)

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Im praktischen Bereich (3) werden digitale Technologien ausprobiert, sodass Erfahrungen mit digitalen Lernmaterialien, Werkzeugen, Aufgabenformaten, Formen von Kooperation und Kommunikation oder Leistungskontrollen gesammelt werden können. Im Bereich der sichtbaren Wirkungen (4) wird die Wirksamkeit digitaler Praktiken reflektiert. So können Erkenntnisse hinsichtlich des Zusammenspiels von Kontextbedingungen und Unterrichtssettings hinterfragt und Gelingensbedingungen für den Einsatz digitaler Technologien im Unterricht abgeleitet werden. Das zweite Modell stellt das „Kompetenzmodell für Lehrpersonen zum technologisch-­ pädagogischen Inhaltswissen“ dar (kurz TPACK, Technological Pedagogical Content Knowledge; nach Harris & Hofer, 2011; Abb. 7.2), das maßgeblich ist für einen ganzheitlichen Rahmen bei der Planung und Entwicklung von mediengestützten Unterrichtseinheiten:

Inhaltliches Wissen (a) Fachinhalte, Struktur, Anwendungsbezogenheit ng ru s ie zes m o i pt pr O rn Le

beste Strategie

(a) Das inhaltliche Wissen (a) stellt das anwendungsbezogene Wissen dar, das für jedes Fach spezifisch erworben werden muss. Inhaltliches Wissen überschneidet sich mit dem technologischen Wissen durch die Frage, welche Technologie für den Erwerb von Inhalten am besten geeignet ist.

Wissen (b) Lehr-Lern-Prozesse Vermittlungsmethoden Gestaltung von Unterricht ge eig ne tes T

oo l

Technologisches Wissen (c) Umgang mit Technologien Existenz, Funktion & Nutzung Anpassung an

Abb. 7.2  TPACK-Modell von Harris und Hofer (2011) (nach Gesellschaft für digitale Bildung, 2019)

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(1)

Externaler Bereich (2)

gen,

Informationen & Stimuli

Einstellungen -/Postkonzept Differenzierte Sichtweise

Basis Lehrplan

Fachinhalte, Struktur, Anwendungsbezogenheit ng ru s ie es im roz t p p O rn Le

Wissen (b)

Fach-/ Ausbildungskontext

beste Strategie

Inhaltliches Wissen (a)

Lehr-Lern-Prozesse Gesellschaft & Kultur ge eig Le nete rns s T tra oo teg l ie

Technologisches Wissen (c) Existenz, Funktion & Nutzung

Bereich der sichtbaren Wirkungen (4) Einsicht Erlebte Wirksamkeit Kontext und Einbettung

Praktischer Bereich (3) Professionelles Handeln & Ausprobieren Reflexion

Abb. 7.3  Kompetenzdrehscheibe für fachbezogenes, digitales Lernen in der Lehrer*innenbildung (nach Clarke & Hollingsworth, 2002; Harris & Hofer, 2011)

(b) Das pädagogische Wissen (b) stellt das Wissen über Lehr-Lernprozesse dar. Es ist Bestandteil des kulturell-gesellschaftlichen Kompetenzerwerbs und überschneidet sich durch die Frage nach geeigneten Lernstrategien mit dem inhaltlichen Wissen. (c) Das technologische Wissen (c) stellt Wissen über digitale Technologien, deren Funktion und Nutzung für die eigene Arbeit dar. Es überschneidet sich durch die Auswahl geeigneter Tools für bestimmte Lernwege mit dem pädagogischen Wissen. Für eine Analyse von Lehrveranstaltungen bietet es sich an, beide Modelle miteinander zu kombinieren, dabei wird das TPACK-Modell wie eine Drehscheibe in das Model of Teacher Professional Growth eingebettet (Abb. 7.3). So entsteht eine Matrix vielfältigster Ansprüche für die Förderung fachbezogener digitaler Kompetenzen. Je nachdem, wie diese „innere Drehscheibe“ ausgerichtet wird, entstehen neue Handlungsfelder bezogen auf die Lernbereiche.

7.2.3 Ansprüche an Differenzierung Langjährige Erfahrungen in der Lehrer*innenbildung zeigen, dass sich Studierende in ihrer Ausbildung mehr Selbständigkeit, eine größere Flexibilität und eine bessere ­Berücksichtigung der individuellen Voraussetzungen wünschen. Daraus lässt sich ab-

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leiten, dass sich die Lehrer*innenbildung auch in Bezug auf die Differenzierung von Lernprozessen weiterentwickeln muss. Dies kann durch eine Ergänzung der Ausbildung um fachbezogene digitale Kompetenzen gelingen, wenn  – wie gefordert  – das aktiv-­ entdeckende Lernen mit und über digitale Medien kompetenzorientiert erfolgt (vgl. auch Hirsch, 2020). Denn „im Bereich der Digitalisierung liegt Potenzial, den Zugang zum Lernen zu verändern und personalisiertes Lernen zu ermöglichen, das an die Bedürfnisse der Lernenden angepasst ist“ (Watts, o. J.). Wird Differenzierung weitergedacht in Richtung Begabtenförderung, gilt die Individualisierung als grundlegendes Instrument. Durch sie gelangen Lernende in den für sie nötigen „Flow“ des Lernens. Er kann entstehen, wenn Lernende an einem motivierenden Thema im idealen Bereich zwischen Unter- und Überforderung arbeiten und dabei einen kreativen Spielraum ausnützen können (Huser, 2018, S. 33). Die große Herausforderung der Differenzierung lässt sich in der Geographie grundsätzlich gut umsetzen: unterschiedliche Wahl der Medien und Ergebnisse; Differenzierung von Menge, Niveau und Unterstützungsangebot bei Lernaufgaben; Differenzierung nach Interesse, Lernstil oder Sozialform. Für den Lernerfolg entscheidend sind zudem die sogenannten Tiefenstrukturen, wie z.  B.  Klassenführung, kognitive Aktivierung und die konstruktive Unterstützung, die sich durch eine wertschätzende Schüler*innenLehrer*innen-­Beziehung sowie eine methodisch-didaktisch individuell zugeschnittene Lernbegleitung auszeichnet (Arndt et al., 2021, S. 7).

7.2.4 Anforderungen an die fachbezogene digitale differenzierte Ausbildung Als Synthese können nun die Anforderungen an die geographiedidaktische Ausbildung konkretisiert werden (Abb. 7.4). Das inhaltliche Wissen stellt geographisches Grundlagenwissen dar (Bereich rot, Abb.  7.4). Auf diesen Wissenserwerb wirken die Bereiche des pädagogischen und des technologischen Wissens mit zwei Fragestellungen ein: a) Wie kann ich am besten lernen? und b) Womit gelingt dies bezogen auf das Fachwissen am besten? Frage a) lässt sich mit dem aktiv-eigenständigen sowie dialogisch-kooperativen Lernen beantworten (Bereich lila, Abb. 7.4). Die Antwort auf Frage b) ergibt sich, wenn Quellen und Technologien passend zu den inhaltlichen Zielsetzungen ausgewählt werden (Bereich braun; Abb. 7.4). Drehen wir nun den Aspekt des inhaltlichen Wissens reihum zu den verschiedenen Bereichen, ergeben sich folgende Anforderungen: • Im persönlichen Bereich (1) müssen Vorwissen und Haltungen zu den Themen, aber auch zu geographiespezifischen digitalen Technologien und pädagogischen Intentionen abgeholt werden. Dies ist für das Bewusstsein von Vorkenntnissen zentral, wenn ein Konzeptwechsel angestrebt wird. • Im externalen Bereich (2) muss die Faszination für die fachbezogene digitale Geographieausbildung durch Lebensweltbezüge und die gesellschaftliche Relevanz ge-

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Externaler Bereich (2)

Persönlicher Bereich (1)

Aufgabenbeispiele zu geografischen Themen mit digitalen Technologien und in verschiedenen Formaten Unterstützungsangebote Kollaboratives Lernen

Vorwissen, Einstellungen, Erfahrungen zur Geografie und geografischen Instrumenten bzw. Möglichkeiten

Gru Grundlagenwissen: Physische Geographie Ph Humangeographie Hu Mensch-UmweltBeziehungen Regionale Geographie Methoden Reflexion Einordnung

Pädagogisches Wissen

Am besten lernt man aktiv aktiveigenständig, dialogischkooperativ  «Wie lerne ich Fachwissen am besten?»

Geographie

Inhaltliches Wissen Inh

Technologisches nologisches Wissen

Bereich der sichtbaren Wirkungen (4)

Ausgewählte wä ählte Quellen, Instrumente und Technologien e echnologien müssen zum F Fachthema passen.  «Womit Womit kann ich Fachwissen am besten erwerben?

Lernzuwachs inhaltlich und methodisch reflektieren Lernerfolg, Motivation erfahren Eignung / Wirkung einschätzen

Praktischer Bereich (3)

Instrumente, Quellen und Aufgabenformate anwenden und ausprobieren ‘geographischen Blick’ entwickeln

Abb. 7.4  Kompetenzdrehscheibe für fachbezogenes, digitales Lernen in der Lehrer*innenbildung, konkretisiert für das Inhaltswissen im Fach Geographie

weckt werden. Hierbei sind Lernsettings nötig, die Aktualitätsbezüge, Quellen und Aufgabenstellungen ideal verschränken. • Im praktischen Bereich (3) geht es darum, anregende Lernsettings anzubieten, bei denen Lernende den „geographischen Blick“ erwerben, gleichzeitig aber auch die Bedeutung von digitalen Möglichkeiten für den Wissenserwerb anwenden. • Im Bereich der sichtbaren Wirkungen (4) werden der Lernzuwachs, aber auch Lernwege transparent gemacht und im Bezug zu den Präkonzepten reflektiert.

7.3 Flipped Classroom unter der Lupe 7.3.1 Flipped Classroom und Peer Instruction Beim Prinzip des Flipped Classroom bereiten sich die Lernenden im Selbststudium auf Präsenzveranstaltungen vor und eignen sich das nötige Fachwissen individuell und in eigenem Tempo an. Der Präsenzunterricht ist befreit von der Wissensvermittlung und ermöglicht den Transfer des Wissens durch anwendungsorientierte Aufgaben. Zentraler Aspekt des Unterrichts ist die Klärung von Fragen und Unklarheiten, besonders auch zwischen Studierenden selbst (vgl. Volk, 2021). Für diesen Austausch eignet sich die Form der Peer Instruction. Dazu werden passend zum Fachwissen Testfragen gestellt. Von angebotenen Lösungen wählen die Studierenden individuell die richtige Antwort aus.

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­ itstudierende, die eine andere Antwort gewählt haben, werden mit Hilfe triftiger BeM gründungen von der eigenen Antwort überzeugt. Dann wird die Antwort erneut bestimmt und die Wahl für alle sichtbar gemacht. Bei mehr als 70 % korrekter Antworten wird die nächste Aufgabe bearbeitet, ansonsten erfolgt eine Klärung des Sachverhalts.

7.3.2 Die Lehrveranstaltung Im Herbstsemester 2020 wurde an der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) die Lehrveranstaltung „Grundkurs Geographie 1“ für angehende Sekundarlehrpersonen nach dem Prinzip Flipped Classroom mit Peer Instruction durchgeführt. Diese hatte zum Ziel, geographische Grundlagen zu vermitteln, digitale Kompetenzen zu fördern sowie differenziertes Lernen zu ermöglichen. Die multiple Zielsetzung war den Studierenden bekannt. Die Lehrveranstaltung bestand aus zwei Gruppen à je 20 Studierenden der Quereinsteiger*innenausbildung. Das Modul umfasste einen Aufwand von 3 CP.  Folgende Rahmenbedingungen sind ebenfalls wichtig: • Themen: Die Studierenden bearbeiteten die sechs Themenfelder Planet Erde, Ernährungssicherung, wahlweise Mittelmeerraum oder Subsahara-Afrika, Dynamische Erde, Bevölkerung & Migration sowie Globale Disparitäten. Die Themen orientierten sich am Lehrplan 21 (Schweiz). • Anforderungen: Zu allen Themenfeldern erhielten die Studierenden Kompetenzformulierungen auf zwei Niveaus, jeweils nach Unterthemen gegliedert. Die Kompetenzen bezogen sich auf inhaltliche Aspekte, (geographische) Methoden wurden – wo möglich – damit verbunden (Tab. 7.1). • Technologien: Passend zu jeder Kompetenz wurden Quellen für die Erarbeitung angegeben (Tab. 7.1). Die Quellen bestanden aus verschiedenen Texten, Videos, statistischen Daten, Karten, Podcasts, vertonten Präsentationsfolien, Bildern, Animationen usw. Die Auswahl orientierte sich an der Pflichtlektüre des Moduls und wurde durch Aktualitäten sowie digital verfügbare geeignete Quellen ergänzt. Bewusst wurde auf die Möglichkeit differenzierter Zugänge geachtet. • Lernprozess/Leistungsnachweis: Die Studierenden bearbeiteten die Themen in beliebiger Sozialform selbstständig und sicherten die Ergebnisse in freier Form. Jedes Thema wurde zudem mit der Beantwortung kurzer Verständnisfragen abgeschlossen (Tab.  7.2). Diese dienten sowohl der Kontrolle als auch der Vorbereitung der Kursleitung von gemeinsamen Veranstaltungen. • Kursorganisation: Neben einer gemeinsamen Einführung traf sich die Gruppe dreimal zu einer (virtuellen) Veranstaltung. Dabei wurden die Sachverhalte nach dem Prinzip Peer Instruction diskutiert und geklärt sowie unsichere Themenaspekte mit Hilfe von Anwendungsaufgaben vertieft.

Quellen Texte: – Hasler, S. 171–174 – Geoaktiv, S. 46 – geographie heute: „Vom Gestein zum Boden“ – Geographische Rundschau: „Boden als Ressource“ Videos/Animationen: – Was ist Boden: https://www.youtube.com/watch?v=U-­jeKCmTK ac&list=PLNmKlEIEkaFkdPl0R44Ep2JxcYd10zew9 Verschiedenes: – Bodenatlas/Methodendossier

Texte: – Hasler, S. 180–183 – Geoaktiv, S. 48 – geographie heute: „Bodenbewirtschaftung“/ „Bodenrenaturierung“ – Geographische Rundschau: „Boden und Bodenschutz“ Videos/Animationen: – Auszug Tagesschau: https://tp.srgssr.ch/p/portal?urn=urn:srf:ais: video:595f8072-­dffe-­4e03-­bb46-­2c5bb3597ec3&autoplay=true& legacy=true&width=640&height=360&playerType=

Basiskompetenz Sie können eine Concept Map zur Frage „Was ist Boden und wie entsteht er?“ anfertigen. Sie können Ihre Concept Map nach der Fachlektüre bewerten.

Sie kennen Maßnahmen zur Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit und wissen, welche Probleme Böden belasten.

Sie können mindestens drei Bodentypen unterscheiden (davon einen, der nicht in der Schweiz vorkommt) und Bodenprofile zu diesen zeichnen.

Erweiterte Kompetenz Sie können die unterschiedliche Bodenfruchtbarkeit in der Schweiz und in den Tropen erklären.

Quellen Texte: – Hasler, S. 174–177 – Geoaktiv, S. 47 – Infotext Agroscope: Jahresbericht 2018 – Information Weltagrarbericht: Bodenfruchtbarkeit und Erosion Videos/Animationen – Video Landwirtschaft Tropen: https://www. youtube.com/ watch?v=5KUZQrQj9dQ Texte: – Hasler, S. 177–179 Videos/Animationen: – Bodentypen: https://www. youtube.com/ watch?v=6lwRGaumLtU – Bodenprofile: https:// www.sofatutor.com/ geographie/videos/ bodenprofile-­ bodenhorizonte-­und-­ bodentypen

Tab. 7.1  Auszug von Kompetenzen und Quellen zum Aspekt Boden und Biodiversität im Themenfeld Ernährungssicherung

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Tab. 7.2  Verständnisfragen zum Aspekt Boden und Biodiversität im Themenfeld Ernährungssicherung Verständnisfragen Basisbompetenz Welche Faktoren sind für die Bodenbildung wichtig? Warum wird die Bodenfruchtbarkeit gesteigert? Was ist eine geeignete Massnahme dafür?

Verständnisfragen Erweiterte Kompetenz Sind Tropenböden gleich fruchtbar wie Böden in der Schweiz? Welche Horizonte hat eine Braunerde?

7.3.3 Methodisches Vorgehen Aufgrund der erarbeiteten Kriterien an einen Lernprozess-differenzierenden Unterricht, der fachbezogene digitale Kompetenzen vermitteln soll, wurde ein Raster entwickelt, das eine Analyse und Bewertung des gesamten Unterrichtssettings erlaubt. Aus Platzgründen wird nur die ausgefüllte Tabelle (Tab.  7.3) abgebildet. Die explorative Auswertung erfolgte durch zwei Perspektiven: Zum einen wurden Materialien, Zielsetzungen, Kursbeschrieb und Modulgestaltung aufgrund von Dokumentationen und Berichten der Kursleitung anhand der Bewertungsaspekte aus dem Kriterienraster ausgewertet. Dies erfolgte nach dem Kriterium, ob die in Tab.  7.3 genannten Items in den Unterrichtsmaterialien explizit genannt wurden bzw. aus den Unterlagen deutlich hervorgingen. Evaluiert wurden Materialien, die den Studierenden ausgehändigt wurden, alle schriftlichen Unterlagen der Lehrveranstaltung (Arbeitsblätter, Arbeitsanweisungen, Dossiers usw.) sowie die schriftlich formulierten Lektionsplanungen. Erfüllt war das Item dann, wenn das Item explizit formuliert war bzw. unmissverständlich aus den Unterlagen hervorging. Teilweise erfüllt war das Item, wenn aus den Unterlagen ein Bezug zum Item abgeleitet werden konnte. Zum anderen wurden die teilnehmenden Studierenden (nmax  =  38) schriftlich zu den verschiedenen Aspekten befragt, dabei füllten sie das Analyseraster basierend auf einer fünfteiligen Likertskala eigenständig aus. Erfüllt war ein Item dann, wenn die Hälfte der Studierenden die Skalenwerte „ich stimme sehr zu (5)“ bzw. „ich stimme eher zu (4)“ angekreuzt hatten, nicht erfüllt war das Item, wenn die Hälfte der Studierenden die Skalenwerte 1 und 2 angekreuzt hatten („ich stimme nicht zu“ bzw. „ich stimme eher nicht zu“). Die Auswertung erfolgte rein deskriptiv.

7.4 Ergebnisse 7.4.1 Zusammenfassung der Auswertung In Tab. 7.3 werden die Ergebnisse der Auswertung durch die Kursleitung und Studierende dargestellt. Einschätzungen durch die Unterlagen der Kursleitung sind fett markiert.

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Tab. 7.3  Kriterienraster und Bewertung einer Lernprozess-differenzierenden Lehrveranstaltung, die fachbezogene digitale Kompetenzen vermitteln sollte

Inhaltliches Wissen

Pädagogisches Wissen

Technisches Wissen

Persönlicher Bereich

Bewertungsaspekte Anwendungsbezogene Inhalte in verschiedenen geographischen Bereichen

Teilweise Nicht Erfüllt erfüllt erfüllt Bemerkungen x/x Themen aus Physischer GG, Humangeographie und Regionaler Geographie Hoher bis mittlerer Lernzuwachs n = 31 x x Ungewohnt

Geographische Methoden Möglichkeit des x/x aktiv-eigenständigen Lernens Möglichkeit des x/x dialogisch-kooperativen Lernens Geeignete Lernstrategien Lernförderliches Unterrichtskonzept Gewinnung von Informationen Verarbeitung von Informationen Darstellung von Informationen Erwerb fachlich-­ digitaler Fähigkeiten Erprobung von Funktion und Nutzung von Technologien Geeignete Tools für Lernprozess Vorwissen zu thematischen Inhalten

Vorwissen zu digitalen Kompetenzen Transparente Haltungen gegenüber digitalen Technologien

30 Nennungen (z. T. mit Vor- und Nachteilen) In Präsenzveranstaltungen Pflicht, wurde sehr gelobt und geschätzt Mussten selbst entwickelt werden s. o.

x/x x

xx

x/x

Im Auftrag enthalten

x/x

Im Auftrag enthalten

x

x

Anspruchsvoll, aufwändig, unsicher Quellenauswahl

x/x x/x

Beschränkt auf Quellenauswahl und Umgang damit; in Präsenzveranstaltungen Musste von Studierenden erworben werden Nur mündlich; reichte von „Lücken“ in der GG bis hin zu „Auffrischung“

x/x x/x

x/x x/x

Nur implizit geäußert durch Probleme im Lernprozess; zum Teil Weigerungen (Fortsetzung)

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Tab. 7.3 (Fortsetzung)

Externaler Bereich

Praktischer Bereich

Bewertungsaspekte Fachliche Anregungen (Inhalt) Digitale Anregungen (Technik) Faszination Geographie wecken Aktualitätsbezüge Passende Quellen und Medien Geeignete Lernaufgaben Ausprobieren von digitalen Technologien, bezogen auf – Lernmaterialien – Werkzeuge – Aufgabenformate – Formate der Kooperation – Formate der Kommunikation – Leistungsnachweis

Teilweise Nicht Erfüllt erfüllt erfüllt Bemerkungen x/x Reichhaltig, teilweise zu viele Anregungen x/x Teilweise zu viele Anregungen, aufwändig x/x x/x x/x

Durch Quellen Sehr passgenau, vielfältig x/x

x

Nur in Präsenzveranstaltungen, Zeitdruck x

x x

x x

x/x x

Möglichkeit bestand, fakultativ 30 Nennungen für hohe Motivation Ergebnissicherung und mehrfache Kontrolle

x

Geeignetes Lernsetting x/x Sichtbarkeit des x/x Lernzuwachs Reflexion über Wirksamkeit digitaler Praktiken Differenzierte Sicht auf x Lernprozess Differenzierung Wahl der Medien x Sichtbare Wirkung

Interesse Ergebnisse Sozialform Lernstil Menge, Niveau und Unterstützung von Lernaufgaben Kognitive Aktivierung Wertschätzende Beziehung

Teilweise, nur in Präsenz

x/x

x

x/x

x

Für Studierende zu wenig explizit sichtbar Differenzierung war anstrengend Partiell Möglichkeit vorhanden, wenig genutzt

x/x

Zu wenig akzentuiert, zu viel und zu kleinschrittig

x x/x x

x/x x/x

x/x x/x

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Inhaltliches Wissen  Unter dem inhaltlichen Wissen waren die Items „Anwendungsbezogene Inhalte in verschiedenen geographischen Bereichen“ und „Geographische Methoden“ enthalten. Mit dem Bezug zum Lehrplan 21 wurde eine breite inhaltlich-thematische Auswahl für den Wissenserwerb verlangt, was die Studierenden schätzten. Sie bewerteten einstimmig mit der Dozentin, dass ein hoher bis mittlerer Wissenszuwachs gewährleistet gewesen und der Anspruch der Themenvielfalt aus verschiedenen geographischen Bereichen erfüllt sei. Die Erwartung an geographische Methoden war hingegen ungewohnt und wurde teilweise verweigert. Zitat Studentin: „Da ich mit den Methoden auf Kriegsfuß stehe, ignoriere ich sie und schreibe nur Stichworte zum Thema auf“. Oder: „Die Methoden haben mich genervt“ (Student). Für die Dozentin waren die Anforderungen an Methodenkompetenz aus fachlicher Überzeugung essenziell, entsprechend waren die Vorgaben der Lernveranstaltung stark darauf ausgerichtet. Pädagogisches Wissen  Unter dem pädagogischen Wissen waren die Items „Möglichkeit des aktiv-eigenständigen Lernens“, „Möglichkeit des dialogisch-kooperativen Lernens“, „Geeignete Lernstrategien“ und „Lernförderliches Unterrichtskonzept“ enthalten. Grundsätzlich wurde das Lehr-Lernsetting sehr geschätzt. Insbesondere die Möglichkeiten des aktiv-eigenständigen, dialogisch-kooperativen Lernens wurden als erfüllt und anregend bewertet. Dennoch wurde das Lernsettings als anstrengend empfunden, besonders weil Lernstrategien zunächst erworben werden mussten. Entsprechend wurde zwar erkannt, dass das Unterrichtskonzept lernförderlich ist (teilweise erfüllt) und man Lernstrategien erworben hatte, der Ruf nach Vorlesungen mit mehr oder weniger passivem Konsum oder bereits vorselektierten Quellen war aber dennoch groß: „Das Setting war viel zu anstrengend, lieber hätte ich vertonte PPT’s und Dozenten-Inputs gehabt“ (Student). Technisches Wissen  Unter dem technischen Wissen waren die Items „Gewinnung von Informationen“, „Verarbeitung von Informationen“, „Darstellung von Informationen“, „Erwerb fachlich-digitaler Fähigkeiten“, „Erprobung von Funktion und Nutzung von Technologien“ und „Geeignete Tools für Lernprozess“ enthalten. Der vollständige Lernprozess – Gewinnung, Verarbeitung und Darstellung von Informationen – wurde bewusst so gestaltet und ließ sich aus den Unterlagen ableiten (Bewertung Dozentin: erfüllt). Die Studierenden schätzten die Gewinnung und Verarbeitung von Informationen durch das Lernsetting ebenfalls als erfüllt ein. Alle anderen Items wurden aber nur noch als teilweise erfüllt bewertet. Dies, weil die Verarbeitung von Informationen zwar auch über digitale Medien erfolgte, man diesen allerdings ausweichen konnte, indem analoge Verfahren angewandt wurden: „Ich fand es besser, die Ergebnissicherung auf Papier schreiben zu können“ (Studentin). Persönlicher Bereich  Der persönliche Bereich umfasste die Items „Vorwissen zu thematischen Inhalten“, „Vorwissen zu digitalen Kompetenzen“ und „Transparente Haltungen gegenüber digitalen Technologien“. Die Vorwissenserhebung erfolgte bezogen auf den Inhalt nur mündlich, diejenige bezogen auf die Digitalität gar nicht. In diesem Sinn wurde

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dieser Bereich zu wenig systematisch durchdacht, was es besonders auch für die Sichtbarkeit eines Lernzuwachses zu vermeiden gilt. Aus den Rückmeldungen konnte eine große Heterogenität herausgelesen werden: Einzelne Studierende kamen mit den wenigen digitalen Tools gut zurecht und fanden sie im Lernprozess hilfreich und nützlich, besonders im Hinblick auf die spätere Unterrichtstätigkeit. Für andere war es (zu) aufwändig, sich einzuarbeiten: „Ich musste mich in diesen Tools erst einmal völlig neu orientieren“ (Student). Externaler Bereich  Der externale Bereich umfasste die Items „Fachliche Anregungen (Inhalt)“, „Digitale Anregungen (Technik)“, „Faszination Geographie wecken“, „Aktualitätsbezüge“, „Passende Quellen und Medien“ und „Geeignete Lernaufgaben“. Die Anregungen waren vielfältig und entsprachen den Anforderungen. Die Konzeption der Lehrveranstaltung berücksichtige dies ausreichend, die Studierenden erkannten die Zielsetzungen. Entsprechend wurden die meisten Items mit „erfüllt“ bewertet. Lernaufgaben kamen nur in Präsenzveranstaltungen vor, diese wurden als äußerst gewinnbringend bewertet, in der selbstständigen Aneignungsphase fehlten sie aber. Teilweise wurde das Lernsetting von den Studierenden aber auch als Overflow empfunden. Praktischer Bereich  Der praktische Bereich umfasste die Items „Ausprobieren von digitalen Technologien“, bezogen auf a) Lernmaterialien, b) Werkzeuge, c) Aufgabenformate, d) Formate der Kooperation, e) Formate der Kommunikation, f) Leistungsnachweis und „Geeignetes Lernsetting“. Unterschieden werden müssen das selbstorganisierte Lernen (SOL) zu Hause und das gemeinsame Lernen an den Präsenzveranstaltungen. Beim SOL dienten digitale Technologien vorwiegend als Werkzeug zur Informationsgewinnung. In den Präsenzveranstaltungen wurden verschiedene digitale Technologien verwendet, was sehr geschätzt wurde. Digitale Möglichkeiten dienten vorwiegend dem Austausch und der Kooperation. Sichtbare Wirkung  Der Bereich der sichtbaren Wirkungen umfasste die Items „Sichtbarkeit des Lernzuwachs“, „Reflexion über Wirksamkeit digitaler Praktiken“ und „Differenzierte Sicht auf Lernprozess“. Der Lernzuwachs auf inhaltlicher Ebene wurde durch die Ergebnissicherung deutlich, zu dieser erfolgte eine Rückmeldung durch die Dozentin. Insofern wurde dies auch geschätzt und mit „erfüllt“ bewertet. Veränderungen bezogen auf den eigenen Lernzuwachs, die Bedeutung der digitalen Praktiken dabei und die Entwicklungen der eigenen digitalen Kompetenzen und Haltungen erlebten die Studierenden nur subjektiv, sie konnten sie nicht sachlich reflektieren. Differenzierung  Der Bereich der Differenzierung umfasste die Items „Wahl der Medien“, „Interesse“, „Ergebnisse“, „Sozialform“, „Lernstil“, „Menge, Niveau und Unterstützung von Lernaufgaben“, „Kognitive Aktivierung“ und „Wertschätzende Beziehung“. Die Differenzierung wurde grundsätzlich geschätzt: „Ich war froh, konnte ich in eigenem Tempo, entsprechend meines Vorwissens und in freien Zeitfenstern lernen. Die Medien wählte ich so aus, dass sie am besten zu meinem Vorwissen passten“ (Student). Allerdings

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wurde die Auswahl der Medien, der Ergebnissicherung usw. als anstrengend empfunden. Nicht wenige Studierende mussten sich erst klar werden darüber, wie sie am besten lernten. Der Dozenten-zentrierte Unterricht prägt nach wie vor die Kultur stark, daher tritt die Verantwortung für den eigenen Lernprozess oft etwas in den Hintergrund. Hauptkriterium bei Entscheidungen war oft die Aufwandsminimierung. Hingegen wurde der persönliche Kontakt und die Unterstützung durch die Leitungsperson sehr geschätzt und gelobt: „Verständnisfragen, Präsenzveranstaltung und der Kontakt zu Ihnen hat starke intrinsische Motivatoren aufgebaut“ (Studentin). Aus den Bewertungen der Differenzierungsaspekte kann das Setting Flipped Classroom als sehr erfolgreich eingestuft werden.

7.4.2 Interpretation Die Auswertung der Lehrveranstaltung zeigt eindrücklich zwei Herausforderungen für deren (zukünftige) Gestaltung. Die erste Herausforderung ist die Integration der digitalen-­ technologischen Komponente in einen Fachkurs, was offenbar im beschriebenen/evaluierten Setting des Flipped Classroom unzureichend realisiert wurde. Dies betrifft den gesamten Entwicklungs- und Lernprozess und reicht von der Sichtbarmachung des Vorwissens über den Sinn entsprechender Lernaufgaben bis hin zur Reflexion über deren Wirksamkeit. Somit überschneidet sich dieser Anspruch mit der zweiten Herausforderung: der Entwicklung von geeigneten Lernaufgaben, die diese digital-technologische Komponente beinhalten. Würden sie verpflichtend angeboten, könnte man nicht ausweichen, würde fachliches Wissen mit Hilfe von Technologien erworben und könnten Kompetenzen in beiden Bereichen erworben werden. Durch eine Reflexion würde deutlich, welche Ziele die Lernaufgaben verfolgten und welche fachbezogenen digitalen Kompetenzen im Geographieunterricht wichtig wären.

7.5 Fazit und Ausblick Es war zu erwarten, dass das Prinzip Flipped Classroom mit Peer Instruction eine sehr gute Möglichkeit darstellt, fachbezogene Kompetenzen durch differenzierte Lernprozesse zu fördern. Das entwickelte Kriterienraster hat sich als geeignet erwiesen, nicht nur die hier vorgestellte, sondern auch weitere Lehrveranstaltungen niederschwellig zu evaluieren. Mit Hilfe der differenzierten Kriterien kann sowohl eine Einschätzung von Studierenden als auch eine Bewertung von Unterrichtsmaterialien gut vorgenommen werden, sodass sich ein umfassendes Bild der Lehrveranstaltung ergibt. In diesem Sinn zeigt die Auswertung von Tab. 7.3 zusammenfassend eindrücklich: Sowohl Aspekte der Differenzierung als auch des inhaltlichen und pädagogischen Wissens werden einheitlich gut bewertet. Die fachbezogenen digitalen Kompetenzen hingegen kamen zu kurz und wurden nur unzureichend gefördert.

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Für die Zukunft ergeben sich aus der vorliegenden Evaluation zwei Ebenen der Optimierung: 1. Methodisch-didaktische Ebene: Zum einen muss verstärkt diskutiert und ausgetauscht werden, wie Lehrveranstaltungen in der Geographieausbildung gestaltet werden müssen, wenn sie auch fachbezogene digitale Kompetenzen fördern wollen. Aufgrund der beschriebenen Einschätzung bzw. Evaluation der Lehrveranstaltung ergeben sich folgende Empfehlungen: • Es ist grundsätzlich lernförderlich, strukturelle Bedingungen wie Flipped Classroom mit Peer Feedback zu schaffen, die differenziertes und fachbezogenes Lernen eigenständig und dialogisch ermöglichen. • Die Förderung digitaler Kompetenzen im Fach muss explizit zum Thema gemacht werden, dies bei der Vorwissenserhebung, bei der Konzeption von Aufgabenstellungen, bei der verbindlichen Einforderung von Ergebnissen und bei der Reflexion. Die Studierenden müssen erkennen können, wie sich fachbezogene und digitale Kompetenzen verschränken. • Insofern sind Lernaufgaben zu entwickeln, die diese Verschränkung besser abbilden. Es bietet sich beispielsweise an, explizite Aufgaben auszuarbeiten, mit denen Informationen verarbeitet und Ergebnisse dargestellt werden können – beides auch kollaborativ, sodass die damit verbundenen positiven Aspekte verstärkt werden. • Die Erhebung und die Reflexion von Prä- und Postkonzepten ist wichtig. Nur so wird transparent, was gelernt wurde und die Erfahrungen können positioniert werden. Dies ermöglicht auch, Stress, Überforderung oder Entscheidungsqual neu einzuordnen, dem Wissenserwerb unterzuordnen und zu relativieren. Entsprechend ist dem Wissenstransfer und dem Austausch zwischen den Studierenden ausreichend Zeit einzuräumen. • Es muss eine Verpflichtung dafür geben, methodische Aspekte z. B. in Form von Lernaufgaben umzusetzen. Möglicherweise führt dies dazu, thematische Inhalte zu reduzieren oder einzuschränken. Entsprechend muss auch das Differenzierungsangebot so gestaltet werden, dass im vorgegebenen Rahmen effektiv eine Wahl besteht. 2. Ebene der Evaluation: Die vorliegende Arbeit zeigt  – wie bereits Eingangs beschrieben  – eine erste subjektive qualitative Einschätzung einer einzigen Lehrveranstaltung auf. Die Ausgangslage, Studierende zu ihren subjektiven Eindrücken zu befragen und Unterrichtsmaterialien einer Veranstaltung sehr vereinfacht auszuwerten, ist ein erster Schritt im Sinne einer explorativen Erprobung mit Hilfe eines Analyserasters. Für fundierte und breit abgestützte Ergebnisse mit allgemeinem Charakter muss dieses Raster nun weiter differenziert und operationalisiert werden, damit es auf andere Lehrveranstaltungen angewendet werden kann. So könnte ein breit einsetzbarerer, quantitativer Evaluationsbogen entstehen, mit dem die Evaluation und Reflexion verschiedener differenzierter Lernumgebungen bzw. Lehrveranstaltungen möglich wird, um systematisch belastbare quantitative Daten zu sammeln.

7  Flipped Classroom unter der Lupe!

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Die Umsetzung der genannten Aspekte ist herausfordernd und bedarf neuer Erfahrungen und Erkenntnisse. Ebenso ist das eigene digital-technologische Wissen und Können ein Knackpunkt, es muss erworben, aktualisiert und angewandt werden, was zeitaufwändig und mit viel persönlichem Engagement verbunden ist. Nur so aber können sich technologische, inhaltliche und pädagogische Zielsetzungen sinnstiftend für die Ausbildung angehender Geographielehrpersonen verschränken. Und nur so kann sich die Geographieausbildung zeitgemäß weiterentwickeln.

Literatur Ackeren van, I., Aufenanger, S., Eickelmann, B., Friedrich, S., Kammerl, R., Knopf, J., Mayrberger, K., Scheika, H., Scheiter, K., & Schiefner-Rohs, M. (2019). Digitalisierung in der Lehrerbildung – Herausforderungen, Entwicklungsfelder und Förderung von Gesamtkonzepten. DDS – Die Deutsche Schule, 111(1), 103–119. Arndt, K., Lenz, T., & Stengelin, M. (2021). Differenzierung im Geografieunterricht. Eine wichtige Voraussetzung für individuellen Lernerfolg. Geografie heute, 352, 2–13. Clarke, D., & Hollingsworth, H. (2002). Elaborating a model of teacher professional growth. Teaching and Teacher Education, 18(8), 947–967. Drossel, K., Heldt, M., & Eickelmann, B. (2020). Die Implementation digitaler Medien in den Unterricht gemeinsam gestalten: Lehrer:innenbildung durch medienbezogene Kooperation. In K. Kaspar, M. Becker-Mrotzek, S. Hofhues, J. König, & D. Schmeinck (Hrsg.), Bildung, Schule, Digitalisierung (S. 45–50). Waxmann. Harris, J. B., & Hofer, M. (2011). Technological pedagogical content knowledge in action: A descriptive study of secondary teachers’ curriculum-based, technology-related instructional planning. Journal of Research on Technology in Education, 43, 211–229. Hirsch, N. (2020). Unterricht digital. Methoden, Didaktik und Praxisbeispiele für das Lernen mit Online-Tools. Verlag an der Ruhr. Huser, J. (2018). Lichtblick für helle Köpfe. Ein Wegweiser zur Erkennung und Förderung von hohen Fähigkeiten bei Kindern und Jugendlichen auf allen Schulstufen. Lehrmittelverlag Zürich. Petko, D., Döbeli Honegger, B., & Prasse, D. (2018). Digitale Transformation in Bildung und Schule: Facetten, Entwicklungslinien und Herausforderungen für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung, 36(2), 157–174. Schmidt, R. (2020). ICT-Professionalisierung und ICT-Beliefs. Professionalisierung angehender Lehrpersonen in der digitalen Transformation und ihre berufsbezogenen Überzeugungen über digitale Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT). Dissertation. Basel: Universität Basel. Volk, B. (2021). Lehrentwicklung und -technologie: Flipped classroom. https://ethz.ch/de/die-­ eth-­zuerich/lehre/lehrentwicklung/designing-­teaching/flipped-­classroom.html. Zugegriffen am 04.07.2022. Watts, E. (o. J.). Von der Digitalisierung zur Differenzierung. Förderlinie: Innovation in der Lehre. https://www.db-­thueringen.de/servlets/MCRFileNodeServlet/dbt_derivate_00051654/02_Digitalisierung_Differenzierung_Watts.pdf. Zugegriffen am 04.07.2022.

Perspektive 3

Geographische Bildung in digitalen Kulturen befähigt, aufbauend auf individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten, geographische Phänomene, Strukturen und Prozesse mittels digitaler Geomedien darzustellen, zu systematisieren und zu analysieren. Kap. 8: Basiskommentar Die Digitalisierung nahezu sämtlicher Lebensbereiche wirft die Frage auf, inwieweit ge­ genwärtige fachliche Zugänge der Geographie Schüler*innen bei der Erschließung gesell­ schaftlicher Wirklichkeiten behilflich sein können. Diese fachlichen Erschließungsper­ spektiven wurden zuletzt im fachdidaktischen Diskurs unter dem Begriff Basiskonzepte gefasst. Dieses Kapitel diskutiert notwendige Erweiterungen dieser Basiskonzepte unter den Bedingungen digitaler Kulturen. Kap. 9: Good-Practice-Beispiel Computational Thinking als Teil der digitalen Grundbildung ist ein fixer, aber oft unent­ deckter Be-standteil des Geographie- bzw. GW-Unterrichts. Dieses Unterrichtsbeispiel zu Wegbeschreibungen und Routensuche mit Hilfe von Geomedien zeigt auf, wie einerseits geographische Basiskonzepte zur Anwendung kommen und andererseits Medienkompe­ tenz neben der digitalen Kompetenz entwickelt wird. Kap. 10: Forschungsbeitrag Der Forschungsbeitrag legt den Fokus auf (intersektionale) Ungleichheitsstrukturen und -verhältnisse in digitalen, geomedial-gestützten Raumaneignungsprozessen von Kin­ dern im Kontext einer Bildung zu Spatial Citizenship um unterschiedliche Reflexionsebe­ nen über individuelle und gruppenbezogene Möglichkeiten der Teilhabe an digital-ge­ stützten, gesellschaftlich-räumlichen Aushandlungsprozessen aufzuzeigen.

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Basiskonzepte als Ausgangspunkte fachlich-­unterrichtlicher Erschließungen digitaler Kulturen Grundorientierung und Ergänzungsnotwendigkeiten Thomas Jekel und Herbert Pichler

Zusammenfassung

Geographieunterricht soll einen Beitrag dazu leisten, Schüler*innen zu einer reflektierten Teilhabe an digitalen Kulturen zu befähigen. Damit ist das Fach aufgefordert, auch unter den Bedingungen der Digitalisierung dazu beitragen, mit Hilfe fachlicher Konzepte und Methoden gesellschaftlich relevante Probleme zu identifizieren, zu analysieren und Lösungsoptionen auf individueller und kollektiver Ebene zu erarbeiten. Bislang haben sich die Curricula dabei u. a. auf Basiskonzepte gestützt, die jedoch die Digitalisierung nur randlich berücksichtigen. Dieses Kapitel versucht, die gegenwärtigen Basiskonzepte anhand von Beispielen für ihre Anwendbarkeit in der digitalen und (geo-)medialen Welt zu analysieren, und schlägt aus dieser Analyse heraus eine begrenzte Anpassung der heutigen Basiskonzepte vor. Dazu sind jedenfalls Ansätze der politischen Bildung sowie einer emanzipatorischen Fachdidaktik zu verfolgen. Schlüsselwörter

Basiskonzepte · Digitale Grundbildung · Algorithmisierung

T. Jekel (*) Universität Duisburg-Essen, Institut für Sachunterricht, Duisburg-Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] H. Pichler Fachdidaktik Geographie und wirtschaftliche Bildung, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_8

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8.1 Was der Geographieunterricht aus der COVID-19-Pandemie lernen kann Betrachtet man Phänomene und Prozesse globaler Ausdehnung und ihre Auswirkungen auf Individuen und Gesellschaft – etwa am Beispiel der gegenwärtigen COVID-19-­Pandemie – so sind erschließende Zugänge meist auf den Ebenen der physischen Welt, der sozialen Aushandlung und somit in der Regel innerhalb der Geographie multidisziplinär zu diskutieren. Hinzukommt, dass die physischen Aspekte der Phänomene mit geographischen Informationssystemen nachvollzogen, analysiert und prognostiziert werden, wie auch die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse häufig digital vermittelt sind und unter Einbezug sozialer Medien ablaufen. In beiden Bereichen sind der Problemstellung angepasste, unterschiedliche fachliche Zugänge wesentlich, um gemeinsame Bedeutungsgehalte sicherzustellen. Gleichzeitig kann festgestellt werden, dass viele dieser Phänomene auch und fruchtbringend aus geographischen Perspektiven aufgearbeitet werden können. Diese vielfältigen disziplinären Zugänge können anhand der gegenwärtigen COVID-­19-­ Pandemie – aber natürlich auch für viele andere Phänomene, Prozesse und Strukturen wie Klimawandel, globale Arbeitsteilung, Flucht- und Migrationsbewegungen – exemplarisch wie folgt dargestellt werden: Das aktuelle Coronavirus folgt in seiner rein physischen Verbreitung aufgrund der Eigenschaften des Erregers raumwissenschaftlich modellierbaren und abbildbaren Regeln: Die Übertragungswahrscheinlichkeit nimmt mit zunehmendem Abstand ab, Durchlüftung, Windrichtung und Kontaktlänge wirken sich wesentlich auf eine (Nicht-)Verbreitung aus. Auf diesen Erkenntnissen bauen auch Apps auf, mit deren Hilfe man die Ausbreitung des Virus durch Contact Tracing einzugrenzen versucht. In einem gewissen Spannungsfeld zu den Erkenntnissen des wissenschaftlichen Diskurses und den empirischen Daten werden politische, gesellschaftliche wie auch individuelle Strategien des Umgangs mit den Phänomenen ausgehandelt. Dies wird vordergründig sichtbar, wenn man die Abstandsregelungen unterschiedlicher Nationalstaaten miteinander vergleicht. Diese reichten von einem Meter (Österreich, im Jahr 2020) über eineinhalb Meter (BRD) und 6 Fuß (USA) bis zu zwei Metern (Österreich, im Jahr 2021), wiewohl das Coronavirus vermutlich nicht nach nationalstaatlichen Regelungen unterscheidet. Die Aushandlungsprozesse sind aber hier nicht zu Ende: Es geht darüber hinaus um die Aneignungsmöglichkeiten öffentlichen Raums (etwa um zeitliche Ausgangssperren und Schließungen des öffentlichen Raums), den Diskurs über Verbreitungsmöglichkeiten in Einkaufszentren oder Schulen und damit in Zusammenhang stehende Lockdowns sowie über Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Arbeit, Freizeitgestaltung, Konsum und Mobilität. Schließlich können die national und je nach Jahreszeit sehr unterschiedlich getroffenen Entscheidungen rund um die Coronamaßnahmen als politische Interessensabwägung zwischen der öffentlichen Gesundheit und wirtschaftlichen, sozialen sowie psychischen Kollateralschäden gelesen werden. Dies führt dann zu Konflikten, wenn soziale Gruppen den Eindruck bekommen, dass in dieser Interessensabwägung bestimmte Lobbys bevor-

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zugt würden. Etwa wenn nur systemrelevante Bereiche der Grundversorgung geöffnet bleiben sollen, und dazu in Österreich 2020 auch Waffengeschäfte gezählt wurden. Oder wenn während des Lockdowns im vergangenen Winter Skigebiete geöffnet werden durften, während öffentliche Gärten und Parks in Wien geschlossen bleiben mussten. Wenn sich Menschenmassen in Einkaufszentren drängelten und gleichzeitig Kulturbetriebe mit dem Argument der Ansteckungsgefahr von Menschenansammlungen auf engstem Raum seit einem Jahr fast durchgehend geschlossen blieben. Relevant für eine fachliche Auseinandersetzung wäre sowohl die Betrachtung der entsprechenden staatlichen Regelungen als auch der individuelle Umgang mit diesen Regelungen, die Rückschlüsse auf bestehende Machtstrukturen und Entscheidungshierarchien zulassen. Als weiteres fachlich relevantes Phänomen der gesellschaftlichen und politischen Debatten rund um die Auseinandersetzung mit der Pandemie kann die Etablierung von Gegendiskursen und alternativen Narrativen zur Coronakrise beobachtet werden, die vor allem in den Kanälen sozialer Medien und selbsternannter „alternativer Medien“ befeuert werden. Hier muss zwischen der Kritik an von der Regierung beschlossenen Maßnahmen und der von Impfgegner*innen sowie sich selbst so bezeichnenden Querdenker*innen, die wissenschaftliche Evidenzen ignorieren und krude Verschwörungstheorien verbreiten, unterschieden werden (vgl. Brodnig, 2021). Letztgenannte Gruppierungen nutzen vorwiegend soziale Medien zur Agitation, Rekrutierung und Organisation von Demonstrationen. Für die Auseinandersetzung mit diesen und ähnlichen Phänomen im Schulunterricht lassen sich mehrere Schlussfolgerungen ableiten, die spezifisch auf die digitale Welt abgestimmt sind: Wesentliche Phänomene aus der aktuellen, häufig mediatisierten Alltagserfahrung von Schüler*innen tendieren zu hoher Komplexität, Unübersichtlichkeit und Kontingenz. 1. Sowohl das Monitoring als auch die naturwissenschaftliche Modellierung sowie die Kommunikation wissenschaftlicher und politischer Ergebnisse zu diesen Phänomenen finden weitestgehend mit digitaler Unterstützung und unter Einbeziehung von Geomedien statt. 2. Die Diskussion und Aushandlungen über das Phänomen und mögliche Strategien verlagern sich zunehmend (auch) in soziale Medien mit all den damit verbundenen Phänomenen, Wirkungen und Nebenwirkungen der Algorithmizität, Echokammern und Filterblasen (vgl. Pariser, 2012; Stalder, 2018; Kanwischer & Schlottmann, 2017; Fuchs et al., 2021). 3. Die Bedeutungen von Raum, räumlicher Inklusion und Exklusion werden heute mehrheitlich digital ausgehandelt und benötigen daher neue Zugänge zu einer geographisch politischen Bildung (Gordon et al., 2016; Hintermann et al., 2020; Gryl & Jekel, 2012). Zu diesen Punkten könnte die Disziplin Geographie erklärende und auch handlungsleitende Aussagen treffen, auch wenn sie damit im Kontext COVID-19 bislang eher

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z­ urückhaltend war (vgl. Wolf, 2020). Wir verwenden dazu bewusst einen weiten Geomedienbegriff: Unter Geomedien verstehen wir all jene Medien, die entweder mit explizit räumlichen Verortungen arbeiten (i.  e. geographische Informationssysteme) als auch alle jene Medien, die sich einer räumlichen Sprache bedienen (z. B. Texte und Abbildungen, die einen räumlichen Bezug oder eine verräumlichende Sprache beinhalten und auf dieser Ebene für die soziale Konstruktion von Raum wirksam werden. Auf Basis dieser Überlegungen soll nun diskutiert werden, wie Anknüpfungspunkte für fachliche Erschließung von komplexen Problemen unter den Bedingungen digitaler Kulturen aussehen könnten.

8.2 Begründung und Struktur von Basiskonzepten Dabei soll als Ausgangspunkt die Tauglichkeit der für das Unterrichtsfach Geographie bislang vorhandenen Basiskonzepte diskutiert werden. Welchen Beitrag können ausgewählte Basiskonzepte als „Brillen“ der Wirklichkeitserschließung von Schüler*innen (Jekel & Pichler, 2017) für digital durchdrungene Gesellschaften leisten? Es kann leicht veranschaulicht werden, dass in zahlreichen Fällen verschiedene Disziplinen einen Beitrag zur Erschließung eines spezifischen Phänomens oder Problems leisten können. Diese Erschließungsperspektiven sind dabei in unterschiedlichem Maß für Ausschnitte des Problems machtvolle Erklärungsansätze. Denken wir aktuell beispielsweise an Bewältigungsstrategien zum Klimawandel, dann wird schnell bewusst, dass hier auf der einen Seite Physik, Chemie, Meteorologie und Klimatologie neben anderen Naturwissenschaften Problemidentifikationen und Erklärungen bieten. Daneben bedarf die Umsetzung von wirkmächtigen Gegenstrategien jedoch auf der anderen Seite ebenso sozial- und politikwissenschaftlicher sowie ökonomischer Zugänge. Die jeweiligen paradigmatischen, konzeptuellen Zugänge der einzelnen Disziplinen auf ein Problem können dabei als „powerful disciplinary knowledge“ (Lambert et al., 2015) verstanden werden. Sieht man die Aufgabe schulischer Bildung in der größtmöglichen Teilhabe der Lernenden an Gesellschaft im Sinn von Gestaltungsmöglichkeiten („capabilities approach“, Nussbaum & Sen, 1993), dann macht es Sinn, Jugendlichen Zugänge zur Erschließung komplexer Phänomene zu eröffnen und Diskursfähigkeit über die zentralen Konzepte der entsprechenden Disziplinen zu ermöglichen. Ein Zugang dazu ist die Identifikation jener zentralen fachlichen Konzepte, die eine Disziplin zur Lösung aktueller gesellschaftlicher Phänomene und Probleme beizutragen vermag. Damit ist auch schon angedeutet, dass diese Konzepte – unabhängig davon, ob sie Core Concepts, Key Concepts oder Basiskonzepte genannt werden – Haltbarkeit über eine bestimmte Zeit haben sollten, gleichzeitig aber doch regelmäßig an gesellschaftliche Entwicklungen angepasst werden müssen. Basiskonzepte erlauben somit, eine jeweils passende fachlich informierte und wissenschaftlich anerkannte, deutungsmächtige Brille aufzusetzen, um Phänomene zu analysieren, Probleme zu strukturieren und zu bearbeiten (Jekel & Pichler, 2017). Darüber hinaus unterstützen diese auch die Reflektion und Einordung der Aussagen und Deutun-

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gen ­anderer, eine nicht unwesentliche Verarbeitungsleistung gerade im Kontext von „Blasen“ und Echokammern in analogen und sozialen Medien. Diese Basiskonzepte, die fachliches Denken strukturieren sollen, wurden in einzelnen Ländern in sehr verschiedenen Kontexten und mit unterschiedlichen Intentionen eingeführt. Während sie etwa in Großbritannien ein Nachfolgemodell der engeren Bildungsstandards waren (vgl. Donert, 2010), wurden sie in Österreich im GW-Lehrplan der Sekundarstufe II eingesetzt, um genau die Einführung solcher Standards zu verhindern (Jekel & Pichler, 2017). In Deutschland und den USA erfolgte die Implementierung mit dem Kalkül einer fachpolitischen Absicherung. Entsprechend haben sich auch sehr unterschiedliche Zugänge etabliert, wie Anthes, Peter et al. (2021, S. 9; Abb. 8.1) aufzeigen. Neben nationalstaatlichen Besonderheiten in den Bildungssystemen (wie etwa den zusätzlichen österreichischen „ökonomischen Basiskonzepten“) zeigen sich in diesem Vergleich auch grundsätzlich verschiedene Zugänge in der Herangehensweise und Detailliertheit: • Die Basiskonzepte der deutschen Bildungsstandards Geographie (DGFG, 2020; Fögele & Mehren, 2015) erweisen sich dabei als sehr generisch, indem sie mit den Begriffen System, Struktur, Funktion und Prozess auskommen. Diese sind jedoch ohne eine hohe Interpretationsleistung seitens der Lehrenden und Lernenden nur schwer in einen fachlichen Kontext zu bringen, und können diesen wohl auch nicht exklusiv für sich beanspruchen. In gleicher oder ähnlicher Weise könnten beispielsweise die Unterrichtsfächer Physik, Chemie oder Informatik ihre Basiskonzepte formulieren. Der geographische Bezug wird dadurch gewonnen, dass mit diesen Konzepten „geographische Fragestellungen“1 behandelt werden sollen. • Sowohl die Mehrheit der angelsächsischen als auch die im Lehrplan verordneten österreichischen Basiskonzepte versuchen die Basisdisziplinen abzubilden, wobei diese sich als Gemeinsamkeit rund um Space, Place, Scale und Time sowie System (Fettdruck in Abb. 8.1; vgl. Anthes et al., 2021; Jekel & Pichler, 2017; Uhlenwinkel, 2013) gruppieren. Darüber hinaus sind in ihnen explizit weitere fachliche Konzepte (z. B. Mensch-­Umweltbeziehungen, Nachhaltigkeit und Diversität) abgebildet, die sowohl auf für politische Akteur*innen sowie für Eltern und Schüler*innen Einblicke in das Fach geben können. Allerdings kann hier kritisiert werden, dass im konkreten Fall der Basiskonzepte im österreichischen AHS-Lehrplan der Sekundarstufe II eine Mischung zwischen explizit geographischen („Raum“, Maßstäblichkeit) und eindeutig

 Der häufige Verweis auf „geographische Probleme“ in der fachdidaktischen Literatur ist aus Sicht der Autoren ein Unding. Komplexe relevante Probleme und Herausforderungen  – man denke an Klimawandel, Globalisierung, Diversität, Armut oder aktuell Corona  – sind nicht per se geographisch, sie werden alltagsweltlich oder wissenschaftlich erfasst. Lösungsansätze für diese Probleme können sich auf Konzepte und Methoden der Disziplin Geographie stützen oder diese miteinbeziehen, gleichzeitig bedarf es der Einbeziehung der Expertise aus zahlreichen weiteren Disziplinen. Weder die Phänomene an sich noch die erkannten Probleme werden dadurch rein „geographisch“. 1

System Struktur Funktion Prozess

Raumkonstruktion und Raumkonzepte Regionalisierung und Zonierung Diversität und Disparität Maßstäblichkeit Wahrnehmung und Darstellung Nachhaltigkeit und Lebensqualität Interessen, Konflikte und Macht [ökonomische Basiskonzepte] Mensch-Umwelt Beziehungen Geoökosysteme Kontingenz

• • • • • • •

Space/place Maßstab/Zusammenhang Nähe/Entfernung Mensch/Umwelt

• • • • • • •

Place Space Time Diversity Interaction Change Perception and representation

Taylor (2008)



• • • • • •

Place Space Scale Interdependence Physical and human processes Environmental interaction and sustainable development Cultural understanding and diversity

Britisches Curriculum (2007)

Phänomen / Problem

• • • •

Lambert (2013)

Space – Place – Scale (Time) - System

Place Space Environment Interconnection Sustainability Scale Change

Australisches Curriculum (2014) • • • • • • •

• • • • • • •

Space Time Place Scale Social formations Physical systems Landscape and environment

Holloway et al. (2003)

Place Space Maßstab Wandel Vernetzung Diversität Wahrnehmung und Darstellung

Uhlenwinkel (2013)

Abb. 8.1  Übersicht und Vergleich geographischer Basiskonzepte (Überschneidungsbereiche aller Konzeptionen durch Fettdruck verdeutlicht) (verändert nach Anthes et al., 2021)

• • • • •



• • •





Österreichischer GW – Lehrplan AHS Sek II (2016)

• • • •

DGfG Bildungsstandards (2017)

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fachübergreifenden Basiskonzepten (Kontingenz, Interessen Konflikte und Macht, Wahrnehmung und Darstellung) vorliegt, die Basiskonzepte also unterschiedliche Ebenen ansprechen. Festzuhalten ist, dass alle diese Basiskonzepte regelmäßig auf ihre Brauchbarkeit hin überprüft und angepasst werden müssen. Aus dem thematischen Fokus des Kapitels ist zudem zentral anzumerken, dass die bekannten Basiskonzepte für geographische Schulfächer weitgehend auf eine explizite Einbindung der digitalen Welt und Vorbereitung auf diese verzichten. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.

8.3 Braucht es neue Basiskonzepte für die digitale Welt? Es stellt sich im Kontext digitaler Kulturen die zentrale Frage, inwieweit die bisher entwickelten Basiskonzepte genügen, um ausreichende Ansätze für Interpretationen der zunehmend digital durchdrungenen Welt zu liefern, in der wir leben. Mit anderen Worten: Sind die aktuellen Konzepte ausreichend oder müssen sie geändert, ergänzt oder gar ersetzt werden? Wir versuchen dies exemplarisch an Konzepten aufzuzeigen, die das Unterrichtsfach Geographie (und wirtschaftliche Bildung) im Kontext der aktuellen Coronapandemie beitragen kann. Wir konzentrieren uns dabei zunächst auf jene Basiskonzepte, die in der überwiegenden Mehrheit der curricularen Grundlagen angeführt sind, d. h. Raum und Räumlichkeit/space & place, Maßstäblichkeit. In der Folge suchen wir nach Phänomenen, die mit den klassischen Basiskonzepten nicht behandelt werden können und mit Blick auf die wachsende Bedeutung digitaler Kulturen erweitert werden müssen. Das kompetente Anwenden geographischer Konzepte erlaubt Zugänge zur Coronapandemie, die sowohl auf naturwissenschaftlichen als auch auf gesellschaftswissenschaftlichen Zugängen basieren. Dies reicht von der Möglichkeit der Übertragbarkeit im biologischen Sinn über die Verbreitungswege (Der damalige Bundeskanzler Kurz: „Das Virus kommt mit dem Auto.“, ORF, Zeit im Bild 1, 16.08.2020), daraus abgeleiteten Abstandsregeln bis zu den Änderungen der Regeln im sozialen Raum sowohl auf einer formellen als auch auf einer informellen Ebene. Beispiele dafür sind verordnete Zugangsbeschränkungen im öffentlichen Raum sowie die Veränderungen der privaten Raumnutzung im Kontext Homeoffice/Home-Learning. Anhand der in Tab. 8.1 dargestellten Beispiele kann gezeigt werden, dass bereits die aktuellen Basiskonzepte der Geographie zum Verständnis von Themen beitragen können, die bislang durchaus „klassisch“ im Geographieunterricht angesiedelt werden können und bei denen die Digitalisierung im Wesentlichen eine Automatisierung gängiger Konzepte bewirkt hat. Dazu gehören beispielsweise die Darstellungen und Analysen im Bereich der Virusausbreitung, die über Geoinformatik und den spatial approach angesprochen werden können. Dazu gehören auch Probleme der subjektiven, teilweise nicht faktenbasierten Wahrnehmung dieser Phänomene.

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Tab. 8.1  Exemplarische fachliche Problemstellungen in digitalen Kulturen: Basiskonzepte und mögliche Arbeitsaufträge am Beispiel der COVID-19-Pandemie Unterrichtsthema/geographisches Fachkonzept Virusverbreitung (distance-decay-­ Funktion), z. B. digitale Modellierung von Aerosolen Place Bedeutungskonstruktion Innenstadtplätze (relationales Raumkonzept), z. B. Smart Cities (tracking von Verkehrsströmen) & soziale Medien (Bedeutungskonstruktion) Maßstäblichkeit Alltagsverhalten: Mobilität (Contact Tracing), Übertragung durch lokales Verhalten oder durch überregionale Mobilität versus digitale Kontakte/Distance Learning Basiskonzept Space

Beispiele: Arbeitsaufträge für digitale Kulturen Begründe anhand digitaler Modelle ein Abstandsgebot Analysiere individuelle und kollektive Bedeutungszuschreibungen zu Raumausschnitten (Parks, ÖV ...) unter Pandemiebedingungen in Onlineforen Entwickle und begründe mögliche Strategien, die vor einer COVID-19-­ Erkrankung auf unterschiedlichen Maßstabsebenen schützen können

In den Basiskonzepten bislang so nicht abgebildet ist die umfassende Algorithmizität (Kap.  23 und  28), die die digitale Analyse dieser Phänomene erst ermöglicht, die ­Phänomene aber gleichzeitig auch verstärkt und teilweise selbst produziert (z. B. Filterblasen und Echoräume). So sind Algorithmen sowohl wesentlich für die Programmierung der Corona-Apps als auch für die Informationsflüsse in sozialen Medien, die entsprechend auch die Wahrnehmung und Kommunikation von einzelnen und Gruppen beeinflussen. Wobei die Algorithmizität an die ubiquitäre Verfügbarkeit und die Interaktivität von digitalen Medien gebunden ist. Entsprechend sind beispielsweise die Prozesse der Aushandlung von Identitäten und Identitäten selbst anders zu denken und im Unterricht zu thematisieren (Pichler et  al., 2021; Hintermann et al., 2020). Denken wir auf der einen Seite an die voneinander abgesetzten und miteinander kaum kommunikationsfähigen Blasen von COVID-Leugner*innen, Impfgegner*innen, Verschwörungstheoretiker*innen auf der einen im Vergleich zu wissenschaftsaffinen Gruppen im Kontext der Pandemie auf der anderen Seite. Die Argumentationen der Erstgenannten beruhen über weite Strecken auf falschen Behauptungen oder zumindest alternativen Interpretationen von Fakten, die durch die Algorithmen von Suchmaschinen aufrechterhalten und verstärkt werden (Fuchs et al., 2021). Es handelt sich dabei bildlich gesprochen um eine Verbreiterung und Globalisierung des Stammtisches, wobei die Zusammensetzung und der Diskurs nicht mehr von den Teilnehmer*innen alleine gesteuert wird, sondern von Algorithmen beeinflusst wird. In der Regel sind die Effekte der Algorithmizität den „Stammtischteilnehmer*innen“ dabei nicht bewusst. Gleichzeitig führt die informationelle Abschottung zu einer Kommunikationsunfähigkeit zwischen den einzelnen Blasen.

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8.4 Fazit Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die aktuellen Basiskonzepte der Geographie auch unter den Bedingungen der Digitalisierung über weite Strecken hilfreich erscheinen, gesellschaftlich bedeutsame Phänomene zu erschließen, insbesondere wenn es sich tatsächlich um fachliche Konzepte handelt. In vielen Fällen bietet die Digitalisierung hierbei eine Automatisierung bekannter Methoden. So werden die Berechnungen und Aussagen der Corona-App erst durch die hohe Rechenleistung möglich, das zugrunde liegende Konzept des Spatial Approach bleibt dabei unverändert. Im Unterschied dazu findet in der Algorithmisierung von Entscheidungsprozessen, Organisationsstrukturen und Wahrnehmung tatsächlich eine Neukonstruktion von Welt aufgrund neuer Fachkonzepte (z. B. Data Mining, Algorithmen als gatekeeper) statt, die auch für die Kommunikation in sozialen Medien strukturierend sind. Entsprechend wäre die Algorithmisierung als neue Dimension in die Konstruktion fachlicher Basiskonzepte aufzunehmen. Dies kann prinzipiell auf zwei unterschiedlichen Wegen erfolgen: einmal durch die Konstruktion eines eigenen, übergreifenden Konzeptes analog zum übergreifenden Basiskonzept der Kontingenz im österreichischen Lehrplan der Sekundarstufe II GW (Abb. 8.1). Der Nachteil hierbei ist, dass dieses Basiskonzept auf der Ebene der generischen und nicht fachspezifischen Basiskonzepte liegen würde. Als zweite Möglichkeit bietet sich an, Algorithmisierung in die bestehenden Basiskonzepte bestmöglich zu integrieren und etwa im Bereich Raumkonstruktion und Raumkonzepte (space und place), Wahrnehmung und Darstellung sowie Interessenkonflikte und Macht entsprechende inhaltliche Ergänzungen vorzunehmen. Am Beispiel des Basiskonzeptes Wahrnehmung und Darstellung wären dabei zusätzlich durch Algorithmen personalisierte Realitäten in Medien zu thematisieren. Bereits jetzt sollten dazu von Seiten der Fachdidaktik auch entsprechende unterrichtspraktische Lernangebote erstellt werden. Der Umgang mit Algorithmisierung würde dementsprechend eher ein basiskonzeptübergreifendes Unterrichtsprinzip rechtfertigen, das in den einzelnen Unterrichtsfächern und in den Basiskonzepten zu implementieren wäre. Da Algorithmizität mehrere der bestehenden Basiskonzepte durchdringt, plädieren die Autoren für diesen integrativen Weg.

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T. Jekel und H. Pichler

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„Computational Thinking“ im GW-­Unterricht Ein Beitrag der geographischen Bildung zur digitalen Grundbildung Claudia Breitfuss-Horner und Alfons Koller

Zusammenfassung

Computational Thinking ist einer von acht Kompetenzbereichen der digitalen Grundbildung, die von der fünften bis zur achten Schulstufe an Österreichs Schulen verpflichtet vermittelt wird. Ihr zentrales Anliegen ist das Verstehen von Wirkmechanismen, Regeln und Algorithmen in unserem von Digitalität durchdrungenen Alltag. Hier setzt das Unterrichtsbeispiel an, das auf Wegbeschreibungen und Routensuche fokussiert und Basiskonzepte der geographischen Bildung wie space und place sowie Wahrnehmung und Darstellung verwirklicht. Aktive Handlungsentscheidungen eröffnen den Lernenden Chancen auf Partizipation, sodass auch der Beitrag von Geomedien zur „politischen Kompetenz“, dem dritten Aspekt der digitalen Grundbildung, deutlich wird. Dies ist auch Teil des Kompetenzmodells der Spatial Citizenship Education, wodurch ein Beitrag zur geographischen Bildung deutlich wird.

Schlüsselwörter

Algorithmen · Informatische Bildung · Basiskonzepte · GW-Unterricht · Unterrichtsbeispiel

C. Breitfuss-Horner (*) · A. Koller GW und Informatik, Private Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz, Linz, Österreich E-Mail: [email protected]; [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_9

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9.1 Einleitung Digitale Kulturen im Sinne dieses Sammelbandes sind als Situationsbeschreibungen, charakterisierende Elemente oder Metaphern für Gesellschaften und soziale Gruppen im 21. Jahrhundert zu verstehen. Sie können auf allen Maßstabsebenen wahrgenommen werden: von lokal (im Haushalt, am Wohn-, Arbeits- oder Freizeitstandort) über regional (im Ort, im Staat oder in den grenzüberschreitenden Regionen) bis hin zu global (im Sinne der digital vernetzten Welt). Digitale Grundbildung ist, so wie die informatische Bildung in der Schweiz und in Deutschland,1 eine Forderung der österreichischen Bildungspolitik, welche auf diese digitalen Kulturen reagiert und notwendigen Kompetenzen festlegt, sodass Jugendliche und Erwachsene erfolgreich und eigenständig in digitalen Gesellschaften und Kulturen agieren können. Dies geschieht im Lehrplan der digitalen Grundbildung und in Kompetenzmodellen, wie beispielsweise digiKomp (vgl. BMBWF, o. J.-a), verbindlich für bestimmte Altersstufen. Lehrkräfte leisten im Weiteren durch die tagtägliche Unterrichtsarbeit „digital-­ inklusive“ methodische Überlegungen (vgl. Narosy, 2015) und durch fachdidaktische Reflexionen entscheidende Beiträge zur Umsetzung. Das Unterrichtsfach Geographie und wirtschaftliche Bildung (GW) trägt im Kanon der österreichischen Schulfächer seinen Beitrag dazu bei, einerseits zur geographischen und wirtschaftlichen Bildung, andererseits auch zur digitalen Grundbildung. Mit dem Kompetenzmodell der Spatial Citizenship Education am Beginn dieses Kapitels und dem Bezug zu geographischen Basiskonzepten am Ende der Ausführungen soll dies belegt werden. Das Unterrichtsbeispiel zu Wegbeschreibungen und Routensuche mit klassisch geographischen Lernzielen legt dabei einen Fokus auf Computational Thinking, das im Sinne von Wing (2006) einen zentralen Teil der Allgemeinbildung und zugleich einen der acht Kompetenzbereiche der digitalen Grundbildung darstellt. Der Anhang versucht abschließend einen Überblick zu geben, welche Initiativen die österreichische Bildungspolitik in den letzten Jahrzehnten diesbezüglich bereits gesetzt hat und aktuell plant.

9.2 Der Beitrag von Spatial Citizenship Education Im Mittelpunkt geographischer Bildung und ihrer in diesem Kapitel dargestellten Spielart stehen die Schüler*innen: Sie sollen auf ihr durch Digitalität durchdrungenes „Leben und Wirtschaften“ vorbereitet werden (vgl. Felgenhauer & Gäbler, 2019). Technologien, die schon lange in ihrem Alltag Einzug gehalten haben, werden auch in der Schule zunehmend thematisiert. Die Anwendung geographischer Arbeitsmethoden verbunden mit digitalen Werkzeugen eröffnen den Schüler*innen eigene Entscheidungsmöglichkeiten, wie sie  Aufgrund der gebotenen Kürze dieses Artikels wird ausschließlich auf die „digitale Grundbildung“ und die Lehrpläne in Österreich Bezug genommen. Die Überlegungen sind aber auf bundesdeutsche oder Schweizer Verhältnisse gut übertragbar. 1

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diese im schulischen, beruflichen und privaten Kontext einsetzen können und ob sie diese nutzen wollen (technology and methodology competencies; vgl Jekel et al., 2015). Ziel ist es, durch regelmäßige Verwendung von unterschiedlichen Geomedien und Reflexionsanlässe Routine im Umgang zu gewinnen sowie ihre Verwendung im Alltag kritisch zu reflektieren (reflection and reflexivity). Die Lernenden werden befähigt, digitale Medien kompetent zu verwenden, sich eigenständig zu informieren und zu kommunizieren, ihre eigene Meinung zu bilden und diese aktiv zu vertreten – und das auch im real-­virtuell-­ vernetzten Leben des digitalen Alltags (communication, participation and negotiation). In diesem Sinne werden im GW-Unterricht und im nachfolgenden Unterrichtsbeispiel alle drei Komponenten der Spatial Citizenship Education (vgl. Jekel et al., 2015; kurz SpaCit) angesprochen, welche auch als ein Beitrag der geographischen Bildung für digitale Kulturen angesehen werden kann. Neben der Anbindung zur geographischen Bildung ist das Unterrichtsbeispiel auch im Kompetenzmodell der digitalen Grundbildung verankert, auf welches im Weiteren eingegangen wird.

9.3 Der Bildungsauftrag der digitalen Grundbildung2 Ein Verständnis von digitaler Grundbildung wird in der Bildungs- und Lehraufgabe des Lehrplanes der Verbindlichen Übung festgelegt (BMBWF, 2018, S.  3; eigene Hervorhebungen): • „Digitale Kompetenz … auf Basis eines breiten Überblicks … jeweils passende Werkzeuge und Methoden auszuwählen, diese zu reflektieren und anzuwenden. • Medienkompetenz … Aspekte der Produktion, der Repräsentation, der Mediensprache und Mediennutzung. … verschiedenen Aspekte der Medien und Medieninhalte zu verstehen und kritisch zu bewerten sowie selbst in vielfältigen Kontexten zu kommunizieren. … • Politische Kompetenzen fördern die Demokratie und die aktive Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger. …“ Dieses Kompetenzmodell ist eine Weiterentwicklung der Digi.komp-Modelle, die in Österreich für verschiedene Altersstufen entwickelt wurden (vgl. BMBWF, o. J.-a). Die inhaltsorientierten und aufeinander aufbauenden Module sollen von den Lernenden bis zu einer gewissen Altersstufe absolviert werden. Vergleicht man das Kompetenzmodell der digitalen Grundbildung mit jenem der Spatial Citizenship Education (SpaCit), entspricht die digitale Kompetenz im Modell der digitalen Grundbildung den Technology and methodology competencies im SpaCit-Modell,  Eine Zusammenfassung der Umsetzung der digitalen Grundbildung in Österreich seit 1985 entnehmen Sie bitte dem Anhang: „Die Initiativen der Bildungspolitik“. 2

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die Medienkompetenz und die politischen Kompetenzen kommen der Reflection and reflexivity sowie der communication, participation and negotiation sehr nahe (vgl. HGD, 2020; BMBWF, o. J.-b; Jekel et al., 2015). Im Vergleich zum TPACK-Modell der Gesellschaft für digitale Bildung (vgl. Harris & Hofer, 2011) geht beim SpaCit-Kompetenzmodell der Bildungsauftrag an die Lernenden im Mittelpunkt. Das TPACK-Modell hingegen fokussiert auf die Lehrperson mit ihrem technischen, pädagogischen und inhaltlichen Wissen. Die Digitale Grundbildung fordert die inhaltliche Vermittlung von folgenden acht Kompetenzbereichen (vgl. BMBWF, 2018): • • • • • • • •

Gesellschaftliche Aspekte von Medienwandel und Digitalisierung Informationsdaten- und Medienkompetenz Betriebssysteme und Standardanwendungen Mediengestaltung Digitale Kommunikation und Social Media Sicherheit Technische Problemlösung Computational Thinking

Da das Unterrichtsbeispiel auf den zuletzt genannten Kompetenzbereich fokussiert, soll dieser nun genauer betrachtet werden.

9.4  Computational Thinking als Teil der digitalen Grundbildung Bei diesem Kompetenzbereich fragen sich viele Lehrpersonen: Welchen Wert hat er für den GW-Unterricht? Sind Programmieren und Codieren (engl. Coding) Teil der geographischen Bildung? Was versteht man überhaupt unter Computational Thinking (vgl. Micheuz, 2017)? Bei Computational Thinking geht es um weit mehr als um Programmieren oder die Verwendung von digitalem Code: Es geht um das Verstehen, wie Wirkmechanismen (Regeln, Algorithmen, Automatisierung …)  – von Nutzer*innen oft unbemerkt  – funktionieren, und informatische „Denk-Prozesse“ unseren Alltag beeinflussen. Wenn man Informationen „googelt“, den Wetterbericht auf ein Smartphone holt oder mittels Geomedien nach dem nächsten Supermarkt sucht, sind wir tagtäglich mit Algorithmen konfrontiert. Unsere Suchanfragen und Bewegungsmuster werden in der Regel mitprotokolliert und ausgewertet. Diese Informationen entscheiden mit, was einem bei der nächsten Web-Suche angezeigt wird und was verborgen bleibt. Computational Thinking inkludiert auch informatisches Denken, populistisch formuliert, „Denken wie ein Computer“ oder „Kommunizieren, sodass der Computer es versteht“. Oft steht dabei die Mensch-Computer-Schnittstelle im Mittelpunkt, wie schon Strobl (2009) Karten als Interface zwischen Nutzer*innen und Datenbank bezeichnet hat.

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Während die analoge Karte Informationen speicherte und zugleich ihre Visualisierung enthielt, sind im Feld der digitalen Geomedien Daten auf einem Server (in der Cloud über das Internet erreichbar) gespeichert, die Suche und Abfrage genauso wie die Darstellung und Visualisierung steuern dann der/die Nutzer*in und verschiedene Algorithmen. Computational Thinking wird so zu einer grundlegenden Fähigkeit, die neben Lesen, Schreiben und Rechnen ein fixer Bestandteil der Allgemeinbildung von Jugendlichen sein soll (vgl. Wing, 2006). Der Lehrplan zur Verbindlichen Übung Digitale Grundbildung nennt folgende Richtlernziele innerhalb des Computational Thinking (BMBWF, 2018, S. 7): • • • •

„Nennen und Beschreiben von Abläufen aus dem Alltag Verwenden, Erstellen und Reflektieren von Codierung (Geheimschrift, QR-Codes) Nachvollziehen und Ausführen von eindeutigen Handlungsanleitungen Das verbale und schriftliche Formulieren eindeutiger Algorithmen“

Weiters wird auch auf die kreative Nutzung von Programmiersprachen hingewiesen, wo Schüler*innen einfache Programme mit geeigneten Tools erstellen, um Probleme zu lösen und unterschiedliche Programmiersprachen und Produktionsabläufe zu kennen (vgl. BMBWF, 2018, S. 7). In diesem Sinne leistet Computational Thinking einen Beitrag zum formalen Denken. Analysieren und Abstrahieren stehen im Mittelpunkt, wie es in verschiedenen Bildungsanliegen immer schon ein Thema war; beispielsweise in der Beschäftigung mit der Mengenlehre in der Mathematik, in der Darstellung in Struktogrammen in der Informatik oder beim Lesen und Interpretieren von Metaphern in Sprachfächern wie Latein, Griechisch oder Deutsch.

9.5 Wegbeschreibung als Algorithmus und Kommunikationsprozess Als exemplarisches Beispiel für Computational Thinking soll nun folgende, fast banal klingende Aufgabenstellung aus dem GW-Unterricht dienen: „Beschreibe den Weg von A nach B, beispielsweise von der Schule bis zur Haltestelle deines Regionalbusses.“ Üblicherweise erwartet man die Antwort in der Fachsprache, welche folgende Elemente enthalten kann: • Positionsangaben wie „an dieser Stelle“, „an der Adresse“, „in der Straße“, „bei dieser Landmarke“, „bei diesem Point-of-Interest“ oder „an der Koordinate“ • Lagebeziehungen wie „vor, nach, hinter“ etc. • Richtungsangaben, bestehend aus Himmelsrichtungen, Zielorten (z.  B. „in Richtung von“) oder einfach „links“ oder „rechts“ der Bewegungsrichtung • Distanzangaben in Schritten oder metrischen Maßen • Bewegungsangaben wie „gehe“, „folge“, „biege … ab“ …

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Bei dieser Wegbeschreibung oder der Handlungsanleitung, wie man von A nach B kommt, wird ein wiederholbarer Ablauf Schritt für Schritt – so genau wie möglich – mündlich, schriftlich oder graphisch kommuniziert. Jede einzelne Anweisung muss genau festgelegt sein, damit der gesamte Vorgang von jemand anderem nachvollzogen und wiederholt werden kann. Abb. 9.1 stellen eine graphische Handlungsanleitung dar, einen Straßenplan mit eingezeichnetem Routenvorschlag.

Abb. 9.1  Graphische Handlungsanleitung auf Basis der Basemap (a) (VOR 2016) und OpenStreetMap (b) (OpenStreetMap Foundation, o. J.)

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Abb. 9.2  Graphische Handlungsanleitung in einer händischen Wegskizze

Eine Handskizze wäre eine alternative Möglichkeit. In ihr sind freihändig wesentliche Landmarken (Points of Interest) sowie die Wegroute gezeichnet (Abb. 9.2). Dieselbe Handlungsanleitung könnte auch in textlicher Form erfolgen oder als Audio oder Video bereitgestellt werden. Auch eine kombinierte Form mit einer mündlichen Beschreibung der Handskizze oder der Wegroute am Stadtplan inklusive den Hintergrundüberlegungen dazu wäre im Geographie- bzw. GW-Unterricht denkbar. Textliche Handlungsanleitung einer Lehrperson zu Abb. 9.1a

Von der Schule zur Bushaltestelle: • Du stehst vor dem Eingang der Schule. Wende dich nach links und folge dem Verlauf der Krankenhausstraße. • Überquere die Khevenhüllerstraße und folge dem Straßenverlauf. • Biege in die Eisenhandstraße nach rechts ab. • Biege bei der nächsten Kreuzung in die Volksfeststraße nach links ab. • Folge der Volksfeststraße, bis du den Hessenplatz erreicht hast. Er hat Parkcharakter. • Biege links ab und du siehst die Bushaltestelle. Abb. 9.3 zeigt dieselbe Wegbeschreibung – automatisiert erstellt – aus einem Routenplaner, in diesem Fall Google Maps. Jeder einzelne Schritt ist eine Anweisung. Wenn man

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Abb. 9.3 Textliche Handlungsanleitung aus dem Routenplaner von OpenStreetMap. (OpenStreetMap Foundation, o. J.)

den Anweisungen genau folgt, ist die Beschreibung nachvollziehbar und führt zum gewünschten Zielort. Ohne es explizit genannt zu haben, wird bei diesen Beispielen mit Algorithmen ­gearbeitet: „Ein Algorithmus (auch genannt Lösungsverfahren) ist eine Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems in endlich vielen Schritten. Diese Verarbeitungsvorschrift besteht aus einer endlichen Folge von eindeutig ausführbaren Anweisungen, welche bei gleichen Voraussetzungen immer gleiche Ergebnisse liefert. Der Algorithmus wird durch einen aus elementaren Anweisungen bestehenden Text beschrieben.“ (ZUM, 2021, o. S.)

Wie diese algorithmische Routensuche und die Kommunikation des Ergebnisses in den GW-Unterricht eingebunden werden, soll im Weiteren aufgezeigt werden.

9.6 Im unterrichtlichen Kontext Dieses konkrete Unterrichtsbeispiel für die Sekundarstufe I könnte folgendermaßen formuliert sein:3  Eine ähnliche Aufgabenstellung des Autorenteams auf nationaler Maßstabsebene wäre am Bildungsportal von schule.at zu finden: https://gw.schule.at/portale/geographie-und-wirtschaftskunde/lernpakete/detail/weg-routensuche-in-oesterreich.html. 3

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1. Öffne den Routenplaner anachb.vor.at in einem Webbrowser. 2. Wähle zwischen einer der Aufgabenstellungen: a. Wenn du sehr nahe bei der Schule wohnst: Lass dir deinen Weg zu Fuß von zu Hause zur Schule anzeigen. b. Lass dir deinen Fußweg von zu Hause zu deiner Einstiegshaltestelle deines Busses anzeigen. c. Lass dir deinen Fußweg von der Schule zu deiner Bushaltestelle anzeigen. 3. Gib in den Routenplaner die beiden Adressen bzw. die Adresse und deine Haltestelle ein. 4. Vergleiche diese Route mit der, die du täglich nimmst. Notiere deine Überlegungen, warum die Route eventuell abweichen wird. 5. Verfasse auf einem extra Blatt schriftlich eine eigene Anleitung zum Finden der Wegroute. Gib den Ausgangsort an, benenne aber das Ziel deines Weges nicht. 6. Tausche diese Anleitung mit deinem/deiner Sitznachbar*in aus. 7. Löse auch ihre bzw. seine Aufgabenstellung. Suche den Startpunkt im Routenplaner bzw. im digitalen Stadtplan. Folge der Route und ermittle das Ziel. 8. Vergleiche gemeinsam mit deinem/deiner Sitznachbar*in die gefundenen Routen. Erörtere die Unterschiede und eventuell aufgetretene Probleme.

9.7 Reflexion und Evaluierung des Unterrichtsbeispiels Der Vergleich zweier Lösungen (in Pkt. 8 des Unterrichtsverlaufes) ist ein äußerst wichtiger Vorgang, um festzustellen, wie genau eine Handlungsanleitung sein muss, um dieser folgen zu können. Den Lernenden soll bewusst gemacht werden, dass viele Informationen bei der Beschreibung des Vorgangs vorausgesetzt werden, wie zum Beispiel der genaue Startpunkt: Gehe ich vom Haupteingang der Schule weg oder von einem Nebeneingang? Gibt es dort, wo ich in den Bus steige, mehrere Einstiegsmöglichkeiten? Ebenso der Aspekt der Abweichungen zur Lebenswelt der Lernenden (in Pkt. 4 des Unterrichtsverlaufes) ist wesentlich: Kann ein Routenplaner die Abkürzung kennen, die ich täglich nehme? Warum wird mir diese Route vorgeschlagen? Warum nehme ich eine andere? Wie kann ich die vorgeschlagene auf meine favorisierte Route ändern? Im Sinne der Auseinandersetzung mit Codierung als Teil digitaler Kulturen verdienen auch die Zusatzinformationen in den Geomedien Beachtung: Sind diese sparsam wie in der Basemap (Abb. 9.1a)? Oder fordern diese zum Weiterklicken auf wie in Google Maps (Abb. 9.1b)? Weshalb werden Geodienste unterschiedlich gestaltet? Wer trägt jeweils die Herausgeberschaft und welche Interessen verfolgt diese? Alternativ zur Verwendung eines Routenplaners könnte prinzipiell die Aufgabenstellung auch mit einem analogen Stadtplan gelöst werden. Dieser müsste vorab in einer Trafik, einem Buchgeschäft oder einer Tourist*inneninformation gekauft bzw. organisiert werden. Dabei bleibt das Lernen aber auf klassische Kartenlesefähigkeiten des 20. Jahrhundert beschränkt (vgl. Claaßen, 1997). Die Verwendung eines Routenplaners entspricht wohl eher

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der Lebenswelt der Jugendlichen: Dieser Geodienst ist über das Smartphone erreichbar, Internetverbindung über ein öffentliches W-LAN oder mobiles Internet stehen meist zur Verfügung. Alternativ dazu könnte auch ein Offline-Routenplaner verwendet werden, wie er z. B. in Guru-Maps (2020) global verfügbar ist. Weiters bringt die Verwendung des Routenplaners auch die Gelegenheit zu einer weiterführenden Diskussion: Welchen Ausgangspunkt hat der Routenplaner gewählt, welchen Ausgangspunkt wähle ich? Die Verwendung von unterschiedlichen Routenplanern liefert verschiedene Ergebnisse: Der Routenplaner vom Verkehrsverbund Ost-Region (Abb.  9.1a) nimmt trotz gleicher Adresseingabe einen anderen Ausgangspunkt als der Routenplaner von Google Maps (Abb. 9.1b). Auch werden automatisiert Alternativ-Routen angeboten. Das Wissen über Existenz und Verwendung von Algorithmen im Alltag liefert Schüler*innen eine Basis, sich damit kritisch auseinanderzusetzen: Ist dies – auch meiner Meinung nach  – die beste Route? Welche Kriterien und Überlegungen werden bei der Beurteilung in Betracht gezogen, welche werden ignoriert? Muss ich mich an diesen Vorschlag auch halten, weil sie scheinbar objektive Vorzüge bieten, die mir aber nicht bewusst sind? – Die analytische und kritische Auseinandersetzung ist ein wesentliches Anliegen von Spatial Thinking und Spatial Citizenship Education (vgl. Traun et al., 2013; Jekel et al., 2015). Auch fächerverbindende bzw. übergreifende Themen können angesprochen werden: Wie gelangt man zum kürzesten Weg? Wie werden die Algorithmen weiterentwickelt, um zum schnellsten, billigsten oder ökologisch günstigsten Weg zu gelangen? Damit werden Fragen der Visualisierung mit Graphen, einem alltagsrelevanten Inhalt des Mathematikunterrichts, oder bei Modellierung auch des Informatikunterrichts angesprochen. Die Lösung der Aufgabenstellung bleibt dabei nicht im Anforderungsbereich I der Wegbeschreibung, stehen. Schüler*innen gelangen in den Anforderungsbereich II (Vergleichen und Analysieren verschiedener Routenvorschläge) und III (Reflektieren des eigenen Verhaltens, Kritisches Hinterfragen des ermittelten Ergebnisses sowie persönlich Stellung zum besten Weg beziehen). Ein höheres Maß an Eigenleistung der Lernenden wird gefordert. Dieses Unterrichtsbeispiel setzt beim lebensweltlichen Bezug an, bei einer alltäglichen Aufgabe. Es fördert die digitale Kompetenz durch Auswahl und Nutzung eines Softwarewerkzeuges, es fordert die Reflexion der Ergebnisse und der Handlungsweisen ein und leitet Erkenntnisse für zukünftige Handlungsentscheidungen ab. In diesem Sinne folgt es der Kompetenzorientierung.

9.8 Basiskonzepte und geographische Bildung Das vorliegende Unterrichtsbeispiel kann nicht nur wegen des Bezuges zur Spatial Citizenship Education als Teil des Geographie- bzw. GW-Unterrichts betrachtet werden. Zwei weitere Argumentationslinien sprechen dafür:

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1. Der formale Aspekt Folgende Richtlernziele bzw. Kompetenzbeschreibungen des GW-Lehrplans lassen sich zuordnen: • 5. Schulstufe (aufsteigend ab 2023/24 gültig): „… ihr persönliches Leben auf verschiedenen Maßstabsebenen mit Hilfe von Geomedien einordnen und darstellen.“ (Lehrplankommission GW, 2020, S. 5) • 6. Schulstufe: „Erwerben grundlegender Informationen und Fertigkeiten für die richtige Wahl von Verkehrsmitteln.“ (BMUKK, 2000, S. 4) • 7. Schulstufe: „Unterwegs in Österreich: Schüler suchen Verkehrsverbindungen mit Hilfe von Karten aus ihrer unmittelbaren Umgebung, … Dabei soll die Rolle des Verkehrsgeschehens im Alltagsleben … bewusst gemacht werden.“ (Antoni et al., 1985, S. 30,31) 2. Der konzeptionelle Aspekt Dieses Unterrichtsbeispiel knüpft an folgende Basiskonzepten der geographischen Bildung an (Abb. 8.1; vgl. auch Uhlenwinkel, 2013): • Place und Space: Die Suche mittels Routenplaner basiert auf dem physischen Abstand, der Entfernung von Ausgangs- zu Zielpunkt. Hinzu kommt als Eigenschaft die Dauer zur Überwindung dieser Distanz mit einem bestimmten Verkehrsmittel – diese können dem Basiskonzept space zugeordnet werden. Wenn Lernende hingegen von ihrer bevorzugten Route sprechen, wenn sie argumentieren, warum sie diese wählen, spielen viele persönliche Aspekte, Wahrnehmungen und Erfahrungen mit  – dies könnte man dem Basiskonzept place zuordnen. Die bewusste Unterscheidung zwischen space und place und die differenzierte Argumentationsweise sind Teil der geographischen Bildung. • Raumkonstruktion und Raumkonzepte: Ähnlich verhält es sich mit dem Bezug zu verschiedenen Raumkonzepten, beispielsweise jenen von Wardenga (2002, 2017): Die simple Verortung von Ausgangs- und Zielpunkt wäre dem Containerraum zuzuordnen. „Räume als System von Lagebeziehungen materieller Objekte“ (Wardenga, 2002, S.  47) werden bei der Bestimmung der automatisierten Routenwahl durch minimale Distanz oder minimale Zeit angesprochen. Spricht hingegen der Lernende von seinen persönlichen Motiven für eine gewählte Route, kommen „Räume als Kategorien von Sinneswahrnehmung“ zur Sprache. Und blickt man auf die Visualisierung in einem Geodienst, so werden manche Zusatzinformation, wie Geschäfte oder Restaurants, angezeigt, andere aber fehlen; der Algorithmus konstruiert ein bestimmtes Bild vom Raum. • Wahrnehmung und Darstellung/Preception und Representation: Die Überlegungen zum 3. und 4. Raumbegriff, der Raumwahrnehmung und der Raumkonstruktion, lassen sich auf dieses Basiskonzept übertragen. Hinzu kommen wesentliche Fragen der Visualisierung, der Auswahl bzw. Reduktion der Information sowie der graphischen Gestaltung mit Signaturen.

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Darüber hinaus spielt die Algorithmizität (Kap. 8) in diesem Unterrichtsbeispiel eine zentrale Rolle. Es ist ein gutes Beispiel für ubiquitäre Verfügbarkeit und Interaktivität der Geomedien. Es ist aber auch ein Beispiel für die Integration in verschiedene, bestehende Basiskonzepte, wie es die beiden Autoren fordern.

9.9 Fazit Dieses Unterrichtsbeispiel ermöglicht, mit den Daten und Ergebnissen von Geodiensten bewusst umzugehen, Geomedien kritisch und reflektiv zu nutzen sowie eigene Handlungsoptionen zu entwickeln. Damit trägt es zur geographischen Bildung sowie zum Bildungsauftrag des GW-Unterricht genauso bei wie zur Förderung digitaler Kompetenzen innerhalb der digitalen Grundbildung. Sich der Algorithmen in unserem Alltag bewusst zu werden und ihre Verwendung gezielt zu nutzen, sind Teilaspekte von Computational Thinking, einem der Kompetenzbereiche der digitalen Grundbildung. Ebenso werden verschiedene Basiskonzepte der geographischen Bildung, wie place und space, perception und representation sowie Raumkonstruktion und Raumkonzepte angesprochen. In diesem Sinne stellen (digitale) Geomedien nicht nur ein alltägliches Werkzeug dar, sondern tragen als notwendiger Bestandteil zur Medienkompetenz unserer Jugendlichen bei. Dies zu ­fördern, ist Anliegen und regelmäßige Praxis der geographischen Bildung sowie des GW-­Unterrichts.

Anhang Die Initiativen der Bildungspolitik Die Anliegen der digitalen Grundbildung begleiten die österreichische Schule schon fast durch ein halbes Jahrhundert. Es begann 1985/86 mit der Einführung der Computer in der verbindlichen Übung bzw. im Pflichtfach Informatik im letzten Jahr der neunjährigen Schulpflicht. Sie setzte sich fort in der Diskussion über „Trägerfächer“ in der Sek. I um 1990 herum und führte zum Unterrichtsprinzip „Medienerziehung“, zuletzt aktualisiert im Jahr 2014. Auch die Initiativen des „8-Punkte-Planes“ mit der österreichweiten Einführung von Tablets oder Notebooks in der 5. Schulstufe im Schuljahr 2021/22 zählen genauso dazu (vgl. Reiter, 1990; Boyer & Scholda, 1990; BMBF, 2014; BMBWF, 2020). Neben Investitionen in Hardware und der Festlegung der Verantwortlichkeiten wurden die in einzelnen Schulstufen anzustrebenden Kompetenzen konkretisiert und als digi. komp-Kompetenzmodelle publiziert. In jedem der Modelle digi.komp4, digi.komp8 und digi.komp12 wurde festgelegt, was am Ende der 4., 8. oder 12. Schulstufe als digitale, informatische und medienbezogene Kompetenzen zu erreichen ist. DigiKompP legt dies für die Aus- und Fortbildung von Pädagog*innen fest (vgl. BMBWF, o. J.-a). Ein weiterer wesentlicher Schritt war die Verankerung der verbindlichen Übung Digitale Grundbildung in der Sekundarstufe I (vgl. BMBF, 2018). Dies erfolgt mit dem Schuljahr 2018/19 im Umfang von zwei bis vier Wochenstunden innerhalb von vier Jahren, wobei eine Wochenstunde 32 gehaltenen Unterrichtsstunden entspricht.

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Bei der Umsetzung der Inhalte kann jede Schule entscheiden, ob die Stundentafel so abgeändert wird, dass ein eigenes Unterrichtsfach entsteht, ob man versucht, die Inhalte integrativ in den Unterricht der bestehenden Fächer einzubinden oder ob eine Mischform aus eigenem Unterrichtsfach und integrativer Form entwickelt wird. Auf den ersten Blick wirken die Kompetenzbereiche der verbindlichen Übung etwas techniklastig, und es läge nahe, das Ganze auf ein eigenes Fach auszulagern, was aber  – nach Einschätzung des Autorenteams – nur bei einer Minderheit an Schulen erfolgt ist. Die integrative Umsetzung fördert die fachliche und inhaltliche Breite der Anwendungen von digitaler Grundbildung. Das Fach GW mit seinem integrativen Anspruch von geographischer und wirtschaftlicher Bildung ist dafür bestens geeignet. Im Gegensatz dazu zeichnet es sich ab, dass mit dem Schuljahr 2022/23 ein eigener Gegenstand Digitale Grundbildung mit je einer Wochenstunde pro Unterrichtsjahr der Sek. I eingeführt wird. Die Novelle liegt zur Zeit des Redaktionsschlusses im Unterrichtsausschuss des österreichischen Parlaments. Der Lehrplan GW an Österreichs Schulen fordert von jeher schon den Einsatz vielfältiger Medien im Unterricht (vgl. Sitte, 2001, S. 238). Für die Sekundarstufe I gab es ­bereits im Lehrplan 1985/86 ein eigenes Kapitel Funktion der Medien. Im Lehrplan 2000 werden in den didaktischen Grundsätzen Formen der Medienarbeit angesprochen. Die Begriffe „Geomedien“, „digital“ oder „computergestützt“ sind dabei noch nicht zu finden, sehr wohl aber der Begriff „elektronisch“. Mit dem Begriff der Geomedien wird nun im Lehrplan 2023 ein Oberbegriff verwendet, der analog und digital umfasst, zugleich aber einen klaren Hinweis auf die Digitalität und Medienaffinität der Lebenswelt der Jugendlichen und der Gesellschaft im 21. Jahrhundert, den digitalen Kulturen, setzt.

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Ungleichheit in geomedienbasierten Bildungskontexten

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Beiträge einer intersektionalen und soziokritischen Perspektive zu Spatial Citizenship Jana Pokraka

Zusammenfassung

Dieses Kapitel stellt, ausgehend von einem soziokritischen Ansatz der Medienbildung und der Intersektionalitätsforschung, unterschiedliche Metaperspektiven auf digitale, geomediengestützte Raumaneignungsprozesse von Kindern (und Jugendlichen) dar. Hierbei werden Ungleichheitsstrukturen und Machtverhältnisse in Bildungskontexten rund um die Produktion, Rezeption und Reflexion digitaler Geomedien (z. B. Volunteered Geographic Information, Bildung zu Spatial Citizenship) vorgestellt, die in der Gestaltung von Lernumgebungen in diesen Kontexten mitgedacht und reflektiert werden sollten. Dabei geht es in diesem Kapitel zum Beispiel um Fragen nach materieller Ausstattung, Zugänglichkeit, aber auch (Möglichkeiten der) Repräsentation auf unterschiedlichen Geomedienplattformen und wie diese Faktoren von (angehenden) Lehrkräften berücksichtigt und abgemildert werden können. Schlüsselwörter

Geomedien · Partizipation · Intersektionalität · Ungleichheit · Spatial Citizenship

J. Pokraka (*) Institut für Geographie, Universität Duisburg-Essen, Duisburg-Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_10

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10.1 Einleitung Die Bedeutung digitaler Geomedien als raumbezogene Orientierungs- und Kommunikationsmittel in kindlichen Lebenswelten ist allgegenwärtig: Im Zusammenhang der Bedeutungsgewinnung des Web 2.0 nehmen auch Kinder und Jugendliche die Rolle von Produser ein, sind also zeitgleich Produzent*innen und Konsument*innen, insbesondere, wenn sie im Rahmen von Social Media georeferenzierte Informationen in Form von Statusbeiträgen, Bildern oder Hashtags kommunizieren. Dabei wirken soziale Medien in ihrem Verhältnis zum physischen Raum als „zugleich Teil der Welt wie auch ‚Weltlieferanten‘“ (Kanwischer & Schlottmann, 2017, S. 62), ein Verhältnis, das sich auch in dem Ansatz der strukturalen Medienbildung (Jörissen & Marotzki, 2009) deutlich zeigt, welche die Verflechtung von Alltagswelt und Digitalisierung deutlich machen und hier anschließend Implikationen für Selbst- und Weltverhältnisse des Subjekts ableiten. Diese Prozesse stellen neue Möglichkeiten und Herausforderungen für geographische Bildungsprozesse dar, indem Schüler*innen, bewusst oder unbewusst, als Kommunikator*innen raumbezogener Information wirken. Dies erfordert einerseits die Förderung von Reflexionsfähigkeiten über die eigene Nutzung von und Beteiligung an der Verbreitung geomedienbasierter Information, andererseits ein Wissen über wirkmächtige, onlinebasierte Kommunikationsstrategien, insbesondere vor dem Hintergrund von Volunteered Geographic Information (VGI). Diese postulieren in ihrer konzeptionellen Grundidee als Medien der Sammlung und Verbreitung geographischer Information, die von Individuen, die sich nicht als professionelle Kartograph*innen im engeren Sinne verstehen (Feick & Roche, 2013), ein Demokratisierungsversprechen für räumliche Bottom-up-Partizipation. Im Rahmen von VGI können dann potenziell jegliche räumlichen Repräsentationen von Bürger*innen ihre Wirkmächtigkeit entfalten (Sui et al., 2013). Eine Bildung zu Spatial Citizenship (Gryl & Jekel, 2012) schließt an dieses Potenzial von VGI an und zielt auf die Förderung der mündigen Beteiligung aller Bürger*innen an gesellschaftlich-räumlichen Partizipationsprozessen mit Hilfe digitaler, leicht nutzbarer Geomedien ab. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der „Verstrickung von Mensch, digitaler Technik und Gesellschaft“ (Allert et  al., 2017) vor dem Hintergrund einer Kultur der Digitalität (Stalder, 2016). Damit einher gehen Ausprägungen von Ungleichheitsprozessen, die, über die bloße Feststellung eines Digital Divide hinaus, mit digitalisierungsbezogenen Entwicklungen und daran angeschlossenen geographischen Bildungspraktiken und der Prosumption1 von VGI Rahmen der Kontextabhängigkeit von Wissenspraktiken im Kindheits- und Jugendalter einhergehen. Dieses Kapitel stellt die theoretisch-konzeptionellen Ergebnisse einer Forschungsarbeit (Pokraka, 2021) vor, die von Fragen nach macht- und differenzbezogenen Einflussfaktoren auf die Beteiligung an gesellschaftlich-räumlicher Partizipation mittels digitaler Geomedien im Sinne von Spatial Citizenship im Rahmen geographischer Bildung in der (Grund-)Schule geleitet ist. Hierzu werden zunächst, ausgehend von einem sozio Produktion und Konsum.

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kritischen Ansatz technologiebezogener Bildung (Collin & Brotcorne, 2019), allgemeine Einflussfaktoren von Ungleichheit auf digitale Technologien und mit ihnen verbundene Bildungspraktiken beleuchtet. Daran anschließend werden, ausgehend von Ansätzen der geographischen Kindheitsforschung (u. a. Lund, 2009; Jeffrey, 2012) und einer intersektionalen Betrachtung von Differenz und Macht (Crenshaw, 1989; Winker & Degele, 2009), Prozesse und Strukturen der Produktion spezifischer Ungleichheitskonstruktionen in Bildungskontexten im Zusammenhang gesellschaftlich-räumlicher Partizipation einerseits und VGI andererseits verdeutlicht. Abschließend werden Möglichkeiten eines kritisch-­reflexiven Umgangs für Lehrkräfte im Bereich digitaler, geomedienbezogener Bildung eröffnet.

10.2 Digitalisierungsbezogene Bildung und Ungleichheit Wie in der Einleitung angedeutet, nimmt, insbesondere im Rahmen der Entstehung und des zunehmenden Bedeutungsgewinns sozialer Netzwerke, die Komplexität geomedialer Erkenntnis- und Kommunikationsprozesse im Zuge der Digitalisierung stetig zu. So entstehen von ihrer physisch-materiellen Lokalität losgelöste Räume der Aushandlung von Raumdeutungen, die bspw. über die Nutzung von Hashtags auf Instagram und Twitter (Reithmeier & Kanwischer, 2020) kommuniziert werden und den erlebten Raum augmentieren, oder, in der Begegnung mit diesem, Raumdeutungen bereits vorwegnehmen, beispielsweise, wenn Posts zu einem bestimmten Ort mit besonders positiv oder negativ konnotierten Attributen versehen werden. Darüber hinaus beeinflussen Algorithmen die Möglichkeiten der Rezeption und Verbreitung geomedialer Kommunikation durch die intransparente Beeinflussung von Suchstrategien (Dorsch, 2019). Neben dieser technologischen Dimension, die digitalen (Geo-)Medien naturgemäß inhärent ist, spielt jedoch in der Annäherung an die Frage nach macht- und ungleichheitsbezogenen Einflussfaktoren auf geomedial vermittelte räumlich-partizipative Bildungsprozesse die gesellschaftliche Einbettung bzw. die Wechselwirkung zwischen technologischer und gesellschaftlicher Dimension eine bedeutende Rolle (van Dijk, 2017). So geht der soziokritische Ansatz (van Dijk, 2017; Collin & Brotcorne, 2019) der Frage der Produktion digitaler (Un-)Gleichheit nach, mit dem Ziel der kritischen Reflexion des technologieinhärenten Mandats der Demokratisierung und Emanzipierung innerhalb von Bildungsstrukturen und -prozessen (Gryl et al., 2020). Collin und Brotcorne (2019) analysieren das inklusive Potenzial des Einsatzes digitaler Technologien in Bildungskontexten: Sie stellen fest, dass instrumentelle Konzeptionen digitalisierungsbezogener Bildung digitale Technologien als neutrale und wertfreie Entitäten betrachten, die von Nutzer*innen für die von ihnen verfolgten Ziele jeweils frei angepasst werden können und dass der Einsatz digitaler Technologien somit zu mehr Inklusion und Gleichheit führt. Dem stellen sie Forschungserkenntnisse aus Studien zur alltäglichen Nutzung digitaler Technologien (mobile Endgeräte wie Smartphones und Tablets) gegenüber, die postulieren, dass die Disparitäten in Zugang, Nutzung, die Fertig-

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keiten im Umgang und das technologiebezogene Interesse gesellschaftliche, bildungssozialisationsbezogene und soziale Ungleichheiten spiegeln und diese Faktoren wiederum die Partizipationsmöglichkeiten mittels digitaler Technologien sowohl in ökonomischer, politischer als auch in bildungsbezogener Hinsicht beeinflussen (ebd.). Daran anschließend betont auch van Dijk (2017) in seinem Modell des bildungsbezogenen Digital Divide das Zusammenspiel der Bedeutung individueller Faktoren, technologiebezogener Strukturen (im Sinne der Technologie inhärenten Logik der Notwendigkeit des technologischen Fortschritts) und die gesellschaftliche Eingebundenheit von Technologie und Individuum. Er verlangt nach einer kritischen Perspektive der Analyse ungleicher Verhältnisse, die im Kontext von Bildung auch immer die extracurriculare Sphäre miteinschließt, also eine Betrachtung des außerschulischen Nutzungsverhaltens von Schüler*innen und Lehrkräften im Hinblick auf digitale Technologien. Zur Analyse der Produktion von (Un-)Gleichheit wird der folgende Abschnitt zunächst auf eine kindheitsbezogene und intersektionale Betrachtung von Ungleichheit in dem in Spatial Citizenship verankerten Bildungsziel der mündigen gesellschaftlich-räumlichen Partizipation verwiesen, um daran anknüpfend Fallstricke differenzproduzierender Praktiken im Bereich der Produktion und Nutzung digitaler Geomedien im Sinne von VGI aufzuzeigen.

10.3 Digitalisierungsbezogene geographische Bildung, Partizipation und Ungleichheit Die Überlegungen des soziokritischen Ansatzes sollen nun also entlang der Überschneidung von Ungleichheitsfaktoren, digitalen Technologien und dem Bildungsziel der gesellschaftlich-­räumlichen Partizipation weiter geschärft werden. Diese Überschneidung scheint insbesondere an der Diskrepanz zwischen extracurricularem und institutionellem schulischen Lernen und der fehlenden Verknüpfung dieser beiden Sphären deutlich zu werden (Baruch & Erstad, 2018). Mangelnde Reflexion und Anerkennung sowohl der extracurricularen Nutzung digitaler Technologien durch Schüler*innen, Lehrkräfte und bildungsexterne Akteur*innen als auch ihrer gesellschaftlichen Bedeutung (Collin & Brotcorne, 2019) bergen die Gefahr paternalisierender Bildungsangebote, die dann keinen lebensweltlichen Rückbezug erfahren können. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn durch simplifizierte, künstliche Unterrichtssettings digitalisierungsbezogene Kompetenzen vermittelt werden sollen, die nicht an die Lebenswelt der Schüler*innen anknüpfen und auf einer Negierung ihrer inneren Autonomie beruhen. Dabei wirken Differenzkategorien im Zusammenhang von Kindheit/Jugend, Partizipation und digitalen Technologien einerseits auf einer Ebene von mit dem Kindheitsbegriff einhergehenden sozialen Konstruktionen (Skelton, 2009) und der sich daraus ableitenden Dichotomie und generationalen Differenz der beiden Kategorien Kind und Erwachsene*r, beispielsweise in der Frage allgemeiner Bürger*innenrechte (Skelton, 2009). Darüber hinaus wirkt die (Re-)Produktion von Ungleichheit im Rahmen geographischer,

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digitalisierungsbezogener und partizipativer Bildungsprozesse auf Basis weiterer Differenzkategorien, wie beispielsweise des Geschlechts oder des sozioökonomischen Status. So stellt Gallaghers (2011) Studie zur räumlichen Partizipation von Kindern im Grundschulalter multiple und dabei fluide Machtstrukturen zwischen Kindern und Lehrpersonen fest, die sich in Machtaushandlungsprozessen äußern, die dabei gleichzeitig zwischen Kindern u­ ntereinander wirkmächtig werden. Diese Aushandlungsprozesse, die zwischen Strategien und Taktiken2 (de Certeau, 1988) vermitteln, schlagen sich hier entlang von Differenzlinien wie Alter(sstufen) oder Geschlecht nieder (Gallagher, 2011). Diese fluiden (Re-)Produktionen von Ungleichheitskategorien werfen die Notwendigkeit einer Betrachtung multipler Ungleichheitskategorien und ihrer Verschränkungen mit geomediengestützter gesellschaftlich-räumlicher Partizipation im Sinne einer Bildung zu Spatial Citizenship auf. Ein intersektionaler Ansatz erlaubt eine Analyse der komplexen Wirkmechanismen unterschiedlicher Differenzkategorien (bspw. Geschlecht, Ethnisierung, sozioökonomische(r) Status/Klasse …) in der (Re-)Produktion von Ungleichheit, der Entstehung und Verfestigung spezifischer Exklusionsformen und der Marginalisierung in den für diesen Aufsatz zentralen Bildungskontexten (Pokraka & Gryl, 2017, 2018). Der Begriff intersectionality wurde zunächst von Kimberlé Crenshaw (1989) eingeführt, um auf die spezifischen Diskriminierungserfahrungen schwarzer Frauen in den USA aufmerksam zu machen, wobei die Wurzeln des Konzepts an sich im Black Feminism der USA der 1970er-Jahre verortet sind. Der Intersektionalitätsansatz schließt die Möglichkeit der Berücksichtigung individueller und materieller Ungleichheitsprozesse und -strukturen (Verloo, 2006) mit dem Ziel der Offenlegung von Ursachen und Auswirkungen dieser Prozesse von der Mikro-, über die Meso- bis zur Makroebene (Winker & Degele, 2009) ein. Die Mikroebene beschreibt Prozesse der Identitätsbildung, individuelle Inklusion bzw. Exklusion und Zugehörigkeitsgefühle. Die Mesoebene meint die Ebene der Repräsentation, also kulturelle bzw. gesellschaftliche Normen und Werte. Die Makroebene bezieht sich auf übergeordnete Gesellschaftsstrukturen, also beispielsweise die Verteilung materieller Ressourcen innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsordnung.

10.4 (Intersektionale) Ungleichheit in VGI und Spatial Citizenship Education Der soziokritische Ansatz der Medienbildung verfolgt die Ziele der Analyse ungleicher Verhältnisse von digitalen Technologien und einer kritisch-reflexiven Betrachtung des diesen vermeintlich inhärenten Potenzials der Unterstützung von Demokratisierungs- und

 Strategien meint die Durchsetzung eigener Interessen und der Demonstration von Machtpositionen in Räumen der eigenen Machtdominanz, beispielsweise durch die Inszenierung als Kontrollinstanz von Lehrpersonen im Klassenraum. Zweites, also Taktiken, hingegen sind Machtdemonstrationen als widerständige Handlungen in Räumen der vermeintlichen Unterlegenheit beschrieben (de Certeau, 1988). 2

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Emanzipierungsprozessen. Innerhalb dieses Potenzials lässt sich VGI verorten (Elwood, 2006). Raumbezogene Visualisierungsformen wie (digitale) Geomedien sind potenziell wirkmächtige Kommunikationsträger subjektiver Wahrnehmungen von Kindern und Jugend­ lichen, die das Hinterfragen von Machtverhältnissen und Deutungshoheiten in Planungsprozessen unterstützen können (Ramasubramanian, 2010), weil sie als ­ Artikulationsformen subjektiver und struktureller Realitäten ein kritisches, soziales und politisches Bewusstsein erzeugen können (Elwood & Mitchell, 2012). Tuukkanen et al. (2012) hält in dem Zusammenhang makrostruktureller Machtfaktoren fest, dass der Web 2.0-Kontext, in welchem diese räumlichen Repräsentationen in Form digitaler Karten geteilt und interpersonell ausgehandelt werden, die Reichweite der Partizipation von Kindern steigern und neue Formen einer Global Citizenship befördern kann, welche nicht länger von nationalstaatlichen und formellen Bürger*innenrechten abhängig ist (Verschränkung der Differenzkategorien Alter und Staatsangehörigkeit) (ebd.; Gryl et al., 2020). Dies gilt insbesondere dann, wenn die Anforderungen an technische Kompetenzen im Sinne des Spatial-Citizenship-Kompetenzmodells (Schulze et al., 2015) im Hinblick auf die Kartierung durch kartographische Lai*innen möglichst gering gehalten werden. Hier stehen dann anstelle komplexer Geoinformationssysteme einfache digitale Anwendungen, wie beispielsweise Google MyMaps, ScribbleMaps oder ähnliche, im Vordergrund, was die Idee der intuitiven Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der Handhabung aktueller Applikationen aufgreift (Schröder, 2016). Auf der Ebene der sozioökonomischen Ungleichheit müssen beim Einsatz in Bildungskontexten jedoch einerseits den Plattformen inhärente (ökonomische) Interessen der Geoinformationsindustrie und Datensammlung und andererseits die materielle Ausstattung von Schule, Lehrpersonen und Schüler*innen für die Erstellung digitaler Karten mitgedacht und reflektiert werden. Bring-your-own-device-Ansätze könnten hier den Einsatz mobiler Endgeräte der Schüler*innen in den Vordergrund stellen, konfligieren aber oftmals mit formellen Schulordnungen, die das Mitführen von Smartphones untersagen. Auf einer mikrostrukturellen Ebene haben verschiedene Untersuchungen bereits auf Potenziale und Grenzen digitaler Technologien im Kontext geomedienbezogener Bildung, bspw. vor dem Hintergrund von VGI, hingewiesen: Digitale Karten können auf der Subjekt- bzw. Repräsentationsebene als wirkmächtige Kommunikationsmedien räumlicher Konstruktionen dienen und individuelle und kollektive Perspektiven auf Raum sichtbar machen. Sie stellen damit ein Kommunikations- und Erkenntnismedium für Raumaneignungsprozesse dar (vgl. Löw, 2001; Daum, 2006; Deinet, 2009). Aus einer kritischen, intersektionalen Perspektive zeigen sich jedoch geschlechts- und altersbezogene Unterschiede in der Beteiligung an der Produktion geomedialer Inhalte. So verweisen beispielsweise Gardner et al. (2020) auf eine deutliche und seit Jahren anhaltende Dominanz männlicher, erwachsener und gut ausgebildeter Beitragender auf der Kartierungsplattform OpenStreetMap (OSM), die somit auf Basis makrogesellschaftlicher Differenzkategorien, wie Bildungsungleichheit oder Geschlechterdiskriminierung, den Diskurs über die Inhalte der Plattform und somit die Kommunikation und (Re-)Konstruktion des

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virtuellen Raums und des Realraums dominieren (vgl. hierzu auch Haklay & Budhathoki, 2010; Leszcynski & Elwood, 2015). Marginalisierte Positionen, beispielsweise die Sichtweisen auf Raum von Kindern, Frauen oder nicht weißen Menschen, werden hierdurch weniger sichtbar bzw. sogar unsichtbar. Zugleich eröffnen die oben genannten Analysen der beschriebenen Open-Source-Plattform OSM eine Möglichkeit des Bewusstwerdens gesellschaftlich-räumlicher Machtverhältnisse und somit Strategien des individuellen und kollektiven Widerstandes (Pokraka, 2021; Pokraka & Gryl, 2018).

10.5 Fazit Nach den in diesem Kapitel im Kontext von VGI und Spatial Citizenship dargestellten herausfordernden Verflechtungen intersektionaler Ungleichheit, digitaler Technologien und geographischer Bildung ergibt sich nun die Frage nach Lösungsperspektiven oder „Instrumenten“ für den Einsatz digitaler Geomedien in (geographischen) Bildungskontexten, die hier skizziert werden sollen: • Problem- und schüler*innenorientierter Einsatz digitaler Geomedien im Unterricht: Ein problemorientierter Unterricht, der sich an den situativen Lebensrealitäten der Schüler*innen orientiert und eine Verbindung zwischen außerschulischem und schulischem Kontext des Einflusses der Digitalisierung auf die Lebenswelten der Schüler*innen schafft, erscheint zentral, um die Wechselwirkung zwischen fachwissenschaftlichem Inhalt und Lebenswelt zu ermöglichen. Dies beinhaltet, die innere Autonomie der Schüler*innen anzuerkennen, Ungleichheitsstrukturen zu artikulieren und reflektieren und somit Möglichkeiten emanzipatorischer, digitalisierungsbezogener Bildung zu schaffen. • Einsatz leicht nutzbarer Geomedien: Anstelle der auf technologischer Anwendungskompetenz beruhenden GIS-Ausbildung sollten leicht nutzbare, niederschwellige Web-Kartierungstools verwendet werden, welche einerseits die Kommunikation räumlicher Wahrnehmung erleichtern und andererseits die Reichweite dieser Kommunikation, beispielsweise über die Verbreitung und damit die Teilnahme an Diskursen in ­sozialen Medien erhöhen. Hier steht dann auch eine breite Palette der Gestaltungsmöglichkeiten im Vordergrund, die bis hin zu kreativen Praktiken reichen kann und die Bedeutung digitaler Geomedien als Mash-ups (also Verknüpfung unterschiedlicher medialer Darstellung wie Karte, Foto und Text) in den Vordergrund stellt. • Bring-your-own-device-Ansatz: Vor dem Hintergrund sozioökonomischer Differenz der technischen Ausstattung von Schulen erscheint es sinnvoll, Schüler*innen, wenn möglich, die Nutzung ihrer persönlich vorhandenen mobilen Endgeräten (Smartphones) zu ermöglichen. • Politische Formierung: Gesellschaftliche Partizipation und Formierung (Elwood & Mitchell, 2013) sowie Identitätsbildung und hieran angeschlossene, individuelle Formen der Ausdruckspraxis sollten im Vordergrund stehen.

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• Reflexive Grundhaltung: Reflexion und Reflexivität im Umgang mit digitalen Geomedien bedeuten auch, neben einer kritischen Reflexion im Umgang mit dem jeweiligen Geomedium die jeweiligen sozialen und materiellen Voraussetzungen von Schüler*innen und die eigene Eingebundenheit in gesellschaftliche und bildungspolitische Strukturen in die Gestaltung von Lernumgebungen miteinzubeziehen. Ein Einbezug von Perspektiven auf Ungleichheit von VGI ist im Geographieunterricht unabdingbar. Neben den angesprochenen, ersten empirischen Untersuchungen zu Reflexion von Ungleichheitsfaktoren auf Basis von Spatial Citizenship (Pokraka et al., 2021) wäre eine systematische Untersuchung der Berücksichtigung intersektionaler Machtverhältnisse insbesondere im Kontext von Kindheit und weiteren Differenzkategorien auf digitalen, kartengestützten Bürger*innenbeteiligungsplattformen hilfreich, um davon ausgehend Perspektiven zu entwickeln, wie Kinder-/Jugendperspektiven auf diesen Plattformen deutlicher sichtbar gemacht werden können. Daran anschließend wären unterrichtspraktische, empirische Untersuchungen wünschenswert, die aus Schüler*innenperspektive erheben, inwiefern diese sich mit ihren Interessen und lebensweltlichen Bezügen über die Inhalte auf gängigen VGI-Plattformen repräsentiert fühlen, und welche übergreifenden Konzepte zur Diversifizierung dieser Plattformen durch eine Perspektivenanreicherung gelingen kann.

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J. Pokraka

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Perspektive 4

Geographische Bildung in digitalen Kulturen ermöglicht die mündige Teilhabe an gesellschaftlichen Veränderungen mittels digitaler Geomedien. Kap. 11: Basiskommentar Daten, die wir produzieren, werden missbraucht. Algorithmen, die wir nicht durchschauen, bestimmen zunehmend unsere Handlungen. Es stellt sich die Frage, wie wir als Menschen wieder eine stärkere und aktivere Rolle im technologischen Entwicklungsprozess einnehmen können. Hierfür ist eine mündigkeitsorientierte Bildung notwendig, in die das Kapitel aus einer geographischen Perspektive einführt. Kap. 12: Good-Practice-Beispiel Dieses Kapitel stellt ein Good-Practice-Beispiel zur Nutzung digitaler Geomedien mit dem Ziel, einen Beitrag zur mündigen Teilhabe zu leisten, dar. Mithilfe sozialer Netzwerke wird im Kontext einer kritischen Bildung für nachhaltige Entwicklung unter #saubere Energie die mediale Repräsentation von Unternehmen (am Beispiel des Onlinedienstes Instagram) analysiert und reflektiert sowie für Bildungsprozesse im Rahmen des Geographieunterrichts in Wert gesetzt. Kap. 13: Forschungsbeitrag In diesem Kapitel werden die Potenziale von digitalen Strategiespielen zur Förderung der mündigen Entscheidungsfindung im Geographieunterricht mit Blick auf Themen wie Stadtentwicklung, Migration, Klimawandel und nachhaltige Ressourcennutzung diskutiert. Im Mittelpunkt stehen theoretische Überlegungen zum didaktischen Design von Entscheidungssituationen sowie empirische Erkenntnisse aus qualitativen Interviews mit Designern bekannter Spiele wie Anno oder Democracy.

Mündigkeit als Leitwert geographischer Bildung in einer Kultur der Digitalität

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Dimensionen und Konzepte Detlef Kanwischer und Christian Dorsch

Zusammenfassung

Im Kontext einer Kultur der Digitalität wird das Ende der bedingungslosen Unterwerfung des Menschen gegenüber Digitalisierungsprozessen proklamiert. Daher verwundert es auch nicht, dass der Begriff der Mündigkeit in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnt. Damit einhergehend stellt sich die Frage, was mündigkeitsorientierte Bildungsprozesse kennzeichnet. Hierauf bezugnehmend werden wir Dimensionen einer mündigkeitsorientierten Bildung definieren. Darauf aufbauend werden Bildungskonzepte, wie z. B. Spatial Citizenship Education und integrierte Ansätze der Medienbildung, vorgestellt, die es ermöglichen, die unterschiedlichen Dimensionen einer mündigkeitsorientierten Bildung zu fördern, damit Jugendliche in der digitalen Gesellschaft mündig agieren können. Abschließend erweitern wir den Blickwinkel und ordnen unsere Ausführungen in den Perspektivrahmen der „Digitalen Souveränität“ ein. Schlüsselwörter

Mündigkeit · Reflexion · Spatial Citizenship · Medienbildung · Digitale Souveränität

D. Kanwischer (*) Geographie und ihre Didaktik, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Dorsch Geographiedidaktik, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_11

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140

D. Kanwischer und C. Dorsch

11.1 Gegenbotschaften zum Thema Mündigkeit im Kontext von Digitalität 2019 wurden die Ergebnisse der International Computer and Information Literacy Study 2018 (Eickelmann et al., 2019) veröffentlicht. Die Ergebnisse waren für Deutschland ernüchternd: Ein Drittel der Schüler*innen kann kaum oder nur schlecht mit einem Computer oder vergleichbarer Technik umgehen (ebd., S. 281). Die Politik, vorgewarnt durch die ähnlichen Ergebnisse von ICILS 2013, hat auf diese Defizite reagiert und pumpt seit einigen Jahren Digitalisierungsmilliarden in den Bildungssektor. Begleitet werden diese Maßnahmen mit bildungspolitischen Strategiepapieren. Das Konzept der Kultusministerkonferenz „Bildung in der digitalen Welt“ (KMK, 2016) wird besonders häufig zitiert, wenn es um zukunftsweisende Ideen für das Bildungssystem geht, obwohl das Papier mit einem eher einseitigen Bildungsbegriff operiert. Zwar heißt es auch hier zum Bildungsauftrag der allgemeinbildenden Schulen in fast kantischer Wortwahl, die Schüler*innen sollten zu einem „selbstständigen und mündigen Leben in einer digitalen Welt befähigt werden“ (KMK, 2016, S. 11). Doch zeigt Macgilchrist (2017), dass das Papier den Individuen in der digitalen Welt nur einen beschränkten Handlungsspielraum zugesteht und von einem funktionalistischen Medienverständnis geprägt ist, das vor allem auf die ökonomische Verwertbarkeit der zu erlernenden Kompetenzen abzielt (Macgilchrist, 2017, S. 147). Das KMK-Strategiepapier ist nur ein Beispiel dafür, wie der Begriff der Mündigkeit im Kontext der Digitalität verwendet wird – oftmals als Leerformel anstatt als Lehrformel. Dazu gesellt sich noch ein auffälliger Kontrast zwischen der Zielstellung einer propagierten mündigkeitsorientierten Bildung und den daraus abgeleiteten Implikationen, die i.  d.  R. auf technisch-instrumentelle Fähigkeiten abzielen. Eine solche Sichtweise verkennt, dass es bei der erfolgreichen Förderung eines mündigen Agierens in der digitalen Welt um mehr geht als um technische Aufrüstung und Informatikkenntnisse. Eine mündigkeitsorientierte Bildung wird durch solche Initiativen und Verlautbarungen konterkariert. Einen differenzierteren Zugang bezüglich der Perspektiven, die bei einer digitalen Bildung in den Blick genommen werden müssen, liefert das Frankfurt-Dreieck zur Bildung in der digital vernetzten Welt (Abb. 11.1). Die Abbildung verdeutlicht, dass ein Betrachtungsgegenstand, wie z.  B. digitale Karten-­Mashups oder ortsbezogene Hashtags in sozialen Medien, aus unterschiedlichen Perspektiven auf unterschiedlichen Prozessebenen in den Blick genommen werden muss. Die Autor*innen betonen, dass „eine umfassende Analyse, Reflexion und Gestaltung des digitalen Wandels nur gelingen (kann), wenn alle drei Perspektiven systematisch und sich wiederholend eingenommen werden“ (Weich, 2019, S. 7). Dies ist ein guter Ausgangspunkt für die Frage, wie dieser Ansatz, aber auch die Zielvorstellungen anderer Strategiepapiere, im Hinblick auf mündigkeitsorientierte Bildungsprozesse ausgestaltet und in geographische Vermittlungsprozesse implementiert werden können. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werden wir die Relevanz unterschiedlicher Dimensionen einer mündigkeitsorientierten geographischen Bildung anhand von konkreten Beispielen verdeutlichen. Darauf aufbauend werden Bildungskonzepte vorgestellt, die es ermöglichen, die

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Abb. 11.1 Frankfurt-Dreieck zur Bildung in der digital vernetzten Welt (Weich, 2019, S. 8)

u­ nterschiedlichen Dimensionen einer mündigkeitsorientierten Bildung zu fördern, damit Jugendliche mündig agieren können. Abschließend erweitern wir den Blickwinkel und ordnen unsere Ausführungen in den Perspektivrahmen der „Digitalen Souveränität“ ein.

11.2 Dimensionen einer mündigkeitsorientierten geographischen Bildung im Kontext der Digitalität An dieser Stelle kann keine ausführliche ideengeschichtliche Einordnung des Begriffs der Mündigkeit erfolgen. Auch die Diskussion um eine digitale Mündigkeit, bei der Mündigkeit i. d. R. nicht detailliert erläutert oder als ein Konstrukt aus unterschiedlichen Ansätzen der Literacy-Forschung verstanden wird (Hoffmann et  al., 2019), soll hier nicht aufgegriffen werden. Wir möchten vielmehr unterschiedliche Dimensionen vorstellen, die in den zahlreichen Definitionen immer wieder mit Mündigkeit verknüpft werden. Ohne den Anspruch zu erheben, Mündigkeit in all ihren Facetten abzubilden, sind die drei Dimensionen Struktur- und Selbstreflexivität, Sich-seiner-selbst-bewusst-Sein und Autonomie die Kern­elemente eines Konstrukts, das wir als mündigkeitsorientierte Bildung bezeichnen (vgl. Dorsch, 2019; Dorsch & Kanwischer, 2020). Die einzelnen Dimensionen werden im Folgenden skizziert.

11.2.1 Struktur- und Selbstreflexivität in der digitalen Gesellschaft Wie schon anhand des Frankfurt-Dreiecks aufgezeigt, ist Reflexivität ein Kernelement der digitalen Bildung. Scott Lash (1996) unterscheidet zwischen der „Strukturreflexivität“ als die Reflexion auf die „sozialen Existenzbedingungen der Handelnden“ und die

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D. Kanwischer und C. Dorsch

„Regeln und Ressourcen“ der gesellschaftlichen Struktur und der „Selbstreflexivität“, die sich auf das eigene Handeln und Denken bezieht. So verlangt z. B. der Umgang mit ortsbezogenen Hashtags die Fähigkeit der Strukturreflexivität, wenn Posts im Hinblick auf die damit verknüpften Raumkonstruktionen hinterfragt werden müssen. Wenn die Beiträge darüber hinaus bzgl. ihres handlungsleitenden Potenzials beurteilt werden, kommt die Selbstreflexivität in der Frage zum Tragen, zu welcher Handlung mich ein Post verleitet. Algorithmen, wie sie z. B. in Navigationssystemen angewendet werden, müssen im Fokus sowohl der Struktur- als auch der Selbstreflexivität stehen, da sie konkrete Auswirkungen auf den Entscheidungsspielraum des Individuums haben. Ihre Funktionsweise gilt es zu verstehen, um mögliche Formen des Widerstands gegen sie zu erproben (Allert & Richter, 2017, S. 23). Auch die gestiegenen Partizipationsmöglichkeiten in der digitalen Gesellschaft verlangen (selbst-)reflexive Fähigkeiten: So müssen Nutzer*innen in der Lage sein, ihre eigenen Sichtweisen auf Umwelt und Raum mittels digitaler Medien, wie z. B. Karten, Blogs, Meinungsforen u. Ä., zu produzieren und zu kommunizieren und damit den bisher meist durch Expert*innen vorgenommenen (Raum-)Deutungen eine eigene Perspektive entgegenzustellen, um beispielsweise an räumlichen Planungsprozessen teilzuhaben. Gleichsam sollten die Auswirkungen der Digitalität, wie z. B. der Umgang mit persönlichen raumbezogenen Daten durch Unternehmen und Kommunen, Ziel der Selbst- wie auch der Strukturreflexivität sein. Selbstreflexivität ist letztlich auch die entscheidende Fähigkeit, um sich seiner selbst bewusst zu werden.

11.2.2 Sich-seiner-selbst-bewusst-Sein in der digitalen Gesellschaft Medien verändern die Erfahrungsmöglichkeiten, bieten neue Erfahrungsräume und verändern folglich den Selbst- und Weltbezug des Individuums. In der Digitalität spielen hierbei insbesondere Algorithmen eine entscheidende Rolle. Vor dem Hintergrund unseres Nutzungsverhaltens bestimmen sie z.  B., welche Online-Werbung uns angezeigt wird, welche Posts für uns interessant sind und welche Musik oder Bücher andere Menschen gehört oder gelesen haben. Introna (2017, S. 69) verdeutlicht dies am Beispiel von Online-­ Werbung: „So verstanden sind die auf dem Bildschirm erscheinenden Werbungen nicht ‚nur‘ Werbungen, sie sind gleichzeitig Anregungen zu dem Subjekt, das ich werden will“. Angesichts dieser Entwicklung ist davon auszugehen, dass Algorithmen die Art und Weise der subjektiven Wahrnehmung  – auch von Raum  – wesentlich mitbestimmen und die Praktiken des alltäglichen Lebens formen (Kap.  23). Dies führt wiederum zu Veränderungen des Selbstbezugs und der Weltanschauung, was zu veränderten sozialräumlichen Strukturen führt, die wiederum unser individuelles und gesellschaftliches Leben verändern. Ob die gesellschaftlichen und räumlichen Konsequenzen dieser soziotechnischen Systeme wünschenswert sind oder nicht, kann nur entschieden werden, wenn das Individuum sich seiner selbst bewusst ist. Nur so ist in der Folge auch autonomes Handeln möglich.

11  Mündigkeit als Leitwert geographischer Bildung in einer Kultur der Digitalität

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11.2.3 Autonomie in der digitalen Gesellschaft Die im vorherigen Punkt angesprochenen Algorithmuskulturen haben auch einen massiven Einfluss auf die Autonomie des Individuums. Die von Algorithmen für uns ausgewählten Inhalte und Werbeanzeigen ändern sich durch Geolokationsdaten. Je nachdem, wo sich eine Person gerade aufhält, werden andere Nachrichten und Werbebotschaften gesendet. Somit wird die Welt von den Algorithmen für die Nutzer*innen nicht mehr nur repräsentiert, sondern immer eigens neu generiert (Stalder, 2017, S. 189). Die Parameter dieser Selektion sind meist unbekannt. Somit schwindet der menschliche Ermessensspielraum für Entscheidungen, und Autonomie wird beschränkt. Aus unternehmerischer und politischer Sicht sind erfahrungsgemäß nur wenige Beschränkungen und gesetzliche Flankierungen der Digitalisierung zu erwarten. Die Fähigkeit Widerstand zu leisten als Form des autonomen Handelns erhält dadurch eine zusätzliche Relevanz. Hierzu sind die beiden zuvor beschriebenen Dimensionen mündigkeitsorientierter Bildung Voraussetzung: Nur durch Reflexivität und dem Sich-seiner-selbst-bewusst-Sein, also dem Wissen z. B. um die eigenen Interessen, ist selbstbestimmtes und damit autonomes Handeln möglich (vgl. auch Häcker, 2007, S. 64 f.).

11.3 Förderung einer mündigkeitsorientierten Bildung Im Rahmen dieses Kapitels kann keine umfassende Synopse von Ansätzen, die eine mündigkeitsorientierte geographische Bildung fördern, vorgenommen werden. Wir konzen­trieren uns daher auf aktuelle Diskussionen. Hierbei schauen wir auch über den Tellerrand der Geographiedidaktik hinaus. Allert und Richter (2017) setzen sich überfachlich mit den Bedingungen der Kultur der Digitalität auseinander und analysieren, welche Anforderungen durch sie an die schulische Bildung gestellt werden. Sie sehen die gestaltende und produktive Auseinandersetzung mit der Unbestimmtheit digitaler Kulturen im Zentrum der Medienpädagogik. Diesbezüglich muss die Kreativität der Lernenden gefördert werden. Kreative Praktiken bezeichnen in diesem Sinne „kollektiv reproduzierte Handlungs- und Deutungsmuster zum produktiven Umgang mit Situationen, die unbestimmt, ambivalent, handlungs- und deutungsoffen sind“ (Allert & Richter, 2017, S. 28). Diese können in der Schule vermittelt werden. Kreativität und Innovationsfähigkeit, d. h. das reflektierte Hinterfragen und Neugestalten bestehender Routinen, sind zudem eine Voraussetzung für mündiges bzw. autonomes Handeln (Gryl, 2013, S. 19), um die eigenen Interessen wirkungsvoll vertreten zu können. Ebenfalls überfachlich ist der Ansatz der strukturalen Medienbildung (Jörissen & Marotzki, 2009). „Der Welt- und Selbstbezug“ des Individuums wird demzufolge durch das Digitale verändert, was sich wiederum auf die Gestaltung von Bildungsprozessen auswirkt (ebd., S.  109). Die Autoren verweisen dabei auf vier Dimensionen der Lebensweltorientierung, die auf Kant zurückgehen und die kritische Analyse und autonome Reflexion in den Fokus setzen. Wie diese Dimensionen als Analyseraster für die Untersuchung von

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D. Kanwischer und C. Dorsch

Raumkonstruktionen durch Hashtags in sozialen Medien dienen können, zeigen Kanwischer und Schlottmann (2017). Dorsch und Reithmeier (2021) ergänzen die Hashtaganalyse um den Aspekt der Algorithmizität, die sich z. B. darin äußert, dass Beiträge von den Autor*innen angepasst werden, um in den Newsfeeds der sozialen Medien besser platziert zu werden. Hierbei postulieren die Autor*innen, genauso wie Gryl et al. (2020), das Ausprobieren von algorithmischen Systemen in Bildungskontexten, um die Autonomie des Individuums gegenüber den Systemen zu fördern. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen Hintermann et al. (2020), jedoch mit der Schwerpunktsetzung des Sich-seiner-selbst-bewusst-Seins. Im Rahmen des Projektes MiDENTITY („(Mediale) Identitätskonstruktionen, transnationale Selbstverortungen & verkürzende Fremdzuschreibungen in der Migrationsgesellschaft am Beispiel von Jugendlichen in Wien“) haben sie ein „Toolkit for critical geographic media literacy“ entwickelt, das Schüler*innen ermöglicht, „to develop a self-determined way of media use thereby reflecting on their own online practices of social in- and exclusion“ (ebd., S. 115). Der Ansatz, der im Kontext von Mündigkeit, Digitalität und geographischer Bildung in den letzten Jahren umfassend ausformuliert wurde, ist das Konzept einer Bildung für Spatial Citizenship (Gryl & Jekel, 2012; Schulze et al., 2015). Der Spatial Citizen ist in der Lage, mit Hilfe digitaler Geomedien gesellschaftliche Diskurse zu initiieren. Bürger*innen sollen so ermächtigt werden, sich öffentliche Räume mündig anzueignen und an räumlichen Gestaltungsprozessen zu partizipieren. Die zu fördernden Fähigkeiten gehören dabei zu sechs Kompetenzdimensionen: Die 1. Dimension, die technisch-methodischen Kompetenzen, umfassen die Fähigkeiten, Karten und digitale Kartendienste zur Navigation einzusetzen, gleichzeitig aber auch Analyseaufgaben damit zu lösen. Die 2. Kompetenzdimension umfasst zum einen Reflexivität als das „Wissen um die Konstruiertheit von Geomedien“ und die Fähigkeit zur Dekonstruktion der dahinterstehenden Intentionen. Zum anderen betrifft sie den reflektierten Umgang mit Geomedien inklusive des Bewusstseins darüber, wie die eigene Wirklichkeit aus diesen Quellen konstruiert wird. Die Kommunikationskompetenz als 3. Dimension hilft dabei, die eigenen Raumkonstruktionen zielorientiert zu verbreiten, um somit am räumlichen Diskurs teilhaben zu können. Dies kann beispielsweise in Form alternativer Bedeutungszuweisungen in Bezug auf Raum in den sozialen Medien stattfinden. Die 4. und 5. Dimension sind im Kompetenzmodell fachspezifisch bzw. fachübergreifend: Zunächst ist dies (4.) die räumliche Dimension als genuin geographische Perspektive, die das Wissen über relationale und absolute Raumkonzepte einschließt. Die fachübergreifende Dimension der politischen Bildung (5.) ist insbesondere im Kontext mündigkeitsorientierter Bildung von Relevanz. Zuletzt (6.) wird der Spatial Citizen als Lehrende*r in Schule und Hochschule angesprochen. Er*Sie ist fähig, Lernumgebungen so zu gestalten, dass Lehr-Lernprozesse den Ansprüchen des Spatial-­Citizenship-Ansatzes entsprechen. Auch wenn der Ansatz in den letzten Jahren national und international stark rezipiert und in unterrichtspraktische Beispiele übersetzt wurde, so besteht in Bezug auf technologische Entwicklungen, gesellschaftliche Veränderungen und zielgruppenspezifische Kriterien Bedarf zur Weiterentwicklung.

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145

11.4 Fazit Die aufgezeigten Konzepte eignen sich, um den Begriff der Mündigkeit, wie er in den zahlreichen Strategiepapieren zu einer Bildung in der Digitalität als Pathosformel verwendet wird, mit Leben zu füllen. Abschließend möchten wir den Blick noch ein wenig weiten und das Konzept der mündigkeitsorientierten Bildung in einen größeren Kontext stellen. Insbesondere seit den Enthüllungen des Whisteleblowers Edward Snowden über die digitalen Überwachungstätigkeiten des US-Geheimdienstes wurde der Ruf nach einer „Digitalen Souveränität“ lauter. In seinen Ursprüngen Mitte der 1970erJahre wird unter dem Begriff die Stärkung der Souveränität der EU-Staaten und der europäischen Wirtschaft verstanden, die sich gegen die gefühlte digitale Übermacht US-amerikanischer Technologiekonzerne und des US-Geheimdienstes behaupten sollten (Couture & Toupin, 2019, S. 2317; Pohle, 2020, S. 5). Darüber hinaus nimmt das Leitbild aber auch die Bürger*innen in den Fokus, die digitale Technologien selbstbestimmt nutzen sollen, um dadurch in der Digitalität mündig agieren zu können. Der sogenannte Bildungsrat der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. entwirft in seinem Gutachten „Digitale Souveränität und Bildung“ das Bild eines Menschen, „der Digitalisierung produktiv aufnimmt und mitgestaltet, aber auch kritisch verarbeitet“ (Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, 2018, S.  9). Der Begriff der Digitalen Souveränität spricht neben den Nutzer*innen auch den Produzent*innen von digitalen Anwendungen sowie den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine besondere Verantwortung zu, die überhaupt erst einen souveränen Umgang mit digitalen Medien ermöglichen können: Um die informationelle Selbstbestimmung in breiten Bevölkerungsgruppen zu stärken, sollen sich digitale Anwendungen beispielsweise durch einfache Bedienung auszeichnen, Software soll im Sinne von Open Source frei verfügbar und veränderbar sein, Codes von Algorithmen offengelegt werden. Auf individueller Ebene umfasst digitale Souveränität dann die persönliche Kontrolle über Daten, Technologie und Software und forciert entsprechende Bildungsprogramme (Couture & Toupin, 2019, S. 2315). Die mit dem Leitbild verbundenen Schlagworte der Unabhängigkeit, Kontrolle und Autonomie sind natürlich anschlussfähig an eine mündigkeitsorientierte Bildung. Wenn Couture und Toupin (2019, S. 2317) schreiben, dass Digitale Souveränität vor allem auch „opposition to different kinds of hegemonies“ umfasst, also Widerstand beispielsweise gegenüber der Vormachtstellung der US-amerikanischen IT-Unternehmen, dann entspricht dies der Forderung nach einer Fähigkeit zum Widersetzen, wie sie schon von Adorno gefordert wurde. Doch wird in der Diskussion um den Begriff der Souveränität auch deutlich, dass ein mündiges Agieren in der Digitalität ohne die geeigneten Rahmenbedingungen nicht möglich ist. Dies betrifft digitale Infrastrukturen, die gerade in Deutschland in weiten Teilen noch nicht ausreichend ausgebaut sind, genauso wie gesetzliche und politische Flankierungen: Solange die Funktionsweisen von Algorithmen für die Nutzer*innen nicht offengelegt sind, die Voten auf digitalen Beteiligungsplattformen keinen wirklichen Einfluss auf politische Entscheidungen haben und von Kommunen erhobene Daten nicht frei

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D. Kanwischer und C. Dorsch

zugänglich sind, kann von digitaler Souveränität keine Rede sein. Umso wichtiger ist es, dass wir Kinder und Jugendliche so fördern, dass sie zukünftig den digitalen Wandel mündig gestalten können.

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11  Mündigkeit als Leitwert geographischer Bildung in einer Kultur der Digitalität

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#Saubere Energie

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Mit Hilfe digitaler (Geo-)Medien zur mündigen Teilhabe im Rahmen einer kritischen Bildung für nachhaltige Entwicklung Miriam Kuckuck und Anne-Kathrin Lindau

Zusammenfassung

Eine mündige Teilhabe an der digitalen Welt zu unterstützen, ist ein wichtiges Ziel von Geographieunterricht und damit eine wesentliche Anforderung an die universitäre Lehrkräftebildung. Anhand eines Seminarkonzeptes wird die Rolle sozialer Netzwerke und Onlinedienste zum Thema „Saubere Energie“ im Kontext einer kritischen Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) dargestellt, indem die Lehramtsstudierenden die mediale Repräsentation von Wirtschafts- und Energieunternehmen analysieren sowie kritisch mit Blick auf die Nachhaltigkeitsdebatte sowie das Konzept BNE reflektieren. Dazu werden ein Stufenmodell kritisch-reflexiven Denkens für die Lehrkräftebildung genutzt sowie partizipativ Handlungsempfehlungen für die zukünftige Unterrichtstätigkeit sowie die eigene Professionalisierung von Lehrkräften abgeleitet. Schlüsselwörter

Kritische BNE · Mündige Teilhabe · Energie · Soziale Netzwerke

M. Kuckuck Institut für Geographie und Sachunterricht der Bergischen, Universität Wuppertal, Wuppertal, Deutschland E-Mail: [email protected] A.-K. Lindau (*) Institut für Geowissenschaften und Geographie, Martin-Luther-Unversität Halle-Wittenberg, Halle, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_12

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12.1 Einleitung Wichtiges Ziel von schulischer Bildung ist es, Schüler*innen am Ende ihrer Schulzeit als zukünftige und mündige Entscheidungsträger*innen in ihre berufliche und private Zukunft zu entlassen. Dieses in den bildungsrelevanten Dokumenten (z.  B. in Schulgesetzen, Bildungsplänen und Lehrplänen) verankerte übergeordnete Ziel liegt auch im Verantwortungsbereich von (angehenden) Lehrkräften (u. a. DIPF, 2021). Aufgrund der zunehmenden Digitalisierung erweitern sich die Anforderungen an die Lehrkräftebildung (u. a. KMK, 2019). Angehende Lehrkräfte müssen Kompetenzen erlangen, um fachbezogen die Potenziale und Herausforderungen der Digitalisierung zu erkennen, zu verstehen und zu reflektieren. Darüber hinaus gilt es, geeignete technologiegestützte Lehr- und Lernumgebungen zu gestalten, die ein individuelles Lernen ermöglichen (Gryl & Jekel, 2012; Brendel, 2017). Neben spezifischen Kompetenzen, die sich auf die Initiierung des fachlichen sowie des damit verbundenen (geo-)digitalen Lernens beziehen, ist es bedeutsam, den Fokus auf die Befähigung zur Reflexivität als eine zentrale Dimension der Mündigkeit zu legen (Dorsch, 2019). Aus der Perspektive der Lehrkräftebildung meint dies im Rahmen der Professionalisierung, sich des kritisch-reflexiven Umgangs mit den neuen gesellschaftlichen Anforderungen und dem damit zusammenhängenden „Wahrnehmen von Verantwortung im unterrichtlichen Umgang mit digitalen Medien und Technologien“ (Dorsch et al., 2020, S. 8) und deren Einbindung im eigenen Unterricht bewusst zu werden. Damit Schüler*innen für die Problemstellung, dass digitale (Geo-)Medien wie Karten, Fotos und soziale Medien stets einen eingeschränkten und sozial konstruierten Blick auf die Welt geben, sensibilisiert werden, ist es nötig, diese Fragestellungen auch in die Lehrkräftebildung zu integrieren (Harley, 1989; Dorsch, 2019). Durch die kritisch-reflexive Annäherung an ein aktuelles, viel diskutiertes und kontroverses Thema, wie zum Beispiel „Saubere Energie“, können durch digitale (Geo-)Medien „vielfältige räumliche Informationen und Diskurse“ (Schulze et  al., 2020, S.  3) vernetzt werden. Dieser ersten Ebene der Einnahme einer kritischen Perspektive schließt sich im Rahmen der „doppelten Professionalisierung“ eine zweite Ebene an, die das Sich-Bewusst-Werden der Verantwortung innerhalb der eigenen Lehrkräfterolle für das Auslösen kritisch-reflexiver Lernprozesse im (Geographie-)Unterricht umfasst (Kramer & Pallesen, 2019). Ziel des Good-Practice-Beitrages ist es, ein geographiedidaktisches Lehrkonzept für die universitäre Phase der Lehrkräftebildung vorzustellen, das den Ansatz der Entwicklung einer mündigen Teilhabe mit Hilfe von Geomedien und dem fächerübergreifenden Konzept einer (kritischen) Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) mit Fokus auf Reflexivität im Bereich „Saubere Energie“ (SDG 7) verfolgt.

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12.2 Mündige und digitale Teilhabe durch digitale (Geo-)Medien und soziale Netzwerke Politische Bildung und die Befähigung zur Mündigkeit sind in deutschen Schulgesetzen und Curricula fest als Bildungsziele verankert. Politische Bildung gilt als Unterrichtsprinzip für alle Fächer aller Schulformen und Klassenstufen (Budke et  al., 2016). Eine Aufgabe von (Geographie-)Unterricht in demokratischen Staaten ist es, bei Schüler*innen ein grundlegendes Verständnis von Demokratie zu entwickeln und sie im Rahmen einer „politischen Mündigkeit“ (GPJE, 2004, S. 9) zu befähigen, eigene Urteile zu fällen, um am gesellschaftlichen Leben partizipieren zu können (Budke, 2016). Eine mündige Teilhabe an der digitalen Welt wird in Anlehnung an Schulze et al. „als Fähigkeit verstanden, der digitalen Kultur selbstbestimmt und kritisch-reflexiv gegenüberzutreten“ (2020, S. 114). Durch die KMK-Vorgabe zur digitalen Bildung (KMK, 2017) sollen Schüler*innen seit dem Schuljahr 2018/19 sowohl in der Grundschule als auch an den weiterführenden Schulen Fähigkeiten in sechs Kompetenzbereichen entwickeln. Diese Kompetenzbereiche können mit den bereits bestehenden fachdidaktischen Prinzipien und Basiskonzepten des Geographieunterrichts (z.  B.  Mensch-Umwelt-System, Raumkonzepte, Systemkompetenz, BNE) verknüpft werden (DGfG, 2020). Digitale (Geo-)Medien und soziale Netzwerke können so im Geographieunterricht genutzt werden, um eine mündige Teilhabe zu fördern. Studierende (wie auch Schüler*innen) müssen bei der Vielzahl an Berichten und Informationen unterscheiden können, welche davon plausibel und zuverlässig erscheinen. Zum Beispiel können Influencer*innen einen enormen Einfluss auf Meinungsbildungsprozesse haben, wobei dieser identifiziert und beurteilt werden können muss. Meinungsbildung und Meinungsmanipulation (Fake News, Propaganda, Falschmeldungen, inhaltlich stark gekürzte Informationen) sind häufig selten zu unterscheiden (Egtved, 2019). Ebenso gehört zu einer souveränen Teilhabe, dass die angehenden Geographielehrkräfte auch selbstkritisch und selbstreflexiv über die eigene Nutzung als Konsument*in und Produzent*in von digitalen Medien reflektieren. Gerade die sozialen Netzwerke wie Instagram können hier herangezogen werden. Mit Hilfe von Hashtags (#) werden dort Beiträge (Fotos, Videos, Texte) mittels Schlagworten vernetzt und so einem thematischen Kontext zugeordnet, wodurch realweltliche Räume durch georeferenzierte Ortsangaben digital konstruiert und subjektiv mit Bedeutungen belegt werden können (Lauffenburger et al., 2020). So kann jede*r in sozialen Netzwerken durch visuelle und sprachliche Mittel eigene Informationen, Manipulationen, Meinungen etc. verbreiten und/oder konsumieren, aufgreifen und weiter nutzen. An dieser Stelle wird an den Spatial-Citizienship-Ansatz angeknüpft (Gryl & Jekel, 2012), der unter Berücksichtigung von digitalen (Geo-)Medien und Reflexivität aus geographischer Perspektive gesellschaftliche Herausforderungen reflektiert, kommuniziert und damit zu einer mündigen Teilhabe beiträgt (Dorsch et al., 2020, S. 7).

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12.3 Reflexivität in einer BNE zum Themenbereich #Saubere Energie „Leitbild der Agenda 2030 ist es, weltweit ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen und gleichzeitig die natürlichen Lebensgrundlagen dauerhaft zu bewahren. Dies umfasst ökonomische, ökologische und soziale Aspekte. Dabei unterstreicht die Agenda 2030 die gemeinsame Verantwortung aller Akteure: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Zivilgesellschaft – und jedes einzelnen Menschen.“ (Die Bundesregierung, 2021b, o. S.)

Ein Beispiel dafür stellt der aktuell intensiv geführte Diskurs zur Energiewende dar, so ist auch eines der 17 Ziele der Agenda 2030 bezahlbare und saubere Energie (SDG 7). Die fast vollständige Dekarbonisierung der Energiesysteme, eine Fokussierung auf erneuerbare Energien, Einsparmöglichkeiten für Energie und eine größtmögliche Energieeffizienz sowie ein bedarfsgerechter und bezahlbarer Zugang zu Energie für alle Bürger*innen sind die Ziele der Staatengemeinschaft. Bei erneuerbaren Energieträgern (Wind, Sonne, Wasser, Erdwärme) wird von sauberer Energie gesprochen, wohingegen fossile Energieträger (Braunkohle, Steinkohle, Erdgas, Erdöl) nicht dazu gehören (Die Bundesregierung, 2021a). Häufig wird in diesem Zusammenhang diskutiert, ob Energie aus Kernkraftwerken als sauber gilt. Laut Umweltbundesamt (2019) ist Atomstrom nicht CO2-neutral und gehört daher nicht zur „sauberen Energie“. Die Energiewende lässt sich jedoch nicht allein durch technische Innovationen umsetzen, sondern bedarf einer systematischen Vernetzung von technischen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Einflussfaktoren (Venjakob, 2020). In Deutschland wird durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) seit 2000 die Förderung erneuerbarer, sauberer Energiequellen vorangebracht. Gerade das Thema Energie wird häufig im schulischen Kontext aufgegriffen, um Schüler*innen zu einem nachhaltigen Handeln zu motivieren (Pettig & Kuckuck, 2021). In diesem Zusammenhang kommt der Arbeit mit digitalen (Geo-)Medien und ihre Einbettung in aktuelle Diskurse wie zu erneuerbaren Energie und Themen der Nachhaltigkeit eine besondere Relevanz zu, denn neben einer fachwissenschaftlichen Relevanz und georeferenzierten Darstellung besitzen sie eine große alltagsweltliche Bedeutung für eine mediale Produktion sowie Potenziale für die Dekonstruktion medialer Kommunikation (Schorb, 2008; Kanwischer, 2014). Das Thema „saubere Energie“ bietet einerseits die Möglichkeit, sich in einem individuellen Erkenntnisprozess mit den fachlichen Inhalten sowie deren medialen Repräsentation in den sozialen Netzwerken auseinanderzusetzen, andererseits im Umgang mit den gewonnenen Informationen diese kritisch zu bewerten. Eine Umsetzungsmöglichkeit wird im folgenden Abschnitt in Form eines Seminarkonzeptes für die Lehrkräftebildung im Fach Geographie vorgestellt, indem Aspekte der politischen Bildung mit einem Fokus auf mündige Teilhabe und kritische BNE am Beispiel des SDG 7 sowie „sauberer Energie“ thematisiert werden. Unter einer kritischen BNE verstehen wir in Anlehnung an Wals et al. (2008) die Unterscheidung zwischen instrumenteller BNE I und emanzipatorischer BNE II. Beim ersten steht die Vermittlung von Expert*innenwissen zu Werten und Verhaltensweisen im Fokus der Betrachtung. Das Ziel ist dabei, Handlungen und ­Verhaltensweisen anzuregen, die als nachhaltig eingeschätzt werden. BNE II

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hingegen soll zu einer kritischen Auseinandersetzung anregen und dabei die Komplexität, Unsicherheiten und Widersprüche aufdecken (Pettig, 2021). Genau diese kritische Betrachtung wird in dem Seminarkonzept für angehende Geographielehrkräfte fokussiert.

12.4 Seminarkonzept Das hier vorgestellte Lehrveranstaltungskonzept kann je nach Studienordnung im Bachelor- oder Masterstudium für angehende Geographielehrkräfte eingesetzt werden, wobei Vorkenntnisse zu den Inhalten des Seminars (BNE, Politische Bildung) vorausgesetzt werden. Das Seminar strebt dabei an, sowohl fachdidaktische als auch fächerübergreifende Prinzipien zu verbinden sowie aktuelle Themen einer gesellschaftlichen Transformation (Energiewende und saubere Energie) fachlich aufzugreifen. Wesentliches Ziel des Seminarkonzeptes ist es, Lehramtsstudierende für den Diskurs um saubere Energie sowie dessen Repräsentation in den digitalen (Geo-)Medien zu sensibilisieren. In diesem Zusammenhang werden Konzepte der Politischen Bildung als Teilbereich einer BNE eingebunden. Insbesondere soll der kritisch-reflexive Blick einer BNE auf gesellschaftliche Diskurse mit einem Nachhaltigkeitsbezug, auch bezogen auf die Kompetenzbereiche Erkennen und Bewerten des Orientierungsrahmens für Globale Entwicklung im Kontext einer BNE, geschult werden (KMK & BMZ, 2016). Weiterhin zielt das Seminar auf die Reflexion der Rolle und Verantwortung der zukünftigen Lehrkräfte im (Geographie-)Unterricht ab, die sie bei der Gestaltung von medialen Lehr- und Lernumgebungen einnehmen. Die zentrale Aufgabe des Seminars ist es, dass die Studierenden im Rahmen eines Projekts untersuchen, inwiefern der Begriff „saubere Energie“ in sozialen Medien genutzt wird. Dazu analysieren sie anhand des Beispiels die zur Verfügung stehenden Dateninformationen und reflektieren darüber. Zu Beginn des Seminars werden fachliche Teilbereiche literaturgestützt im Seminar diskutiert und in Beziehung zueinander gesetzt. Dazu gehören Auseinandersetzungen mit folgenden Aspekten: BNE sowie eine kritische Auseinandersetzung im Sinne einer BNE II, Politische Bildung und hier speziell mündige Teilhabe und Partizipation zu Themen der Energiewende und saubere Energie sowie (Geo-)Medien und soziale Netzwerke. Durch die Thematisierung der einzelnen fachlichen Konzepte und Inhalte gelingt ein kumulativer Aufbau von verschiedenen Wissensbereichen, die durch einen zirkulären Prozess am Ende des Seminars wieder aufgegriffen werden. Diese Seminarsitzungen wechseln sich mit projektorientierten Veranstaltungen ab, in denen die Studierenden soziale Netzwerke (z.  B.  Instagram) anhand bestimmter Hashtags (z.  B. #energiewende, #saubereenergie) analysieren sowie kritische Momente einer nachhaltigkeitsbezogenen medialen Darstellung herausarbeiten. Abschließend werden aufgrund der Ergebnispräsentationen Konsequenzen für den Geographieunterricht abgeleitet. Die Studierenden untersuchen im Rahmen der Projektsitzungen Eintragungen (Texte, Filme, Fotos) zu den genannten Hashtags und stellen im Rahmen einer BNE II dessen Grenzen, Widersprüche und Fehlaussagen dar. Im Sinne einer mündigen Teilhabe werden die Studierenden dafür sensibilisiert,

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Metaperspektivische Betrachtung des Modells aus der Sicht von Lehrpersonen Reflexionsstufen

Kriterien zur Bestimmung der Reflexionsstufe

onkretisierung im Seminar

Stufe 1: Beschaffung und Wiedergabe

Informationsbeschaffung und Reproduktion der Seminarinhalte (keine Reflexion)

Die Studierenden sammeln unter #saubereenergie Informationen aus Instagram.

Stufe 2: Bezug nehmen

Die Studierenden … − transformieren/konzeptualisieren die Inhalte geringfügig. − äußern Beobachtungen/Meinungen (ohne Begründung). − stellen (rhetorische) Fragen (ohne Antworten ). − drücken Gefühle aus.

Die Studierenden äußern in ihrer Kleingruppe erste Eindrücke, überlegen weitere Rechercheschritt , noti ren ihre Beobachtungen/Auffälligkeiten, stellen Fragen, denen sie nachgehen möchten.

Stufe 3: Zusammenhänge

3a: Begründung

Die Studierenden: − begründen Prozesse oder Sachverhalte oberflächlich. − urteilen mit simpler, linearer Begründung.

Die Studierenden ordnen und stellen Prozesse, Wechselbeziehungen in Bezug auf die Darstellung von „sauberer Energie“ dar, sie fällen ein erstes Urteil über ihren Rec ftrag und begründen dieses mit Belegen (Bilder, Videos, Texte).

3b: Vernetzung

Die Studierenden: − stellen persönliche Zusammenhänge zu den Inhalten her, z. B. durch Verbindung mit ihrem Vorwissen oder eigenen Erfahrungen. − versuchen oberflächlich Wechselbeziehungen darzustellen.

Die Studierenden beziehen ihr Vorwissen zu Bildung für nachhaltige Entwicklung und politischer Bildung sowie Mündigkeit mit ein und zeigen dies in Form von Concept Maps.

Stufe 4: Beurteilung

Voraussetzung, Konzeptualisierung auf gehobenem Niveau Die Studierenden: − verknüpfen Theorien und persönliche Erfahrungen. − führen vertiefte Begründungen für Prozesse, Sachverhalte oder eigene und fremde Handlungen an. − analysieren Probleme, suchen nach Antworten und Alternativen, spekulieren oder formulieren Hypothesen. − untersuchen den Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis. − erkennen die Komplexität des Sachverhaltes.

Die Studierenden verknüpfen die neuen Erkenntnisse mit ihrem theoretischen Wissen zu Bildung für nachhaltige Entwicklung und politischer Bildung. Sie analysieren die Problem und Widersprüchlichkeiten, stellen Hypothesen daraus. Sie erkennen die Komplexität von sauberer Energie, medialer Darstellung sowie bildungspolitischen Zielen wie Bildung für nachhaltige Entwicklung.

Stufe 5: (Re-)Konstruktion

Voraussetzung, Konzeptualisierung auf hohem Abstraktionsniveau Die Studierenden: − kommen zu einem persönlichen Fazit oder beziehen systematisch und differenziert Stellung. − formulieren eine persönliche Theorie oder leiten Generalisierungen ab. − weiten und modifizieren die Ergebnisse deutlich über das angestrebte Niveau hinaus.

Die Studierenden nehmen Stellung zu ihren eigenen Ergebnissen und machen die Bedeutung für ihre eigenen Lernprozesse deutlich.

gfg

− − − −

Was bedeuten die fünf Reflexionsstufen für Lernprozesse in meinem zukünftigen Geographieunterricht? Wie müssen Lernprozesse angelegt sein, um diese fünf Reflexionsstufen zu erreichen? Welche Kompetenzen und individuellen Personenmerkmale braucht eine Lehrkraft, um zukünftige Schüler*innen zum Erreichen der fünf Reflexionsstufen zu befähigen? …

Abb. 12.1  Stufenmodell kritisch-reflexiven Denkens für die Lehrkräftebildung (verändert und erweitert nach Brendel, 2018, S. 12)

inwiefern mediale Repräsentationen genutzt werden, um vermeintliche Themen der Nachhaltigkeit zu verbreiten. Die einzelnen Seminarsitzungen orientieren sich am Stufenmodell des reflexiven Denkens, welches ursprünglich von Brendel (2018) für Schüler*innen entwickelt und auf die Arbeit mit angehenden Lehrkräften übertragen und erweitert wurde (Abb. 12.1). Es dient als Grundlage für den Reflexionsprozess am Ende des Seminars. Die Studierenden erfahren selbst durch die Projektarbeit die einzelnen Stufen und reflektieren über diesen Prozess und die Bedeutung des Modells und den Erkenntnisweg am Ende. Die Ergebnispräsentationen der Studierenden werden hinsichtlich des erreichten bzw. notwendigen Reflexionsniveaus diskutiert sowie entsprechende Schlussfolgerungen für den Geographie­ unterricht sowie die eigene Professionalisierung abgeleitet.

12.5 Übertragbarkeit, Reflexion und Ausblick Die Seminarthemen können sowohl inhaltlich als auch medial auf andere Bereiche transferiert werden und damit angehende Lehrkräfte für einen kritisch-reflexiven Umgang mit medialen Darstellungen sensibilisieren, wobei auch dann das Stufenmodell reflexiven

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Denkens bei verschiedenen Lernsettings genutzt wird. Statt einer Auseinandersetzung mit dem Thema Energie könnten auch weitere nachhaltigkeitsrelevante Inhalte wie Stadtentwicklungsprozesse, Landwirtschaftsprozesse etc. fokussiert werden. Allgemein besitzen jegliche Themen des aktuellen politischen und BNE-bezogenen Diskurses der Meinungsbildung und möglichen Manipulation, Potenziale thematisiert zu werden. Neben Instagram ist es möglich, auch Einträge auf Facebook oder Twitter in die Betrachtung einzubeziehen sowie Einträge (Verlinkungen, Fotos, Videos) bei Kartendiensten wie Google Maps zu integrieren. Lohnenswert sind Themenbereiche, die eine kritische Sichtweise auf die eigene Reflexionsfähigkeit als angehende Lehrkraft ermöglichen und damit deren Potenziale für eine mündige Teilhabe an der Gesellschaft sowie für die Gestaltung von (Geographie-)Unterricht fokussieren. Erweiternd bietet sich der Vergleich der Informationsbereitstellung von verschiedenen (Geo-)Medien an. Neben der Lehrkräftebildung können diese Themen ebenso im Geographieunterricht angesprochen werden und didaktisch reduziert zum Einsatz kommen.

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Mündige Entscheidungen in digitalen Spielen

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Modellentwicklung und Ergebnisse aus qualitativen Interviews mit Game Designern Alexandra Budke und André Czauderna

Zusammenfassung

Digitale Spiele, die Themen wie Stadtentwicklung, Migration, Klimawandel und nachhaltige Ressourcennutzung behandeln, bieten vielfältige Möglichkeiten zur Unterstützung von Lern- und Bildungsprozessen im Geographieunterricht. Das vorliegende Kapitel widmet sich der bislang vernachlässigten Frage, ob und unter welchen Bedingungen Strategiespiele speziell auch zur Förderung der mündigen Entscheidungsfindung beitragen können. Dazu wird zunächst ein präskriptives Modell eingeführt, welches skizziert, wie Entscheidungssituationen in Strategiespielen designt werden sollten, um mündiges Spielhandeln zu begünstigen. Im Anschluss wird mit Hilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse von Interviews mit Designern von kommerziellen Unterhaltungsspielen belegt, dass auch sie den Prämissen des Modells weitgehend folgen, d.  h. ihren Spieler*innen mündige Entscheidungen ermöglichen (wollen). Zugleich werden aber auch die Grenzen der mündigen Entscheidungsfindung in kommerziellen Produkten aufgezeigt, die es bei einem Einsatz der Spiele im Geographieunterricht zu berücksichtigen und mit den Schüler*innen zu thematisieren gilt. Schlüsselwörter

Mündigkeit · Digitale Spiele · Games Designer A. Budke (*) Institut für Geographiedidaktik, Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Czauderna Cologne Game Lab, TH Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_13

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A. Budke und A. Czauderna

13.1 Einleitung Die Nutzung von digitalen Spielen ist eine in Deutschland sehr weit verbreitete Freizeitbeschäftigung unter Kindern und Jugendlichen. 2018 gaben z. B. 30 % der befragten 12 bis 13-Jährigen an, dass sie jeden Tag oder fast jeden Tag digitale Spiele nutzen würden, weitere 43 % sagten, dass sie ein oder mehrmals pro Woche digital spielen würden (Feierabend et al., 2019, S. 52). Tatsächlich gibt es auch eine ganze Reihe an kommerziellen Spielen, die sich mit gesellschaftlichen Herausforderungen beschäftigen, welche auch im Geographieunterricht thematisiert werden. Spieler*innen müssen z. B. nachhaltige Städte planen, Ressourcen sinnvoll nutzen, den Klimawandel bekämpfen oder Konflikte lösen. In Bezug auf den Geographieunterricht ist nicht nur interessant, dass die spielerische Beschäftigung mit gesellschaftlichen Problemen offensichtlich attraktiv und motivierend für viele Kinder und Jugendliche ist, sondern auch, dass sie im Spiel direkte Rückmeldung zu ihren getroffenen Handlungsentscheidungen bekommen, was Lerneffekte auslösen könnte. Möglicherweise werden auch Meinungsbildungsprozesse angestoßen und mündige Entscheidungs- und Lösungsfindung für die drängenden gesellschaftlichen Probleme geübt (vgl. z. B. Squire, 2011). Obwohl sich viele Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit spielend mit geographischen Fragen beschäftigen, wurden die Potenziale von digitalen Spielen bisher von der geographiedidaktischen Forschung so gut wie nicht empirisch untersucht, woraus sich eine Forschungslücke ergibt, die in diesem Artikel bearbeitet werden soll. Die bestehenden theoretischen Ansätze zur mündigen Raumaneignung unter Bedingungen der Digitalität (u. a. Pokraka et al., 2016; Dorsch & Kanwischer, 2019; Schulze et al., 2020) werden im Folgenden genutzt, um ein Modell für das Design von mündigen Entscheidungen in digitalen Strategie- und Simulationsspielen zu entwerfen (Abschn. 13.2). Daraus werden Kategorien für die Analyse von qualitativen Interviews mit Entwickler*innen dieser Spiele abgeleitet (Abschn. 13.3). Es wird hierbei die Forschungsfrage untersucht: Inwiefern wollen Game Designer*innen in ihren Spielen Möglichkeiten zur mündigen Entscheidungsfindung ermöglichen und welche Grenzen sehen sie? Nach der Darstellung der Untersuchungsergebnisse (Abschn. 13.4) schließt der Artikel mit einer Diskussion der Bedeutung dieser für die mündige Entscheidungsfindung durch den Einsatz digitaler Strategiespiele im Geographieunterricht (Abschn. 13.5).

13.2 Theorie: Mündigkeit und Entscheidungsfindung in digitalen Spielen Das Konzept der Mündigkeit hat in den vergangenen Jahren im Theoriediskurs der Geographiedidaktik an Bedeutung gewonnen (vgl. z. B. Gryl & Naumann, 2016; Dorsch & Kanwischer, 2019; Schulze et al., 2020). Während Mündigkeit traditionell als ein zentrales Ziel der politischen Bildung im Fach angesehen wird (u.  a. Budke, 2016), diskutieren neuere Ansätze vor allem den Einfluss der Digitalität auf mündige Bildungsprozesse wie

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im Spatial-Citizenship-Ansatz (Pokraka et al., 2016) oder im Fachkonzept zur mündigen Nutzung digitaler Geomedien in der geographischen Lehrkräftebildung (Schulze et  al., 2020). Dabei kann auf eine lange Ideengeschichte des Begriffes zurückgegriffen werden, welcher u. a. durch Aufklärung (Kant, 1986) und die Frankfurter Schule (u. a. Adorno, 1970) geprägt wurde. Die zunehmende Bedeutung des Konzeptes als Zielkategorie von Bildungsprozessen in geographiedidaktischen Zusammenhängen wird häufig mit den besonderen Herausforderungen der Digitalisierung begründet. Schulze et al. (2020) definieren Argumentation, Reflexion und Partizipation als Kernkompetenzen für eine mündige Geomediennutzung, die u. a. dazu dienen sollte, den digital geführten Diskurs zu zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen wie Stadtentwicklung, Migration, Klimawandel und nachhaltige Ressourcennutzung zu verstehen und sich daran beteiligen zu können. Dorsch (2019) bestimmt den Begriff zur Entwicklung einer mündigkeitsorientierten Bildung unter Bedingungen der Digitalität entlang der folgenden drei Dimensionen: Strukturund Selbstreflexivität (20ff.), Sich-seiner-selbst-bewusst-Sein (25ff.) und Autonomie (31ff.). Eine mündige Entscheidung liegt nach diesen theoretischen Ansätzen dann vor, wenn derjenige, der sie fällt (1) über die Entscheidungsalternativen mit Blick auf das zu lösende Problem bzw. ihre (prognostizierten) Folgen unter Berücksichtigung der gegebenen Komplexität und Kontroversität reflektiert hat – sowohl vor als auch nach der eigentlichen Entscheidung; (2) sich über die Wirkmächtigkeit der eigenen Entscheidung und Handlung bewusst ist; (3) die Entscheidung autonom getroffen hat, also selbst bestimmen und gestalten konnte, d.  h. sich auch nicht von Autoritäten oder Routinen gegen den eigenen Willen hat lenken lassen; (4) die hinter der Entscheidung stehende eigene Perspektive erkennt und sich von anderen möglichen Entscheidungen und Perspektiven – begründet – abgrenzen kann. Die Frage, inwieweit digitale Spiele mündige Entscheidungsfindung fördern, kann nicht pauschal beantwortet werden, sondern muss immer am jeweiligen Einzelfall diskutiert werden. Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass digitale Spiele mündiges Entscheiden immer dann begünstigen (und damit möglicherweise auch zur Mündigkeit erziehen), wenn sie ihren Spieler*innen echten Entscheidungsspielraum, d.  h., u.  a. auch möglichst kontroverse Optionen und Perspektiven anbieten, deren Folgen abschätzbar sind und ihren Spieler*innen im Anschluss rückgemeldet werden, ohne dass sie die eine oder andere Entscheidungsrichtung deutlich bevorteilen bzw. benachteiligen (wenn das nicht mit eindeutigen Fakten begründet werden kann). Zur Bewertung, ob und inwieweit ein bestimmtes digitales Strategiespiel – den direkten oder indirekten thematischen Bezug zu den Unterrichtsinhalten der Geographie einmal vorausgesetzt (vgl. Lux & Budke, 2020a) – mündige Entscheidungsfindung begünstigt, haben wir – auch auf Grundlage von theoretischen und empirischen Vorarbeiten (Czauderna & Budke, 2020) und der oben zitierten theoretischen Ansätze – ein präskriptives Modell entwickelt, das im Folgenden dargestellt wird. Im weiteren Verlauf des Artikels werden wir dieses Modell dazu nutzen, die Analyse der qualitativen Interviews zu strukturieren, die wir mit Game Designer*innen geführt haben. Damit werden wir h­ erausarbeiten,

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Abb. 13.1  Design von Entscheidungssituationen und mündiges Handeln in digitalen Strategieund Simulationsspielen (nach Czauderna & Budke, 2020, S. 5)

ob und inwieweit die Game Designer*innen dem Modell folgen und mündige Entscheidungen der Spieler*innen in ihren Spielen möglich machen möchten. Zunächst gehen wir mit unserem Modell (Abb. 13.1) davon aus, dass digitale Strategieund Simulationsspiele die tiefgründige Beschäftigung mit bedeutungsvollen Entscheidungen mit Bezug zur Realität dann initiieren, wenn die im Spiel dargestellten zentralen gesellschaftlichen Zukunftsfragen, die auch im Geographieunterricht thematisiert werden [1], als polytelische Situationen [2], d. h. als Zielkonflikte (vgl. Dörner, 2003), wie z.  B. dem zwischen Wirtschaft und Klimaschutz, inszeniert werden, die das jeweilige realitätsrelevante Thema möglichst vollständig, komplex, vielschichtig und so kontrovers wie im gesellschaftlichen Diskurs abbilden. Dies schließt u. a. einen gewissen Grad an Komplexität und systemischen Beziehungen sowie die Repräsentation diverser Positionen unterschiedlicher Akteur*innen ein (vgl. Lux & Budke, 2020b). Zur Lösung dieser Zielkonflikte müssen die Spieler*innen im Verlauf eine Serie an Entscheidungen treffen, welche im Spiel Folgen zeigen, die ihnen rückgemeldet werden, da nur so ein Verständnis der komplexen Systembeziehungen bei den Spieler*innen erzeugt werden kann, was die Grundlage für Reflexionsprozesse ist. In der Sprache des Game Design initiiert die polytelische Situation damit einen „Gameplay Loop“ [4] (Salen & Zimmerman, 2003, S.  316; Czauderna & Guardiola, 2019), der das Handeln der Spieler*innen in Interaktion mit dem Spiel als zirkuläres Verhältnis zwischen Entscheidung, Handlung und Feedback modelliert. Damit erhalten die Spieler*innen die Gelegenheit, die

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Wirkmächtigkeit ihrer eigenen Entscheidungen zu realisieren, d. h. Selbstwirksamkeit und Mitbestimmung zu erleben, sowie die Konsequenzen und Komplexität ihrer Entscheidungen kennenzulernen und im Idealfall ihre eigenen Entscheidungen kritisch zu bewerten und im weiteren Verlauf im Sinne der Spiellogik ggf. zu wiederholen, anzupassen oder zu revidieren. Wenngleich die Spieler*innen ihre Entscheidungen in vielen Spielen alleine treffen (d. h. sie verhandeln ihre Entscheidungen weder mit simulierten Agenten – sog. NPCs, also "non-player characters"  – in Form von politischen Akteuren noch mit ihren Mitspieler*innen), muss das hier vorgestellte präskriptive Modell die denkbare Möglichkeit zum gemeinsamen Entscheiden und Handeln im Rahmen eines Multiplayer-Spiels enthalten. Die Modellierung des Gameplay Loop ist daher um die Dimension der Kommunikation und Kollaboration ergänzt. Für die weitere Bewertung des Designs der Entscheidungssituationen hinsichtlich der Ermöglichung mündiger Entscheidungen ist insbesondere die didaktische Aufbereitung [3] der polytelischen Situation entscheidend. Denn wenn die Game Designer im Zuge der didaktischen Vermittlung den Rahmen zur Lösung der Zielkonflikte aufspannen, können sie ihre Spieler*innen zum einen motivieren, zum anderen aber auch manipulieren, was (simulierte) mündige Entscheidungen erschweren oder sogar verunmöglichen kann. An dieser Stelle ist im Wesentlichen zwischen zwei Formen der didaktischen Aufbereitung zu unterscheiden. So werden zum einen Entscheidungsmöglichkeiten bzw. Handlungsoptionen vorgegeben [3a]. Zum anderen erfolgt eine Bewertung und Rückmeldung zu den jeweils gewählten Optionen, d. h. Entscheidungen und Handlungen [3b]. Um nun mündiges Entscheiden zu begünstigen, sollten die Entscheidungsmöglichkeiten und Handlungsoptionen [3a] transparent offengelegt werden, umfangreich und vielfältig sein, d. h. auch kontroverse Positionen abbilden und keine legitimen Positionen ausblenden, Hypothesen über die (möglichst wenig vom Zufall abhängenden) Folgen ermöglichen und zum diskursiven Vergleich der Optionen motivieren. Kurzum: Der Handlungs-, Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum sollte möglichst groß sein und auch kreative Lösungen ermöglichen. Damit sollten unterschiedliche Perspektiven, Wahrnehmungen und Bewertungen auf die Thematik aufgezeigt werden. Wenn Spieler*innen in digitalen Spielen entscheiden und handeln, werden sie im Sinne der Spiellogik immer auch – mehr oder weniger zeitnah – vom Spiel bewertet, d. h. sie bekommen vom Spiel ein Feedback zu den Folgen ihrer Handlungen und Entscheidungen vermittelt. Damit verbunden ist letztlich zumeist auch eine Rückmeldung zum Erfolg oder Misserfolg der jeweils gewählten Maßnahmen. Zur Begünstigung mündiger Entscheidungen sollten diese Bewertungen und Rückmeldungen vonseiten der Spiele [3b] die Konsequenzen der Entscheidungen und Handlungen deutlich erkennbar machen, die Wirkmächtigkeit der Entscheidungen vermitteln, so wertneutral und evidenzbasiert wie möglich erfolgen, verschiedene Wege zur Lösung des Zielkonfliktes zulassen, eine eigenständige Reflexion und gegebenenfalls Korrektur der bereits getroffenen Entscheidungen fördern. Insgesamt sollte die didaktisch aufbereitete polytelische Situation, wie in [3a] und [3b] beschrieben, zur Meinungsbildung und Entscheidungsfindung auf Grundlage der Nutzung

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des eigenen Verstandes anregen. Damit wird den Spieler*innen ermöglicht, spielerisch mündiges Entscheidungshandeln zu erproben, was sich möglicherweise zur Bewertung und Lösung der realen Probleme einsetzen lässt.

13.3 Methodik Es wurden leitfadengestützte qualitative Expert*inneninterviews mit Game Designer*innen der folgenden sechs Strategiespiele geführt: Age of Empires II, Anno 1800, Anno 2070, Democracy 3/4, Rise of Industry, Eco. Die Vertreter von drei weiteren Spielen (Cities in Motion 2, Cities: Skylines, Tropico 6) reichten ihre Antworten auf unsere Interview­ fragen in schriftlicher Form ein. Die Spiele, zu denen befragt wurde, waren allesamt kommerziell erfolgreich (mind. 50.000 Verkäufe), haben überwiegend positive Nutzerkritiken auf Steam1 und Metacritic2 erhalten, waren zumindest für Kinder ab 12 Jahren zugelassen und thematisieren eines oder mehrere der folgenden gesellschaftlich kontrovers diskutierten Themen, die auch im Geographieunterricht behandelt werden: Klimawandel, nachhaltige Ressourcennutzung, Stadtentwicklung und Migration. Wir verwenden im Folgenden überwiegend den Begriff Game Designer*innen, meinen damit aber auch die beiden interviewten Producer (von Cities in Motion 2 und Cities: Skylines sowie von Tropico 6) und den Community Manager (von Eco). Wir denken, dass alle Interviewpartner*innen in den Interviews nicht nur ihre eigene Position vertreten, sondern auch für die Gruppe der an der Spielentwicklung beteiligten Kolleg*innen sprechen und damit über die eigene Meinung hinausweisend eine kollektive Haltung des jeweiligen Teams wiedergeben. Unser Interviewleitfaden enthielt neben einleitenden Fragen zur beruflichen Sozialisation und Rolle der Game Designer*innen bei der Entwicklung des jeweiligen Spiels Fragen zu den Themen „Simulation/Spiel vs. Realität“ , „Entscheidungen im Spiel“ sowie „Verhältnis von Spiel(en) und Bildung“. Zur Auswertung der Interviewtranskripte und schriftlichen Antworten wurde die qualitative Inhaltsanalyse (Mayring, 2010) mit Hilfe der Software MAXQDA eingesetzt. Die Kategorienbildung erfolgte auf der Grundlage des Modells zu mündigen Entscheidungssituationen in digitalen Spielen (Abb. 13.1), wobei uns nur das Design der Entscheidungssituationen (linke Seite des Modells) und nicht das tatsächliche ­Entscheidungshandeln der Spieler*innen (rechte Seite des Modells) interessierte. Dementsprechend untersuchten wir vier Kategorien, die den Analyseprozess geleitet haben: die  Steam ist ein Internet-Vertriebsplattform für digitale Spiele u. Ä.  Metacritic ist eine Website, die Bewertungen von Rezensent*innen für Filme, Fernsehserien, digitale Spiele u. Ä. aggregiert und im sog. Metascore angibt. Darüber hinaus erhalten Nutzer*innen die Gelegenheit, selbst Kritiken zu verfassen und Bewertungen abzugeben. Der Durchschnitt aller Bewertungen der Nutzer*innen wird auf der Website als User-Score angezeigt. 1 2

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Gründe der Game Desi­gner*innen für die Wahl eines gesellschaftlich diskutierten Problems als Spielthema (Abschn.  13.4.1), die von ihnen gesehene Bedeutung von polytelischen Situationen im Spiel (Abschn. 13.4.2) sowie ihre Ansätze beim Design von Handlungsmöglichkeiten (Abschn. 13.4.3) und Rückmeldungen (Abschn. 13.4.4).

13.4 Ergebnisse 13.4.1 Gründe für die Wahl eines gesellschaftlich diskutierten Problems als Spielthema Tatsächlich denken die von uns Befragten, dass die gesellschaftliche Diskussion um die zentralen Zukunftsprobleme dazu führt, dass sich viele Personen für diese Themen inte­ ressieren und sie auch spielerisch bearbeiten möchten. Ein Game Designer von Anno 2070 sagt in diesem Zusammenhang: „Wir haben das Thema 2070 mit dem Klimawandel dann tatsächlich gewählt, weil wir das Gefühl hatten, okay, das Thema berührt und eine gewisse Realitätsnähe ist auch durchaus für den Kunden interessant, um auch einen stärkeren Bezug dazu zu haben, als wenn das so bei abstrakten Themen muss man tatsächlich den Spieler erst einmal gewinnen oder begeistern, wenn man was mit Realitätsbezug hat und wenn man Verbindung hat, dann ist da schneller eine Ebene da und ja.“

Während sich alle Befragten der Popularität der Themen bewusst sind, unterscheiden sie sich in ihrer Auffassung, welche Rolle ihr eigenes Spiel im gesellschaftlichen Diskurs spielen sollte. Einerseits gibt es Designer*innen, die die politischen Diskussionen um und durch ihre Spiele vermeiden wollen. Aus diesem Grund wurde z. B. das Spiel Rise of Industry in die 1930er-Jahre verlegt und es wurden Umweltthemen ausgespart: „I really just want people to enjoy a management game without looking at messages that I put [there] for political purposes, I’m just making a game. So that is why it was pushed from the modern era to the 1930s, so there would be this complete disconnection like no talking about the current climate, this is a game, stop it.“

Anderseits wollen Befragte über ein aus ihrer Sicht wichtiges Problem durch ihr Spiel informieren und einige Game Designer*innen möchten durch ihr Spiel bewusst Position beziehen. Die Game Designer von Tropico möchten z. B. bewusst auf bestimmte kritische gesellschaftliche Entwicklungen hinweisen und wählen daher das Mittel der ­Überzeichnung.

13.4.2 Polytelische Situationen In verschiedenen Interviews berichten die Befragten vom Design polytelischer Situationen, in denen Zielkonflikte (z. B. zwischen ökonomischem Wachstum und Umweltschutz)

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die Spieler*innen zu Entscheidungen und Handlungen im Spiel herausfordern. Die Befragten nutzen allerdings nicht diesen wissenschaftlichen Begriff, sondern sprechen von „interessanten Entscheidungen“ oder „rich decisions“, wie der Game Designer von Age of Empires II: „So as a direct simulation it hopefully gives you a sense of making trade-offs and making rich decisions and having multiple things to juggle at once and keeping those in balance and keeping those always in mind.“

In diesem Zusammenhang ist interessant, dass die Game Designer*innen angeben, die polytelischen Situationen nicht nur aus den inhaltlichen Themen abzuleiten, die behandelt werden, sondern zudem darauf zu achten, dass die interne Spielelogik eingehalten wird und die Spiele nicht zu komplex werden. Der Game Designer von Democracy sagt hierzu: „And the other constraint to it is, we can only reference things within the system. So, for example we don’t model consumer interest rates or house prices. So if there is a phenomena that is partly dependent upon that, we just pretend it isn’t, because if you don’t do that and you go well surely that is affected by this, you then have to add that new item in, and then it has to be interesting from a game point of view, because if that is the only reason you’re putting in that new variable, the game will just (unintelligible) into incredible complexity and will become unplayable.“

In allen Interviews wird betont, dass eine Schwierigkeit beim Design darin besteht, die externe Komplexität der Spiele so zu reduzieren, dass sie für die Spieler*innen überschaubar und beherrschbar bleibt. Ein zentrales Mittel bei dieser Komplexitätsreduktion sind die vielen kleinen Entscheidungssituationen, deren Auswirkungen den Spieler*innen zurückgemeldet werden. Ein weiterer wichtiger Faktor, welchen die Befragten nach eigenen Angaben beim Design von Entscheidungssituationen berücksichtigen, sind die unterschiedlichen Fähigkeiten, Erwartungen und Einstellungen der Spieler*innen. Diese sollen die Herausforderungen der Entscheidungssituationen als interessant und motivierend empfinden. Der Game Designer von Anno 1800 sagt in diesem Kontext: „So, also the freedom of representing and expressing yourself is also a very important aspect to get players to motivate themselves internally.“

13.4.3 Handlungsoptionen Den Spieler*innen soll ermöglicht werden, ihre eigenen Vorstellungen zu realisieren und auch mit verschiedenen möglicherweise kontroversen Alternativen zu experimentieren. In ihren schlüssigen und (mehr oder weniger) evidenzbasierten Systemen wollen die Game Designer*innen Spielräume schaffen, die ihren Spieler*innen das „Herumspielen“ mit

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politischen und ökonomischen Entscheidungen erlauben. „Der Designer“ von Democracy beschreibt das wie folgt: „What I want to do with the game is give a political system that is fairly accurate and says, this is economics and this is politics and this is what you can do and you can play around.“

Im Spiel Anno 2070 können sich die Spieler*innen für zwei fundamental unterschiedliche Umgangsweisen mit dem Klimawandel entscheiden: „Wir haben uns dann dazu entschlossen, dass es zwei Fraktionen geben soll, mit den Ecos und den Tycoons …, zwei total unterschiedliche Ideologien, wie man mit dem Thema Klimawandel umgeht, und mit diesem neuen Setting in der Zukunft, und die einen versuchen, den Klimawandel aufzuhalten und sehr umweltbewusst zu leben, nämlich die Ecos, und die Tycoons sind in dem Bild tatsächlich dann eher die Konservativen, die nach dem aktuellen Vorbild einfach weiter wirtschaften und hochproduktiv sind und die die Umwelt nicht weiter beachten.“

Unseres Erachtens werden an dieser bipolaren Entscheidungsmöglichkeit auch die Grenzen der benannten Spielräume sichtbar. Denn der Zwang, sich für eine der beiden Fraktionen und den damit verbundenen Denkweisen zu entscheiden, mag den Blick auf die Nuancen, auf dazwischenliegende Lösungen und Kompromisse verstellen. Damit werden auch die Spielräume für mündiges Entscheiden begrenzt.

13.4.4 Bewertung und Rückmeldung Grundsätzlich gehen die interviewten Game Designer*innen davon aus, dass sie ihre Spieler*innen nicht mit den durch das Spiel kommunizierten Bewertungen und Rückmeldungen beeinflussen  – u.  a. weil sie ihnen verschiedene gleichermaßen erfolgsversprechende Wege zur Lösung der Zielkonflikte erlauben. Der Designer von Anno 2070 sagt dazu: „Jetzt speziell leiten im Sinne von einer Entscheidung, ob jetzt etwas gut oder böse ist und welche Konsequenzen das nach sich zieht, solange es im Regelwerk erlaubt ist, leiten wir glaub ich nicht unbedingt an, weil wir tatsächlich gerade erst mit 2070, mit den zwei verschiedene Fraktionen war’s uns wichtig, dass die sich unterschiedlich spielen und dass es nicht wirklich ein Gut und Böse gibt, sondern dass der Spieler das nach seinen eigenen Präferenzen spielen kann und da leiten wir ihn nicht in die ein oder andere Richtung, was ist besser, was ist schlechter.“

Auch der Game Designer von Democracy erachtet die Bewertungen und Rückmeldungen seines Spiels als weltanschaulich und politisch neutral („without taking a position“). Democracy erlaube Erfolg sowohl mit links- als auch mit rechtsgerichteten Politikansätzen, was seiner Meinung nach dazu führe, dass er von beiden Seiten kritisiert werde. Dazu passend würden in Democracy sogenannte „Achievements“, d.  h. virtuelle Preise bzw.

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Urkunden, für ganz unterschiedliche  – teils konträre  – Errungenschaften, die auf ganz unterschiedliche  – teils konträre  – Entscheidungen der Spieler*innen zurückzuführen sind, vergeben. So gebe es z. B. Achievements sowohl für die Reduzierung des Einflusses von Religion („Darwin’s Legacy“) als auch für dessen Förderung („Gods Kingdom“). Auch die Tropico-Designer bemühen sich um die Ermöglichung verschiedener Wege zum Erfolg in ihrem Spiel. Allerdings geben sie zu, dass bei auf Algorithmen basierenden Regelspielen, in denen es um das Gewinnen oder Verlieren geht, eine völlige Neutralität nicht erreicht werden kann. Zudem gehen sie von einer „unbewussten Manipulation“ aus, die sich dadurch ergebe, „dass die Definition der Schwere und Art von Konsequenzen durch Menschen erfolgt. Diese lassen (unter-)bewusst ihr Weltbild in das Spiel einfließen. Plakativ gesagt: Sind z. B. Soldaten Helden, die das Land schützen oder vom Staat legitimierte Mörder? Welcher Grad an Umweltverschmutzung hat keine nennenswerten gesundheitlichen Konsequenzen für die Bevölkerung?“

Letztlich gesteht auch der Game Designer von Democracy ein, dass er gelegentlich seine eigene weltanschauliche Position einfließen lässt und damit die Entscheidungen der Spieler*innen beeinflusst. So z.  B. beim Thema „Klimaschutz“: „Because I'm an environmentalist, massively.“

13.5 Diskussion Die Ergebnisse lassen keine pauschale Antwort auf die Frage zu, inwiefern Spieleentwickler*innen in ihren Strategiespielen die mündige Entscheidungsfindung ermöglichen und welche Grenzen sie sehen. Tatsächlich lassen sich anhand des konzipierten Modells (Abb. 13.1) sowohl Designfaktoren identifizieren, die die mündige Entscheidungsfindung der Spieler*innen begünstigen als auch Faktoren, die diese behindern. Betrachtet man zunächst die begünstigenden Faktoren, so lässt sich feststellen, dass Game Designer*innen häufig aktuelle kontrovers diskutierte Zukunftsthemen in ihren Spielen aufgreifen, was die vertiefte systemische Auseinandersetzung der Spieler*innen mit diesen Themen ermöglicht (Lux & Budke, 2020b) und ggf. die Motivation der Spieler*innen steigert, sich mit diesen Themen auch außerhalb des Spiels zu beschäftigen. Die Interviewten wollen ihren Spieler*innen bewusst Spielräume schaffen, die ihnen mündiges Entscheiden erlauben, welches ansatzweise auch im Einklang mit geographiedidaktischen Theoretisierungen von Mündigkeit (wie von Dorsch & Kanwischer, 2019) steht. Wir gehen davon aus, dass die Designer*innen ihre Spieler*innen grundsätzlich dabei unterstützen (1) über ihre Entscheidungsalternativen zu reflektieren; (2) sich über die Wirkmächtigkeit der eigenen Entscheidungen bewusst zu werden; (3) die Entscheidungen autonom zu treffen, also selbst zu bestimmen und zu gestalten; (4) die hinter den Entscheidungen stehende eigene Perspektive zu erkennen und sich von anderen möglichen Entscheidungen und Per-

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spektiven abzugrenzen. Die Grundlage hierfür ist die Inszenierung von politischen Themen in Form von Zielkonflikten, die von den Spieler*innen selbst zu bearbeiten sind. In der Regel werden Spielerrollen konzipiert, die einen großen Handlungsspielraum bieten und das Treffen weitreichender gesellschaftlicher Entscheidungen ermöglichen. Die Spieler*innen können sich somit als Gesellschaftsgestalter*innen erfahren und sollen unterschiedliche Handlungen ohne reale Konsequenzen ausprobieren können. Wenngleich die spielerische Umsetzung der Zielkonflikte in polytelischen Situationen eine Reduktion von Komplexität umfasst, erfolgt die Abbildung der Themen durchaus kontrovers. Die Designer*innen legen Wert darauf, ihren Spieler*innen ein breites Spek­trum an Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten anzubieten. Grundsätzlich versuchen sie zudem darauf zu verzichten, bestimmte Wege zur Lösung der Zielkonflikte zu übervorteilen. Die Motivation der Game Designer*innen dazu liegt nach unseren Interviews jedoch weniger im Ziel, mündige Entscheidungen zu ermöglichen, sondern darin, möglichst unterschiedliche Nutzergruppen mit unterschiedlichen politischen Ausrichtungen und Fähigkeiten anzusprechen und so das Spiel möglichst gut verkaufen zu können. Wendet man sich nun den Faktoren zu, die mündige Entscheidungsfindung der Spieler*innen behindern, kann angeführt werden, dass sich alle interviewten Game Desi­ gner*innen bewusst sind, dass sie die behandelten Themen in ihren Spielen vereinfachen. Zentrale Gründe sind hier der Wunsch, den Spielspaß zu erhalten, die Berücksichtigung der spielinternen Logik, der Wunsch, den Erwartungen der Spieler*innen zu entsprechen und sie nicht zu überfordern. Dies kann zur Folge haben, dass durch die Spiele teilweise falsche Sachverhalte vermittelt werden (Lux & Budke, 2020a). Zudem kann die eingeschränkte Auswahl an Spielerrollen, die die gesellschaftlichen Positionen nicht abbilden, dazu führen, dass die Kontroversität der behandelten Themen nicht vollständig im Spiel abgebildet wird. Teilweise werden die im Spiel angesprochenen Themen auch nur als Aufhänger benutzt, ohne dass die Entwickler*innen das Ziel verfolgen, eine intensive Auseinandersetzung zu ermöglichen. Die Designer*innen sind sich darüber im Klaren, dass sie den Spielräumen ihrer Spieler*innen und damit deren Möglichkeiten zur mündigen Entscheidungsfindung auch Grenzen setzen, wenn sie z. B. dann doch (unbewusst) ihr Weltbild einfließen lassen oder den Logiken von Regelspielen folgend bestimmte Entscheidungen bzw. Handlungen besonders stark belohnen. Offensichtlich wird das Spielen von digitalen Spielen, auch wenn diese Themen des Geographieunterrichts behandeln, diesen sicherlich nicht ersetzen können. Tatsächlich sollte eine intensive Reflexion der Spielerfahrung stattfinden, da die Inhalte digitaler Spiele ohne Anleitung und Moderation im Unterricht nur oberflächlich von Spieler*innen reflektiert werden (Lux & Budke, 2023). Wird wesentlich darüber mitbestimmen, inwieweit die Schüler*innen ihre spielinternen Entscheidungen bewusst, reflektiert und autonom treffen – und damit mündige Entscheidungsfindung mit Relevanz für das Fach und die Realität einüben. Dadurch können (und müssen) die Lehrkräfte auch Defizite der Spiele wettmachen. Bei der Reflexion der Spielerfahrungen im Unterricht könnte auf das vorgestellte Modell (siehe Abb. 13.1) zurückgegriffen werden. Dabei könnte über zentrale polytelische

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Situationen im Spiel, die zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen sowie die Rückmeldungen des Spiels gesprochen und über deren Übertragbarkeit auf die gesellschaftliche Realität reflektiert werden. Förderhinweis Die hier vorgestellte Forschung wurde durch das Bildungsministerium (BMBF) gefördert. Kennzeichen: 01JD1810A. Danksagung Wir danken Joelle-Denise Lux und Emmanuel Guardiola, die an der Erhebung der Expert*inneninterviews für diese Studie beteiligt waren.

Literatur Adorno, T.  W. (1970). Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969. Suhrkamp. Budke, A. (2016). Potentiale der Politischen Bildung im Geographieunterricht. In A.  Budke & M. Kuckuck (Hrsg.), Politische Bildung im Geographieunterricht (S. 11–23). Franz Steiner. Czauderna, A., & Budke, A. (2020). How digital strategy and management games can facilitate the practice of dynamic decision-making. Education Sciences, 10(4), 99. https://doi.org/10.3390/ educsci10040099 Czauderna, A., & Guardiola, E. (2019). The gameplay loop methodology as a tool for educational game design. Electronic Journal of e-Learning, 17(3), 201–227. https://doi.org/10.34190/ JEL.17.3.004 Dörner, D. (2003). Die Logik des Mißlingens: strategisches Denken in komplexen Situationen. Rowohlt. Dorsch, C. (2019). Mündigkeit und Digitalität: E-Portfolioarbeit in der geographischen Lehrkräftebildung. Dissertation. Goethe-Universität Frankfurt am Main. Dorsch, C., & Kanwischer, D. (2019). Mündigkeitsorientierte Bildung in der geographischen Lehrkräftebildung  – Zum Potential von E-Portfolios. Zeitschrift für Geographiedidaktik, 47(3), 98–116. Feierabend, S., Rathgeb, T., & Reutter, T. (2019). KIM-Studie 2018: Kindheit. Internet, Medien, Basisuntersuchung zum Medienumgang 6- bis 13-Jähriger. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs). Gryl, I., & Naumann, J. (2016). Mündigkeit im Zeitalter des ökonomischen Selbst? Blinde Flecken des Geographielernens bildungstheoretisch durchdacht. GW-Unterricht, 141(1), 19–30. Kant, I. (1986) [1781]. Kritik der reinen Vernunft. Reclam. Lux, J.-D., & Budke, A. (2020a). Alles nur ein Spiel? Geographisches Fachwissen zu aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen in digitalen Spielen. GW- Unterricht, 160(4), 22–36. Lux, J.-D., & Budke, A. (2020b). Playing with complex systems? The potential to gain geographical system competence through digital gaming. Education Sciences, 10(5), 130. Lux, J.-D., & Budke, A. (2023). Reflexives Spielen? Wie junge Spielende Repräsentationen gesellschaftlicher Themen in digitalen Spielen reflektieren. In MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung 2023 (Occasional Papers), S. 188–211. https://doi. org/10.21240/mpaed/00/2023.06.04.X.

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Mayring, P. (2010). Qualitative Inhaltsanalyse. In G. Mey & K. Mruck (Hrsg.), Handbuch qualitative Forschung in der Psychologie (S. 601–613). Springer. Pokraka, J., Könen, D., Gryl, I., & Jekel, T. (2016). Raum und Gesellschaft: Spatial Citizenship als Integration von Medien-, geographischer und Politischer Bildung. In A. Budke & M. Kuckuck (Hrsg.), Politische Bildung im Geographieunterricht (S. 77–87). Franz Steiner. Salen, K., & Zimmerman, E. (2003). Rules of Play: Game Design Fundamentals. MIT Press. Schulze, U., Kanwischer, D., Gryl, I., & Budke, A. (2020). Mündigkeit und digitale Geomedien. Implementation eines digitalen Fachkonzepts in der geografischen Lehrkräftebildung. AGIT: Journal für Angewandte Geoinformatik, 6, 114–123. Squire, K. (2011). Video games and learning: Teaching and participatory culture in the digital age. Teachers College Press.

Perspektive 5

Geographische Bildung in digitalen Kulturen reflektiert die (Geschäfts-)Modelle und Praktiken der Geoinformationsindustrie sowie weiterer, nicht kommerzieller Plattformen und ihrer Auswirkungen auf die eigene Weltaneignung sowie die Privatsphäre. Kap. 14: Basiskommentar 1 Dieses Kapitel fokussiert den Nutzen des Konzepts Plattformurbanismus zur Analyse mikropolitischer und technosozialer Alltags- und Arbeitskulturen. Dieser wird über eine Betrachtung des Smartphones als ‚Digital Companion‘ als zentrales Element verkörperter Alltagspraktiken wie Essen und Mobilität wie auch als Teil von ,Digital Companies‘ von Plattformunternehmen und -arbeit veranschaulicht. Kap. 15: Basiskommentar 2 Ein weltweit wachsender Datenberg, Data-as-a-Service, verzweigte Datenschutzerklärungen, neue Rollen für die Nutzer*innen, der Mensch als Sensor eines Algorithmus und weitere Aspekte bilden die Grundlage neuer (Geschäfts-)Modelle und Praktiken. Vor diesem Hintergrund geht der Aufsatz Fragen der Privatsphäre und Weltaneignung nach und stellt Anknüpfungspunkte für geographische Bildung vor. Kap. 16: Good-Practice-Beispiel Die vielfältigen Möglichkeiten digitaler Interaktion gehen einher mit einer allgegenwärtigen Datenerfassung. Dabei spielt der Standort eine wesentliche Rolle. In diesem Kapitel wird ein geographiedidaktisches Lernmodul vorgestellt, in dem ausgehend von einzelnen Praktiken (nicht-)kommerzieller Unternehmen die Konsequenzen für die Wahrung der eigenen Privatsphäre erörtert werden.

Plattformurbanismus Plattformvermittelte Raumproduktionen und Alltagspraktiken in der digitalen Stadt

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Yannick Ecker und Anke Strüver

Zusammenfassung

Städtische Raumproduktionen werden zunehmend über Plattformökonomien vermittelt, in denen Smartphones die Schnittstellen zur datafizierten Stadt darstellen. Dieses Kapitel fokussiert diesen Ausschnitt mikropolitischer und technosozialer Alltagsund Arbeitskultur am Beispiel der on-demand bzw. gig-economy (Helpling, Lieferando, Uber usw.). Damit rückt das Smartphone sowohl als Digital Companion, als zentrales Element verkörperter Alltagspraktiken, als auch als Teil von Digital Companies, von Plattformunternehmen und -arbeit, in den Blick: Beide Aspekte urbaner Digitalisierung „aus der Hosentasche“ werden unter dem Begriff Plattformurbanismus erfasst und kontextualisiert. Das Kapitel veranschaulicht auf diese Weise Plattformurbanismus als Konzept zur Analyse einer im Werden befindlichen städtischen Realität und als Vorschlag für einen Zugang zur geographischen Auseinandersetzung mit digitalen Kulturen in der Stadt. Schlüsselwörter

Alltagspraktiken · Plattformurbanismus · Technosoziale Beziehungen · Verkörperung · Essenslieferdienste

Y. Ecker Arbeitsgruppe Digitale Geographie, Universität Halle, Halle, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Strüver (*) Institut für Geographie und Raumforschung, Universität Graz, Graz, Österreich E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_14

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14.1 Einleitung: Digitale Stadt und Alltagskultur „Wir sind alle Plattformurbanist*innen“, behauptet Sarah Barns (2018), und beschreibt damit zwei zusammenhängende Entwicklungen, die wir in diesem Kommentar erörtern werden: Erstens, die digitale Erweiterung der Stadt durch Plattformökonomien und zweitens, die digitale Erweiterung des verkörperten Subjekts über das Smartphone. Das Smartphone als Digital Companion verbindet Körper, Code und Raum miteinander, indem es Körper in Daten lesbar macht und über die Geolokalisierung und -visualisierung verräumlicht. Wir fokussieren mit Letzterem  – dem Smartphone  – einen Ausschnitt mikropolitischer und technosozialer Alltags- und Arbeitskultur, der in Wechselwirkung mit Ersteren – den Plattformökonomien – und kapitalgetriebener Urbanisierung steht. Plattformökonomien und Smartphones stellen digitale Erweiterungen der Stadt bzw. Elemente der datafizierten Stadt dar (Kitchin, 2014), die den Raum über die Interaktionen zwischen Plattform-Peers produzieren  – und über die Extraktion der dabei generierten Daten neue Rohstoffe bereitstellen. Dabei gibt es unterschiedliche Typen von Plattformen: Werbeplattformen wie Google und Facebook, Cloud-Plattformen wie Microsoft Teams oder Dropbox und sogenannte schlanke Plattformen der on-demand bzw. gig-economy (Srnicek, 2018). Wir fokussieren im Folgenden diese schlanken Plattformen: Sie setzen auf die Vermittlung einzelner Dienstleistungen und ein Modell des maximalen Outsourcings gepaart mit Strategien, die Wachstum und Monopolisierung priorisieren. Es geht hier um Plattformen, die etwa die Pizza zwischen Restaurant und hungriger Familie, die Putzkraft, den Babysitter oder die Fahrt zum Bahnhof vermitteln. Digitale Kulturen in der Stadt lassen sich entlang unterschiedlichster Aspekte der zunehmend digital vermittelten sozialen und räumlichen Interaktionen (in) der Stadt eruieren. Dazu gehören bspw. Smart-City-Diskurse, die auf die Implementierung, Privatisierung und Optimierung urbaner Infrastrukturen abzielen, aber das Alltagsleben vieler Stadtbewohner*innen (noch) nicht wirklich berühren (Bauriedl & Strüver, 2018). Wir werden nachfolgend einen anderen Ansatz wählen und vorschlagen, Formen der urbanen Digitalisierung‚ „aus der Hosentasche“ zu thematisieren. Diese fassen wir unter dem Begriff Plattformurbanismus als eine besondere Produktionsweise städtischen Raums auf, die soziomaterielle Beziehungen und sozialräumliche Erfahrungen im Alltagsleben der Stadtbewohner*innen sowie urbane, kulturelle Praktiken restrukturiert (Barns, 2019; Leszczynski, 2020). Dieses Kapitel nimmt zunächst eine kurze Kontextualisierung und Historisierung der Plattformökonomie vor und stellt deren Entstehungsbedingungen und Besonderheiten dar. Die Perspektive des Plattformurbanismus wird daraufhin anhand schlanker Plattformen der Versorgung entfaltet – das illustrierende Beispiel sind hier Essenslieferdienste, die wir aus Sicht von Kund*innen und Arbeiter*innen in den Blick nehmen. Damit wird die Vorstellung von digitaler Plattform als neutraler Vermittlerin hinterfragt und vielmehr gezeigt, welche Auswirkungen Plattformökonomien auf die eigene Weltaneignung sowie die Privatsphäre haben. Dieses Kapitel stellt auf diese Weise zum einen die Bedeutung des ­Plattformurbanismus als Konzept zur Analyse einer im Werden befindlichen städtischen

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Realität heraus und diskutiert zum anderen Plattformurbanismus als Vorschlag für einen Zugang zur geographischen Auseinandersetzung mit digitalen Kulturen in der Stadt.

14.2 Geschäftsmodelle von Plattformunternehmen und Auswirkungen auf urbane Räume Angesichts der wachsenden Bedeutung digitaler Technologien für die Produktion städtischen Raumes versammeln sich stadtgeographische Untersuchungen in den letzten Jahren zunehmend unter dem Begriff des Plattformurbanismus (Barns, 2019; Leszczynski, 2020; Hodson et al., 2021). Dieser Begriff setzt an der Zentralität digitaler Plattformen für die Mediation sozialer und ökonomischer Beziehungen an (wie etwa Helpling, AirBnb, Lieferando) und eignet sich zur Analyse der Geschäftsmodelle von Plattformökonomien und ihren Auswirkungen auf urbane Räume. Dabei situiert die Perspektive die derzeit boomenden Geschäftsmodelle und Praktiken kommerzieller Plattformen in ihren Entstehungsbedingungen und räumlichen Kontexten. Autor*innen machen darauf aufmerksam, dass die Proliferation von Plattformen auf der Neoliberalisierung von Arbeitsverhältnissen (Zwick, 2018) sowie der zunehmenden Finanzialisierung aufbaut: Insbesondere die Folgen der Finanzkrise 2008 haben Ausgangsbedingungen geschaffen, in denen die Verfügbarkeit von Risikokapital mit prekarisierten städtischen Bevölkerungen zusammentrifft und ideale Bedingungen für Kapital-­getriebene Expansionen schafft (Sadowski, 2020). Neben dieser Situierung geht das Konzept Plattformurbanismus mit einem Vorschlag für ein konkretes Analyseraster einher. So können wir Plattformurbanismus als einen neuen Modus städtischer Raumproduktion verstehen, in dem digitale Plattformen zu einem zentralen Mechanismus werden, der Beziehungen zwischen Code, Kapital und Körpern vermittelt (Barns, 2019). Der Fokus wird somit auf alltägliche Praktiken und verkörperte Erfahrungen – etwa Einkaufen, Essen, Arbeit, Mobilität – verschoben und entfernt sich von einer eher diskursiven Betrachtung (etwa Smart-City-Strategiepapieren). Dies geht einher mit einer Verschiebung hin zu Infrastrukturen und infrastruktureller Macht. Plattformen werden nicht als Akteur*innen konzipiert, die einfach „in der Stadt auftauchen“ und mit vor-liegenden Räumen und Praktiken inter-agieren (Richardson, 2020b). Stattdessen wird Plattformisierung als Entstehung neuer urbaner Institutionen aufgefasst, einem strategischen Terrain, das auf differenzielle Weise er- und entmächtigt (Ecker & Strüver, 2022; van Doorn, 2020). Dieser letzte analytische Vorschlag ist auch der Grund, warum das Konzept gut dazu geeignet ist, die Auswirkungen von Geschäftsmodellen der Plattformökonomie auf die Preisgabe von Privatsphäre und Agency, d.  h. die Konstitution von Wahrnehmungs- und Handlungsvermögen, zu untersuchen. Denn On-Demand-Delivery-Plattformen wie Lieferando oder Social-Media-Plattformen wie Instagram schaffen neue strategische Terrains, auf denen auch Urbanität als urbanes Alltagsleben verhandelt wird. Gefahr laufend die Formulierung metaphorisch zu überdehnen, lädt sie dennoch dazu ein, Plattformen als ein

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Gelände zu imaginieren, das mit seinen Eigenschaften – Steigungen, Holpersteinen etc. – Akteur*innen auf unterschiedliche Weise in ihrer Beweglichkeit und Sichtbarkeit hervorbringt bzw. benachteiligt. Denn in diese Terrains sind unterschiedliche Zugangsbarrieren eingebaut und Körper exponieren sich durch die Nutzung im unterschiedlichen Ausmaß. Dies wird bspw. jüngeren Schüler*innen aus Haushalten mit geringerer Kaufkraft intuitiv bewusst, wenn sie darauf angewiesen sind, mit alten Smartphones und wenig Datenvolumen die gleichen Social-Media-Plattformen zu nutzen wie ihre Mitschüler*innen. Gleichzeitig machen die Terrains Körper aber auch auf meist weniger bewusste Weise sichtbar und lesbar. Denn kommerzielle Plattformen sind auf die Datenextraktion und -monopolisierung ausgelegt; meist sind die Unternehmen die einzigen global Sehenden, während Nutzende als Bedingung ihrer Agency die eigene Privatsphäre preisgeben müssen. Während das für Nutzende von Kommunikationsplattformen eine wohlüberlegte Preisgabe sein mag, so sind es genau solche Eigenschaften, die z. B. bei On-Demand-Plattformen wie Lieferando und Helpling die Überwachung und Disziplinierung von Arbeiter*innen ermöglichen. Daher wirft die neue Zentralität digitaler Plattformen für städtisches Leben auch existenzielle Fragen auf, da sie bestehende Ungleichheiten vertieft und neue schafft.

14.3 Plattformurbanismus im Alltag: über Liefern-Lassen und Ausgeliefert-Werden 14.3.1 Digital Companions: Körper, Code und Raum in der Alltagskultur Die Plattformvermittlung verändert die Raumwahrnehmung und -nutzung sowie die Alltagspraktiken von Stadtbewohner*innen, die zunehmend über ihr Smartphone nicht nur untereinander kommunizieren, sondern mit dem Smartphone als Interface ihr Alltagsleben organisieren. Das heißt, anhand von urbanen Plattformökonomien lassen sich einerseits die Verbindungen zwischen digitalen Strukturen und Alltagspraktiken im Stadtraum besonders gut nachvollziehen und andererseits diese Strukturen aus Alltagspraktiken im Stadtraum erklären. Die Einbeziehung der Stadtbewohner*innen als Subjekte ist jenseits der Perspektive der Plattformarbeiter*innen gleichwohl bislang unterthematisiert. Die Interaktionen zwischen Menschen und Plattformökonomien ist Teil der urbanen Alltagskultur, in der Menschen mit dem Smartphone als Digital Companion (Lupton, 2016 in Anlehnung an Haraways Companion Species 2008) Teile ihres Alltags organisieren, kommunizieren und „archivieren“ – und als Teil dieser Alltagspraktiken Daten generieren und Räume produzieren – sowie sich selbst diskursiv wie materiell konstituieren: „These proliferating digital data companion species, as they are ceaselessly configured and reconfigured, emerge beyond our bodies/selves and into the wild of digital data economies and circulati-ons. They are purposed and repurposed by second and third parties and even more actors beyond our reckoning as they are assembled and reassembled.“ (Lupton, 2016, S. 3)

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Plattformen wie Lieferando, die die Lieferung von fertigen Mahlzeiten vermitteln, sprechen in ihrem Angebotscharakter bei Kund*innen die Bedürfnisse nach Zeitersparnis oder nach Belohnung an, z.  B. nach einem langen Arbeitstag oder einer Enttäuschung. Das Schauen nach Appetit-machenden Mahlzeiten in der App kann aber auch Zeitvertreib sein, Ausdruck von Langeweile oder Suche nach Ablenkung. Dabei spielt das Smartphone eine zentrale Rolle, da das visuelle Angebot an bestellbaren Mahlzeiten darüber erlebt wird – und die Plattformtechnologie und -arbeit dahinter dazu führt, dass das Essen zur bestellenden Person findet. Es geht hier also um die Beziehung einer Person zum materiellen Produkt über die Dienstleistungen des Kochens, Verpackens und Lieferns mit Hilfe des Smartphones (Bissell, 2020) und es geht auch um die Beziehung zu sich selbst über das Smartphone (Strüver, 2021). Das Smartphone ist „Ort“ der soziomateriellen Beziehungen zwischen Körper, Code und Plattform  – sowie der soziotechnischen Beziehung zu Produktionsort und -mittel. Aufgegriffen wird damit die u. a. von Elwood und Leszczynski (2018) eingeforderte Erweiterung der bisherigen geographischen Forschungen um das digitale Alltags(er)leben sowie im Falle der Plattformökonomien um das der Konsumierenden. So arbeitet Bissell in einer Studie des Bestellverhaltens über On-Demand-Plattformen die Komplexität der verkörperten Erfahrung von Kund*innen auf und zeigt „how consumers’ dispositions to delivery platforms are ambivalent and changeable, complicating assumptions that the seductive promises of platforms unproblematically correlate with bodily experiences“ (2020, S.  109). Über narrative Auseinandersetzungen mit den Lebenssituationen unterschiedlich situierter Kund*innen zeigt die Studie, dass sich Motivation für und Frustration mit Online-Essensbestellungen sehr stark unterscheiden und dynamisch verändern. So sind es spezifische Lebensphasen und Ereignisse, wie etwa eine Schwangerschaft, ein Umzug, lange Pendelzeiten oder depressive Tendenzen, aufgrund derer sich das Bestellverhalten hin zum Online-Bestellen verändert. Gleichzeitig zeigt die Studie auch, dass Kund*innen sehr ambivalente moralische Gefühle in Bezug auf das Bestellen sowie teilweise Frust mit zu spät ausgeliefertem Essen entwickeln und ihr Verhalten über die Zeit reflexiv anpassen. Hierbei werden unterschiedliche Einbettungen des digitalen Bestellens in alltägliche Praktiken sowie Neuverhandlungen von Gewohnheiten deutlich.

14.3.2 Digital Companies: Plattformarbeit, Subjektivierung und Entfremdung Im Folgenden fokussieren wir mit der Lieferarbeit eine weitere Form der Subjektivierung rund um die digital companions. Denn anhand der Arbeit für Lieferplattformen lässt sich exemplarisch ebenso viel über die Auswirkungen von Geschäftsmodellen der Plattform­ ökonomie auf die Preisgabe von Privatsphäre und Agency lernen. Dies betrifft zunächst die Lesbarmachung der Arbeiter*innen und die Fragmentierung des Arbeitsprozesses, die App-gestützte Lieferarbeit ermöglichen. Lieferplattformen müssen dem Problem des Kalkulierbar-­Machens von Essenslieferungen begegnen (Richardson, 2020a) und tun dies mehrheitlich, indem sie flexibilisierte Arbeiter*innen über ein System algorithmischer Kon-

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trolle koordinieren. Der Arbeitsprozess wird dabei in kleine Schritte runtergebrochen, die die Arbeiter*innen pro Lieferung nacheinander, einzeln per App durcharbeiten und per Swipen als erledigt markieren (Herr, 2017). Der Flow des Arbeitsprozesses wird so in einzelne mit Zeitmarken und evaluierbaren Schätzungen versehene Teilprozesse zergliedert. Die für die Lieferarbeit verwendeten Smartphone-Apps erfassen somit gleichzeitig auch die Performance der Arbeitenden. Sie schaffen eine Datengrundlage, auf der der Zugang zu (beliebten) Schichten anhand des Rankings der Arbeitenden kontrolliert wird (Richardson, 2020a; Ecker & Strüver, 2022). Weitere nicht offizielle Nutzungen dieser Daten, etwa zur Aussiebung von Gewerkschaftsaktiven oder weniger effizient Arbeitenden in der Probezeit oder beim Auslaufen eines befristeten Vertrags, sind möglich. Zusammen ergeben diese Fragmentierung und Kontrolle das Modell der digitalen Taylorisierung (Altenried, 2019; Raffetseder et  al., 2017), einen Modus der Arbeitsorganisation mit bedeutenden räumlichen Implikationen: „Digital technology in the form networked devices, sensors and apps has moved Taylorist discipline as well as time and motion studies outside the enclosed spaces of factories and into the urban space of the logistical city.“ (Altenried, 2019, S. 122)

Über digitale Plattformen wird die Reichweite der betrieblichen Disziplinarmacht auf die Stadt als Arbeitsort ausgedehnt  – eine Erfahrung, die ein Kurier, den wir als sogenannten freien Dienstnehmer im Rahmen eines Forschungsprojekts interviewt haben, mit Fabrikarbeit vergleicht: „Bei mjam ist das teilweise extrem. Wenn ich nicht auf Liefereingänge reagiere innerhalb von fünf Minuten, dann wird man sofort eine halbe Stunde aus dem Job entfernt. Und das ist halt schon, für mich hat es was von Fließbandarbeit“ (Ecker & Strüver, 2022). Zuletzt bringt das Smartphone als digital companion noch eine weitere Dimension mit in den Arbeitsprozess: die der Entfremdung. Denn während auf subjektiver Ebene bei Kund*innen eine geschmeidigere Weltaneignung erfahrbar wird, so steht dieser für Plattformarbeiter*innen eine doppelte Ausbeutung bzw. Entfremdung gegenüber. Van Doorn und Badger (2020, S. 1476) stellen klar, dass Arbeiter*innen nicht nur ihre Arbeitskraft veräußern, sondern eine zweite Form von Wert generieren: „the monetary value produced by the service provided is augmented by the use and speculative value of the data produced before, during, and after service provision.“ Über das Smartphone produzieren die Arbeiter*innen nicht nur die Dienstleistung des Lieferns, sondern produzieren ebenfalls die Grundlage für algorithmisches Lernen, die Verbesserung der Plattformen und ihre spekulative Bewertung durch Risikokapitalgeber*innen, auf die diese Plattformen meist angewiesen sind (für Uber, siehe Attoh et al., 2019).

14.4 Ausblick: Digitale Alltagskultur und Stadtraum Digitale Plattformen und Smartphones als Digital Companions prägen bereits heute das Erleben städtischer Räume und restrukturieren Praktiken, etwa in den Bereichen Arbeitsorganisation und Konsum. Das oben ausgeführte Beispiel der Lieferplattformen ver-

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anschaulicht dabei die ungleichen und differenziellen Auswirkungen der Plattformisierung in Bezug auf Weltaneignung sowie Privatsphäre. Die Welt- und Stadt- und auch die Selbstaneignung mit Hilfe von Digital Companions ist dabei nicht auf den Bestell-, Liefer- und Verzehrvorgang beschränkt. Die Apps von Plattformen wie Lieferando liefern nicht nur Pizza, sondern auch Verhaltensprofile von Arbeitenden und Konsumierenden – und (re)konfigurieren dadurch zukünftige Bestell-, Liefer- und Verzehrvorgänge. Die automatisierte Datenverarbeitung und das Gefüge aus Plattform-plus-Smartphone beeinflussen, welche zukünftigen Geschäftspartner*innen, Gerichte oder Routen vorgeschlagen werden. Auf mikropolitischer Ebene zeigt sich zugleich die differenzielle Agency, die Menschen als Plattformurbanist*innen zukommt. Während das Smartphone für die einen also als Schnittstelle zum Konsum und als Teil des Alltagsflows inklusive einer „reibungslosen Convenience“ (Bissell, 2020) als komfortable kommodifizierte Weltaneignung fungiert, so ist es auch Ort von Verunsicherung, Frustration, moralischer Urteilsbildung und z. T. sogar existenziellen Selbstzweifeln (ebd.). Solche mikropolitischen Aushandlungen in den Blick zu nehmen, hilft dabei, die alltäglichen und affektiven Dimensionen zu verstehen, die das sonst meist strukturalistisch betrachtete Plattformwachstum antreiben oder auch ins Stocken bringen. Zu diesen Aspekten der Subjektkonstitution tritt für andere – die Plattformarbeiter*innen  – zudem die Rolle des Digital Companion als Agent der Kon­trolle, der Fragmentierung von Prozessen sowie der Entfremdung hinzu. Hier zeigen sich auch Veränderungen aufgrund plattformvermittelter Raumproduktionen: Plattformarbeit bringt eine Disziplinarmacht mit sich, die nicht auf die räumlich abgeschlossene Form der Fabrik angewiesen ist, um Arbeiter*innen zu beherrschen. Plattformvermitteltes Stadtleben verändert zudem die Verbindung von Privatsphäre und (Privat-)Raum, da die Lesbarkeit von Kund*innen im digitalen Alltag zunimmt. Gleichwohl sind die obigen Ausführungen nicht als erschöpfende Aufzählung zu verstehen, besonders, da es weitere Formen von feminisierter Plattformarbeit und Plattformtypen gibt, für die andere Logiken greifen bzw. hinzutreten (Ecker et al., 2021). Insgesamt zeigt sich, dass die (Geschäfts-)Modelle und Praktiken kommerzieller Plattformen ein komplexes Bild differenzieller Betroffenheit ergeben, in dem Gewinne und Verluste von Selbstbestimmung sowie Privatsphäre ungleich verteilt sind – und am Ende des Tages allen voran die Plattformunternehmen selbst die finanzielle und informationelle Monopolrente für die Vermittlung einstreichen.

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Y. Ecker und A. Strüver

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Eine Welt aus Daten Wechselwirkungen zwischen (Geschäfts-)Modellen, Praktiken, Privatsphäre und Weltaneignung

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Nikolai Rohmann

Zusammenfassung

Der Basiskommentar zu den Wechselwirkungen zwischen (Geschäfts-)Modellen und entsprechenden Praktiken auf der einen Seite und Privatsphäre und Weltaneignung auf der anderen erläutert die Grundlagen einer datenbasierten Transformation. Diese bringt durch neue Basistechnologien wie Data Analytics neue (Geschäfts-)Modelle und Praktiken wie die Nutzung von Big Data hervor. Entsprechende Auswirkungen zeigen sich unter anderem in einer individuellen Kosten-Nutzen-Rechnung im Bereich der gefühlten Privatsphäre und in der Frage nach dem Zugang zur Welt, wenn digitale Services und Algorithmen den Alltag mitprägen. Am Beispiel von Tracking und Navigation werden Impulse für die Reflexion möglicher Auswirkungen formuliert. Abschließend zeigen fünf Beispiele, wie geographische Bildung die komplexen Wechselwirkungen als Lehr-Lerninhalt implementieren kann. Dabei werden geographischer Fachinhalt mit Medienanalyse und -kritik verknüpft und die technologische, anwendungsbezogene und gesellschaftlich-kulturelle Perspektive von digitaler Bildung betont. Schlüsselwörter

Geoinformationen · Geodaten · Weltaneignung · Privatsphäre · Algorithmen

N. Rohmann (*) Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein, Schleswig-Holstein, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_15

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N. Rohmann

15.1 Neue (Geschäfts-)Modelle und Praktiken 15.1.1 Grundlagen der Entwicklung Die datenbasierte Transformation von (Geschäfts-)Modellen und Praktiken verändert die wirtschaftlichen Strukturen in allen Sektoren und deren Grundlage, der weltweite Datenberg, soll bis zum Jahr 2025 auf circa 176 Zettabyte anwachsen (IWD, 2019). Mit dieser Ansammlung von Daten geht auch ein Paradigmenwechsel einher: „Nicht mehr das physische Produkt, sondern die durch das Produkt generierten Daten sind das eigentliche Asset bzw. der eigentliche Werteträger“ (Pflaum & Schulz, 2019, S.  13). Diese Transformation basiert ebenso auf der technologischen Ausstattung einer Gesellschaft, die sich durch immer mehr smarte Produkte und passende smarte Services auszeichnet (Pflaum & Schulz, 2019). Die Entwicklung mündet im sogenannten Internet of Things (IoT), der Ort, in dem Gegenstände miteinander verbunden sind, Daten erzeugt und kombiniert werden und bis 2025 etwa 75  Mrd. Geräte integriert sein sollen (Welte et al., 2020). Der beschriebene Wandel führt zu datengetriebenen Unternehmen, die die Veränderung „vom traditionellen, produktorientierten zum datenzentrierten, digitalen Geschäftsmodell durchlaufen“ (Pflaum & Schulz, 2019, S. 5). In diesen Unternehmen werden „Daten für die Steigerung von Effizienz, Flexibilität und Agilität der Produktionsprozesse einerseits und für die Steigerung des Umsatzes andererseits herangezogen“ (Pflaum & Schulz, 2019, S. 8). Dabei greifen sie in ihren Praktiken auf die Basistechnologien der Digitalisierung wie Data Analytics, Cloud und Mobile Computing, Social Media, Additive Manufacturing und Advanced Robotics und maschinelles Lernen zurück, um Daten betriebswirtschaftlich nutzen zu können (Pflaum & Schulz, 2019; Welte et al., 2020). Innerhalb dieser Unternehmen gibt es solche, die auf Geodaten spezialisiert sind und entsprechend als Geoinformationsindustrie zusammengefasst werden können. Sie nutzen im Besonderen Technologien der Vermessung, Kartierung, Fernerkundung, Satellitennavigation und der Ortung: „Geoinformation industries mainly exploit and utilize geographic information (geoinformation), i.  e., the production, processing and application of geographic information. … The main aim of the geoinformation industry is to provide geoinformation products and services“ (Zhang et al., 2015, S. 2872).

15.1.2 Daten, Geodaten, (Geschäfts-)Modelle und Rollen Daten entstehen, wenn Zeichen nach vorgegebenen syntaktischen Regeln angeordnet werden. Sie „können somit als codierte Zeichen oder Zeichenketten gefasst werden, die auf dieser Stufe der Begriffshierarchie jedoch noch keinem Verwendungszweck zugeordnet sind“ (Dorfer, 2018, S. 9). Vielmehr können sie „als Quelle von Informationen und Wissen betrachtet werden. Für Unternehmen fungieren Daten damit als elementare betriebs-

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wirtschaftliche Ressource“ (Dorfer, 2018, S.  10) und bilden die Grundlage für datenzentrierte und digitale (Geschäfts-)Modelle. Daten können unterschiedlich kategorisiert werden und einen zentralen Teil bilden Geodaten bzw. Geoinformationen, die „so etwas wie der Klebstoff zum Zusammenführen von Informationen aus verschiedensten Quellen“ (Fitzke & Greve, 2010, S. 733) sind. 80 % aller Informationen haben einen Raumbezug und auch bei den bedeutenden nutzergenerierten Inhalten handelt es sich überwiegend um Geoinformation (Fitzke & Greve, 2010). Bei datenzentrierten und digitalen (Geschäfts-)Modellen erfolgt die Wertschöpfung über die „Vermarktung von datengetriebenen Dienstleistungen auf Basis sogenannter „As-a-Service“-Bezahlmodelle (Infrastruktur, Hardware, Service, Daten)“ (Pflaum & Schulz, 2019, S.  12). Es haben sich unter anderem folgende spezifische (Geschäfts-) Modelle entwickelt: Data-as-a-Service, Digital-Products-as-a-Service, Mobility-as-a-Service (Welte et al., 2020), Data-enhanced-Products und Data-as-Insights (Dorfer, 2018). Eine wichtige Praktik hierbei ist das Erstellen von ausdifferenzierten und individuellen Nutzer*innenprofilen auf Basis der gesammelten Daten, „deren Verfeinerung mit dem expliziten Ziel verfolgt wird, möglichst schon zu wissen, was ein Nutzer will, bevor dieser es selbst weiß“ (Dolata, 2014, S. 30 f.). Es können also anhand dieser Prognose Wünsche bei den Nutzer*innen antizipiert und auch generiert werden. Die individuellen und differenzierten Profile „dienen den Konzernen auch als wichtiger Input für ihre Forschung und Produktion und tragen dazu bei, ihre Produkte und Dienste zu verfeinern und möglichst genau auf die Präferenzen der Nutzer auszurichten“ (Dolata, 2014, S. 30 f.). Eine weitere bedeutende Praktik ist das Verknüpfen von Daten. Unternehmen erzielen einen größeren Mehrwert, „wenn sie … Experience-Daten mit ihren operativen Daten verknüpfen. Denn so erkennen sie Zusammenhänge zwischen der Unternehmensperformance, beispielsweise den Absatzzahlen in einer bestimmten Region, und den Kundenrückmeldungen.“ (Welte et al., 2020, S. 121)

In diesem und dem folgenden Beispiel wird die notwendige Verknüpfung von (Geo-) Daten deutlich: „Beispielsweise nutzen Versicherungen bereits heute Satellitendaten für ihre Risikomodelle. Die European Space Agency (ESA) hat gemeinsam mit SAP einen digitalen Service geschaffen, der es Versicherungen ermöglicht, mithilfe geographischer Satellitendaten die Risiken und Kosten von Naturkatastrophen präziser zu bewerten. Der Service kombiniert Geodaten wie Wetter, Topografie und Vegetation mit Daten aus den Kernprozessen von Versicherungen.“ (Welte et al., 2020, S. 123)

Die Kombination von Daten und vor allem die Verwendung von Analytics Software ist entscheidend für den Aspekt der Privatsphäre, da hier die Datenweitergabe und damit auch der Datenschutz im Fokus stehen. Unternehmen müssen im IoT mit Dritten kooperieren, denn sie können „nicht mehr alle Fähigkeiten […], die für erfolgreiche Lösungen erforderlich sind, allein abdecken“ (Brandt & Kordel, 2019, S. 143).

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N. Rohmann

Abb. 15.1  Aspekte der datenbasierten Transformation

In Bezug auf die (Geschäfts-)Modelle und Praktiken haben sich auch neue Rollen etabliert. Die Privatperson als Internetnutzer*in ist der „zentrale Treiber für das Datenwachstum. […] Die nutzergetriebene Datengenerierung ist dabei im Regelfall nicht autark vom unternehmerischen Kontext, sondern in diesen eingebettet“ (Dorfer, 2018, S. 11). An dieser Stelle ist der Begriff Produser zu nennen (Dorfer, 2018), der besagt, dass Nutzer*innen sowohl Rezipient*innen als auch Produzent*innen sind. Produzent*innen, Nutzer*innen, Produser, Plattformbesitzer*innen und -anbieter*innen bilden die wesentlichen Rollen (Pflaum & Schulz, 2019). Abb.  15.1 fasst die zentralen Aspekte der bis hierhin beschriebenen datenbasierten Transformation zusammen.

15.1.3 Nicht kommerzielle Plattformen Nicht kommerzielle Plattformen folgen ähnlichen (Geschäfts-)Modellen, wenn es um die Verwendung von Daten bspw. für einen Service oder ein Produkt geht. Sie greifen in der Regel auch auf die Doppelfunktion der Nutzer*innen als Produser (rezipieren und produzieren) zurück, aber nutzen diese zum Teil als transparentes Kernelement ihrer Plattform. Ein Beispiel ist hierfür die Plattform mundraub.org, bei der die Nutzer*innen selbstständig öffentlich zugängliche Obstbäume in einer Karte eintragen und Gruppen gründen können (mundraub.org, o. J.). Die Kosten für die Infrastruktur werden unter anderem über Spenden finanziert, doch gerade in Bezug auf die Finanzierung kann es grundsätzlich bei nichtkommerziellen Plattformen zu Überschneidungen mit kommerziellen Plattformen kommen (Dolata, 2014). Inwiefern nichtkommerzielle Plattformen auf Services Dritter zurückgreifen und damit Daten weitergeben, kann hier nicht ergründet werden.

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15.2 Privatsphäre und Weltaneignung1 15.2.1 Privatsphäre „In den Algorithmen kommen sie [die Menschen, d. Verf.] als Sensoren vor, die beständig Daten liefern (sollen)“ (Bader, 2016, S. 16). Diese Aussage wirft die Frage auf, wie viel Privatsphäre ein Mensch haben kann, wenn er als Sensor für ein Unternehmen fungiert (Kap. 14). Dass Privatsphäre zunehmend öffentlich bzw. der Teilnehmer*innenkreis an ihr größer wird, ist deutlich. Privatsphäre lässt sich grob auf zwei Ebenen darstellen. Auf der einen Ebene stehen rechtliche Aspekte wie z. B. die Datenschutzgrundverordnung und das damit einhergehende Recht auf Vergessen. Auf der anderen Ebene steht die individuelle, die gefühlte Privatsphäre und es „kann davon ausgegangen werden, dass die Wahrnehmung von Privatsphäre-Risiken … nach bestimmten Verbrauchermerkmalen variiert“ (Kroschke, 2018, S. 183). Letztere Ebene ist für die geographische Bildung von größerer Bedeutung (Kap. 16), da es das individuelle Bedürfnis nach Privatsphäre ist, das entscheidend für die Bewertung von (Geschäfts-)Modellen und den Erfolg einzelner Plattformen ist. Dieses individuelle Bedürfnis ist auch Teil einer individuellen Abwägung, die sich im Kontext der neuen (Geschäfts-)Modelle etabliert hat: „Der Deal ist simpel und mittlerweile in das gesamtgesellschaftliche Grundverständnis in Form einer hinzunehmenden digitalen Kosten-Nutzen-Rechnung bei der Inanspruchnahme des Internets eingegangen“ (Schmitt, 2021, S.  21). Bei der Kosten-Nutzen-Rechnung im Kontext von Social Media wird das besonders deutlich. Hier entsteht ein Lebensmodus, „der heute, mit dem Ende der Privatsphäre (nach Zuckerberg), seinen absoluten Höhepunkt erfährt“ (Schmitt, 2021, S. 30). Die kritischen Aspekte ergeben sich nicht nur aus dem Datenschutz und Datensammeln, sondern ebenso aus der Frage nach der Verwendung und aus der Vernetzung von Daten oder Services mehrerer Plattformen. Der Missbrauch kann von allen Ebenen ausgehen, von einer staatlichen, institutionellen Ebene, wie Edward Snowden am Beispiel der National Security Agency (NSA) deutlich gemacht hat, bis zur privaten, individuellen Ebene, z.  B. bei Themen wie Mobbing. Auch vermeintlicher Nutzen kann in Missbrauch umschlagen: Manche Eltern wollen ihre Kinder im Blick haben und nutzen dafür Tracking Software, deren Daten aber wiederum missbraucht werden können, wie der Verein Digitalcourage beispielsweise in Bezug auf die App Schutzranzen deutlich macht (Rehwald, 2018).2

 Der Basiskommentar muss in Bezug auf diese zwei Begriffe eine Reduzierung der Komplexität vornehmen, da die Darstellung der verschiedenen Bedeutungsebenen hier keinen Platz findet. Entsprechend sind die folgenden Ausführungen und die Beispiele als Reflexionsimpulse zu verstehen. 2  Problematisch ist hier, dass die Daten der Tracking-Software nicht nur für die Eltern bestimmt sind, sondern über eine Cloud auch in Navigationssystemen und Smartphones von Dritten integriert werden sollen, um den Verkehr für Kinder sicherer zu machen. An dieser Schnittstelle sieht der erwähnte Verein Digitalcourage die Möglichkeit des Missbrauchs: „Pädophile könnten das System hacken und gezielt nach Kindern suchen“ (Rehwald, 2018). 1

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Am Beispiel des Fitness-Trackers werden die zu reflektierenden Elemente der (Geschäfts-)Modelle deutlich: (A) Der Aspekt des Sammelns aktivitäts- und ortsbezogener Daten (Brandt & Kordel, 2019) (B) Die Vernetzung verschiedener Dienste: „Um einen Mehrwert jenseits des Ansporns zu mehr körperlicher Betätigung zu schaffen, müssten diese Daten jedoch mit weiteren gesundheitsbezogenen Daten, beispielsweise Körpergewicht, Temperatur, Luftqualität etc. angereichert werden“ (Brandt & Kordel, 2019, S. 143). (C) Die Optimierung des eigenen Lebens, bspw. durch die Verringerung von Versicherungsbeiträgen bei einem bestimmten Verhalten (Moser, 2019) (D) Die Konsument*innen als Teil des (Geschäfts-)Modells: „Relaunch of the Runtastic app … emphasize the importance of our investments in customer relationship management to allow a deeper consumer understanding“ (Adidas, 2019, S. 53). Dieses Beispiel macht die Auswirkungen von Fitness-Trackern auf die Privatsphäre deutlich und auf der einen Seite ist die die Vernetzungs- und Feedbackoption zu Sporterlebnissen und auf der anderen Seite möglicher Missbrauch erkennbar.

15.2.2 Weltaneignung Je vernetzter und smarter die Welt ist, desto stärker verändern sich die Lebenswelten hin zu „algorithmisierten Lebenswelten“ (Bader, 2016, S. 10) und somit verändert sich auch der Prozess der Weltaneignung, sprich der Prozess, etwas in die eigene Reichweite zu bringen: „Das kulturelle Antriebsmoment jener Lebensform, die wir modern nennen, ist die Vorstellung, der Wunsch und das Begehren, Welt verfügbar zu machen. Lebendigkeit, Berührung und wirkliche Erfahrung aber entstehen aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren.“ (Rosa, 2019, S. 8)

Das „Unverfügbare“ ist der Aspekt in der algorithmisierten Lebenswelt, der bei den neuen (Geschäfts-)Modellen stärker in den Hintergrund rückt, da Daten genutzt werden, um Zukunft zu antizipieren und sie noch vor den Nutzer*innen zu kennen. Inwiefern das die von Rosa angesprochene Lebendigkeit und wirklichen Erfahrungen beeinflusst, muss geographische Bildung diskutieren. Was passiert, wenn ich als Person nicht aus mir selbst heraus der Welt begegne, sondern durch Gamification-Elemente dazu ermuntert werde? Wie fühlen sich die 10.000 Schritte an, wenn man sie geht, weil das Smartphone vibriert? Geographische Bildung muss die Frage stellen, „wie Menschen sich die neuen Möglichkeiten aneignen und die Rahmenbedingungen ihrer Lebenswirklichkeiten neu bestimmen“ (Bader, 2016, S. 11).

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Die Auswirkungen auf die Weltaneignung sind im Gegensatz zur Privatsphäre vor allem indirekt mit den (Geschäfts-)Modellen verbunden. Auf die von den Plattformen geprägte Welt reagiert der Mensch mit anderen Praktiken. Ein Blick auf die Navigation mit Karten- und Ortungsdiensten zeigt, inwiefern die Auswirkungen auf Ebene der Weltaneignung reflektiert werden können: In welcher Beziehung stehe ich zur Joggingstrecke, wenn mir eine Stimme sagt, wann ich abbiegen soll? Geht man nach Rosa, wäre die größte Auswirkung auf die Weltaneignung, dass man es mit einer toten Welt zu tun hätte, denn eine „Welt, die vollständig bewusst, geplant und beherrscht wäre, wäre eine tote Welt“ (Rosa, 2019, S. 8). Rennt man also durch eine tote Welt, wenn die Navigationsapp die Welt für einen beherrscht und die Route entsprechend der Fitness geplant wurde? Wird die Welt erst lebendig, wenn man sich verläuft und sich im Sinne eines Irritationssinns (Jansen, 2018) orientieren muss?

15.3 Bedeutung für geographische Bildung Die in Abschn. 15.2 aufgestellten Fragen, Reflexionsimpulse und Beispiele sind Ansatzpunkte, um Lernenden eine vertiefende Analyse der eigenen (digitalen) Lebenswelt zu ermöglichen. Selbsterfahrung ist notwendig, um zu spüren, was die Komplexität der neuen (Geschäfts-)Modelle und Praktiken bei einem auslöst, wie sich die Rolle als Produser oder wie sich die Situation, auf die Version einer von Dritten antizipierten Zukunft zuzugehen, anfühlt. Dies kann gelingen, indem (a) die eigene Rolle und (b) der Fakt, Teil von (Geschäfts-)Modellen und von Wertschöpfung zu sein, reflektiert sowie (c) die Komplexität von Datentransfer zwischen Unternehmen analysiert und (d) die ökonomische Bedeutung von (Geo-)Daten vermittelt wird. Die folgenden fünf Beispiele nennen inhaltliche Schwerpunkte und Fragestellungen für die Umsetzung im Lehr-Lernkontext. Die Herausforderung besteht darin, geographischen Fachinhalt sinnvoll mit Medienanalyse und -kritik zu verknüpfen, um mehr als „die Betonung des Fun-Faktors und das Einbinden eines bunten Bildschirms“ (Schmitt, 2021, S. 85) zu erreichen. Bei der Umsetzung kann sich an der Dagstuhl-Erklärung orientiert werden, die drei Perspektiven für digitale Bildung benennt: die technologische Perspektive (Wie funktioniert das?), die gesellschaftlich-kulturelle Perspektive (Wie wirkt das?) und die anwendungsbezogene Perspektive (Wie nutze ich das?) (Dagstuhl-Erklärung, 2016). Die folgenden Beispiele werden den vordergründigen Perspektiven zugeordnet, gleichwohl sind alle drei Perspektiven jeweils von Bedeutung. 1. Technologische Perspektive • Beim Einsatz von Apps und Plattformen wie Google Maps oder OpenStreetMap kann explizit die Funktionsweise thematisiert werden, indem Lernende z.  B. die Datengrundlage, die Autor*innenschaft oder die Datenschutzerklärungen untersuchen: Wer stellt aus welchen Gründen welche Inhalte bei Google Maps und wer bei OpenStreetMap ein und welche Bedeutung hat das für die Darstellung? Welchen

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Einfluss haben diese Plattformen auf die Weltaneignung, wenn man bei Google Maps, z. B. abhängig vom eigenen Standort, unterschiedliche Grenzen bei der Krim sieht (Lokshin & Kühl, 2014) oder je nach Suchverlauf verschiedene Highlights in der Karte? • Ein kritischer Zugang zu den neuen (Geschäfts-)Modellen kann aus Perspektive der Nachhaltigkeit erfolgen, indem die „often-hidden material dimensions of the digital“ (Knox, 2019, S.  365) reflektiert werden. Der Fokus auf Daten kann die Idee aufkommen lassen, dass diese (Geschäfts-)Modelle per se nachhaltig sind: Wie sind die neuen (Geschäfts-)Modelle auf Ebene der Energie, der Materialität und der Arbeitskraft zu bewerten? 2. Gesellschaftlich-kulturelle Perspektive • Die neuen (Geschäfts-)Modelle und Praktiken sollen Smart Cities und Smart Homes hervorbringen. Die Beschreibungen dieser smarten Orte reichen von „erstrebenswerter Utopie“ bis „Dystopie der fremdgesteuerten Überwachung und Kontrolle“ (Bauriedl & Strüver, 2018, S.  12). Ein Zugang zu diesen Themen kann erfolgen, indem Technologien und deren Vernetztheit in einem bestimmten Gebiet kartiert und folgende Fragen gestellt werden: Inwiefern sind meine Daten Teil dieses kartierten Netzes? „Welchen Einfluss haben die großen IT-Konzerne auf die Gestaltung und das Management von Städten?“ (Bauriedl & Strüver, 2018, S. 11). • Im Sinne einer postdigitalen Perspektive kann dies auch der Schritt sein, um herauszuarbeiten, inwieweit Technologie bereits in die Umwelt eingebettet und in soziale Praktiken, Ökonomie und Politik verwoben ist (Knox, 2019). • Selbsterfahrung kann erreicht werden, indem z. B. ein Vergleich zwischen zwei Erlebnissen erfolgt. In einem ersten Schritt lässt sich der*die Lernende von einer App von A nach B navigieren und in einem zweiten Schritt prägt sich der*die Lernende eine Route ein und geht diese im Anschluss ohne Navigationshilfe: Worauf achte ich im Raum? Wie orientiere ich mich? Bei welcher Variante habe ich meine Um- bzw. Mitwelt intensiver wahrgenommen? 3 . Anwendungsbezogene Perspektive • Die Rolle als Produser kann aktiv reflektiert werden, indem Lernende Teil der Community werden und z. B. die bei mundraub.org dargestellten essbaren Landschaften mit dem Realraum vergleichen und neue Bäume und Sträucher in der Karte eintragen.

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Bauriedl, S., & Strüver, A. (2018). Raumproduktionen in der digitalisierten Stadt. In S. Bauriedl & A.  Strüver (Hrsg.), Smart City  – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten (S. 11–30). transcript. Dagstuhl-Erklärung. (2016). Bildung in der digitalen vernetzten Welt. https://dagstuhl.gi.de/ dagstuhl-­erklaerung. Zugegriffen am 14.06.2021. Dolata, U. (2014). Märkte und Macht der Internetkonzerne. Universität Stuttgart. Dorfer, L. (2018). Erfolgsstrategien datenzentrischer Geschäftsmodelle. Springer Fachmedien. Fitzke, J., & Greve, K. (2010). Frei oder umsonst?  – Nutzergenerierte Geoinformation zwischen Freiheit und Kostenlosigkeit. In J. Strobl, T. Blaschke, & G. Griesebner (Hrsg.), Tagungsband: Angewandte Geoinformatik 2010 (S. 732–741). Wichmann. IWD (Der Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft). (2019). Datenmenge explodiert. https://www.iwd.de/artikel/datenmenge-­explodiert-­431851/. Zugegriffen am 01.03.2020. Jansen, S. (2018). Die Befreiung der Bildung. Nicolai Publishing & Intelligence GmbH. Knox, J. (2019). What does the ʻPostdigitalʼ mean for education? Three critical perspectives on the digital, with implications for educational research and practice. Postdigital Science and Education, 1(2), 357–370. Kroschke, M. (2018). Privatsphäre im Internet. In C. Bala & W. Schuldzinski (Hrsg.), Beiträge zur Verbraucherforschung (Bd. 8, S. 181–196). Verbraucherzentrale NRW. Lokshin, P., & Kühl, E. (2014). Grenzen wie sie gefallen. https://www.zeit.de/digital/internet/2014-­04/ukraine-­krim-­google-­maps-­grenze. Zugegriffen am 14.06.2021. Moser, H. (2019). Einführung in die Medienpädagogik. Aufwachsen im digitalen Zeitalter. Springer Fachmedien. mundraub.org. (o. J.). Über uns. https://mundraub.org/%C3%BCber-­uns. Zugegriffen am 03.03.2020. Pflaum, A., & Schulz, E. (2019). Auf dem Weg zum digitalen Geschäftsmodell: „Tour de Force“ von der Vision des digitalisierten Unternehmens zum disruptiven Potenzial digitaler Plattformen. In S.  Meinhardt & A.  Pflaum (Hrsg.), Digitale Geschäftsmodelle  – Band 1 (S. 3–21). Springer Fachmedien. Rehwald, R. (2018). Helikopter-Eltern tracken gern. https://taz.de/App-­soll-­Grundschueler-ueber­ wachen/!5479962/. Zugegriffen am 24.07.2020. Rosa, H. (2019). Unverfügbarkeit. Residenz. Schmitt, P. (2021). Postdigital. Medienkritik im 21. Jahrhundert. Felix Meiner. Welte, T., Klipphahn, F., & Schäfer, K. (2020). Wie die Luft- und Raumfahrtindustrie von digitalen Geschäftsmodellen und Megatrends profitiert. In S. Tewes, B. Niestroj, & C. Tewes (Hrsg.), Geschäftsmodelle in die Zukunft denken (S. 119–130). Springer Fachmedien. Zhang, H.-F., Du, Q.-Y., & Qiao, C.-F. (2015). Present state and trends of the geoinformation industry in China. Sustainability, 7, 2871–2884.

(Un-)Sichtbarkeit im Geoweb – was Privatsphäre bei der Nutzung digitaler Geomedien bedeutet

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Implementierung einer geographiedidaktischen Lernumgebung für einen reflektierten Umgang mit digitalen Geomedien Romy Hofmann

Zusammenfassung

Oft erfolgt eine polarisierende Auseinandersetzung mit der Digitalisierung im Sinne ihrer Potenziale oder Risiken. Zwischen Befürwortung und Ablehnung zeigen sich Komplexität, Mehrdeutigkeit und Unsicherheiten dieser Entwicklung. Auf der einen Seite versprechen digitale Geomedien eine intuitive Nutzung, Vernetzung und effektivere Kommunikation sowie Orientierung; andererseits steht ihrem Gebrauch die Angst vor einem willkürlichen Datensammeln und der Überwachung gegenüber. Das Thema Datenschutz erfordert auch in der geographischen Bildung ein gesteigertes Bewusstsein und Wissen, denn Daten sind aufgrund der Möglichkeit räumlicher Verortung Teil unserer Identitäten. Schüler*innen sollen dafür sensibilisiert werden, dass ihr Handeln zunehmend auch in virtuellen Räumen Spuren hinterlässt, um somit eigene Verantwortung beim Nutzen digitaler Geomedien anzubahnen und sich trotz der Komplexität und Unsicherheit bewusst zu positionieren. Schlüsselwörter

Geoweb · Privatsphäre · Geodatenspuren · Reflexion · Raumkonstruktionen · Ethik/Moral Ergänzende Information Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann [https://doi.org/10.1007/978-­3-­662-­66486-­5_16]. R. Hofmann (*) Lehrstuhl für Didaktik der Geographie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_16

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R. Hofmann

16.1 Ausgangspunkt: Voraussetzungen und Schwerpunkte „Who we are, where we are, what we do, and how we feel is shared in spatial contexts“ (Shin & Bednarz, 2019, S. 3). Mit Hilfe von digitalen Geomedien können wir unsere alltäglichen Handlungen zeitlich und räumlich auf- und nachzeichnen. Ob wir unseren Standort in einem sozialen Netzwerk mit Freund*innen teilen, politische Entscheidungen auf Twitter kommentieren oder Essen über eine App nach Hause liefern lassen – immer werden räumliche Daten erhoben, weiterverarbeitet bzw. verknüpft und gespeichert. Möglich werden solche Handlungen mit dem Web 2.0, in dessen Zuge sich die Kartographie von der vormals durch „Expert*innen“ geprägten Wissenschaft zum kollaborativen bzw. interaktiven Webmapping weiterentwickelte. Gesellschaftliche Partizipation, z. B. in Form der Teilhabe an stadträumlichen Planungsprozessen, gilt als ein Gewinn dieser Entwicklungen (u. a. Felgenhauer & Quade, 2012; Thimm, 2017). Daneben werden in der geographischen Forschung nutzer*innengenerierte Daten aus sozialen Netzwerken (z. B. Instagram, Facebook, Foursquare) verwendet, um Analysen über die raumzeitliche Verteilung menschlicher Handlungen anzustellen, oder auch sozialräumliche Segregation sowie die Verbreitung von Krankheiten aufzuzeigen (vgl. Boy & Uitermark, 2016; Calafiore et  al., 2021; Martí et  al., 2019; Paul & Dredze, 2011). Kritisch an diesen Entwicklungen sind die Möglichkeiten von Überwachung, Eingriffen in die Privatsphäre sowie die Fokussierung wirtschaftlicher Interessen durch große Unternehmen, die im Besitz jener Daten sind. Das Geoweb eröffnet das Feld für öffentliche Kommentare (z. B. die Karte https://www.oshimaland.com/, über die stigmatisierte Gebäude/Orte weltweit eingetragen werden können bzw. https://hoaxmap.org/, die versucht, Vorurteile zu widerlegen), die durch Bedeutungszuschreibung als machtvolle Urteile über Menschen und Räume wirken können und deswegen kritisch hinterfragt werden müssen. Aus der Möglichkeit, große Mengen an Daten zu erheben und zu verarbeiten, erwachsen neue Fragestellungen. Diese betreffen grundlegend ethische und rechtliche Prinzipien wie Menschenwürde, Privatheit, Selbstbestimmung, Sicherheit, Demokratie und Nachhaltigkeit (vgl. DEK, 2019, S. 14 f.). Medienethische Ansätze erörtern die Bedeutung moralischer Werte und fordern den Menschen als verantwortungsbewusstes Wesen zur Reflexion seines Handelns in einer digital geprägten Welt auf. Auch eine zeitgemäße geographische Bildung muss bearbeiten, wozu Menschen digitale Technik nutzen, da damit stets räumliche Dimensionen verknüpft sind (insbesondere soziale Interaktionen zwischen einem physischen und digitalen Raum) und so die grundlegende Frage, in welcher Welt wir leben wollen. In der Überschneidung zwischen Geographie und Ethik können Aspekte von Digitalisierung, z. B. der Wert von Privatsphäre, gewinnbringend ergründet werden. Ausgehend von einer inhaltlich-fachlichen Klärung zentraler Inhalte zum Thema dieses Kapitels sowie fachdidaktischer Überlegungen wird im Folgenden ein Einblick in das Seminarkonzept gegeben. Aufgrund des thematischen Fokus wird nur auf die letzten beiden Vertiefungsmodule eingegangen. Ein Überblick zum Aufbau der Lehrveranstaltung ist als digitales Zusatzmaterial verfügbar (M1). Sie finden dieses unter der zu Beginn des Kapitels angegebenen DOI im Bereich „Elektronisches Zusatzmaterial“.

16  (Un-)Sichtbarkeit im Geoweb – was Privatsphäre bei der Nutzung digitaler …

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16.2 Rahmung: Geographiedidaktische Lernumgebung zur Anleitung eines kritisch-reflektierten Umgangs mit digitalen Geomedien Die Erstellung der Lernumgebung ist Teil eines Projekts zum digitalen Kompetenzerwerb der Lehramtsstudierenden an der FAU Erlangen-Nürnberg (DigiLLab). Digitale Bildung ist dabei einer von drei überfachlichen Profilschwerpunkten. Ziel des geographiedidaktischen Seminars ist das Lernen mit und über digitale(n) Medien, um bei Lehramtsstudierenden als spätere Multiplikator*innen einen angemessenen Umgang von Schüler*innen mit digitalen Geomedien im Fachunterricht anzubahnen. In einem Dreischritt, angelehnt an die von der GFD (2018) aufgeführten Positionen zur fachlichen Bildung in der digitalen Welt, erarbeiten sie sich fachliche Grundlagen, reflektieren eigene digitale Kompetenzen und übertragen Erkenntnisse auf unterrichtliche Kontexte.

16.2.1 Theoretische Fundierung 16.2.1.1 Fachliche Klärung Unternehmen und Geodatenspuren Die „Datenrevolution“ (Kitchin, 2014) verändert die Art und Weise, wie Wissen produziert wird und Individuen, Unternehmen und Regierungen agieren (ebd., S. xv). Beim Gebrauch digitaler Geomedien hinterlassen Nutzer*innen eine Vielzahl an Daten, die entweder direkt (z. B. Kameras im öffentlichen Raum), automatisiert (z. B. Kundenkarten beim Einkaufen) oder freiwillig (z. B. OpenStreetMap-Eintrag) erhoben resp. preisgegeben werden (ebd., S. 87 ff.). Große Unternehmen sind in der Lage, das Online- wie Offline-­Verhalten einer Person mittels digital erhobener Daten zu verfolgen (tracking) bzw. durch eine mathematisch-statistische Bewertung ihr zukünftiges Verhalten vorherzusagen (scoring) (Grimm et al., 2018, S. 22 f.). Aus einzelnen Daten werden Personen- bzw. Gruppenprofile erstellt, die Menschen in Kategorien sortieren, z.  B. nach Kreditwürdigkeit (welche aber nicht zwangsläufig „richtig“ sein muss, da bspw. unser Wohnort nichts über unsere finanzielle Lage aussagen muss), die wiederum für kommerzielle Interessen genutzt werden können. Auf den ersten Blick resultieren daraus keine schwerwiegenden Konsequenzen; oft können wir auch gar nicht wissen, was genau mit unseren Daten geschieht. Da der Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten ein Grundrecht ist, existieren Regelungen (Kap. 15), die uns vor Überwachung schützen sollen. Angefangen auf der Ebene des Privaten (Smart Homes) über öffentliche Räume (Smart Cities) bis hin zur globalen Ebene findet eine digitale Vernetzung von Menschen und Räumen statt. Wie wir Räume erleben, wird zunehmend durch Daten konstituiert, erweitert und vermittelt (vgl. Leszczynski & Crampton, 2016, S. 2). Einerseits hilft die Preisgabe ortsbezogener Daten z. B. bei der Nutzung von standortbezogenen Diensten, die uns die Suche nach einem Ort erleichtert; daneben erfährt sie politische Brisanz. Eine Google Map, die von Person A aufgerufen wird, muss nicht zwangsläufig die gleichen Elemente zeigen wie eine von Person B aufgerufene Karte, da der Algorithmus den Inhalt individu-

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ell (nach nationalem Kontext) differenziert – z. B. wird die Halbinsel Krim als Teil der Ukraine angezeigt, wenn die Karte von einer ukrainischen IP-Adresse abgerufen wird und aus dem russischen Raum entsprechend als Teil Russlands (vgl. Glasze, 2017, S. 70). Aus einer politisch-ökonomischen Perspektive interessiert vor allem, wie geographische Information Teil digitaler Ökonomie und damit kommerzialisiert wird (für das Beispiel Google Street View u. a. Alvarez León, 2016, S. 7 f.). In kollaborativen Projekten, wie OpenStreetMap (OSM), sind einerseits die Zugangsbarrieren zu kartographischen Praktiken stark gesenkt, gleichzeitig ist die Teilnahme noch von Ungleichheiten geprägt (Bittner & Glasze, 2018). Anhand des Beispiels der Repräsentation von Moscheen kann das verdeutlicht werden: Der sogenannte Ground-Truth-Ansatz schreibt vor, dass auf OSM nur jene Daten eingetragen werden sollen, die auch im physischen Raum als solche erkannt werden (ebd., S. 122). Moscheen sind nicht immer eindeutig zu identifizieren, weil sie oft als Hinterhof-­Moscheen gebaut und dem OSM-Code entsprechend nicht verzeichnet werden. Die sozialwissenschaftliche Kartographie- bzw. Geoweb-Forschung setzt sich mit Fragen nach dem Einfluss staatlicher und privatwirtschaftlicher Organisationen, Konsequenzen auf die Art der erhobenen Daten und deren Präsentation sowie den Möglichkeiten von Geodaten hinsichtlich der Überwachung und des Geo-Marketings auseinander (Glasze, 2014, S. 126). Privatsphäre Im 19. Jahrhundert führte die Verbreitung von Fotokameras zu dem Wunsch nach mehr Privatheit, da mit einer Kamera nun Fotos aus einem ganz privaten in einen anderen öffentlichen Kontext gelangen konnten. Heutzutage sind es die Aktivitäten (von Unternehmen) im Geoweb, die den Wunsch nach Privatsphäre erhöhen. Die Kontrolle über spezifisch ortsbezogene Informationen ist der Kern des Konzepts einer geoprivacy (Keßler & McKenzie, 2017) bzw. locational privacy (Duckham & Kulick, 2006). Als eine besondere Form der informationellen Selbstbestimmung beschreibt dies den Anspruch von Personen, selbst bestimmen zu können, wie und in welchem Ausmaß ihre ortsbezogenen Daten an andere Parteien weitergegeben werden. Der grundlegenden Funktion von Privatsphäre, sich geschützt zu fühlen, liegt der Wert der Selbstbestimmung zugrunde. Nicht die Abgeschiedenheit selbst, sondern die Befriedigung fundamentaler Bedürfnisse und damit des subjektiven Wohlbefindens wird im Zustand der Privatheit hergestellt (Masur, 2018, S.  450). Als psychologisches Konzept kann Privatheit entsprechend als freiwillig gewählte Abgeschiedenheit verstanden werden (ebd., S. 449), bei der je nach Bedürfnis die Person, deren Handeln, persönliche Kommunikation, Daten, Gedanken und Gefühle, der Ort und/oder die Gemeinschaft geschützt werden (Finn et al., 2013). Einige Autor*innen gehen davon aus, dass wir heutzutage in einer Gesellschaft leben, die Datenschutzrichtlinien nicht mehr aufrechterhalten könne, da zu viele Informationen verbreitet würden und Einzelpersonen keinen Überblick über ihre Möglichkeiten mehr besitzen, um sich im Web 2.0 hinreichend vor der Nutzung personenbezogener Daten zu schützen (u. a. Hagendorff, 2019; Heller, 2011). „Post-Privacy“-Anhänger*innen gehen so weit zu behaupten, dass es schädlich sei, eigene Daten vor anderen

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schützen zu wollen, da das die Freiheit des Internets behindere (vgl. Biermann, 2011). Eine wesentliche Erkenntnis zwischen den divergierenden Aussagen ist jedoch, dass die heutige Situation die Verantwortung jeder/s Einzelnen zum Schutz persönlicher Daten verstärkt. Privatsphäre muss aktiv selbst erzeugt und erhalten werden, z. B. durch Privatsphäre-­ Einstellungen und allgemeine Datensparsamkeit. Verantwortung ist bei der Nutzung digitaler Geomedien eine essenzielle Voraussetzung, die in zwei Richtungen wirkt: Einerseits sind Nutzer*innen von Geomedien in der Pflicht, verantwortungsvoll sowie moralisch gut mit Daten und Informationen in sozialen Netzwerken und Plattformen umzugehen; ebenso muss unser Schutz im Sinne einer Verantwortung von Unternehmen für die Verbraucher*innen gewahrt werden.

16.2.1.2 Fachdidaktische Fundierung Damit Schüler*innen Geomedien sowie deren technische Funktionen im Sinne einer raumbezogenen Handlungskompetenz (vgl. DGfG, 2020, S.  5) kennen und reflektieren lernen, müssen auch (angehende) Lehrer*innen dazu in der Lage sein. Fachdidaktisches Wissen wird in der Lernumgebung speziell am Thema der Geodatenspuren und Privatsphäre der zwei Vertiefungsmodule durch die Verknüpfung räumlicher Dimensionen (virtuell-­analog) mit den Wechselwirkungen eigenen Handelns angeleitet. Wissen über Bildungsziele und das Curriculum wird entlang von Lehrplänen und der von der KMK (2016) definierten sechs Kompetenzbereiche digitaler Bildung,1 von denen das Kommunizieren und Kooperieren, Problemlösen, sichere Agieren und Reflektieren im Mittelpunkt stehen, aufgebaut. Im Rahmen der für dieses Kapitel ausgewählten Lernmodule sind da­ rüber hinaus die von der GFD (2018) unter Punkt 3 und 4 erwähnten Kompetenzen zentral. Diese umfassen die Kenntnis technisch-instrumenteller Funktionsweisen von Geomedien und der Geschäftsmodelle von Anbieter*innen digitaler Karten sowie den Erwerb einer Kritikfähigkeit hinsichtlich der eigenen Nutzung von Geomedien, die derart angebahnt wird, dass die Lernenden über eigene Wertvorstellungen nachdenken, um zu begründeten Entscheidungen zu gelangen, die sie sowohl fachlich-inhaltlich als auch subjektiv-­personal stützen. In den Online-Modulen inbegriffen sind ethische Fragestellungen, die das eigene und das Handeln anderer in unserer digital geprägten Gesellschaft thematisieren. Die Lernenden sollen sich kollaborativ über eigene Erfahrungen austauschen und damit eigenes Wissen selbstständig überprüfen und bewerten.

16.2.2 Konzeptuelle Umsetzung Im Folgenden werden zwei Vertiefungsmodule vorgestellt, die die Geschäftsmodelle von Geoweb-Anbietern und darauf aufbauend die Bedeutung von Privatheit ausdifferenzieren.  1. Suchen, Verarbeiten und Aufbewahren, 2. Kommunizieren und Kooperieren, 3. Produzieren und Präsentieren, 4. Schützen und sicher Agieren, 5. Problemlösen und Handeln, 6. Analysieren und Reflektieren (KMK, 2016, S. 10–13). 1

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Der Aufbau der einzelnen Module folgt einer Dreiteilung. In Kap. 1 erhalten die Lernenden ein ca. zehnminütiges Einführungsvideo, in dem zentrale Begriffe und Denkpausen zur Reflexion eingebaut sind. Zur Vertiefung einzelner Aspekte wird ihnen im Anschluss daran ein weiteres Beispiel präsentiert. Auf diese instruktionale Phase folgt in Kap. 2 das konstruktive Übertragen und die Reflexion des erworbenen Wissens auf den eigenen Alltag. Kap. 3 gibt Anregungen für die Umsetzung im Geographieunterricht, die bearbeitet werden. Die Reflexion der Geschäftsmodelle und Praktiken (nicht-)kommerzieller Plattformen findet in enger Verzahnung mit der Reflexion über die Auswirkungen auf die individuelle Raumaneignung sowie die Privatsphäre statt (Abb. 16.1 und 16.2).

Abb. 16.1  Zusammenfassung der Inhalte und Formate des Vertiefungsmoduls 2

16  (Un-)Sichtbarkeit im Geoweb – was Privatsphäre bei der Nutzung digitaler …

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Abb. 16.2  Zusammenfassung der Inhalte und Formate des Vertiefungsmoduls 3

16.2.3 Arbeitsmaterialien Im Rahmen dieses Kapitels wird beispielhaft die Aufgabenstellung aus dem 3. Vertiefungsmodul der Lernumgebung, die die Studierenden im Seminar bearbeitet haben, als digitales Zusatzmaterial zur Verfügung gestellt (M2). Sie finden dieses unter der zu Beginn des Kapitels angegebenen DOI im Bereich „Elektronisches Zusatzmaterial“. Diese Aufgaben wurden in Anlehnung und Erweiterung an das von Hofmann et al. (2013) vorgeschlagene Entscheidungsmodell bei der Nutzung von Geomedien entwickelt.

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16.3 Ausblick: Reflexion und Übertragbarkeit Ausblick Die Lernumgebung durchläuft zum Zeitpunkt der Manuskripterstellung eine erste praktische Durchführung. Vor- und nachgeschaltet findet eine empirische Begleitforschung statt. In einem quantitativen Fragebogen wird die „digitale Bereitschaft“ (in Anlehnung an Hong & Kim, 2018) für diese geographiedidaktische Lernumgebung erhoben. Als abhängige Variablen werden u.  a. Überzeugungen zu digitalen Medien, subjektiv eingeschätztes Wissen sowie die Selbstwirksamkeit erfragt. Erste Itemanalysen deuten auf zufriedenstellende Reliabilitäten der Skalen sowie hohe Zustimmung bei allgemeinen und eher niedrigere bei spezifisch geographiedidaktischen Items. Herausforderungen In der Thematisierung von Geodatenspuren und dem Verhältnis zwischen Preisgabe und Privatsphäre bleiben offene Fragen; nicht immer gibt es ein Richtig oder Falsch und auch die Wissenschaft gibt keine eindeutigen Antworten. Das erfordert noch stärker die Fähigkeit von Schüler*innen, sich mit Fragestellungen auseinanderzusetzen, die nicht ­abschließend zu klären sind. In der diskursiven Auseinandersetzung kann es gelingen, eigene Werte und Standpunkte klar und reflektiert darzustellen und damit Handlungen, z. B. die Entscheidung bestimmte Geodienste (nicht) zu nutzen, möglich zu machen. Über Fachgrenzen hinaus im Fach denken Das Thema Geomedien und Privatsphäre tangiert die Rolle des traditionellen geographischen Wissens sowie die Bedeutung von Kartographie. Die geographische Relevanz resultiert aus der immensen Bedeutung räumlicher Bezüge und Auswirkungen auf unsere Weltsicht, da die Grenzen zwischen analogen bzw. physischen und digitalen bzw. virtuellen Räumen verschwimmen. Der Stellenwert dieser Themen für den Geographieunterricht ergibt sich entsprechend aus den räumlichen Konsequenzen digital geprägten Handelns von Schüler*innen. Ein Blick in andere Disziplinen (z.  B. (Medien-)Ethik, Informatik, Kommunikationsgeographie) bietet Anknüpfungspunkte für eine zeitgemäße geographische Auseinandersetzung. Personale Bildung Aufgrund der ethisch-moralischen Dimension des Themas Privatsphäre zeigt sich die Notwendigkeit einer digitalen personalen Bildung auch im Geographieunterricht. Dabei bietet sich die Geomediennutzung an, um individuelle Werte und Normen zu be- und auszuhandeln, sich selbst in Abgrenzung zu anderen zu positionieren und übergeordnet ­Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Der Fokus auf ethische Fragen kann für die angesprochenen Dimensionen sensibilisieren, um eine übergeordnete „fachspezifische Reflexions- und Kritikfähigkeit über digitale Medien“ (GFD, 2018, S.  3) anzubahnen.

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Übertragbarkeit Eine Übertragbarkeit der beiden ausgewählten Module auf (Lehramts-)Studierende ist in der Hinsicht gewährleistet, dass die Thematik geographieübergreifend relevant und alltagsnah ist. Eine weitere Zielgruppe betrifft die Schüler*innen. Auch hier kann die hohe Alltagsrelevanz eine Auseinandersetzung im Geographieunterricht erleichtern; dabei ist die individuelle Annäherung an das Thema Geodatenspuren hilfreich im Sinne einer Differenzierung des fachlichen Gegenstands. Stets bedarf es dabei einer Übersetzung von Inhalten, da insbesondere die technischen Hintergründe der Möglichkeiten von Eingriffen in die Privatsphäre hochspezialisiert sind (u. a. Liu et al., 2018). Es existiert eine Vielzahl an Ratgebern zum Umgang mit digitalen Medien (z.  B. klicksafe),2 die sinnvolle Anknüpfungspunkte bieten. Insgesamt ist das Thema so breit, dass es ausreichend Anwendungsmöglichkeiten bereithält. Desiderata Die Forschung zu Privatsphäre ist breit gefächert und zeigt die hohe Bedeutung des Themas. Allerdings sind geographische Ansätze noch wenig ausgearbeitet. Im gestiegenen Bewusstsein um die Notwendigkeit von Privatsphäre im Zusammenhang mit digitalen (Geo-)Medien zielen Beiträge neben technischen Gestaltungsmöglichkeiten zum Schutz ortsbezogener Daten verstärkt auch auf die empirische Klärung wahrgenommener Privatsphäre-­Risiken von Nutzer*innen bei der Preisgabe von ortsbezogenen Daten (u. a. Alrayes et al., 2019) und fokussieren bisweilen locational privacy (z. B. Banerjee, 2019). Für eine weitere empirische Auseinandersetzung bietet die Psychological Ownership Theory (Kirk & Swain, 2018) einen Beitrag, um die Relevanz des Unsichtbaren von Privatsphäre und den Auswirkungen der Datenpreisgabe stärker zu berücksichtigen. Genauso kann das Prozessmodell der Online-Privatheitskompetenz (Masur et al., 2017, S. 10) dazu dienen, geographische Umsetzungen zu entwickeln.

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 Über die folgende Internetseite stehen Materialien zum Download bereit: https://www.klicksafe.de/ materialien/ (12.07.2021). 2

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R. Hofmann

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Perspektive 6

Geographische Bildung in digitalen Kulturen gibt Orientierung für Berufsfelder, die sich im Zuge des digitalen Wandels verändern bzw. neu entstehen. Kap. 17: Basiskommentar Nachdem die Perspektive #6 argumentativ verankert und das Orientierung-Ermöglichen als pädagogische Haltung eingeführt ist, werden vier mögliche Fachinhalte mit geographischem Erkenntnisinteresse skizziert, die die Veränderungen in der Berufswelt als Ganzheit erfassen lassen. Hierbei spielen u. a. Zukunftsforschung und folgende Frage eine Rolle: „Was ist Menschsein und was bedeutet Menschbleiben?“. Das Kapitel schließt mit zehn Vorschlägen für weitere Entwicklungen. Kap. 18: Good-Practice-Beispiel Die Relevanz des Fachs Geographie hängt nicht zuletzt vom Bewusstsein der immer wichtigeren GIS-Kompetenz als Future Skill für geographiespezifische Berufsfelder ab. Fünf Good-Practice-Beispiele geographischer Bildung mit GIS-Technologien zeigen, wie Lernende auf die neuen Anforderungen vorbereitet werden und wie Dozierende mit direkten Bezügen zu veränderten Berufsfeldern authentische Lernumgebungen im Fach Geographie schaffen können. Kap. 19: Forschungsbeitrag Die Notwendigkeit der Verzahnung der Themen Wandel der Arbeitswelt, Zukunftsforschung, Ethik und Future Skills ist ein Ergebnis der Projektstudie, die in der Lehrveranstaltung Work 4.0 Entwicklungsszenarien der Arbeitswelt von Geograph*innen durchgeführt wurde. Die im Sinne des Forschenden Lernens durchgeführten elf Expert*inneninterviews zeigen, dass – neben einer positiven Grundhaltung zukünftigen Herausforderungen gegenüber – ein Mangel an Futures Literacy und ein Bedarf an Zukunftsstrategien bestehen.

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Orientierung-Ermöglichen für eine digitale Berufswelt Future Skills, Zukünfte-Denken und #MenschseinMenschbleiben Angelika Neudecker

Zusammenfassung

Die Berufswelt wird aktuell im Zuge der Digitalisierung und der Entwicklung neuer Technologien förmlich auf den Kopf gestellt. Dieses Kapitel skizziert – nach einer argumentativen Verankerung der Perspektive #6 – vier Fachinhalte mit geographischem Erkenntnisinteresse. Dabei wird dem Orientierung-Ermöglichen als pädagogischer Haltung genauso Raum gegeben wie den Belangen der Future Skills, Postdigitalität, Zukunftsforschung und Digital-Ethik. Zentral sind dabei die Fragen Was ist Menschsein? und Was bedeutet Menschbleiben? sowie die Kreation von Imaginary-­Future-­ Landmarks als Elemente der Orientierung. Abgerundet wird das Kapitel mit zehn Vorschlägen, wie weitere Entwicklungen anknüpfen können. So zum Beispiel die Stärkung des geographiebasierten Future Skills Cosmopoliteracy oder die Forderung nach einer Geographie, die die vielschichtige Auseinandersetzung mit Sinn-Dimensionen explizit sucht. Schlüsselwörter

Wandel der Berufswelt · Menschsein · Menschbleiben · Zukunftsforschung · Future Skills · Digital-Ethik

A. Neudecker (*) Netzwerk Digitale Transformation, PH Bern, Bern, Schweiz E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_17

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17.1 Ein Job mit Perspektive? Bei dem Blick durch Stellenanzeigen fallen Wortkombinationen auf, die die Frage aufwerfen, was damit gemeint ist. So sind ein „Research Engineer Computer Vision and Synthetic Data Generation“, ein „Business Development Manager Smart Buildings“, ein „Solution Designer Virtualisierung-Infrastruktur“ und ein „AI-/Data-/Machine Learning-Engineer Autonomous Systems“ gesucht (Stepstone, 2023). Auch der Drohnenpilot wird als Trendberuf beworben. Nach der Frage „Ein Job mit Perspektive?“ ist dort zu lesen: „In unserer schnelllebigen Zeit entstehen vor dem Hintergrund des [...] digitalen Fortschritts immer neue Berufsbilder“ (Arndt, 2019). Nach dem Lesen dieser Anzeigen kann sich Niemand dem Gefühl, dass sich in der Berufswelt gerade etwas grundlegend verändert, entziehen. Dass dieser Wandel auch im Bildungskontext thematisiert und als Lerninhalt innerhalb der Geographie seinen Platz findet, dafür möchte das vorliegende Kapitel sensibilisieren. Es knüpft an die Perspektive #6 an, die wie folgt lautet:1 „Geographische Bildung in einer durch Digitalisierung und Mediatisierung geprägten Welt gibt Orientierung für Berufsfelder, die sich im Zuge des digitalen Wandels verändern bzw. neu entstehen“ (HGD, 2020).

17.2 Argumentative Rahmung der Perspektive #6 17.2.1 Neue Berufe sind eine Realität „Schon heute hat Digitalisierung und technologischer Wandel das Arbeiten fundamental verändert, und die Zeichen sind überall sichtbar“ (Daheim & Wintermann, 2016, S. 14). Als Zeichen sind auch die neuen Berufe bzw. Berufsprofile zu verstehen, die im Zuge der digitalen Transformation entstehen. „Digitalisierung wird laufend neue Möglichkeiten bringen in Vermittlung, Information, Partizipation, Planung und Steuerung, Visualisierungstechnologien, Geländeaufnahmen und -analysen, Datenverfügbarkeit und Datenverwendung. Auf die Planungsträger, die Planenden und Entwerfenden kommen die Herausforderungen zu, sich der neuen und zahllosen Daten sinn- und wirkungsvoll zu bedienen“ (Engelke et al., 2019, S. 8). Damit einher geht eine Fokussierung auf für die Zukunft besonders relevante Berufe: „Among the set of roles set to experience increasing demand across all industries are data analysts and scientists, software and applications developers, and ecommerce and social media specialists, all of which roles that are significantly based on or enhanced by technology.

 Die Perspektiven #1 bis #10 beziehen sich auf das Positionspapier mit dem Titel Beitrag des Fachs Geographie zur Bildung in einer durch Digitalisierung und Mediatisierung geprägten Welt. Diese wurden am 02.10.2020 von der Mitgliederversammlung des Hochschulverbands für Geographiedidaktik (HGD) e. V. beschlossen und veröffentlicht (HGD, 2020). 1

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Roles that leverage distinctly ‘human skills,’ such as sales and marketing professions, ­innovation managers and customer service workers, are also set to experience increasing demand.“ (Cann, 2018)

Im Zuge der Digitalisierung entstehen und verändern sich Berufe und dies hat ein Ursachen- und Wirkfeld, das weit über ein einzelnes Berufsfeld hinausgeht.

17.2.2 Lebensnaher Bereich mit konkreter individueller Anknüpfung Ein Beispiel für einen komplexen Algorithmus ist der Job-Matching-Algorithmus, definiert als die „Berechnung der Eignung eines Kandidaten für einen bestimmten Arbeitsplatz in einem Unternehmen“ (Massmann & Hofstetter, 2020, S.  174). Dass die Anwendung dieses Algorithmus entscheidend für eine Person und den individuellen Lebensweg ist, liegt auf der Hand. Unabhängig von der sich bewerbenden Person hat die Entscheidung, diesen Algorithmus einzusetzen, der potenzielle Arbeitgeber getroffen. Digitalisierung verändert somit auch in sehr lebensnahen Bereichen Interaktionen, Entscheidungsprozesse, individuelle Lebenswege und Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

17.2.3 Raumwirksamkeit der Digitalisierung2 Engelke et al. (2019, S. 5) unterscheiden drei Betrachtungsebenen der Digitalisierung: • Automatisierung und Vernetzung • Datenerfassung und Verarbeitung mittels Algorithmen • Organisationale & gesellschaftliche Transformationsprozesse „Ortsungebundenheit und neue Formen der Angebotserbringung sind raumrelevante Merkmale von Anwendungen der Digitalisierung. Diese Auswirkungen können sowohl auf einer raumstrukturellen Ebene als auch konkret im Raum wirken“ (Engelke et  al., 2019, S.  14). Digitalisierung lässt sich nicht reduzieren auf eine eindimensionale Betrachtung. Einerseits wirkt Digitalisierung direkt auf den Raum und seine Strukturen, so zum Beispiel durch neue Mobilitätskonzepte, andererseits ist auch eine indirekte Wirkung zu beobachten, die mit der Berufsausübung zusammenhängt. Die Zunahme von Homeoffice, wodurch sich Bedarfe in Hinblick auf Mobilität, Infrastruktur und Vernetzung verändern, dient hier als Beispiel.

 Der Begriff Raumwirksamkeit der Digitalisierung in Anlehnung an die von Prof. Dr. Dirk Engelke und Dr. Sebastian Wilske geleitete Ad-hoc-AG der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-­ Gemeinschaft (ARL) und an den Titel einer entsprechenden Delphi Studie (Engelke et al., 2019). 2

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17.2.4 Geographie als geeignetes Fach der Vermittlung Das Fach Geographie stellt eine Schnittstelle zwischen Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften dar und beschäftigt sich unter anderem mit der Frage nach räumlicher Verteilung, Einflüssen auf Raumstrukturen und Raumwirksamkeiten. Mit dem Schwerpunkt der räumlichen Betrachtung hat das Fach Geographie das Potenzial, sich den Herausforderungen einer immer stärker digitalisierten Umgebung und den damit verbundenen Folgen für die Arbeitswelt sowohl fachwissenschaftlich-diskursiv als auch fachwissenschaftlich-­ methodisch anzunehmen. Der Faktor Zeit – somit auch Wandel, Transformation bzw. Disruption – wird hierbei ebenfalls berücksichtigt. Besonders in Form der Angewandten Geographie3 rücken praktische Problemstellungen und die Belange der Raumplanung in den Fokus. Hierbei deckt die Geographie auch eine ethisch-normative Ebene ab, indem sie Entwicklungen evaluiert, mit Hilfe von Güterabwägungen Stellung bezieht und auf dieser Grundlage auch Handlungsempfehlungen formuliert. Dass die Geographie den individuellen Lebenskontext ebenso als Forschungsgegenstand hat, als auch gesellschaftliche, politische, ökologische und ökonomische Faktoren, geht aus ihrer Definition hervor: „Geographie befasst sich mit der Erdoberfläche, mit Landschaften, mit den Menschen, mit Standorten sowie mit den materiellen und geistigen Umwelten der Menschen. In der Geographie geht es, sehr allgemein ausgedrückt, um die Welt, in der wir leben“ (VGDH, 2022). Dabei nimmt die Arbeitswelt einen wichtigen Platz ein, da sie Lebensinhalt, Notwendigkeit, Folge, Ziel, Bedingung, Veränderungsobjekt und Sinngeber sein kann. Das Stichwort Sinn ist dabei stetiger Begleiter und prägt die Diskussion mit, da Sinnhaftigkeit eine zen­ trale Rolle bei der Gestaltung der zukünftigen Arbeitswelt spielt. „Sinn kann dabei sowohl durch Identifikation mit als sinnstiftend empfundenen Tätigkeiten entstehen als auch durch eine grundlegende Selbstwirksamkeit des eigenen Wirkens“ (Wörwag, 2020, S. 101).

17.3 Orientierung-Ermöglichen als pädagogische Haltung In der Perspektive #6 wird bewusst der Begriff Orientieren gewählt, da hiermit eine Abgrenzung einerseits zur reinen Wissensvermittlung und andererseits zur Vorstellung einer statischen Berufswelt verbunden ist. Einem Individuum soll ermöglicht werden, Entwicklungspfade nachzuvollziehen und sich in diesem sehr dynamischen Feld zurechtzufinden. Somit wird das Orientierung-Geben selbst zur pädagogischen Haltung, die über ein reines In-Kenntnis-Setzen und Fachinhalte-Vermitteln hinausgeht. Die Rolle eines Wegweisers kann dabei das Sinn-Aufzeigen übernehmen. Wie wichtig es ist, dass die lehrende Person es versteht, auch Neugierde an der Thematik zu wecken, kann nicht oft genug betont w ­ erden. Begrifflich erscheint Orientierung-Ermöglichen statt Orientie Definition Angewandte Geographie: „Als Angewandte Geographie schreibt sie [die Geographie] die Entwicklungen in die Zukunft fort (Prognose), bewertet diese (Evaluation) und versucht, Hilfen für die Gestaltung des Raumes in der Zukunft zu geben (Planung)“ (Borsdorf, 2019, S. 93). 3

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Abb. 17.1  Komponenten der pädagogischen Haltung auf Grundlage der Mathetik sind das Orientierung-­Ermöglichen, Neugierde-Wecken und Sinn-Aufzeigen

rung-Geben sogar noch geeigneter. Dadurch kommt eine pädagogische Haltung zum Ausdruck, die die Lernenden ins Zentrum rückt und auf die – vielleicht etwas in Vergessenheit geratene – Mathetik4 aufbaut (Abb. 17.1).

17.4 Inhaltliche Schwerpunkte der Perspektive #6 Es wird der Vorschlag unterbreitet, die Perspektive #6 in folgende zwei Schwerpunkte einzuteilen und inhaltlich wie folgt zu füllen: Schwerpunkt I: Fachliche Inhalte im Zusammenhang mit geographischem Erkenntnis­ interesse. Dieser Schwerpunkt ist in Abb. 17.2 dargestellt und lässt sich untergliedern in: • • • •

Wandel bzw. neue Berufe & Future Skills Digitale Transformation & Postdigitalität Digital-Ethik & Menschsein-und-Menschbleiben (MesMeb) Zukünfte-Denken & Zukunftsforschung

Schwerpunkt II: Inhalte im Zusammenhang mit einem personengebundenen Erkenntnisinteresse in Hinblick auf die Berufswahl: • Individuelle Interessen • Fähigkeiten bzw. Talente der einzelnen Lernenden  „Mathetik verstanden als Gegenpol zur lehrerorientierten Didaktik schließt das unterrichtliche Voranschreiten vom konkreten zum formalen Operieren ein und relativiert die in der lernzielorientierten Didaktik dezidierte Evaluation dahingehend, dass eine punktgenaue Lernzielkontrolle häufig nicht möglich und auch nicht sinnvoll ist. Mathetik impliziert also ein konstruktivistisches Verständnis von Lernen, das dieses als aktiven, selbstorganisierenden Prozess versteht, bei dem die je eigenen Wirklichkeiten des Individuums von diesem konstruiert werden“ (Stangl, 2021). 4

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Abb. 17.2  Schwerpunkt I: Geographisches Erkenntnisinteresse. Vier mögliche Fachinhalte in Hinblick auf die Perspektive #6

Der folgende Abschnitt widmet sich dem Schwerpunkt I und somit den Inhalten mit einem speziell geographischen Erkenntnisinteresse. Hierbei wird der Versuch unternommen, mit diesen vier Fachinhalten dem Phänomen gerecht zu werden, dass wir heute noch nicht wissen, wie die Berufswelt der Zukunft aussehen wird. Das Orientierung-Ermöglichen wird somit Teil einer Strategie, die Stabilität fördert und sowohl die systemische als auch die individuelle Resilienz erhöhen kann.

17.5 Fachinhalte von Schwerpunkt I: Geographisches Erkenntnisinteresse 17.5.1 Wandel bzw. neue Berufe/Berufsfelder & Future Skills Der in der Perspektive #6 verwendete Begriff Berufsfeld wird folgendermaßen definiert: „Zusammenfassende Bezeichnung für eine Gruppe inhaltlich oder funktional verwandter (Ausbildungs-)Berufe“ (Gabler, 2022). 15 Berufsfelder können aktuell unterschieden werden (Planet-Beruf, 2021), wobei sehr in Frage zu stellen ist, ob dies in Zukunft so haltbar sein wird. Könnte es nicht sein, dass die traditionelle Einteilung in Berufsfelder wie Dienstleistung, Elektro, Gesundheit und Medien Platz machen muss für eine Untergliederung, die sich rein am Einsatz der neuen Technologien orientiert? Somit würde die

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rein fachliche Zuordnung zwar nicht zwingend ganz wegfallen, jedoch zweitrangig. Die Frage „Was willst du einmal werden?“ könnte zukünftig lauten „Mit welcher Künstlichen Intelligenz möchtest du co-boten?“ Hier klingt die Vision an, dass Künstliche Intelligenz (KI) zum Beispiel im Zusammenspiel mit Augmented Reality für eine Person Multiprofessionalität ermöglicht. Trotz dieser Gedankenexperimente kann und soll die Auseinandersetzung einen zeitnahen und somit sehr realitätsbezogenen Bogen spannen: Von den Berufsfeldern über allgemeine Entwicklungen, die die Berufswelt und ihre Zukunft betreffen, bis hin zu Ausprägungen in einzelnen Berufen. Letzteres insbesondere dann, wenn es sich um neu entstandene Berufe handelt. Einzelberufe können also als anschauliche Beispiele dienen, um an ihnen – stellvertretend für ein gesamtes Berufsfeld – den Einfluss z.  B. einer neuen Technologie aufzuzeigen und Rückschlüsse auf die Transformation der Arbeitswelt zu ziehen. In diesem Zusammenhang wird ebenfalls zur Diskussion gestellt, inwiefern die Trennlinie unter Berufsfeldern immer mehr aufweicht, da neue Berufsprofile entstehen, die sich aufgrund von Individualisierungstendenzen auf dem Arbeitsmarkt, KI-gestützter Human-Ressource-Praktiken und der Implementierung von Open-Badge5-Systemen nicht mehr einem Berufsfeld zuordnen lassen. Innerhalb dieses Schwerpunktes werden auch die sogenannten Future Skills und die damit verbundene Schulung der Lernenden thematisiert. Die Debatte um Future Skills, die für die zukünftige Arbeitswelt von Relevanz sein werden, wird aktuell rege geführt, und unterschiedliche Frameworks sind entstanden (Ehlers, 2020, S. 123). Dabei ist die Auswahl und das Verstetigen von Future Skills eine Aufgabe, die nicht einfach zu lösen ist, vor allem, da die hohe Geschwindigkeit der aktuellen Entwicklungen folgende Herausforderung mit sich bringt: „As the workplace continues to undergo substantial restructuring in response to new technologies, many digital skills will rapidly become outdated“ (OECD, 2019, S. 90). Future Skills müssen folglich auf einer inhaltlichen Ebene greifen, die vom Wandel in einer gewissen Weise unabhängig ist, und dennoch sicherstellen, dass die damit verbundenen Herausforderungen bewältigt werden.

17.5.2 Digitale Transformation & Postdigitalität „The challenge of creating decent human-centred work is about to get much harder as Artificial Intelligence (AI), automation and structural transformations remake ­employment landscapes around the globe“ (International Commission on the Futures of Education, 2021, S. 3). Inhaltlich ist Wert darauf zu legen, dass die Digitalisierung nicht als der ursächliche Treiber der Veränderung dargestellt wird. Sie ist Mittel für das Erreichen von Zielen und somit eben gerade nicht Ursache. Die Argumentation, dass die  Mehr Informationen zu Open Badges in Buchem et al. (2019). Kompetenzen sichtbar machen mit Open Badges. Hochschulforum Digitalisierung, Abschlussbericht Nr. 48.

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Digitalisierung der Treiber der Veränderung der Berufe und Berufsfelder ist, wäre deshalb zu kurz gegriffen, auch wenn in der Literatur dies oftmals kausal anders dargestellt wird: „Der zentrale (und als sicher betrachtete) Treiber des Wandels ist der rasche, anhaltende technologische Fortschritt unter den Vorzeichen der Digitalisierung, der nahezu alle Berufsgruppen erfasst und dessen Tempo wahrscheinlich noch zunimmt.“ (Daheim & Wintermann, 2016, S. 9)

Aus diesem Zitat leitet sich noch ein weiterer Aspekt ab, den es zu erkennen und zu vermeiden gilt: die Personifizierung von Prozessen, in diesem Fall des Fortschritts und der Digitalisierung. Die damit verbundene Zuschreibung einer aktiven Rolle an einen Sachverhalt impliziert eine Kausalität und somit eine Verantwortlichkeit, die so nicht vorhanden ist. Es gilt in Erinnerung zu rufen, dass die digitale Transformation ein Prozess ist, der von Menschen initiiert, gewollt und letztlich auch gesteuert wird. Neue und zukunftsweisende Technologien sollen im Rahmen des Unterrichts vorgestellt werden, damit Lernende mit den Potenzialen, den Risiken und den damit gestaltbaren Zukünften vertraut werden. Hierzu zählen u. a. Augmented und Virtual Reality, Robotik bzw. Cobotik, 3Dund 4D-Druck, Blockchain, Holografie und das große Anwendungsfeld der künstlichen Intelligenz (KI). Prognosen und Zukunftsszenarien können eine gewisse Orientierung ermöglichen, wie unterschiedliche Zukünfte aussehen könnten. Ein Endzustand kann dabei auch postdigital nicht festgemacht werden, wobei es sich jedoch sehr lohnt, das Postdigitale aus zwei Perspektiven zu betrachten: Einerseits aus der Perspektive, dass immer noch der Mensch entscheidet und Verantwortung für diese Entscheidungen trägt, und andererseits aus der Perspektive, dass neue Technologien wie z. B. KI die Entscheidungen fällen und dann ebenfalls dafür Verantwortung tragen. Eine etwas befremdliche Konstellation mit sehr weitreichenden Folgen. Doch Narrative über Zukunft und damit verbundene imaginierte Zukunftskonstellationen können als Imaginary-Future-Landmarks hilfreich sein, da danach der Kompass im Hier und Jetzt ausgerichtet werden kann und, was noch relevanter ist, die relevanten Fragen rechtzeitig zur Diskussion gestellt werden können.

17.5.3 Digital-Ethik & Menschsein-und-Menschbleiben (MesMeb) Diese Imaginary-Future-Landmarks sind eng mit der Erstellung eines Wertekanons verbunden, der in diesen imaginierten Zukünften Gültigkeit haben soll.6 Bei der in der Zukunftsforschung gängigen Methode des Backcasting wird ein erwünschter zukünftiger Zustand charakterisiert und als Startpunkt festgelegt, um von diesem ausgehend die Ent Zu beachten ist der normative Charakter dieses Satzes. In der Auseinandersetzung mit einem Wertekanon für die imaginierten Zukünfte rückt die Wohlfahrtsgeographie in den Fokus, da dabei Wissenschaftler*innen auch Stellung beziehen. 6

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wicklung zurück bis in das Hier und Jetzt zu zeichnen. Daraus wird abgeleitet, welche Schritte (von heute ausgehend) notwendig sind, um den gewünschten Endzustand zu erreichen (Bachleitner et  al., 2016, S.  282). Hierbei einen Wertekanon mitzudenken und nicht nur auf die technologische bzw. ökonomische Entwicklung zu fokussieren, wird als äußerst relevant angesehen, auch, da im Zuge der digitalen Transformation neuartige ethische Fragen – auch im Kontext der Arbeitswelt – entstehen und entstehen werden. Ethische Grundprinzipien wie Verantwortung, Würde, Gerechtigkeit, Freiheit und die damit verbundenen Theorien spielen nach wie vor eine wichtige Rolle. Das Bewusstsein hierfür zu schaffen und eine damit verbundene reflexive Bildungspraxis zu stärken, sind von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Zur Abrundung dieses Abschnitts sollen zwei Fragen in den Raum gestellt werden: Besteht – in Anbetracht der technologischen Entwicklungen – die Notwendigkeit, das Menschsein in seiner Einzigartigkeit zu schützen und sich für ein Menschsein-­und-Menschbleiben (MesMeb) einzusetzen? Und in einem ontologischen Sinne: Was ist und bedeutet Menschsein? Was ist und bedeutet Menschbleiben?

17.5.4 Zukünfte-Denken & Zukunftsforschung „Wenn viele Faktoren zusammenwirken und die Zukunft eines komplexen Systems von mehreren Akteuren abhängt, gibt es nie nur eine mögliche Zukunft“ (Daheim & Wintermann, 2016, S. 7). Beim Blick in die Zukunft kommen Studien, Szenarien und FutureLabs zu unterschiedlichen Ergebnissen. Ein Beispiel: Bei der Prognose der Arbeitslosigkeit reichen die Ergebnisse von unterschiedlichen Prozentwerten bis hin zu der Aussage, dass „im Jahr 2050 … von nahezu vollständiger Arbeitslosigkeit“ auszugehen ist (Daheim & Wintermann, 2016, S.  12). „Künstliche Intelligenz und Maschinen, die ganz autonom unsere Arbeit vollständig übernehmen, sind ein alter Menschheitstraum. Dank intensiver Forschung kommen wir der Realisierung dieser Vision immer näher“ (Herrmann, 2020, S. 258). Der Blick in die Zukunft wird also selbst zur Herausforderung und dies auch aufgrund der unterschiedlichen Ergebnisse von Prognosen, Szenarien und Studien. Um Zukünfte zu denken, zu diskutieren und letztlich zu gestalten, bedarf es einer Auseinandersetzung – ganz konkret – mit möglichen Zukünften und somit mit Zukunftsforschung. Es ist bezeichnend, dass die Stärkung der sogenannten Futures Literacy ein Ziel ist, dem sich die UNESCO verschrieben hat, um einer poverty-of-the-imagination entgegenzuwirken (UNESCO, 2021). Dies kann durch die Aneignung des entsprechenden Methodenrepertoires, das in der Zukunftsforschung Verwendung findet, erfolgen, oder auch durch die Auseinandersetzung mit schon erarbeiteten Szenarien, Leitbildern, Prognosen und Visionen. Es gilt also – um hier auf die Grundaussage zurückzukommen – die Fähigkeit, Zukünfte zu denken, zu fördern7.  Diese Ausführungen stehen bewusst im Kontrast zu einer Strategic Foresight, die oftmals nur die ökonomische Optimierung und somit die Gewinnmaximierung eines Unternehmens in den Blick nimmt. 7

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17.6 Mögliche Anknüpfpunkte für nächste Schritte Die Arbeitswelt ist und war schon immer einem Wandel ausgesetzt. Alleinstellungsmerk­ mal für die aktuelle Entwicklung ist die hohe Geschwindigkeit der Transformation, der Einsatz neuer Technologien wie zum Beispiel der künstlichen Intelligenz, die ­Erschließung neuer Märkte und der oft damit verbundene disruptive Charakter. Dies bringt für das Fach Geographie und ganz allgemein für die Bildungsinstitutionen die große Herausforderung mit sich, mit den Entwicklungen Schritt halten zu können. Deshalb werden nachfolgend zehn Anknüpfpunkte (AP) benannt (Abb. 17.3): • AP 1: Ein neues, bisher nicht verwendetes Vokabular mit ganz eigenen Sinnzusammenhängen wird in der Auseinandersetzung mit der sich wandelnden Berufswelt gebraucht. Ein erster relevanter Schritt im Bildungskontext ist das Sammeln, Zuordnen und Klären dieses Vokabulars inklusive dem Herstellen der relevanten fachlichen Bezüge und Sinnzusammenhänge. Ich möchte aus meiner Erfahrung hier anfügen, dass dies schon eine sehr umfassende Aufgabe ist. • AP 2: Die unter 17.5 beschriebenen Fachinhalte können eine Ausrichtung in Hinblick auf verschiedene Bildungswege erfahren, so zum Beispiel eine Steigerung vom reinen Überblick über eine Future-Skill- oder Arbeitsmarkt-Ausrichtung bis hin zur spezifischen Berufsqualifizierung. Die Inhalte können also an das jeweilige Setting ange­ passt werden.

Abb. 17.3  Relevante Anknüpfpunkte für das Orientierung-Ermöglichen für eine digitale Berufswelt

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• AP 3: Die Beantwortung der Frage, wie die Qualifizierung der Lehrenden gemeistert werden kann, ist höchst aktuell. Da aktuell Dozierende genauso zu Lernenden werden wie Studierende/Schüler*innen, und nicht viel Zeit zur Umsetzung vorhanden ist, werden – neben dem üblichen Angebot zur Qualifizierung von Lehrkräften – folgende zwei Vorschläge unterbreitet: Erstens, die gezielte Nutzung von Open Educational Resources (OER), und zweitens die Wahl eines Lehrformats, wobei sich die lehrende Person bewusst und gezielt als ebenfalls noch nicht wissende Person outet. Darauf aufbauend werden relevante Fragen gestellt und Antworten gemeinsam erarbeitet. • AP 4: Die Auswahl der Future Skills, die auch langfristig in ein Curriculum integriert werden, sollte zusammen mit Konzepten zur Postdigitalität und den entsprechenden Zukunftsszenarien gedacht werden. Die Bildungssysteme sind (noch) nicht darauf ausgelegt, neue Schwerpunktsetzungen in kurzer Zeit umzusetzen und agil auf sich verändernde Berufssituationen zu reagieren. Aktuell ist zu beobachten, dass sehr viele Kompetenzen zu Future Skills erklärt werden. Die Gefahr einer Überfrachtung der Curricula und der Fragmentierung von Bildungsgängen ist gegeben. Welche Fähigkeiten innerhalb der Geographie haben den Stellenwert eines Future Skills? Eine Schärfung der geographiebasierten Future Skills ist dabei nicht nur dem Fach dienlich, sondern auch der Auseinandersetzung im Rahmen des Wandels der Berufswelt. Beispiele hierfür sind das Future-Skill Cosmopoliteracy, ein geographiebasierter Future-Skill-Ansatz, der von der Autorin ausgearbeitet und verfolgt wird,8 oder das Geospatial-DataMining (siehe Kapitel 18). • AP 5: Der Informationsfluss von der Praxis und der Forschung hin zur geographischen Bildung muss gewährleistet sein und aktiv gesucht werden, damit die Informationen, die die Lernenden erhalten, up-to-date sind. Alles andere wäre sehr unbefriedigend. Eine folgerichtige Konsequenz daraus ist ebenfalls, dass Lehrbücher aufgrund des langen Produktionsweges eher nicht mehr das Mittel der Wahl sind. Es besteht die Gefahr, dass der Inhalt zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon veraltert ist. Ein zweischneidiges Schwert. Denn qualitätsvolle und fake-news-freie Medienproduktion braucht wohl ihre Zeit. Die Handhabe der riesigen Menge an Informationen an sich ist eine weitere Herausforderung, die das Filtern von relevanter Information zu einer Herausforderung werden lässt. „Lösbar mit KI“ werden viele jetzt denken. Und schon befinden wir uns mitten im Thema des Wandels der Berufswelt. • AP 6: Die traditionell als Handwerk bezeichneten Berufe und die damit verbundenen handwerklichen Fähigkeiten sind in der Diskussion über Future Skills mitzudenken. Gerade in der Überschneidung der Themen Future Skills, Zukunft der Arbeitswelt, dem #MenschseinMenschbleiben (MesMeb) und der Sinnfrage ist dies ein relevanter Entwicklungspfad. Zwei bisher nicht genannte Aspekte fallen hier ebenfalls ins Gewicht und Erhöhen den Stellenwert von handwerklichen Fähigkeiten: das Begreifen von handwerklichen Fähigkeiten (1) als Teil der Tradition, eventuell sogar des immateriellen

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 Mehr Informationen unter http://www.angelikaneudecker.com.

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Kulturerbes, (2) als Indikator für Qualität und (3) als Träger von Lebensgefühl und Identität. AP 7: Der Diskurs zur Digital-Ethik und die Entwicklung eines ethischen Bewusstseins sind sowohl im Bildungskontext als auch für die persönliche Entwicklung der Lernenden relevant. Im Kontext der Berufswelt sind Fragen zu beantworten, welche Aufgaben autonome Systeme übernehmen und inwieweit diese unabhängig vom Menschen Entscheidungen treffen dürfen. Die Gefahr, dass der Mensch als Mittel zum Zweck angesehen wird und humanistische Perspektiven verloren gehen, ist gegeben. Die von Immanuel Kant formulierte Zweckformel9 wird in Erinnerung gerufen, da sie als Argumentationsgrundlage dienen kann, um solchen Entwicklungen zu begegnen. Dieser Blick in die Philosophie wird angeraten, denn dort sind – kaum zu glauben – schon sehr viele Fragen beantwortet worden. AP 8: Das in diesem Kapitel mehrmals gefallene Stichwort Sinn eröffnet nicht nur die Diskussionsgrundlage für eine sinnbasierte Arbeitswelt, sondern auch für eine Geographie, die die vielschichtige Auseinandersetzung mit Sinn-Dimensionen explizit sucht. Dieser Reflexion deutlich mehr Platz in der geographischen Bildung und den aktuellen Diskursen über die zukünftige Arbeits- und Lebenswelt einzuräumen, ist ein relevanter Anknüpfpunkt und eine Kernaussage des vorliegenden Kapitels. AP 9: Mit dem aktuellen Wandel der Berufswelt geht auch ein ganz besonderes Momentum einher: Die potentielle Verwirklichung eines alten Menschheitstraums, nämlich der Vision, dass der Mensch nicht mehr arbeiten muss. Die Zeit steht ihm also frei zur Verfügung und kann z. B. für die Selbstverwirklichung, das lebenslange Lernen und die Entwicklung der Persönlichkeit eingesetzt werden. Dass hier sicher eine Schnittmenge zu bisherigen beruflichen Fähigkeiten vorhanden sein kann, soll hier als Hypothese festgehalten werden. AP 10: Es soll aber auch festgehalten werden, dass es nicht so klar ist, dass die potentiell positiven Seiten des Wandels geschöpft und allen Menschen zugutekommen werden. Der Wandel bringt Fragen bezüglich Gerechtigkeit, Machtverhältnisse, Zukunft der Gesellschaft und des gesamten Planeten mit sich. Eine anfangs überschaubare Transformation mit naheliegenden Zielen mündet in intra-, inter-, trans- und pandisruptive Zustände auf allen Ebenen. Eine Destabilisierung des Gesamtsystems wäre die logische Folge. Aus diesen Gedankengängen gespeist, werden zum Abschluss dieses Beitrags vier Leitlinien für den Bildungssektor formuliert: (1) Ethik vor Ökonomisierung, (2) Brain-Based Learning vor KI-Based Learning, (3) Informed Consent

 Die von Immanuel Kant 1785 in Grundlegung zur Metaphysik der Sitten formulierte Zweckformel ist Teil des von Kant entwickelten kategorischen Imperativs und in der von ihm vertretenen deontologischen Ausrichtung der Ethik ein relevantes Grundprinzip. Die Zweckformel lautet in der Originalschrift von 1785: „Der practische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, so wohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (Kant, 1785, S. 66 f.). Und: „Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle anderen niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln dürfe“ (Kant, 1785, S. 74 f.). 9

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vor Paternalismus und (4) MenschseinMenschbleiben mit und trotz KI. Der Wunsch wäre, hierdurch eine Diskussion zu befeuern. Damit wir mit möglichen Erkenntnissen Zukünfte denken und gestalten.

17.7 Ausblick Die Berufswelt füllt aktuell einen beträchtlichen Teil der Lebenszeit, und Bildungsziele auf allen Ebenen orientieren sich an ihr. Sie prägt nicht nur unseren beruflichen Alltag, sondern auch das private Leben, und ist als Einkommensquelle  – trotz alternativer Ansätze – noch kaum wegzudenken. Der digitale Wandel der Berufswelt stellt diese Bezüge aktuell sprichwörtlich auf den Kopf. Dies generiert die Verantwortung, die Implikationen des Wandels zu durchdenken und eine Orientierung zu ermöglichen. Bildung und im Speziellen das Fach Geographie spielen hierbei eine zentrale Rolle. Die Perspektive #6 verknüpft sich mit den weiteren neun Perspektiven dieses Buches zu einem Gesamtkonzept, das einen relevanten Beitrag leistet, um den sich formenden digitalen Kulturen zu begegnen, diese mitzugestalten und ihre Möglichkeiten auch schöpfen zu können. Das Menschsein-und-Menschbleiben (MesMeb) – gerade in der Kontrastierung zum Digitalen und zu den neuen Technologien – als unersetzbaren Wert zu verstehen und Zukünfte zu denken, die als Imaginary-Future-Landmarks einen Kompass darstellen können, sind dabei relevante nächste Schritte.

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GIS-Kompetenz als Future Skill für geographiespezifische Berufsfelder Fünf Good-Practice-Beispiele und ihre didaktische Konzeption Christian Sailer, Marcel Engel, Jonathan Otto und Jan Wilkening

Zusammenfassung

Die rasante Entwicklung der Geographischen Informationssysteme (GIS) und die wachsende Verfügbarkeit an räumlichen Daten haben die Berufsfelder von Geo­ graph*innen und die Anforderungen an ihre Fähigkeiten maßgeblich verändert. GIS-­ Kompetenz gilt seit einigen Jahren als Schlüsselqualifikation von Absolvent*innen des Universitätsfachs Geographie. In diesem Kapitel werden fünf erprobte Beispiele von Geographie-Lehrenden mit langjähriger Erfahrung im GIS-Bereich der sekundären und tertiären Stufe vorgestellt, die auf die Perspektive #6 fokussieren. Die Good-Practice-­ Beispiele zeigen, wie Lernende mit MEVAP  – einem berufsorientierten Arbeits­ modell – auf die neuen Anforderungen vorbereitet werden und wie Lehrende authenti­ sche Lernumgebungen im Fach Geographie mit direkten Bezügen zu veränderten

C. Sailer (*) Departement Bau, Umwelt und Geomatik, ETH Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected] M. Engel Geographie, Freien Gymnasium, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected] J. Otto Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Wilkening Geodatenanalyse und Studiengangsleiter Geovisualisierung, Technische Hochschule WürzburgSchweinfurt, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_18

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Berufsfeldern schaffen können. Das Kapitel zeigt auch, wie das MEVAP-Modell ins GIS-­Curriculum bestehender Konzepte adaptiert werden kann. Abschließend werden ­Vorschläge genannt, wie die GIS-Kompetenz bereits in der Ausbildung von Geo­ graphielehrer*innen gefördert werden kann, und auf die Dringlichkeit hingewiesen, die das Fach Geographie auch in Zukunft unverzichtbar macht. Schlüsselwörter

Geographie · GIS-Kompetenz · Geodaten · Geoanalyse · EVAP · MEVAP

18.1 Von der Software zum Berufsfeld Geographische Informationssysteme (GIS) dienen der Erfassung, Bearbeitung, Speiche­ rung, Analyse und Verwaltung von raumbezogenen Daten. Mit spezifischer Hard- und Software können unterschiedlichste räumliche Entitäten (Objekte, Phänomene und Pro­ zesse) als sogenannte Geodaten integriert und in Kartenanwendungen genutzt werden (Ehlers & Schiewe, 2012). Entstanden ist das GIS-Konzept in den 1960er-Jahren in den USA im Rahmen von Forschungsprojekten – zeitgleich zur Entwicklung der ersten Computer (Harmon, 2008, S. 2). Parallel zur Computerindustrie entwickelte sich eine kleine GIS-Industrie und be­ diente die steigende Nachfrage nach isolierten Softwarelösungen im Berufsmarkt von Geograph*innen zur Lösung räumlicher Probleme mit Daten. Heute erweist sich GIS als fundamentaler Baustein des Informationszeitalters und ist als Einzelwebdienst oder um­ fangreicher Plattformdienst global und bequem zugänglich (Fu & Sun, 2011; McQuire, 2019). Dass sich das GIS in vielen Organisationen der Industrieländer zu Analyse-, Planungsoder Informationszwecken etabliert hat, zeigte zum Beispiel eine Institutsevaluation 2013 am Geographischen Institut der Universität Zürich (Alumni Geographisches Institut, 2013). Die Mehrheit der Absolvent*innen der Abschlussjahrgänge 2008 bis 2012 fand aufgrund ihrer GIS-Kenntnisse eine Anstellung unter anderem in den Bereichen Natur­ schutz, Regionalplanung und -management. Eine detailliertere Umfrage des Departements Umweltwissenschaften der Universität Basel zeigte, dass Unternehmen der Region Basel, die für Geographie-Absolvent*innen relevant sind, GIS-Kompetenzen explizit nachfragen (Schwanghart et  al., 2012). Zu den Anforderungen zählen der Umgang mit Geodaten­ banken, gefolgt von Visualisierung und Kartenerstellung sowie Kenntnisse von WebGIS-­ Anwendungen. Auch die Recherche in Stellenportalen für Geograph*innen mit den Suchbegriffen GIS oder Geoinformation unterstreicht die Relevanz, da eine Vielzahl an Treffer gefunden wer­ den. Diese umfassen Berufsbezeichnungen wie GIS-Spezialist*in, Datenwissen­ schaftler*in, teilweise auch Vermessungsspezialist*in oder Kartograf*in. Des weiteren Bezeichnungen wie Serial Sensor Operator, Geospatial Data Scientist, Geospatial Soft­ ware Engineer oder Product Owner GIS.

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Die dazugehörigen Jobbeschreibungen deuten an, dass die geographiespezifischen Berufsfelder neben den GIS-Grundkompetenzen zunehmend auch spezialisierte Fähig­ keiten erfordern. Die Vermessungsspezialist*innen beispielsweise erfassen Rohdaten mit computer- und satellitengestützten Geräten wie Drohnen, Laserscannern, GNSS-Empfän­ gern oder Fotogrammetriestationen, auf deren Basis sie Pläne für Architekt*innen oder raumbezogene Informationen für GIS-Spezialist*innen oder Datenwissenschaftler*innen zusammenstellen. Die Schlüsselqualifikation von GIS-Spezialist*innen liegt im Bereich der räumlichen Analyse. Der Erwerb von GIS-Kompetenzen müsste per Definition in den Verantwortungs­ bereich des Faches Geographie fallen. Das Fach bietet den optimalen Rahmen für eine fundierte Ausbildung in den Basiskonzepten von GIS, denn geographische Konzepte und Methoden zu kennen und anwenden zu können, gehört zu den Grundkompetenzen der Geographieausbildung. Dieses Kapitel stellt fünf Good Practices vor, die zeigen, wie GIS-Kompetenzen erfolgreich an Lernende unterschiedlicher Ausbildungsstufen und -rich­ tungen vermittelt werden können.

18.2 Von EVAP zu MEVAP Ein vollwertiges GIS besteht aus den vier Explorationsfunktionen Erfassung, Verwaltung, Analyse und Präsentation von Geodaten und wird als sogenanntes EVAP-Modell be­ zeichnet (Behncke et  al., 2009). Zur Bearbeitung von Problemstellungen werden dabei neue Informationen gewonnen, die häufig in neu erzeugten Datenätzen resultieren. Im problembasierten Unterricht ist allerdings schon die Auseinandersetzung mit der Problem­ beschreibung, den Forschungsfragen und den Hypothesen ein wichtiger Lernprozess (Bar­ rows & Tamblyn, 1980; Dewey, 1910; Hmelo-Silver, 2004). Im ersten Schritt gilt es die Fragestellung zu operationalisieren und die Konstrukte in eine räumliche Datenbank zu modellieren, um via Datenerhebung und -analyse die ge­ wünschten Resultate zu erhalten. Im Schulkontext wird deshalb das EVAP-Modell oft um die Komponente M zum MEVAP-Modell (Modellierung, Erfassung, Verarbeitung, Ana­ lyse, Präsentation; Abb.  18.1) erweitert. Der Schritt der Erfassung umfasst das struktu­ rierte Beobachten und Identifizieren von nötigen Daten im digitalen Raum und/oder von Phänomen vor Ort – also im realen Raum. Ziel ist, möglichst objektive Daten zu erhalten, um valide Analysen zu gewährleisten. Die erfassten Daten werden deshalb im Schritt der Verarbeitung mindestens rein explorativ und visuell, manchmal auch systematisch über­ prüft. Validierte Daten ermöglichen sinnvolle räumliche Analysen wie die Suche nach Mustern oder die Abschätzung von Trends. Im letzten Schritt des problembasierten Ler­ nens mit GIS steht die Präsentation und Evaluation des Projektes. Dabei werden die wich­ tigsten Arbeitsschritte dargelegt und die Ergebnisse sowie die Begründung der Ent­ scheidungen im Verlauf des Projektes diskutiert und kritisch beleuchtet. Fachexpert*innen mit GIS-Kompetenz können gemäß diesem Kapitel demnach das MEVAP-Modell an einem konkreten Problem mit räumlichen Daten anwenden.

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Abb. 18.1  MEVAP-Modell – Der Prozess der geographischen Untersuchung mit Geodaten (leicht abgeändert nach Sailer, 2020, S. 81)

18.3 Good Practices geographischer Bildung von GIS-­Kompetenzen auf der sekundären und tertiären Stufe Die fünf erprobten Beispiele wurden von Geographie-Lehrenden mit langjähriger Er­ fahrung im GIS-Bereich als Good Practices selektiert und umfassen den Einsatz von GIS a) im Regelunterricht, b) im Regelunterricht eines Ergänzungsfach, c) an außerschulischen Lernorten, d) im Lehramtsstudium für künftige Geographie-Lehrpersonen und e) in der Hochschule am Beispiel einer Statistik-Vorlesungseinheit. Die Beispiele zeigen das MEVAP-­Modell in sehr unterschiedlichen Anwendungsszenarien in Bezug auf Alters­ stufe, Komplexität und Umfang. Sie werden zunächst mit formalen Angaben wie Thema, Umfang, Altersstufe und Anzahl der Lernenden und wie oft sie durchgeführt wurden, vor­ gestellt. Dann wird der Inhalt erläutert und begründet und welche Lernziele erreicht wer­ den sollen. Der Hauptteil der Beispiele beinhaltet den didaktischen Schwerpunkt und die Überlegung, warum diese Unterrichtseinheit GIS-Kompetenzen besonders gut för­ dern würde.

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18.3.1 GIS im Regelunterricht der Sekundarstufe II Unterrichtseinheit: Exemplarität: Umfang: Autor: Lernende: Vorwissen: Altersstufe: Anzahl Lernende: Durchführung: Evaluation:

Container als Ikone der Globalisierung Beispiel für Globalisierung ~2 Lektionen Marcel Engel Gymnasium Einführung in GIS Regelfach, 9.–11. Schuljahr ~20 6× Lernprodukte (Karten) und mündliches Feedback der Lernenden

Beschreibung und Bedeutung des Themas Der Container als Gegenstand ist der ideale Einstieg in die Thematik der Globalisierung: Er ist eine Ikone, die diesen Prozess und seine Funktionsweise repräsentiert und auf intuitive Art und Weise die Lernenden mit der Aufgabenstellung der Globalisierung verbindet. Als Symbol nimmt er eine Art „Scharnierfunktion“ zwischen der theoretischen geographischen Ebene der Thematik und der Erfahrungswelt der Lernenden ein. Gleichzeitig bilden Containerhäfen eine gute Ausgangslage, um die Entwicklung der Globalisierung auf der einen Seite, aber auch die Verschiebung ihres Schwerpunktes in Bezug auf Handel und Warentransport über den Verlauf der Jahre 1995, 2005, 2015 und 2018 zu betrachten und darzustellen. Lernziele Die Lernenden erfahren, wie über raumbezogene Umfragewerkzeuge Daten gemeinsam gesammelt und in einer Datenbank gespeichert werden können. Sie lernen die Daten kartografisch darzustellen und im Kontext der Globalisierung datenbasiert zu beurteilen und Lösungswege zu finden. Didaktische Schwerpunkte Die Lektion ist nach dem EVAP-Modell strukturiert und beginnt mit einem Recherche-­ Auftrag zu den größten Containerhäfen. Mit einer von der Lehrperson vorbereiteten Um­ frage mittels der Webapp ArcGIS Survey1231 und der Recherche im Internet eignen sich die Lernenden an, wie in der Gruppe entsprechende Daten schnell ermittelt und erfasst werden können (Crowdsourcing). Im Folgeauftrag soll die Verschiebung des globalen Handels im Verlaufe der letzten 25 Jahre visualisiert werden. Die Lernenden nutzen dazu die gemeinsam gesammelten Daten und erstellen im webbasierten GIS ArcGIS Online2 selbstständig karto­ grafische Lösungen, die über den Zeitstempel animiert sind. Die Lernenden präsentieren ihre Lösungen und reflektieren ihren Lernprozess zur D ­ atengrundlage, kartografischen Ge­ staltung und die daraus gewonnenen Schlussfolgerungen per Kommentarfunktion der On­ 1 2

 https://survey123.arcgis.com (01.01.2022).  https://www.arcgis.com/index.html (01.01.2022).

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line-Karte. Karte und Kommentare sind integrale Bestandteile des Lernproduktes. Der eigenständige Prozess zum kartografischen Produkt auf Grundlage von Rohdaten hat den Vorteil, dass in kurzer Zeit eine starke Vertiefung/Auseinandersetzung mit der Thematik durchlaufen und eine neue, selbst erarbeitete Perspektive erlangt wird (Klafki, 2003). Die Qualität dieses integrativen Ansatzes kommt vor allem in der anschließenden Auswertungs­ diskussion der Karten zum Ausdruck (Kirschner et al., 2011; Klafki, 2003). Reflexion Mit ArcGIS Online und Survey123 stehen Werkzeuge zur Verfügung, die inhaltlich und kartografisch einfach und schnell das Erstellen von Karten ermöglichen. Dies wiederum fördert die Selbstwirksamkeit jedes Schülers. Eigene Erfahrungen zeigen, dass gerade Lernende, die ein eher negatives Selbstbild von sich und Informatik haben, über die Geo­ informatik diese Zurückhaltung verlieren und sowohl auf informationstechnischer als auch auf wissenschaftlicher, darstellungstechnischer Ebene enormes Potenzial mobilisie­ ren können. Diese Aktivierung mit GIS-Werkzeugen gelingt außerdem deshalb, weil Fragestellungen adressiert werden, die sich täglich auch die Ämter einer Stadtverwaltung stellen, mit welchen auch immer wieder einen Austausch stattfindet im Rahmen der Daten­ recherche. Die Nutzung von GIS-Kompetenzen ist daher für die Lernenden sinnstiftend und nachvollziehbar (Breker, 2016).

18.3.2 GIS im Regelunterricht eines Ergänzungsfachs der Sekundarstufe II Unterrichtseinheit: Exemplarität: Umfang: Autor:

Das digitale Dorf – ein GIS-Projekt zum Thema Raumplanung und Raumentwicklung auf besiedelten Geographien Forschungsbasiertes Arbeiten mit GIS nach dem MEVAP-Modell ~20 Lektionen Christian Sailer Lernende: Gymnasium Vorwissen: Vorstrukturiertes GIS-Projekt mit Datenerhebung und visuelle Analyse Altersstufe: Ergänzungsfach, 11. Schuljahr Anzahl Lernende: 18 Durchführung: 1× Evaluation: Lernprodukte (Karten), mündliches Feedback der Lernenden, Lernjournale

Beschreibung und Bedeutung des Themas Durch die wachsende Verfügbarkeit von Geodaten werden nicht nur Städte zunehmend vernetzt und smart, sondern auch der ländliche Raum. Das Unterrichtsprojekt beschäftigt sich mit der digitalen Infrastruktur eines Dorfes und seinen partizipativen Möglichkeiten. Mit den wichtigen instrumentellen Kompetenzen wie der Kartierung und Analyse können Objekte oder Phänomene einer Gemeinde aus mehreren Perspektiven untersucht werden. Die Lernenden wenden GIS im Wechselspiel von Theorie und Praxis als wissenschaftliche

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Methode unter realen Gegebenheiten in der unmittelbaren Umgebung der Schule an. Letztendlich sind sie fähig, die Untersuchungsmethode für andere Themen zu nutzen. Lernziele Die Lernenden ordnen die wichtigsten Fachbegriffe und Prinzipien der Geoinformatik (Goodchild, 2010) an konkreten Beispielen und für die Erklärung der eigenen Arbeit ein. Sie entwickeln konzeptionell räumliche Fragestellungen, führen die Verfahren des EVAP-Modells durch und beurteilen kritisch die Ergebnisse. Implizit wenden sie Hand­ lungsaspekte für eine effektive Kommunikation, Zusammenarbeit und Projektorganisation in der Gruppe an. Didaktische Schwerpunkte Der didaktische Schwerpunkt beruht auf projektbasiertem Unterricht und forschungs­ orientiertem Umgang mit Daten und GIS-Technologien. Das Thema GIS wird mit der pseudogeographischen Konferenzanwendung gather.town3 eingeführt, die es erlaubt, sich frei an räumlichen Fixpunkten auszutauschen oder GIS-Anwendungen zu entdecken. Ziel ist, Interesse zu wecken und Vorwissen zu prüfen, worauf nahtlos die Einführung der wichtigsten Fachbegriffe und Prinzipien der Geoinformatik angeknüpft wird. Im Fokus stehen auch der gesellschaftliche und ökonomische Wert einzelner Anwendungen oder Daten. Die Wertfrage bildet die Überleitung zur Arbeit mit dem Kartendienst OpenStreet­ Map4 (OSM). Als Beispiel dient die Kartierungs-Kampagne des Erdbebenereignisses 2010 in Haiti. Das GIS-Projekt ist in der Abfolge der MEVAP-Phasen vorstrukturiert, beinhaltet eine Feldarbeit und wird in Kleingruppen mit ArcGIS Online umgesetzt. Ein Lernjournal dient zur Reflexion des Lernprozesses, der Sichtbarmachung der Lernleistungen und zum Auf­ bau kognitiver und metakognitiver Lernstrategien. Der Auftrag des Projekts besteht aus einer vordefinierten und einer selbstdefinierten Aufgabe, die simultan (Erarbeitung und Transfer) untersucht wird. Die vordefinierte Aufgabenstellung beinhaltet die Prüfung und Erfassung der Gebäudeadressen der regionalen Umgebung (Gemeinde) auf dem Karten­ dienst OSM. Das selbstdefinierte Thema soll die Infrastruktur der Gemeinde in Bezug auf räumliche Optimierung durchleuchten. Dazu inspiriert das Beispielprojekt „Nähe von E-Bike-Ladestationen an Bushaltestellen“ die Gruppen zum Aufbau eigener Frage­ stellungen. Die raumbezogene Frage wird anschließend zum logischen Datenmodell als Kartendienst in ArcGIS Online modelliert. Zu diesem wichtigen Teil der Raumanalyse­ kompetenz (von Roux, 2020a) gehören diverse Entscheidungen zur Beschreibung und Re­ präsentation (Text, Foto, Audio, Video), welche entsprechend Folgen für die Verarbeitung und Analyse der Daten haben. Die erste Phase der Modellierung endet mit dem Bau und Testen der mobilen Erfassungsapp durch Survey123. Die Absolvierung der Etappe der Er­ fassung auf dem Feld wird von den Lernenden selbstständig durchgeführt. Zurück an der  https://gather.town/ (01.01.2022).  https://www.openstreetmap.org/ (01.01.2022).

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Schule ist die Phase der Verarbeitung wieder vorstrukturiert und umfasst zuerst eine visu­ elle und danach auf Basis professioneller Standards die systematische Begutachtung und Korrektur der Daten. Als Referenz bietet sich der sogenannte Richtplan des Kantons an. Dieser Quervergleich zur professionellen Praxis fördert nicht nur die kritische Haltung gegenüber Daten, sondern auch die Sinnstiftung für das Projekt. Die Phase der Analyse besteht nun darin, Lösungsszenarien zu finden. Mit Hilfe von Kontextdaten (Luftbilder) erkennen die Lernenden Zusammenhänge oder Muster in ihren Daten und können daraus Hypothesen ableiten, die mit geeigneten GIS-Werkzeugen von ArcGIS Online untersucht werden. Dabei sollen die Lernenden vorab die zu erwartenden Resultate überlegen und nach der Berechnung einzelne Stichproben der effektiven Resultate auf Plausibilität prü­ fen. Diese Handlung fördert erneut die kritische Perspektive auf Daten und den Aufbau der Datenkompetenz. Die validierten Adressdaten des vordefinierten Auftrages werden auf OSM publiziert werden und ermöglichen den lokalen Behörden und der interessierten Be­ völkerung die Weiternutzung. Die Schlusspräsentation simuliert eine Gemeindever­ sammlung, an der die Lernenden als Nachwuchsunternehmer*innen um Anerkennung ihrer Arbeit werben. Die Jury besteht aus der Gemeinde (Lehrpersonen und Lernende); sie bewertet Inhalt und Darbietung der Kurzvorträge und moderierte Diskussion der Projekt­ gruppen anhand eines Kriterienrasters. Die Lernenden geben sich gegenseitig Feedback und demonstrieren Wertschätzung, was für einen positiven Abschluss des Projektes in Bezug auf Lernwirksamkeit und Motivation von großer Bedeutung ist (Gold, 2015). Reflexion Die Evaluation der 20 Lektionen wurde auf Basis der Ergebnisse des Lernjournals und den Beobachtungen der Lehrperson durchgeführt. Der Einstieg über die Videokommunikations­ plattform Gather.town war zielführend, um die heterogenen Vorkenntnisse und Interessen der Lernenden kennenzulernen. Die größte Herausforderung war die Modellierung der eigenen Fragestellung. Trotz Projektbeispiel fiel es den Lernenden schwer, die räumliche Frage auf ein Muster aus zwei oder mehreren Faktoren und nicht auf eine reine „Wo-ist“Frage zu reduzieren. Die Lernjournale legten dar, dass das Vorwissen zum Verständnis der räumlichen Analyse oft fehlte. Die Auswertung zeigte auch, dass die Feldarbeit geschätzt wurde, weil sie auf maximale Selbstbestimmung wie autonome Organisation, aktives Er­ leben der Arbeitsfortschritte und soziale Eingebundenheit im Team außerhalb des Klassen­ zimmers setzte (Deci & Ryan, 1985). Das Erleben der Kompetenz erfuhren die Lernenden auch bei der anschließenden Analyse sowie der Vorbereitung und dem Halten der Vorträge. Dies zeigte sich an der angeregten und Diskussion mit vielen neuen Fragen der Zu­ hörer*innen. Im Rückblick erkannten die Lernenden durch die rigiden und typischen Vor­ gaben von „Investorpitchs“, dass überfachliche Fähigkeiten wie mündliche und schriftliche Kommunikation, Zeitmanagement und der Umgang mit dem Erwartungsdruck wichtig sind, um die fachliche Leistung (GIS-Kompetenz) offenbaren zu können. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass es mit dem umfangreichen GIS-Projekt über 20 ­Unterrichtsstunden ge­ lungen ist, GIS als wissenschaftliche Methodik anzuwenden sowie einen Einblick in einige Geographie-spezifische Berufsfelder zu gewähren. Die erlangten Kompetenzen dienen als

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gute Lernvoraussetzung für eine Abiturarbeit, die nicht nur Daten- und GIS-­Kompetenz voraussetzt, sondern auch Engagement, Ausdauer und die Motivation, Neues zu lernen.

18.3.3 GIS an außerschulischen Lernorten Unterrichtseinheit: Exemplarität: Umfang: Autor:

Esri Sommercamp für Schulklassen im Nationalpark Schleswig-­ Holsteinisches Wattenmeer Projektwoche ~50 Lektionen Jonathan Otto Lernende: Gymnasien Vorwissen: Heterogenes Vorwissen zum Umgang mit GIS Altersstufe: Freiwilliges Projekt, 9.–12. Schuljahr Anzahl Lernende: ~20 Durchführung: 10× Evaluation: Lernprodukte (Karten) und mündliches Feedback der Lernenden

Beschreibung und Bedeutung des Themas Die Lernenden haben während des Sommercamps die Möglichkeit, in Zusammenarbeit mit Mitarbeiter*innen des Nationalparks eigene ökologische Daten zum Zustand der See­ graswiesen vor der Küste der Insel Föhr zu sammeln und diese anschließend unter An­ leitung selbst mit GIS zu analysieren und individuelle Fragestellungen zu untersuchen. Die Daten, die Lernende im Rahmen dieser ökologischen Kartierung aufnehmen, werden ebenfalls in laufenden Citizen-Science-Projekten genutzt und tragen somit zum öko­ logischen Monitoring bei. Lernziele Das einwöchige Sommercamp hat mehrere Ziele. In einem fachlichen Ziel sollen die Ler­ nenden das Wattenmeer als Ökosystem erleben und sich dabei mit Teilaspekten – die See­ graswiesen – auseinandersetzen. Damit im Zusammenhang stehen Naturerfahrungen, bei­ spielsweise mehrstündige Wattwanderungen. Neben den Grundlagen des Ökosystems machen sich die Lernenden mit den Grundlagen von GIS vertraut und lernen, wie metho­ disch bei einer ökologischen Kartierung vorzugehen ist und welche technischen Hilfsmittel für eine Felderfassung geeignet sind. Im Anschluss spielen die Datenanalyse und Präsenta­ tion der selbst erhobenen Daten eine wichtige Rolle. Außerdem beschäftigen sich die Ler­ nenden auch mit der historischen Entwicklung der Insel Föhr. Durch die Kombination mit der Untersuchung des Zustands der Seegraswiesen lernen die Lernenden das Wattenmeer als schützenswerten Lebensraum mit einer hohen Biodiversität kennen und erfahren den Wert von GIS bei der Überwachung des Ökosystems (wissenschaftliches Monitoring). Didaktische Schwerpunkte Zu den didaktischen Schwerpunkten gehören mobiles Lernen mit digitalen Endgeräten sowie Lernen vor Ort. Die Teilnehmenden erhalten zu Anfang grundlegende Informatio­

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nen über das Ökosystem und eignen sich an, wie sie technische Hilfsmittel zur Kartierung (Tablets und Apps wie Survey123) nutzen können. Sie erfahren auch, wie sie das Auftreten oder die Verbreitung von Arten abschätzen können und welche Vorsichtsmaßnahmen bei der Arbeit im Wattenmeer zu treffen sind. Mit diesem Wissen gehen die Lernenden unter Anleitung für die Kartierung des Zustands der Seegraswiesen ins Wattenmeer. Der zweite Teil des Sommercamps ist geprägt von selbstgesteuertem und Forschendem Lernen. Die Lernenden erhalten eine kurze Einführung in das MEVAP-Modell und sollen dann mit ihren erhobenen Daten eigene Fragestellungen untersuchen. Außerdem stehen die Informationen vorhergehender Kartierungen zur Verfügung, um Vergleiche zu ermög­ lichen. Mögliche Fragestellungen sind zum Beispiel die Veränderung des Bestands an Seegraswiesen vor der Insel Föhr, die Verbreitung und Auswirkung invasiver Algenarten oder die Frage nach Zusammenhängen zwischen einem parasitären Bewuchs und dem Auftreten von Wattschnecken. Die Lernenden wählen selbst eine Fragestellung und wer­ den bei der Analyse inhaltlich und technisch von Experten unterstützt. Zum Abschluss werden die jeweiligen Ergebnisse präsentiert. Reflexion Das Sommercamp bietet die Gelegenheit, verschiedene Aspekte eines wissenschaftlichen Forschungsprozesses aus nächster Nähe zu erfassen und an diesem mitzuwirken. Die Tat­ sache, dass alle Daten auch weiterhin wissenschaftlich genutzt werden und die Lernenden selbst die Möglichkeit hatten, Fragestellungen zu entwickeln und diese individuell zu be­ arbeiten, erhöhte die Motivation. Eine bedeutende Erfahrung war aber vor allem die ver­ zahnte Nutzung von digitalen Medien im Gelände und ihre Anwendung bei der Auswertung der Daten. Ein solches Vorgehen ist ein wichtiger Beitrag zu zeitgemäßer Bildung. Weiter­ hin zeigt dieses Projekt den Lernenden, wie die Arbeitswelt von Wissenschaftlern und Mit­ arbeitern im Bereich Naturschutz aussehen könnte und welche Rolle die Technologie dabei spielt. Durch eine sich ständig verändernde Umwelt ist ein regelmäßiges Monitoring von Ökosystemen von großer Bedeutung. GIS bieten hier viele Optionen, um Daten effizient und kollaborativ zu erfassen, zu analysieren, zu visualisieren und mit anderen zu teilen.

18.3.4 GIS im Lehramtsstudium Unterrichtseinheit: Exemplarität: Umfang: Autor: Lernende: Vorwissen: Altersstufe: Anzahl Lernende: Durchführung: Evaluation:

Einführung in GIS (Methodik, Hintergründe, Didaktik) GIS für Lehramtslernende ~30 Lektionen Jonathan Otto Bachelorstudiengang Lehramt Gymnasium, Fach Geographie Heterogenes Vorwissen zum Umgang mit GIS 2. Semester ~50 4× Lernprodukte (Karten) und mündliches Feedback der Lernenden

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Beschreibung und Bedeutung des Themas In dieser Pflichtübung sollen Lernende mit Geographischen Informationssystemen in Kontakt kommen und sich dabei mit dem MEVAP-Modell vertraut machen. Neben dem methodischen Arbeiten mit GIS werden auch die informatischen Hintergründe vermittelt. Im Rahmen der Übung arbeiten die Lernenden mit Software, die einfach und kostenlos in der Schule eingesetzt werden kann. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf WebGIS. Gegen Ende der Veranstaltung werden erste Möglichkeiten erkundet, wie GIS am Beispiel von ArcGIS Online didaktisch im Schulunterricht eingesetzt werden kann. Lernziele Die Übung umfasst drei Schwerpunkte: Lernen des Umgangs mit GIS als Methode, des informatischen Hintergrunds sowie Möglichkeiten des Lernens mit GIS im späteren Schul­ unterricht. Im ersten Schwerpunkt befassen sich die Lernenden mit den einzelnen Ar­ beitsmethoden und verschiedenen Mitteln zur Datenerfassung im Feld und der Datenver­ waltung sowie -analyse. Behandelt werden auch die Möglichkeiten der kartografischen Präsentation und der Präsentation interaktiver Kartenblogs mittels ArcGIS Story Maps.5 Im zweiten Schwerpunkt geht es um die informatischen Hintergründe, darunter die ver­ schiedenen Repräsentationsformen von räumlichen Daten, die Grundlagen von Daten­ banken und der Umgang mit diesen zur Abfrage von Daten je nach Fragestellung und Aufbau von Algorithmen zur Analyse räumlicher Daten. Der dritte Schwerpunkt behandelt dann erste didaktische Möglichkeiten des Einsatzes von GIS im Schulunterricht. Didaktische Schwerpunkte Zunächst sollen möglichst viele Funktionen eines GIS vermittelt werden, um den gesamten Workflow von der Erfassung bis zur Präsentation von räumlichen Daten abzubilden. Ein weiterer Fokus ist eine Verbindung mit dem Fach Informatik, um die informatischen Grund­ lagen deutlich zu machen und die einzelnen Funktionen damit erklären zu können. Dabei steht das didaktische Konzept „Informatik im Kontext“ im Vordergrund. Es soll verständ­ lich werden, welchen Beitrag die Informatik beim Beantworten von geographischen Frage­ stellungen, unter anderem aus den Themenbereichen Klimawandel oder Stadtgeographie, bieten kann. Da diese Veranstaltung komplett für Lehramtslernende konzipiert ist, wird nur mit Software gearbeitet, die problemlos in der Schule eingesetzt werden kann. Reflexion Oftmals wird die GIS-Ausbildung von zukünftigen Lehrkräften in Universitäten nur rudi­ mentär behandelt und mit der Ausbildung von Fachwissenschaftlern vermischt. Dadurch gibt es wenige auf Lehramtslernende zugeschnittene Formate. Mit einer eigenen Lehrver­ anstaltung, die sowohl von den Inhalten als auch der verwendeten Software an den schuli­ schen Kontext angepasst ist, soll die Motivation der Lernenden erhöht und die Barriere für

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 https://storymaps.arcgis.com/ (01.01.2022).

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die Implementation im Schulunterricht gesenkt werden. Da bei vielen Lernenden die in­ formatischen Grundlagen fehlen, kann mit der Vermittlung einer entsprechenden Grund­ kompetenz eine Übertragbarkeit des Wissens auf andere Informationssysteme gewähr­ leistet werden.

18.3.5 GIS in der Hochschule am Beispiel Statistik Unterrichtseinheit: Exemplarität: Umfang: Autor: Lernende: Vorwissen: Altersstufe: Anzahl Lernende: Durchführung: Evaluation:

Deskriptive, explorative und induktive Statistik mit GIS Fehlerlehre und Statistik ~30 Lektionen Jan Wilkening Bachelor-Studiengang Geovisualisierung Heterogenes Vorwissen zum Umgang mit GIS 2. Semester ~35 6× Lernprodukte (Karten) und mündliches Feedback der Lernenden

Beschreibung und Bedeutung des Themas In der Vorlesung geht es um die drei Teilgebiete: deskriptive, explorative und induktive Statistik. In der deskriptiven Statistik werden Daten beschrieben. In der explorativen Sta­ tistik werden Daten erkundet und Hypothesen aufgestellt. In der induktiven Statistik wer­ den diese Hypothesen auf statistische Signifikanz überprüft. Da der Studiengang die Analyse und Visualisierung geographischer Daten zum Schwer­ punkt hat, liegt der Fokus auf Daten, die sich  – idealerweise innerhalb Deutschlands  – räumlich stark unterscheiden. Wahldaten sind hier besonders geeignet, da sie frei verfüg­ bar sind und auf der Ebene der Wahlkreise mit soziodemografischen Daten angereichert werden können. Lernziele Die Lernenden lernen in der deskriptiven Statistik, Variablen wie Stimmenanteil einer Partei mit Hilfe eines GIS kartografisch sinnvoll darzustellen und zu beschreiben. Neben gängigen Parametern wie Mittelwert oder Standardabweichungen liegt der Fokus im GIS auf dem „Wo?“: Wo sind Werte hoch? Gibt es Cluster niedriger Werte? Gibt es einen Stadt-Land- Gegensatz? In der explorativen Statistik wird versucht, Hypothesen, sprich begründete Ver­ mutungen, für die unterschiedlichen Stimmenanteile je nach Wahlkreis zu generieren. Hierzu werden erklärende Variablen wie Kaufkraft, Religion, Altersstruktur in Karten dar­ gestellt und Muster verglichen. In der induktiven Statistik lernen die Lernenden, diese Begründungen mit einer multip­ len Regressionsanalyse im GIS auf statistische Signifikanz zu überprüfen. So können Hypothesen mit einer gewissen Irrtumswahrscheinlichkeit abgelehnt oder beibehalten

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werden. Weiterhin lässt sich die räumliche Autokorrelation von Phänomenen analysieren und visualisieren. Didaktische Schwerpunkte Der didaktische Schwerpunkt liegt darin, vielfältige Funktionen eines GIS zu nutzen, um selbstständig einen Statistik-Workflow durchzuführen: von der Beschreibung der Daten über die Erstellung und das Testen von Hypothesen mit Geoverarbeitungswerkzeugen bis hin zur aussagekräftigen Visualisierung der Ergebnisse. Dieser Arbeitsprozess lässt sich komplett im GIS ArcGIS Pro6 abbilden. Der Lehrende zeigt schematisch den Prozess anhand eines Beispiels wie dem Zu­ sammenhang Stimmenanteil für die Grünen/Kaufkraft pro 1000 Einwohner, worauf Ler­ nende das Gelernte selbstständig anhand einer anderen Partei und einer anderen er­ klärenden Variablen anwenden. Die Verarbeitung findet in Kleingruppen statt, da die Erstellung von Hypothesen ein kreativer und didaktisch induktiver Prozess ist. Reflexion Statistik ist in den meisten Studiengängen eine weniger beliebte Disziplin – so auch in der Geovisualisierung. Die Vorlesung zeigte, dass es umso wichtiger ist, Themen mit realen Daten zu adressieren, die Lernende begeistern, um Konzepte der Statistik zu lernen. Statistische Analysen im GIS können grundsätzlich mit unterschiedlichsten Daten und Themen durch­ geführt werden: Wo sind Mieten hoch? Welche Faktoren beeinflussen Verkehrsunfälle? Und wie kann ich das visualisieren? Die Folgeveranstaltungen oder Studienarbeiten belegen, dass Lernende in der Folge fähig sind, selbstständig Hypothesen zu formulieren und Datensätze statistisch zu analysieren. Die ausgebildeten Studierenden der Geovisualisierung profitieren vom Fachwissen im Bereich Datenwissenschaften nicht nur bei ihrer akademischen Lauf­ bahn, sondern auch zunehmend bei der Arbeit in Unternehmen, die mit Daten zu tun haben.

18.4 Berufsorientierte Perspektive des GIS-Curriculums durch MEVAP Die Good-Practice-Beispiele in Abschn. 18.3.1, 18.3.2, 18.3.3, 18.3.4 und 18.3.5 zeigen, dass GIS im Unterricht sehr authentisch zum Berufsalltag angeboten werden kann. GIS-Anwendungen im Web haben sich im letzten Jahrzehnt in Bezug auf Funktionalität und Benutzerfreundlichkeit stark weiterentwickelt und verminderten die grundsätzlich hohen Informatik- und Softwarevorkenntnisse für Lernende und Lehrende drastisch. So­ wohl für kürzere Aktivitäten von ein paar Minuten als auch für größere Projekte im Rah­ men von Projektwochen kann das GIS einen Beitrag leisten.

 https://pro.arcgis.com/ (01.01.2022).

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Tab. 18.1  Stufenkonzepte von Schubert & Uphues, 2008 erweitert durch Beispiele nach MEVAP mit entsprechenden ArcGIS Anwendungen der Good-Practice-Beispiele Beispiele zur Förderung der MEVAP-­ Kompetenzen E, V: Erfassen der Schulumgebung (Mental Map) mit ArcGIS Survey123 und Resultate der Lernenden darstellen, vergleichen und bewerten in ArcGIS Online E, A: Außerschulisches Erfassen der Schulumgebung (Mental Map) mit ArcGIS Survey123 und Analysieren der Resultate auf Lage-Genauigkeit in ArcGIS Online Geodatenverarbeitung und V, A, P: Kartenerstellung mit WebGIS zur Verarbeitung und Analyse von Lösung geographischer vorstrukturierten Datensätzen und Fragestellung Erstellungen von Karten nach kartografischen Grundsätzen in ArcGIS Online Arbeiten mit vorgegebenen V, A, P: Datensätzen Verarbeitung und Analyse von komplexen und (fehlerhaften) Datensätzen in ArcGIS Online Forschen mit GIS und Erstellen M, E, V, A, P: von Geodaten in komplexeren Datenbank anlegen auf Basis der GIS-Anwendungen z. B. Desktop-­ Modellierung der Forschungsfrage in ArcGIS GIS Pro oder ArcGIS Online und Validierung des Datenmodells durch Erfassen von realen Phänomenen (ausserschulisch oder im Schulzimmer) mit ArcGIS Survey123 Durchführung des GIS-Projektes nach EVAP mit ArcGIS Online oder ArcGIS Pro

Klassenstufe Aktivitäten Bis Klasse 4 Einfache internetbasierte Kartendienste (z. B. Google Earth) zur Darstellung und Erarbeitung der Schulumgebung, z. B. Schulweg Ab Klasse 5 Erarbeitung der Bedeutung von GIS und Geoinformation im Alltag (Erläuterung von Technologien wie GIS und GPS) Ab Klasse 6/7

Ab Klasse 8/9

Ab Klasse 10/11

Zum Erreichen von GIS-Kompetenz wurde von (Schubert & Uphues, 2008) ein GIS-Curriculum entwickelt, das sich in (Reinfried & Haubrich, 2015) – einem populären deutschsprachigen Nachschlagewerk für Geographiedidaktik  – etabliert hat (Tab.  18.1, Spalte „Klassenstufe“ und „Aktivitäten“). Ziel ist es aufzuzeigen, wann und in welcher Form GIS (Desktop-GIS, WebGIS) im Unterricht eingesetzt werden sollte und welche Aktivitäten für die Nutzung und Bearbeitung von Geodaten, die Erstellung von Karten und die kritische Reflexion empfehlenswert sind (Reinfried & Haubrich, 2015). Wird das GIS-Curriculum nun durch das MEVAP-Modell abgebildet, stellt sich die Frage, welche Modellkomponenten in den unteren und oberen Klassenstufen empfohlen werden. Die Spalte „Beispiele zur Förderung der MEVAP-Kompetenzen“ stellt die Beispiele nach dem MEVAP-Modell dar, technologisch auf Basis der fünf Good-Practice-Beispiele. Die Bei­ spiele zeigen, dass auf unterer Stufe (Klasse 4 und 5) vorwiegend die Erfassungskompetenz empfohlen wird. Mit steigender Klassenstufe werden dann auch komplexere Technologien

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sowie Verarbeitungs-, Analyse- und Kartografiekompetenzen vorgeschlagen. Die kom­ plexe Modellierung, welche im Good-Practice-Beispiel 2 eines Geographie-Ergänzungs­ fachs behandelt wurde, wird auch bei (Schubert & Uphues, 2008) erst ab Klasse 10 für sinnvoll erachtet. Damit zeigen die Good-Practice-Beispiele in Abschn.  18.3.1, 18.3.2, 18.3.3 und 18.3.4, dass mit aktuellen WebGIS-Anwendungen die Komplexität der Technologie kein Kriterium für die Klassenstufe mehr ist. Vielmehr sind es die Fragen, die geo­ graphischen Konzepte und die Daten selbst. Das Beispiel in Abschn. 18.3.5 zeigt, dass die Einbindung realer Daten und GIS-Technologien die Motivation und das Lern­ interesse der Lernenden erhöht. Eigene Erfahrungen der Autoren dieses Kapitels zeigen, dass bereits ab Klasse 6 das EVAP-Modell didaktisch reduziert und zu einem alters­ gerechten Thema umgesetzt werden kann und die GIS-Kompetenz implizit gefördert werden kann. Lernende erfassen, verarbeiten, analysieren auf Basis vordefinierter Fragestellungen Geodaten und visualisieren ihre Resultate als Webkarten oder inter­ aktive Kartenblogs. Per Spiralcurriculum können Erfassungs- und Analysemethoden sowie kartografische Visualisierungsformen stufengerecht vertieft und erweitert wer­ den. Mit der Berufsorientierung als Endziel der Ausbildung zeigen die fünf Beispiele, dass die GIS-Kompetenz nicht nur zu den Bildungsstandards im Fach Geographie (Hemmer, 2014) für den Kompetenzbereich räumliche Orientierung (Seite 18; „einfache thematische Karten mit WebGIS erstellen“) gehört, sondern auch einen Schlüsselbeitrag für den Kompetenzbereich Erkenntnisgewinnung/Methoden sowie Beurteilung/Be­ wertung leistet. Die Lernenden erlangen mit der Nutzung von GIS die Fähigkeit, räum­ liche Fragestellungen eigenständig zu entwickeln und für das GIS zu abstrahieren, um per MEVAP-Modell Erkenntnisse zu gewinnen und diese zu bewerten. Aus Fakten und Daten Erkenntnisse zu gewinnen wird nicht nur bei der Projektarbeit zum Abitur erwartet, sondern auch in vielen Berufsfeldern der Informationsindustrie. Mit dem MEVAP-Modell erhält das GIS-Curriculum einen berufsfeldorientierten Rahmen.

18.5 Fazit und Ausblick Die zunehmende Verfügbarkeit von und Sensibilisierung für Geodaten in der Berufswelt bedeutet, dass Fähigkeiten in der Informationsverarbeitung von räumlichen Phänomenen weit über die traditionellen Berufsfelder der physischen und der Humangeographie hinaus gefragt sind. Der Markt für Geographie-Absolvent*innen mit GIS-Kompetenz wird immer größer. Das gleiche Phänomen zeigt sich punktuell auch in verschiedenen Unterrichts­ fächern. Karten und Analysen werden nebst der Geographie auch in den MINT-­Fächern wie Informatik, Physik, Biologie oder im Geschichts- oder Sprachunterricht verwendet. Mit dem MEVAP-Modell können Lehrer*innen solcher Fächer ebenfalls problembasierte Unterrichtsmethoden nutzen. Von Roux (2020b) plädiert, dass Lehrer*innen des Fachs Geographie eine persönliche GIS-Didaktik-Literacy entwickeln, um im Umgang mit Geodaten reflektiert handlungs­

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fähig zu bleiben. Das Good-Practice-Beispiel in Abschn. 18.3.4 GIS im Lehramtsstudium mit den Schwerpunkten Arbeitsmethodik mit GIS, geoinformatische Grundprinzipien sowie didaktische Modelle mit GIS zielt genau auf diese Handlungskompetenz ab. Das Beispiel vereint GIS- und GIS-Didaktik-Kompetenz mit der Berufsfeldorientierung durch authentische Lernszenarien, wie sie in Abschn. 18.3 beschrieben sind. Im Lehrumfeld der Autor*innen (Geographie, Biologie, Geschichte, Informatik) ist das Bewusstsein von GIS im Unterricht sehr ausgeprägt und diese Lehrer*innen bemühen sich, GIS-Methoden nach dem MEVAP-Modell regelmäßig auf eine lernerzentrierte und authentische Weise zu vermitteln. Außerhalb dieser Blase scheint GIS in der Praxis des Fachs Geographie jedoch immer noch eine untergeordnete Rolle zu spielen und wird als Future Skill, insbesondere vom Kollegium des Fachs Geographie, noch immer unter­ schätzt. Dies zeigt sich in der losen Verankerung der Bildungsstandards im Fach Geo­ graphie für den Mittleren Schulabschluss (Hemmer, 2014) und dem relativ spärlichen An­ gebot zum Thema GIS und GIS-Didaktik in (Reinfried & Haubrich, 2015). Das könnte der Grund sein, dass auch noch heute viele Geographielehr*innen Gefahr laufen, sich des Nutzens und Relevanz von GIS im Geographieunterricht nicht bewusst zu werden. Ein weiterer Grund könnte der anhaltende Ruf aus den negativen Erfahrungen vor etwa 20 Jahren sein, als die ersten Lehrer*innen die komplizierten Expertentools für die Ein­ führung von GIS in der Schule (Sekundarstufe 2) nutzen wollten und oft an der Ver­ waltung, der Komplexität und der mangelnden Benutzerfreundlichkeit scheiterten. (Schulze et  al., 2015) haben deshalb ein Spatial-Citizenship-Kompetenzmodell für die Lehreraus- und  -fortbildung entwickelt, welche für eine Verlagerung des Lernens von GIS-­Fragestellungen mit Expertentools hin zur alltäglichen, niederschwelligen und vor allem mündigen Nutzung digitaler Geomedien im Web wie z. B. ein GIS plädiert. Men­ schen sollen fähig sein, ihre eigene Sicht auf die Umwelt und den Raum durch Geomedien aktiv zu produzieren und zu kommunizieren, anstatt lediglich passiv räumliche Dar­ stellungen bestehender Anwendungen zu konsumieren. Geographielehrer*innen müssen sich der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rele­ vanz von Geodaten und GIS bewusstwerden, dass mit GIS-Kompetenz oder Spatial Citi­ zenship als die zentrale Future Skill das Schulfach Geographie/Erdkunde ein Allein­ stellungsmerkmal erhält, das das Fach unverzichtbar und zukunftsorientiert macht und nicht zuletzt auch vor einer Abschaffung schützt.

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Zukunftsszenarien der Arbeitswelt von Geograph*innen

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Zwischen Schiffbruch und Pole-Position Angelika Neudecker, Julia Bäck, Lukas Biskup, Julian Bohnenkamp, Christian Gutsmann, Veronika Kukota, Lars Makarowsky, Steven Müller, Luis Roshoff, Marc Timon Saß, Katharina Topp und Julian Trampel

Zusammenfassung

Zwei Projekte werden in diesem Kapitel vorgestellt, die auf die Perspektive #6 fokussieren: Erstens, die Lehrveranstaltung Work 4.0: Entwicklungsszenarien der Arbeitswelt von Geograph*innen, die das Ziel verfolgt, Studierenden des Faches Geographie eine Orientierung über den Wandel der sie betreffenden Berufswelt zu ermöglichen. Zweitens, die Projektstudie selbst, die als qualitative Studie von den Studierenden der genannten Lehrveranstaltung durchgeführt wurde. In dieser werden elf Expert*innen zur Zukunft ihres Arbeitsfeldes anhand eines Leitfragebogens interviewt. Die Auswertungen lassen u. a. folgende Hypothesen zu: Den zukünftigen Entwicklungen wird mit einer positiven Grundhaltung begegnet, die auch umfasst, dass die Beschäftigten sich den zukünftigen Herausforderungen gewachsen fühlen. Im Gegenzug zeigen die Ergebnisse, dass ein Defizit an Futures Literacy vorhanden ist und ein Bedarf besteht, Knowhow und Strategien für die Zukunft zu erarbeiten. Das wichtigste Future Skill ist auch im geographischen Ergänzende Information Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann [https://doi.org/10.1007/978-­3-­662-­66486-­5_19]. A. Neudecker (*) Netzwerk Digitale Transformation, PH Bern, Bern, Schweiz E-Mail: [email protected] J. Bäck · L. Biskup · J. Bohnenkamp · C. Gutsmann · V. Kukota · L. Makarowsky · S. Müller · L. Roshoff · M. T. Saß · K. Topp · J. Trampel Geographisches Institut, Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_19

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Kontext – laut der Umfragen – die Kommunikationskompetenz. Vorschläge, wie positive Entwicklungen befeuert werden können, runden das Kapitel ab, wobei das Durchführen von Studienprojekten (analog zu dem hier beschriebenen) und die Verzahnung der Themen Wandel der Arbeitswelt, Zukunftsforschung, Ethik und Future Skills im Zen­ trum stehen. Schlüsselwörter

Work 4.0 · Zukunftsszenarien · Future Skills · Kompetenzen · Forschendes Lernen „Die Zukunft zeigt sich uns, lange bevor sie eintritt.“ Rainer Maria Rilke

19.1 Studienprojekt und Projektstudie Dieses Kapitel stellt zwei Projekte, die untrennbar miteinander verbunden sind, vor: Erstens, eine Lehrveranstaltung, die das Ziel verfolgt, Studierenden des Faches Geographie eine Orientierung über den Wandel in der sie betreffenden Berufswelt zu ermöglichen. Dieses zweisemestrige Studienprojekt wurde unter dem Titel Work 4.0: Entwicklungsszenarien der Arbeitswelt von Geograph*innen am Geographischen Institut der Ruhr-­ Universität Bochum mit elf Studierenden im Wintersemester 2020/21 und Sommersemester 2021 unter der Leitung von Dr. Angelika Neudecker durchgeführt. Zweitens, die Projektstudie selbst, die als qualitative Studie im Sinne des Forschenden Lernens von den Studierenden der genannten Lehrveranstaltung durchgeführt wurde, ihren Aufbau und die entsprechenden Ergebnisse. Bei der Darstellung der beiden genannten Projekte wird auf folgende vier Aspekte vertieft eingegangen: • Konzept und Aufbau des Studienprojektes als Intervention, um Studierende über den Wandel der Berufswelt zu orientieren • Aufbau und die Inhalte des in der qualitativen Studie verwendeten Leitfragebogens • Wesentliche Ergebnisse der Projektstudie • Diskussion der Ergebnisse

19.2 Studienprojekt 19.2.1 Ziel, Konzept und inhaltlicher Aufbau Das Ziel des Studienprojektes ist, „anhand konkreter wissenschaftlicher und/oder praktischer Fragestellungen“ Projektarbeiten durchzuführen, wobei „wichtige inhaltliche

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­ austeine die jeweils fachlich relevanten Themen und die jeweils relevanten ErhebungsB und Auswertungsmethoden“ sind (Geographisches Institut, 2022). Hierbei wird dem Lehr-­Lern-­Ansatz des Forschenden Lernens gefolgt, der als Ziel hat, „dass die Lernenden den Prozess eines Forschungsvorhabens, das auf die Gewinnung von auch für Dritte interessanten Erkenntnissen gerichtet ist, in seinen wesentlichen Phasen … (mit)gestalten, erfahren und reflektieren“ (Huber, 2009, S. 11). Es spielen die „Beobachtung und das Erheben von Daten, zum Beispiel mittels Interviews oder Fragebögen, … eine wichtige Rolle“ (Mieg, 2020, S. 28). Im vorliegenden Studienprojekt wird die Beantwortung der Forschungsfrage angestrebt, wie die Arbeitswelt von Geograph*innen in Zukunft möglicherweise aussehen, welche Technologien zum Einsatz kommen und welche Future Skills benötigt werden könnten. Mit dieser Thematik greift die Lehrveranstaltung nicht nur das mit der Perspektive #61 verbundene Ziel auf, dass geographische Bildung den Lernenden in Hinblick auf den Wandel von Berufsfeldern Orientierung ermöglicht, sondern vermittelt auch die Tragweite der damit verbundenen Entwicklungen. Der Zeithorizont, der dabei von Interesse ist, sind 20 bis 30 Jahre in die Zukunft, sprich bis in das Jahr 2050. Als wissenschaftliche Methode wird das Expert*inneninterview gewählt, wobei jede*r Student*in ein einzelnes Interview durchgeführt hat; die Gesamtauswertung fand anhand eines zusammengeführten Datensatzes transparent für alle statt. Der Leitfragebogen, der als Kernelement den Interviews zugrunde liegt, wurde in der Lehrveranstaltung auf Grundlage einer umfassenden thematischen Recherche erarbeitet und liegt diesem Kapitel als digitales Zusatzmaterial bei.2 Sie finden dieses unter der zu Beginn des Kapitels angegebenen DOI im Bereich „Elektronisches Zusatzmaterial“. Der Aufbau des Studienprojektes umfasst über die zwei Semester verteilt folgende vier inhaltliche Abschnitte: • Abschnitt A: Auseinandersetzung mit relevanten Themen und Trends der Digitalisierung • Abschnitt B: Sammlung unterschiedlicher Tätigkeitsbereiche von Geograph*innen und Thematisierung der Future Skills • Abschnitt C: Prinzipien der qualitativen Forschung und Erstellung des Leitfragebogens • Abschnitt D: Durchführung der Interviews, Transkription und die entsprechende Auswertung mit der Software MAXQDA®  Die Perspektiven #1 bis #10 beziehen sich auf das Positionspapier mit dem Titel Beitrag des Fachs Geographie zur Bildung in einer durch Digitalisierung und Mediatisierung geprägten Welt. Diese wurden am 02.10.2020 von der Mitgliederversammlung des Hochschulverbands für Geographiedidaktik (HGD) e.V. beschlossen und veröffentlicht (HGD, 2020). 2  Es handelt sich um einen fünfseitigen Leitfragebogen für die Expert*inneninterviews in sechs Themenblöcken mit farblicher Gestaltung. Hinweis: Die zusätzlichen Anmerkungen innerhalb des Fragebogens sollen gewährleisten, dass die elf Studierenden, die die Interviews gehalten haben, auch ein ähnliches Vorgehen wählen und eine vergleichbare fachliche Tiefe anstreben. Die vorformulierten Überleitungen zwischen den Themenblöcken dienen als Hilfestellung, um mit der interviewten Person auch online in einem guten Kontakt zu bleiben und die Motivation aufrecht zu erhalten. Natürlich kann bei der Umsetzung je nach Situation davon abgewichen werden. 1

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Abb. 19.1  Auszug aus den Evaluationsergebnissen des Studienprojektes

19.2.2 Zielerreichung durch das Studienprojekt Von besonderem Interesse ist die Frage, ob das Studienprojekt als geeignetes Lehrformat angesehen werden kann, um den Studierenden Orientierung über die sich wandelnde Berufswelt zu ermöglichen. Aufschluss darüber geben die Ergebnisse der Evaluation, die am Ende des Studienprojektes stattgefunden hat, und an der zehn von elf Studierenden teilgenommen haben. Die Kernaussage dabei ist, dass die Studierenden es als wichtig empfinden, über aktuelle und zukünftige Entwicklungen von geographischen Berufsfeldern während des Studiums informiert zu werden (Abb.  19.1a) und dass Lehrveranstaltungen wie Seminare und Studienprojekte hierfür als geeignete Formate angesehen werden (Abb. 19.1b). Das Studienprojekt selbst wurde als erfolgreich in der Schaffung eines Bewusstseins für die Entwicklungen und die Herausforderungen in Hinblick auf die Berufsfelder von Geograph*innen eingestuft (Abb. 19.1c).

19.3 Projektstudie 19.3.1 Motivation und Methodik Über die Zukunft der Arbeitswelt gibt es eine Fülle an Prognosen, Delphi-Studien, Leitbilder, Szenarien und Workshops. Eigene Forschungseinrichtungen, Fachabteilungen, Bildungsgänge und Konferenzen widmen sich ganz diesem Thema. Mit unterschiedlichen Forschungsansätzen wird die Zukunft der Arbeit prognostiziert, skizziert, beschrieben oder imaginiert. Kennzeichnend ist ein ganz eigenes Vokabular, das sich im Zuge der Auseinandersetzungen herausbildet. So zum Beispiel die Begriffe zukünftige Automatisierungswahrscheinlichkeit (Frey & Osborne, 2013) und das gegenwärtige Substituierbarkeitspotenzial (Dengler & Matthes, 2015). Die Bezugsebene der gewonnenen Ergebnisse ist jedoch häufig eine übergeordnete Berufskategorie, so zum Beispiel die gesamte IT-Branche, alle Handelsberufe oder ganz allgemein alle Naturwissenschaftler*innen. Eine Unter-

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Tab. 19.1  Drei Studien zur Arbeitswelt von Geograph*innen Studie Autor*in (Jahr) A Thomas Knöpfle (2020)

B

Rolf Sternberg (2020)

C

Vanessa R. Hünnemeyer (2019)

Inhaltlicher Schwerpunkt der Studie Studienstrukturen, Beschäftigungsfähigkeit, regional benötigte Methodenkompetenzen, praxis-/bedarfsorientierte Lehre nach Bologna sind Fokuspunkte. Dokumentenanalyse und Auswertung von Kompetenzprofilen in Stellenanzeigen. Berücksichtigung finden alle deutschen B.A.-Studiengänge im Fach Geographie. Absolventenbefragung von Alumni der Wirtschaftsgeographie als standardisierte Befragung zu allgemeiner Arbeitssituation und Studium in regelmäßigen Abständen. Standardisierte Befragung zu Studienverlauf, Arbeitssituation und Karriereförderung von Geograph*innen. Eine Befragung des Deutschen Verbands für Angewandte Geographie e. V.

gliederung in Professionalisierungsgrade  – zum Beispiel Helfer, Fachkräfte, Spezialisten – ist ebenfalls zu beobachten. Auch die Geographie im deutschsprachigen Raum hat den Blick auf die Arbeitswelt gerichtet und Forschungen durchgeführt. Exemplarisch dienen hierfür die folgenden drei Studien (Tab. 19.1): Warum also noch eine Erhebung? Die übergeordneten Studien sind aussagekräftig, haben jedoch einen zu geringen Detaillierungsgrad, um die Charakteristika einer geographischen Arbeitswelt zu erfassen. Die verwendete Methode ist meist quantitativer Natur. Demgegenüber stehen die bisher durchgeführten geographiespezifischen Studien im deutschsprachigen Raum, die jedoch das Thema der Zukunftsszenarien der geographischen Arbeitswelt noch zu wenig für sich entdeckt und bearbeitet haben. Die vorliegende Studie Work 4.0: Entwicklungsszenarien der Arbeitswelt von Geograph*innen gewinnt anhand von geographiespezifischen Einzelfällen Erkenntnisse und zieht Rückschlüsse auf Bedarfe und nächste Schritte. Das induktive Vorgehen im Rahmen einer qualitativen Forschung sichert dabei die Praxisnähe der Ergebnisse und gewährleistet, dass einige bisher nicht berücksichtigte Themenfelder aufgedeckt und Thesen gebildet werden können. Es wurden ausschließlich berufserfahrene Personen interviewt, die als Expert*innen in ihrem Fachgebiet angesehen werden. Die Tatsache, „dass die Zuschreibung der Expertenrolle immer durch den Forscher selbst im konkreten Forschungsprozess erfolgt“, hat auch in der vorliegenden Studie Geltung (Kaiser, 2014, S. 39). Die Interviews fanden – mit einer Ausnahme in Präsenz – online mit einem Videokonferenztool (Zoom®/Skype®) statt. Alle Interviews wurden aufgezeichnet; hierfür wurde die entsprechende Zustimmung im Vorfeld eingeholt. Im Anschluss an die Gespräche wurden die Interviews nach der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz, 2018) ausgewertet. Hierbei ist kennzeichnend, dass nach der Anonymisierung der Daten und der Transkription der Interviews eine Codierung aller Interviews nach vorher festgelegten Codierregeln erfolgt, um die Inhalte durch die Vergabe von induktiven Codes zu strukturieren und zu verdichten. Deduktive Codes wurden ebenfalls vergeben; diese leiten sich aus der Struktur des verwendeten Leitfragebogens ab. Für die Auswertung wurde die Software MAXQDA® (Verbi,

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2022) verwendet. Innerhalb der laufenden Interviews wurden an zwei Stellen Einschätzungsfragen gestellt, die an eine standardisierte Befragung erinnern, da Antwortmöglichkeiten vorgegeben werden. Diese umfassen eine Einschätzung der Relevanz von sechs vorformulierten Kompetenzen im Hinblick auf die zukünftige Arbeitswelt (Block V des Leitfragebogens) unddie Zustimmung bzw. Ablehnung von vier vorgegebenen Statements (Block VI).

19.3.2 Aufbau und Inhalte des Leitfragebogens Im Vorfeld der Erstellung des Leitfragebogens hat eine intensive Beschäftigung mit den Themen rund um den Wandel der Arbeitswelt im Zuge der Digitalisierung stattgefunden. Um ein professionelles Expert*inneninterview führen zu können, ist es Voraussetzung, sich selbst zu einem „Quasi-Experten“ geschult zu haben (Pfadenhauer, 2005, S. 113). Ein Expert*inneninterview lebt davon, dass sich die fragenstellende Person in die entsprechenden Themen eingearbeitet hat. Im Rahmen des vorliegenden zweisemestrigen Studienprojektes wurde deshalb das erste Semester für die thematische Einarbeitung in die entsprechenden Themen genutzt. Die Themen umfassen u. a. neue Technologien (z. B. Robotik & künstliche Intelligenz), Chancen und Risiken der digitalen Transformation, Wissenskoordination und Methoden der Zukunftsforschung zur Imagination von Zukünften. Auch die Ergebnisse von relevanten Studien und verschiedene Future-Skill-Frameworks werden im Vorfeld aufgearbeitet. Für den Leitfragebogen werden diese Aspekte zu den folgenden sechs Themenblöcken zusammengeführt: • • • • • •

Block I: Aufwärmphase & Gedankenspiel Zukunftsszenarium (kurz) Block II: Aufgabenfelder (heute und in 20 bis 30 Jahren) Block III: Treiber/Koordination/Wissen Block IV: Neue Technologien Block V: Kompetenzen inkl. Einschätzungsfrage Kompetenzen Block VI: Gesamtschau Zukunftsszenarium (umfassend) und Einschätzungsfrage Statements

Diese Zusammenführung hat nicht nur die fachliche Expertise der Studierenden ein weiteres Mal abgerufen, sondern auch die Auseinandersetzung mit möglichen Interviewverläufen befördert. In diesem Zusammenhang wurden Interviewformen, Fragetypen und förderliche Kommunikationsstrategien nicht nur theoretisch vorgestellt, sondern auch praktisch erprobt und umgesetzt. Deshalb ist auch die nachfolgend beschriebene Rahmung des Interviews kein Zufallsprodukt, sondern Ergebnis eines umfassenden Diskurses: Zu Beginn des Interviews wird im Rahmen eines kurzen Gedankenspiels nach einem Zukunftsszenarium der Arbeitswelt von Geograph*innen gefragt (Block I). Dies wird am Ende des Interviews mit der Frage nach einer umfassenden Gesamtschau eines ­Zukunftsszenariums ein zweites Mal aufgegriffen (Block IV), um die Möglichkeit zu er-

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öffnen, dass Aspekte, die während des Interviews genannt wurden, auch in das Endszenarium einfließen zu lassen. Da es für die befragten Personen von Vorteil ist, während des Interviews die entsprechenden Fragen auch selbst sehen zu können – eine Verbesserung aus dem Pre-Test des Leitfragebogens – wurden die Fragen während der Interviews nacheinander online eingeblendet.

19.3.3 Ergebnisse der Projektstudie 19.3.3.1 Verbalisierung von Zukunftsszenarien und emotionale Einschätzung Dass die Zukunft deutlich digitaler wird, ist Ergebnis aller Interviews. Es ist jedoch zu beobachten, dass es den interviewten Personen schwerfällt, konkrete Zukunftsszenarien zu beschreiben. Weder zu Beginn des Interviews im Rahmen des kurzen Gedankenspiels noch am Ende durch die besagte Gesamtschau werden Zukunftsszenarien formuliert. Benannt werden vielmehr Einzelphänomene, Herausforderungen oder Arbeitsabläufe, die oftmals aktuell schon mit digitalen Hilfsmitteln umgesetzt werden. Des Weiteren wird der eigene Arbeitsbereich nicht in Gefahr gesehen, von einschneidenden bzw. sehr großen Veränderungen betroffen zu sein. Die meisten interviewten Personen können es sich nicht vorstellen, dass die gesamte Arbeit ausschließlich online ausgeführt wird, da der persönliche Kontakt zu Mitarbeitern, Kunden oder Geschäftspartnern weiterhin als zentraler Faktor bei der Erfüllung der Aufgaben angesehen wird. Die allgemeine emotionale Einschätzung des Wandels wird als positiv beschrieben. 19.3.3.2 Stellenwert von Kommunikation und Future Skills Der Kommunikation in Präsenz wird im Zusammenhang mit der Aufgabenerfüllung und der Pflege von persönlichen Kontakten ein hoher, nahezu unverzichtbarer Stellenwert eingeräumt. Dass die Kommunikation auch in Zukunft die digitalen Möglichkeiten nutzen wird, wird als wahrscheinlich angesehen. Einige der interviewten Personen äußern, dass eine hybride Kommunikation in Zukunft von Bedeutung ist, wobei dieser Begriff nicht definiert wurde. Es wird die Möglichkeit formuliert, dass sich auf internationaler Ebene die digitale und auf lokaler Ebene die persönliche Kommunikation in Präsenz langfristig durchsetzen könnte. Ein Interviewpartner bevorzugt die digitale Kommunikation vollumfänglich, da diese vor allem fairer als die herkömmliche Kommunikation in Präsenz sei. Fairness wurde in diesem Zusammenhang nicht weiter begründet. Dies ist jedoch ein interessanter Aspekt, an den mit weiteren Studien angeknüpft werden könnte. Auch bei der offen gestellten Frage nach den wichtigsten drei Kompetenzen der Zukunft (Future Skills) wird die Kommunikationsfähigkeit vom Großteil der Befragten genannt; ebenfalls werden Offenheit bzw. ein agiles Mindset und die Fähigkeit, Kreativität zuzulassen und Unbekanntes zu wagen, aufgezählt. Hierbei handelt es sich um überfachliche Kompetenzen; spezifisch geographische Kompetenzen fallen hier nicht ins Gewicht.

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19.3.3.3 Koordination von Wissen und Wissensquellen Hier lassen sich vier Möglichkeiten unterscheiden: Die Koordination von Wissen nach einem Top-down Prinzip, bei dem v. a. Führungskräfte diese Aufgabe übernehmen. Zum anderen wird Wissen auf gleicher Hierarchieebene koordiniert. So zum Beispiel bei der Kommunikation im Team oder der Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen. Als drittes wird die Selbstkoordination von Wissen durch Einzelpersonen genannt. Dass eine Koordination von Wissen in der Institution gänzlich fehlt, wird als vierte Möglichkeit ebenfalls aufgezählt. Zusätzlich werden Veranstaltungen von Fachverbänden, Konferenzen, der Austausch mit Expert*innen aus der Forschung und Fachliteratur als zentrale Wissensquellen genannt. Auch dem Internet wird in Form von branchenspezifischen Plattformen und sozialen Medien eine bedeutende Rolle zugeordnet. 19.3.3.4 Einsatz neuer Technologien Robotik Der Einsatz von Robotern in einem Büro ist für die Befragten nicht vorstellbar. Denkbar ist der Einsatz von Robotern als Hilfsmittel zur Gewinnung von Daten, beispielsweise bei der Vermessung von Grundstücken, als Helfer auf Baustellen oder als Messe-Guide. Künstliche Intelligenz (KI) Ein Großteil der befragten Personen kann sich KI als Unterstützung in einem Büro für die Übernahme von monotonen und wiederkehrenden Aufgaben gut vorstellen. Auch die Übernahme von komplexeren Aufgaben  – hierzu zählen das Erstellen von Rechnungen oder Förderanträgen, die Analyse von größeren Datenmengen oder die Suche nach Investoren – wird als Einsatzmöglichkeit genannt. Fast alle Befragten verweisen in diesem Kontext auf die Wichtigkeit der persönlichen zwischenmenschlichen Beziehungen, die – so der Gesamttenor – von KI nicht übernommen werden kann. 3D-Druck Den 3D-Druck sieht ein Großteil der Befragten in ihrem Arbeitsumfeld als nicht relevant an. Haptische 3D-Modelle werden einzig zur Information der Öffentlichkeit im Rahmen von Bauvorhaben in Betracht gezogen. Augmented und Virtual Reality (AR/VR) VR und AR werden teilweise im Arbeitsumfeld von Geograph*innen heute schon eingesetzt, wobei AR-Technologien generell bevorzugt werden. Ein vermehrter Einsatz von VR wird in Zukunft erwartet. Der häufigste, auch schon realisierte Einsatz von VR und AR, besteht in der 3D-Modellierung von Gebäuden, um Planungen Bürger*innen näherzubringen. Im Kontrast hierzu steht eine Einzelaussage, dass VR und AR nur eine ergänzende Rolle übernehmen bzw. der Inspiration dienen.

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Weitere Technologien Das autonome Fahren und der Einsatz von Drohnen werden als weitere relevante Technologien genannt. In Bezug auf die Kartierung von leerstehenden Gebäudeflächen wird eine Technologie beschrieben, die dies automatisiert durchführt. Der Name dieser Technologie und das genaue Vorgehen werden nicht erläutert.

19.3.3.5 Einschätzung der Relevanz von vorgegebenen Kompetenzen Die Relevanz von sechs im Interview vorgegebenen Kompetenzen wird in Hinblick auf die Zukunft der Arbeitswelt von Geograph*innen von den befragten Personen eingeschätzt.3 Tab. 19.2 zeigt die Ergebnisse. Bei der abrundenden Frage, welche der sechs vorgegebenen Kompetenzen die wichtigste Kompetenz sei, wird überwiegend die Kommunikationskompetenz ausgewählt. Eine Person schreibt der Selbstorganisationskompetenz, eine andere der Reflexionskompetenz die höchste Relevanz zu. 19.3.3.6 Vier vorgegebene Statements Die Beantwortung der vier vorgegebenen Statements ergibt folgendes Bild: Die Entwicklungen werden nicht so schnell vor sich gehen, dass Arbeitnehmer*innen abgehängt werden (Statement 1). Etwa die Hälfte der Befragten kann sich vorstellen, dass sich die Berufsprofile auflösen und in Kompetenzprofile verwandeln (Statement 2). Die Zusammenarbeit mit Robotern in Form der Cobotik wird zwar von der Mehrheit als unTab. 19.2  Einschätzung der Relevanz von sechs im Interview vorgegebenen Kompetenzen für die zukünftige Arbeitswelt von Geograph*innen Kompetenz Digitalkompetenz

Einschätzung Anmerkung Sehr hoch Nur eine befragte Person kann sich nicht zwischen einer sehr hohen und einer eher hohen Relevanz entscheiden Selbstorganisationskompetenz Sehr hoch Mit einer Ausnahme Reflexionskompetenz Sehr hoch bis Es wird angemerkt, dass die Relevanz der gering Reflexionskompetenz – je nach Arbeitsbereich und Aufgabe – unterschiedlich ausfallen kann, da eindeutig definierte, theoretische Aufgaben wenig Hinterfragung erfordern und dies somit keineswegs über die Qualität der persönlichen Arbeit entscheidet Kommunikationskompetenz Sehr hoch Wird durchweg als sehr hoch eingeschätzt Teamfähigkeit Sehr hoch Mit einer Ausnahme Ethische Kompetenz Sehr hoch bis Das Verständnis des Begriffs Ethische Kompetenz gering geht weit auseinander. Einzelnen Befragten ist es nicht möglich, den Begriff in den Gesamtkontext einzuordnen. 3

 Vorgegebenen Antwortmöglichkeiten waren: sehr hoch, eher hoch, eher gering, gering.

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Abb. 19.2  Übersicht der Antworten zu den vier vorgegebenen Statements

wahrscheinlich angesehen, doch ebenso als Teil der Zukunft gesehen (Statement 3). Künstliche Intelligenz wird nach Meinung der Befragten keine besseren Lösungen als der Mensch finden und sich nicht durchsetzen (Statement 4). Abb. 19.2 zeigt die Antworten in einer Übersicht.

19.3.4 Diskussion der Ergebnisse 19.3.4.1 Formulieren von Zukunftsszenarien Wie in Abschn. 19.3.3.1 als Ergebnis dargelegt, wurden in den Interviews keine Szenarien formuliert, obwohl an zwei Stellen explizit danach gefragt wurde. Die Nennung von aussagekräftigen Einzelaspekten ist natürlich dennoch von hoher Relevanz; dies soll an dieser Stelle ausdrücklich betont werden. Dennoch legt die Tatsache die Schlussfolgerung nahe, dass sich die befragten Personen bisher noch nicht oder eher wenig mit Zukunftsszenarien im Arbeitskontext beschäftigt haben. Auch folgende fünf Hinweise stützen diese Schlussfolgerung: • Der zeitliche Rahmen, in dem in die Zukunft gedacht wurde, ist kurzfristig, statt mittelbzw. langfristig. • Konstellationen, die einen disruptiven Charakter haben, werden nicht beschrieben.

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• Es wird oft die Position bezogen, dass die eigene Tätigkeit keinen starken Wandel erfahren wird bzw. nicht von autonomen Systemen übernommen werden kann. • Potenziale von neuen Technologien bleiben in den Aussagen wenig berücksichtigt. • Das kontextspezifische Vokabular wird in den Antworten wenig verwendet. Beispiele hierfür wären folgende Begriffe: remote, smart, New Leadership, New Work, Organisationskultur, Transformationsstrategien, Change-Management, Big Data, Strategic Foresight bzw. Zukunftsforschung, Algorithmen, Mixed Reality, Adaptivität, Agilität, Internet of Things, Autonome Systeme, Chat Bots, Machine Learning, Neuronale Netze, Quantencomputing, Disruption, Postdigitalität, Digitalethik.

19.3.4.2 Ausbaufähig: Wissenskoordination und Wissensquellen Die Studie befördert unterschiedliche Quellen von Wissen zutage. Eine Koordination von Wissen im Sinne eines bewusst eingesetzten Change-Managements ist jedoch nicht vorhanden. Das Schaffen von eigens dafür zuständigen Arbeitsstellen wird als Notwendigkeit nicht ausdrücklich formuliert. Der Besuch von Weiterbildungskursen oder der Einsatz spezieller Berater für die Entwicklung von Digitalstrategien bleiben unerwähnt. Fachliteratur oder Konferenzteilnahmen, um hier einige der genannten Aspekte aufzugreifen, sind als positiv zu bewerten, reichen jedoch nach Meinung der Autor*innen nicht aus, um ein tragfähiges Fundament an Kompetenzen und eine damit verbundene, dem Wandel zugewandte Kultur zu entwickeln. Strategien, um den zukünftigen Herausforderungen gewachsen zu sein, fehlen in weiten Teilen. 19.3.4.3 Zukunftskompetenzen im geographischen Kontext Die Kommunikationskompetenz ist für die Befragten eindeutig die wichtigste Zukunftskompetenz. Die freie Formulierung von Kompetenzen zusammen mit der Einschätzung unter den sechs vorgegebenen Kompetenzen gibt ihr diesen Status. Auch die Plätze zwei und drei werden bei der freien Nennung von Kompetenzen von Soft Skills belegt. Dass keine geographiespezifischen Kompetenzen genannt werden, ist ein Phänomen, dass genauere Betrachtung verdient. Zunächst könnte dies als Hinweis gedeutet werden, dass sich das Berufsprofil von Geograph*innen tatsächlich – wie in Statement 2 in Abschn. 19.3.3.6 beschrieben – auflöst und sich in ein allgemeineres Kompetenzprofil, das vor allem aus Soft Skills besteht, verwandelt. Diese Hypothese müsste mit weiteren Studien überprüft werden. In diesem Zusammenhang ist auch folgende Tatsache aufschlussreich: „Die Nachfrage nach überfachlichen Kompetenzen steigt mit zunehmender Komplexität der Tätigkeiten“ (IAB Forum, 2022, S. 8). Der Sachverhalt könnte jedoch ebenso darauf hindeuten, dass sich Geograph*innen ihrer spezifischen Skills inklusive deren Zukunftspotenziale nicht bewusst sind. Dies einerseits, weil dazu bisher zu wenig fachspezifisch geforscht, publiziert und diskutiert wird, andererseits, weil diese Fragestellung im Berufsalltag für Geograph*innen keine Relevanz für die Erfüllung ihrer Aufgaben hat. Erst in der Auseinandersetzung mit dem Wandel der Berufswelt und durch die Verknüpfung mit der Future-Skill-Debatte treten diese Aspekte in den Vordergrund. Kurz soll noch ein Spot-

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light auf die ethische Kompetenz gelegt werden: Ihre Tragweite sollte für zukünftige Entwicklungen auch im Arbeitsfeld von Geograph*innen nicht unterschätzt werden.

19.4 Ausblick Wenn durch diese Studie deutlich wird, dass in der geographischen Berufswelt ein Bedarf an Weiterbildungen in Hinblick auf den Wandel der Arbeitswelt vorhanden ist, so ist diese Erkenntnis der erste Schritt zur Lösung. Denn weder ist der Schiffbruch schon erlitten noch ist die Poleposition aktuell schon einzunehmen. Im Kontext der Veränderungen der Arbeitswelt sind alle Beteiligten aktuell Lernende. Die positive Grundhaltung, die den Zukunftsentwicklungen entgegengebracht wird, ist eine gute Ausgangslage, an die angeknüpft werden kann, um Wege aufzuzeigen, mit einer gewissen Vehemenz wachzurütteln und einen Austausch voranzutreiben. Nächste Schritte, die positive Entwicklungen befeuern können, sind: • Die Zukunft der Arbeit thematisieren, zum Beispiel im Rahmen von Zukunftsworkshops, Zukünftelaboren (z. B. nach Bergheim, 2019), Fortbildungen und Online-Kursen • Fachliche Vernetzungen gezielt fördern und Tagungsteilnahmen ermöglichen • Sich mit Zukunftsforschung, den entsprechenden Methoden und mit neuen Technologien beschäftigen • Austausch zwischen Forschung und Praxis gezielt herstellen • Einrichten von Reallaboren • Durchführung von weiteren Studien und Auswertung vorhandener Studien • Suche nach Good- und Best-Practice-Beispielen zur Orientierung • Themen-Verantwortlichkeiten generieren, verbunden mit der Vergabe entsprechender Stellenprozente • Externe Berater für die Strategiebildung hinzuziehen • Kommunikationskompetenz frühzeitig und umfassend in die Curricula implementieren und dabei auch digitale Ausprägungen mitdenken • Geographiebasierte Future Skills diskutieren, so z. B. die Cosmopoliteracy • Verzahnung der Themen Wandel der Arbeitswelt, Zukunftsforschung, Ethik und Future Skills bewusst initiieren • Durchführen von Studienprojekten (analog zu dem hier beschriebenen), da damit eine Orientierung über Entwicklungen in der Berufswelt erreicht werden kann Letztgenannter Punkt bildet nicht zufällig den Abschluss dieses Kapitels, spiegelt er doch die positive Erfahrung wider, die sowohl von der Lehrperson als auch von den Studierenden gesammelt wurde. Somit kann die Nachahmung auch mit Blick auf die erreichten Ziele empfohlen werden.

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Literatur Bergheim, S. (2019). Raum für Neues. OrganisationsEntwicklung, 4, 83–85. Dengler, K., & Matthes, B. (2015). Folgen der Digitalisierung für die Arbeitswelt: Substituierbarkeitspotenziale von Berufen in Deutschland, IAB-Forschungsbericht Nr. 11/2015. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Frey, C.  B., & Osborne, M.  A. (2013). The future of employment. How susceptible are jobs to computerisation? https://www.oxfordmartin.ox.ac.uk/downloads/academic/The_Future_of_ Employment.pdf. Zugegriffen am 04.04.2022. Geographisches Institut. (2022). Definition Studienprojekt. https://www.geographie.ruhr-­uni-­bochum. de/studium/modulfuehrer/bachelor-­of-­science/studienprojekt. Zugegriffen am 04.04.2022. HGD (Hochschulverband für Geographiedidaktik). (2020). Der Beitrag des Fachs Geographie zur Bildung in einer durch Digitalisierung und Mediatisierung geprägten Welt  – Positionspapier. http://geographiedidaktik.org/wp-­content/uploads/2020/11/Positionspapier_Geographische_ Bildung_und_Digitalisierung_2020.pdf. Zugegriffen am 04.04.2022. Huber, L. (2009). Warum Forschendes Lernen nötig und möglich ist. In L. Huber, J. Hellmer, & F.  Schneider (Hrsg.), Forschendes Lernen im Studium: Aktuelle Konzepte und Erfahrungen (S. 9–35). UVW. Hünnemeyer, V.  R. (2019). Von Generalisten und Spezialisten. Geographen im Beruf. Deutscher Verband für Angewandte Geographie. IAB Forum. (2022). Überfachliche Kompetenzen sind gefragt – allen voran Zuverlässigkeit und Teamfähigkei. https://www.iab-­forum.de/ueberfachliche-­kompetenzen-­sind-­gefragt-­allen-­ voran-­zuverlaessigkeit-­und-­teamfaehigkeit/?pdf=25005. Zugegriffen am 04.04.2022. Kaiser, R. (2014). Qualitative Experteninterviews. Konzeptionelle Grundlagen und praktische Durchführung. Springer. Knöpfle, T. (2020). 20 Jahre harmonische Dissonanz und alle stimmen ein? Umsetzung der Bologna-­ Reform am Beispiel des Bachelor-Studiengangs Geographie im deutschen Hochschulraum. Dissertation, München: LMU/Faculty of Geosciences. Kuckartz, U. (2018). Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Beltz. Mieg, H. A. (2020). Eine Systematik der Forschungsformen und ihre Eignung für Forschendes Lernen. In C. Wulf, S. Haberstroh, & M. Petersen (Hrsg.), Forschendes Lernen. Springer. Pfadenhauer, M. (2005). Auf gleicher Augenhöhe reden. Das Experteninterview – ein Gespräch zwischen Experte und Quasi-Experte. In A. Bogner, B. Littig, & W. Menz (Hrsg.), Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Springer. Sternberg, R. (2020). Berufsperspektiven der Alumni. https://www.iwkg.uni-­hannover.de/de/lehre/ berufsperspektiven-­der-­alumni/. Zugegriffen am 04.04.2022. Verbi. (2022). MAXQDA. https://www.maxqda.de/. Zugegriffen am 04.04.2022.

Perspektive 7

Geographische Bildung in digitalen Kulturen befähigt, digital durchdrungene Lebenswelten in ihrer Räumlichkeit multitheoretisch, d. h. in unterschiedlichen Zugängen, analysieren und reflektieren zu können. Kap. 20: Basiskommentar Das Kapitel untersucht am Beispiel von Pokémon Go räumliche Implikationen gegenwärtiger Verhältnisse digital durchdrungener Lebenswelten. In drei theoriegeleiteten Suchbewegungen werden die Merkmale Hybdridität, Code und Netzwerk entfaltet und als Konturen eines neuen Raumkonzepts für die Geographiedidaktik, dem Raum als Prozess transduzierter Hybrid-Beziehungen, zur Diskussion gestellt. Kap. 21: Good-Practice-Beispiel Smart Cities, die – je nach Perspektive – als Utopie oder Dystopie digital durchdrungener Lebenswelten wahrgenommen werden, bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte für die geographische Bildung. Die in diesem Kapitel entwickelten Bausteine regen dazu an, über positive und negative Auswirkungen der Digitalität auf urbane Kulturen zu reflektieren und letztlich an deren Gestaltung zu partizipieren. Kap. 22: Forschungsbeitrag In den sozialen Medien werden räumliche Informationen generiert, synthetisiert und interpretiert. Dadurch werden neue Attribute der Bedeutung für einen bestimmten Raum erzeugt, die es vor einiger Zeit noch nicht gab. Diesbezüglich werden empirische Befunde präsentiert, die aufzeigen, welche Rezeptionsprozesse bei Jugendlichen vor dem Hintergrund einer veränderten räumlichen Bedeutungszuweisung entstehen.

Hybridität, Code, Netzwerk Konturen eines neuen Raumkonzepts für die Geographiedidaktik?

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Fabian Pettig und Inga Gryl

Zusammenfassung

Am Beispiel des globalen Phänomens Pokémon Go, einem 2016 weltweit erschienenen und nach wie vor sehr erfolgreichen Augmented-Reality-Videospiel, widmet sich dieses Kapitel räumlichen Implikationen gegenwärtiger Entwicklungen der digitalen Durchdringung von Alltag und Lebenswelt in ihrer vermittlungspraktischen Relevanz. Unter Rückgriff auf verschiedene Ansätze aus (Medien-)Geographie und Techniksoziologie legen wir in drei Suchbewegungen Merkmale digitalbezogener Räumlichkeit frei, die den konzeptionellen Rahmen der vier Raumkonzepte berühren und zugleich überschreiten: Hybridität, Code und Netzwerk. Wir verstehen diese Merkmale als Konturen eines neuen Raumkonzepts für die Geographiedidaktik, den wir als Raum als Prozess transduzierter Hybrid-Beziehungen, kurz: transduzierter Raum, bezeichnen. Abschließend formulieren wir einen Vorschlag, wie dieses Raumkonzept als Aktualisierung bestehender Perspektiven auf Raum für die geographiedidaktische Diskussion fruchtbar werden könnte. Schlüsselwörter

Raumkonzepte · Hybride Räume · Code/Space · Akteur-Netzwerk-Theorie · Transduktion F. Pettig (*) Institut für Geographie und Raumforschung, Universität Graz, Graz, Österreich E-Mail: [email protected] I. Gryl Didaktik des Sachunterrichts am Institut für Geographie, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_20

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20.1 Einleitung Am 13. Juli 2016 war die Jenaer Innenstadt voller Menschen. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn in Jena der Zeitraum, in dem Schulferien und vorlesungsfreie Zeit im Sommer zusammenfallen, nicht meist durch menschenleere Plätze, Straßen und Gassen gekennzeichnet wäre. Erwähnenswert ist weiterhin, dass an diesem Tag auffällig viele Gruppen aus mehreren Personen durch die Stadt streiften und dabei auch an bestimmten Orten (für die dies teilweise durchaus ungewöhnlich war, wie später noch ausgeführt werden wird) eine längere Zeit verweilten. Präsent waren dabei stets mobile Endgeräte, die aufmerksam und mit versierten Wischbewegungen bedient wurden. Was war los? Auf diesen Tag fiel die deutschlandweite Veröffentlichung des Videospiels Pokémon Go für Handheld-Mobilgeräte, das an das umsatzstärkste Medienfranchise der Welt  – Pokémon – von Nintendo angelehnt ist (Statista, 2021). Das vom US-amerikanischen Studio Niantic entwickelte Spiel verbindet digitale Spielinhalte auf Grundlage von GPS-­Daten als Layer mit der Welt, sodass Spieler*innen mit schillernden Fantasiewesen im eigenen Umfeld interagieren können. Die Spielinhalte orientieren sich eng an den japanischen Mangas und Animes aus den späten 1990er-Jahren und umfassen das Fangen, Trainieren und Tauschen von unterschiedlich seltenen Pokémon. Ziele sind einerseits den eigenen Pokédex (eine Art Sammelalbum) zu füllen und anderseits in Arenen gegen andere Spieler*innen anzutreten. Aufgrund der Lage der Arenen erfolgt die Erschließung der Spielwelt in der Regel fußläufig vor Ort, was Mediziner*innen positiv vermerkt haben (Ärztezeitung, 2016). Nach wie vor zählt Pokémon Go zu den erfolgreichsten mobile games weltweit (Statista, 2022), auch wenn die Nutzer*innenzahlen seit Release deutlich gesunken sind: Von 232 Mio. Nutzer*innen 2016 auf 71 Mio. Nutzer*innen im Jahr 2021 (Iqbal, 2022, o. S.). Ausgehend von der Beobachtung der Räumlichkeit von Pokémon Go wollen wir die Implikationen dieses globalen Phänomens geographisch ausloten, die exemplarisch für gegenwärtige Entwicklungen im Zuge der digitalen Durchdringung von Alltag und Lebenswelt sind. Hierzu existieren bereits einige Arbeiten, u. a. zur Transformation öffentlicher Räume (Bauder & Hackenbroch, 2018), zu Effekten auf das Mobilitätsverhalten und die Verstetigung räumlicher Disparitäten (Colley et al., 2017) sowie auf die Raumwahrnehmung und Raumnutzung (Gong et al., 2017) durch Pokémon Go. Uns interessiert an dieser Stelle jedoch der exemplarische Bildungswert für den Geographieunterricht, welchen wir entlang unterschiedlicher Fragestellungen aus dem Beispiel freilegen wollen, was die Verbindung fach- und vermittlungswissenschaftlicher Perspektiven impliziert: Wie beeinflussen digitale Daten unsere Vorstellungen und unser Wissen über Räume? Welche neuen Räume bringen digitale Technologien und digitale Praktiken hervor? Welche bestehenden Phänomene werden mittels Technologie intensiviert und welche neuen Phänomene werden durch Technologie bedingt? Welche Rolle kommt dem Spiel mit Identitäten und fiktiven Charakteren für die Raumkonstruktionen zu? Zur Klärung widmen wir uns erstens sich wandelnden Verhältnissen von Realität und Virtualität, zweitens den Zusammenhängen von Software/Algorithmen und Raum sowie drittens Beziehungsstrukturen menschlicher und nichtmenschlicher Akteur*innen. Ab-

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schließend diskutieren wir viertens, ob sich in diesen drei Denkbewegungen Konturen eines neuen Raumkonzepts abzeichnen, welches das basiskonzeptionelle Modell der vier Raumkonzepte (Wardenga, 2002, 2017) aktualisieren bzw. um eine neue Dimension erweitern könnte.

20.2 Realität und Virtualität „[T]he borders between digital and physical spaces, which were apparently clear with the fixed Internet, become blurred and no longer clearly distinguishable.“ (de Souza, 2006, S. 264)

Als Augmented-Reality-Videospiel scheint Pokémon Go auf den ersten Blick die „echte Welt“ mit der „digitalen Welt“ zu verschneiden. Auf Grundlage von GPS-Daten werden bestimmte Orte um digitale Inhalte erweitert, bspw. indem man auf der Straße plötzlich einem Schiggy gegenübersteht und dieses mittels eines gekonnten Wischs über das Smartphone, d. h. einem gut geworfenen Pokéball, einfangen kann (Abb. 20.1). Neben solchen zufälligen Begegnungen werden aber auch ganz gezielt bestehende Landmarken durch das Spiel mit neuer Bedeutung geladen, bspw. indem das bronzene Denkmal des ehemaligen Saaltors, eine Erinnerung an die einstige Stadtmauer, im Zentrum von Jena zur Pokémon-­ Arena wird, in welcher die eigenen Pokémon gegen die von anderen Spieler*innen antreten können (Abb. 20.2).

Abb. 20.1  Pokémon Go, Spielansicht (Pixabay)

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Abb. 20.2  „Ehemaliges Saaltor“ Jena (wikimedia.org)

In Momenten wie diesen geraten die alltagsweltlich klaren Grenzen von Realem und Nicht-Realem, i. d. R. in Realität und Virtualität unterschieden, in Bewegung: Wie virtuell ist die Arena, wenn ich doch vor Ort am Saaltor-Denkmal sein muss, um in ihr antreten zu können und vor Ort im Zweifelsfall meinen Kontrahent*innen – anderen Spieler*innen – Auge in Auge gegenüberstehe? Wer ist mein Gegenüber – Pokémon-Trainer*in oder am Smartphone spielende/r Passant*in? Wo befindet sich diese Person gerade? Und wie real ist die Arena (noch), wenn ich mein Smartphone ausschalte? Tatsächlich sind Fragen nach der Verhältnisbestimmung des Realen und des Virtuellen nicht neu, werden angesichts zunehmend digital geprägter Lebenswelten aber vermehrt laut und verweisen auf begriffliche Unsicherheit in Alltag und Wissenschaft (Dickel & Jahnke, 2012, S. 236). Orientierung in diesem diffusen Begriffsfeld kann die geographische Diskussion um das Verhältnis von Realität, Virtualität und Raum bieten. Kanderske und Thielmann (2020) unterscheiden

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in einer disziplinhistorischen Aufarbeitung sich wandelnder Forschungsperspektiven im Forschungsfeld der virtuellen bzw. digitalen Geographien vier Phasen: ( 1) (2) (3) (4)

Unterscheidung des Virtuellen vom Realen, Augmentierung des Realen um das Virtuelle, Augmentierung des Virtuellen um das Reale, Aufhebung der Trennung von Virtuellem und Realem (vgl. ebd.).

Für die aktuelle vierte Phase stellen sie heraus, dass die alltagsweltlich noch immer überaus präsente dichotome Unterscheidung von Realität und Virtualität angesichts neuerlicher technologischer Entwicklungen sowie damit verbundener technologiebezogener Praxis nicht länger haltbar ist: „Die historische Betrachtung hat die begriffliche Umwertung … der Virtualität, vom ontologisch andersartigen ‚nonspace of the mind‘ hin zu einem vielfach komplementär verschränkten und überlagerten Raum gezeigt.“ (Kanderske & Thielmann, 2020, S. 298)

So sind es insbesondere die Entwicklungen im Bereich von VR und AR, welche die Trennung von Realität und Virtualität zunehmend obsolet machen (ebd.), wenn aufgrund fortschreitender Simulations- und Manipulationsmöglichkeiten die symbolische und die reale Ebene zunehmend ineinanderfallen (Dickel & Jahnke, 2012, S. 240). Dabei bringen die symbolische und die reale Ebene jeweils spezifische Charakteristika in die entstehende Gemengelage ein (Körperlichkeit, Visualität, Medialität etc.), die aber wiederum besteht ausschließlich in einer untrennbaren Verschränkung zu neuen Ermöglichungsräumen. Pokémon Go ist hierfür ein vielschichtiges Beispiel, da es jenseits der individuellen Raumaneignung auch zu einer durch Stellvertreter*innen ausgeführten Inanspruchnahme von Räumen kommt, was wiederum Herrschaftsverhältnisse befragt: Durch die komplette Verschneidung durchdringt ein gewinnorientiertes Unternehmen scheinbar spielend leicht öffentlichen Raum und dirigiert – bis zu einem gewissen Grade – die Körper von Menschen durch diesen. Das Ineinanderfallen oder Durchdringen der Begriffe Virtualität und Realität wird im Konzept des Hybrid Space gefasst: „Virtual Places are produced as hybrid space that is folded into everyday lived experience and physical environment, rather than being some exotic, dissociated para-space“ (Dodge & Kitchin, 2007, S.  520). Hybrid-Räume entstehen aus der Verschmelzung von physisch-materieller Umgebung und dem Digitalen über soziotechnische Interfaces, mobile Endgeräte wie Handhelds und Wearables, die zwischen zwei oder mehr Nutzer*innen vermitteln (de Souza, 2006). Der Ansatz beschreibt also nicht die Steigerung von Immersionserfahrungen im Sinne der perfekten Simulation von „Wirklichkeit“, bspw. mittels VR (womit noch immer eine virtuelle von einer realen Welt unterschieden wird), sondern verdeutlicht, dass in Hybridräumen unterschiedliche Ebenen zu einem dichten Geflecht verwoben sind.

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Für den Geographieunterricht sind Fragen nach dem sich wandelnden Verhältnis digitaler Medien, Realität und Virtualität von hoher Relevanz (Dickel & Jahnke, 2012, S. 240). Die Reflexionsfolie des Hybrid Space zeigt sich geeignet, diese Verhältnisse im Unterricht auszuloten und (neu) zu verhandeln, indem mobile Endgeräte auch als Interfaces reflektiert werden, über die unterschiedliche Ebenen des In-der-Welt-Seins ineinanderfallen: In welche Alltagspraktiken sind mobile Endgeräte (Handhelds, Wearables …) in welcher Form eingebunden? Welche (neuen) Lesarten und Handlungsweisen von Raum eröffnen und verunmöglichen diese digitalen Technologien? Wie verändert sich Raum wahrnehmung, -gestaltung, -produktion durch die Nutzung/Produktion digitaler Technologien? Wie wirken sich diese Praktiken auf Beziehungen, Kommunikation und Handeln aus?

20.3 Software/Algorithmen und Raum „Software matters because it alters the conditions through which society, space, and time, and thus spatiality, are produced.“ (Kitchin & Dodge, 2011, S. 13)

Indem die Spielwelt von Pokémon Go Orte und Räume als Layer durchdringt, werden diese mit neuer Bedeutung geladen und auf neue Weise angeeignet. So kann bspw. die im Alltag wenig beachtete Kanalmauer an der Leutra, die einen kurzen Weg am Rande von Jenas Stadtzentrum säumt, zum beliebten Aufenthaltsort werden. Denn dort überschneiden sich die Einzugsgebiete dreier Poké-Stops, sodass Spieler*innen zeiteffizient ihre Ressourcen auffüllen können (Abb. 20.3). Auch die mehrwöchige Baustelle am Teichgraben in Jenas Zentrum, die aufgrund von Gleisarbeiten eingerichtet wurde, erscheint in neuem Licht, als sich herumspricht, dass dort vor Kurzem ein seltenes Pokémon gesichtet wurde. Plötzlich werden unbequeme Metallzäune zu Sitzgelegenheiten und der Kantstein am Gleisbett lädt zum Picknick mit Freunden ein, während man auf einen guten Fang hofft (Abb. 20.4). Auf bislang kaum beachtete oder wenig genutzte materielle Strukturen wird – vermittelt durch das Spiel – nun zugegriffen und umgekehrt greifen materielle Strukturen – vermittelt durch das Spiel – auf uns zu, indem wir uns dem kantigen Geländer anpassen oder Wearables anlegen. Aus den Beispielen lassen sich Fragen nach der Rolle des Spiels oder allgemeiner: der Rolle von Software, Code bzw. Algorithmen, für die Produktion von Raum aufwerfen.1 In der geographischen Diskussion werden Fragen nach den Zusammenhängen von Software und Raum bereits seit längerer Zeit diskutiert. Dabei wird festgehalten, dass Software  Wir beziehen uns in diesem Beitrag auf Ansätze, welche die Bedeutung von Software, von Code bzw. von Algorithmen für Räumlichkeit reflektieren. Dabei finden die Begriffe hier synonym Verwendung, was zielführend ist, um unterschiedliche Überlegungen verschiedenen Autor*innen (aus mehreren Kontexten) zusammenzudenken. Zugleich bedienen sich die Ansätze zwar eines je eigenen Vokabulars, weisen aber auch einen gemeinsamen argumentativen Kern auf. Eine differenzierte Betrachtung begrifflicher Nuancen muss an anderer Stelle erfolgen. 1

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Abb. 20.3  Verschnaufpause auf der Kanalmauer (Foto: F. Pettig, 13.06.2016)

allgegenwärtig ist und uns auf Makro-, Meso- und Mikroebene in unterschiedlichen Kontexten umgibt: Software organisiert städtische Funktionen, regelt Abläufe, überwacht Individuen und Infrastrukturen, ist tief in alltägliche Praktiken eingeschrieben und rückt – wie jede Technologie – aufgrund stetiger Weiterentwicklung sowie Optimierung und auch aus Gewöhnungseffekten zunehmend aus dem Modus direkter Beobachtung (Latour, 1999, S.  304). Berücksichtigt man, dass diese Überlegungen vor einiger Zeit u.  a. mit Blick auf die Unsichtbarkeit von Software zur Regelung des Straßenverkehrs über Ampelschaltungen formuliert wurde, müssen heutige Formen selbstlernender Algorithmen (Machine Learning) als beschleunigte Form dieser Beobachtung gelten. In diesem Kontext verstehen Nigel Thrift und Shaun French Software daher als unhinterfragten, selbstverständlichen Hintergrund (Background), der zwar kaum noch wahrgenommen wird, Raum aber fortwährend und automatisiert (re-)produziert (Thrift & French, 2002). Diesen Überlegungen liegt ein prozessuales Raumverständnis zugrunde: „Space from this perspective is an event or a doing – a set of unfolding practices that lack a secure ontology – rather than a container or a plane of a predetermined social production that is ontologically fixed“ (Kitchin & Dodge, 2011, S. 16). Algorithmen modulieren also die Art und Weise, wie sich Raum fortwährend figuriert und aktualisiert; die Autoren fassen diese Prozesse unter den Begriff der Transduktion (ebd.). Durch digitale Technologien transduzierte Räume unterscheiden Kitchin und Dodge in Code/Space und Coded Space (ebd.). Als Code/Space fassen sie solche Räume, die ohne Code nicht existieren würden, ihre Funktion also erst durch Code erfüllen können (ebd., S. 17); sie selbst weisen den Check-in am Flughafenterminal als Beispiel für Code/Space aus, der nur so lange als Check-in fungiert, wie die elektronischen Flug- und Passagier-

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Abb. 20.4  Die Baustelle als Ort zum Verweilen (Foto: F. Pettig, 13.06.2016)

daten im Hintergrund den Ort als Check-in und Teil des Terminals produzieren. Unter Coded Space verstehen sie hingegen solche Räume, deren Transduktion zwar durch Software moduliert, aber nicht bedingt ist (ebd., S. 18); hierunter können bspw. Coffee-Shops zählen, bei denen zwar bargeldlos via Karte oder Smartphone bezahlt werden kann, die ihre Funktion aber auch dann erfüllen, wenn Kund*innen nur Bargeld zur Hand habe (sofern Bargeld akzeptiert wird). Kanderske und Thielmann (2020, S. 298) resümieren vor diesem Hintergrund und auf Grundlage mehrerer Studien, dass sich „angesichts dieser Allgegenwart der Digitaltechnik der urbane Raum bereits jetzt als Flickenteppich aus automatisch produzierten Code/Spaces bzw. Coded Spaces sehen [lässt], in den sich über die Agency des Codes sowohl eine ideologische Grundierung als auch spezifische Formen der Gouvernementalität (Surveillance, Capture) einschreiben“. Für den Geographieunterricht bietet die Reflexionsfolie des Code/Space und Code Space die Möglichkeit, sich der software- bzw. technologiemodulierten Raumproduktion

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und -transformation kritisch-reflexiv zu widmen: Auf welche Weise bedingt Code Raum? Inwieweit nimmt Code Einfluss auf mein räumliches Erleben und Handeln? Wie moduliert Code überindividuelle soziotechnische Räume, bspw. in sozialen Netzwerken? Wer produziert (welchen) Code zu welchem Zweck?

20.4 Menschliche und nichtmenschliche Akteur*innen „If you took away my computer, my colleagues, my office, my books, my desk, my telephone I wouldn’t be a sociologist writing papers, delivering lectures, and producing ‘knowledge’. I’d be something quite other – and the same is true for all of us.“ (Law, 1992, S. 383 f.)

Bei Pokémon Go vereinen Nutzer*innen mehrere Rollen: Sie sind Spieler*innen, d. h. im Spielsinn Trainer*innen und gleichzeitig auch Passant*innen, die nicht nur in der Spielwelt agieren (fangen, sammeln, trainieren, mit anderen kämpfen u.v.a.m.), sondern sich auch im öffentlichen Raum aufhalten und dort agieren (gehen, stehen, warten, das Handy bedienen u.v.a.m.). Zugleich interagieren sie, vermittelt über die Software, mit anderen als Spieler*innen involvierten Passant*innen und auch mit den Pokémon innerhalb des Spiels. Die Software wiederum regt über Spielmechaniken die Spieler*innen dazu an, bestimmte Orte in der Umgebung aufzusuchen (um auf Sichtungen seltener Pokémon zu reagieren), dort zu verweilen (um in Arenen zu kämpfen oder die Vorräte an PokéStops aufzufüllen) oder auch einfach nur eine gewisse Strecke zurückzulegen (um spezielle Eier für Spielboni auszubrüten, die erst nach mehreren Kilometern zu Fuß zurückgelegter Strecke schlüpfen). Auf spezialisierten Websites werden all diese Angebote bzw. Aufforderungen zum Sich-Fortbewegen bzw. zum Ausführen bestimmter Handlungen an bestimmten Orten in Echtzeit visualisiert (Abb. 20.5). Selbstverständlich sind die Algorithmen hinter Pokémon Go arbeitsteilig in großen, komplexen Teams menschengemacht. In der Interkation der Nutzer*innen allerdings, den vielfältigen Möglichkeiten und Restriktionen des öffentlichen Raums und mit der durch die Nutzer*innendaten getriebenen Entwicklung der Software erlangt diese eine Wirksamkeit, um innerhalb des beschriebenen hybriden Raums Dinge geschehen zu lassen, die über die initiale Programmierung hinausgehen.2 Diese verflochtenen Perspektiven werfen Fragen nach der Handlungsmacht einzelner Akteur*innen auf und auch Fragen danach, wer oder was in diesem Zusammenspiel überhaupt (wann) Akteur*in ist. Fragen dieser Art werden in den Science and Technology Studies bereits seit Längerem unter Bezug zur Actor Network Theory (ANT) gestellt  – spielen soweit in der geographiedidaktischen Diskussion aber kaum eine Rolle. Die ANT,  So wandte sich bspw. Tepco, Tokyo Electronic Power Company Holding, im Juli 2016 mit dem Appell an den Pokemón-Go-Entwickler Niantic, dafür zu sorgen, dass der Spielalgorithmus keine Pokémon mehr auf dem Gebiet des ehemaligen Atomkraftwerks Fukushima sowie den umliegenden radioaktiv verstrahlten Gebieten erscheinen lassen solle, um Spieler*innen zu schützen (Gibbs, 2016, o. S.). 2

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Abb. 20.5  Interaktive Pokémon-Go-Map von Jena (15.08.2022) (https://www.pokemap.net/de/ germany/jena#close)

seit den 1980er-Jahren maßgeblich durch Beiträge von Michel Callon, Bruno Latour und John Law geprägt, regt an, die in anderen Gesellschaftstheorien als Prämisse gesetzten Dichotomien, insbesondere zwischen Subjekt und Objekt, nicht als gegeben an- bzw. hinzunehmen. Hierzu fasst sie unter dem Begriff Akteur sämtliche Entitäten, die zur Handlung fähig sind, und untersucht die komplexen Beziehungsgeflechte, in denen unterschiedliche Akteur*innen agieren. Handlung wird dabei definiert als die Eigenschaft, Auswirkungen zu haben; und alles, was diese Handlungswirksamkeit (Agency) besitzt, als Akteur*in bezeichnet. Die ANT konzeptualisiert neben menschlichen auch nichtmenschliche Akteur*innen, etwa nichtbelebte Dinge, Tiere oder Technologie, d.  h. auch Code, Software, Algorithmen. Das Zusammenspiel unterschiedlicher menschlicher und nichtmenschlicher Akteur*innen bildet Netzwerke heraus, die wiederum auf die Agency der Akteur*innen rückwirken. Deshalb sind auch Netzwerke selbst im Grunde genommen Akteure (Latour, 1987) und in der „Herstellung und Performanz von soziomateriellen Spuren“ kann „alles und jede/r … ein Akteur-Netzwerk sein“ (Bauer, 2015, S. 255). Bezogen auf Digitalität entfaltet sich innerhalb eines Netzwerks aus Praktiken sowie menschlichen und nichtmenschlichen Akteur*innen ein vielfach komplementär verschränkter und überlagerter Raum (Kanderske & Thielmann, 2020, S. 298). Für (geographische) Bildungsprozesse ermöglicht die Berücksichtigung und Reflexion dieser Netzwerkstrukturen die Erweiterung einer allein subjektbezogenen handlungstheoretischen Betrachtungsweise (vgl. etwa das vierte Raumkonzept, Wardenga, 2002). Indem nicht nur menschliches Handeln in seiner raumkonstruierenden Wirkung betrachtet,

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sondern Raumkonstruktion als netzwerkartiges Beziehungsgeflecht unter Berücksichtigung der Agency von u. a. Technologie reflektiert wird, wird es möglich, Raum in einer Kultur der Digitalität im Geographieunterricht auf neue Weise zu erschließen. Es ergeben sich für den Unterricht in dieser Perspektive eine Reihe relevanter Fragestellungen, u. a.: Wie wird (welcher) Aufforderungscharakter (nicht)menschlicher Akteur*innen spürbar? Welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für mich, mein Erleben, meine Handlungen? Entlang welcher Beziehungsgeflechte wird welcher Raum produziert? Wie bin ich in diese Geflechte eingebunden, welche Handlungswirksamkeit habe ich (wirklich)? Welche Möglichkeiten habe ich, die eigene Agency im hybriden Raum zu wahren/zu erhöhen?

20.5 Konturen eines neuen Raumkonzepts? „Digital media are still media, however, and therefore they raise many of the questions raised for decades by geographers studying media and communication. These established concerns intersect with new, digital and networked ways of directing and training attention, propensities toward convergence, and the promises and perils of interactivity.“ (Adams, 2017, S. 371)

Das Kapitel hat einige Facetten des Phänomens Pokémon Go aufgegriffen und sich diesen in drei Bewegungen geographiedidaktisch genähert, dabei unterschiedliche fachwissenschaftliche Ansätze in deren Relevanz für die Thematisierung von Räumlichkeit in digitalen Kulturen entfaltet sowie in Bezug auf die Förderung eines fachlich begründeten kritisch-­reflexiven Umgangs ausgelotet. Es lassen sich aus diesem Vorgehen drei aufeinander bezogene Merkmale von Räumlichkeit unter den Bedingungen der Mediatisierung und Digitalisierung festhalten, welche sich für die strukturierte Reflexion im Geographieunterricht als fruchtbar erweisen könnten: 1. Hybridität als Merkmal des digital durchdrungenen Raumes 2. Code in seiner raummodulierenden und -transduzierenden Wirkung 3. Netzwerk als Beziehungsstruktur menschlicher und nichtmenschlicher Akteur*innen Wie verhalten sich diese Reflexionsmomente nun zur geographiedidaktischen Diskussion um die vier Raumkonzepte im Allgemeinen und die Diskussion um das explizit raumbezogene Lernen mit, durch und über digitale Geomedien im Besonderen? Zweifelsohne sind die vier Raumkonzepte tief in der (sozial-)geographischen Forschung verankert. Auch für den Kontext digitaler Geographien zeigen sich Bezüge, die kompatibel mit den Raumkonzepten sind: Tilo Felgenhauer und Karsten Gäbler (2019, S. 11–14) skizzieren drei gegenwärtige (fachwissenschaftliche) Forschungsperspektiven: 1. Studien zur räumlichen Verteilung digitaler Infrastrukturen: Diese Perspektive fokussiert die Materialität der Digitalisierung, z. B. Tiefseekabel und Serverfarmen sowie

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deren räumliche Verteilungsmuster, sowie auch nachhaltigkeitsbezogene Fragen etwa nach dem Ressourcenverbrauch digitaler Infrastrukturen  – es geht um „Technik im Raum“ (ebd., S. 12). 2. Subjektbezogene Geographien des Digitalen: Diese Perspektive fokussiert subjektive Wahrnehmungen und individuelle Aneignungen des Räumlichen: „Orte und Räume sind das Ergebnis subjektiver Wahrnehmung und Erfahrung“ (ebd., S. 12). 3. Die soziale und kulturelle Konstruktion digitaler Räumlichkeit: Diese Perspektive fokussiert eine überindividuelle Ebene und wie hier geographische Imaginationen medial/digital fortwährend (re-)produziert werden ebenso, wie soziale Netzwerke räumliches Erleben und Face-to-Face-Kontakte (über)prägen (ebd., S. 13). Diese drei Perspektiven lassen sich auch mit der Denkfigur der vier Raumkonzepte der Geographiedidaktik als Container und als System von Lagebeziehungen (1) (erstes und zweites Raumkonzept), als Kategorie der Wahrnehmung (2) (drittes Raumkonzept) sowie als Produkt sozialer Konstruktionsprozesse verstehen und reflektieren (3) (viertes Raumkonzept) (Wardenga, 2002, 2017). In diesem Kapitel aber klingt neben dem Etablierten (physisch-materielle Bedingungen, Lagebeziehungen, subjektzentrierte Wahrnehmungen, soziale Konstruktionsprozesse), das mit den vier Raumkonzepten erfasst ist, ebenso auch weniger Etabliertes (Hybridität, Code, Netzwerk) an. Letzteres übersteigt auch die, in der geographiedidaktischen Diskussion zuweilen das vierte Raumkonzept dominierende, anthropozentrische Auslegung des handelnden Subjekts als Zentrum aller (absichtsvollen) Raumproduktion. Demgegenüber rückt die Bedeutung von Affekt, Emotion und Materialität ebenso wie die Agency des Nichtmenschlichen, etwa in Form von Algorithmen bis hin zur KI, stärker in den Fokus der Betrachtung. Demnach muss die Frage aufgeworfen werden, wie die gegenwärtigen Entwicklungen, die wir  – mit Blick auf internationale (medien-)geographische und techniksoziologische Diskurse – vor allem in den Bereichen Hybridität, Code und Netzwerk sehen, anschlussfähig an die in der deutschsprachigen Geographiedidaktik etablierten vier Raumkonzepte konzeptionell berücksichtigt werden können. Dieses Kapitel kann hierzu erste Ideen aufwerfen, die es in der weiteren geographiedidaktischen Diskussion zu verhandeln gilt. Grundsätzlich wäre es denkbar, (1) ein fünftes Raumkonzept (bspw. den Raum als Prozess tranzduzierter Hybrid-Beziehungen) den bisherigen Konzepten additiv zur Seite zu Stellen, (2) das vierte Raumkonzept um die in diesem Kapitel aufgeworfenen Per­spektiven zu ergänzen oder (3) mit einem neuen Raumkonzept nach Möglichkeiten der Verbindung unterschiedlicher Zugänge im Horizont des Digitalen zu suchen. Uns erscheint die dritte Vorgehensweise als zielführend und angemessen: Hierfür greifen wir eine Denkfigur des Stadtgeographen Paul C. Adams auf. Adams verbindet in seiner „Taxonomy for communication geography“ (2011) vier gleichberechtigte, nebeneinander existierende Zugänge (media in spaces, media in places, spaces in media, places in media), indem er das Neue zwischen den Polaritäten konzeptualisiert und nicht eine weitere Polarität hinzufügt. Analog verstehen wir die Perspektive eines transduzierten Raums (mit den Kernmerkmalen Hybridität, Code und Netzwerk)

20  Hybridität, Code, Netzwerk Abb. 20.6  Übertragung der Denkfigur von Adams (2011) zur Aufhebung von Polaritäten auf eine Ergänzung der vier Raumkonzepte (Wardenga, 2002) um einen Raum transduzierter (Hybrid-) Beziehungen (kurz: transduzierter Raum)

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Raum als Container

Raum als Prozess transduzierter Hybrid-Beziehungen

Raum als Kategorie subjektzentrierter Wahrnehmung

Raum als soziale Konstruktion

als inmitten der etablierten vier Raumkonzepte befindlich. Damit ist markiert, dass in dieser Perspektive Verbindendes zwischen den existierenden Polaritäten Berücksichtigung findet und zugleich auch ein digitalbezogenes Mehr im Verhältnis zu diesen festzustellen ist (Abb. 20.6). Der transduzierte Raum stellt also nicht einfach eine Brücke oder ein Verbindungsstück zwischen den bestehenden Konzepten her: Hybridität verweist bspw. sowohl auf den Containerraum und Materialität sowie auch auf Raumkonstruktion, fügt aber zugleich auch das Element des Ineinanderfallens dieser Ebenen hinzu. Code erfasst Bedeutungszuweisung, verbleibt aber nicht allein auf der Ebene von Raumkonstruktionen, sondern verweist auch auf die Beschaffenheit des Containerraums und gestaltet diese. Netzwerk zeigt auf, dass der ausschließliche Fokus auf die Ordnung der (menschlichen) Blicke nicht ausreichend ist, um technologiebedingte Räumlichkeit zu verstehen, und berücksichtigt auch die Agency von Code in Prozessen der Raumproduktion. Wir möchten ausdrücklich dazu ermuntern, die hier vorgeschlagene Denkfigur in ihrem Modellcharakter an den folgenden Beiträgen dieses Kapitels (und darüber hinaus) zu prüfen und zu überlegen, welche weiteren Facetten veränderter Räumlichkeit in einer Kultur der Digitalität sich erschließen lassen und auf welche Weise sich die hierin liegenden Bildungsgehalte für die geographische Vermittlungspraxis in digitalen Kulturen heben lassen.

Literatur Adams, P. C. (2011). A taxonomy for communication geography. Progress in Human Geography, 35(1), 37–57. https://doi.org/10.1177/0309132510368451 Adams, P. C. (2017). Geographies of media and communication I: Metaphysics of encounter. Progress in Human Geography, 41(3), 365–374. https://doi.org/10.1177/0309132516628254 Ärztezeitung. (2016). Kardiologen loben Pokémon Go. 21.06.2016. https://www.aerztezeitung.de/ Panorama/Kardiologen-­loben-­Pokemon-­Go-­308858.html. Zugegriffen am 01.09.2022.

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Urbane Kulturen der Digitalität als Bildungsanlass

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Ein geographiedidaktisches Seminarkonzept zum Thema „Smart City“ Stephanie Mittrach, Christian Dorsch und Andreas Eberth

Zusammenfassung

Im Rahmen dieses Kapitels wird das Konzept der Smart City als Beispiel einer digital durchdrungenen Lebenswelt präsentiert und im Spiegel von (digitalen) Raumtheorien reflektiert. Der Fokus des Kapitels liegt dabei auf der Herausarbeitung von Bildungsanlässen, die anhand von fünf Bausteinen für eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung in der schulischen oder universitären Bildungspraxis konkretisiert werden. Schlüsselwörter

Multiperspektivität · Raumtheorien · Smart City · Urbane Kulturen

S. Mittrach (*) Green Office, Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Dorsch Institut für Geographie, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Eberth Professur für Geographie mit Schwerpunkt Bildung für Nachhaltige Entwicklung, Universität Passau, Passau, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_21

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S. Mittrach et al.

21.1 Einleitung Smart-City-Konzepte versprechen, urbanen Herausforderungen, u. a. in den Feldern Mobilität, Energieversorgung und Abfallwirtschaft, durch digitale Technologien zu begegnen. Manchen Vorteilen stehen dabei aber auch negative Auswirkungen entgegen. Daher müssen, wie Grünberg und Dorsch (2016) mit Bezug zu Mandl und Schaner (2012) schlussfolgern, die (künftigen) Bewohner*innen dieser Städte einerseits in der Lage sein, die für die Smart City notwendige digitale Technik zu beherrschen oder zumindest nachzuvollziehen. Andererseits sollten sie reflektiert mit Beteiligungsmöglichkeiten umgehen sowie die Auswirkungen der Smart-City-Entwicklung hinsichtlich gesellschaftlicher Prozesse bewerten und kritisch-konstruktiv mitgestalten können. Somit braucht die Smart City „Smart Citizens“, denen es möglich ist, digitalisierte Räume in ihrer Komplexität zu analysieren und zu reflektieren, um in der Stadt leben, mit dieser interagieren und diese aktiv gestalten zu können. Daher gilt es, Schüler*innen, aber auch Studierende als zukünftige Stadtgestalter*innen auf diese Entwicklungen vorzubereiten und dabei eine Auseinandersetzung mit veränderten Raumwahrnehmungen, -produktionen und -nutzungen zu fördern, die mit dem zunehmenden Einsatz digitaler Technologien, Medien und Infrastrukturen einhergehen (Bauriedl & Strüver, 2018). Im Rahmen dieses Kapitels werden Bausteine zweier geographiedidaktischer Seminare an der Leibniz Universität Hannover und der Goethe-Universität Frankfurt vorgestellt, die das Ziel verfolgen, das Smart-City-Konzept einzuführen und die Entwicklungen aus verschiedenen Perspektiven (kritisch) zu beleuchten.

21.2 Die Smart City als Beispiel einer digital durchdrungenen Lebenswelt Die Smart City kann als urbanes Palimpsest digital durchdrungener Lebenswelten verstanden werden. Lebenswelten können verstanden werden als „das (Er-)Leben, Denken und Handeln sowie Interagieren von Personen in bekannten und vertrauten Situationen“ (Göb & Othengrafen, 2017, S. 50 mit Bezug zu Schütz & Luckmann, 1972). Insofern ist es kaum mehr möglich, in urbanen Räumen den Kulturen der Digitalität zu entgehen. Eine eindeutige Definition des Begriffs Smart City zu formulieren ist schwierig. Allgemein gesprochen handelt es sich bei der Smart City „im Kern um eine Stadt, in der systematisch Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) eingesetzt werden, um neuartige Lösungen für ganz unterschiedliche Bereiche der Stadtentwicklung bereitzustellen“ (Libbe, 2018, S. 9). Zu diesen Bereichen zählen u. a. öffentliche Verwaltung (Lobeck & Wiegandt, 2017), die technischen Ver- und Entsorgungsinfrastrukturen der öffentlichen Daseinsvorsorge (Libbe, 2018) und der Mobilitätsbereich (Rauh & Link, 2017). Insofern wird konstatiert, dass in der Smart City das Instrumentarium der nachhaltigen und inte­ grierten Stadtentwicklung um technische Komponenten erweitert wird (BBSR & BMUB, 2017). In der Literatur sind viele weitere Beispiele zu finden, die die Vorteile der Smart City herausarbeiten (u. a. Etezadzadeh, 2020). Auf den ersten Blick positive Charakteristika können in kritischer Lesart aber auch verstanden werden als „Verschiebung von

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Machtverhältnissen zugunsten kapitalistischer Verwertung“ (Bauriedl & Strüver, 2018, S. 18). So kommt es bei der Umsetzung entsprechender Projekte mitunter zu Kooperationen zwischen Kommunen und IKT-Dienstleistern aus der Privatwirtschaft. Sie bergen für die Kommunen die Gefahr, sich in die „ausschließliche Abhängigkeit einer spezifischen technischen Lösung zu begeben …, die in ihren möglichen ökonomischen oder auch sozialen oder ökologischen Folgewirkungen nicht wirklich abgeschätzt“ ist (Libbe, 2018, S. 10). Ein besonderes Augenmerk muss daher auf Anforderungen an den Datenschutz und Aspekte der Datensicherheit gerichtet werden. Zudem ist es notwendig, die digitale Transformation inklusiv zu gestalten, sodass nicht bestimmte Bevölkerungsgruppen ausgeschlossen werden (Lobeck & Wiegandt, 2017), denn es werden neue Extreme sozialer und geographischer Ungleichheit befürchtet (Bauriedl, 2017; Becker, 2020). „Weder Technologien noch Algorithmen sind sozial neutral. Sie sind Ausdruck gesellschaftlicher Normierungen und haben Einfluss auf die Lebensweise von einzelnen Menschen wie von Gemeinschaften“ (Bauriedl & Strüver, 2018, S.  22). So fällt die Bewertung insgesamt ambivalent aus: Neben Fragen der Datenspeicherung, des Datenmissbrauchs, von Überwachung und der möglichen Einschränkung von Privatsphäre (Giffinger & Haindlmaier, 2015) sind ökologische Folgekosten im Zusammenhang mit steigendem Datenumsatz zu nennen (Libbe, 2018; Bauriedl & Strüver, 2018). Für den Geographieunterricht liegt in der Ambivalenz dieser aktuellen Entwicklung ein enormes Potenzial, dem mit didaktischen Prinzipien wie Komplexität, Kontroversität und ethischem Urteilen begegnet werden kann. Auch inhaltlich kann eine Öffnung über lokale Raumbeispiele hinausgehend erfolgen und es können z. B. die Abbaubedingungen von für die Chip- und Batterieproduktion wichtigen Rohstoffen thematisiert werden. So weisen auch Bauriedl und Strüver (2018) darauf hin, dass die Smart-City-Debatte nicht ausschließlich Fragen nach dem technologisch Machbaren stellen darf, sondern individuelle, gesellschaftliche und politische Aushandlungsprozesse in den Blick nehmen muss. Es wird daher gefordert, ein erweitertes Smart-City-Verständnis zu entwickeln. Dabei fließt „auch die Bewertung und Perzeption der relevanten Akteure mit ein, die durch ihre ständige Einbindung in den Planungsprozess auch deren Umsetzung besser mittragen können“ (Giffinger & Haindlmaier, 2015, S. 149). Ansätze, die Digitalität in ihrer Räumlichkeit reflektieren, sind geeignet, gerade dieses erweiterte Verständnis zu konzeptualisieren.

21.3 Smart Cities im Spiegel von (digitalen) Raumtheorien Wie dargestellt, stellen Smart Cities einen Kumulationspunkt der Digitalität dar und sind in Folge dessen auch unter raumtheoretischen Gesichtspunkten besonders interessant. Folgende Ansätze sind geeignet, das Phänomen der Smart City einzuordnen. Graham und Zook (2013) beschreiben die digitalen Informationen, die in Zusammenhang mit einem Raum generiert werden, als „augmented realities“. Hiermit bezeichnen sie einen „material/virtual nexus“, der über Technologie, Information und Code vermittelt und in Abhängigkeit der*des jeweiligen Nutzers*in sowie des Ortes und Zeitpunkts des Zugriffs inszeniert wird. Die digitalen Repräsentationen, generiert durch die Kommunikation

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über soziale Medien oder den Gebrauch von GPS-Sensoren und vorsortiert durch Algorithmen, legen sich als „digital shadows“ über den materiellen Stadtraum und konstituieren die Stadt genauso mit wie Ziegel und Mörtel (Graham, 2013, S. 117). Auch Daten, die beispielsweise von der Stadtverwaltung für Smart-City-Funktionen (z. B. Mobiltätssteuerung oder Abfallmanagement) erhoben werden, lassen sich als zusätzlicher „Layer“ begreifen. Die digitalen Schatten haben letztlich Auswirkungen darauf, welche Handlungen Menschen im Raum bzw. in einer Stadt durchführen: Wenn Tourist*innen z.  B.  Besuchsentscheidungen mit Hilfe ihres Smartphones treffen, greift das Gerät auf die in den Layern gespeicherten Informationen zurück, macht diese sichtbar bzw. nutzt sie für Vorschläge. Anders als im Konzept der „augmented realities“, in dem die einzelnen Layer zunächst losgelöst vom materiellen Stadtraum sind und nur kurzzeitig durch Technologie überwunden werden, sind das Digitale und Materielle im Konzept des „code/space“ von Kitchin und Dodge (2011) vollständig miteinander verwoben: „Code/Space occurs when software and the spatiality of everyday life become mutually constituted, that is, produced through one another“ (Kitchin & Dodge, 2011, S. 16). Der „code/space“ benötigt folglich für seine Funktion Software und kann ohne diese nicht produziert werden. Digitale Infrastrukturen sind ein neuralgischer Punkt urbaner Räume und besonders von Smart Cities. Sind sie nicht verfügbar, fallen grundlegende Funktionen weg, die letztlich auch die vernetzte Stadt konstituieren.

21.4 Smart Citizens?! Beispiele für geographiedidaktische Seminare zum Thema Smart City 21.4.1 Hintergründe Geographiedidaktische Lehrveranstaltungen sollten auf das zunehmende Kontinuum zwischen Digitalität und Realität reagieren, wie es in den Raumtheorien in Abschn. 21.3 beschrieben wird. Auf diese Weise kann das Wissen über digital durchdrungene Lebenswelten vermittelt werden und es können Reflexionsräume für die durch Digitalisierung beschleunigten Transformationsprozesse von Städten geschaffen werden. Im Sommersemester 2017 wurden an der Goethe-Universität Frankfurt und im Sommersemester 2020 an der Leibniz Universität Hannover daher jeweils ein Seminar zum Themenschwerpunkt Smart City für Lehramtsstudierende mit dem Fach Geographie angeboten. Ziel dieser Seminare war es, die Studierenden an das Thema heranzuführen, kritische Reflexionsprozesse anzustoßen, aber auch Vermittlungsansätze für die schulische Praxis zu entwickeln, um die angehenden Lehrkräfte auf ihren künftigen Beruf vorzubereiten und die Dissemination des Themas in die Schule zu ermöglichen. In beiden Seminaren lag ein Schwerpunkt auf dem Nah- und Erfahrungsraum der Studierenden (Frankfurt und Hannover), um Erfahrungen vor Ort einzubinden und eine multiperspektivische Betrachtung zu ermöglichen. Zudem wurden (Selbstreflexions-)Fragen in einem Blog bzw. im E-Portfolio bearbeitet, die sich am Konzept der mündigkeitsorientierten Bildung orientieren (Kap. 11). Auf diese Weise konnten die Studierenden dazu angeregt werden, sich tiefergehend mit den Seminar­inhalten und den eigenen sowie fremden Raumwahrnehmungen auseinanderzusetzen. Nachfolgend werden

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fünf Bausteine präsentiert, die in mindestens einem der beiden Seminare in der Seminarpraxis mit Studierenden erprobt wurden und als Anregung für weitere Seminare an der Universität oder der schulischen Unterrichtspraxis zu verstehen sind.

21.4.2 Bausteine Baustein 1 Zu Beginn des Seminars können die Studierenden mit der Methode „reflexive Fotografie“ (vgl. Eberth, 2018a, b) ihre Stadt erkunden. Sie sollen im Sinne eines offenen Impulses Fotos aufnehmen, die Herausforderungen ihres Stadtteils zeigen. Ein Großteil der Aufnahmen der Studierenden aus Hannover fokussierte dabei etwa die Verkehrssituation (z. B. zugeparkte Fußwege aufgrund von Parkplatzmangel), welche die Studierenden insgesamt als problematisch in der Reflexion beschrieben. Anschließend erfolgt der Arbeitsauftrag, den Stadtteil der Zukunft zu zeichnen oder als Fantasiereise zu imaginieren. Auf diese Weise kann überprüft werden, inwieweit Digitalisierung als notwendig für das Erreichen der Zukunftsvisionen und das Überwinden der wahrgenommenen Herausforderungen erachtet wird. Auffällig bei den Ergebnissen war, dass nur zwei Studierende Ideen bzw. Ansätze einer Smart City in ihren „Stadtteil der Zukunft“ mit aufgenommen haben (z. B. unterirdisches Paketliefernetzwerk, Sharing-Modelle). Eine Stadt, die dem Konzept des „code/space“ (Kitchin & Dodge, 2011) entspricht, ist für einen Großteil offenbar nicht erstrebenswert, da die Verwobenheit von Digitalem und Materiellem auf Basis der Kommentierungen nicht zentral war. Durch die skizzierten Aufgaben wird zunächst die jeweils eigene Raumwahrnehmung in den Fokus gestellt, bevor diese individuellen Perspektiven durch Bezüge zu Fachdebatten ergänzt wurden. Im Blog skizzierten die Studierenden z. B. folgende Ideen: „Einige der Zukunftsvisionen für 2050 zielen auf eine ‚grünere‘ Stadt. Dieses Ziel ist durch Smart Cities direkt nur schwer zu erreichen. Indirekt kann aber … eine effiziente Vernetzung, vor allem im Bereich der Mobilität, einen Beitrag zu einer ökologischeren und nachhaltigeren Stadt leisten.“ „Vielleicht wären Parks und Grünanlagen auch ein guter Gegenpool in der Smart City. Ein Fleckchen ‚analoge Welt/Offline‘[,] den man besuchen kann.“

Baustein 2 Damit sich die Studierenden tiefer mit den Herausforderungen digital durchdrungener Städte befassen, bekommen sie Thesen aus der Literatur, die sie auf Basis ihres erworbenen Wissens und ihrer eigenen Meinung kommentieren sollen. Beispiele hierfür sind in Mittrach und Dorsch (2022) zu finden. Zuvor wird jedoch jede*r aufgefordert, die persönliche Einstellung zur Smart City mit einem Gegenstand zu assoziieren und die Wahl des Gegenstands zu begründen (zur Methode „Dingfest machen“ siehe Groß et al., 2011). Nach der intensiven Auseinandersetzung mit den Thesen sollen die Studierenden erneut einen Gegenstand aussuchen und eventuelle Veränderungen darlegen und begründen. Die beiden Ausschnitte aus der dazugehörigen Reflexion eines Studenten zeigen, wie sich seine Position zur Smart City im Seminar verändert hat:

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Vor der Seminarsitzung: „Dann habe ich diese Figur eines glücklich strahlenden Clowns gefunden. Grundsätzlich spiegelt das durchaus meine Position zur Smart City wider. Innovationen, Fortschritt, Nachhaltigkeit und Vereinfachung sind auf jeden Fall immer erst einmal positiv zu bewerten ….“

Nach der Seminarsitzung: „Der zweite Gegenstand ist eine Figur in einer Vase, was die Menschen in einer gläsernen Stadt darstellen soll. … Nachdem ich mich jetzt aber etwas intensiver mit der Problematik beschäftigt habe …, verschärft sich mein skeptischer Blick. … Gerade im Bereich des Datenschutzes sind sich viele Menschen der Gefahr eines völlig transparenten Lebens gar nicht bewusst.“

Angestrebt wird so eine Bewusstmachung und Konkretisierung der eigenen Einstellung zur Smart City. Auf diese Weise soll eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Seminargegenstand erzielt werden. Baustein 3 Dieser Baustein besteht aus einer Spurensuche im Stadtteil. Dabei wird überprüft, ob und inwiefern das Digitale im Raum sichtbar ist. Dabei ist aufgefallen, dass nur wenige digitale Elemente der Smart City im Stadtbild sichtbar sind (z. B. Ridesharing-Angebote, aktuelle Fahrgastinformationen an Bahnhaltestellen, Audiospaziergang im Stadtwald). Ein Großteil der Smart-City-Anwendungen ist dabei als digital shadow für Betrachtende nicht sichtbar. So wird dieser zentrale Bereich der Smart City für die Lerngruppe erfahrungsbasiert erschlossen. Baustein 4 Die Bürger*innenbeteiligung als eines der zentralen Instrumente der Smart City kann konkret erprobt werden, indem eine eigene Initiative auf einer Online-Beteiligungsplattform erstellt wird. Diese Aufgabe ist an den Kriterien des Spatial-Citizenship-Ansatzes orientiert und soll dazu ermächtigen, Räume nach den eigenen Wünschen zu gestalten, ­Vorstellungen mittels digitaler Medien zu kommunizieren und letztlich am Aushandlungsprozess über den Raum zu partizipieren (Gryl & Jekel, 2012). Zunächst reflektierten die Lernenden über ein für sie relevantes Problem in der Stadt und arbeiten selbstbestimmt einen Lösungsvorschlag aus. Im nächsten Schritt veröffentlichen sie ihre Initiative auf einer Beteiligungsplattform, wie z. B. frankfurt-gestalten bzw. Frankfurt fragt mich. Abschließend verfassen sie eine Reflexion über den Erfolg ihrer Initiative. Baustein 5 Durch Expert*inneninterviews, z.  B. mit Mitarbeitenden der Stadtverwaltung oder von Beteiligungsplattformen wie frankfurt-gestalten, kann der aktuelle Diskurs über die digitale Bürger*innenbeteiligung in den Städten nachverfolgt werden. Die Auswirkungen der Diskussion mit dem Gründer der Plattform frankfurt-gestalten auf sein eigenes Bewusstsein reflektiert ein Student in seinem Portfolio folgendermaßen:

21  Urbane Kulturen der Digitalität als Bildungsanlass

273

„Im Gegenzug dazu ist er jedoch auch darauf eingegangen, was ‚Stadt‘ für ihn persönlich bedeutet. Dies hat mich besonders angesprochen. Im Zuge dessen möchte ich mich nun näher damit beschäftigen, was Stadt für mich bedeutet und warum ich mir ein Leben in einer rein geplanten Smart City nicht vorstellen könnte.“

21.5 Die digital durchdrungene Stadt multiperspektivisch erschließen: Fazit und Implikationen für weitere Lehrveranstaltungen Digital durchdrungene Lebenswelten, wie sie sich beispielsweise in Smart-City-­Konzepten manifestieren, sind mit den in ihnen enthaltenen Überwachungs- und Exklusionsprozessen, aber auch ihren Chancen auf mehr Bürger*innenbeteiligung, Nachhaltigkeit und multimodale Mobilität ein elementarer Gegenstand geographischer Bildung. Die hier vorgestellten Bausteine zeigen verschiedene Wege auf, wie Lernende das Konzept der vernetzten Stadt vor dem Hintergrund ihrer eigenen Alltagswelt reflektieren und so einen mündigen Umgang mit den skizzierten Herausforderungen erlernen können. Im Folgenden wird abschließend zusammengefasst, wie ein multiperspektivischer Ansatz der didaktischen Erschließung aussehen kann (Tab. 21.1).

Tab. 21.1  Bausteine und Theoriebezüge eines multiperspektivischen didaktischen Zugangs zum Thema Smart City Methodischer Zugang Erkundungen, z. B. - reflexive Fotografie (Eberth, 2018a, b), - Spurensuche

Selbstwahrnehmung, z. B. - „Dingfest machen“ (Groß et al., 2011), - „Initiative gründen“ Essay schreiben über die Chancen und Risiken der Smart City Perspektivenwechsel, z. B. - Expert*inneninterviews

Theoriebezug Augmented realities (Graham & Zook, 2013), code/space (Kitchin & Dodge, 2011)

Erkenntnisinteresse Baustein Fokus auf die eigene 1; 3 Raumwahrnehmung im Abgleich mit Fachliteratur, Wahrnehmen und Reflektieren der digital shadows einer Stadt bzw. Infrastrukturen des Code/Space Die smarte Stadt Selbstreflexion und 2; 4 mitgestalten (Mandl Bewusstmachen der eigenen & Schaner, 2012; Interessen („In welcher Stadt Grünberg & Dorsch, möchte ich leben?“) und 2016) Bedürfnisse

Urbane Governance (WBGU, 2016, S. 101 ff.) Social-Media-Analysen, z. B. Augmented realities - Hashtag-Analyse (Graham & Zook, (Kanwischer & Schlottmann, 2013), code/space 2017) (Kitchin & Dodge, - Algorithmen austesten (Gryl 2011) et al., 2020)

Erkennen und Reflektieren 5 unterschiedlicher Positionen zum Konzept der Smart City Wahrnehmen der digital shadows 3 einer Stadt in den sozialen Medien und Reflektieren der algorithmischen Konstruktionen

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S. Mittrach et al.

Neben der kritischen Auseinandersetzung mit den Praktiken und Mechanismen der Smart City steht in den methodischen Überlegungen auch die Erkenntnis im Mittelpunkt, dass das Konzept der Smart City schwer auf eine einheitliche Definition zu bringen ist und die Beurteilung des Konzepts je nach Perspektive sehr unterschiedlich ausfallen kann. Der Weg zum „Smart Citizen“ als Gestalter*in urbaner Kulturen der Digitalität ist also nicht festgelegt und bedarf ständiger Reflexion.

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Raumkonstruktionen in sozialen Medien Empirische Befunde zur Digitalisierung räumlicher Lebenswelten von Jugendlichen

22

Christina Reithmeier und Detlef Kanwischer

Zusammenfassung

Soziale Medien sind für Jugendliche alltägliche Begleiter, in denen sie ihre Erfahrungen mit anderen teilen und vice versa. Hierbei wird auch über konkrete Orte und Räume kommuniziert. Vor diesem Hintergrund adressiert das Kapitel folgende Frage: Welche Wahrnehmungsmuster und Rezeptionsprozesse auf Raum entstehen bei Jugendlichen vor dem Hintergrund der veränderten räumlichen Bedeutungszuweisung in den sozialen Medien? Mittels einer Interviewstudie wird sichtbar, dass Räume kuratiert und in einer bestimmten Ästhetik dargestellt werden, womit Orte neue Bedeutungszuschreibungen erhalten, die nur durch das Zusammenspiel von Software und Nutzer*innen generiert werden können. Gleichwohl werden aber auch räumliche Ungleichheiten in sozialen Medien fortgeschrieben und segmentierte Raumbilder erzeugt. Diese Befunde verdeutlichen, dass soziale Medien sich anbieten, um im Geographieunterricht in das Thema Raumkonstruktionen einzuführen und zugleich eine Reflexion des eigenen ortsbezogenen Handelns anzuleiten. Schlüsselwörter

Raumkonstruktionen · Soziale Medien · Lebenswelten · Raumwahrnehmung · Reflexion C. Reithmeier (*) Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Kanwischer Geographie und ihre Didaktik, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_22

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C. Reithmeier und D. Kanwischer

22.1 Ortsbezogene Hashtags und Raumkonstruktionen Durch die sozialen Medien ist jede*r in der Lage, einen schnellen Schnappschuss online zu posten. Nicht nur Fotos von Haustieren, Speisen oder Selfies werden exzessiv gepostet, sondern auch konkrete Orte und bestimmte Räume werden vermehrt geteilt. In diesem Zusammenhang fällt häufig das Schlagwort „Instagramability“, das Objekte beschreibt, die attraktiv oder interessant sind, um fotografiert und in den sozialen Medien gepostet zu werden. Je nach Perspektive kann dies positive oder negative Auswirkungen für bestimmte Orte haben. Der Ort Kampen auf Sylt hat z. B. Selfie-Points ausgewiesen, mit denen er Tourist*innen anlockt, die wiederum kostenlos Werbung für Kampen in den sozialen Medien machen. Andere Orte sind von dem Ansturm der Menschen, die sich von Posts auf Instagram inspirieren lassen, um diese Orte zu besuchen, überfordert. Aber nicht nur ausgewählte touristische Destinationen spielen in den sozialen Medien eine Rolle. Der #frankfurt wird z. B. in über 11 Mio. und der #newyork in über 110 Mio. Posts auf Insta­ gram verwendet (Stand am 20.03.2021). Generell werden diese Formen der ortsbezogenen Hashtags in Posts durch Hinzufügen von Bildern, anderen Hashtags oder Texten mit unterschiedlichen Bedeutungen von den Nutzer*innen aufgeladen. Hierbei ist auffällig, dass bei einem Vergleich von Posts zu einem gleichen Motiv vor allem die Kontraste herausstechen, mit denen die Nutzer*innen über denselben Raum kommunizieren. Ein Beispiel sind Posts zur Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt. Beim Betrachten der Posts wird ein Spannungsfeld zwischen Luxus, grünen Wiesen, Freizeit, Sport, Graffiti, Bankenmacht und Krawall sichtbar (siehe #ezb auf Instagram). Dies verdeutlicht, dass die Nutzer*innen von sozialen Medien lokale Informationen aus ihren eigenen Sichtweisen he­ raus generieren, synthetisieren, interpretieren und verbreiten. Dadurch werden neue Distributionswege von Raumkonstruktionen geschaffen und neue Attribute der Bedeutung für einen bestimmten Raum erzeugt, die erst durch die Interaktion von Nutzer*innen mit sozialen Medien entstehen können (vgl. Kanwischer & Schlottmann, 2017). Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass die Verwobenheit von Mensch und Digitalisierung in einer geographischen Perspektive durch das Phänomen von Raumkonstruktionen in sozialen Medien besonders sichtbar wird. Diese medial erzeugten alltäglichen Raumkonstruktionen sind ein Teil der räumlichen Lebenswelt von Jugendlichen, die diese gestalten. Gleichwohl haben diese Raumkonstruktionen aber auch einen Einfluss darauf, wie bestimmte Orte und Räume von Jugendlichen wahrgenommen werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Wahrnehmungsmuster und Rezeptionsprozesse auf Raum bei Jugendlichen vor dem Hintergrund der veränderten räumlichen Bedeutungszuweisung in sozialen Medien entstehen. Zur Beantwortung der Frage werden wir im Folgenden Ergebnisse von empirischen Arbeiten vorstellen, die ihren Fokus auf die Raumproduktion in sozialen Medien legen. Darauf aufbauend werden wir die Ergebnisse einer explorativen Interviewstudie mit Jugendlichen vorstellen und verschiedene Praktiken der Raumkonstruktion diskutieren, die auch als unterschiedliche Analysezugänge genutzt werden können, um „digital durchdrungene Lebenswelten in ihrer Räumlichkeit …

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in unterschiedlichen Zugängen … analysieren und reflektieren zu können“ (HGD, 2020, S. 5). Abschließend werden wir die gewonnenen Erkenntnisse dahingehend diskutieren, welche Desiderate zu dem Themenbereich noch bestehen.

22.2 Raumkonstruktionen in sozialen Medien In den letzten Jahren hat das Schlagwort des „digital turn“ innerhalb der Geographie eine immer größere Bedeutung erlangt, da Raum zunehmend digital und durch Technologien erweitert wird. Dies führt zu veränderten sozialräumlichen Beziehungen, die analysiert werden müssen, um die Neukonfiguration von alltäglichen räumlichen Prozessen zu verstehen (Ash et al., 2018, S. 29). Das alltägliche Leben wird mittlerweile durch ein Zusammenspiel von Online- und Offline-Kontexten bestimmt. Hierbei werden, wie eingangs aufgezeigt, in einer Interaktion zwischen Menschen und nicht menschlichen Akteuren (Software und Computer) neue Räumlichkeiten erzeugt. Aus geographischer Perspektive haben sich Kitchin und Dodge (2011) schon frühzeitig mit diesem Phänomen auseinandergesetzt, um ein Verständnis der Wechselwirkungen zwischen Software, Technologie, Raum und alltäglichen Aktivitäten zu entwickeln. Sie verdeutlichen, dass Algorithmen in Form von Software in das alltägliche Leben eingebettet sind und neue räumliche Konfigurationen hervorbringen, die sie als „Code/Space“ beschreiben (Kitchin & Dodge, 2011). Als alltägliches Beispiel führen sie die Check-in-Hallen von Flughäfen an, deren Funktionalität erst durch die materielle Infrastruktur und die entsprechende Software in Kombination miteinander produziert wird. Ist eine der beiden Hälften solch eines dyadischen Systems ausgeschaltet oder defekt, kann der Code/Space nicht produziert werden (vgl. ebd, S. 18). Solche Formen von Code/Space werden auch durch die sozialen Medien generiert. Smartphones und mobiles Internet ermöglichen es den Nutzer*innen z. B., jederzeit ihren Standort zu teilen, Standorte bei Google zu bewerten, Fotos zu machen und direkt per Messenger zu versenden oder in den sozialen Medien hochzuladen. Neben der räumlichen Verortung spielt hierbei auch die Visualität in Form von Fotos eine große Rolle, wie wir in der Einleitung aufgezeigt haben. Fotos sind das Hauptmedium für die Schaffung und Präsentation einer Online-Identität (Kap. 23). Hierbei werden visuelle Artefakte verwendet, um Nachrichten oder Kommentare zu präsentieren. Gleichzeitig sind sie eingebettet in Debatten über Politik, Recht, Wirtschaft, Technologien und soziokulturelle Dimensionen (Highfield & Leaver, 2016, S. 49). Bilder präsentieren dabei nicht nur räumliche Objekte, sondern beziehen sich auch ganz konkret auf Deutungen räumlicher Wirklichkeiten. Visuellen Darstellungen wird somit nicht nur eine „innere Wirklichkeit“ auf Seiten des Subjektes zuerkannt, sondern vielmehr auch eine konstitutive Rolle im Verhältnis von Gesellschaft und Raum (Schlottmann & Miggelbrink, 2015, S. 20). Dies betrifft insbesondere die sozialen Medien. In der geographischen Forschung finden sich bisher nur vereinzelte Studien, die sich empirisch mit der Produktion von verschiedenen Räumen – physische wie immaterielle –

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in sozialen Medien und verschiedenen Plattformen wie Facebook, Foursquare, Instagram oder Twitter auseinandersetzen (vgl. Boy & Uitermark, 2017; Butler et al., 2018; Fekete, 2015; Kelley, 2013; Lundgren & Johansson, 2017; Shelton et al., 2015). Aus den Studien lassen sich Kategorien ableiten, die für weitere Forschungen wie auch für eine Thematisierung im Bildungskontext eine erkenntnisleitende Funktion einnehmen können, um „digital durchdrungene Lebenswelten in ihrer Räumlichkeit multitheoretisch, d.  h. in unterschiedlichen Zugängen, analysieren und reflektieren zu können“ (HGD, 2020, S. 5): • Raum in sozialen Medien wird kuratiert, d. h. Nutzer*innen konservieren ausgewählte Momente und reproduzieren verstärkt diese in ihren Augen erhaltenswerten Momente (vgl. Boy & Uitermark, 2017; Lundgren & Johansson, 2017). Hierbei stehen Praktiken der Auswahl von Orten und Räumen im Fokus. • Räume erfahren eine ästhetische Transformation. Ortsbeschreibungen und -fotos werden bearbeitet, z. B. durch Filter, und aus bestimmten fotographischen Blickwinkeln dargestellt (vgl. Boy & Uitermark, 2017; Kelley, 2013). Hier wird der Frage nachgegangen, warum Nutzer*innen diese Praktiken einsetzen und welche Auswirkungen der Einsatz auf die eigene räumliche Wahrnehmung hat. • Räumen werden neue Bedeutungen zugeschrieben, die durch das Zusammenspiel von Software und Nutzer*innen generiert werden. Soziale Medien ermöglichen nicht nur die Verbreitung unterschiedlicher Darstellungen von Orten, sondern erleichtern auch die Produktion und Verbreitung neuer Bedeutungszuweisungen (vgl. Butler et  al., 2018; Kelley, 2013; Lundgren & Johansson, 2017). Dies wirft die Frage nach geänderten Bedeutungszuschreibungen von Raum und ihre Auswirkungen auf. • Die Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit von Orten führt zu einem segmentierten Raumbild (vgl. Boy & Uitermark, 2017; Butler et al., 2018; Fekete, 2015; Shelton et al., 2015). Hier steht die Frage nach den Akteur*innen und deren räumlicher Wahrnehmung im Fokus, die Räumlichkeiten in sozialen Medien produzieren und konsumieren. Diese analytische Zusammenfassung mit der Herausarbeitung unterschiedlicher Kategorien dient im folgenden als erkenntnisleitende Rahmung für die Vorstellung einer empirischen Erhebung, die wir mit Jugendlichen durchgeführt haben.

22.3 Räumliche Rezeptions- und Wahrnehmungsprozesse von Jugendlichen in den sozialen Medien 22.3.1 Methodische Vorgehensweise Um die räumlichen Praktiken, Wahrnehmungsmuster und Rezeptionsprozesse von Jugendlichen analysieren zu können, wurde das Datenmaterial mittels zehn leitfadengestützer Interviews mit Proband*innen (5m, 5w) im Alter von 14 bis 18 Jahren im Zeitraum von

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Abb. 22.1  Ablauf der Analyse

Januar bis Juli 2020 erhoben. Die Proband*innen wurden aufgrund ihrer ausgeprägten Nutzung von sozialen Medien ausgewählt (extreme case sampling), lebten in Frankfurt a. M., nutzten täglich soziale Medien und verschiedene Plattformen. Die Daten wurden inhaltsanalytisch – orientiert an der Grounded-Theory-Methode – ausgewertet, da diese einen offenen und explorativen Charakter impliziert (Breuer, 2010). Ziel der Analyse war es, neue räumliche Praktiken und Wahrnehmungen unter digitalen Bedingungen zu identifizieren. In den Interviews wurde sich auf die bildbasierte Plattform Instagram konzen­ triert, da dieses das am meisten genutzte soziale Netzwerk unter Jugendlichen ist (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2020, S.  30) und alle Interviewpartner*innen Instagram nutzten. Abb. 22.1 veranschaulicht den Ablauf der qualitativen Inhaltsanalyse ausgehend von der inhaltlichen Strukturierung des Analysematerials über die induktive Ergänzung des Kategoriengerüsts.

22.3.2 Präsentation und Diskussion der Ergebnisse Bis auf eine Ausnahme nutzen alle Proband*innen Instagram täglich. Ihr Tag beginnt in der Regel mit einem passiven Konsum, indem sie verschiedene soziale Medien durchstöbern und neue Nachrichten auf WhatsApp oder Instagram Feeds ansehen. Obwohl sie mehrere sich überschneidende Gewohnheiten und Praktiken aufweisen, gibt es auch Unterschiede in ihrem Nutzungs- und Upload-Verhalten, die auch zu einer differenzierten

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Produktion und Wahrnehmung von Orten1 auf Instagram führen. Die Namen der Proband*innen wurden pseudonymisiert. Die nachfolgende Präsentation und Diskussion der Ergebnisse orientiert sich an thematisch unterschiedlichen Kategorisierungen. Auswahl von Orten Die Proband*innen denken über die Eignung eines Ortes nach, bevor sie ein Foto machen, obwohl sie auch schnelle Schnappschüsse von Situationen und Orten machen. Sie betrachten ihr Zuhause als einen Ort, der zu gewöhnlich für Instagram ist, daher posten sie kaum ihre häuslichen Aktivitäten. Ihre Entscheidungen, welches Foto sie machen und wo sie es machen, sind unterschiedlich. Isabella ist z. B. sehr bedacht darauf, wie „instagramtauglich“ Orte und Situationen sind, und sie würde nie ein Bild mit einem Hintergrund machen, den sie nicht als schön empfindet, wie z. B. ein unordentliches Zimmer: „… dass ich in vielerlei Hinsicht irgendwie darauf achte, wie … instagramable Sachen sind … Also dann seh ich das: Oh, oh, das muss ich jetzt irgendwie posten … oder oh, so, wie können wir uns hier positionieren. Und, wie gesagt, die Bilder sind oft der Grund/also Instagram ist oft der Grund, wieso ich die Bilder mache …“ (Interview mit Isabella)

Sie achtet bei der Wahl des Ortes gezielt darauf, wie sie sich im Raum positionieren kann und ihrer Meinung nach dient das Aufnehmen eines Fotos nur dem Zweck, es auf Insta­ gram hochzuladen und mit ihren Followern zu teilen: „Ansonsten macht das Bild nichts für mich.“ Die Ergebnisse verweisen darauf, dass die „Instagramability“ von Objekten und Orten eine besondere Bedeutung für die Proband*innen hat. Die Wahrnehmung des Ortes als „instagramable“ führt zu der Präsentation von Orten, die diesem Kriterium entsprechen. Infolgedessen werden manche Orte sichtbar und andere unsichtbar, womit segmentierte Räume in den sozialen Medien geschaffen werden. Kuratieren von Orten Die Ästhetik der hochgeladenen Bilder spielt eine große Rolle, denn Melanie, Isabella, Sarah und Jan bearbeiten alle ihre Fotos  – auch die von bestimmten Orten  – mit verschiedenen Filtern oder durch Erhöhung des Kontrasts oder Anpassung der Sättigung. Nur Finn verwendet keine Filter, weil er denkt, dass damit eine Scheinwelt geschaffen wird, die nur in den sozialen Medien existiert und die Realität überdeckt. Melanie strebt danach, dass ihr Instagram-Feed harmonisch und einheitlich wirkt. Diese Wahrnehmung äußert auch Sarah: „… ich habe tatsächlich darüber nachgedacht, ob ich alle löschen soll und nochmal neu in einer sortierten Form das nächste Mal hochladen soll …“ (Interview mit Sarah). René hingegen löscht seine Fotos regelmäßig, da ihm seine hochgeladenen Bilder nach einigen Monaten nicht mehr gefallen. Isabella ist sich bewusst, dass ihre Bilder in Räume konstituieren sich durch Orte, die mit einer bestimmten Bedeutung aufgeladen sind (vgl. „place“-Konzept). Aus diesem Grund erscheint die Bezeichnung „Ort“ an dieser Stelle sinnvoll. Die Frage nach spezifischen mit Bedeutung aufgeladenen Orten und den damit im Zusammenhang stehenden räumlichen Praktiken der Jugendlichen lässt Rückschlüsse auf die Produktion von Raum zu. 1

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szeniert sind und nur einen kleinen Ausschnitt der Realität zeigen. Sie empfindet ihren Instagram-­Feed als Visitenkarte bzw. Portfolio, bei dem der erste Eindruck makellos sein muss und ein gutes Licht auf sie wirft. Daher bemüht sie sich intensiv um die Kuratierung ihres Profils und ihrer Fotos. Das Zitat aus dem Interview lässt den Rückschluss zu, dass Aktivitäten in den sozialen Medien nicht nur zur Segmentierung und veränderten Bedeutung von Raum führen, sondern auch eine Kuratierung von Raum ermöglicht, die von Jugendlichen wahrgenommen wird. Dadurch transformieren die Proband*innen Orte und Räume, die sie in den sozialen Medien teilen. Sie legen hierbei einen großen Wert auf ein ansprechendes künstlerisch-ästhetisches Erscheinungsbild ihres Instagram-Feeds, infolgedessen die präsentierten Orte schöner und positiver aussehen sollen, als sie sind. Hiermit wird aktiv die ästhetische Transformation von Orten betrieben (vgl. Boy & Uitermark, 2017). Dies kann im Umkehrschluss zu der Annahme führen, dass Orte, die nicht in sozialen Medien präsentiert werden, als hässlich, negativ oder nicht besuchenswert wahrgenommen werden könnten, wie Butler et al., (2018) feststellten. Geotagging von Orten Wenn sie Bilder von ihrem Zuhause hochladen, versehen die Jugendlichen sie nicht mit Geotags. Sarah sagt: „Wenn ich in Frankfurt bin, vermerke ich es nicht im Bild. Ich habe ein Bild, auf dem ich zu Hause bin, aber ich habe es nicht getaggt.“ Ähnlich äußert sich Isabella: „Ich möchte Orte taggen, die cool erscheinen, aber nicht mein Zuhause.“ Auch Sarah neigt dazu, Orte zu taggen, die sie exotisch findet und die sie mit ihren Followern teilen möchte. Generell sind die identifizierten Praktiken der Inszenierung von Orten bei allen Proband*innen ähnlich. Das Zuhause ist ein Ort, der als Symbol für einen zwanglosen Alltag verstanden werden kann und daher nicht spannend genug ist, um ihn mit Freund*innen und Followern zu teilen. Während sie ihr Zuhause nicht taggen, entscheiden sie sich aktiv dafür, andere Orte zu taggen, die sie als spannend, exotisch und „cool“ wahrnehmen. Dadurch schreiben sie diesen Orten, die sie für das Geotagging auswählen, eine besondere Bedeutung zu und messen ihnen in den sozialen Medien eine größere Wichtigkeit bei als den Orten ihres Alltagslebens. Die Wahrung der Privatsphäre spielt jedoch ebenfalls eine Rolle, so möchten sie ihr Zuhause nicht auf Instagram präsentierten. Diese Praxis führt zu einer veränderten Bedeutungszuschreibung von Orten sowie zu einer Segmentierung, da Orte des Alltagslebens als nicht wichtig wahrgenommen und eher unsichtbar gehalten werden, wie auch Boy und Uitermark (2017), Butler et  al. (2018), Fekete (2015), Kelley (2013), Lundgren und Johansson (2017) sowie Shelton et al. (2015) festgestellt haben. Die Praxis des Geotaggings von außergewöhnlichen Orten wird somit zu einer Praktik der Konstruktion von Orten als Statussymbole. Vor diesem Hintergrund ist es auch nachvollziehbar, dass bestimmte Orte von Jugendlichen aufgrund ihres „Insta-Fame“ überrannt werden (Spiegel, 2018), um durch ein Selfie an diesen Orten ihren eigenen Status zu fördern.

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Erkunden von Orten Neben der Nutzung von Instagram als Plattform zum Teilen und Hochladen von Fotos verwenden Jugendliche das Medium auch zur Erkundung von Orten. Mittels der Erkundungsfunktion werden Orte besucht, an denen sie noch nie waren, die sie aber gerne einmal besuchen möchten: „… da kann man ja auch nur sozusagen den Ort suchen und dann gebe ich den Ort ein und guck mir Bilder von Leuten an, die da waren und weil man dann irgendwie auch schon Eindrücke bekommt ….“ (Interview mit Melanie)

Melanie und Jan mögen diese Funktion, weil sie so erste Eindrücke von einem Ort bekommen und gleichzeitig Vorschläge und Informationen für Restaurants, Sightseeing-Spots und Sonstiges erhalten. Melanie nutzt die Erkundungsfunktion auch, um inte­ ressante Orte zu finden, z. B., wenn sie in den Urlaub fährt. Dass die Orte dabei durch Praktiken der Auswahl und Kuratierung von anderen Nutzer*innen reproduziert werden, nehmen die Jugendlichen nicht bewusst wahr. Insgesamt nutzen die Proband*innen dieses Werkzeug, um Räume und Orte virtuell zu besuchen und offizielle Webseiten von Restaurants, Cafés, Städten oder Sightseeing-Spots mit deren Darstellung auf Instagram zu vergleichen. Indem sie ihre eigenen Bilder mit Geotags versehen, tragen sie sowohl zur Erkundung anderer Nutzer*innen bei als auch zur ständigen Replikation von Orten. Wahrnehmung von Orten Das Erkunden von Orten auf Instagram verleitet Sarah jedoch nicht dazu, diese Orte zu besuchen. Diesbezüglich vertraut sie eher den Empfehlungen ihrer Freund*innen als Instagram. Sie erkundet auch keine Orte, die ihr bereits bekannt sind: „Einen Ort wie den Hafenpark würde ich nicht aus einer Laune heraus suchen, weil ich den Ort ziemlich gut kenne und ich die Darstellung nicht ernst nehmen würde. Ich kann meine persönliche Wahrnehmung bestimmen.“ Demgegenüber erkundet Isabella Orte auf Instagram, die sie auch aufsucht, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Finn zieht es vor, durch eine Stadt oder Landschaft zu laufen und unterwegs Orte zu entdecken und zu erkunden, weil er sich nicht von sozialen Medien vorschreiben lassen will, „was gut und interessant aussieht und was nicht“. Melanie ist der Meinung, dass „Meme-Seiten“, die Orte auf eine bestimmte Art und Weise präsentieren, oft zu einem negativen Image dieser Orte beitragen und manchmal dazu führen, diese Orte zu meiden. Das „Bahnhofsviertel“, das Viertel in der Nähe des Frankfurter Hauptbahnhofs, das für seine Drogenszene und Bordelle bekannt ist, wurde von den Jugendlichen oft als Ort angesprochen, der vor allem nachts gemieden wird. Dennoch ist den Jugendlichen bewusst, dass die Darstellungen auf Instagram von der Realität abweichen: „Jeder stellt sich so gut dar, wie er kann“, reflektiert Sarah, und Jana findet, dass „viele eben diese gestellten Bilder machen“. Obwohl Melanie weiß, dass Orte auf Instagram oftmals „aufgehübscht werden“, empfindet sie deren Darstellung als „ehrlich“, während Bernard die Motive als sich wiederholend und gestellt wahrnimmt. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass die Proband*innen Orte auf Instagram unterschiedlich

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­ ahrnehmen und reflektieren. Gleichwohl reproduziert Instagram bestimmte Wahrheiten w über Orte, die durch die Wahrnehmung und Erfahrung anderer Nutzer*innen vermittelt werden. Die Jugendlichen sind sich zwar der Inszenierung auf Instagram bewusst, die Folgen für ihr eigenes räumliches Handeln erscheinen jedoch eher unreflektiert. Daher bietet sich ein mündigkeitsorientierter reflexiver Ansatz an, um eine Auseinandersetzung der Jugendlichen mit ihrem eigenen räumlichen Handeln und ihrer Wahrnehmung zu fördern.

22.4 Fazit und Ausblick Die Aufarbeitung des Forschungsstandes und die Analyse unserer Daten geben einen ersten empirischen Eindruck davon, wie Jugendliche sich mit Orten und Räumen in den sozialen Medien auseinandersetzen. Ein wichtiges Ergebnis ist, dass bei den Jugendlichen neue räumliche Wahrnehmungsmuster und Rezeptionsprozesse im alltäglichen Umgang mit Raum entstehen, die es vorher nicht gab. Die unterschiedlichen räumlichen Praktiken, die wir identifizieren konnten und die zu einem Verständnis über die alltäglichen Wechselwirkungen zwischen sozialen Medien und Raumkonstruktionen führen, sind das Auswählen von bestimmten Orten, das Kuratieren von Orten und das Geotaggen von Orten. Unsere explorative Analyse zeigt nicht nur eine Veränderung der Bedingungen, unter denen Raum produziert wird, sondern führt zu einer Vielzahl von Fragen bezüglich verschiedener Aspekte der Produktion von Raum, die zu weiteren empirischen Studien einladen. Diesbezügliche Fragestellungen sind z. B.: • Welche räumlichen Praktiken entstehen auf anderen Plattformen und wie und warum unterscheiden sie sich möglicherweise? • Welche Rolle spielt das Design der Plattform und wie ermöglicht es unterschiedliche räumliche Praktiken? • Welche Auswirkungen haben die Raumkonstruktionen in sozialen Medien auf das eigene Handeln der Jugendlichen? • Wie co-produzieren Algorithmen Raum und prägen die Raumwahrnehmung? • Welche theoretischen Konzepte können uns helfen, diese neuen räumlichen Praktiken zu verstehen? • Wie kann die Rolle des Subjekts in georeferenzierten sozialen Medien reflektiert werden? Die letzte Frage zielt darauf ab, wie in geographischen Bildungskontexten das kritische Hinterfragen von Selbstbild und räumlichen Repräsentationen in sozialen Medien ermöglicht wird. Schüler*innen müssen in ihren räumlichen Handlungsoptionen gestärkt und die Reflexion ihrer eigenen Rolle in georeferenzierten sozialen Medien gefördert werden. Hierfür müssen die bestehenden Ansätze (vgl. z. B. Kanwischer & Schlottmann, 2017; Hintermann et al., 2020) weiterentwickelt werden, um dem Prozess der fortschreitenden

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Algorithmisierung der Gesellschaft Rechnung zu tragen, damit Jugendliche weiterhin befähigt werden, kritisch über ihre räumlichen Praktiken und ihre Beziehung zur digitalen Welt nachzudenken. Förderhinweise Das diesem Kapitel zugrunde liegende Vorhaben „Digi_Gap“ wird im Rahmen der gemeinsamen „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01JA2025 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autor*innen. Das diesem Kapitel zugrunde liegende Vorhaben „Virale #Raumkonstruktionen in kulturellen Bildungsprozessen“ wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01JKD1707 im Förderschwerpunkt „Forschung zur Digitalisierung in der kulturellen Bildung“ gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autor*innen.

Literatur Ash, J., Kitchin, R., & Leszczynski, A. (2018). Digital turn, digital geographies? Progress in Human Geography, 42(1), 25–43. Boy, J. D., & Uitermark, J. (2017). Reassembling the city through Instagram. Transactions of the Institute of British Geographers, 42(4), 612–624. Breuer, F. (2010). Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung für die Forschungspraxis. VS. Butler, A., Schafran, A., & Carpenter, G. (2018). What does it mean when people call a place a shithole? Understanding a discourse of denigration in the United Kingdom and the Republic of Ireland. Transactions of the Institute of British Geographers, 43(3), 496–510. Fekete, E. (2015). Race and (online) sites of consumption. Geographical Review, 105(4), 472–491. HGD (Hochschulverband für Geographiedidaktik). (2020). Der Beitrag des Fachs Geographie zur Bildung in einer durch Digitalisierung und Mediatisierung geprägten Welt. Positionspapier des Hochschulverbands für Geographiedidaktik (HGD) e.  V. http://geographiedidaktik.org/de/service/digitalisierung/. Zugegriffen am 25.03.2021. Highfield, T., & Leaver, T. (2016). Instagrammatics and digital methods: Studying visual social media, from selfies and GIFs to memes and emoji. Communication Research and Practice, 2(1), 47–62.

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Hintermann, C., Bergmeister, F., & Kessel, V. (2020). Critical geographic media literacy in geography education: Findings from the MiDENTITY project in Austria. Journal of Geography, 119(4), 115–126. Kanwischer, D., & Schlottmann, A. (2017). Virale Raumkonstruktionen  – Soziale Medien und Mündigkeit im Kontext gesellschaftswissenschaftlicher Medienbildung. Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, 8(2), 60–78. Kelley, M.  J. (2013). The emergent urban imaginaries of geosocial media. GeoJournal, 78(1), 181–203. Kitchin, R., & Dodge, M. (2011). Code/Space. Software and everyday life. MIT Press. Lundgren, A. S., & Johansson, A. (2017). Digital rurality: Producing the countryside in online struggles for rural survival. Journal of Rural Studies, 51, 73–82. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest. (2020). JIM 2019 Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland. Selbstverlag. Schlottmann, A., & Miggelbrink, J. (2015). Das Visuelle in der Geographie und ihrer Vermittlung. In A. Schlottmann & J. Miggelbrink (Hrsg.), Visuelle Geographie. Zur Produktion, Aneignung und Vermittlung von RaumBildern (S. 13–30). transcript. Shelton, T., Poorthuis, A., & Zook, A. (2015). Social media and the city: Rethinking urban socio-­ spatial inequality using user-generated geographic information. Landscape and Urban Planning, 142, 198–211. Spiegel. (2018). Reisefotos in sozialen Medien – ‚Instagram ruiniert diese Orte‘. https://www.spiegel.de/reise/fernweh/reisefotos-­i n-­s ozialen-­m edien-­i nstagram-­r uiniert-­d iese-­o rte-­ komplett-­a1233701.html. Zugegriffen am 25.03.2021.

Perspektive 8

Geographische Bildung in digitalen Kulturen befähigt zur kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle, der Rolle anderer und der Bedeutung von Algorithmen und künstlicher Intelligenz für die Konstruktion von Identität, gesellschaftlicher Wirklichkeiten und Erkenntnis mittels Geomedien. Kap. 23: Basiskommentar Identität wird in sozialen Medien durch digitale Praktiken auf dreifache Weise konstruiert: Durch die Nutzer*innen selbst, durch andere Nutzer*innen sowie durch Algorithmen. Der Kapitel geht den Fragen nach, welche Konsequenzen dies für das Individuum hat – z. B. in Bezug auf gezielte Beeinflussung der eigenen Identität durch andere – und wie geographische Bildung zu einem reflektierten Umgang beitragen kann. Kap. 24: Good-Practice-Beispiel Die Allgegenwärtigkeit digitaler (Geo-)Medien erfordert eine sachunterrichtliche Ausei­ nandersetzung im Sinne der grundlegenden Einschätzung digitaler Artefakte. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den Auswirkungen algorithmischer Steuerung im Alltag und den Möglichkeiten für eine Beschäftigung im Rahmen des Lernens mit und über Medien am Beispiel digitaler Geomedien. Kap. 25: Forschungsbeitrag „Also, ein Account spiegelt ja meine Identität wider.“ „Man konnte sehen, was Likes und Dislikes eigentlich bewirken können.“ Zwei Schüler*innen-Zitate weisen auf wichtige Aspekte hin, die in diesem Kapitel diskutiert werden: die Bedeutung des Medienhandelns bei der Identitätskonstruktion von Jugendlichen und wie Schüler*innen diese interpretieren.

„Kunden wie du kauften auch …“ Identitätskonstruktionen durch Algorithmen

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Christian Dorsch

Zusammenfassung

Die Mechanismen der Digitalität beeinflussen unser Handeln, unsere Bindungen und Identifikationen – nicht zuletzt auch in Bezug auf als Räume wahrgenommene Lebenswelten. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den daraus folgenden Konsequenzen für das Individuum. Die Theorie der raumbezogenen Identität (Weichhart, 1990) dient dabei als Ausgangspunkt und wird auf die Bedingungen der Digitalität übertragen. Anhand von Beispielen wird aufgezeigt, wie wahrgenommene Räume Teil unserer Identität werden können, was wir beispielsweise durch Verwendung ortsbezogener Hashtags zum Ausdruck bringen. Durch Algorithmen werden Beiträge in den sozialen Medien in neue Zusammenhänge gebracht. Die dabei transportierten Identitätsanregungen haben das Potenzial, unsere Identität zu beeinflussen. Abschließend werden Ansätze aus der Geographiedidaktik präsentiert, die zu einem reflexiven Umgang mit den Identitätskonstruktionen beitragen können. Schlüsselwörter

Algorithmen · Identität · Reflexivität · Selbst · Mündigkeit

C. Dorsch (*) Geographie, Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_23

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C. Dorsch

23.1 Identität und Digitalität Identität wird nach Charles Taylor durch einen Rahmen an „Bindungen und Identifikationen“ geprägt, innerhalb dessen der Mensch von Fall zu Fall entscheiden kann, was „gut und wertvoll ist oder was getan werden sollte bzw. was ich billige oder ablehne“ (Taylor, 1996, S. 55). Dass Identität sich auch in der Auseinandersetzung mit bzw. Wahrnehmung von Räumen bilden kann und somit auch Gegenstand geographischer Bildung ist, beschreibt Peter Weichhart (1990) in der Theorie der raumbezogenen Identität. Diese ­umfasst, im Rückgriff auf Graumann (1983), drei Arten der Identifikation: „identification of“, d. h. die kognitive Erfassung von Räumen, „being identified“, d. h. die Zuschreibung bestimmter raumbezogener Attribute auf Menschen sowie „identification with“, d. h. „die gedankliche Repräsentation und emotionale Bewertung jener Elemente der als Raum wahrgenommenen Lebenswelt, die ein Individuum in sein Selbstkonzept oder eine Gruppe in ihr Wir-Konzept einbezieht“ (Weichhart, 2019, S. 912). Folglich kann sich die Identifikation eines Raumes auch auf die eigene Identität auswirken, indem sich das Individuum diesen wahrgenommenen Raum und seine Zuschreibungen zu eigen macht (ebd., S. 911). Geht man von einem prozesshaften, d. h. veränderbaren Identitätsbegriff aus, wie er z. B. von George Herbert Mead (1934) oder Erik Erikson (1999) entwickelt wurde, können die Mechanismen und Praktiken einer „Kultur der Digitalität“ (Stalder, 2017) den Rahmen an Bindungen und Identifikationen bestätigen oder verändern. Dadurch können sie auch die Identität eines Menschen (mit-)bestimmen. Diesen Einfluss der Digitalität auf die Identität sehen auch Jörissen und Marotzki (2009), wenn sie schreiben, dass Medien die Strukturen von Weltsichten bestimmen. Demzufolge verhalten wir uns nicht zu, sondern in Medien. Somit verändern sich die Selbst- und Weltverhältnisse des Menschen zusammen mit der medial geprägten Alltagswelt. Konzepte einer rein digitalen Identität (z. B. Costa & Torres, 2011), die losgelöst von der „realen Welt“ in einem Cyberspace existiert, greifen daher zu kurz. Konkret bedeutet das: Identität wird sowohl durch Kommunikations- und Handlungsakte der eigenen Person als auch von anderen konstruiert. In digitalen Kulturen, die unmittelbar und weitgehend unabhängig von Zeit und Distanz wirken, wird diese Konstruktion umso mächtiger. Wenn Nutzer*innen der sozialen Medien beispielsweise ihr Profil gestalten, reflektieren sie im Zuge dessen zunächst ihr eigenes Selbst und prüfen, welche seiner Elemente sie öffentlich machen und welche sie verschweigen bzw. auch dazu erfinden wollen. Die Profilgestaltung hat Auswirkungen da­ rauf, wie die Nutzer*innen von anderen wahrgenommen werden. Gleichzeitig wirkt sie sich aber auch auf die eigene Identität aus. Das Profil wird so zur Lesart des eigenen Selbst. Die dabei auf den verschiedenen Plattformen entstehenden und durchaus unterschiedlichen Selbstbilder wiederum bestimmen die eigene Zugehörigkeit und die eigene Identität (vgl. auch Hintermann et al., 2020, S. 118). Daneben können auch digitale Endgeräte wie Smartphones mit den darauf enthaltenden, teils sehr intimen Daten zu einem Teil der eigenen Identität werden (Felgenhauer & Gäbler, 2019, S. 9).

23  „Kunden wie du kauften auch …“

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Die Inhalte sowie Art und Weise der Kommunikations- und Handlungsakte sind keineswegs nur vom freien Willen der Nutzer*innen abhängig, sondern werden durch die Mechanismen und Funktionsweisen der digitalen Plattformen maßgeblich geprägt, auf denen sie stattfinden. Algorithmen spielen dabei eine essenzielle Rolle. Algorithmen können definiert werden als ein festes Schema von Regeln, die die Handlungen von Maschinen oder Menschen steuern. Aus Sicht der Informatik bzw. einer vielzitierten Definition von Robert Kowalski (1979) besteht ein Algorithmus aus der Summe der Komponenten „Logik“ und „Kontrolle“. Logik umfasst dabei das Wissen, das über ein Problem vorhanden ist; Kontrolle beschreibt die Art und Weise, wie dieses Wissen eingesetzt wird, um dieses Problem zu lösen. Die Effizienz des Algorithmus lässt sich steigern, indem die Kontrollkomponente angepasst wird. Aufgrund ihrer Ubiquität haben Seyfert und Roberge Algorithmen eine kulturprägende Rolle zugewiesen: „Algorithmen haben ihre Logik in die Struktur aller sozialen Prozesse, Interaktionen und Erfahrungen eingewoben, deren Entfaltung von Rechenleistungen abhängig ist“ (Seyfert & Roberge, 2017, S. 7). Letztlich spielen somit auch die Algorithmen auf den digitalen Plattformen eine wichtige Rolle bei der Konstruktion von Identität und der Wirklichkeitskonstruktion von Nutzer*innen. Dieses Wechselspiel der Identitätskonstruktion durch die Nutzer*innen selbst, durch andere Nutzer*innen und durch die Algorithmen soll im Folgenden anhand zweier Beispiele verdeutlicht werden. Abschließend soll aufgezeigt werden, wie das Phänomen mit bestehenden Ansätzen der Geographiedidaktik für geographische Bildungsprozesse fruchtbar gemacht werden kann.

23.2 (Räumliche) Identitätskonstruktion in sozialen Medien Die Nutzer*innen sozialer Netzwerke nutzen in ihren Beiträgen bestimmte Hashtags, um einen Bezug zu einer Thematik herzustellen – dies kann ein Raum, eine Gruppe oder ein Ereignis sein. Auffallend dabei ist, dass in den Beiträgen der Ortsbezug oftmals allein durch die Nutzung eines Hashtags hergestellt wird, ohne beispielsweise ein eindeutiges Foto des Ortes hinzuzufügen. Exemplarisch zeigt sich dies bei einer Suche nach Beiträgen unter dem Hashtag #Berlin, die am 17.03.2021 durchgeführt wurde. Nur einer der ersten neun zusammengestellten „Top-Beträge“ lässt sich aufgrund charakteristischer Landmarken in Berlin verorten. Die übrigen Fotos zeigen augenscheinlich junge Menschen, teilweise mit aufreizendem Blick in modischer Kleidung. Natürlich dienen Hashtags zunächst einmal der leichteren Auffindbarkeit von Beiträgen in den sozialen Medien (Kanwischer & Schlottmann, 2017). Trotzdem lässt die Wahl bestimmter Hashtags Rückschlüsse zu: Nach der Theorie der raumbezogenen Identität ist zu vermuten, dass die Autor*innen der Beiträge den Raum „Berlin“ als prägend für ihr Selbstkonzept wahrnehmen – oder diese emotionale Bindung zumindest nach außen darstellen wollen. Durch die Nutzung des Hashtags zeigen sie sich als Teil einer virtuellen Gemeinschaft auf Zeit, wobei diese durch die algorithmische Selektion und Hierarchisierung der Beiträge ständig neu gebildet und strukturiert wird (Gillespie, 2014). Die Anhängerschaft (follower)

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C. Dorsch

der*des Autors*in sorgt mit ihren „Likes“ und Kommentaren dafür, dass der Beitrag sichtbarer und durch die Algorithmen der Plattform stärker favorisiert wird. Die erstellten Beiträge werden kuratiert, d. h. hierarchisiert, in neue Zusammenhänge gebracht und für jede*n Nutzer*in, der*die beispielsweise nach einem bestimmten Hashtag sucht, individuell zusammengestellt. Für die Hierarchisierung spielen z.  B. auf der Plattform Instagram zunächst die Anzahl der Interaktionen eine Rolle, also wie viele Kommentare ein Beitrag hat und wie oft der*die Autor*in des Beitrags darauf antwortet. Zudem ist die Verweildauer der Betrachter*innen auf den Beiträgen wichtig (Cotter, 2019). Auch scheint der Algorithmus Fotos von Menschen zu bevorzugen, die eher freizügig auftreten (Richard et al., 2021). Darüber hinaus spielen aber auch die Präferenzen der anfragenden Nutzer*innen eine große Rolle, d. h. mit welchen Beiträgen diese in der Vergangenheit häufiger interagierten. Aus diesen Hinweisen konstruieren die Algorithmen ein Subjekt mit bestimmten Eigenschaften und angenommenen Präferenzen. Algorithmen stellen den*die Nutzer*in also in den Kontext einer Gemeinschaft aus scheinbar ähnlichen Individuen mit ähnlichen Inte­ ressen und letztlich ähnlichen Identitätskonstruktionen (Dorsch & Kanwischer, 2020) – mit Graumann (1983) könnte man von „being identified“ sprechen. Die Rolle, welche die Nutzer*innen von Social-Media-Plattformen hier einnehmen, lässt sich mit der von „beeindruckbaren Subjekten“ beschreiben. Introna (2017) benutzt diesen Begriff im Zusammenhang mit Online-Werbung: Mittels cookies und adserver wird das Nutzungs- bzw. Klickverhalten potenzieller Kund*innen nachvollziehbar und prognostizierbar, sodass Werbeanzeigen stärker personalisiert werden und das Subjekt beeindrucken können. Dies äußert sich dann auf Verkaufsportalen in Texten wie „Kunden wie du kauften auch“. Entscheidend dabei ist: Das „beeindruckbare Subjekt“ setzt immer auch eine aktive Beteiligung voraus: Die Nutzer*innen spielen das Spiel mit, indem sie die angezeigten Inhalte durch Anklicken oder Ignorieren einordnen. Sie entwickeln durch diese „identitätsbeeinflussende[n] Zuordnungs- und Abgrenzungsprozesse“ (Pichler et  al., 2021, S. 21) somit ihre eigene Subjektivität aktiv mit, selbst wenn sie die angezeigten Beiträge zunächst als unpassend ablehnen: „So verstanden sind die auf dem Bildschirm erscheinenden Werbungen nicht ‚nur‘ Werbungen, sie sind gleichzeitig Anregungen zu dem Subjekt, das ich werden will“ (Introna, 2017, S. 69). Begreift man die durch die Algorithmen kuratierten ‚Top-Beiträge‘ auf Instagram in ähnlicher Weise als Identitätsanregungen für die Nutzer*innen, wird deren Wirkmächtigkeit deutlich. Im Beispiel führt dies möglicherweise zu neuen Identifikationen der Betrachter*innen und dem Zu-eigen-Machen im Sinne Weichharts mit den Zuschreibungen des wahrgenommenen „Raums Berlin“ bzw. mit den in den Beiträgen transportierten Lebensstilen. Gleichzeitig verändern diese Nutzer*innen die Raumkonstruktion Berlins anschließend wieder, wenn sie z.  B. in einem eigenen Beitrag über die Stadt kommunizieren. Die so von Algorithmen induzierten Identitätskonstruktionen können von Einzelpersonen und Gruppen gezielt genutzt werden, um Nutzer*innen für bestimmte Anliegen zu gewinnen. Die rechte Gruppe „Europa Invicta“, die sich selbst als Künstlergruppe bezeichnet und in einem völkischen Verständnis die angebliche Überlegenheit einer „euro-

23  „Kunden wie du kauften auch …“

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päischen Kultur“ propagiert, erstellte bis Juni 2022 Beiträge auf Instagram, Twitter und Facebook. Die veröffentlichten Fotos sollten in ihrer historisierend-verklärenden Ästhetik zur Identifizierung mit dieser Kultur beitragen und ein Gegengewicht darstellen zu den „photos, or anxiety-inducing newspaper articles (…) destroying our tangible and intangible heritage“ (Scum, 2021, o.  S.). Das Teilprojekt „madameeuropa“ sollte „our women“ dazu aufrufen, sich als Teil einer „sensitivity and strength“ und „femininity“ (ebd.) geprägten Gemeinschaft Europas zu fühlen, die nicht durch externe Einflüsse gestört werden soll. Die Beiträge zeigten häufig leicht bekleidete Frauen vor historischen Gebäuden, z. B. der Akropolis in Athen. Die Gruppe gestaltete ihre Beiträge durch die besondere Ästhetik auf solche Weise, dass sie durch die Algorithmen favorisiert und möglichst vielen N ­ utzer*innen in den Top-Beiträgen angezeigt werden sollten. So kann sie ihr Konstrukt einer homogenen europäischen Identität und sexualisierten Weiblichkeit mit Hilfe der Algorithmen einer großen Zahl an Nutzer*innen unterbreiten, die sich möglicherweise mit dieser identifizieren und sie in ihr Selbstkonzept aufnehmen. An dieser Stelle wird die Notwendigkeit deutlich, dass Lernende einen reflektierten Umgang mit Algorithmen und speziell mit der von ihnen herbeigeführten Konstruktion von (raumbezogener) Identität erlernen. Ebenso wichtig ist das Bewusstmachen der eigenen Identität bzw. des eigenen Selbst, um so mögliche Beeinflussungen durch algorithmische Systeme wahrnehmen und ihnen ggf. widerstehen zu können. Diese Überlegungen führen zu der Frage, welche didaktischen Konzepte in der geographischen Bildung hierfür herangezogen werden können.

23.3 Algorithmen, raumbezogene Identität und Bildung Das Phänomen der (raumbezogenen) Identitätskonstruktion durch Algorithmen wurde für die geographische Bildung bisher kaum aufbereitet. Anders sieht es aus sozial- und kommunikationswissenschaftlicher Perspektive aus, aus der das Thema bereits länger und in mehr Studien behandelt wird (siehe z. B. Dooly, 2017; Gündüz, 2017). Ein „Klassiker“ der geographischen Bildung in der Digitalität ist der Spatial-Citizenship-Ansatz (Gryl & Jekel, 2012; Kap.  10). Die ortsbezogenen Beiträge auf Instagram lassen sich als Geomedium bezeichnen, sodass sich der Ansatz auch in Hinblick auf raumbezogene Identitätskonstruktionen anwenden lässt. Relevant für das Thema der Identität sind dabei vor allem die Dimensionen des reflektierten Geomedienkonsums – „discuss the role of (geo-) media for the communication of construction of spaces“ (Schulze et al., 2014, S. 370) – und die Kommunikation mit Geomedien. Dabei sollten jedoch Fähigkeiten ergänzt werden, die in einer durch Algorithmen geprägten Lebenswelt wichtig sind, z. B. auch algorithmisch (re-)produzierte Selbst- und Weltbilder als individuelle Konstruktionen auf der Basis persönlicher Datenprofile einordnen zu können (Fuchs et  al., 2021). Hintermann et  al. (2020) haben im Rahmen des Projektes MiDENTITY mediale Identitätskonstruktionen in den Blick genommen und ein „Toolkit for critical geographic media literacy“ entwickelt, das Schüler*innen ermöglicht, eine selbstbestimmte Art der Medien-

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nutzung zu entwickeln, indem sie die eigenen digitalen Praktiken reflektieren (Hintermann et al., 2020, S. 115). Damit dies gelingt, empfehlen die Autor*innen beispielsweise das Führen eines Medientagebuchs und Gruppendiskussionen, damit über das Phänomen in der Klassengemeinschaft reflektiert werden kann (Kap. 25). Gemeinsam ist den beiden genannten Ansätzen, dass sie Schüler*innen dazu auffordern, ihr eigenes Handeln und ihre eigene Identität in den Blick zu nehmen, um die Beeinflussung durch algorithmische Systeme wahrnehmen und ihr ggf. widerstehen zu können. Im Konzept der mündigkeitsorientierten Bildung (Kap. 11) entspricht dies dem „Sich-­seiner-­selbst-bewusst-Sein“. Der Weg dorthin, so zeigte sich in einer Untersuchung (Dorsch, 2019), läuft in Bildungsprozessen über die Selbstreflexion, das Nachdenken über die eigenen Handlungen und Gedanken. Die meisten Aspekte des Sich-seiner-selbst-­ bewusst-Seins, also z. B. das Wissen um die eigenen Interessen und die eigenen Stärken und Schwächen, können im Unterricht bzw. im Seminar durch bestimmte Aufgabenstellungen hervorgebracht werden, die einerseits einen hohen Lebensweltbezug zu den Lernenden aufweisen und andererseits hohe Freiheitsgrade in der Bearbeitung zulassen. Dies kann z. B. darüber geschehen, dass Lernende eine Initiative gründen und bewerben, um in ihrem Heimatort selbst identifizierte Missstände zu beheben. Bei der Bearbeitung erleben die Lernenden bestenfalls Erfahrungskrisen, die nicht von vornherein durchschaubar sind und für die es keine einfache Lösung zu geben scheint. Wenn die Lernenden nun in sogenannten „spontanen Passungsreaktionen“ (Hericks, 2006, S.  83), beispielsweise über die auftretenden Probleme reflektieren und Aspekte des eigenen Selbst identifizieren, können sie sich einen Teil ihrer Identität bewusstmachen. In einem nächsten Schritt sollte die Funktionsweise von Algorithmen in sozialen Medien erfahren werden, um deren Funktionsweise zu verstehen und Auswirkungen auf das eigene Handeln in der Digitalität zu reflektieren (vgl. hierzu auch Gryl et al., 2020).

23.4 Fazit Die Mechanismen der Digitalität beeinflussen unser Handeln, unsere Bindungen und Identifikationen. Unser Selbst passen wir meist unbewusst den Infrastrukturen der sozialen Medien an und entwickeln eine Identität, mit der wir uns nach außen präsentieren wollen. Wahrgenommene Räume, zu denen wir eine emotionale Bindung aufnehmen, können Teil unserer Identität werden, was wir beispielsweise durch Verwendung ortsbezogener Hashtags zum Ausdruck bringen. Durch algorithmische Selektion werden unsere Beiträge in den sozialen Medien je nach Betrachter*in in neue Zusammenhänge gebracht, neue Gemeinschaften auf Zeit entstehen. Die dabei transportierten Identitätsanregungen werden durch die Nutzer*innen in ihr Selbstkonzept aufgenommen oder abgewiesen und haben das Potenzial, deren Identität zu beeinflussen. Je nach Urheber*in der Identitätsanregungen und deren*dessen Fähigkeiten, algorithmische Systeme für die eigenen Ziele zu nutzen, kann dies mehr oder weniger schwerwiegende Konsequenzen haben. Identitätskonstruktionen durch Algorithmen sind somit ein wichtiges Themenfeld für die geo-

23  „Kunden wie du kauften auch …“

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graphische Bildung. Das Bewusstsein über die eigene Identität und deren Beeinflussung durch die Praktiken der Digitalität wird in naher Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen, wenn durch Algorithmen aufbereitete Datengrundlagen beispielsweise für kommunale Entscheidungsprozesse dienen (Stichwort Smart City) oder die Interaktion zwischen Mensch und Maschine durch stetig verbesserte KI-Systeme weiter zunimmt. Hier bleibt angesichts der bisher wenigen Konzepte innerhalb der Fachdidaktik Geographie, die dieses Feld adressieren, noch viel zu tun.

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Algorithmisches Lernen im Sachunterricht Kompetenter Umgang mit Daten am Beispiel von digitalen Geomedien

24

Markus Peschel, Sarah Bach und Isabel Seibert

Zusammenfassung

Digitale (Geo-)Medien sind im Alltag omnipräsent und beeinflussen zunehmend Verhaltensmuster und Sozialisationsprozesse sowie Kommunikation und Freizeitverhalten. So werden bereits Kinder in ihrem Alltag beispielsweise mit geographisch ausgerichteten App-Anwendungen auf Tablets oder Smartphones  – teilweise mit location-based-services – sowie von klein auf durch das Navigationsgerät im Auto der Eltern mit digitalen Karten und den damit einhergehenden Nutzungsmöglichkeiten sowie Servicediensten konfrontiert. Ausgehend von dem Lebensweltbezug im Sachunterricht (GDSU, 2013) und der Allgegenwärtigkeit dieser standortbezogenen Geoinformationsaustauschsysteme, erfordert das Mediale Lernen in der Grundschule eine entsprechende sachunterrichtliche Auseinandersetzung im Sinne der grundlegenden und kritischen Einschätzung digitaler (Geo-)Medien; insbesondere mit Bezug auf digitale Artefakte und Daten, die bei der Nutzung produziert werden.

M. Peschel · S. Bach Didaktik des Sachunterrichts, Universität des Saarlandes, Saarbrücken, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] I. Seibert (*) Chemie und Erdkunde, Gymnasium in Kaiserslautern, Kaiserslautern, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_24

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M. Peschel et al.

Vor dem Hintergrund dieser Ausgangsbedingungen beschäftigt sich dieses Kapitel mit den Auswirkungen algorithmischer Steuerung im Alltag und den Möglichkeiten für eine sachunterrichtliche Auseinandersetzung im Rahmen des Lernens mit und vor allem über Medien an einem Beispiel der Nutzung digitaler Geomedien. Schlüsselwörter

Digital literacy · (Geo-)Medien · Kidipedia · Digitalität · Profiling

24.1 Einleitung Gegenwärtig nimmt die Mediatisierung und Digitalisierung mit der Entwicklung hin zu einer neuen gesellschaftlichen Kultur der Digitalität (Stalder, 2016) insbesondere durch eine verstärkte Nutzung und den Einfluss smarter digitaler Geräte zunehmend früher Einfluss auf die Lebenswelt und Gewohnheiten von Schüler*innen (MPFS, 2017, 2019, 2021; GSV, 2015; KMK, 2016; GI, 2016, 2019; GDSU, 2021). Die Nutzung smarter digitaler Endgeräte erfolgt im Kindesalter zunächst überwiegend konsumgeleitet (DIVSI, 2015) mit einem sprunghaften Anstieg der Internetnutzung von Kindern ab dem Schuleintritt (MPFS, 2015a, b, 2019, 2021; DIVSI, 2015). Dabei bleibt allerdings weitgehend undurchsichtig, wie sich Mediatisierung (GSV, 2018, vgl. auch Irion, 2020) und der Wandel der kulturellen Teilhabe in der Digitalität (Stalder, 2016) auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder auswirken. Digitale Medien sind dabei z. B. über die Smartphonenutzung als Kommunikations- oder Informationsmittel sowohl in alltäglichen Lebenssituationen der Schüler*innen als auch in Schule (KMK, 2016; MPFS, 2019, 2021) inzwischen omnipräsent  – und das Nutzungsverhalten verändert die Medien- sowie Lebenswelt fundamental (MPFS, 2015a, b, 2019; DIVSI, 2015). Durch die zunehmende Nutzung der Geräte mit verschiedenen Diensten, wie etwa Social Media und weiteren Apps, die über location-­based-­services neue Möglichkeiten eröffnen, wird der Umgang mit digitaler Informationsweitergabe auch im Schulalltag immer zentraler – wenn auch zunehmend „unsichtbarer“. Durch die Verknüpfung der persönlichen Eingaben und damit der Usergewohnheiten mit den aktuellen Standortdaten erfolgt eine vertiefte Verschränkung und Auswertung orts- und personenbezogener Daten.1 Diese Verknüpfung mittels Algorithmen erlaubt es, ein algorithmisch definiertes individuelles Profil zu generieren (Profiling), welches wiederum zur individuellen Informationspräsentation in u. a. Social Media genutzt wird.  Dies können zunächst einzeln harmlos erscheinende Daten sein, die die Suche nach dem Bus(-Fahrplan), das Reiseziel, die Uhrzeiten, Regelmäßigkeiten, Umwege etc. abbilden. Über die Verschränkung mit den persönlichen Suchbegriffen, Kalendern, Chats etc. sowie der möglichen Verknüpfung mit weiteren Usern/Mitfahrenden (in der gleichen „Zelle“) sowie die Stopps, Vorlieben und Kommunikationen, entstehen sehr sensible und „mächtige“ Benutzer*innenprofile, die entsprechend ausgewertet und genutzt werden können – meist bislang nur zu Werbezwecken. 1

24  Algorithmisches Lernen im Sachunterricht

301

Durch die tägliche Nutzung (MPFS, 2021) solcher Dienste und Apps werden Schüler*innen – zumeist unbemerkt – einer sehr differenzierten Analyse durch Algorithmen unterzogen. Gleichzeitig sind sie sich der Kopplung von Geodaten und Social-Media-Daten und einer damit zusammenhängenden Beeinflussung, z.  B. der Manipulation durch Werbung u. Ä., nicht bewusst (Trottenberg & Thomas, 2015).2 Die algorithmische Steuerung mitsamt der Verarbeitung raumbezogener Daten sowie Kopplungseffekte mit Daten weiterer Dienste führt zu einer immersiven Verstärkung der Daten und somit zur Ausbildung von „Filterblasen“. Da dies schon in der Grundschule wirksam wird, sollte eine kritische Auseinandersetzung bzgl. des Umgangs mit persönlichen Daten und Geodaten sowie die Beeinflussung durch Algorithmen schon in der Grundschule initiiert werden (vgl. Irion, 2016; GDSU, 2021). Bei einer entsprechenden kritischen Medien- bzw. Datenreflexion (vgl. Niesyto, 2020, 2022; Peschel, 2020) muss somit neben dem Lernen mit digitalen Medien (z. B. Nutzung von Apps, iPad, Internet) insbesondere die kritische Thematisierung der o. g. spezifischen algorithmischen Steuerung als ein Merkmal des Lernens über Medien im Sachunterricht im Fokus stehen. Insofern liegt der Schwerpunkt des Lernens über Geomedien auch in der angesprochenen Problematik des Lernens über Geodaten und den dahinterstehenden verarbeitenden Prozessen. Die Kopplung geobezogener Daten mit Social-Media-Daten soll im Fokus eines Beispiels der sachunterrichtlichen Auseinandersetzung bzgl. des Lernens mit und über digitale Geomedien stehen. Das Kapitel skizziert erstens gegenwärtige Verhältnisse algorithmischer Durchdringung des Alltags, entwirft zweitens Perspektiven und Themenfelder für den Sachunterricht und stellt drittens mit kidi-Maps eine unkompliziert im Unterricht einsetzbare Plattform vor, welche sich dazu eignet, einen kritisch-reflektierten Umgang mit digitalen Daten beispielhaft am Thema „Mein Schulweg“ zu fördern.

24.2 Algorithmische Steuerung und gesellschaftlicher Wandel Unter dem Begriff „Algorithmus“ wird im Allgemeinen eine exakte Handlungsvorschrift der Abfolge von durchzuführenden Schritten zur Lösung eines Problems verstanden. Im Kontext der Digitalisierung ist ein Algorithmus als Teil einer Software zu verstehen und beschreibt darin eine Abfolge von Rechenvorschriften zur Verarbeitung, Filterung und Verschränkung von Daten. Weiterhin werden Kombinationen, multidisziplinäre Algorithmen und Steuerung unter der Kategorie „übergreifende Algorithmen“ subsummiert (Trot-

 Kaum jemandem ist bewusst, dass die Nutzung z. B. von YouTube oder anderen Portalen nicht nur die eingegebenen (textlichen) Suchanfragen umfasst, sondern u.  a. auch weitere Daten, wie die Dauer der Betrachtung, das Zurückspulen, Stopps/Pausen, Wiederholungen, Verlinkungen und damit auch Aussagen über die Vorlieben bei z. B. Filmen etc. All diese Daten gehen in die Generierung weiterer dargebotener Inhalte ein und beeinflussen bzw. verstärken sowohl das Profil als auch die Gewohnheiten. 2

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M. Peschel et al.

tenberg & Thomas, 2015). Formalisierte Verarbeitungen in einem solchen programmierten Algorithmus filtern, analysieren und verknüpfen die (teilweise unbewusst) eingegebenen Daten z.  B. bei der Internetsuche (Google, Bing), bei Einkaufsplattformen (Amazon, eBay), bei Social-Media-Plattformen (Facebook, Instagram, YouTube) mit individuell produzierten Geodaten-Einträgen, z.  B. in einer Running-App oder Kartendiensten. ­Aktuelle Beispiele für location-based-services sind z. B. auch die Corona-App oder diverse Karten- und Navigationsapps. Ein (relativ harmloser) Effekt ist dabei, dass bei einer Kartensuche direkt Vorschläge für ein passendes Restaurant in der Umgebung gegeben werden oder nach einer getrackten Joggingrunde Vorschläge für neue Laufschuhe erscheinen. Die gleichen Algorithmen steuern Anzeigen von passendem Zubehör/Erweiterungen für (Grundschul-)Kinder, nachdem sie (oder ihre Eltern) in der gleichen „Zelle“3 beispielsweise über eine Verkaufsplattform nach einem spezifischen Spielzeug gesucht haben. Die durch sich gegenseitig verstärkende Daten und Dienste entstehenden sogenannten „Filterblasen“ (Katzenbach, 2018) sind nur schwer zu kontrollieren oder aktiv zu beeinflussen. Diese Filterblasen sind je nach „Anreicherung“ mit weiteren passenden Daten sehr resilient und führen letztlich zu einer weitreichenden Veränderung von gesellschaftlichen Verhaltens- und Handlungsweisen, die sich bereits in der Lebenswelt von Grundschüler*innen manifestieren (vgl. Peschel, 2018; GDSU, 2021). Lischka und Stöcker (2017) kritisieren, dass Verhalten und Handlungsweisen als Folge dieser Filterblasen fremdinitiiert sind, was die uneingeschränkte Persönlichkeitsentwicklung behindere. Dies ist besonders bedeutend, da durch die zunehmend frühere Nutzung smarter digitaler Endgeräte (MPFS, 2015a, 2021) sich die Sozialisations- und Handlungsprozesse der jungen Heranwachsenden mehr und mehr „ins Netz“ verlagern und entsprechend zunehmend und frühzeitig eine digitale soziale Beeinflussung stattfindet. Selektion, Organisation und Präsentation von Daten bzw. Inhalten erzeugen insofern einen neuen „Strukturierungsmechanismus öffentlicher Kommunikation“ (Katzenbach, 2018, S. 327) und führen in logischer Konsequenz zu einem Teilhabewandel der Gesellschaft (Peschel, 2021). Diese neue Kultur der Digitalität (Stalder, 2016) ist bislang wenig didaktisch bearbeitet (vgl. GFD, 2018; Gryl, 2023). Umso wichtiger sind der kritisch-­ reflektierte Umgang mit den eigenen und fremden Daten sowie die sorgsam-kritische Nutzung vernetzter Geräte in Abhängigkeit von Interesse und Erfahrungen innerhalb verschiedener dynamischer Entwicklungsphasen als sukzessiv zu erlernende mediale Kompetenzen im Sinne einer digital literacy (Peschel, 2022). Hierzu eignen sich für den Unterricht in besonderer Weise digitale Karten.

 „Zelle“ ist hier mehrfach codiert, bezieht sich aber vor allem auf Prozesse räumlicher Zuordnung, die – zumeist technisch – Geräte, Personen und damit IP-Adressen (über denselben Router) oder LTE/5G-Zugänge über Einwahlknoten identifizieren. 3

24  Algorithmisches Lernen im Sachunterricht

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24.3 Mediales Lernen mit Geomedien im Sachunterricht „Einerseits sind Karten und ihre Nutzung im Alltag [von] Schülerinnen und Schülern durchaus präsent. Sie nehmen Karten z. B. wahr als Hintergrundbild in den Nachrichten oder bei Wetterkarten, als Poster im Kinderzimmer, zur Kennzeichnung der Herkunft einer Tierart im Zoo oder den Stadt- und Liniennetzplan an der Haltestelle von Bus und Bahn. Hinzu kommen unterschiedliche Erfahrungen mit digitalen Karten im Internet wie „Google Earth“ und ­Funktionen wie „StreetView“. Andererseits verschwinden Karten aber als Hilfsmittel zur konkreten Orientierung vor Ort zunehmend aus dem Alltag und werden durch Navigationsgeräte im Auto oder durch entsprechende Programme auf dem Smartphone ersetzt“ (Spitta, 2016, S. 190).

Die Allgegenwärtigkeit digitaler Geomedien bzw. insbesondere digitaler Karten im Alltag von Schüler*innen (Gryl, 2016a, S. 53) samt der veränderten Nutzung von Karten durch digitale Möglichkeiten erfordert eine sachunterrichtliche Auseinandersetzung mit diesen Medien bereits in der Grundschule (GDSU, 2013, S.  10). Die Auseinandersetzung mit digitalen Geomedien bietet im Sachunterricht die Möglichkeit, im Sinne eines Lernens mit und über Medien, algorithmische Steuerung vielperspektivisch und nicht fachspezifisch mathematisch bzw. informatisch zu betrachten. Durch die Vernetzung des Lernens über digitale Geomedien in den fünf Perspektiven des Sachunterrichts (historische, soziale, geographische, technische, naturwissenschaftliche Perspektive) wird es möglich, Schüler*innen für tiefergreifende gesellschaftliche Transformationsprozesse, die durch die Digitalisierung hervorgerufen werden (Stalder, 2016), zu sensibilisieren und Phänomene der Digitalisierung in ihrer Alltagsbedeutung kritisch zu reflektieren. In diesem Sinne ist neben der Fähigkeit einer adäquaten Nutzung von Medien (Lernen mit Medien) eine Sensibilisierung für einen angemessenen und reflektierten Umgang mit den eigenen Daten, den Austauschprozessen, aber vor allem den hinter diesen Medien stehenden (unsichtbaren) algorithmischen Beeinflussungen unbedingt notwendig (Lernen über Medien). Ein wichtiger und problematischer Aspekt ist, dass ein Löschen bzw. Bearbeiten der generierten Profile und Daten bzw. des „Profilings“ bisher meist nicht vorgesehen bzw. möglich ist, sodass sich die Filterblasen weiter kumulieren und ein „Entkommen aus der Datenprofilwolke“ nur schwer möglich ist. Die verwendeten Algorithmen sind dabei nicht nur unbekannt, sondern meist der Kern bestimmter Firmenaktivitäten und damit ein „Geschäftsmodell“ – und ökonomisch dominiert.4 Weitere Datenverknüpfungen mit den Implikationen von Algorithmen nehmen auch zunehmend direkt Einfluss auf den Bildungsbereich, z. B. über Learning Analytics und Big Data, und generieren weitere Selektion und die Individualisierung von Lernangeboten. Daher ist die kritische Reflexion über die Auswirkungen solcher Steuerungsmechanismen im Sinne einer digital literacy (Peschel, 2022; Irion, 2020)  – als Lernen über Medien (GDSU, 2021) – auch bereits im Sachunterricht essenziell.  Wohin dies führen kann, wird von verschiedenen Autor*innen teilweise karikativ aufgegriffen und die Absurdität bestimmter Filterungen thematisiert (vgl. z. B. Quality Land, Mark-Uwe Kling). 4

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Für eine solche Auseinandersetzung mit Geodaten bietet sich beispielsweise die Onlineplattform kidipedia an, innerhalb derer die Thematik der algorithmischen Steuerung und der Umgang mit Geodaten von den Schüler*innen (re)konstruiert und mittels des eigenen Produzierens und Bearbeitens von Geomedien ein Lernen über Medien als auch ein Lernen mit Medien gefördert werden kann.

24.4  kidi-Maps – Lernen über digitale Geomedien am Beispiel „Mein Schulweg“ kidipedia und kidi-Maps Um Schüler*innen didaktisch sinnvoll an den Umgang mit digitalen Geomedien heranzuführen, wurde in der Onlineplattform kidipedia das Geo-Mapping-Tool kidi-Maps implementiert, das wir im Folgenden beispielhaft skizzieren: kidipedia (www.kidipedia.de) ist eine auf Web 2.0-basierte, passwortgeschützte Onlineplattform zur Recherche, Präsentation und vor allem auch Produktion von Ergebnissen aus dem (Sach-)Unterricht und wurde für den unterrichtlichen Gebrauch entwickelt. kidipedia zeichnet sich durch eine funktional reduzierte und didaktisch angepasste Benutzeroberfläche und Struktur aus, die es erlaubt, dass die Inhalte von Kindern für Kinder geschrieben werden (Abb. 24.1). Durch die Nutzung von kidipedia können bei den Schüler*innen neben fachlichen Kompetenzen zugleich mediale Kompetenzen gefördert werden (Bach, 2018). Insbesondere das Geo-Mapping-Tool kidi-Maps bietet Potenzial, um das Lernen mit und über Geomedien innerhalb einer geschützten und schulorientierten Plattform didaktisch sinnvoll zu fördern: Mit digitalen Kartendiensten bzw. Web-Mapping-Diensten wie kidi-Maps kommen Kinder in die Rolle des sogenannten Prosumers, da sie gleichsam zu Produzent*innen und Konsument*innen von Geoinformationen werden (Schmeinck, 2013). Neben dem Konsumieren unterschiedlichster Karten- oder Satellitendarstellungen von anderen Autorenkindern können Geomedien auch selbst produziert und interaktiv (in derselben Klasse oder in der kidi-Community) gestaltet werden.

Abb. 24.1  Didaktisch angepasste Benutzeroberfläche von kidipedia (www.kidipedia.de)

24  Algorithmisches Lernen im Sachunterricht

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Dadurch, dass die Schüler*innen bei der Beitragsgestaltung mittels kidi-Maps selbst gestaltete Karten einfügen und gemeinschaftlich bearbeiten können, erfahren sie grundlegend die Bedeutsamkeit von Geomedien als Teil ihrer Lebenswelt (vgl. u.  a. Gryl, 2016b). Da die Beiträge inkl. der interaktiven Karten von anderen Kindern gelesen, adaptiert oder weiterentwickelt werden, werden Kompetenzen vermittelt, die das Produzieren von Geodaten, die Preisgabe von (persönlichen) Informationen sowie  – durch die Zusammenarbeit – die kritische Quelleneinschätzung in den Fokus nehmen (z. B. Stimmen die ­angegebenen Informationen? Wer ist Autor*in des Beitrags? Welche Daten geben andere Schüler*innen von sich preis? Welche möchte ich preisgeben?). Zur Erhöhung der Zugänglichkeit und der Einsetzbarkeit im Unterricht sind die Mapping-­Instrumente bzw. interaktive kartographische Gestaltungsmöglichkeiten in kidipedia bewusst einfach konzipiert und erlauben „online das Zeichnen in digitalen Karten, das Setzen von Wegmarkern, das Erstellen einfachster Karten […]“ (Gryl, 2016b, S. 228).5 Hierdurch ermöglicht das Geo-Mapping-Tools kidi-Maps bereits Grundschulkindern einen intuitiven Umgang mit digitalen Karten sowie das Erlernen kartographischer Gestaltungsmöglichkeiten (Abb. 24.2; vgl. auch Schirra & Peschel, 2018).

Abb. 24.2  Startseite von kidi-Maps (www.kidipedia.de)

 kidi-Maps als Geo-Mapping-Tool kombiniert – basierend auf OpenStreetMap und Esri – Möglichkeiten der Karten-/Satellitenbildsuche mit einfachen interaktiven Gestaltungsmöglichkeiten. 5

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Alltägliche Bewegungsmuster mit kidi-Maps erkennen und reflektieren Anhand des Beispiels „Mein Schulweg“ können alltägliche Bewegungsmuster der Kinder im Unterricht hinsichtlich dabei verwendeter Daten und algorithmischer Steuerungsprozesse thematisiert werden. Hierzu erhalten die Schüler*innen die Aufgabe, z. B. ihren Schulweg in kidi-Maps einzuzeichnen, wodurch sich mehrere lohnende Fragen und Reflexionsanlässe im Sinne eines Lernens über Medien ergeben. Bereits bei der (digitalen) Bestimmung des Startpunktes der Schüler*innen, also ihrem Zuhause, kann die Preisgabe privater Daten im Internet diskutiert werden. So könnte zum Beispiel thematisiert werden, ob es sinnvoll ist, das eigene Wohnhaus über kidi-Maps zu markieren und den Schulweg über kidipedia im Internet zur Verfügung zu stellen. Diese Preisgabe persönlicher Daten auf einer Plattform erfordert dabei die Auseinandersetzung mit Fragestellungen der Datensicherheit, der (online) Privatsphäre oder auch Fragen zu ‚sicheren‘ Alternativen. Für die unterrichtliche Umsetzung bietet es sich daher an, sensible Daten nicht personenbezogen online zu stellen, bspw., indem digitale Platzhalter als Stellvertreter*innen auf kidi-Maps eingesetzt werden und für diese Avatare die Bewegungsmuster der Kinder eingetragen werden. Die gemeinsame Reflexion dieses Vorgehens im Klassengespräch bietet sich an, um bei den Kindern ein kritisches Medienbewusstsein zu fördern. Die Kopplung dieser Geoinformationen mit weiteren Geräten und Diensten, die die Kinder nutzen, fördert das Bewusstsein über persönliche Daten – also z. B.: Wann verlässt Du das Haus/Wohnung? Wer bzw. welches Gerät von Freunden ist in der Nähe und befindet sich an ähnlichen Koordinaten? Mit wem kommunizierst Du dabei (digital/analog)? Zudem zeigt das Einzeichnen des eigenen Schulweges, den das Kind jeden Morgen von seinem Wohnhaus zur Schule zurücklegt, deutlich auf, dass solche alltäglichen Bewegungsmuster – hier sichtbar und selbst produziert – ansonsten unsichtbar bleiben, allerdings automatisch über z.  B. das Gerät verfügbar und damit auslesbar bzw. verwertbar sind.6 So können die vom eigenen Smartphone mit seiner GPS-Funktion generierten alltäglichen Bewegungsmuster mit den produzierten Geodaten aus kidipedia verglichen werden: Dies bietet wiederum Anlass für kritische Auseinandersetzungen im Unterricht, sodass bei den Schüler*innen ein Bewusstwerden über eigens generierte und/oder fremd manipulierte Daten geschaffen wird. Hierbei kann die Genauigkeit von GPS-Daten auf verschiedenen Geräten mit Kopplung von Zeitdaten behandelt werden, z. B., indem die Schüler*innen die Frage „Wie exakt ‚misst‘ das Mapping-Tool auf meinem Smartphone?“ untersuchen. Dazu können sie spezifische Koordinaten eines speziellen Standortes (z. B. Eisdiele, AirTags, GeoCaches u. a., möglichst ohne Bezug zum eigenen Wohnort) diskutieren und in kidi-Maps markieren. Auch die Genauigkeit des Mapping-Tools kann geprüft werden, indem die Kinder vorgegebene Routen ablaufen und mögliche Veränderungen oder Abkürzungen prüfen, die ihnen (nicht) angezeigt werden.  Eine Erweiterung erfährt das Tracken von Bewegungsdaten über die Frage: „Wer darf Deine Daten einsehen? Freunde? Die Eltern? Erfahre ich, wenn jemand mich trackt? Dies kann auch ohne direkte persönliche Geräte als „Spiel“ mit der Suche nach „AirTags“ o. Ä. realisiert werden. 6

24  Algorithmisches Lernen im Sachunterricht

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Eine weitere Möglichkeit, Geodaten zu vergleichen, ist, innerhalb von kidi-Maps Routen einzuzeichnen, die den Schüler*innen ein externes Karten-Tool (GPS-Gerät) vorschlägt und diese Routen mit ihren Mitschüler*innen hinsichtlich schnellerer, schönerer oder sicherer Wege oder Umwege zu vergleichen. Durch den Vergleich verschiedener Auswahlrouten sowie die unterschiedliche algorithmische Verarbeitung raumbezogener Daten – je nach Anwendung, Gerät und Kartendienst bzw. Provider – erkennen die Schüler*innen, dass angebotene Routen (Fahrradwege, Fußgängerwege, Abkürzungen, Stauvermeidung usw.) viel über die genutzten Algorithmen und deren Beeinflussung durch Userdaten aussagen. In Kopplung von analogen und digitalen Daten könnte man auch z.  B. einen Fußgängerüberweg oder bestimmte Straßen beobachten und die Fahrzeugdichte in Kartendiensten mit der Realität vergleichen.7 Zudem sollte grundsätzlich mit den Schüler*innen thematisiert werden, warum für diese Aufgabe ein „fremder“ Standort und nicht z. B. der eigene Wohnort verwendet wurde und wann es sinnvoll ist, einen virtuellen Avatar zu kreieren. Im Hinblick auf algorithmische Steuerungsprozesse bietet kidipedia weiteres Potenzial zur unterrichtlichen Auseinandersetzung, indem die Schüler*innen unter „Mein kidi“ ihre Aktivitäten auf kidipedia (z. B. Anzahl der verfassten Beiträge, Bewertungen, Kommentare usw.) einsehen können. Die Frage, wie das System einerseits solche Aktionen der Kinder und andererseits welche Daten insgesamt erfasst, kann dadurch ebenfalls zum Unterrichtsgegenstand gemacht werden. Die Übertragung auf ebenfalls unbewusst weitere produzierte Daten, die von Dienstleistern ausgelesen und zum o. g. Profiling genutzt und kommerzialisiert werden, ist die weitere Konsequenz in der Vermittlung eines Lernens über die eigenen Daten. Im Zentrum einer Abschlussaufgabe steht entsprechend z. B. die Frage „Für wen sind meine Daten zugänglich bzw. wertvoll?“, um das Bewusstsein der Schüler*innen für die Darstellungsveränderung ihrer Umwelt durch algorithmische Steuerung zu erweitern. Hier wird dann auch thematisiert, wer die Anbieter diverser Plattformen sind und wodurch sich diese finanzieren – z. B. eben durch die Weitergabe von Userdaten.

24.5 Fazit Ziel der hier am Beispiel von kidi-Maps beschriebenen Thematisierung von Geodaten und Algorithmen im Sachunterricht ist einerseits die Sensibilisierung von Kindern für die zunehmende algorithmische Durchdringung von Lebenswelten sowie – angesichts dessen – andererseits die Förderung eines bewussten Umgangs mit digitalen Geoinformationen (Peschel, 2016, 2021; GDSU, 2021).  Eine solche Staugenerierung wurde im Rahmen einer „Kunstaktion“ bewusst erzeugt. Hierbei kann man auch die Echtheit solcher Korrumpierungen von Geomedien durch eine Vielzahl von (Schüler-) Geräten selbst ausprobieren und damit auch die journalistische Aufarbeitung überprüfen (siehe https://www.handelsblatt.com/video/arts_und_style/berlin-google-ausgetrickst-kuenstler-faelscht-­­ stau-mit-99-handys/25506690.html). 7

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Für den Sachunterricht sind dann auch Fragen nach dem Zusammenhang von eigenen bzw. privaten Daten und algorithmischer Steuerung durch unsichtbar und automatisch erzeugte Daten wesentlich. In diesem Sinne sollte im Unterricht thematisiert werden, welche Daten Kinder im Internet bewusst bzw. unbewusst preisgeben (z. B. bei Suchanfragen oder Einkäufen) und wie sich hierdurch bspw. Werbeeinblendungen im Zuge von Profiling verändern – aber auch, welche positiven Effekte das Teilen von Daten haben kann, bspw. wenn man sich unkompliziert mit anderen über Themen, die einem wichtig sind, austauschen kann (z. B. über die interessantesten Orte in einer Stadt oder die anstrengendsten Radtouren im Umland), oder wenn man gemeinsam mit anderen Schlaglöcher in der Stadt oder Reparaturbedarfe auf Spielplätzen digital auf Karten verzeichnet und hierüber Entscheidungsträger*innen erreichen kann. Es geht darum, im Unterricht ein reflektiertes Datenbewusstsein über kritische und vielperspektivische Auseinandersetzung mit digitalen Geräten, Kartendiensten und (Geo-) Daten anzubahnen. Zentrale Fragestellungen für den Unterricht müssen dann u. a. sein: Was will ich von mir preisgeben? Wem gehören meine Daten? Mit wem will ich meine Daten teilen? Wem nutzen meine Daten, d. h., was ermöglichen Algorithmen mir und was ermöglichen sie anderen? Wie wertvoll sind meine Daten? Was ermöglicht mir das Teilen meiner Daten? Welche Gefahren birgt es? Wer profitiert von den Geodiensten? Es geht also im Kern um das kritische Bewusstsein über Daten – eigene und fremde! Solche und weitere Fragen ermöglichen es, die algorithmische Durchdringung des Alltags verstehen, nutzen und dabei stets kritisch abwägen zu können, also ein kritisches Medienbewusstsein im Sinne Niesytos (2020) zu entwickeln. Sie sind damit wichtiger Bestandteil des Medialen Lernens im Sachunterricht und der Förderung einer digital literacy (vgl. Peschel 2022).

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24  Algorithmisches Lernen im Sachunterricht

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„Meine Identität ist viele“ Identitätskonstruktion(en), Selbstverortungen und Fremdzuschreibungen von Jugendlichen in digitalen Kulturen

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Christiane Hintermann und Herbert Pichler

Zusammenfassung

Anhand des Konzeptes und ausgewählter Ergebnisse eines universitär-schulischen Forschungsprojektes werden in diesem Kapitel fachdidaktische und schulpraktische Anknüpfungspunkte zur Bearbeitung des Themenfeldes jugendlicher Identitätskonstruktionen in der Migrationsgesellschaft im Kontext von Digitalisierung und Nutzung sozialer Medien diskutiert. Die Forschungsergebnisse, die auf einer umfassenden Fragebogenerhebung unter Wiener Jugendlichen sowie Gruppendiskussionen und Workshops mit den am Projekt beteiligten Schüler*innen beruhen, zeigen die Bedeutung sozialer Medien in den Identitätsbildungsprozessen von Jugendlichen. Teil einer Gruppe in sozialen Medien zu sein ist für viele identitätsstiftend. Soziale Medien werden als Sammelbecken Gleichgesinnter interpretiert, unabhängig davon, ob man die Gruppenmitglieder persönlich kennt oder nicht. Die Reflexion der eigenen Medienhandlungen verdeutlichte die intensive Verwobenheit des eigenen Tagesablaufs mit beinahe permanenter Mediennutzung, wobei die eigene mediale Involviertheit von den Schüler*innen durchwegs unterschätzt wurde. Schlüsselwörter

Identitätskonstruktion(en) · Kritische geographische Medienbildung · Gruppenzugehörigkeit(en) · Medienhandeln Jugendlicher · Schulisch-universitäres Forschungsprojekt

C. Hintermann (*) · H. Pichler Fachdidaktik Geographie und Wirtschaftliche Bildung, Universität Wien, Wien, Österreich E-Mail: [email protected]; [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_25

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C. Hintermann und H. Pichler

25.1 Einleitung Wie werden Identitäten und Zugehörigkeiten unter Jugendlichen aktuell ausgehandelt, welche Rolle spielen dabei soziale Medien? Und wie können Schüler*innen für die Wirkungen und unerwünschten Nebenwirkungen ihres Handelns in digitalen Kulturen sensibilisiert werden? Das Themenfeld jugendlicher Identitätskonstruktionen im Kontext von Digitalisierung und Nutzung sozialer Medien wird anhand ausgewählter Ergebnisse des universitär-­ schulischen Kooperationsprojektes „MiDENTITY (Mediale) – Identitätskonstruktionen, transnationale Selbstverortungen & verkürzende Fremdzuschreibungen in der Migrationsgesellschaft am Beispiel von Jugendlichen in Wien“ diskutiert. Einleitend wird dazu die Hintergrundfolie vielfältiger Dimensionen des Wandels von Gesellschaft und Medienlandschaft skizziert, in deren Kulisse das Medienhandeln von Kindern und Jugendlichen eingebettet ist. Nach einem Abriss zur theoretischen und fachdidaktischen Rahmung des Forschungs- und Unterrichtsprojekts werden die Datenerhebung sowie die Module der Projekt-Workshops im fächerverbindenden, politisch bildenden Unterricht skizziert. Dies auch, um interessierten Schulpraktiker*innen Anregungen für die eigene Umsetzung von Unterrichtsvorhaben im thematischen Kontext anbieten zu können (vgl. Pichler et al., 2021). Anschließend stellen wir ausgewählte Ergebnisse der Online-Erhebung unter 1372 Wiener Jugendlichen sowie der intensiven gemeinsamen Arbeit mit drei Schulklassen in Wien vor. Wobei vorrangig jene Methoden, Produkte und Ergebnisse aus den Gruppendiskussionen und der Fragebogenerhebung sowie den Workshops herausgegriffen werden, die direkt mit Aspekten der Identitätskonstruktion(en) von Jugendlichen in digitalen Kulturen in Verbindung stehen. Abschließend werden Thesen aus den Erkenntnissen dieser Auseinandersetzung für zukünftige projektorientierte Unterrichtsarbeit zum Themenkomplex Identitätskonstruktion in digitalen Kulturen abgeleitet.

25.2 Ausgangslage und theoretische Einbettung – Identitätskonstruktionen im Wandel Bereits im eigenen familiären oder sozialen Umfeld kann ein tiefgreifender Wandel der Lebens- und Erfahrungswelten von Jugendlichen beobachtet werden, auch zahlreiche Studien belegen, dass sich Freizeit- und Medienhandeln zunehmend in den digitalen Bereich verlagern (vgl. z. B. Hurrelmann et al., 2019; saferinternet.at, 2021). Räumliche, soziale und kulturelle Aushandlungsprozesse erfahren dabei auch eine neue Brisanz, weil sie mit einer veränderten Rolle der Jugendlichen als Prosumer*innen (Toffler, 1980) gekoppelt sind. Einleitend müssen zwei für den thematischen Zusammenhang zentrale Begriffe geklärt werden: das Verständnis von Medien im Projekt sowie das zugrunde gelegte Konzept von Identität(en). Wenn reflexive geographische Bildung in digitalen Kulturen das erklärte Ziel ist, dann erscheint es erstens zu kurz gegriffen, sich ausschließlich mit Geomedien im engeren Sinn zu beschäftigen. Für eine geographische Betrachtung in vielfacher Hinsicht

25  „Meine Identität ist viele“

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relevante Problemstellungen werden nicht nur dort, sondern in vielfältigen klassischen und partizipativen Medien verhandelt. Konkret spielen zudem soziale Medien eine bedeutende Rolle bei der Aushandlung von (raumbezogenen) Zugehörigkeiten, daher werden im thematischen Zusammenhang unter Geomedien alle Medien verstanden, in denen auch raumbezogene Informationen und Daten ausgetauscht und u.  a. zur Identitätskonstruktion verwendet werden. Zweitens wird die reflexive Bildung in digitalen Kulturen durch ein Identitätsverständnis unterstützt, dass sich von den problematischen Vorstellungen kulturell homogener oder nationalstaatlicher Identitätscontainer ebenso löst wie von der Idee einer statischen Identität. Erst ein prozesshaft gedachter Identitätsbegriff (vgl. z. B. Zifras, 2010) sowie hybride und fluide Konzeptionen von Identität (Bhabha, 1994) erlauben einen kritischen und spielerischen Umgang mit Selbst- und Fremdverortungen in sozialen Medien, das Dekonstruieren von vermeintlich Identität erklärenden, verkürzten Kategorien wie Nation, Ethnizität oder Kultur (vgl. Pichler et al., 2021, S. 13). Ein Hinterfragen der angenommenen Homogenität der Bezugsgruppe sowie vermeintlicher „Andersartigkeit“ und eine konstruktivistische Perspektive auf Identitäten ermöglichen, dass sich Migrationserfahrungen in natio-­ ethno-­kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten ausdrücken können (Mecheril et al., 2010). Eingebettet sind Identitätsfindungsprozesse von Jugendlichen aktuell in gesellschaftliche und technologische Entwicklungen, die Barnett als Phänomene der Superkomplexität (vgl. Barnett, 2012) und Vertovec als Superdiversität (vgl. Vertovec, 2007) beschreiben. Der mögliche Eindruck einer neuen Unübersichtlichkeit wird verstärkt durch globale Krisen in einer globalisierten multipolaren Welt mit ungleichen Machtstrukturen (Weber, 2015; Bergmeister et al., 2017). Gleichzeitig beobachten wir einen durch Digitalisierung und neue mediale Kanäle beförderten Bedeutungsverlust klassischer nicht partizipativer Medien, eine damit einhergehende „Fragmentierung von Öffentlichkeit“ (van Dyk, 2017, S. 356) und eine Krise herkömmlicher Erklärungs- und Deutungsmuster (vgl. Hintermann et al., 2021). Im Rauschen des medialen Überangebots an Kanälen und im Nebeneinander konkurrierender Narrative verändert sich entsprechend auch die Wahrnehmung von Faktizität und Glaubwürdigkeit. Wobei die Wirkmächtigkeit und Rolle von Medien gerade im postfaktischen Zeitalter (Keyes, 2004) nicht unterschätzt werden sollte. Eine im thematischen Kontext besondere Rolle kommt dabei der Algorithmizität als zentrales Merkmal einer Kultur der Digitalität (Stalder, 2018) zu, denn die in sozialen Plattformen und Netzwerken hinterlegten Algorithmen fördern das Entstehen von Filterblasen und Echokammern (vgl. Pariser, 2012). In diesen werden eigene Sichtweisen laufend verstärkt, kontroverse Positionen weitgehend ausgeblendet, einfache Erklärungsmuster für komplexe Probleme unter weitgehend Gleichgesinnten verbreitet (Nassehi, 2016). Daraus erwachsende Effekte verstärken die Polarisierung gesellschaftspolitischer Kontroversen und tragen in weiterer Folge zur fortschreitenden Spaltung von Gesellschaften (vgl. Mecheril et al., 2010; Bauriedl, 2009) bei. Zusätzlich stellen die skizzierten technologischen Möglichkeiten die Voraussetzung für auf Individuen abgestimmte politische Agitation und Manipulation mittels sozialer Medien dar. Populist*innen eröffnen sich durch die Technologie und Reichweiten der „Radikalisierungsmaschinen“ (Ebner, 2019) Foren zur Dis-

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kreditierung von Qualitätsjournalismus als „Systemmedien“ oder „Fake News“ und zur Etablierung eigener „alternativer“ Informationskanäle für bestimmte Zielgruppen. Gleichzeitig können die vielfältigen Kanäle der Information und Repräsentation als Chance partizipativer Aushandlungen sowie als Möglichkeiten der individuellen Aufklärung, Emanzipation und Mündigkeit interpretiert werden. Eingebettet in diese gesellschaftlichen und technologischen Veränderungsprozesse informieren und positionieren sich nun Jugendliche, konstruieren und adaptieren fortlaufend ihre Vorstellung von Identität(en) (vgl. Pichler et al., 2021). Aus den skizzierten Gründen lässt sich ein Bildungsauftrag für den Geographieunterricht ableiten, der darauf abzielt, die Wirkungen digitaler Kulturen sowie speziell der Algorithmizität zu bearbeiten und zu reflektieren. Dies lässt sich auch mit den Anliegen der politischen Bildung sowie einer kritischen Medienbildung verknüpfen und argumentieren.

25.3 MiDENTITY – Identitätskonstruktionen in digitalen Kulturen mit Jugendlichen erforschen 25.3.1 Projektziele – Forschungs- und Bildungsprojekt zugleich Das zwischen 2017 und 2019 durchgeführte Forschungs- und Bildungsprojekt MiDENTITY verfolgte drei Hauptziele: Erstens sollten Selbstverortungen und Zuschreibungspraxen von Wiener Schüler*innen der Sekundarstufe II erfasst und analysiert werden, auch ihre Konstruktionen und Inanspruchnahmen realer und virtueller Räume wurden dabei erhoben. Darauf aufbauend sollte zweitens Schüler*innen die Konstruiertheit und Veränderbarkeit der eigenen Identität(en) erfahrbar gemacht werden, um damit Handlungsspielräume für alternative Identitätskonstruktionen abseits verkürzender räumlich-kultureller Kategorien zu eröffnen. Drittens zielte das Projekt auf die kritische Reflexion und Analyse der Einflüsse von Aushandlungsprozessen in (sozialen) Medien auf eigene Positionierungen, Selbstverortungen, Fremdzuschreibungen und damit in Zusammenhang stehende soziale Praktiken. Dies beinhaltete den analytischen Blick auf die Mechanismen, Macht und Effekte von Radikalisierungsmaschinen, Algorithmen, Filterblasen, Echokammern, Plattformen und die damit verbundene Schulung kritischer (geographischer) Medienkompetenz (Hintermann et al., 2020).

25.3.2 Forschungsdesign Die Umsetzung des Projektes war in drei Phasen konzipiert und kann als Methodentriangulation (vgl. Flick, 2011) beschrieben werden. In der ersten Phase wurde im Schuljahr 2017/18 die quantitative Erhebung Wien-weit mittels eines an alle 230 Schulen der ­Sekundarstufe II gesendeten Online-Fragebogens durchgeführt. 1372 vollständig ausgefüllte Fragebögen konnten für die Auswertung berücksichtigt werden (1,7 % der Grund-

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gesamtheit der Schüler*innen). Inhaltlich zielte der Fragebogen auf die Erfassung räumlicher Zugehörigkeitsgefühle und Marker von Ingroup-Definitionen (Wie definiert sich die eigene Gruppe und wer gehört wie und warum dazu?) entlang von vier Dimensionen sozialer Identität (kognitive, evaluative, emotionale und performative Dimension).1 Analog dazu wurden auch Marker für Outgroup-Definitionen erhoben sowie eventuelle stereotype Denkweisen und Intergroup-Bias, also das Bevorzugen der Mitglieder der eigenen In­ group gegenüber jenen der Outgroup. Im Zentrum der zweiten Projektphase standen acht Gruppendiskussionen an drei Projektschulen,2 in denen 79 Schüler*innen der drei Projektklassen Gruppenzugehörigkeiten und Identitätszuschreibungen aushandelten sowie Marker für räumlich-kulturell definierte Zugehörigkeiten diskutierten. Die Gruppendiskussionen dienten in mehrfacher Weise „als Korrektiv zur Fragebogenerhebung“ (Lamnek & Krell, 2016, S. 389): Einmal, weil damit auch Perspektiven und Überlegungen der Schüler*innen eingebracht werden konnten, die abseits der Wahrnehmung durch die Wissenschaftler*innen liegen. Zudem konnten dadurch „kollektive Orientierungsmuster“ (ebd., S. 401 ff.) ermittelt werden, die aus Individualdaten nicht ableitbar sind. Von einem Bildimpuls ausgehend (vgl. Hintermann et al., 2021, S. 84), der eine Ansammlung möglicher Identitätsbausteine zur Auseinandersetzung anbot, diskutierten die Jugendlichen zwischen 60 und 90 min darüber, was Identität, Kultur, Nationalität oder auch Religion für sie bedeuten. Sie tauschten sich auch darüber aus, welche Aspekte sie für ihre eigenen Identitätskonzeptionen als wichtig erachten, wie sie ihre Zugehörigkeiten zu Gruppen zum Ausdruck bringen und sich von anderen Gruppen abgrenzen. Zudem wurden Fragen nach der (gesellschaftlichen) Bewertung sowie der Legitimation bestimmter Gruppen debattiert sowie die Bedeutung sozialer Medien im Kontext von Identitätskonstruktionen im Leben der Jugendlichen thematisiert. Alle Gruppendiskussionen wurden aufgenommen, transkribiert sowie mittels dokumentarischer Methode (Bohnsack, 2013) ausgewertet. Im Zentrum der dritten Projektphase stand die partnerschaftliche Zusammenarbeit von Wissenschaftler*innen, Schüler*innen und Lehrer*innen, die sich an den Grundsätzen der Participatory Action Research (Reason & Bradbury, 2008) orientierte. Schüler*innen untersuchten dabei einen Ausschnitt ihrer sozialen Wirklichkeit, konkret ihre eigenen Praxen des Medienhandelns, mit dem Ziel, dieses weiterzuentwickeln und (gesellschaftliche) Veränderung anzustoßen. Im Rahmen einer Workshopreihe erprobten sie eine vereinfachte Methode der kritischen Medien- bzw. Diskursanalyse (vgl. Jäger, 2015) mit dem Ziel, mediale Produktionen und Repräsentationen sowie deren mögliche Wirkungen untersuchen zu können (vgl. Hintermann et al., 2021). Dafür wurden fremde Medienprodukte mittels einer für den Schulzusammenhang adaptierten und sich am Circuit of Culture (du  Eine ausführlichere Beschreibung des Fragebogens sowie die theoretische Grundlegung der Items finden Sie bei Hintermann et al. (2021, S. 21–23), die Dimensionen sozialer Identität beziehen sich auf Leszczensky & Gräbs (2015). 2  Je eine Allgemeinbildende Höhere Schule, eine Handelsakademie sowie eine Höhere Technische Lehranstalt. 1

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Abb. 25.1  OURidentitity  – Identitätsdimensionen der Schüler*innen, MiDENTITY-Tag 2018 (Hintermann et al., 2018)

Gay et  al., 1997) orientierenden kritischen Medien- bzw. Diskursanalyse untersucht. Dabei kuratierten die Jugendlichen selbst gewählte Medienausschnitte, versahen diese mit Titeln sowie Kommentaren, verknüpften die einzelnen Beiträge zu einer Storyline mit einem roten Faden. Diese Storys wurden anschließend medienanalytisch bearbeitet. Im Rahmen des zweiten Workshops wurde das eigene Medienhandeln der Jugendlichen transparent gemacht (Medientagebuch, Mein idealer Medientag), Effekte des Agierens in partizipativen Medien analysiert (analoges Liken und Disliken) sowie das Wechseln zwischen unterschiedlichen Identitäten in unterschiedlichen sozialen Kontexten reflektiert (vgl. Hintermann et al., 2021, S. 85–90). Der abschließende dritte Workshop bot das Forum, die für Schüler*innengruppen aus ihrer Sicht wichtigsten Erkenntnisse in selbstgewählten Produkten zu verarbeiten und einer außerschulischen Öffentlichkeit zu präsentieren (vgl. Pichler et al., 2021, siehe Abb. 25.1).

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25.4 „Also, ein Account spiegelt ja meine Identität wider“:3 Ausgewählte Projektergebnisse Im Folgenden werden aus der Fragebogenerhebung und den Gruppendiskussionen die Vorstellungen der Jugendlichen von Identität dargestellt sowie jene Ergebnisse diskutiert, die den Zusammenhang zwischen Identitätskonstruktion und alltäglicher Medienpraxis herstellen.

25.4.1 „Also das, was man im täglichen Leben einfach so macht“:4 Identitätsverständnisse der Schüler*innen Mit den einleitenden Impulsfragen „Was bedeutet Identität für euch?“ und „Was versteht ihr unter Identität?“ wurde in den Gruppendiskussionen versucht, die gemeinsamen und unterschiedlichen Vorstellungen, Definitionen und Konzepte von Identität herauszuarbeiten. Von den Diskutierenden wurden dabei unterschiedliche Aspekte persönlicher und kollektiver Identität angesprochen, wobei die persönliche Identität quasi als der je eigene „Identitätsfingerprint“ interpretiert wurde, mit spezifischen Charaktereigenschaften, Hobbies oder individuellen Leistungen (vgl. Mitmasser, 2021). Kollektiv geteilt wurde die Ansicht, „dass die Aushandlung der eigenen Identität nur durch die Interaktion mit dem sozialen Umfeld erfolgen kann“ (Mitmasser, 2021, S. 161). Dabei wurde der Familie und den Peergroups die wichtigste Rolle zugeschrieben. „Ich finde, zur Identität von Menschen zählen halt die Werte und ahm, aber auch die Errungenschaften, die er erzielt hat, weil das formt uns, das formt auch unsere Identität. Und, ahm, ich denk die frühe Kindheit macht extrem viel aus … bis zur Volksschule machen die Eltern extrem viel aus und ab dann halt auch die äußeren Einflüsse von Mitschülern und anderen Leuten, die man halt so trifft.“ (SZU_CM_VK_#00:01:20-4#)

Aspekte von Gruppenzugehörigkeiten wurden auf unterschiedlichen inhaltlichen Ebenen diskutiert. Zum einen wurden Marker der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen besprochen, wie ein bestimmter Style (z. B. das Tragen von Markenkleidung) oder bestimmte Handlungen (z. B. rauchen oder nicht rauchen), wobei diese Ausdrucksformen von manchen selbstverständlich gelebt, von anderen hingegen stark kritisiert und hinterfragt wurden. Zum anderen wurden ethno-natio-kulturelle Zugehörigkeiten thematisiert und abhängig von den biographischen Erfahrungen der Schüler*innen als zentrale Identitätselemente definiert. Die Idee, in bestimmte nationale Kulturen hineingeboren zu werden, mit denen bestimmte Werte und Normen einhergehen, wurde dabei vor allem von jenen Dis Quelle: SZU_CH_MF_#01:20:02-9#. Die Quellenangaben zu Zitaten aus den Gruppendiskussionen sind wie folgt zu lesen: Schule_Moderator*in_Protokollverfasser*in_Zeitpunkt der Äußerung. 4  Quelle: SZU_VM_CK_11_#00:02:29-2#. 3

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kutierenden vertreten, die starke nationalstaatliche Bindungen zum Ausdruck bringen wollten. Wobei Konsens darüber bestand, dass ethno-natio-kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten und nationalstaatliche Bindungen einander nicht ausschließen. „Ich würd sagen, ich bin ein Österreicher auch, weil ich hab die österreichische Staatsbürgerschaft, ich lebe in Österreich, also ich spreche auch Deutsch, aber ich würde auch erwähnen, dass ich kroatische Wurzeln hab, zum Beispiel. Weil ich finde, das ist wichtig und das macht mich aus.“ (SZU_CM_VK_#00:49:43-1#)

Dies wird auch durch Ergebnisse der Fragebogenerhebung bestätigt, wo rund 62 % der Befragten angegeben haben, sich mit mehr als einem Nationalstaat zu identifizieren, wobei sich Österreich generell als wichtigerer Identifikationsort herausgestellt hat als andere genannte Nationalstaaten.

25.4.2 „… du wirst halt beeinflusst, dadurch“:5 Bedeutung sozialer Medien für Identitätskonstruktionen Die Bedeutung sozialer Medien bei Identitätsbildungsprozessen von Jugendlichen wurde sowohl im Rahmen der Fragebogenerhebung als auch in den Gruppendiskussionen erfasst bzw. diskutiert. In der quantitativen Erhebung wurde die Rolle sozialer Medien in vier Fragen direkt angesprochen, in denen Handlungen, Verhaltensweisen oder „Styles“ erhoben wurden, durch die Jugendliche Eigenverortungen oder Gruppenabgrenzungen vornehmen und ausdrücken. Als Teil dieser identitätsstiftenden Handlungen wurde auch die Bedeutung von Profilen auf sozialen Medien abgefragt. Wie aus Tab. 25.1 ersichtlich wird, wurde dem Tragen bestimmter (Marken-)Kleidung die größte Bedeutung zugeschrieben, um Zugehörigkeit zu einer Gruppe auszudrücken. An zweiter Stelle wurde das Tragen von Tracht bei Festen gereiht, gefolgt von der Bedeutung von Profilen in sozialen Medien mit insgesamt 42 % Zustimmung. Dabei lässt sich auch ein statistisch signifikanter (p = 0,000), wenn auch sehr geringer Zusammenhang (r = −0,131) zwischen der Bedeutung der Profile in sozialen Medien und einer räumlichen Mehrfachverortung der Jugendlichen erkennen. Während das Tragen nationaler oder religiöser Symbole für die Selbstverortung eine vergleichbar geringere Rolle spielte, wurden diese Kategorien am häufigsten genannt, wenn es um Differenzmerkmale zwischen eigenen und anderen Gruppen geht. Auch der Gestaltung eines Profils auf sozialen Medien wurde eine Rolle bei der Abgrenzung zugesprochen, rund jede*r zweite Befragte stimmte der Aussage zu, dass sich Menschen, die nicht zur eigenen Gruppe gehören, eben dadurch unterscheiden. Gruppenzugehörigkeit wird nicht nur durch Stilelemente zum Ausdruck gebracht, auf der performativen Ebene sind alltägliche Verhaltensmuster oder konkrete Handlungen bedeutsam. Für die Jugendlichen in der Stichprobe war eine gemeinsame Sprache/Ausdrucksform eines der wichtigsten Instrumente, um Gruppenzugehörigkeit zu leben 5

 Quelle: HAK10_CH_MF_#00:53:35-5#.

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Tab. 25.1  Ausdruck der Gruppenzugehörigkeit über „Style“ und „Verhalten und Handlungen“ (a Auf Basis von MiDENTITY-Fragebogenerhebung 2017; n = 1372)

Ausdrucksformen für Gruppenzugehörigkeiten Style Bestimmte Markenkleidung Tracht bei Festen Profil in sozialen Medien Tragen nationaler Symbole Tragen religiöser Symbole Verhalten und Handlungen

Gemeinsame Sprache Abhängen mit Freund*innen Ausgehen in bestimmte Lokale Hören bestimmter Musik Teil von bestimmten Gruppen in sozialen Medien sein

Gruppen Ingroup Outgroup Ingroup Outgroup Ingroup Outgroup Ingroup Outgroup Ingroup Outgroup Ingroup Outgroup Ingroup Outgroup Ingroup Outgroup Ingroup Outgroup Ingroup Outgroup

Zustimmungsgrad zu Items in Prozent* ++   +   −  −− 17,8 33,2 24,8 24,2 11,1 36,5 29,5 22,9 15,1 28,9 24,6 31,4 12,8 34,6 28,3 24,3 10,2 31,8 28,0 30,0 10,6 38,5 28,4 22,5 11,7 22,1 29,5 36,7 10,8 38,7 28,6 21,9 9,7 17,3 23,4 49,6 13,7 36,9 28,0 21,4 31,5 44,0 16,7 7,8 22,7 35,6 25,5 16,2 26,4 52,0 15,0 6,6 11,4 27,7 31,9 29,0 23,1 41,4 22,0 13,5 18,8 34,2 24,9 22,1 25,9 45,1 20,1 8,9 19,1 38,6 24,8 17,5 9,2 34,7 30,7 25,4 10,1 37,1 28,9 23,9

(Tab.  25.1). Ebenso bedeutsam erschienen die Items „Abhängen mit Freund*innen“, „Ausgehen in bestimmte Lokale“ und „Hören von bestimmter Musik“. Im Vergleich zu diesen Verhaltensmustern und Handlungen wurde die Möglichkeit, sich mit einer bestimmten Gruppe in sozialen Medien zu identifizieren, von den Jugendlichen weniger stark gewichtet. Für sich genommen kann der Zustimmungswert von rund 45 % aber auch als bedeutsames Element der Identitätskonstruktion interpretiert werden. Es kann davon ausgegangen werden, dass dieser Wert durch die Coronapandemie und die damit gestiegene Bedeutung virtueller Lebenswelten weiter zugenommen hat (vgl. mpfs, 2020). Dazu passende Ergebnisse lieferten auch die Gruppendiskussionen in den Projektklassen. Soziale Medien wurden dabei von Schüler*innen als Sammelbecken Gleichgesinnter interpretiert, in dem sie sich entsprechend bewegen, unabhängig davon, ob die ­Gruppenmitglieder persönlich bekannt sind wie bei WhatsApp-Gruppen von Schulklassen oder nicht, wie im Falle von Spielen, wo Millionen von Menschen weltweit zur eigenen Community gezählt werden. Zudem waren sich die Schüler*innen, die sich diesbezüglich geäußert (bzw. nicht widersprochen) haben, im Klaren darüber, dass geteilte Inhalte oder die Selbstrepräsentation an die erwartete Wirkung in der Gruppe angepasst werden. So wurden zwar Social-­Media-­Profile,

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(Dis)Likes oder Comments als Ausdruck der eigenen Identität interpretiert, gleichzeitig waren sich die Jugendlichen bewusst, dass über soziale Medien auch ein Spiel mit Identitätsbausteinen stattfindet, die nicht immer der Realität entsprechen müssen. Ein*e Schüler*in brachte die Möglichkeiten der Selbstdarstellung in sozialen Medien auf den Punkt: „Du kannst selber entscheiden, was du hinschreibst“ (SZU_CH_MF_#01:22:03-5#). Gleichzeitig sahen sie darin die Möglichkeit, jenseits des physischen Aktionsradius im virtuellen Raum mit Personen in Kontakt zu treten, die ähnliche Interessen verfolgen wie sie selbst. Ein dritter Aspekt, der von den Jugendlichen im Kontext von sozialen Medien und Identitätskonstruktion diskutiert wurde, ist die Frage der Beeinflussung der eigenen Persönlichkeitsentwicklung, des eigenen Verhaltens und eigener Handlungen durch soziale Medien. Unter den Diskutierenden herrschte Einigkeit darüber, dass sie davon wahrscheinlich auch persönlich betroffen sind. Je nach konkretem Kontext wurde dieser Einfluss als neutral interpretiert („Du wirst halt beeinflusst …“), in bestimmten Fällen auch als manipulativ zum Beispiel in den Bereichen des Konsumverhaltens, der viralen Verbreitung von Desinformation oder der Radikalisierung. „[…] in Wirklichkeit, du wirst immer beeinflusst. Zum Beispiel, wenn jetzt eine Person was postet, was ihr urgefällt, was er anhat, oder keine Ahnung, dann denkst du dir, okay, ich will das auch haben. Ist ja nichts Negatives, aber du wirst halt beeinflusst dadurch.“ (HAK10_ CH_MF_#00:53:35-5#)

25.4.3 „Man konnte sehen, was Likes und Dislikes eigentlich bewirken können“6: Reflexion des eigenen Medienhandelns Aussagen aus den Projektreflexionen der teilnehmenden Jugendlichen zeigen, dass die kritische Reflexionsfähigkeit einzelne Schüler*innen in Hinblick auf den Zusammenhang zwischen ihrem Medienhandeln und ihrer Identitätsbildung geschärft wurde. Dies wurde vor allem durch Interventionen wie dem analogen Liken und Disliken von Medienausschnitten, dem Kuratieren von Stories in einer geschlossenen Facebook-Gruppe und dem anschließenden Analysieren mit Hilfe der kritischen Medienanalyse gefördert (vgl. Raithofer et al., 2022). Besonders eindrucksvoll war für die Schüler*innen, dass sie sich durch das Anlegen eines Medientagebuches selbst vor Augen geführt haben, wie ­intensiv ihr Tagesablauf in Schule und Freizeit mit beinahe permanenter Mediennutzung verwoben ist. Drei Tage bis zu einer Woche dokumentierten sie in einer analog oder digital gestalteten Tabelle (Tab. 25.2) ihr Medienhandeln, das konkrete Medium,7 die Nutzungsdauer sowie eine Reflexion der medial verbrachten Zeit. Die teilweise parallellaufenden medialen Aktivitäten beliefen sich – in der Vor-Coronazeit – auf täglich zwischen 6 bis 13 h (vgl. Pichler et al., 2021).  (Feedback 13).  Gearbeitet wurde im Projekt mit einem offenen Medienbegriff, der sowohl analoge als auch digitale Medien miteinschloss. 6 7

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Tab. 25.2  Medientagebuch eine*r 16-jährigen Schüler*in (erstellt im Rahmen des MiDENTITY-Projektes 2017/18) Tag 3 Medium (analog oder digital) Spotify Snapchat YouTube Instagram Playstation Google

Nutzungsdauer 2 ½ h 1 h 5 h 30 min 2 h 10 min

Reflexion Hintergrund Ziemlich in Ordnung Definitiv übertrieben Ganz ok Na ja, ein wenig übertrieben Recherche & Neuigkeiten

Als Projektabschluss konzipierten die Jugendlichen in Gruppen Interventionen zur Vermittlung ihrer zentralen Erkenntnisse aus dem Projekt und reflektierten dabei ihr eigenes Medienhandeln bzw. die Wirkungen von (sozialen) Medien auf die eigene Identitätsentwicklung. Die Vielfalt der kreativen Ideen, die bei einer schulübergreifenden Abschlussveranstaltung an der Universität Wien präsentiert wurden, reichte von Interviews, Interventionen im öffentlichen Raum bis hin zu selbsterstellten Videos zu Themen wie Mobbing, Gruppenzwang bei Positionierungen zu kontroversen Themen, über scheinbare Grenzen von Herkunft, Religion und Kultur hinweggehende Freundschaft oder ein inszeniertes Fußballspiel zwischen dem Sportclub-Fake-News und dem Sportverein MiDENTITY (vgl. Hintermann et al., 2018).

25.5 Fazit: Thesen zur Analyse des Themenfeldes Identitätskonstruktion in digitalen Kulturen Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass partizipative Medien eine wachsende Bedeutung bei der Aushandlung von Identitäten sowie bei der Fremd- als auch der Selbstverortung von Jugendlichen spielen. Folglich gilt es, sowohl in der Forschung als auch in der Gestaltung von Schulunterricht vermehrt das Augenmerk auf diese medialen Aushandlungsprozesse zu richten. Aus den Erfahrungen und Ergebnissen des Projekts können folgende Thesen für die Analyse jugendlicher Identitätskonstruktionen mit besonderem ­Fokus auf die Bedeutung der sozialen Medien sowie der dort transportierten Wirklichkeitsbilder im Unterricht abgeleitet werden (vgl. Pichler et al., 2021): • Als ein wichtiges Ziel einer kritischen Medienbildung sollte die Mündigkeit im Umgang mit digitalen Kulturen betrachtet werden (vgl. Dorsch & Kanwischer, 2020). Dies verschiebt den Fokus von klassischen Bildungsmedien sowie einem Lernen über Medien auf ein Lernen in und mit jenen Medien, die jeweils von Jugendlichen in ihrem Alltag verwendet werden. • Mit dem Blick auf geographische Bildung können dabei Perspektiven der politischen Bildung mit der kritischen Medienbildung verknüpft werden, um Critical Geographic Media Literacy (Hintermann et al., 2020; vgl. Lukinbeal, 2014) zu fördern.

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• Partizipative Forschungskonzeptionen und Schulprojekte erscheinen zur Analyse und Reflexion des eigenen Medienhandelns als Teil von Identitätsbildungsprozessen besonders geeignet, da sie partielle Einblicke in mediale Handlungsräume von Jugendlichen eröffnen, auf die Forscher*innen und Lehrpersonen üblicherweise keinen Zugriff haben. Dabei sollten die von Hopkins et al. (2017) formulierten ethischen Richtlinien für die Zusammenarbeit mit Jugendlichen in Forschungsprozessen beachtet werden. • Zur Sichtbarmachung, Analyse und Dekonstruktion der Effekte des eigenen Medienhandelns in digitalen Kulturen sowie für den Bereich der Identitätsarbeit braucht es speziell für den Schulkontext vereinfachte Instrumente der kritischen Medienanalyse (vgl. Hintermann et al., 2020). • Als Setting des konstruktiven Austausches und der Aushandlung von Fragestellungen rund um das Thema Identität hat sich die wissenschaftliche Methode der moderierten Gruppendiskussion auch im Schulkontext äußerst bewährt. Im Frühjahr 2021, drei Jahre nach Projektabschluss, wurde eine teilnehmende Klasse unmittelbar vor ihrem Schulabschluss in Form einer offenen Frage um ein Feedback zu den Highlights der Schulbildung der Sekundarstufe II gebeten. Etwa ein Drittel der Absolvent*innen führte dabei explizit MiDENTITY als eine der interessantesten, wichtigsten Lernerfahrungen mit Langzeitwirkung an. Auch dies kann als Hinweis für die Bedeutung weiterer zukünftiger Forschungs- und Bildungsarbeit zu Identitätskonstruktionen in digitalen Kulturen gelesen werden.

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Perspektive 9

Geographische Bildung in digitalen Kulturen berücksichtigt die Möglichkeiten der kollaborativen Gestaltung digitaler geomedialer Lernumgebungen mittels Open Educational Resources (OER), um offene Lehr-Lerngemeinschaften voranzubringen. Kap. 26: Basiskommentar Welche Praxis im Umgang mit offenen Bildungsressourcen (OER) möchten wir in Zukunft haben? Diese Frage verdeutlicht, dass es nicht darum geht, ob wir OER entwickeln und anwenden, sondern wie wir die OER im Lerngeschehen einbinden. Hierbei rücken Fragen nach pädagogischen Überzeugungen und Prinzipien und den damit einhergehenden Organisationsformen von Bildungsprozessen in den Mittelpunkt. Kap. 27: Good-Practice-Beispiel Das Leben in einer digitalen Wissensgesellschaft erfordert einen kriteriengeleiteten, reflektierten Umgang mit immensen Datenfluten, wobei offene Lehr-Lern-Gemeinschaften ein erster Schritt sein können. So nimmt dieses Kapitel aus einer stärkenorientierten Per­ spektive in der geographi(edidakti)schen Vermittlung etablierte OER in den Blick. Ziel ist es, Bewährtes zu benennen und Vielversprechendes zu erkennen. Kap. 28: Forschungsbeitrag Offene Bildungsressourcen (OER) dienen keinem Selbstzweck, sondern fokussieren immer einen spezifischen Lerngegenstand. Insbesondere im Kontext formaler Bildung sind sie daher stets als Teil des fachlichen Lehr-Lernarrangements zu betrachten. Doch welche Anforderungen an die Qualität von OER zur Gestaltung fachlicher Lernumgebungen ergeben sich daraus? Antworten liefert das DiGeo-Verbundprojekt.

„Come in: We’re open“ Zur Theorie und Praxis offener Bildungsressourcen in der geographischen Bildung

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Detlef Kanwischer und Uwe Schulze

Zusammenfassung

Die Diskussion über Open Educational Resources (OER) hatte ihren Ausgangspunkt Ende der 1990er-Jahre im Zuge der Open-Access- und Open-Source-Bewegungen und war von Anfang an mit der Diskussion um die Entwicklung von Open Educational Practices (OEP) verknüpft. Die theoretischen und praktischen Konzeptionalisierungen von OER und OEP, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten entwickelt haben, sind sehr unterschiedlich. Das Spektrum reicht von der Entwicklung von freien Bildungsmaterialien über den Aufbau von förderlichen Rahmenbedingungen des Lernens bis hin zu einer Erweiterung individueller und kollektiver Handlungs- und Erfahrungsspielräume im Lerngeschehen. Dieses Kapitel führt in die Debatte um OER und OEP ein, die als Gegenentwurf zu bislang institutionell und technisch geschlossenen Lernumgebungen für eine sich anbahnende neue Lernkultur offener und individuell adaptierbarer Lernressourcen und Lernarrangements stehen. Schlüsselwörter

Open Educational Resources (OER) · Open Educational Practice · Lernumgebungen · Lernkultur · Lernressourcen

D. Kanwischer (*) · U. Schulze Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_26

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D. Kanwischer und U. Schulze

26.1 Einleitung Als Teil der Open-Source-Bewegung verkörpern Wikis wie keine andere Technologie die Aufbruchsstimmung der frühen Internetbewegung, die mit den Schlagworten Offenheit, Transparenz, Dezentralität, Hierarchie- und Kommunikationsfreiheit verbunden war. Dies wird besonders am Beispiel von Wikipedia deutlich, die am 15. Januar 2021 ihren 20. Geburtstag gefeiert hat. Im Zuge der Geburtstagsfeierlichkeiten wurden viele Berichte verfasst, welche die offenen, nicht kommerziellen, partizipativen, neutralen und gemeinnützigen Strukturen hervorhoben.1 Benutzer*innen können Informationen nicht nur kostenlos abrufen, sondern auch die Diskussionen, die beim Verfassen des Artikels geführt werden, nachvollziehen oder sogar Versionen zurücksetzen und Beiträge überwachen oder selbst verfassen. Gleichzeitig muss an dieser Stelle aber auch erwähnt werden, dass Wikipedia eine mitunter verzerrte Perspektive auf die Welt präsentiert, da Informationen einerseits insbesondere von weißen und männlichen Wikipedianern aus der westlichen Welt produziert werden und es andererseits bei der Generierung von Informationen auch zu sogenannten Edit-Wars (Bearbeitungskriegen) kommt (Osborne et al., 2021). Gleichwohl wurden mit der Entwicklung der Wiki-Technologie die technischen Grundlagen für Open Educational Resources gelegt. Auf der rechtlichen Ebene wurden zeitgleich die Creative-­ Commons-­Lizenzen entwickelt, mit denen Autor*innen auf eine einfache Weise Nutzungsrechte für Werke definieren, die unter das Urheberrecht fallen. Auf der Ebene der Lernmaterialien gilt das Massachusetts Institute of Technology (MIT) als ein Pionier im Bereich der OER-Entwicklung, da es schon 2001 im Rahmen seiner OpenCourseWare-­ Initiative Lernmaterialien und Konzepte von Lehrveranstaltungen über das Internet verfügbar gemacht hat. 2008 hat sich das OpenCourseWare Consortium gegründet. Dieser Zusammenschluss von Hochschulen wurde mittlerweile in Open Education Consortium umbenannt, hat fast 250 Institutionen als Mitglieder gelistet und stellt ca. 100.000 Lernund Kursmaterialien aus dem Bereich Hochschule zur freien Verfügung (vgl. www.oeconsortium.org). Im Zuge der universitären OER-Bewegung wurden in den letzten Jahren Initiativen ins Leben gerufen, die den schulischen Bereich adressieren. 2014 wurde z. B. das Whitepaper „Open Educational Resources (OER) für Schulen in Deutschland 2014“ veröffentlicht, das einen Überblick zu Grundlagen, Akteur*innen und Entwicklungen vorstellte (Muuß-­ Merholz & Schaumburg, 2014). Mittlerweile gibt es eine Reihe von Initiativen und Webseiten, die ausführlich über den Stand der Entwicklung informieren, OER-Materialien veröffentlichen und Suchmaschinen zur Verfügung stellen, die es ermöglichen, freie Bildungsmaterialien für den Unterricht zu sammeln, zu finden und mit anderen zu teilen. Beispiele hierfür sind:

 Siehe z. B. https://www.wikimedia.at/presse/medienspiegel/medienspiegel-2021/ und https://www. dw.com/de/20-jahre-wikipedia-acht-dinge-die-es-zu-wissen-lohnt/a-56209000 (letzter Zugriff jeweils 21.07.2021). 1

26  „Come in: We’re open“

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• www.edutags.de • www.bildungsserver.de/OER-­im-­Schulbereich-­10854-­de.html • www.open-­educational-­resources.de Generell wird den OER die Rolle eines „Game Changers“ im Bildungsbereich zugeschrieben (vgl. Wiley & Green, 2012; Butcher & Hoosen, 2014). Dies bezieht sich nicht nur auf Aspekte, die die Zugänglichkeit, Verbreitung und Aktualisierung von Bildungsmaterialien betreffen, sondern auch darauf, welche konkreten Praktiken im Vermittlungsprozess mit der Nutzung von OER einhergehen. Vor diesem Hintergrund wurden OER von Beginn an als ein Teil von offenen Bildungspraktiken angesehen. Die Ausprägungen von OER und die Konzeptionalisierungen von OEP sind sehr unterschiedlich. Daher werden wir uns im nächsten Punkt den beiden Begriffen definitorisch annähern, bevor wir Chancen und He­rausforderungen diskutieren. Diese werden mittels eines geographischen Beispiels konkretisiert. Abschließend werden Implikationen diskutiert und zukünftige Entwicklungen in den Blick genommen.

26.2 OER und OEP: Eine begriffliche Annäherung Die Begriffe OER und OEP wurden in den letzten 20 Jahren umfangreich und teilweise ergebnisoffen in unterschiedlichen institutionellen, organisatorischen, technischen und pädagogischen Zusammenhängen diskutiert. Daher kann an dieser Stelle nur eine fragmentarische Skizzierung dieser Debatten erfolgen. Einen guten Einstieg in die definitorische Arbeit liefert Abb. 26.1 zu den „5V-­Freiheiten für Offenheit“, die anschaulich macht, was unter „offenem Inhalt“ i. S. v. Open Content im Kontext von OER und ihren urheberrechtlichen Nutzungsformen zu verstehen ist. Die UNESCO hat die OER-Initiative von Anfang an unterstützt und definiert den Begriff wie folgt: „Open Educational Resources können einzelne Materialien, aber auch komplette Kurse oder Bücher umfassen. Jedes Medium kann verwendet werden. Lehrpläne, Kursmaterialien, Lehrbücher, Streaming-Videos, Multimedia-Anwendungen, Podcasts – all diese Ressourcen sind OER, wenn sie unter einer offenen Lizenz veröffentlicht werden.“ (UNESCO, 2021, o. S.)

Eine erweiterte Definition ist unter Wikipedia zu finden, die neben Materialien auch Softwareprodukte wie Lernsysteme bzw. -werkzeuge berücksichtigt. Wie Schiefner-Rohs und Hofhues (2018) aus Perspektive der subjektorientierten Medienbildung in der Lehrkräftebildung argumentieren, sind OER nicht als isolierter medien- und materialbezogener Strang der aktuellen Digitalisierungsdebatte im Bildungsbereich zu betrachten, sondern vielmehr als Diskurs über die pädagogische Haltung zu offen lizenzierten Bildungsmaterialien und damit verbundenen Handlungspraktiken der Kooperation und des Teilens. Denn die dahinterstehenden sozialen und professionellen ­Wissensaspekte, Praktiken und Erfahrungen im Umgang mit Lernmedien bzw. der Ge-

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Abb. 26.1  Die 5V-Freiheiten für Offenheit (Informationsstelle OER, 2015)

staltung von OER „können nicht vermittelt werden, sondern bedürfen dem lebendigen Ausprobieren, der subjektiven Aneignung und dem Füllen mit Leben und persönlicher Relevanz“ (ebd., S.  69). Mit Blick auf die hochschulische Lehrkräftebildung sprechen Helbig und Lukács (2019, S. 118) auch von einem Kulturwandel im Sinne des offenen organisationalen Lernens bzw. von „Open Educational Practices als Prinzip von Organisationsentwicklung in Bildungskontexten“. Der hier angesprochene Kulturwandel hat eine lange Tradition in der Pädagogik. Weller et al. arbeiten mittels einer Zitationsanalyse die verschiedenen Diskussionsstränge heraus: „The eight distinct sub-topics within open education over the past four decades were identified as open access, OER, MOOCs, open educational practice, social media, e-learning, open education in schools and distance learning.“ (Weller et al., 2018, S. 121)

Diese Auflistung verwundert erst einmal nicht, was verwundert, ist die Tatsache, dass diese Diskussionstränge relativ wenig Überschneidungsbereiche bzw. Referenzierungen haben (vgl. ebd., S.  121  ff.). In eine ähnliche Stoßrichtung argumentiert auch Kerres (2019), der unterschiedliche Ansätze einer Öffnung im erziehungswissenschaftlichen Diskurs, wie z. B. Open Education, Open University, Open Educational Practices, Open Educational Resources, Open Access und Open Source, gegenüberstellt. Er kommt zu dem Ergebnis: „Jede Initiative zielt auf die Lösung eines spezifischen Problems. Inwieweit sie damit zu der Problemlösung einer anderen Initiative beiträgt, ist genauer zu prüfen“ (ebd.,

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S. 13). Diese Befunde verdeutlichen einerseits, dass Offenheit in der Bildung aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert wird, und andererseits in der Praxis vor dem Hintergrund einer spezifischen Problemstellung unter den beteiligten Akteur*innen auf den unterschiedlichen Ebenen als Aushandlungsprozess zu verstehen ist. Damit einhergehende Fragen der Relevanz dieser Aushandlungsprozesse für die Lehrkräftebildung werden nachfolgend skizziert.

26.3 OER: Chancen, Risiken, Herausforderungen Mit den aufgezeigten Attributen von OER (Abb. 26.1) sind sowohl Chancen und positive Erwartungshaltungen als auch Herausforderungen und Risiken für deren gelingenden Einsatz im fachlichen Lehr- und Lerngeschehen verbunden. Diese sind im Sinne der Zielgruppenspezifität stets differenziert zu betrachten, d.  h. in Abhängigkeit des jeweiligen Einsatzbereichs von OER für formale, non-formale und informelle Bildungsprozesse, der adressierten Bildungsebene (Schule, Hochschule, berufliche Aus-/Weiterbildung) sowie der Perspektive auf OER aus Sicht der Angebots- bzw. Nachfrageseite. Insbesondere der letzte Aspekt ist bedeutsam, weil OER eben nicht nur von Lernenden konsumiert bzw. nur von Lehrenden produziert werden (Abb. 26.1, Stufe 1 und 2), sondern aktiv für das Lehrund Lerngeschehen vor Ort im Sinne ihrer Prosumption durch die jeweiligen Akteur*innen individuell verändert, angereichert und weiterverbreitet werden können bzw. sollen (Abb. 26.1, Stufe 3 bis 5). Aus Sicht der deutschen OER-Bildungslandschaft und in Anknüpfung an die internationale empirische OER-Forschung lassen sich für die universitäre Lehrkräftebildung derzeit folgende allgemeine Erwartungshaltungen an OER benennen (Otto, 2019a, 2019b): • Grundsätzlich erleichterter sowie auch erweiterter Zugang zu Bildungsangeboten und -materialien • Ermöglichung und Förderung kollaborativer und partizipativer Lehr- und Lerngelegenheiten • Erwartete Skalen- und Synergieeffekte für das Lehr- und Lerngeschehen, z. B. Senkung von Materialkosten, Zeitersparnis bei der Unterrichtsvorbereitung durch kollegialen Austausch und Lehrkooperationen und damit verbunden • Verbesserung der Qualität von Bildungsprozessen in Bezug auf die Unterrichtsqualität und Lernleistung Demgegenüber stehen folgende zentrale Hindernisse und Herausforderungen (ebd.): • Erhöhte Anforderungen an die OER-Produktion bei gleichzeitigem Mangel an zeitlichen Ressourcen und technischem Wissen • Urheberrechtliche Unsicherheiten und Bedenken • Fehlende zentrale OER-Infrastrukturen, wie Repositorien zur Ablage und zum Finden von OER-Content

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D. Kanwischer und U. Schulze

Im Kontext dieser mehrheitlich strukturellen Bedingungen verweist Otto (2019a) hinsichtlich der Einstellungen der OER-Nutzung bei angehenden Lehrkräften zudem auf das Phänomen einer „typischen Intentions-Verhaltens-Lücke …. Obwohl die Einstellung der angehenden Lehrkräfte zu einer ‚Kultur des Teilens‘ im Allgemeinen und zum Konzept der OER im Besonderen positiv ist, zeigt die Verhaltenskomponente, dass OER selten aktiv in der Bildungspraxis eingesetzt werden.“ (ebd., S. 224)

Diese Feststellung bezieht sich nicht nur auf technische oder strukturelle Aspekte. Es wird auch deutlich, dass die mit dem OER-Einsatz verknüpften Aspekte wie selbstgesteuertes, kooperatives und kollaboratives Lernen, die gerade im Hochschulkontext relevant sind, sich im schulischen OER-Kontext für Lehrkräfte eher als schwierig erweisen. Das bedeutet, ohne eine wirksame curriculare sowie institutionelle Verankerung von OER als gelebte Handlungspraktik bereits in der Lehrkräftebildung im Sinne einer „OER-Routine“, welche die Werte, Ideen und Potenziale von OER zielgruppenorientiert adressiert und fördert, werden strukturelle, kontextuelle und individuell-affektive Barrieren und Hindernisse des späteren OER-Einsatzes in der Schule frühzeitig nicht abgebaut, sondern erst (!) aufgebaut. Zudem verweisen Zawacki-Richter und Mayrberger (2017) auf Basis ihrer Synopse internationaler Ansätze und Instrumente zur Qualitätssicherung von Online-­Lernmaterialien auf vier allgemeingültige Dimensionen der Qualität von OER: Inhalt (z. B. Korrektheit, Aktualität von Lerninhalten), didaktisches Design und Support (z. B. persönliche Betreuung, automatisches Feedback), Usability und Access (z. B. Zugänglichkeit, Metadaten) sowie Assessment (summativ/formativ). Aus der Perspektive von Bildungseinrichtungen im Allgemeinen sowie aus Sicht der universitären Lehrkräftebildung im Speziellen stellt sich in diesem Kontext die Frage, wie eine Qualitätsbewertung von OER durch (angehende) Lehrkräfte adäquat realisiert werden kann. An dieser Stelle öffnet sich somit der fachliche Blick auf das Thema. Schulze et al. (2020) haben für die Formatierung digitaler Geomedien als ein digitales Fachkonzept zur Förderung von Argumentation, Reflexion und Partizipation bei Lehramtsstudierenden der Geographie explorativ wesentliche Anforderungen an und Herausforderungen von OER und OEP herausgearbeitet. Zum einen zeigen sich dabei Überschneidungen bei strukturellen und technischen Aspekten, wie: • Zeitliche, personelle und finanzielle Ressourcenverfügbarkeit für die Verwaltung, Aktualisierung, Entwicklung und Validierung von OER • Schwierigkeiten beim Suchen und Finden von geeignetem fachlichem OER-Content • Qualitätsaspekte von geomedienbasierten OER-Lerninhalten i. S. v. Qualitätsstandards für deren Erstellung und Weiterbearbeitung • Individuelle Befähigung von Lehrkräften zur Produktion, Adaption und Weiterverbreitung von OER hinsichtlich technischen, fachlichen und fachdidaktischen Wissens • Verfügbarkeit adäquater technischer Strukturen und Zugänge für das Lerngeschehen • Digitale Barrierefreiheit, Benutzerfreundlichkeit und Gestaltungsorientierung und damit verbunden lerngruppenspezifische Differenzierung nach Studiengang und Schulform sowie Semesterzahl

26  „Come in: We’re open“

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Zum anderen werden konkrete fachliche Anforderungen für die Produktion OER-­basierter, geomedialer Lehr- und Lernmaterialien formuliert, bspw.: • Berücksichtigung geographischer Basiskonzepte und des geographischen „Raum-­ Bezugs“ • Fachlich adäquate Reduktion inhaltlicher und technischer Aspekte als konstruktivistische Gestaltungsaufgabe digitaler Geomedien im Sinne fachspezifischer Lehr- und Lernmedien (Vorwissen, Alltagsbezug, Schüler*innenvorstellung) • Adressierung fachspezifischer Arbeitsweisen bzw. Methoden sowie von (Geo-)Datenund Medienkompetenz Die fachspezifische Perspektive macht deutlich, dass es bei der Frage des Einsatzes und der Qualität Online-basierter, freier Lernmaterialien nicht nur um allgemeine technische, mediendidaktische und lizenzrechtliche Aspekte ihrer Nutzung, Weiterverarbeitung und Verbreitung geht, sondern dass OER stets auch in ihrem domänenspezifischen Kontext zu betrachten sind (vgl. Streitberger & Ohl, 2017). Und auch hier stellt sich die Frage, wie (angehende) Geographielehrkräfte die notwendige fachliche Reflexion über OER-­ Materialien konkret realisieren können.

26.4 Fazit und Ausblick Wir konnten aufzeigen, dass sich für die geographische Bildung an Schule und Hochschule durch die Adaption von OER und OEP neue Herausforderungen ergeben, die mit einigen Implikationen einhergehen. Aus der Sicht von Lehrenden an Schule und Hochschule bedeutet dies, dass der gewohnte Griff zu Lehrbüchern und Aufsätzen zur Unterrichtsvorbereitung und -gestaltung um den gekonnten Zugriff auf im Internet verfügbare, geomedienbasierte Unterrichtseinheiten, Lehrmaterialien und fachliche wie alltagsweltliche Anwendungsbeispiele mittels WebGIS, digitalen Karten, Blogs und ortsbasierten Social-­Media-Artefakten ergänzt wird. Hierbei verschmelzen die Konzepte von OER und OEP im Sinne einer adäquaten fachlichen, didaktischen und medialen Adaption aktueller, anwendungsfähiger Technologien für lokale Lehr- und Lernkontexte. Mit anderen Worten: Es wird zukünftig stärker als bislang um die individuell nutzer*innenzentrierte Anpassung und Gestaltung von Lehr- und Lernmedien durch die Lehrenden vor dem Hintergrund eines breiten Angebots parallel existierender digitaler Bildungsressourcen, die mitunter auch konkurrieren, gehen. Für Lehrende bedeutet dies ganz konkret, eine gezielte Bewertung und Auswahl geeigneter fachlicher Lehr- und Lernmaterialien aus unterschiedlichen Angeboten von öffentlichen Bildungsrepositorien (z .B. Bildungsserver der Länder und von Universitätsverbünden), kommerziellen Bildungsakteuren (z.  B.  Buchverlage), wissenschaftlichen bzw. fachdidaktischen Institutionen (z.  B.  Hochschulen, Verbänden) und anderweitigen Bildungsangeboten und -plattformen (z. B. von NGOs und Vereinen) treffen zu müssen und dies auch tun zu können.

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Darüber hinaus geht es aber auch um das Teilen von und Teilhaben an vertiefter kollegialer Expertise zu unterschiedlichen geographischen Bildungsthemen. Weiterhin erlangen Kenntnisse über Qualitätsstandards sowie zu technischen Normen und Anforderungen im Umgang mit Lernmaterialien ebenso eine Höherbewertung wie auch über lizenzrechtliche Restriktionen für deren Nutzung, z. B. unter Creative-Commons-Richtlinien. Es zeichnet sich ab, dass der kompetente Umgang mit Metadaten zur individuellen Beschreibung sowie zum Suchen und zum Finden geeigneter offener Lernmaterialien, z. B. via www.edutags.de oder https://oersi.de, zukünftig ebenso relevant für Lehrende sein wird wie deren fachlicher Anwendungsbezug selbst. Die beschriebene Entwicklung betrifft sowohl den Sekundärbereich der Bildung wie auch das universitäre Lehren und Lernen. Einen Blick in die Zukunft von OER mit Fokus auf den Lernenden wirft Downes (2019), der vor dem Hintergrund der zukünftigen Entwicklung von Cloud-Infrastrukturen, Open Data, künstlicher Intelligenz (KI) und dezentralisierten Netzwerken zu dem Schluss kommt, dass „new models of open educational resources will be more like tools that students use in order to create their own learning content, which they will then consume or use for some other purpose. … From the pedagogical perspective, the learning happens not through the consumption of the content but through the use of the content.“ (ebd., o. S.)

Ob alle Lernenden – insbesondere mittels Anwendung von KI – eine so bedeutende Rolle im eigenen Lernprozess ausfüllen können, wie von Downes (2019) beschrieben, bleibt abzuwarten. Gleichwohl eröffnen sich durch neue Technologien aber auch neue Chancen, die Ansprüche an realweltliche, kontextbasierte, soziale und partizipative Anwendungsbezüge von Wissen im Lerngeschehen zu erfüllen. Auch wenn Bildung ein sozialer Prozess ist, so ist es zwingend notwendig, die zukünftigen technischen Entwicklungen im Blick zu behalten, da Technologien auch den soziokulturellen Lebenskontext verändern, wie wir es gegenwärtig durch die fortschreitende Algorithmisierung unseres eigenen Lebens erfahren. Diesbezüglich stellt sich dann auch die Frage, wie sich die geographische Bildung in diesen Kontexten neu verortet. Förderhinweis Das diesem Kapitel zugrunde liegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 16DHB3003 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren.

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Von Bildungsquellen, Wissensströmen und Datenfluten

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Open Educational Resources (OER) in der digitalen geographischen Vermittlungspraxis an Schule und Hochschule Isabelle Kollar, Jochen Laub und Eva Nöthen

Zusammenfassung

Die digitale Wissensgesellschaft erfordert einen reflektierten Umgang mit zahlreichen Informationen und Angeboten. Offene Lehr-Lern-Gemeinschaften können als erster Schritt verstanden werden, mit resultierenden Herausforderungen umzugehen. So nimmt dieses Kapitel aus einer stärkenorientierten Perspektive drei in der geogra­ phi(edidakti)schen Vermittlung etablierte OER in den Blick. Das Kapitel entwickelt zunächst eine bildungsphilosophische Perspektive auf OER und bereitet die Begriffe open, educational und resource als Ausgangspunkte für eine kriteriengeleitete Analyse auf. Diese einführenden Reflexionen aufgreifend werden mit GeoPortal, LehrRaum Geographie und DOING GEO & ETHICS drei Beispiele für OER der Geographie(didaktik) vorgestellt, die im Sinne der vorab entwickelten ­Kriterien jeweils besondere Stärken aufweisen. Anhand der Betrachtung der Beispiele werden im abschließenden Kapitel Merkmalsausprägungen der Kriterien für die Beurteilung geographiebezogener OER aufgezeigt.

I. Kollar (*) · J. Laub Institut für naturwissenschaftliche Bildung, RPTU – Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau, Landau, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] E. Nöthen Geographisches Institut, Universität Bonn, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_27

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I. Kollar et al.

Schlüsselwörter

Open Educational Resources (OER) · Digitale Lernangebote · Lehrer*innen professionalisierung · Offene Lernräume · Hochschuldidaktik „Sofern die Kenntnisse in eine informatorische Sprache übersetzt werden können und der traditionell Lehrende einem Speicher vergleichbar ist, kann die Didaktik Maschinen überlassen werden ….“ (Lyotard, 2009 [1979], S. 124)

27.1 Offene digitale Bildungsangebote als Bestandteile gesellschaftlicher Wissens- und Bildungspraxis Die pandemiebedingte Zwangsdigitalisierung der schulischen wie universitären Lehre hat binnen weniger Wochen eine digitale Transformation des Bildungssystems quasi ad hoc herbeigeführt. Eine solche war von Theoretiker*innen bereits lange angekündigt, hätte sich unter ‚normalen‘ Umständen wohl aber über Jahre bis Jahrzehnte hingezogen. Binnen kürzester Zeit mussten Lehrende an Schulen und Hochschulen etablierte und routinierte analoge Vermittlungspraktiken und Lernkulturen ins Digitale überführen. Schüler*innen ebenso wie Studierende und Lehrende standen vor der Herausforderung, mit den ihnen privat zur Verfügung stehenden Endgeräten auf die völlig neuen Anforderungen des digitalen Lernens und Lehrens in sozialer Distanz umzugehen. Gemeinsam wurden Lehrende, Schüler*innen und Studierenden zu Lernenden in mehr oder weniger offenen Gemeinschaften. Im Laufe von wenigen Wochen und Monaten haben sich neue Praktiken und Routinen etabliert und Ansätze für neue digitale Lernkulturen entwickelt. Zugleich hat dieser Einschnitt auch auf unterschiedlichsten Ebenen Schwierigkeiten des digitalen ­Lehrens und Lernens an die Oberfläche befördert: einseitige nicht interaktive Angebote, mangelnde Verfügbarkeit technischer Infrastrukturen und damit verbundene soziale Benachteiligungen, unzureichende medienbezogene Kompetenzen bei Lehrenden wie Schüler*innen und Studierenden, Mediaphobien und … und … und … Geradezu dialektisch scheint im Moment der Digitalisierung auch das Nicht-Digitalisierbare in Bildungskontexten auf, „ein sinn- und verantwortliches Sich-ins-Verhältnis-Setzen zu anderen, anderem und sich selbst …, das einer geduldigen und versierten Begleitung bedarf“ (Redecker, 2019, S.  31). So entwickelt das vorliegende Kapitel zunächst eine bildungsphilosophische Perspektive auf OER als Ausgangspunkt, um diese kriteriengeleitet zu betrachten. Ausgehend von diesen einführenden Reflexionen werden drei in der Geographie bzw. Geographiedidaktik bestehende Good-Practice-Beispiele für OER vorgestellt, die im Sinne der vorab entwickelten Kriterien jeweils besondere Stärken aufweisen. Anhand d­ ieser werden im abschließenden Kapitel Merkmalsausprägungen der Kriterien für die Beurteilung geographiebezogener OER aufgezeigt.

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27.1.1 Herausforderungen des Lehrens und Lernens in sich wandelnden Wissenswelten: bildungsphilosophische Gedanken Medialer Wandel ist grundsätzlich nicht ohne die Veränderung der Praktiken und Strukturen zu denken, in die sich verändernde Medien eingebunden sind. Medialer Wandel ist also gleichsam gesellschaftlicher Wandel innerhalb des Wissenssystems der Gesellschaft (Spinner, 1994). Die zunehmende Digitalisierung von Informationen zeigt sich damit als Bestandteil eines grundsätzlichen Wandels der Praktiken von Informationserzeugung (Erkenntnispraxis), -weitergabe und -kritik der Lebenswelten selbst, in welchen digitale Elemente als Bestandteile und nicht als Gegensätze zu analogen verstanden werden (Dickel & Jahnke, 2012). Der Fokus auf die mediale Repräsentation muss neben der Frage nach dem Was, also dem Medium selbst, vor allem die Frage nach dem Wie der Weltbegegnung stellen (Kritlova, 2020, S. 8), um didaktische Erkenntnisse liefern zu können. Dieses Wie zu betrachten, weist allerdings weit über die Frage nach dem Angebot bestimmter Lerntechniken und bereitgestellten Medien und Dateiformaten hinaus und muss als zentraler Teil kultureller Weitergabepraxis verstanden werden, sind Lernen und Lehren doch Bestandteile des Verfahrens, mittels dessen sich Kulturen reproduzieren (Giesecke, 2007, S. 481). In Bezug auf postmodernes Wissen, darauf hebt auch Lyotard ab, besteht die Gefahr einer Verkürzung von Inhalten auf zweckgebundene Information (Lyotard, 2009 [1979]), der sich eine kritische Didaktik bewusst sein bzw. bewusst entgegenstellen muss. Gerade in Zeiten zunehmend unüberschaubarer Informationsmengen müssen digitale Bildungsangebote weniger so verstanden werden, dass sie Informationen lediglich bereitstellen. Informationsressourcen sind noch keine Bildungsressourcen. Sollen OER als Teil pädagogischer Praxis begriffen werden, müssen sie im pädagogischen Sinn einer „Aufforderung zur Prüfung von Geltungsansprüchen“ (Mikhail, 2016, S. 208) gestaltet sein. Eine Betrachtung von Good-Practice-Beispielen für geographische OER steht vor der Herausforderung, Kriterien gerade erst entstehender, neuer oder gar zukünftiger Praktiken an bereits bestehenden Umsetzungen anzulegen. Es offenbaren sich dabei neue Antinomien, beispielsweise zwischen einer Utopie von zunehmender Freiheit und Verfügbarkeit von Informationen und einer Dystopie von Kontrolle und mangelnder Transparenz. Im Zuge einer praxisbezogenen Betrachtung offener Lernumgebungen darf nicht unterschlagen werden, dass sich dabei gleichsam zumindest zwei Ebenen theoretischer Betrachtung verbinden: die Ebene des Medienwandels (Digitalisierung der Medien) und eine Veränderung der Sozialform des Lernens, bei der Lernende zumeist individuell auf Angebote bzw. Inhalte zugreifen. Der Wandel zeigt sich auch auf inhaltlicher Ebene. Von einer Betonung von Wissensinhalten, wie etwa topographischem Wissen, verschiebt sich der Bedeutungsschwerpunkt des innerhalb von Bildungsprozessen relevanten ‚Wissens‘ auf Prozesswissen, Argumentationskompetenz, kritische Reflexionsfähigkeit bezüglich der Inhalte, deren Entstehung sowie deren wissenschaftlicher Begründung, die folglich auch von digitalen Ressourcen bereitgestellt werden müssen (Spinner, 1994). So bleibt mit Bezug auf das eingangs stehende Zitat festzuhalten, dass eine Verabschiedung der Didaktik, die Lyotard für den Fall der Technisierbarkeit ihrer Aufgaben in einer postmodernen

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Bildungswelt prognostiziert, eben nicht der Fall ist. Das vorliegende Kapitel geht vielmehr gerade vom Gegenteil aus und fokussiert den didaktischen Blick auf die Qualitäten und Bedingtheiten digitaler Bildungsanwendungen und -angebote.

27.1.2 Annäherung an die Betrachtung von offenen digitalen Bildungsangeboten (OER) Einen Ansatzpunkt, der für das hier vorliegende Kapitel gewählt wurde, bilden OER (Kap. 26). Es sind also jegliche Materialien gemeint, die zu Lern- bzw. Lehrzwecken verwendet werden können, die im Zuge der beschriebenen Umstände in bisher so nicht gekanntem Umfang zum Einsatz gekommen sind und großes Potenzial für eine künftige Etablierung digitaler Lernkulturen im Kontext geographischer Bildungsprozesse bergen. Konkrete Beispiele von OER aus einem erweiterten Verständnis der Bedeutung von Medien im Bildungszusammenhang näher zu betrachten und analytisch zu fassen, bedarf eines reflexiven Umgangs mit den hierfür genutzten Kriterien. In der pädagogischen und didaktischen Literatur bestehen zahlreiche Differenzierungen von Kriterien für OER, OEP (Open Educational Practices) und andere Formen digitaler Lernangebote (Schulze et al., 2020; Koschorreck, 2018; Butcher, 2013). Die Darstellung der Kriterien des vorliegenden Kapitels zielt nicht darauf ab, die Beispiele einer kritischen Bewertung zu unterziehen, sondern die Betrachtung transparent zu machen, um die Qualitäten der angeführten Beispiele deutlicher fassen zu können (Abb. 27.1). Die Autor*innen orientieren sich dabei an den Gedanken Gieseckes und Lyotards zum veränderten Wissenssystem und pädagogischen Ansprüchen an digitales Lernen, wie dies Irion, Koschorrek und andere formulieren (Irion, 2020; Redecker, 2019; Koschorreck, 2018; Lyotard, 2009 [1979]; Giesecke, 2007). Giesecke stellt im Hinblick auf die veränderten Ansprüche der posttypographischen Wissensschöpfung vor allem heraus, dass Wissen vorläufigen Charakter hat, also immer in einer Entwicklung befindlich ist. Es zeigt sich zudem als zunehmend interdisziplinär (Giesecke, 2007, S.  491  f.). Und dennoch bleibt Wissen ein konstitutives Moment für das Selbstverständnis postindustrieller Gesellschaften sowie deren ökonomisch-soziokulturelle Entwicklungen, auch wenn Wissen als scheinbar verhandelbar deklariert wird (→ Resource). Damit wird der Zusammenhang, in dem OER stehen, als gesellschaftliche Praxis des Lernens und Lehrens in einer sich zunehmend digitalisierenden Welt deutlich (→ Educational). Es zeigen sich zudem weitere Aspekte, die für das vorliegende Kapitel als besonders relevant gelten können in Lyotards Betrachtung postmodernen Wissens, so etwa die Frage nach der Autor*innenschaft und deren Macht über Informationen (Lyotard, 2009 [1979]), wie sie im Falle von OER dem Kollektiv übertragen wird (→ Open). Solche Zugänge zeigen sich in reflexiven didaktischen Ansätzen so oder in ähnlicher Form bzw. Auswahl in verschiedenen fachdidaktischen Veröffentlichungen zur Thematik (z. B. Schulze et al., 2020; Pokraka & Gryl, 2018). Ohne Anspruch auf allgemeine Gültigkeit sollen diese als Grundlage einer pädagogisch-didaktisch differenzierten Betrachtung von Good-Practice-Beispielen in dem vorliegenden Kapitel gelten. Sie scheinen auch in

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Abb. 27.1  Kriterien der Betrachtung offener Bildungsangebote/OER

Beiträgen fachdidaktischer Forschung oder der konkreten Darstellung der Ansprüche an OER und OEP auf, wie Koschorreck diese mit Bezug auf die offene Pädagogik Hegartys formuliert (Koschorreck, 2018).

27.2 Ausgewählte Beispiele von OER für die geographische Vermittlungspraxis und ihre Potenziale Das Feld der online verfügbaren OER ist nahezu unüberschaubar (Kap. 26). Im Folgenden werden drei geographische OER beispielhaft vorgestellt und in Hinblick auf ihre Qualitäten bezüglich ihrer Entsprechung zu oben ausgeführten Kriterien (Abb. 27.1) fokussiert beleuchtet. Die Auswahl wurde getroffen, um OER mit unterschiedlichen institutionellen Hintergründen und verschiedenen Zielgruppen darzustellen, die den Anspruch verfolgen, Lehr-Lern-Materialien nicht nur bereitzustellen, sondern auch in ihrer didaktisch-­ methodischen Einsetzbarkeit zu reflektieren. Darüber hinaus konkretisieren die gewählten OER-Merkmale die einzelnen Kriterien auf anschauliche Weise.

27.2.1 GeoPortal des Landesmedienzentrums Baden-Württemberg Das Landesmedienzentrum Baden-Württemberg (LMZ) betreibt ein GeoPortal mit digitalen Materialien für den Geographieunterricht (https://www.lmz-­bw.de/medien-­und-­ bildung/sesam-­mediathek/geoportal/). Angeboten wird eine Vielzahl an Materialien, die, wie in Abb. 27.2 ersichtlich, abrufbar sind. Unter der Rubrik „Digitale Geomedien“ kann zwischen Geowerkzeugen und Unterrichtsmodulen gewählt werden. Die Geowerkzeuge

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Abb. 27.2  Struktur des GeoPortals

beinhalten drei WebGIS-Anwendungen zu Klimadiagrammen, daneben gibt es unter dem Stichwort „Weitere Geowerkzeuge“ sechs verschiedene WebGIS-Angebote, beispielsweise zur Bevölkerungsdynamik oder digitalen Wetterkarten. Bei drei Anwendungen können einzelne Lösungen oder Zusatzmaterialien nur über einen Login (SESAM-Zugang) geöffnet werden. SESAM (Server für schulische Arbeit mit Medien) bietet eine umfangreiche Schulartund fächerübergreifende Mediathek mit didaktisch geprüften Unterrichtsmaterialien für Beschäftigte an allen Bildungseinrichtungen in Baden-Württemberg und ist ein Angebot des LMZ. Der Zugang ist laut Homepage-Angaben aus lizenzrechtlichen Gründen auf das Bundesland Baden-Württemberg beschränkt. Bei Anmeldung wird ein Berechtigungsnachweis gefordert. Durch diesen geschlossenen Zugang zu einzelnen Materialien oder ganzen Unterrichtsentwürfen sind die Angebote nicht offen zugänglich im Sinne der OER, sondern stehen nur ausgewählten Personengruppen zur Verfügung (Abb. 27.2). Innerhalb der Unterkategorie ‚Unterrichtsmodule‘ stehen sieben Angebote zu physisch- wie humangeographischen Themen zur Verfügung, z.  B. zur „Geomorphologie Rhein und Wutach“ oder der „Stadt Pforzheim im Wandel“. Das Angebot zu „regenerativen Energieträgern, Windpark“ findet man parallel auch über den Zugang „weitere Geowerkzeuge“. Alle anderen Unterrichtsmodule sind nur mit Login über die SESAM-Me­diathek zugänglich. Unter der Kategorie „ZPG Geographie“ werden unterschiedliche Fortbildungsangebote der Zentralen Projektgruppe Geographie (ZPG) angeboten, die für den kompetenzorientierten Unterricht am Gymnasium entwickelt wurden. Hier stehen vier Angebote in der Humangeographie, drei zur physischen und fünf zu geographischen Methoden zur Auswahl (Abb.  27.2). Alle Angebote können nur mit SESAM-Login aufgerufen werden. Da das GeoPortal ein Angebot des LMZ ist, besteht ein hoher Institutionalisierungsgrad. Seit 2001 erfüllt das LMZ auch mit diesen Materialien einen gesetzlichen Auftrag,

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welcher unter anderem als pädagogischer und technischer Dienst sowie der Mediendistribution und Medienerschließung dient. Verantwortlich für die Inhalte und Kontaktperson des GeoPortals ist Rüdiger Engelhardt. Die WebGIS-Angebote aus dem Bereich der digitalen Geomedien entstanden unter technischer und fachdidaktischer Leitung des Teams um Rüdiger Engelhardt meist in Kooperation mit der Hochschule Karlsruhe oder dem KIT (Karlsruher Institut für Technologie), die Angebote der Kategorie ZPG Geographie entstammen aus einer Kooperation der Landesakademie für Lehrerfortbildung und der ZPG. Die im GeoPortal angebotenen Methoden und Inhalte wurden von einer geschlossenen Personengruppe erstellt, Einreichungen von außenstehenden Personen werden nicht erwähnt. Der Nutzer*innenkreis ist, wie oben schon beschrieben, auf Lehrende in Baden-­ Württemberg ausgerichtet und teilweise auch durch Zugangsbeschränkungen nur für diese abrufbar. Ein offener Zugang im Sinne der OER ist hier nur bei den WebGIS-Angeboten im Bereich „Geowerkzeuge“ möglich (→ Open). Auf den Seiten besteht die Möglichkeit, direkt mit dem Projektverantwortlichen in Kontakt zu treten, eine diskursive Kommentar- oder Bewertungsfunktionalität wird nicht angeboten. Die Bereitstellung über den Landesmedienserver lässt auf eine hohe Persistenz der angebotenen Inhalte und Methoden schließen. Obwohl das GeoPortal bei Nutzung und Einreichung Einschränkungen im Sinne von OER aufweist, kann es im Bereich der Inhaltsqualität der bereitgestellten Materialien als Good-Practice-Beispiel dienen (→ Educational). Auch die Breite des Geographie-­ bezogenen Angebots und der passgenaue Zuschnitt der Materialien sowie die methodisch-­ didaktische Gestaltung für den Einsatz im kompetenzorientierten Unterricht sind hier als beispielhaft hervorzuheben (→ Resources).

27.2.2 LehrRaum Geographie Der „LehrRaum Geographie“ ist eine Plattform, bereitgestellt vom Arbeitskreis Hochschullehre des Verbands für Geographie an deutschsprachigen Hochschulen und Forschungseinrichtungen (VGDH). Diese Plattform bietet Lehrenden in der Geographie an Hochschulen die Möglichkeit, in der gesamten Breite des Faches lehrbezogene Ideen und diesbezügliche Ausarbeitungen auszutauschen. Erklärtes Ziel der Seite ist es, die Qualität der Lehre im Fach durch einen Austausch zu verbessern ­(https://www.geog.uni-­ heidelberg.de/lehrraum/). Unter dem Menüpunkt „Lehrideen“ werden von namentlich genannten Autor*innen „Veranstaltungskonzepte“, „Veranstaltungsbausteine“, „Prüfungen & Hausarbeiten“ sowie Hinweise auf an anderen (virtuellen) Orten abrufbare „Materialien & Webseiten“ bereitgestellt (Abb. 27.3). Die Beiträge sind nach Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung sortiert, können aber auch nach Themenbereichen, den Teildisziplinen der Geographie bzw. verschiedenen Veranstaltungsformaten durchsucht werden. Bei den in den einzelnen Rubriken vorliegenden Beiträgen handelt es sich um z. T. inhaltlich sehr spezifische fallbezogene Ausarbeitungen aus der geographischen Vermittlungspraxis an der Hochschule im weitesten Sinne. Die Beiträge werden idealerweise eingeleitet über ein Formular, das die Eckpunkte des Folgenden zusammenfasst.

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Abb. 27.3  Struktur des LehrRaums Geographie

Die auf der Seite veröffentlichten Beiträge sind mit einer Creative-Commons-Lizenz versehen, die es erlaubt, die über die Beiträge verfügbaren Inhalt zu überarbeiten, zu erweitern und weiterzuverbreiten, solange dies auf nicht kommerzielle Art und Weise geschieht und die Urheber*innen der Ur-Beiträge genannt werden (vgl. https://www.geog. uni-­heidelberg.de/lehrraum/hinweiszureinsendung.html). Die Einreichung von zu veröffentlichenden Beiträgen erfolgt unter dem Menüpunkt „Einsendung von Lehrideen“. Unter Nutzung einer Formatvorlage und unter Angabe des eigenen Namens können Beiträge an die das OER betreuende Person übermittelt werden und werden anschließend zeitnah online gestellt. Die Verantwortung für die Inhalte und deren Qualität liegt bei den Autor*innen. Die Beiträge können von allen Besucher*innen der Seite heruntergeladen und gemäß den Nutzungsrichtlinien (s.  o.) verwendet werden. Ein angemeldeten Nutzer*innen vorbehaltenes Forum bietet die Möglichkeit, zu verfügbaren Beiträgen und sonstigen Themen miteinander in Dialog zu treten. Der LehrRaum zeichnet sich dadurch aus, dass er für die Nutzer*innen – sowohl für jene, die hoch- als auch für jene, die herunterladen – ein niedrigschwelliges Angebot für den Austausch von Ideen im weiten Feld der geographi(didakti)schen Lehre darstellt. Zu jedem Material werden mehr oder weniger ausführliche didaktisch-methodische Reflexionen offengelegt, die in Hinblick auf die Weiterverwendung berücksichtigt werden können (→ Educational). Durch die Offenlegung der Autor*innenschaft bietet die Plattform die Möglichkeit für Rückfragen und Feedback an die Autor*innen der Beiträge (→ Open). Verschiedene Arten von Beiträgen in unterschiedlichen Ausarbeitungsgraden finden hier ihre Plattform und laden so regelrecht dazu ein, Materialien weiterzuentwickeln bzw. an die eigenen Bedarfe anzupassen (→ Resources).

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27.2.3 DOING GEO & ETHICS Die Seite DOING GEO & ETHICS mit dem Untertitel „Ethische Fragen im Unterricht behandeln“ stellt Inhalte zu umwelt-, insbesondere klimaethischen Themen und Nachhaltigkeitsaspekten anhand verschiedener Medien und Formate für Lehrkräfte in Hochschulen und Schulen sowie für Studierende und Schüler*innen zur Verfügung (https://doinggeoandethics.com/). Die OER präsentiert neben Texten, Bildern und Videos vor allem Verweise auf andere Webseiten, Rezensionen zu Büchern und Filmen (z. B. zum Video Ich bin Greta oder einem Interview mit Maja Göpel) und aktuelle Diskussionsbeiträge zur Nachhaltigkeitsdebatte und deren ethischer Dimension (→ Resources). Grundsätzlich ermöglicht das Blogformat die Einbindung von Video-, Bild- und Textdokumenten, die entweder direkt in den Beitrag eingebunden werden oder als Downloaddatei abgerufen werden können. Die Landingpage weist die Hauptkategorien auf (Hintergrund, Didaktik & Methodik, Unterrichtsmaterial, Story, Literatur, Filme, Links), über welche die Inhalte strukturiert sind (Abb. 27.4). Am oberen Ende der Seite ermöglichen weitere Reiter einen Zugriff auf zentrale Hintergrundinformationen zur Seite und öffnen so den Entstehungshintergrund für die Nutzer*innen, welche eine hohe Transparenz erzeugen (→ Open). Der Blog wird von Stefan Applis als Herausgeber betrieben, ist jedoch eng an verschiedene Institutionen und mit diesen verbundenen Projekte angebunden: Geographiedidaktik der WWU Münster (Forschungsbackground), DBU (Finanzierung von Mitarbeiter*innenstellen in DBU-Projekten, die u. a. als Autor*innen Blogtexte beitragen), Seminarschule Christian-Ernst-Gymnasium Erlangen (Geographie- und Philosophie-/ Ethikseminar), Arbeitsbereich Philosophie und Schule des Instituts für Philosophie der FAU Erlangen-­Nürnberg.

Abb. 27.4  Struktur von DOING GEO & ETHICS

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Der Einreichungsprozess ist offen und niederschwellig. Der Herausgeber lädt Autor*innen ein zur Mitarbeit, potenziell kann jede*r Autor*in werden (→ Open). Bisherige Autor*innen stammen aus dem Hochschul- (Philosophie-/Ethikdidaktik und Geographiedidaktik) und dem Schulbereich (vom Herausgeber begleitete Referendar*innen). Der Einreichungsprozess und die Redaktion erfolgen in Absprache mit den Autor*innen durch den Herausgeber. Der Entstehungshintergrund der OER ist das DBU-Projekt „Schrottschatz“. Die Webseite stellt das darin erstellte Material zur Verfügung. Ferner fungiert die Website als Medium der Aus- und Fortbildung von Geographie- und Ethiklehrkräften. Seit Mai 2021 dient sie zudem als Oberfläche für das DBU-Projekt „ESD for 2030: ‚The Future WE Want‘: Nachhaltigkeitsdilemmata und Umgang mit Unsicherheiten im Kontext einer lösungsorientierten Didaktik – Ein Distance Learning-basiertes Aus- und Fortbildungskonzept“. Die Inhalte der Webseite bzw. der Beiträge öffnen den aktuellen Stand des akademischen Diskurses, sind differenziert und diskursiv aufbereitet. Sie werden im Austausch zwischen Redaktion und Autor*innen bei Bedarf ständig überarbeitet. Dies zeigt die mögliche Entwicklung der Inhalte, deren Aktualität und eine Offenheit auf inhaltlicher Seite. Es besteht die Möglichkeit direkt Kommentare zu posten, und so auch kritisch zum Inhalt Stellung zu nehmen (→ Open, → Resources). Besonders gelungen zeigt sich die Verbindung von Material und Anregungen zu allen Phasen der Unterrichtsvorbereitung und Durchführung. Die Nutzer*innen können Ihrem Bedarf nach auf diese zugreifen. Strukturiert werden diese wie an den Hauptkategorien/ Reitern schnell erkennbar nach: Hintergrund und Wissen (Sachanalyse), Didaktik und Methodik (didaktische Analyse), Unterrichtsmaterial (fertiges und bearbeitbares Unterrichtsmaterial), Links, Filmtipps, Story, Literatur (Unterrichtsanregungen) (→ Educational). Durch die thematische Fokussierung erreicht die Seite ein sehr hohes inhaltliches Niveau und eine sehr hohe Offenheit. Dabei wird gleichsam eine transparente Arbeitsweise umgesetzt, eine methodische Öffnung erreicht und die Inhalte werden in einer dynamischen Entwicklung geöffnet. Teilnehmer*innen können sowohl am Diskurs teilnehmen sowie die bestehenden Inhalte weiterentwickeln, was eine Offenheit auf verschiedenen Ebenen darstellt. Die Inhalte der Seite sind sehr aktuell und didaktisch aufbereitet.

27.3 Good Practice: Kriterien für einen Einsatz von OER in der geographischen Vermittlungspraxis Mit Blick auf das eingangs stehende Zitat Lyotards zeigt die vorige Betrachtung, dass OER unter didaktisch-pädagogischen Kriterien dann als besonders sinnvoll gelten können, wenn sie nicht als reine Informationssammlungen bestehen, sondern eine didaktisch-­methodische Öffnung dahingehend aufweisen, dass individuelle Erkenntniswege ermöglicht werden. Die betrachteten OER weisen deutliche Unterschiede auf, die aus der institutionellen Anbindung, dem fokussierten Adressat*innenkreis und den präsentierten Inhalten auch verständlich werden. Unter Rückbezug auf die grundlegenden

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Abb. 27.5  Kriterien der Betrachtung offener Bildungsangebote/OER ergänzt um Merkmalsausprägungen

Veränderungen des Wissenssystems und die formulierten pädagogischen Ansprüche (Abschn.  27.1) bieten die OER-Anhaltspunkte, um Kriterien für gelingende offene Bildungsangebote zu benennen (Abb. 27.5). Im Zentrum der Erwartungen an OER als Elemente einer Bildungspraxis in einer sich zunehmend digitalisierenden Wissensumgebung können vor allem gelten: (a) die Offenheit (→Open) in Form von Zugang, Transparenz und Möglichkeit zur Teilnahme am Diskurs sowie (b) deren inhaltliche Dynamik, Interdisziplinarität und Bildungscharakter (→ Educational), der Erkenntnisanlässe schafft, Reflexivität intendiert und es Lernenden ermöglicht, die eigenen Erkenntnisse im Erkenntnisprozess auf deren Geltung hin zu ­reflektieren. Und schließlich können (c) in Hinblick auf die bereitgestellten Medien bzw. Inhalte (→ Resources) Kriterien der Vielperspektivität, Diskursivität und deren dynamische und kollaborative Entwicklungsmöglichkeit angelegt werden, die für digitalisierte postmoderne Wissensumgebungen gelten.

Literatur Butcher, N. (2013). Was sind open educational resources? Und andere häufig gestellte Fragen zu OER, deutsche Fassung bearbeitet von B.  Malina & J.  Neumann. Deutsche UNESCO-­ Kommission. Dickel, M., & Jahnke, H. (2012). Realität und Virtualität. In J.-B. Haversath (Hrsg.), Geographiedidaktik. Theorie – Themen – Forschung (S. 236–248). Westermann. Giesecke, M. (2007). Die Entstehung der kommunikativen Welt. Studien zur kulturvergleichenden Mediengeschichte. Suhrkamp.

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Irion, T. (2020). Digitale Grundbildung in der Grundschule. Grundlegende Bildung in der digital geprägten und gestaltbaren, mediatisierten Welt. In M. Thumel, R. Kammerl, & T. Irion (Hrsg.), Digitale Bildung im Grundschulalter. Grundsatzfragen zum Primat des Pädagogischen (S. 49–81). Kopaed. Koschorreck, J. (2018). Open educational practices (OEP). Deutsches Institut für Erwachsenenbildung. Kritlova, K. (2020). Gesten des Denkens. Vilém Flussers Medienphilosophie. Bauhaus-Universität Weimar. Lyotard, J.-F. (2009 [1979]). Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Passagen. Mikhail, T. (2016). Pädagogisch Handeln. Theorie für die Praxis. Schöningh. Pokraka, J., & Gryl, I. (2018). Kinder:Karten:Kommunikation – Spatial Citizenship zwischen Partizipation und Paternalismus. Kartographische Nachrichten, 3, 140–146. Redecker, A. (2019). Learning by Self-Management – digital, inklusiv und eine Herausforderung für die Medienbildung. In H. Angenent, B. Heidkamp, & D. Kergel (Hrsg.), Digital Diversity. Bildung und Lernen im Kontext gesellschaftlicher Transformationen (S. 31–49). Springer. Schulze, U., Kanwischer, D., Budke, A., & Gryl, I. (2020). Mündigkeit und digitale Geomedien. Implementation eines digitalen Fachkonzeptes in der geographischen Lehrkräftebildung. Journal für Angewandte Geoinformatik, 43(2), 139–164. Spinner, H.  F. (1994). Die Wissensordnung. Ein Leitkonzept für die dritte Grundordnung des Informationszeitalters. Leske & Budrich.

Gestaltung geomedialer Lernumgebungen mittels offener Bildungsressourcen (OER)

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Leitgedanken aus dem Verbundprojekt DiGeo Uwe Schulze

Zusammenfassung

Als Ausschnitt aus dem BMBF-geförderten Verbundprojekt DiGeo, das sich mit der anwendungsbezogenen Beforschung eines Fachkonzeptes zum Einsatz digitaler Geomedien in der geographischen Lehrkräftebildung beschäftigt, zeigt dieses Kapitel die wesentliche Anforderungen für die Gestaltung von OER-basierten Lernumgebungen auf. Neben konzeptionellen Aspekten der Entwicklung des DiGeo-Fachkonzepts sowie der gleichnamigen OER-Umgebung mit insgesamt 30 Lerneinheiten zum mündigen Umgang mit digitalen Geomedien werden dabei insbesondere Fragen zur fachlichen Qualität offener Bildungsmaterialien adressiert. Exemplarisch für die Logik und Gelingensbedingungen von OER, im Sinne des Teilens von fachlichen Bildungsmaterialien als gemeinschaftliches Tun an der „digitalen Sache“, werden die Grundzüge eines Anforderungskatalogs als Baustein eines fachspezifischen Qualitätsmodells für die fachliche, pädagogisch/didaktische und technische Entwicklung und Nachnutzung von OER vorgestellt. Schlüsselwörter

Open Educational Resources (OER) · OER-Qualität · Fachspezifische OER · Lernumgebungen · Digitales Fachkonzept

U. Schulze (*) Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_28

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U. Schulze

28.1 Einleitung Die unter Perspektive 9 programmatisch aufgeworfene Perspektive der Gestaltung fachlicher Lernumgebungen mittels Open Educational Resources (OER) und im Kontext offener Lehr- bzw. Lerngemeinschaften ist vielfältig. Zum einen verbergen sich hinter den damit angesprochenen Konzepten, d. h. Kollaboration im Lerngeschehen, Gestaltung von Lern­ umgebungen, Fachlichkeit, Digitalität und offene Bildungsmaterialien, teils langjährige Diskurse sowohl pä­dagogischer als auch fachspezifischer Art. Zum anderen rückt unter dem Stichwort der Open Education (Kerres, 2019) die Frage der institutionellen Öffnung von Bildung und Wissensproduktion im Sinne der Teilhabe an Wissen innerhalb offener informationeller Ökosysteme in den Fokus (Heck et al., 2020). Die hiermit verknüpften Debatten, insbesondere auch zu Offenheit in Bildungskontexten im Sinne von Open Educational Practices (OEP) (Bellinger & Mayrberger, 2019), auf eine knappe Problem- bzw. Fragestellung fachdidaktischer Forschung einzugrenzen, würde bedeuten, die Idee des Teilens von offenen Bildungsmaterialien als „erstens eine alltägliche Handlung des Austausches in digitalen Netzwerken, zweitens ein partizipatorischer Akt, der eine demokratische Weiterentwicklung des Unterrichts darstellt, und drittens ein ideologisch aufgeladenes Ideal von Gemeinschaft“ (Bock & Tribukait, 2019, S. 61) unsachgemäß zu verkürzen. Für den hier adressierten Bereich geographischer Bildung in Schule und Hochschule wird daher nachfolgend aufgezeigt, welche grundsätzlichen Anforderungen sich für die Gestaltung von OER-basierten Lernumgebungen ergeben. Ankerpunkt der Ausführungen ist das Hochschulverbundprojekt DiGeo, das sich mit der Entwicklung und anwendungsbezogenen Beforschung eines Fachkonzeptes zum Einsatz digitaler Geomedien in der geographischen Lehrkräftebildung im Kontext von OER beschäftigt. Als Ausschnitt aus dem dreijährigen Forschungsvorhaben (2019–2022) der Fachdidaktiken der Geographie an den Universitäten Frankfurt am Main, Köln sowie des Sachunterrichts an der Universität Duisburg-Essen werden im Folgenden zunächst konzeptionelle Aspekte der Entwicklung des digitalen Fachkonzepts DiGeo sowie zur gleichnamigen OER-­Umgebung vorgestellt. Danach werden die damit verbundenen Anforderungen für die Erstellung OER-basierter Lernumgebungen erläutert, die im Projektverlauf erarbeitet wurden, wobei insbesondere Fragen zur fachlichen Qualitätssicherung offener Bildungsmaterialien adressiert werden.

28.2 DiGeo – digitales Fachkonzept und fachspezifische OER Im Zentrum des Verbundprojekts „Generalisierbarkeit und Transferierbarkeit digitaler Fachkonzepte am Beispiel mündiger digitaler Geomediennutzung in der Lehrkräftebildung ­(DiGeo)“ steht die Konfiguration digitaler Geomedien als fachspezifische Lehr- bzw. Lernmedien. Eine mündige Nutzung digitaler Geomedien bedeutet, geoinformationsbasierte, multimediale Repräsentationen raumzeitlicher Aspekte der Umwelt zur Meinungsbildung als ­geeignete und gültige Argumentationen sachgerecht in Wert setzen zu können, um fremde und eigene Weltbildkonstruktionen kritisch-reflexiv zu hinterfragen und gleich-

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zeitig e­ igene digitale räumliche Repräsentationen als Mittel zur gesellschaftlichen Teilhabe und Mitbestimmung gestalten und einsetzen zu können (Schulze et al., 2020). Hiermit sind insbesondere Kartenanwendungen im Internet sowie als Bestandteil sozialer Medien, aber auch Geovisualisierungen mittels digitaler Globen und in WebGIS (z. B. Geoinformationsportale) angesprochen. Diese Geomedien dienen mehrheitlich den Verwertungsinteressen kommerzieller und institutioneller Akteure und sind per se weder Lehr- noch Lernmedien. Dennoch sind sie Teil der alltagsweltlichen Strukturen des World Wide Web, denen Schüler*innen begegnen. Diese Medienumgebungen müssen für den Unterrichtseinsatz daher durch Lehrkräfte dergestalt formatiert werden, dass Schüler*innen sie als einen lohnenswerten und gewinnbringenden Lerngegenstand in Verbindung mit den fachlichen Strukturen der Geographie (DGfG, 2020) realisieren bzw. zum Modus Operandi ihrer Selbst- und Weltbegegnung machen können (Schulze & Gryl, 2021; Pokraka et al., 2017). Dabei ist der Selbstzweck des geotechnologischen Medienbezugs im fachlichen Lehr- bzw. Lerngeschehen um ein humanistisch begründetes Bildungsanliegen der Sprach- und Handlungsfähigkeit des Individuums im Umgang mit digitalen Geomedien als Kul­turtechnik zu erweitern (Kanwischer, 2014). Für geographische Bildungskontexte in Schule und Hochschule öffnet sich somit nicht nur die Tür für das handlungsorientierte und partizipative Lernen im und mit dem Social Web (Mayrberger, 2012). Gleichzeitig bieten die Möglichkeiten von OER einen zeitgemäßen Ansatz, um in dementsprechend offenen, authentischen sowie kollaborativen Wissens- und Technikstrukturen fachliche Lerninhalte kompetenzorientiert einzubetten (vgl. HRK, 2016). In diesem Kontext zielt das DiGeo-Projekt auf die Entwicklung eines durch digitale Medien unterstützten Lehr- bzw. Lernkonzeptes ab, um Lehramtsstudierende in den Fächern Geographie/Erdkunde sowie des Sachunterrichts im geographiespezifischen Studienanteil zu einem fachlich versierten Umgang mit digitalen Geomedien für das zukünftig eigene Unterrichtshandeln zu befähigen. Dafür werden die Facetten der professionellen H ­ andlungskompetenz von Lehrkräften zur Gestaltung geomedialer Lernarrangements in Form des inhaltlichen, technisch-methodischen und medienpädagogischen Wissens (TPACK-Modell, DigComEdu-Modell) im Umgang mit Geoinformation (Data Literacy) innerhalb webbasierter Medienstrukturen (Media Literacy) bestimmt. Mit Blick auf die Didaktik des geomedialen Lehrens impliziert dies das aktive, selbstgesteuerte und kontextbasierte Lernen mittels multimedialer Anwendungen wie soziale Medien, Videos, Blogs und Web-Plattformen, die den lebensweltlichen Orientierungs- und Erfahrungsmustern der Lernenden entsprechen. Die Realisierung des DiGeo-Fachkonzepts erfolgt in Form der Webumgebung DiGeo-­ OER,1 die perspektivisch für die studiengangsübergreifende Lehre in geographischen Lehramtsstudiengängen an unterschiedlichen Hochschulstandorten entwickelt wird. Das Herzstück sind drei themenspezifische Module mit insgesamt dreißig prototypischen ­Lerneinheiten zu den Kompetenzbereichen „Reflexion/Reflexivität“ (Teilprojekt 1: Universität Duisburg-Essen), „Argumentation/Kommunikation“ (Teilprojekt 2: Universität Köln) sowie „Partizipation/Gestaltung“ (Teilprojekt 3: Universität Frankfurt). Die Lern­  Siehe https://digeo-oer.net.

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einheiten dienen zur Vor- und Nachbereitung von Präsenzveranstaltungen im Kontext von Blended Learning und des Flipped-Classroom-Prinzips. In diesem Zusammenhang werden im Projektverlauf aus Sicht der fachdidaktischen Lernforschung auf der Mikroebene die individuellen Lernprozesse während der Anwendung des digitalen Fachkonzeptes untersucht. Das Forschungsinteresse adressiert u. a. die Frage, über welche Argumen­tations-, Reflexions- und Partizipationsfähigkeiten hinsichtlich der digitalen Geome­diennutzung Lehramtsstudierende in Abhängigkeit von fachlichen, (fach-)pädagogischen und technischen Kompetenzen verfügen und wie sich diese im Sinne der fachdidaktischen Förderung von Kompetenzen zur mündigen Geomediennutzung bei Schüler*innen möglicherweise im Lerngeschehen verändern. Auf der Mesoebene der anwendungsorientierten Forschungsarbeit im Verbundvorhaben werden die institutionellen und kontextuellen Gelingensbedingungen der Übertragbarkeit des DiGeo-Fachkonzeptes in den Blick genommen. Es wird untersucht, wie das digitale Fachkonzept an den drei involvierten Universitätsstandorten trotz jeweils spezifischer curricularer und organisatorischer Rahmenbedingungen adaptiert werden kann und wie dabei die fachdidaktisch-methodische Umsetzung mit den jeweiligen technischen und organisatorischen Rahmenbedingungen an den unterschiedlichen Universitätsstandorten interagiert (Horz & Schulze-Vorberg, 2017). Dafür werden im Rahmen von Transferkooperationen u. a. die Lehrkräftebildungszentren, Hochschulrechenzentren und Medienabteilungen der drei Hochschulstandorte involviert. Hiervon ausgehend werden u.  a. Meta-­Standards für die Produktion und Zusammenführung offener Bildungsmaterialien im Fachkontext im Sinne der allgemeinen „Transferierbarkeit und Generalisierbarkeit digitaler Fachkonzepte“ (Teilprojekt 4: Universität Frankfurt) entwickelt.

28.3 Grundzüge eines fachspezifischen OER-­Anforderungskatalogs Die im Projektverlauf zu erarbeitenden Meta-Standards für die fachliche, didaktische und technische Entwicklung der DiGeo-OER bilden die Grundlage für die Erstellung eines allgemeinen Anforderungskatalogs für fachspezifische OER. Dieser Katalog wird als ein offenes und nach Projektende dynamisch weiterzupflegendes Referenzwerk im Wiki-­Format für die Nachnutzung von OER in der geographischen Hochschullehre entwickelt. Neben medialen und didaktischen Gestaltungsaspekten digitaler Geomedien als anwendungsfähige Lehr- bzw. Lernmedien fließen hierfür auch Kriterien zur Qualitätssicherung für die Erstellung, Nachnutzung sowie die Bewertung von OER für formale Bildungsprozesse ein.

28.3.1 OER und Fachlichkeit: Eine Frage der Qualität!? OER sind im formalen Bildungsgeschehen mit einem gewissen „Reputationsproblem“ konfrontiert. Wie Brückner argumentiert, steht dem mit OER verbundenem „Autonomiestreben von Open Education“ (Brückner, 2018, S.  61) das etablierte Marken- und Qualitätsver-

28  Gestaltung geomedialer Lernumgebungen mittels offener Bildungsressourcen (OER) 353 Tab. 28.1  Granularität von OER (Autor: M. Kerres, 2016. Die Nutzung der Tabelle erfolgt unter unter CC-BY-SA 4.0) Level Merkmal Arbeitsblatt Unterstützt einzelne LehrLernaktivitäten Lehreinheit/ Bilden Curriculum Lehrbuch ab mit einer Sequenz von Lehr-Lerninhalten Kurs Beinhaltet Folge von Lehr-­ Lernaktivitäten, die auf ein Lernziel ausgerichtet sind

Didaktische Eigenschaft Veranschaulicht, übt oder vertieft einen Lerninhalt Führt systematisch in Lerninhalte über längere Zeitspanne ein Führt zu einem definierten Lernergebnis (z. B. Credits)

Technische Bereitgestellt von Umsetzung, z. B. z. B. Textdokument, Video, Lehrkraft Animation etc. PDF-Dokument mit multimedialen Elementen

Verlag, Stiftung, Medienanstalt, Landeszentrale, … Web Based Training, Bildungsanbieter, Online-­Kurs mit (Hoch-)Schule, Selbsttests, tutorieller Online-Akademie Betreuung, Prüfung etc. etc.

sprechen von Verlagen sowie fachlichen wie bildungsinstitutionellen Akteur*innen gegenüber. Das bedeutet, während die anerkannte und verlässliche Produktqualität von kommerziellen und proprietären Bildungsmaterialien einen nicht unwesentlichen Vertrauensvorsprung bei den Nutzer*innen generiert, ist es bei offenen Bildungmaterialien gerade die mögliche bzw. vielmehr auch die gewünschte gemeinschaftliche Weiterentwicklung und Veränderung von Wissensinhalten, die ein Vertrauensdefizit erzeugt (ebd., S. 52). In diesem Kontext spielt insbesondere auch die große Heterogenität der Produktionsweisen und Formate der Bereitstellung von OER eine Rolle, wie Camilleri, Ehlers und Pawlowski (2014), z. B. entlang der Gegenüberstellung von user-generated vs. organisationally-­produced OER und peer-produced vs. individually-authored OER, aufzeigen. Gleichzeitig geht es immer auch um die Granularität von OER (Tab. 28.1), d. h. die inhaltliche, mediale und technische Verschränkung digitaler Lernobjekte, vom einfachen Lernobjekt/Artefakt über in sich geschlossene Lehreinheiten und Module bis hin zu kompletten Kursen (vgl. Kerres & Heinen, 2015). Neben der Produktqualität von OER, die mit der erwarteten fachlichen Richtigkeit, Genauigkeit und Gültigkeit verwendeter Wissensinhalte und Quellen einhergeht (HRK, 2016), geht es also auch um die Prozessqualität im Lebenzyklus von OER und das damit implizit erwartete ‚Qualitätsversprechen‘ der an der OER-Produktion und Nachnutzung beteiligten fachlichen Akteur*innen. Mögliche Ansätze einer dementsprechenden institutionalisierten Bewertung der fachlichen Güte von OER sind z. B. Peer-Review-Verfahren, wie sie bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen etabliert sind, und webbasierte Feedback- und Taggingfunktionen als Bestandteil von OER selbst. Darüber hinaus können auch kriterienbasierte Instrumente zur Qualitätssicherung hilfreich sein, um langfristig zu einer Standardisierung der Bewertung von OER zu gelangen  – und dies auch im Sinne von dem OER-Charakter widerstrebenden (messbasierten) Normierungs-, Regulierungs- und Kontrollverfahren (Brückner, 2018). In diesem Zusammenhang ist der Qualitätsbegriff grundsätzlich als „ein äußerst komplexes, multiperspektivisches Konstrukt […], das abhängig ist vom jeweiligen Kontext der Bildungsinstitution, der Formate der Bildungsangebote und ihrer Zielgruppen“ zu verstehen (Zawacki-Richter & Mayrberger, 2017, S. 13). Zur Qualitätserfassung von OER im engeren Sinne lassen sich vier allgemeine Kriterienbereiche heranziehen (ebd.):

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Abb. 28.1  OER-Qualitätssicherungsinstrument an der HOOU. Die Verwendung erfolgt gemäß CC BY 4.0­Lizenz. Erläuterung: Das HOOU-Modell basiert auf einer synoptischen Übersicht von über 160 Qualitätskriterien verschiedener internationaler Ansätze zur Qualitätssicherung von Lernmaterialien bzw. von OER, siehe Zawacki-Richter & Mayrberger (2017). Ein Prototyp des Modells ist verfügbar unter https://www.limesurvey.unihamburg.de/index.php/survey/index/sid/161163/ newtest/Y/lang/de (Zugriff: 14.10.2021)

• • • •

Inhalt, z. B. Korrektheit, Vollständigkeit, Aktualität der Lerninhalte Didaktisches Design und Support, z. B. persönliche Betreuung, automatisches Feedback Usability und Access, z. B. Zugänglichkeit, Interface Design, Metadaten Assessment, d. h. Passung zwischen Lernzielen und Lernerfolgskontrolle

Einen Schritt in Richtung eines möglichen Standardmodells zur Qualitätssicherung von OER im deutschsprachigen Hochschulkontext unternimmt das Qualitätssicherungsinstrument für OER für die Hamburg Open Online University (HOOU) (Mayrberger et al., 2018; Zawacki-Richter & Mayrberger, 2017). Dieses kriterienbasierte Bewertungsinstrument für OER-Content stellt mit seinen zwei Dimensionen „Pädagogik/Didaktik“ sowie „Technik“ insgesamt 15 kategoriale OER-Qualitätsindikatoren (Dimensionen, Skalen, Items) bereit (Abb. 28.1). Als systematisch entwickeltes Qualitätsraster für die originär institutionelle OER-Qualitätssicherung an der HOOU bietet das Modell ein valides Schema, das für die im DiGeo-Projekt adressierten Anforderungen an die Gestaltung von OER adaptiert und fachspezifisch weiterentwickelt wird.

28.3.2 Grundzüge eines fachlichen OER-Anforderungskatalogs Die im vorherigen Abschnitt angesprochene Förderung des Vertrauens in OER qua der Reputation ihrer Autor*innen darf nicht kontextfrei gedacht werden, sondern muss als Teil des „fachlichen Gemeinschaftsgedankens“ (Community) von OER Betrachtung finden.

28  Gestaltung geomedialer Lernumgebungen mittels offener Bildungsressourcen (OER) 355

Das DiGeo-Verbundvorhaben leistet hierfür mit der Formulierung von Meta-Standards für die fachliche, didaktische und technische Entwicklung der prototypischen DiGeo-­OER-­ Struktur einen wichtigen Baustein eines fachspezifischen Qualitätsmodells in Form eines OER-Anforderungskatalogs.2 Dieser Katalog umfasst drei Dimensionen: „Fachlichkeit“, „Pädagogik/Didaktik“ und „Technik“. Die Dreiteilung ergibt sich einerseits grundsätzlich aus den für das Projektvorhaben theoriegeleitet formulierten Dimensionen der Entwicklung und Beforschung des digitalen Fachkonzeptes (Schulze et al., 2020). Andererseits wird diese Dreiteilung durch das skizzierte HOOU-Modell (Abb. 28.1) insofern konzeptionell gestützt, indem die dortige Kategorie „Inhalt/fachwissenschaftliche Fundierung“ aus der „pädagogisch-didaktischen Dimension“ herausgelöst und somit als eigenständige Dimension definiert wird. Denn hinsichtlich der engeren fachlichen Zentrierung formuliert das HOOU-Modell selbst keine Items, da die Fachlichkeit von OER im spezifischen Anwendungskontext des HOOU-Modell nicht allgemein auf Institutionsebene für alle Fächer und Disziplinen erfasst wird/werden kann. Vielmehr „liegt die Verantwortung ganz bei den beteiligten Autor*innen, die für die fachwissenschaftliche Qualität ihrer Inhalte bürgen“ (Mayrberger et al., 2018, S. 29). Da sich allerdings erst aus der Fachlichkeit des Lerngegenstands der tatsächliche Zweck einer OER  – und somit die fachliche Qualität derselben – ergibt, muss die im HOOU-Modell eher lose gedachte Verbindung der fachlichen Qualitätsprüfung von OER kritisch betrachtet und als Desidarat der fachspezifischen Forschung zu OER adressiert werden. Für die weitere Entwicklung des Anforderungskatalogs wurde das HOOU-Modell durch zwei weitere deutschsprachige Leitfäden zur Qualitätssicherung von OER-Lerneinheiten bzw. -materialien synoptisch ergänzt bzw. inhaltlich-kategorial gesättigt. Dies sind zum einen für den Hochschulbereich der Leitfaden zur Qualitätssicherung im Verbundprojekt digiLL_NRW (Wiesmann & Host, 2018) sowie zum anderen das an der Schnittstelle von Schulbildung und Lehrkräftebezug angesiedelte Qualitätsentwicklungstool für OER des eBildungslabors (2017). Auch in diesen Leitfäden werden fachliche Inhalte nicht als eigenständige Kategorie adressiert, sondern mit Bezug zur technischen bzw. medialen Gestaltung und barrierefreien Bereitstellung von Lerninhalten nur implizit berücksichtigt. Demgegenüber bietet die von Streitberger und Ohl (2017) aus geographiedidaktischer Perspektive vorgenommene domänenspezifische Erweiterung des Augsburger Analyseund Evaluationsraster für analoge und digitale Bildungsmedien (AAER) eine konkrete fachspezifische Perspektive auf OER, die im DiGeo-Kontext Berücksichtigung findet. Im Ergebnis umfasst die Dimension „Fachliche Zentrierung“ des DiGeo-Anforderungskatalogs zwei Kategorien inklusive Bewertungsitems (Abb.  28.2). Neben der originären Kategorie der „fachwissenschaftlichen Fundierung“ (siehe HOOU-Modell) ist dies die dem

 Der DiGeo-Anforderungskatalog verfügt über 16 kategoriale Qualitätsaspekte, die i. S. v. Mindeststandards und insgesamt 86 Items, die perspektivisch auch in Likert-skalierte Items überführt werden könnten, ausdefiniert sind. Eine Arbeitsversion des Katalogs ist unter https://digeo-oer.net verfügbar. 2

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Abb. 28.2  Auszug aus dem DiGeo-Anforderungskatalog (Arbeitsversion) zur domänenspezifischen Qualitätssicherung von OER-Lerneinheiten. Abgebildet ist die Dimensionen „Fachliche Zentrierung“ mit ihren als Mindeststandards formulierten Items (DiGeo-Projekt 2021)

28  Gestaltung geomedialer Lernumgebungen mittels offener Bildungsressourcen (OER) 357

DiGeo-Fachkonzept immanente Kategorie „Einsatz digitaler Geomedien“. Die darin formulierten Items resultieren u. a. aus der kategorialen Verdichtung von mit der Fachgemeinschaft in unterschiedlichen Workshops diskutierten fachspezifischen Gestaltungsaspekten geomedienbasierter OER (Schulze et al., 2020). Weitere Inhalte des Anforderungskatalogs sind allgemeine Ausführungen zu konzeptionellen Gestaltungsaspekten von OER-Lerneinheiten (u. a. Granularität von Lernobjekten) sowie zu OER-­Metadaten-­Standards. Hintergrund ist die Integration der prototypischen DiGeo-OER über die lokalen E-Learning-Repositorien der Verbundprojekthochschulen hinaus in OER-­Suchmaschinen wie dem OER Search Index für Hochschulen (https://oersi.de). Darüber hinaus werden neben grundlegenden Definitionen, z. B. zum OER-Begriff und den Lizenz- bzw. Freiheitsgraden, auch Aspekte zur curricularen Passung (Zielgruppenorientierung, Kompetenzorientierung) formuliert. Bis Projektende werden zusätzlich sowohl Gestaltungsaspekte digitaler Geomedien als anwendungsfähige digitale Lehr- bzw. Lernmedien für den Geographie- bzw. Sachunterricht als auch didaktische Leitlinien für Online-­Lernumgebungen (Blended Learning, Flipped Classroom, multimediales Lernen) erarbeitet.

28.4 Fazit Mit der Entwicklung des Fachkonzeptes DiGeo zur mündigen Geomediennutzung zeigt das in diesem Kapitel skizzierte Verbundvorhaben, welche Aspekte für die Gestaltung offener Lernumgebungen zur Realisierung „Geographischer Bildung und Digitalisierung im Fach Geographie“ (HGD, 2020) zu berücksichtigen sind. Dabei geht es vordergründig nicht um Technik! Wie erläutert geht es vielmehr um die Logiken und Qualität(en) von digitalen Bildungsangeboten und -ressourcen sowie um die Handlungspraktiken der involvierten Akteur*innen in Verbindung mit fachlich-digitalen Anforderungen. In diesem Kontext führt das DiGeo-Projekt drei Bereiche der Forschung zur digitalen Hochschulbildung zusammen: 1) die Gelingensbedingungen von OER und ihren organisationellen und fachlichen Perspektiven innerhalb der deutschen Bildungslandschaft, 2) die fachspezifische Diskussion der Konfiguration und Formatierung digitaler Medien als Lehr- bzw. Lernmedien im Zeichen von Bildung in Zeiten digitaler Transformation sowie 3) die Debatte über die Digitalisierung in der Lehrkräftebildung, wie sie derzeit u. a. in der Qualitätsoffensive Lehrerbildung im BMBF-Kontext thematisiert wird (van Ackeren et al., 2019). Mit der Diskussion um OER rückt dabei der Gedanke der Kollaboration als Tätigkeit und Fähigkeit im Sinne des gemeinschaftlichen Tuns an der „digitalen Sache“ in den Fokus formaler Bildungsbezüge. Damit unmittelbar verbunden ist der Perspektivenwechsel im Umgang mit Wissensressourcen in formalen Bildungskontexten von institutionell geschlossenen Lernökosystemen hin zu einem Milieu der gemeinschaftlich-offenen, netzwerkförmig-­ synergetischen und kooperativ-kreativen Erstellung, Nutzung und Weiterentwicklung verteilter Bildungsmaterialien. Der Charakter dieses Perspektivwechsels lässt sich mit Heck et al. (2020, S. 254) wie folgt zusammenfassen: „The concept

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of OER includes the idea of collaboration among educators, the networks behind the creation of learning material, and the interconnection between resources and educators.“ Auch wenn dieses Zitat den Kerngedanken der digitalen Gestaltung fachlicher Lernumgebungen im Sinne offener Lehr- bzw. Lerngemeinschaften abschließend pointiert auf den Punkt bringt, dürfen die damit verbundenen Herausforderungen und Unsicherheiten der fachkulturellen, rechtlichen und technischen Umsetzung des OER-Konzepts in der Lehrpraxis nicht unerwähnt bleiben. Wie in diesem Kapitel gezeigt, gilt Vergleichbares auch für die Sicherung fachlicher Qualität(en) im Umgang mit offenen Bildungsmaterialien. Förderhinweis Das diesem Kapitel zugrunde liegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 16DHB3003 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei dem Autor.

Literatur van Ackeren, I., Aufenanger, S., Eickelmann, B., Friedrich, S., Kammerl, R., Knopf, J., et al. (2019). Digitalisierung in der Lehrerbildung. Herausforderungen, Entwicklungsfelder und Förderung von Gesamtkonzepten. DDS – Die Deutsche Schule, 111(1), 103–119. https://doi.org/10.31244/ dds.2019.01.10 Bellinger, F., & Mayrberger, K. (2019). Systematic Literature Review zu Open Educational Practices (OEP) in der Hochschule im europäischen Forschungskontext. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, 34, 19–46. https://doi.org/10.21240/mpaed/34/2019.02.18.X Bock, A., & Tribukait, M. (2019). Forschung und Open Educational Resources – Eine Momentaufnahme für Europa. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, 34, 47–66. https://doi.org/10.21240/mpaed/34/2019.02.22.X Brückner, J. (2018). Eine Frage der Qualität – Qualitätsforderungen an Open Educational Resources in Schule und Hochschule. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, 32, 51–62. https://doi.org/10.21240/mpaed/32/2018.10.23.X Camilleri, A. F., Ehlers, U.-D., & Pawlowski, J. (2014). State of the art review of quality issues related to open educational resources (OER). JRC scientific and policy reports: Vol. 26624. EUR-OP. DGfG (Deutsche Gesellschaft für Geographie). (2020). Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss der Deutschen Gesellschaft für Geographie. Deutsche Gesellschaft für Geographie. eBildungslabor. (2017). Qualitätsentwicklungstool für OER. https://oercheck.de/. Zugegriffen am 10.06.2021. Heck, T., Kullmann, S., Hiebl, J., Schröder, N., Otto, D., & Sander, P. (2020). Designing open informational ecosystems on the concept of open educational resources. Open Education Studies, 2(1), 252–646. https://doi.org/10.1515/edu-­2020-­0130 HGD (Hochschulverband für Geographiedidaktik). (2020). Positionspapier Geographische Bildung und Digitalisierung. http://geographiedidaktik.org/de/service/digitalisierung/. Zugegriffen am 14.10.2021. Horz, H., & Schulze-Vorberg, L. (2017). Digitalisierung in der Hochschullehre. Konrad Adenauer Stiftung: Analysen & Argumente: Digitale Gesellschaft, 283, 1–12.

28  Gestaltung geomedialer Lernumgebungen mittels offener Bildungsressourcen (OER) 359 HRK (Hochschulrektorenkonferenz). (2016). Senatsbeschluss zu Open Educational Resources (OER) vom 15.03.2016. https://www.hrk.de/positionen/beschluss/detail/senatsbeschluss-­zu-­ open-­educational-­resources-­oer/. Zugegriffen am 14.10.2021. Kanwischer, D. (2014). Digitale Geomedien und Gesellschaft. Zum veränderten Status geographischen Wissens in der Bildung. Geographische Rundschau, 66(6), 12–17. Kerres, M. (2016). Open educational resources (OER). In N. Gronau, J. Becker, E. J. Sinz, L. Suhl, & M. Leimeister (Hrsg.), Enzyklopädie der Wirtschaftsinformatik. GITO. Kerres, M. (2019). Offene Bildungsressourcen und Open Education: Openness als Bewegung oder als Gefüge von Initiativen? MedienPädagogik, 34, 1–18. https://doi.org/10.21240/mpaed/34/2019.02.17.X Kerres, M., & Heinen, S. (2015). Open informational ecosystems: The missing link for sharing educational resources. International Review of Research in Open and Distributed Learning, 16(1), 24–39. Mayrberger, K. (2012). Partizipationschancen im Kulturraum Internet nutzen und gestalten: Das Beispiel Web 2.0. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung, 21, 1–25. https://doi.org/10.21240/mpaed/21/2012.01.12.X Mayrberger, K., Zawacki­Richter, O., & Müskens, W. (2018). Qualitätsentwicklung von OER – Vorschlag zur Erstellung eines Qualitätssicherungsinstrumentes für OER am Beispiel der Hamburg Open Online University. Sonderband zum Fachmagazin Synergie. Universität Hamburg. https:// doi.org/10.25592/978.3.924330.67.5 Pokraka, J., Gryl, I., Schulze, U., Kanwischer, D., & Jekel, T. (2017). Promoting learning and teaching with geospatial technologies using the spatial citizenship approach. In L. Leite, L. Dourado, A. S. Afonson, & S. Morganda (Hrsg.), Contextualizing teaching to improving learning: The case of science and geography (S. 223–244). Nova Science Publishers. Schulze, U., & Gryl, I. (2021). Geographieunterricht im Zeichen digitaler Transformation. In V. Frederking & R. Romeike (Hrsg.), Fachliche Bildung im Zeichen von Digitalisierung, Big Data und KI. Theorie, Empirie, Praxis (S. 143–173). Waxmann. Schulze, U., Kanwischer, D., Gryl, I., & Budke, A. (2020). Mündigkeit und digitale Geomedien – Implementation eines digitalen Fachkonzepts in der geographischen Lehrkräftebildung. AGIT – Journal für Angewandte Geoinformatik, 6, 114–123. https://doi.org/10.14627/537698011 Streitberger, S., & Ohl, U. (2017). Einsatzmöglichkeiten des Augsburger Analyse- und Evaluationsrasters für Bildungsmedien in der Geographiedidaktik. In C. C. Fey & E. Matthes (Hrsg.), Das Augsburger Analyse- und Evaluationsraster für analoge und digitale Bildungsmedien (AAER) (S. 141–166). Julius Klinkhardt. Wiesmann, M., & Host, H. (2018). Leitfaden zur Qualitätssicherung von Lerneinheiten im Rahmen des Verbundprojekts DigiLL. (Unveröffentlicht, Stand: 02.07.2018). Zentrum für LehrerInnenbildung der Universität zu Köln. Zawacki-Richter, O., & Mayrberger, K. (2017). Qualität von OER. Internationale Bestandsaufnahme von Instrumenten zur Qualitätssicherung von Open Educational Resources (OER) – Schritte zu einem deutschen Modell am Beispiel der Hamburg Open Online University. Sonderband zum Fachmagazin Synergie. Universität Hamburg. https://doi.org/10.25592/978.3.924330.61.3

Perspektive 10

Geographische Bildung in digitalen Kulturen fördert Lehrende, sich in formellen und informellen Kontexten mit den Möglichkeiten der Digitalisierung für das Fach kreativ und kritisch auseinanderzusetzen und hierfür die eigene Professionalisierung zu reflektieren. Diese Professionalisierung ist zugleich Bedingung für eine adäquate geographische Vermittlung im Zeitalter der Digitalisierung. Kap. 29: Basiskommentar Dieses Kapitel stellt ausgehend von den gesellschaftlichen Verhältnissen in einer Kultur der Digitalität ausgewählte Ansätze der Professionalisierungsforschung von Lehrer*innen vor und nimmt Bezüge zur geographischen Bildung auf. Als daraus resultierende fachdidaktische Perspektive wird der Spatial-Citizenship-Ansatz und dessen Relevanz für die Professionalisierung von Geographie-Lehrkräften diskutiert. Kap. 30: Good-Practice-Beispiel 1 Die Good Practice stellt die Methode animation live speaking vor, welche in einem Seminar an der Universität in der Ausbildung angehender Geographielehrkräfte eingesetzt wurde, um die Studierenden mit Hilfe des Expertisenansatzes für einen sprachbewussten Geographieunterricht mit Hilfe digitaler (Geo-)Medien zu sensibilisieren. Kap. 31: Good-Practice-Beispiel 2 Virtueller Realität wird ein hohes Bildungspotenzial speziell auch im Geographieunterricht zugeschrieben. Wie zukünftige Lehrkräfte Kompetenzen erwerben können, die ihnen das Ausschöpfen dieses Potenzials im Rahmen gewinnbringender Lehr-Lernumgebungen ermöglichen, wird am Beispiel zweier geographiedidaktischer Seminarangebote mit unterschiedlichen Ansätzen aufgezeigt.

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Perspektive 10

Kap. 32: Forschungsbeitrag In diesem Kapitel werden die Ergebnisse einer Panel-Untersuchung mit Lehrpersonen des Fachs Geographie und Wirtschaftskunde dargestellt, die Chancen und Herausforderungen für die Lehrer*innenprofessionalisierung im Zuge der pandemiebedingten Digitalisierung von Lehr-Lernprozessen in den Blick nimmt. Die Ergebnisse verweisen auf vielfältige Anforderungen in der Lehrer*innenaus- und Fortbildung sowie auf ein umzusetzendes Forschungsprogramm.

Die Professionalisierung von Lehrkräften für eine geographische Bildung in digitalen Kulturen

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Ausgewählte Ansätze der Professionalisierungsforschung in ihrer fachdidaktischen Bedeutung Nicole Raschke

Zusammenfassung

Der Basiskommentar entfaltet ausgehend von Überlegungen zur Digitalisierung in geographischen Bildungskontexten das Thema der Professionalisierung von Lehrkräften, indem konzeptionelle Ansätze der Professionalisierungsforschung in ihrer fachdidaktischen Relevanz vorgestellt und diskutiert werden. Anhand strukturtheoretischer, kompetenzorientierter und berufsbiographischer Ansätze wird ausgeführt, dass es für die Professionalisierung von Lehrer*innen unter den Bedingungen der Digitalität zentral ist, ein umfassendes Bewusstsein über Digitalisierung in fachlichen Bildungskontexten zu entwickeln. Dabei ist wichtig, die eigenen Entscheidungen im pädagogischen Handeln zu reflektieren, bspw. vor dem Hintergrund von Antinomien, Kompetenzmodellen oder auch berufsbiographischen Erfahrungen. Es braucht zudem eine explizit fachdidaktische Perspektive auf Digitalisierung in der Lehrer*innenbildung, die beispielsweise über den Spatial-Citizenship-Ansatz eingebracht werden kann. Schlüsselwörter

Professionalisierung · Lehrer*innenbildung · Spatial Citizenship

N. Raschke (*) Professur für Geographische Bildung, TU Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_29

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29.1 Digitalisierung, geographische Bildung und Professionalisierung von Lehrkräften Die mit dem „epochalen Metabegriff Digitalisierung“ (Rhode-Jüchtern, 2020) verbundene Durchdringung aller Lebensbereiche und die sich wandelnden, gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse in der „Kultur der Digitalität“ (Stalder, 2016) prägen auch die Auseinandersetzung mit Bildung, Bildungsgegenständen oder Lerngelegenheiten. Dabei geht es vor allem darum, sich im weiten Feld der Gestaltung einer Kultur der Digitalität orientieren zu können (Rhode-Jüchtern, 2020). Dies berührt zum Beispiel Fragen nach dem Bildungsgehalt von digitalen Lernanlässen, den methodischen Zugängen zu Lehr-Lernarrangements oder der Förderung raumbezogener Mündigkeit, wenn beispielsweise nach Fähigkeiten gefragt wird, die in einer digital geprägten Kultur erforderlich sind. Auch die Verhältnisse des Lernens, zum Beispiel in Bezug auf den Lernprozess selbst oder den methodischen Umgang mit Technik, haben sich durch Digitalisierung grundsätzlich gewandelt. In einer Kultur der Digitalität gilt ein rezipierender, produktiver, kritischer, kreativer und zielgerichteter Umgang mit digitalen Medien als Kulturtechnik (KMK, 2016; van Ackeren et  al., 2019; HGD, 2020). In schulischen Bildungskontexten geht es ganz zentral um die Förderung von Mündigkeit und Handlungskompetenzen und damit um eine aktive, verantwortungsbewusste Teilhabe an einer digital geprägten Gesellschaft, auch und gerade im Überschneidungsbereich zwischen formaler und informeller Bildung. Weil Kinder und Jugendliche in ihrer Sozialisation wesentlich durch Digitales geprägt sind, sind Bezüge zum Digitalen in Lerngelegenheiten und die Aushandlungen darüber in der Lehrer*innenbildung essenziell. Jedoch zeigt sich diese grundlegende alltägliche Bedeutung nicht in einer entsprechend intensiven unterrichtlichen Auseinandersetzung (Schmid et  al., 2017; Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2018). Dies kann auf Unsicherheiten, Desinteresse oder mangelnde Professionalisierung der Lehrkräfte im Hinblick auf Digitalisierung zurückgeführt werden und verweist auf die zentrale Bedeutung einer zukunftsweisenden Lehrer*innenbildung (van Ackeren et  al., 2019). Lehrer*innen sollen fähig sein, sich aus fachlicher, fachdidaktischer und technischer Perspektive reflektiert mit Bildung in einer digitalen Welt auseinanderzusetzen und digitale Medien kompetent für die Gestaltung des Lernens einzusetzen. Sowohl Schüler*innen als auch Lehrer*innen benötigen Fähigkeiten, die den medialen und gesellschaftlichen Entwicklungen gerecht werden und sie ermächtigen, diese zu gestalten. Damit verbunden ist auch der Anspruch, Bildungsprozesse in digitalen Kulturen auf selbstgesteuertes und partizipatives Lernen auszurichten. Das impliziert Veränderungen der Tätigkeiten und Rollen von Schulleitungen, Lehrer*innen und Schüler*innen, verwischt oder verschiebt Grenzen zwischen informellen und formalen Lernprozessen und muss entsprechend umfassend in verschiedenen Phasen der Lehrer*innenbildung adressiert werden. Das Fach Geographie ist im Hinblick auf seinen Bildungsgehalt und die Kompetenzbereiche (DGfG, 2020) sowie durch die Veränderungen in den Bezugswissenschaften konzeptionell, inhaltlich und methodisch stark durch Digitalisierung geprägt, weil sich sowohl der Umgang mit geographischen Informationen, die Produktion derselben als auch das

29  Die Professionalisierung von Lehrkräften für eine geographische Bildung …

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geographische Denken und Handeln selbst ändern bzw. geändert haben (Boeckler, 2014; Felgenhauer & Gäbler, 2019). Damit sind die Aushandlungen über geographische Bildung in digitalen Kulturen, die insbesondere im Positionspapier des Hochschulverbandes für Geographiedidaktik (2020) zum Ausdruck kommen, von grundlegender Relevanz, insbesondere in einer zukunftsfähigen Lehrer*innenbildung. Die Herausforderungen in der geographischen Bildung liegen also keinesfalls allein darin, technische Möglichkeiten anzuwenden, sondern darin, geographisches Denken und raumwirksames Handeln unter den Bedingungen der Digitalisierung zu fördern. Das gilt sowohl mit Blick auf die inhaltlichen Aspekte digitaler Geographien oder Neogeographien (Turner, 2006) als auch mit Blick auf formale und methodische Aspekte digitaler Alltagskulturen. Daran schließen sich Fragen nach der Art und Weise der Professionalisierung von Lehrkräften und damit verbundenen Zugängen in einer Kultur der Digitalität an, denen in diesem Kapitel nachgegangen werden soll. Der Basiskommentar will einen Überblick über Ansätze der Professionalisierungsforschung geben und unter besonderer Berücksichtigung des Spatial-Citizenship-Ansatzes aufzeigen, welche Aspekte für geographiedidaktische Lehrer*innenbildung in einer Kultur der Digitalität bedenkenswert und relevant sind.

29.2 Ansätze der Professionalisierungsforschung und deren fachdidaktische Relevanz für die Lehrer*innenbildung Wie mit Blick auf das geographiedidaktische Positionspapier (HGD, 2020) deutlich wird, ist Professionalisierung von Lehrer*innen Bestandteil der Diskussionen um geographische Bildung in einer digitalen Gesellschaft. Allgemein kann als Ziel des professionellen Handelns eine selbstbestimmte Handlungsfähigkeit von Personen angenommen werden. Professionalisierung ist sowohl als individueller Prozess der beruflichen Entwicklung als auch als gesellschaftliche Erwartung bzw. soziale Institutionalisierung derselben zu verstehen. Dafür braucht es reflektierte Lehrkräfte, die mit den ihnen widerfahrenden, komplexen Anforderungen flexibel umgehen können (Abels, 2011), wie es auch Schön (1983) im Ansatz des „reflective practitioner“ beschreibt. Die Professionalisierung von Lehrer*innen ist einerseits von der Entwicklung einer wissenschaftlichen, erkenntniskritischen Haltung und andererseits von einer praktischen, erfahrungsbasierten Haltung geprägt. Insofern handelt es sich um einen studien- und berufsbegleitenden Prozess, der in verschiedenen Forschungsansätzen mit je eigenen Untersuchungsschwerpunkten differenziert betrachtet werden kann. Mit Terhart (2011) lassen sich strukturtheoretische, berufsbiographische und kompetenztheoretische Ansätze voneinander unterscheiden. Strukturtheoretische Ansätze In strukturtheoretischen Ansätzen (u. a. Oevermann, 1996) werden tiefliegende Strukturen pädagogischen Handelns untersucht, welche die Bedeutung von Reflexion und Reflexivität für die Professionalisierung von Lehrer*innen besonders herausstellen. Pädagogisches Handeln ist durch Antinomien, d. h. widerstreitende Orientierungen bestimmt (Helsper,

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2016). Antinomien liegen zum Beispiel in den Spannungsfeldern (1) Nähe vs. Distanz zu den Schüler*innen, (2) Autonomie als Anspruch und Ziel von Bildung vs. Heteronomie des Bildungssystems und der Strukturen (3) Differenzierung und Heterogenität von Lernenden vs. Homogenisierung von Lernenden im Bildungssystem und in der Unter­ richtspraxis. Diese Widersprüche und die Reflexion darüber sind in einer fachdidaktischen Perspektive auf Digitalisierung relevant, weil sie unterrichtspraktische und konzeptionelle Entscheidungen der Akteur*innen prägen. Exemplarisch werden diese Spannungsfelder in universitären Lehrveranstaltungen zum digitalen Geographieunterricht deutlich, wenn die Rolle der Informations- und Kommunikationstechnologien in Lernarrangements zwischen dem Anspruch der Studierenden nach offenen, schüler*innenorientiert-reflexiven Formaten für eine geographische Bildung in der Kultur der Digitalität einerseits und stark lehrer*innenzentrierten, kleinschrittigen Umsetzungen in den durch die Studierenden entwickelten und erprobten Konzepten andererseits (Raschke, 2020) oszillieren. Eine selbstkritische Betrachtung eigener Entscheidungen und eigenen Handelns wird als reflexives Steigerungsmoment im Hinblick auf Professionalisierung gesehen (Terhart, 2011). Kompetenzorientierte Ansätze Im Gegensatz dazu setzen kompetenzorientierte Ansätze bei der Organisation von Bildungsprozessen an und gehen davon aus, dass sich Professionalisierung in der Formulierung der konkreten Aufgaben und dafür notwendigen Fähigkeiten genau beschreiben lässt. Im Zusammenhang mit digitalisierungsbezogenen Kompetenzen existieren verschiedene Vorschläge, die einen normativen Rahmen dessen aufzeigen, wie digital souveräne Lehrende agieren sollen. Das TPaCK-Modell geht von den Wissensbereichen Technik (technology), Pädagogik (pedagogy) und Inhalt (content knowledge) sowie den spezifischen Überschneidungsbereichen aus (Mishra & Koehler, 2006.). Als Fortsetzung des TPaCK-Modells in Bezug auf die Perspektive der Digitalität versteht sich das DPaCK-­ Modell (Digitality related Paedagogical and Content Knowledge-Modell) für den naturwissenschaftlichen Unterricht bei Huwer et  al. (2019). Dabei werden ausgehend von Merkmalen der Kultur der Digitalität (Stalder, 2016) eben nicht allein technologische Aspekte der Digitalisierung in den Blick genommen, sondern weiter gefasste gesellschaftliche Merkmale, die Stalder (2016) mit Digitalität, Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität beschreibt. Mit Hilfe dieser Modelle lassen sich die Anforderungen an Lehrpersonen, die sich durch, mit und über Digitalisierung ergeben, systematisch beschreiben oder im Sinne einer Evaluation oder (Selbst-) Reflexion einschätzen. Andere Modelle stellen auf Grundlage mentaler und praktischer Lernprozesse den Kompetenzentwicklungsprozess der Lehrpersonen dar und unterscheiden Niveaustufen der Entwicklung von Fähigkeiten der Lehrpersonen. Demnach benötigen Lehrpersonen sowohl Kompetenzen für den Umgang mit digitalen Medien als auch Kompetenzen für die didaktische Implementierung und deren Reflexion und Evaluation. Der europäische Rahmen für die digitale Kompetenz von Lehrenden (DigCompEdu) beschreibt die Fähigkeiten von Lehrenden anhand von sechs Bereichen und 22 Kompetenzen, die im Sinne einer Progression angelegt sind. Insbesondere in Bezug auf die Selbsteinschätzung bieten die Kompetenzraster

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und daran angelegte Selbsttests hilfreiche, aber keine fachdidaktischen Anregungen im Prozess der Professionalisierung. Gegenwärtig wird aus einer postdigitalen Perspektive auch darüber diskutiert, ob insbesondere fachdidaktische Perspektiven in diesen Modellen adäquat abgebildet sind und ob es überhaupt eine eigene Wissenskategorie zu Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) geben muss. Diese Frage erscheint post-digital durchaus plausibel, wenn in einer Kultur der Digitalität das Differenzkriterium, d. h. die binäre Unterscheidung einer analogen und einer digitalen Welt redundant wird. Allerdings ist fraglich, ob und wie eigene Erfahrungen (informelle Bildung) in einer digitalen Welt in Kompetenzen zum Lehren (formale Bildung) mit, über und durch ICT transformiert werden (Schmidt, 2020). Berufsbiographische Ansätze Schließlich beschreiben die berufsbiographischen Ansätze die Entwicklung von Professionalität auf Grundlage bisheriger (Berufs-)Erfahrungen (u. a. Bonnet & Hericks, 2014; Combe & Gebhard, 2007). Dabei steht auch die Frage im Fokus, auf welche Weise professionelle Entwicklung eigentlich stattfindet. Von Interesse sind dabei besonders jene Erfahrungen, in denen Situationen unklar, mitunter problematisch und herausfordernd erscheinen. Neben dem professionellen Wissen über die didaktische Gestaltung oder kritische Reflexivität zu technologischen Entwicklungen spielen auch Motivation, Einstellung und Selbstregulation für die Professionalisierung eine wichtige Rolle (Baumert & Kunter, 2006). In diesem Zusammenhang sind berufsbezogene Überzeugungen (Beliefs) im Hinblick auf Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) zentral, weil sie die Qualität der Unterrichtsgestaltung beeinflussen (Schmidt, 2020). In Aus- und Fortbildung von Lehrpersonen können individuelle ICT-Beliefs zum Ausgangspunkt des Lernens gemacht werden. Die knappe Darstellung der pädagogischen Ansätze zur Professionalisierung zeigt auf, dass fachspezifische Lehrer*innenbildung in einer Kultur der Digitalität an verschiedenen Ebenen ansetzen kann. Um den Herausforderungen der Professionalisierung von Lehrkräften als Bedingung geographischer Bildung im Zeitalter der Digitalisierung gerecht zu werden, braucht es allerdings zudem eine explizit fachdidaktische Perspektive, die unter anderem im Spatial-Citizenship-Ansatz zum Ausdruck kommt.

29.3 Geographiedidaktische Lehrer*innenbildung im Rahmen des Spatial-Citizenship-Ansatzes Durch die Allgegenwärtigkeit digitaler Medien haben sich der Umgang mit georeferenziellen Technologien und die Produktion georeferentieller Daten grundlegend geändert. Bei Turner (2006) oder Boeckler (2014) werden diese digitalen Geographien, die vornehmlich kollaborative und partizipative Praktiken der Raumkonstruktion und Raumaneignung umfassen, als Neogeographie/Neogeography bezeichnet. Damit ist gemeint, dass sich geographisches Denken und Handeln grundlegend wandelt, beispielsweise durch die ­Alltäglichkeit der An-

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wendung und Generierung raumbezogener Daten oder durch das Verschmelzen der medienbezogenen Rollen von Produzent*innen und Konsument*innen/Nutzer*innen zu Prosumer*innen oder Produtzer*innen dieser Daten. Gesellschaftliches Handeln ist zunehmend intensiver in Technologien eingebettet und eng damit verwoben. Lehrer*innen sind aufgefordert, den Bildungsgehalt neuer Geographien zu diskutieren, zu beurteilen und unterrichtlich zu implementieren (Raschke, 2020). Damit ist auch die Frage nach einer mündigkeitsorientierten Bildung berührt, die im Ansatz von Spatial Citizenship zum Ausdruck kommt. In der Geographiedidaktik sind mündigkeitsorientierte Bildung, digitale Raumkonstruktionen und Geomedienbildung bereits umfassend diskutiert (u. a. Jekel et al., 2015; Schulze et al., 2015; Dorsch & Kanwischer, 2020; Gryl & Jekel, 2018; Pokraka & Gryl, 2018). Die Dimensionen mündigkeitsorientierter Bildung umfassen Struktur- und Selbstreflexivität, Sich-seiner-selbst-bewusst-Sein sowie Autonomie und sind auf die Verhältnisse in der digitalen Gesellschaft übertragbar (Dorsch & Kanwischer, 2020). Am Beispiel von Algorithmizität in alltäglichen Praktiken (z. B. Social Media, Filterblasen etc.) wird deutlich, wie wichtig es ist, die Funktionsweisen zu kennen und insbesondere die Bedeutung für und Wirkung auf das eigene Denken und Handeln kritisch reflektieren zu können. Der Ansatz von Education for Spatial Citizenship stellt dabei die Bedeutung von Reflexivität (Bewusstsein über eigenen Umgang mit Geomedien sowie Konstruktionen von Wirklichkeit) und Reflexion (Wissen um die Konstruiertheit von Geomedien und Dekonstruktion dessen) im Zusammenhang mit Digitalisierung besonders heraus. Mittels digitaler Geomedien haben mündige Bürger*innen die Möglichkeit, an räumlichen Gestaltungsprozessen zu partizipieren, weil sie technologische und methodische Fähigkeiten in Bezug auf Geomedien besitzen, weil sie Geomedien kritisch reflektiert betrachten können und über kommunikative Prozesse an Aushandlungen teilhaben können. Insofern verknüpft diese Bildungskonzeption digitale Geomedien mit individueller und kollektiver Raumaneignung sowie politischer Bildung (Jekel et al., 2015). Grundlegend ist dabei, dass digitale Geomedien nicht per se in Bildungskontexte eingebracht werden bzw. als Lehr- und Lernmedien einsetzbar sind, sondern erst durch fachliche, fachdidaktische und mediendidaktische Überlegungen und unter Berücksichtigung der Bedeutung und Zielstellung des Faches in entsprechende Anwendungskontexte eingebettet werden müssen. Diese fachdidaktische Gestaltungsaufgabe ist für die Lehrer*innenbildung grundlegend.

29.4 Ausblick Ausgeführt wurde, dass es für die Professionalisierung von Lehrer*innen unter den Bedingungen der Digitalität zentral ist, ein umfassendes Bewusstsein über Digitalisierung in fachlichen Bildungskontexten zu entwickeln. Es ist wichtig und notwendig, die eigenen Entscheidungen im pädagogischen Handeln vor dem Hintergrund ausgewählter Aspekte zu reflektieren. Diese kann sich, angelehnt an die verschiedenen Zugänge zur Professionalisierungsforschung an Antinomien, Kompetenzmodellen oder auch berufsbiographischen E ­ rfahrungen und deren Reflexionen im Zusammenhang mit Digitalisierung

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orientieren. Es braucht aber zudem eine explizit fachdidaktische Perspektive auf Digitalisierung in der Lehrer*innenbildung, die beispielsweise über den Spatial-Citizenship-Ansatz eingebracht werden kann. Eine Herausforderung dabei ist, dass gegenwärtige Lehramtsstudierende selbst kaum unterrichtliche Erfahrungen mit Digitalisierung aus Perspektive der Lernenden gemacht haben, gleichzeitig aber selbst digital sozialisiert oder zumindest geprägt sind. Dadurch sind Aushandlungen zur geographischen Bildung in digitalen Kulturen an der Schnittstelle informeller und formaler Bildung zu Wechselwirkungen und Grenzverschiebungen möglich und erforderlich. Die sich anschließenden Beiträge setzen sich ausgehend von einer Kultur der Digitalität empirisch und konzeptionell mit Professionalisierung angehender Geographielehrkräfte und damit verbundener Herausforderungen auseinander. Morawski und Kuckuck zeigen am Beispiel der Methode animation-live-­ speaking, wie durch den Einsatz digitaler Medien im Geographieunterricht eine (fach-) sprachliche Förderung, Diagnose und Reflexion möglich ist. Mittrach, Wirth, Meyer und Ohl stellen ein Seminarkonzept zur Professionalisierung von (angehenden) Geographielehrkräften durch den Einsatz von virtueller Realität vor. Sie diskutieren, wie DPaCK durch den Einsatz von Virtual-Reality-(VR)-Exkursionen gefördert werden kann, und entwickeln Leitlinien zur Implementierung von VR.  Jekel, Oberrauch et  al. zeigen anhand von Lehrer*innenperspektiven auf Digitalisierung, dass auf der Ebene des Unterrichts nach wie vor eine starke Konzentration auf technische und methodische Fragestellungen gegeben ist und programmatische Entwürfe zum Lernen in einer digitalen Welt bislang nur begrenzt angekommen sind. Geographieunterricht ist im Hinblick auf seinen Anspruch und seinen Bildungsgehalt, aber auch in Bezug auf Inhalte, Medien und Methoden an den Anforderungen auszurichten, die in einer zunehmend digitalen Gesellschaft entstanden sind und zukünftig entstehen werden. Letztendlich geht es um fachlich gut ausgebildete Pädagog*innen, nicht um pädagogisch gut ausgebildete Fachexpert*innen (Abels, 2011). In Abgrenzung zu einer immerwährenden Optimierung von Lehr- und Lernprozessen schließt sich daran die Forderung einer Humanisierung und demokratieförderlichen Orientierung des Lernens an (ebd.), was auf das Lernen und Lehren in digitalen Kulturen ebenso zutrifft.

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Verwendung digitaler Medien zur sprachbewussten Professionalisierung von angehenden Geographielehrkräften

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Eine Potenzialanalyse am Beispiel der Methode animation live speaking Michael Morawski und Miriam Kuckuck

Zusammenfassung

Digitale Bildung und eine digitale Kultur an den Schulen bergen gerade im Geographie­ unterricht große Chancen, den vielfältigen Anforderungen eines sprachbewussten Unterrichts gerecht zu werden. Lehrpersonen wie auch die Schüler*innen finden heutzutage eine Vielzahl an Filmen, Videos, Dokumentationen etc. zu geographisch-relevanten Themen im Internet. Diese Medien können im Geographieunterricht genutzt werden, um mit Hilfe der hier vorgestellten Methode animation live speaking sowohl fachliche, methodische als auch fachsprachliche Kompetenzen zu fördern. In dem Artikel wird eine Methode vorgestellt, um Potenzial für die (fach-)sprachliche Förderung im Geographieunterricht unter Einbezug digitaler Geomedien (hier: Animationsclips) abzurufen und angehende Lehrkräfte und deren methodisches Repertoire stärker zu einem vielfältig differenzierenden, sprachbewussten Geographieunterricht zu befähigen. Schlüsselwörter

Animation live speaking · (Geo-)medien · Sprachsbewusster Geographieunterricht · Digitalisierung · Differenzierung

Ergänzende Information Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann [https://doi.org/10.1007/978-­3-­662-­66486-­5_30].

M. Morawski · M. Kuckuck (*) Institut für Geographie und Sachunterricht der Bergischen Universität Wuppertal, Wuppertal, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_30

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30.1 Einleitung In den pluralistischen Klassenzusammensetzungen unserer Schulen ist eine sprachliche Heterogenität seitens der Schüler*innen der Normalfall. Damit diese Heterogenität nicht institutionell benachteiligend wirkt, muss Unterricht sprachbewusst erfolgen. Auch die bildungsrelevanten Entwicklungen im Rahmen der Coronapandemie zeigen auf, dass Schüler*innen, die zu Hause andere Sprachen als Deutsch sprechen und/oder Deutsch als Zweitsprache gelernt haben, und/oder aus einkommensschwächeren und/oder bildungsferneren Familien kommen, durch den fehlenden Präsenzunterricht voraussichtlich nun einen größeren (fach-)sprachlichen Unterstützungsbedarf besitzen (Kühnert, 2020; BMBF, 2020). Gerade auch im Geographieunterricht bedeutet diese antidiskriminierende Haltung, dass Schüler*innen sprachlich so unterstützt werden, dass sie (fach-)sprachliche Fähigkeiten erwerben, um an gesellschaftlichen Diskursen teilzunehmen zu können. Weiters geht es darum, dass die Schüler*innen demnach gesellschaftliche Probleme besser verstehen, Lösungsansätze formulieren und entwickeln können (siehe u.  a. Budke & Weiss, 2014; Morawski & Budke, 2018; Budke et al., 2017; Schwarze, 2019). Kompetent (fach-)sprachlich agieren zu können, ist eine wichtige Stufe hin zu einer gleichberechtigten Mündigkeit in der Gesellschaft. Digitale Bildung und eine digitale Kultur an den Schulen offerieren gerade im Geographieunterricht große Chancen, den vielfältigen Anforderungen eines sprachbewussten Unterrichts gerecht zu werden. Lehrpersonen wie auch Schüler*innen finden heutzutage eine Vielzahl an Filmen, Videos, Dokumentation etc. zu geographisch-relevanten Themen im Internet (z. B. bei YouTube, Mediatheken der TV-Sender, Dokumentationen bei Netflix etc.). Diese aus der alltäglichen Kultur der Digitalität bekannten Medien können im Geographieunterricht genutzt werden, um mit Hilfe der hier vorgestellten Methode animation live speaking sowohl fachliche, methodische als auch fachsprachliche Kompetenzen zu fördern. Damit Lehrer*innen diese Methode einsetzen, müssen sie sie in ihrer Ausbildung (oder Fortbildung) kennenlernen, was in unserer Good Practice erreicht werden soll. In dem Artikel wird also eine Methode vorgestellt, um genanntes Potenzial für die (fach-)sprachliche Förderung im Geographieunterricht unter Einbezug digitaler Geomedien abzurufen und angehende Lehrkräfte diesbezüglich stärker zu befähigen. Für unser Beispiel verfolgen wir den (kompetenzorientierten) Expertisenansatz (u.  a. Herzmann & König, 2016, S. 61; Terhart, 2011, S. 206). Nachfolgend werden kurz die theoretischen Bezüge sowie das Seminarkonzept vorgestellt und zusätzlich wird eine Auswahl an Materialien aus dem Seminarreader vorgestellt, mit dem die Studierenden gearbeitet haben und welches online abrufbar ist.

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30.2 Professionalisierung angehender Geographielehrkräfte mit digitalen Geomedien für einen sprachbewussten Fachunterricht Eine der größten Herausforderungen des Lehrerberufs ist der Umgang mit Heterogenität und die hohe Bedeutung der Lehrkräfte und der Lehrerbildung für eine chancengerechte Bildung aller Schüler*innen (KMK, 2017a, b). Dafür benötigen sie pädagogisches, fachliches und fachdidaktisches Wissen (OECD, 2010; Horstkemper, 2004; Helmke, 2009). Das Wissen und Können erwerben die Lehrpersonen im Rahmen ihrer Ausbildung in theoretischen und praktischen Phasen (Bromme, 2008), wie beispielsweise in der hier vorgestellten Good Practice.

30.2.1 Umgang mit digitalen (Geo-)Medien Der Medieneinsatz hat sich im Zuge der digitalen Revolution in der Geographie drastisch verändert. Den Lehrkräften steht ein nahezu unerschöpfliches Arsenal an digitalen Bildund Filmmedien zur Verfügung, um geographische Räume und Sachverhalte in der Schule ansprechend zu vermitteln. Digitale (Geo-)Medien werden zudem von Schüler*innen häufig für die Informationsbeschaffung genutzt (Rat für kulturelle Bildung, 2019). Geomedien zeichnen sich dadurch aus, dass sie audiovisuelle Informationen um räumliche Informationen ergänzen, was sowohl bei Texten und Bildern (z. B. Karte, Atlas) als auch bei Animationen oder Filmen mit geographischen Inhalten angewendet werden kann (vgl. Barnickel & Vetter, 2011; Reuschenbach & Lenz, 2012). Insbesondere audiovisuelle Medien (AV-Medien) sind in der Lage, umfangreiche „Geographien“ darzustellen. Sie können Bilder eines bestimmten räumlichen Ausschnitts mit entsprechenden Geräuschen und Musik kombinieren und verschiedene Perspektiven einnehmen. Verschiedene Orte werden zueinander in Beziehung gesetzt und durch den Einsatz der verschiedenen Gestaltungsmittel – bewusst oder unbewusst – können ganz bestimmte Meinungen und Werthaltungen vermittelt und damit bestimmte normative „Bilder im Kopf“ des Betrachters suggeriert werden. Audiovisuelle Medien thematisieren bspw. Emotionen in allgemeiner Form, zeigen die Gefühle realer Personen oder erfundener Figuren und lenken das emotionale Erleben der Zuschauer*innen. Dies betrifft nicht nur deren Emotionen während der Emotionsdarstellung und Emotionsvermittlung durch audiovisuelle Medien, sondern auch emotionale Erwartungen davor und emotionale Verarbeitungsprozesse danach (Bartsch et  al., 2014, S.  14). Derartige Mechanismen konstruktivistischer Beeinflussung gilt es ebenfalls für Studierende und Schüler*innen sichtbar zu machen. Mit der alltäglichen Nutzung digitaler Geomedien gewinnen auch technische geomediale Kenntnisse und reflexive Fähigkeiten an Bedeutung. Kanwischer (2014, S. 14 f.) beschreibt das Durchschauen auch sprachlicher „Filter- und Konstruktionseffekte“, die bei der Nutzung digitaler Geomedien stattfinden, als eine zentrale Herausforderung der geographischen Bildung. Nach Gryl und Jekel (2012) stellen die Fähigkeit zur Teilhabe an der

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Geoinformationsgesellschaft („Spatial Citizen“) und die darauf aufbauenden räumlichen Analysefähigkeiten („Spatial Analyst“) die Hauptziele der schulischen Geomedienbildung dar. Sogenannte Erklärvideos, in denen geographische Sachverhalte von bestimmten YouTube-­Kanälen z. B. anhand von Animationen und voice overs fachsprachlich erklärt werden, stellen in diesem Sinne schon länger einen Trend dar (z. B. simple club). Knapp die Hälfte der 818 befragten Jugendlichen gaben an (47 %), dass sie Plattformen wie YouTube zur Wiederholung von Unterrichtsinhalten und nicht verstandenem Unterrichtsstoff, zur Bearbeitung von Hausaufgaben sowie zur Vertiefung und Vorbereitung auf Klausuren verwenden (Rat für kulturelle Bildung, 2019). Lehrkräfte nutzen solche (fertigen) Videos ebenfalls zur Vermittlung von Inhalten im Unterricht. Neben genannten Konstruktionsreflexionen bedarf auch der quantitative und qualitative fachsprachliche Gehalt dieser Erklärvideos einer didaktischen Reflexion durch die Lehrkraft. Bei der Produktion eigener Erklärvideos und Kommentare durch die Schüler*innen kann diese Methode zusätzlich zu einer gezielten Anwendung und Übung fachsprachlichen Ausdrucks im Bereich der zu adressierenden Kommunikationskompetenz eingesetzt werden. Der Artikel beleuchtet dahingehend, wie ein Seminar angehende Lehrkräfte befähigen kann, didaktisch sensibel Erklärvideos auszuwählen und diese vor dem Hintergrund (fach-)sprachlicher Anforderungen einzusetzen oder ggf. differenzierend von den Schüler*innen selbst produzieren zu lassen. Die Methode hier bezieht sich primär auf Animationen. Sie kann jedoch auch mit Dokumentationen verwendet werden. Animationen werden hier als animierte – durch den Produzenten oder Rezipienten zu bewegende – Bilder verstanden, die primär nicht auf echten Fotos oder realen anderen Aufnahmen basieren. Das im digitalen Zusatzmaterial zu findende Material beinhaltet nicht nur Aufgabenstellungen, sondern auch differenzierende Hinweise für den Einsatz mit Studierenden, Schüler*innen und Lehrkräften. Sie finden dieses unter der zu Beginn des Kapitels angegebenen DOI im Bereich „Elektronisches Zusatzmaterial“. In der hier vorgestellten Good Practice dient sowohl die KMK-Vorgabe „Kompetenzen in der digitalen Welt“ als auch der Medienkompetenzrahmen in NRW als Grundlage für die Planung und Begründung von Unterrichtsvorhaben (KMK, 2017a, b; Ministerium für Schule NRW, 2020).

30.2.2 Vorstellung der Methode (animation live speaking) In der Methode animaton live speaking geht es praktisch darum, dass Schüler*innen einen (mündlichen) Erklärtext formulieren und diesen (spontan oder mit Vorbereitung) über ein (ggf. stummes) Animations- oder Dokumentationsvideo sprechen. Sie sprechen also quasi den Kommentar des Videos, den/die Sprecher*in, ein und nehmen sich auf. Dabei muss darauf geachtet werden, dass der fachsprachliche Ausdruck präzise zu den Ausschnitten im Video passt und dass die verwendete Fachsprache und die verwendeten

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Begriffe richtig sind. Die Schüler*innen müssen also nicht nur die Zeit im Blick halten, sondern auch ihre erarbeiteten Unterrichtsinhalte auf den Fokus des Videos zuschneiden. Das Video kann von den Schüler*innen auch selbst erstellt oder selbst ausgesucht werden. Verschiedene Varianten der (sprachlichen) Differenzierung sind dabei eben vielfältig möglich (siehe Material – Aufgabe 4) (Emmermann & Fastenrath, 2016). Für die Lehrkräfte bestehen neben einem möglichen Motivationszuwachs der Schüler*innen weitere Vorteile darin, dass mehr Schüler*innen einen höheren Sprechanteil haben. Weiter kann die Lehrkraft gezielter (fach-)sprachlich diagnostizieren und reflektieren. Zu den sprachlichen Produkten, die beispielsweise auf Basis der bis zu diesem Zeitpunkt erfolgten fachlichen Bildung im Unterricht in der Klasse erstellt werden können, können die Mitschüler*innen gezieltes Feedback geben. Dieses Feedback kann eben durch gezielt gewählte Kategorien auf einem Feedbackbackbogen von der Lehrkraft selektiver gesteuert werden. Im (Good-Practice)-Seminar und durch das Arbeitsmaterial (siehe digitales Zusatzmaterial, unter der zu Beginn des Kapitels angegebenen DOI im Bereich „Elektronisches Zusatzmaterial“.) sollen Studierende anhand verschiedener Schritte so reflektieren, inwiefern die Methode für sie und deren Lerngruppe didaktisch reduziert zu dem Unterrichtsthema (z. B. hier: „Bewegte Erde“) eingesetzt werden kann. Diese Methode wird bereits erfolgreich im bilingualen Geographieunterricht in der simultanen Förderung von Sprache und Inhalt eingesetzt und lässt sich auf den sprachbewussten monolingualen Fachunterricht übertragen (siehe auch Morawski & Budke, 2017).

30.2.3 Sprachsensibler Geographieunterricht mit Hilfe von (Geo-)Medien Mit Hilfe digitaler (Geo-)Medien können angehende Geographielehrkräfte neben fachlichen und methodischen Kompetenzen auch Fähigkeiten erwerben, Geographieunterricht sprachbewusst zu gestalten. Unter einem sprachbewussten Geographieunterricht wird ein Unterricht verstanden, der „die fachspezifischen sprachlichen Anforderungen für das Verständnis und zur Beantwortung geographischer Fragestellungen im Unterricht, ausgehend von den Voraussetzungen der Schüler*innen, berücksichtigt“ (siehe auch Budke & Weiss, 2014, S.  127; Golay, 2004; Lenz, 2002; Schwarze, 2019). Eine Reflexion dieser Anforderungen erfolgt über die Einordnung in das Modell geographischer Sprachkompetenz (Abb. 30.1). Dieses hilft Lehrkräften dabei, im Unterricht passende Materialien, Methoden und Aufgabenstellungen sprachbewusst hinsichtlich der Zielsetzung zu reflektieren. Sprachliche Fähigkeiten von Schüler*innen hängen auch im Geographieunterricht stark davon ab, ob die sprachlichen Anforderungen dort mündlich oder schriftlich/textuell sowie medial-konzeptionell graphisch oder phonetisch behandelt und/oder aufbereitet werden (Abb. 30.1). Ein besonderes Augenmerk ist bei der hier vorgestellten Methode auf die sprachliche Bearbeitung von Informationen zu legen, die graphisch-visuell und auch diskontinuierlich in Animationsclips oder Videoausschnitten vorliegen (siehe auch Budke & Kuckuck, 2017, S. 26). Diese sprachliche Übung ist durch den Einsatz digitaler Medien und der Visuali-

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Abb. 30.1  Modell der sprachlichen Anforderungen/Fähigkeiten im Rahmen einer geographischen Sprachkompetenz (nach Morawski & Budke, 2017)

tät des verwendeten Materials eben besonders geeignet. Die im Modell (Abb.  30.1) enthaltenen Dimensionen (Rezeption, Interaktion, Produktion und Transfer) dienen demnach noch präziser dazu, die unterschiedlichen Ebenen geographischer Sprachkompetenz didaktisch gezielt einzuordnen. Mit Transfer/Mediation sind – hier ergänzend – Codewechsel gemeint, zum Beispiel in einem bewussten, durch eine Aufgabe initiierten Wechsel von Alltagszur Fachsprache oder von einem kartographischen Code zu z.  B. einem mündlichen Fachtext – wie in diesem Beispiel ein erklärender Fachkommentar, der über ein Animationsoder Dokumentationsvideo gelegt wird. Die vier Bereiche sind generell als verflochten und sich überschneidend zu betrachten. Nichtsdestotrotz sind die Spalten hier nebeneinander dargestellt (Abb. 30.1), um u. a. Studierenden und Lehrkräften zu erlauben, Methoden, Ziele und/ oder Fördermaßnahmen auf einen bestimmten Teilbereich zu beziehen und zu präzisieren. Die höchste Stufe von Sprachkompetenz im Geographieunterricht ist die Stufe E3 – die Stufe angemessener und kompetenter sprachlicher Handlungen im Rahmen geographischer Diskursprozesse. Gemeint ist damit auch, dass Schüler*innen verstehen, was von ihnen bei bestimmten (durch die Lehrkraft) eingeforderten sprachlichen Handlungen auf inhaltlicher wie sprachlich-struktureller Seite verlangt wird. Dieses Verstehen setzt metakognitives Wissen voraus (siehe auch Morawski & Budke, 2017, S.  34), u.  a. nämlich, welche sprachlichen Mittel und Prozesse genau diese Anforderung im geographischen Kontext und hier bei der Kommentierung und/oder Erstellung des Videos kennzeichnen. Die angehenden Lehrkräfte sollen durch die Seminarsitzung und das Modell eben dahingehend geschult werden, sensibel zu reflektieren, welche sprachlichen Fähigkeiten ihre Schüler*innen mitbringen und welches Differenzierungsniveau der Methode für ihre Schüler*innengruppe passend wäre. Dieses Vorgehen soll die Studierenden für eine

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sprachbewusste Unterrichtsplanung mit dem effizienten Einsatz digitaler Medien vor dem Hintergrund ihrer Schülerschaft sensibilisieren.

30.3 Vorgehensweise des Seminars und Good-Practice-Material Das hier vorgestellte Seminar aus dem Master und die Methode wurden während der Coronapandemie zunächst digital durchgeführt, der Projekttag an der Schule konnte dann vor Ort stattfinden. Projektaufgaben im Rahmen des Praxissemesters und/oder Blockveranstaltungen sind für den Einsatz in der Hochschullehre ebenfalls denkbar. An der Good Practice lässt sich besonders gut zeigen, wie Studierende Schüler*innen dazu befähigen, anhand digitaler Medien fachsprachlich differenziert geographische Inhalte zu erarbeiten. Der Schwerpunkt liegt hier auf der mündlichen und visuellen Produktion geographischer Inhalte (siehe Modell) und der Herausforderung präziser didaktischer Reduktion durch die Studierenden. Die Methode wurde an einer Pionierschule für Digitalisierung durchgeführt. Die vorhandene Ausstattung war überdurchschnittlich und dieser digitale Vorteil sollte bei der Durchführung weiterer Seminare reflektiert werden. Schüler*innen und Studierende hatte bspw. alle Zugriff auf ein eigenes Tablet. Das Seminar wurde in Kooperation mit einer siebten Klasse an einem Gymnasium in NRW durchgeführt, in der das Thema „Bewegte Erde“ im Kernlehrplan eine zentrale Rolle spielt. Es ließe sich aber in diesem Themenbereich bspw. auch auf die Einführungsphase der Oberstufe übertragen. Das Seminar wurde so durchgeführt, weil sowohl die Erfahrung der Dozierenden als auch die der Studierenden einen großen Bedarf an der Evaluierung von Methoden für die fachsprachliche Förderung durch digitale Medien signalisierte.

30.3.1 Ablauf Abb. 30.2 zeigt den Ablauf des Seminars, in welchem – neben anderen Aspekten – der Einsatz der Methode geübt wurde. Der hier dargestellte Ablauf ist als anpassbare Scha­blone für den Einsatz in der Hochschullehre zu verstehen. Die grauen Blöcke illustrieren Seminarsitzungen, die die Diagnose der fachsprachlichen Fähigkeiten der Schüler*innen durch die Studierenden, die fachinhaltlich-methodische Reflexion und die Professionalisierung von Studierenden zum Einsatz digitaler Medien/sprachbewusster Methoden im Geographieunterricht behandeln. Die Studierenden diskutieren hier in kooperativ angelegten Gruppenarbeiten den Einsatz verschiedener digitaler Medien sowie die Notwendigkeit sprachbewusster Förderung im Fachunterricht. In einem ersten Projekttag probieren die Studierenden Methoden aus, um die fachsprachlichen Kenntnisse der Schüler*innen zu diagnostizieren, mit denen sie dann auch die Unterrichtsstunde durchführen. Die blauen Blöcke (ab 4.) kennzeichnen die Sitzungen, die die praktische Umsetzung der geplanten Unterrichtseinheiten durch die Studierenden und die folgende gemeinsame Reflexion zum sprachbewussten Einsatz von digitalen Medien im Geographieunterricht behandeln.

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Abb. 30.2  Schematischer Ablauf des Seminars zur Professionalisierung bzgl. (digitaler) Methoden (fach-)sprachlicher Förderung

In dem Reader für Uni@Home/Distanzlernphasen sind Hilfestellungen für die Unterrichtsplanung (bspw. Zielformulierungen, Phasierungen etc.), aber auch Arbeitsaufträge und Lerneinheiten zum Methodeneinsatz integriert. Eine dieser Lerneinheiten ist die hier relevante Methode animation live speaking. Das Erlernen dieser mit Hilfe des praktischen Einsatzes soll durch das angehängte Material ersichtlich werden. Den Abschluss des Seminars bildet die Reflexion, inwiefern der schulpraktische Einsatz (Projekttag) und die hochschuldidaktischen Konzepte (Sprachbewusstsein und digitale Medien) den Studierenden bei der Entwicklung sprachbewusster Lehrkompetenzen durch digitale Unterrichtseinheiten geholfen hat. Hier ist im besonderen Maße die Reflexion der individuellen Fähigkeiten und der Weiterentwicklung dieser in Bezug auf die Lehrprofessionalität in den Vordergrund zu rücken. Die Beschreibung des Materials ist online verfügbar. Eine Fokussierung auf die Vermittlung und Analyse der Methode animation live speaking unter dem Gesichtspunkt der Professionalisierung der Studierenden ist mit dem Online-Material für den individuellen Einsatz in universitären Seminaren hier verfügbar.

30.3.2 Reflexion Besonders positiv wurde durch die Studierenden hervorgehoben, dass der Einsatz digitaler Medien motivierend ist und ihnen die Notwendigkeit sprachbewussten Unterrichtens klarer

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geworden ist. Vor allem wurde auch die direkte Reflexion nach den praktischen Erfahrungen positiv bewertet. Besonders positiv wurde weiter die Diskussion der Differenzierungsstufen hervorgehoben. Vielen Studierenden war diese Art der Differenzierung und der detaillierte Körnungsgrad vor allem bezogen auf die didaktische, fachsprachlich fördernde Nutzung der Mediennnimationen und Erklärvideos nicht bewusst. Eine weitere große Herausforderung, nämlich die der präzisen didaktischen Reduktion, konnte ebenfalls mit der Methode gezielt und erfolgreich geübt werden. Die Idee, diese Medien, die für die Studierenden Teil einer alltäglichen Kultur der Digitalität darstellen, für didaktisch präzise und reduzierte fachsprachliche Förderung zu nutzen und dies auch differenziert zu tun, stellte für viele Studierende einen Mehrwert in ihren didaktischen Repertoires der Professionalisierung dar. Von den Studierenden wurde eine größere Freiheit bei den Themen und Methoden sowie ein größerer Zeitrahmen gewünscht. Je nach Vergabe der Leistungspunkte wurde der erhebliche Leistungsaufwand der Studierenden angesprochen.

30.4 Fazit Basierend auf der erhobenen Rückmeldung durch die Studierenden und die erhaltenen Unterrichts- und Seminarergebnisse kann vermerkt werden, dass die Methode gewinnbringend eingesetzt werden kann, um Studierende zu befähigen, Schüler*innen differenzierend mit digitalen Medien fachsprachlich zu fördern. Außerdem sollte klar sein, dass der Freiraum für Dozierende hierbei groß ist. Sie können die Methode in verschiedenen Zielgruppen behandeln und die Methode auch für unterschiedliche Jahrgangsstufen anpassen. Der große Mehrwert der Good Practice hat sich darin gezeigt, dass intensiv der Zusammenhang und die Schnittstelle zwischen digitalen Kompetenzen und fachsprachlicher Ausdifferenzierung in motivierenden Übungssettings herausgestellt werden konnte.

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Professionalisierung angehender Geographielehrkräfte durch den Einsatz von virtueller Realität

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Beispiele aus zwei universitären geographiedidaktischen Lehrveranstaltungen Stephanie Mittrach, Daniel Wirth, Christiane Meyer und Ulrike Ohl

Zusammenfassung

Virtuelle Realität schafft die Möglichkeit, bei der Betrachtung computergenerierter dreidimensionaler Raumdarstellungen den Eindruck zu erleben, selbst Teil dieser Raumdarstellung zu sein. Daraus resultieren geographiedidaktische Potenziale, etwa hinsichtlich der kritischen Reflexion des Verhältnisses von Realität, Virtualität und Medialität, aber auch in Bezug auf die geographische Analyse von virtuellen Räumen mit und ohne konkrete räumliche Bezüge in der Realität. Bisher existieren kaum Konzeptionen für Lehr-Lernumgebungen, auf die in der Unterrichtspraxis zurückgegriffen

S. Mittrach (*) Green Office, Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Wirth Didaktik der Geographie, Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Meyer Institut für Didaktik der Naturwissenschaften, Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] U. Ohl Institut für Geographie, Universität Augsburg, Augsburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_31

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werden kann. Am Beispiel unterschiedlicher Seminarangebote an zwei Hochschulen wird aufgezeigt, wie zukünftige Lehrkräfte digitalitätsbezogene Kompetenzen erwerben können, die es ihnen ermöglichen, sowohl bestehende VR-Lernumgebungen kritisch hinsichtlich ihrer didaktischen Potenziale und Grenzen zu analysieren als auch eigene zielführende Konzeptionen zu entwickeln, einzusetzen und zu evaluieren. Schlüsselwörter

Bildung für nachhaltige Entwicklung · Designkriterien · Lehramtsausbildung · Professionelle Handlungskompetenz · Virtual Reality

31.1 Einleitung In diesem Kapitel wird die Konzeption zweier unterschiedlicher Seminarangebote präsentiert, in denen Lehramtsstudierende Erfahrungen mit virtueller Realität (engl. Virtual Reality, kurz: VR) für ihre künftige Unterrichtspraxis machen und darauf bezogene digitalitätsbezogene Kompetenzen aufbauen können. In der Literatur findet sich keine einheitliche Definition von VR.  Gleichwohl besteht Konsens darüber, dass VR auf der technischen Ebene eine computergenerierte, dreidimensionale Raumdarstellung leistet und eine Möglichkeit zur Interaktion mit dem Raum bietet. Auf der psychologischen Ebene vermittelt VR den Eindruck, Teil des dargestellten Raumes zu sein (Dörner et al., 2013). Dickel und Jahnke (2012, S. 239) weisen darauf hin, dass virtuelle Welten, zu denen VR gezählt werden kann, grundsätzlich einen „… konkreten Realitätsbezug als Referenzrahmen verloren“ haben. Darüber hinaus ermöglicht die VR-Technologie jedoch auch die Darstellung von Räumen mit konkretem Realitätsbezug. Dies ist der Fall, wenn 360°Foto- und Videoaufnahmen von realen Orten verwendet werden, die den Betrachtenden mittels VR-Technologie zugänglich gemacht werden. Die in diesem Kapitel beschriebenen Seminarkonzepte verwenden in diesem Sinne zum Teil (Abschn. 31.4.1) beziehungsweise ausschließlich (Abschn. 31.4.2) 360°-Foto- und Videoaufnahmen von „Ausschnitte[n] der Wirklichkeit“ (ebd.), also mit Bezug zur physisch-materiellen Welt. Wie in diesem Kapitel gezeigt wird, bieten beide Darstellungsformen Bildungspotenziale. Generell wird virtueller Realität ein hohes Potenzial in institutionellen Bildungskontexten (Hellriegel & Čubela, 2018) wie auch speziell im Geographieunterricht zugeschrieben (Bürki & Buchner, 2020; Kap. 4). Im Geographieunterricht bietet VR Lernenden die Chance, Räume im 360°-Rundumblick zu erkunden, wenn dies z.  B. aufgrund hoher Kosten, Gefahren oder Zeitmangel nicht durch eine Realexkursion möglich ist (Freina & Ott, 2015). Hierbei bieten sich vor allem solche 360°-Lernumgebungen an, die aus 360°-Foto- oder Videoaufnahmen bestehen und damit einen direkten Bezug zur Realität haben. Die zielgerichtete Anwendung von VR im Bildungswesen steht jedoch noch am Anfang, weshalb im Folgenden zwei Seminarangebote der geographischen Lehrkräftebildung vorgestellt werden, in denen VR eingesetzt wurde.

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Mit dem Fokus auf die professionelle Handlungskompetenz von Lehrkräften im Kontext der Digitalisierung geht das Kapitel folgender Fragestellung nach: Welche Gestaltungsmerkmale sollten fachdidaktische Lehrveranstaltungen bzw. -angebote aufweisen, um angehende Lehrkräfte zum kritisch-reflexiven Einsatz von VR in ihrer künftigen Unterrichtspraxis zu befähigen? Zunächst werden dafür die theoretischen Hintergründe zu virtueller Realität sowie zur professionellen Handlungskompetenz von (angehenden) Lehrkräften skizziert, auf deren Basis dann der aufgeworfenen Frage am Beispiel zweier geographiedidaktischer Seminarangebote der Universitätsstandorte Hannover und Würzburg nachgegangen wird. Die unterschiedliche Herangehensweise in beiden Lehrveranstaltungen soll kontrastiert werden, um daran anknüpfend und unter Einbezug erster Ergebnisse der Begleitforschung Leitlinien für die Gestaltung geographiedidaktischer Seminare herauszuarbeiten.

31.2 Virtual Reality: Psychologische Effekte und Technologie Immersion beschreibt den durch die Virtual-Reality-Technologie erzeugten Effekt, die computergenerierte 360°-Umgebung in Form eines Standbildes oder Videos als real zu empfinden (Dörner et al., 2013). Hat die Darstellung eine gute Bild- und Tonqualität und können die Betrachtenden ihren Blickwinkel selbst steuern, wird ein Gefühl „wie als wäre man dort“ erzeugt, was auch als Präsenz oder Präsenzerleben bezeichnet wird (Dörner et  al., 2013, S. 18; Rupp et al., 2019, S. 257). Generell wird mit Bezug auf die technologische Umsetzung von VR zwischen Papp- oder Kunststoff-VR-Brillen, bei denen ein Smartphone eingelegt werden muss (z. B. Google Cardboards), und Stand-alone-VR-­Headsets (z. B. Oculus Quest, Pico Neo, HTC VIVE) unterschieden (Buchner & Aretz, 2020). Die Stand-alone-Brillen ermöglichen im Vergleich zu Smartphone-VR-­Halterungen ein höheres Maß an (potenzieller, d. h. nutzer*innenabhängiger) Immersion und Präsenzerleben (Hillmann, 2019), sind jedoch teurer. Für beide gilt, dass geographisches Lehr-Lern-Material bisher fehlt, wodurch der Einsatz an Hochschulen und Schulen erschwert wird.

31.3 Professionelle Handlungskompetenz von Lehrkräften im Kontext der Digitalisierung Wie in Kap. 29 dargelegt, werden im Kontext der Digitalisierung Erweiterungen hinsichtlich der Aspekte der professionellen Handlungskompetenz von Lehrkräften (Baumert & Kunter, 2006) vorgenommen. Dies ist erforderlich, da Lehrkräfte spezifische Kompetenzen benötigen, um einen lernprozessförderlichen Einsatz digitaler Medien zu gestalten (GFD, 2018; HGD, 2020; KMK, 2016). Genau hier setzen Kompetenzmodelle wie TPaCK (Mishra & Koehler, 2006), DigCompEdu (Redecker, 2017), digi.kompP (Brandhofer & Wiesner, 2018) und DPaCK (Huwer et  al., 2019) an. Neben den Spezifika, welche die einzelnen Modelle enthalten, werden bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten durch-

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gängig als besonders relevant angesehen. Unter Bezug auf Mishra und Koehler (2006) und Redecker (2017) identifizieren Lorenz und Endberg folgende drei zentrale Bereiche: „[1.] d as Wissen und die Erfahrung von Lehrpersonen im Umgang mit Technologien und digitalen Ressourcen, [2.] die pädagogisch-didaktischen Kompetenzen der Lehrpersonen zur Gestaltung von mediengestütztem Unterricht sowie [3.] das Wissen um die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler.“ (Lorenz & Endberg, 2019, S. 69)

Dieses Kapitel bezieht sich auf die ersten beiden Bereiche. Somit fokussieren die weiteren Ausführungen vorrangig auf die Förderung des Umgangs der (angehenden) Lehrkräfte mit digitalen Medien sowie entsprechender Kompetenzen, hier am Beispiel von VR. Es soll herausgearbeitet werden, wie das Wissen, aber auch die Erfahrungen mit dem Einsatz der Technologie in der Hochschullehre aufgebaut werden können. Dabei soll das technologische Wissen entsprechend dem DPaCK-Modell (Huwer et al., 2019) um den Aspekt des digitalitätsbezogenen Wissens erweitert werden (zum Begriff „Digitalität“ siehe ausführlich ebd.). Digitalitätsbezogenes Wissen geht über das reine technologiebezogene Wissen hinaus und bedeutet am Beispiel von VR, dass (angehende) Lehrkräfte nicht nur befähigt werden sollten, die Technologie zu verstehen und zu nutzen, sondern sich auch kritisch-reflexiv mit dem insbesondere in der Geographiedidaktik relevanten Verhältnis von Realität, Medialität und Virtualität (Dickel & Jahnke, 2012) und mit den Manipulationsmöglichkeiten der Technologie auseinanderzusetzen. Gleichzeitig sollten Lehrkräfte im Sinne des zweiten o. g. Bereichs auch in der Lage sein, eigene lernprozessförderliche VR-Umgebungen zu gestalten.

31.4 Beispiele für den Einsatz von VR in geographiedidaktischen Seminaren In Tab. 31.1 werden die beiden Seminarangebote überblicksartig dargestellt. Das Hannoveraner Lehrangebot fokussiert vor allem auf den o. g. Bereich 1, die Würzburger Lehrveranstaltung verknüpft die Bereiche 1 und 2 (Abschn. 31.3).

31.4.1 Leibniz Universität Hannover: Einsatz von Stand-alone-Brillen Hintergrund Das im April 2020 begonnene Projekt Virtuelle Lernwelten  – Lehrkräfteausbildung in 360° wird am Institut für Didaktik der Naturwissenschaften als Kooperation der Fachgebiete Biologie, Chemie, Geographie und Lebensmittelwissenschaft durchgeführt. Ziel des Lehrprojekts ist, Studierenden der vier Fachgebiete Lernerfahrungen in VR zu ermög-

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lichen. Im Rahmen des Projekts, das von der Leibniz School of Education gefördert wird, sollen in der Didaktik der Geographie konkrete Lernmaterialien und Konzepte für Lernprozesse erprobt und reflektiert werden, um die Möglichkeiten und Herausforderungen von VR als innovative Lehr-Lern-Technologie erfahrbar zu machen. Die empirische Begleitforschung auch unter Einbezug der weiteren beteiligten Fachgebiete ist unter anderem in Büssing et al. (2022) dargestellt. Technische Voraussetzungen Bis März 2021 wurden zunächst fünf Stand-alone-Brillen (Oculus Quests) als All-in-One-­ VR-Headsets sowie fünfzehn niedrigpreisigere VR-Brillen aus Kunststoff angeschafft. Für den Einsatz letzterer werden Smartphones benötigt, welche die Nutzenden im Rahmen der Veranstaltung(en) selbst mitbringen. Die Wahl der Oculus Quests hat sich dabei als herausfordernd gezeigt, da in Zukunft eine Verknüpfung der VR-Brille mit einem Social-­Media-Account für die Nutzung notwendig sein wird, sodass diese für den Einsatz in der fachdidaktischen Hochschullehre nicht mehr geeignet erscheinen. Aus diesem Grund werden derzeit weitere Stand-alone-Geräte wie die Pico Neo 2 pilotiert. Zudem wurden im Rahmen des Projekts vier 360°-Kameras (Insta360 One R) angeschafft, um die Erstellung eigener 360°-Fotos und -Videos zu ermöglichen. Auch ein Computer mit der Software Adobe Cloud Premiere sowie Unity wurde bereitgestellt, damit die erstellten Aufnahmen bearbeitet werden können. Skizze der Durchführung Bisher wurden bzw. werden VR-Anwendungen in verschiedenen Seminarkontexten eingebunden und mit Studierenden reflektiert. Beispielsweise wurde im Seminar „Geographie unterrichten lernen: Aktuelle Ansätze“ in einer 90-minütigen Seminarsitzung der Einsatz von VR theoretisch beleuchtet und praktisch im Rahmen eines Stationenlernens durch die Studierenden erprobt. Dabei konnten mit dem eigenen Smartphone und einer KunststoffVR-Brille 360°-Videos auf der Videoplattform YouTube angesehen (Station 1) und die Anwendung Google Expeditionen kennengelernt werden (Station 2). Ferner konnten die Studierenden Immersion und Präsenz erleben, als sie mit einer VR-Anwendung auf der Oculus Quest Höhe ausgesetzt wurden (z. B. App Richie’s Planck Experience) (Station 3) oder unter Wasser einem Wal auf Augenhöhe (z. B. App TheBlu) begegnet sind (Station 4). Dabei wurden auch fachfremde Kontexte berücksichtigt, um insbesondere die technischen Möglichkeiten und Potenziale von VR zu illustrieren (Tab. 31.1). Ein Ausschnitt aus einem Fokusgruppeninterview, welches mit drei Studierenden nach der Seminarsitzung zur Pilotierung für eine empirische Erhebung durchgeführt wurde, verdeutlicht die Erlebnisse aus Sicht der Seminarteilnehmenden: „S1: Das war ganz schön aufregend (/) also … dieses mit der Planke, das war schon ganz schön krass für mich jetzt, also natürlich weiß man, man steht auf dem Boden, aber (/) … da ging mein Puls schon hoch, als ich da hüpfen sollte. …

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Tab. 31.1  Geographiedidaktische Seminarangebote mit Bezug zu VR an der Leibniz Universität Hannover und der Universität Würzburg Universität Würzburg Seminar „Virtual-Reality-­ Exkursionen im Kontext einer Bildung für nachhaltige Entwicklung“ VR mit Realitätsbezug Technik Stand-alone-Brillen und VR-­ VR-Smartphone-Halterungen Smartphone-­Halterungen (Cardboards) Dauer Eine Seminarsitzung à 90 min Eine Lehrveranstaltung mit fünf Phasen zu je sechs Zeitstunden Kompetenzerwartungen Angehende Geographielehrkräfte Angehende Geographielehrkräfte können können - technische Aspekte (siehe - die technischen und Abschn. 31.2) von VR benennen digitalitätsbezogenen Merkmale und erklären, von VR benennen und erklären, - ihre Erfahrungen hinsichtlich der - Virtual-Reality-Exkursionen technischen Möglichkeiten von VR theoriegeleitet erstellen, in der hinsichtlich des Präsenzerlebens Praxis einsetzen und ihre mit verschiedener Hard- und jeweiligen Potenziale und Software reflektieren. Grenzen kritisch reflektieren. Anwendungskontext

Leibniz Universität Hannover Punktueller Einsatz von VR in verschiedenen Seminarkontexten; VR sowohl mit als auch ohne Realitätsbezug

S3: Hm … tatsächlich bei der Planke ist es mir einmal passiert, dass das Gleichgewicht nicht ganz da war, also ich fand das schon beachtlich, dass da so eine Realität geschaffen wird oder virtuelle Realität.“ (Z. 88–111, eigene Hervorhebungen)

Die drei Studierenden hatten bislang keine Erfahrungen mit VR und attestierten insbesondere mit Bezug auf das Präsenzerleben durch die Verwendung der Stand-alone-Brille einen „Wow-Effekt“ (S2, Z. 93). Die Kunststoff-VR-Smartphonehalterungen konnten diese Begeisterung nicht hervorrufen. Dies zeigte sich auch in der abschließenden Seminarreflexion. Ausblick Der Einsatz von VR-Brillen war an der Leibniz Universität Hannover aufgrund der Coro­ napandemie bisher nur punktuell möglich. Dabei hat sich jedoch gezeigt, dass die Studierenden insgesamt positiv auf die VR-Erfahrungen reagieren und dies auch als wichtig für ihr Studium erachten, wie das nachfolgende Zitat aus der Fokusgruppendiskussion zeigt: „S2: Ich finde es generell wichtig, dass man als Lehrer offen ist für neue Sachen und da gehört es zu, dass man … im Studium sich Sachen anguckt, die komplett neu sind, die überhaupt noch gar nicht probiert werden im Unterricht und deshalb finde ich das auch richtig.“ (Z. 414–417, eigene Hervorhebungen)

Im Wintersemester 2021/22 und Sommersemester 2022 wurde daher in einem vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur geförderten Projekt Innovation Plus ein fächerübergreifendes Seminarkonzept mit Bezug auf VR-Zugänge zum Klimawandel in der Region entwickelt, in welchem Lehramtsstudierende der Fächer Bio-

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logie und/oder Geographie 360°-Lernumgebungen kreieren. Dieses Vorgehen soll insbesondere dazu beitragen, dass auch der o. g. Bereich 2 nach Lorenz und Endberg (2019) und insbesondere kritische Reflexionen zum Verhältnis von Realität, Medialität und Virtualität sowie Reflexivität geschult werden. Im Folgenden Beispiel des Seminars an der Universität Würzburg wird dies weiter präzisiert.

31.4.2 Universität Würzburg: Erstellung von Virtual-Reality-­Exkursionen zu Unterrichtsthemen in einer Bildung für nachhaltige Entwicklung Hintergrund „Virtual-Reality-Exkursionen in einer Bildung für nachhaltige Entwicklung“ ist ein Projektseminar, welches von Geographie-Lehramtsstudierenden aller Schularten im vierten bis sechsten Semester im Wahlpflichtbereich belegt werden kann. Es wurde in der vorliegenden Form (leicht adaptiert) bereits zweimal explorativ mit insgesamt 52 Studierenden durchgeführt (Tab. 31.2, Stand März 2021). Das Seminar wird finanziell durch die Joachim Herz Stiftung im Kolleg Didaktik:digital gefördert. Gerade im Bereich der Bildung für nachhaltige Entwicklung ist es wichtig, den Lernenden originale Begegnung und authentische Erfahrungen als Grundlage für das Verstehen komplexer und kontroverser Prozesse (Ohl, 2013) anzubieten. Da diese jedoch oftmals aufgrund von Zeitmangel, Gefahren, ethischen Herausforderungen oder Kostenfragen nicht möglich sind, ist der Einsatz von potenziell immersiven Medien in diesem Themenspek­ trum besonders vielversprechend, weil diese zumindest einzelne Aspekte einer originalen Begegnung, wie zum Beispiel die Möglichkeit des 360°-Rundumblicks, simulieren können. Eine Virtual-Reality-Exkursion (VRE, engl. virtual field trip, VFT) wird im Rahmen dieses Projektes als eine multimediale Lehr- und Lernumgebung in Form einer Simulation des realen Raumes verstanden. Sie besteht aus unbearbeiteten 360°-Fotografien oder -Videografien von konkreten realen Orten, welche mit weiteren räumlich zugeordneten Inhaltselementen (z. B. Text, Bild, Karte) ausgestattet sind. Dabei nutzt die VRE die Virtual-­Reality-­ immanente Eigenschaft der potenziellen Immersion (vgl. Brendel & Mohring, 2020, S. 195). Die zusätzlichen Informationen können die Betrachtenden durch Fixierung eines Punktes im Bild aufrufen. Diese Virtual-Reality-Exkursionen sind immer eingebettet in eine Lernumgebung, die Begleitmaterial mit kompetenzorientierten Aufgaben enthält. Grundlegend für die Seminarkonzeption sind die folgenden Kompetenzerwartungen: 1. Angehende Geographielehrpersonen sind in der Lage, bestehende Virtual-Reality-­ Exkursionen kritisch zu analysieren und sie innerhalb passender Lernumgebungen zu implementieren. 2. Sie sind in der Lage, eigenständig und theoriegeleitet und unter Beachtung des Zusammenwirkens der Kompetenzbereiche des TPaCK/DPaCK lehrplanrelevante Lernumgebungen mit Virtual-Reality-Exkursionen zu planen, zu entwickeln, und deren Einsatz in der schulischen Praxis kriteriengeleitet zu evaluieren.

1. Technische und Phase didaktische Grundlagen Ziel(e) Kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit der Technologie, den Chancen und Grenzen von Immersion und Präsenzerleben sowie dem Verhältnis von Realität, Medialität und Virtualität

2. Analyse von vorhandenen VRE und Einführung in 360°-Fotografiea Fähigkeit zur kritischen Analyse von Virtual-Reality-­ Exkursionen unter digitalitätsbezogenen Aspekten wie z. B. der Verknüpfung mehrerer Medien in einer Lernumgebung Fähigkeit zur Gestaltung von Virtual-Reality-Exkursionen unter Berücksichtigung der technischen Aspekte und Aufbau von digitalitätsbezogenen Kompetenzen (z. B. Fähigkeit zur freien Perspektivwahl bei 360°-Sphärenbildern) 3. Konzeption eigener VRE Stärkung der Planungskompetenz bei der Erstellung von Lernumgebungen mit digitalen Medien

4. Praxisdurchführung in Schulklassen Praxiserprobung der erstellten VRE und Stärkung der Fähigkeit zur professionellen Unterrichtsreflexion

5. Finale Virtual-Reality-­ Exkursion und Ableitung von Gelingens-­ bedingungen Festigung der Kompetenzen zur Planung, Durchführung und Evaluation von Virtual-Reality-­ Lernumgebungen

Tab. 31.2  Skizze der Durchführung. Das Seminar wird in fünf Phasen zu je sechs Zeitstunden gleichmäßig über die Vorlesungszeit verteilt durchgeführt

390 S. Mittrach et al.

Analyse von bereits als Open Educational Resources (OER) oder aus den Vorsemestern vorhandenen VRE hinsichtlich ihres didaktischen Wertes anhand geeigneter Analysewerkzeuge, z. B. dem Augsburger Analyse- und Evaluationsraster für analoge und digitale Bildungsmedien (Fey & Matthes, 2017) mit seiner geographie-­ didaktischen Erweiterung (Streitberger & Ohl, 2017) Ableiten erster Gestaltungsprinzipien für selbsterstellte Virtual-Reality-­ Exkursionen Einführung in die Handhabung von 360°-Kameras

Konzeption von Virtual-Reality-­ Exkursionen in Arbeitsgruppen mit Bezug zu SDGs (UN, 2015), z. B. „Bezahlbare und saubere Energie“ beim Thema „Erneuerbare Energien in und um Würzburg“, „Nachhaltige/r Konsum und Produktion“ beim Thema „Vergleich von konventioneller und ökologischer Ei-­ Produktion“ Engmaschiges Peer- und Dozierenden-Feedback

Durchführung der erstellten VRE-­ Lernkonzeption mit einer Schulklasse, Evaluation durch teilnehmende Beobachtung und leitfadengestütztes Interview mit der Lehrkraft

Finale Überarbeitung nach Auswertung der Evaluation Präsentation im Plenum Ableiten von Gelingensbedingungen Abschlussgespräch zum individuellen Kompetenzaufbau in Anlehnung an das TPaCK/DPaCK-Modell

a

Einen Überblick zu Webapps, mit denen VRE gestaltet werden können, bieten Fuchs (2018) und Wirth (2021). Eine schrittweise Hinführung zur Nutzung und Erstellung von Virtual Reality-Exkursionen, die auch im Seminar verwendet werden, findet sich bei Wirth (2019) und Wirth (2020).

Inhalte Vertiefung der Kenntnisse über die Nutzung digitaler Medien im Geographieunterricht Auseinandersetzung mit der VR-Technik und der Virtual-Reality-Exkursion hinsichtlich ihres didaktischen Potenzials

31  Professionalisierung angehender Geographielehrkräfte durch den Einsatz von … 391

392

S. Mittrach et al.

Da die meisten Schulen nicht über kostenintensive professionelle VR-Geräte verfügen und eine möglichst niederschwellige Erprobung im Rahmen des Seminars und anschließende Dissemination in den Geographieunterricht im Fokus steht, wird auf einfache Cardboards bzw. niedrigpreisige VR-Brillen zur Aufnahme eines schüler- oder studierendeneigenen Smartphones im Bring-Your-Own-Device-Prinzip (Kleiner & Disterer, 2018) zurückgegriffen. Die Zugänglichkeit für die Lernenden ist durch die ubiquitäre Verfügbarkeit von Smartphones in der Altersgruppe der 12- bis 19-Jährigen gesichert (MPFS, 2020, S. 8). Reflexion und Ausblick Die Seminardurchführung wird im Rahmen einer explorativen Begleitforschung mit teilnehmender Beobachtung und der Analyse schriftlicher Reflexionen der Seminarteilnehmenden evaluiert. Die bisherigen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass Studierende mit anfänglicher Skepsis gegenüber VR (z.  B. wegen fehlenden digitalitätsbezogenen Wissens) diese rasch abbauten, wenn sie eine konkrete Lernumgebung erstellen und erproben konnten. Zudem zeigte sich, dass es besonders zielführend ist, wenn die Seminarteilnehmenden die Möglichkeit haben, die von ihnen entwickelte Lernumgebung mit Schüler*innen im Rahmen einer responsiven Praxisphase zu erproben. Herausfordernd stellt sich die Heterogenität der Studierenden bezüglich digitalitätsbezogener Kompetenzen zu Beginn des Seminars dar. Diese wirkt sich auf die anfängliche Performanz der Studierenden hinsichtlich der Planung und Entwicklung der VRE mit Lernumgebungen aus. Die Seminarteilnehmenden entwickelten während des Seminars sukzessive spezifische Gestaltungskriterien für die Erstellung von VRE und formulierten Gelingensbedingungen für die Durchführung von VRE mit Schüler*innen. Dabei stellte sich zum Beispiel heraus, dass die Passung von VRE und Begleitmaterial hinsichtlich klar festgelegter Kompe­ tenzerwartungen sowie einer genauen Einführung der Schüler*innen in den Umgang mit den Cardboards im Vorfeld der eigentlichen Durchführung besonders wichtig sind. In weiteren Seminaren soll ein besonderes Augenmerk auf den Aufbau der Planungskompetenz in digitalen Lehr-Lern-Settings gelegt und untersucht werden, inwiefern diese im Rahmen der Lehrveranstaltung gesteigert wird. Zudem wurde durch die bisherige Begleitforschung deutlich, dass das Verhältnis von Realität und Virtualität eine Herausforderung für Lernende ist und ihnen daher Reflexionshilfen an die Hand gegeben werden sollten. In diesem Seminar wird der Fokus auf Unterrichtsthemen im Spektrum einer Bildung für nachhaltige Entwicklung bei der Erstellung der VRE gelegt. Jedoch erscheint eine Übertragung auf weitere Themenbereiche, etwa der physischen Geographie (z. B. zu geomorphologischen Themen), möglich.

31.5 Fazit: Implikationen für die Planung und Durchführung von geographiedidaktischen Lehrveranstaltungen Wie eingangs dargestellt, wurde bei der Konzeption der Seminare bzw. beim Einsatz von VR an den beiden Standorten die Förderung der digitalitätsbezogenen professionellen Handlungskompetenz fokussiert. Durch den Einsatz der VR-Umgebungen (Universität

31  Professionalisierung angehender Geographielehrkräfte durch den Einsatz von …

393

Hannover und Würzburg) sowie die Konstruktion eigener VR-Lernumgebungen (Universität Würzburg) können sowohl Wissensvermittlung als auch Erfahrungen in Bezug auf den Umgang mit diesem digitalen Medium ermöglicht werden. Dabei sollten die Erlebnisse kritisch reflektiert werden. Wie die Seminarerfahrungen zeigen, kann dies insbesondere dann umfassend erfolgen, wenn virtuelle Realität nicht nur punktuell, sondern tiefer gehend in einem ganzen Seminar erfahren wird. Dabei hat die Coronapandemie gleichzeitig auch die Grenzen von VR aufgezeigt: Um dieses Medium wirklich erfahrbar zu ­machen und die Potenziale mit allen Sinnen zu erleben (z. B. Gefühl von Präsenz), sind Präsenzveranstaltungen mit Studierenden unerlässlich, weil diese nur dann etwa Stand-alone-Brillen aufsetzen können. Die Erarbeitung eigener VR-Lernumgebungen stellt sich als gewinnbringender Zugang dar, um die Technologiekompetenzen der Studierenden zu fördern. Beim kritisch-reflexiven Umgang mit der Hard- und Software zur Gestaltung von VRE können digitalitätsbezogene Kompetenzen trainiert werden, etwa die Fähigkeit zur Konzeption von virtuellen Raumrepräsentationen. Hinsichtlich der professionellen Handlungskompetenzen angehender Lehrkräfte mit den in Abschn. 31.3 dargestellten Schwerpunktsetzungen können folgende Designmerkmale für die Konzeption künftiger Lehrangebote abgeleitet werden: Lehrveranstaltungen sollten 1. technisches Basiswissen zu VR anbieten: Zentrale Begrifflichkeiten wie beispielsweise Immersion und Präsenz müssen literaturbasiert geklärt und verschiedene Hard- und Software-Zugänge (Abschn. 31.3) aufgezeigt werden; 2. immersive Erfahrungen für die Lernenden ermöglichen: Unterschiedliche Hard- und Software kann beispielsweise durch ein Stationenlernen oder in verschiedenen Seminarsitzungen vergleichend erprobt werden. Dabei sind möglichst nicht nur kostengünstigere VR-Smartphonehalterungen, sondern auch hochpreisige Stand-alone-Brillen einzusetzen, da diese höhere Grade an Immersion zulassen; 3. das Verhältnis von Realität, Virtualität und Medialität erfahrungsbasiert reflektieren; 4. das geographiedidaktische Potenzial kritisch-reflexiv hinterfragen, insbesondere das besondere fachbezogene Potenzial von VR als medialen Zugang sowie die persönlichen professionsbezogenen Werthaltungen und Überzeugungen in Bezug auf VR; 5. die Konzeption eigener immersiver Lernumgebungen integrieren: Durch eine Gestaltung von VR-Lernumgebungen kann eine aktive Auseinandersetzung mit den technischen Möglichkeiten und Grenzen erfolgen. Peer- und Dozierenden-Feedback sollte dabei als Lerngelegenheit berücksichtigt werden; 6. Reflexionsräume schaffen: Potenziale und Herausforderungen von VR sollten sowohl literatur- als auch erfahrungsbasiert diskutiert werden; Diese Designkriterien gilt es, künftig weiter vor dem Hintergrund der Förderung professioneller Handlungskompetenzen von Lehrkräften am Beispiel von VR zu konkretisieren und zu diskutieren. Dabei sollten auch die übrigen Facetten professioneller Handlungskompetenz (siehe z. B. Kap. 29) und auch der Bereich 3 nach Lorenz und Endberg (2019) Berücksichtigung finden.

394

S. Mittrach et al.

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Geographische Bildung in digitalen Kulturen

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Lehrer*innenperspektiven auf die Digitalisierung von (geographischer) Bildung Anna Oberrauch, Thomas Jekel und Claudia Breitfuss-Horner

Zusammenfassung

Im Zuge der Coronakrise musste Bildung gezwungenermaßen und in sehr kurzer Zeit auf mehrheitlich digitale Zugänge umgestellt werden. Im Zentrum stand dabei weniger Bildung für digitale Kulturen entlang theoretischer Grundlegungen, als vielmehr der möglichst reibungslose Transfer bestehenden Unterrichts in die Sphäre des „Distance Learning“. Während diese beiden Zugänge jeweils ihre Positiva aufweisen, so ergibt sich doch die Frage, inwiefern der spezielle Anlass auch genutzt werden soll und kann, Bildung in digitalen Kulturen voranzutreiben und neu zu konzeptualisieren. Das vorliegende Kapitel versucht einen Beitrag zur Klärung dieser Frage zu leisten, indem die Ergebnisse einer Panel-Untersuchung mit Lehrpersonen des Fachs Geographie und wirtschaftliche Bildung dargestellt werden, die Chancen und Heraus-

Ergänzende Information Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann [https://doi.org/10.1007/978-­3-­662-­66486-­5_32]. A. Oberrauch (*) Didaktik der Geographie und wirtschaftlichen Bildung, Pädagogischen Hochschule Tirol, Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected] T. Jekel Universität Duisburg-Essen, Duisburg-Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Breitfuss-Horner GW und Informatik, Private Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz, Linz, Österreich E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 F. Pettig, I. Gryl (Hrsg.), Geographische Bildung in digitalen Kulturen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66486-5_32

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A. Oberrauch et al.

forderungen für die Lehrer*innenprofessionalisierung im Zuge der pandemiebedingten Digitalisierung von Lehr-Lernprozessen in den Blick nimmt. Die Ergebnisse zeigen Problemfelder sowie Chancen und Perspektiven für eine geographische Bildung in einer digitalen Welt auf und verweisen auf vielfältige Entwicklungs- und Forschungsbereiche in der Lehrer*innenaus- und -fortbildung sowie Unterrichtspraxis. Schlüsselwörter

Lehrer*innenprofessionalisierung · Distance Learning · Paneluntersuchung · GW-Unterricht · Lehr-Lernkulturen

32.1 Zur Aneignung von Innovationen im Lehrberuf: Kontexte Veränderungen an die Anforderungen an Lehrer*innen sind in keiner Weise etwas Neues. Schon bislang ergaben sich durch die Veränderungen in den Lehrplänen, durch paradigmatische Setzungen der zugrunde liegenden Fachdisziplinen oder aber auch aufgrund der Entwicklung neuer Technologien immer wieder Notwendigkeiten, die eigene Lehrpraxis anzupassen. Selten allerdings waren die Anpassungen so abrupt und zwingend wie im aktuellen Fall des Corona-bedingten „Distance Learning“.1 Entsprechend signalisieren diverse Studien durchaus sehr langsame und auch hier nur partielle Anpassungsprozesse der Unterrichtspraxis an geänderte rechtliche und fachliche Rahmenbedingungen. Fridrich und Weixelbaumer (1994), Jekel und Atzmanstorfer (1997), sowie zuletzt Fridrich (2013) beispielsweise zeigen auf, dass das seit dem Kieler Geographentag 1969 fachlich und seit dem österreichischen Lehrplan 1984 in der Schule obsolete Paradigma der Länderkunde in der Sekundarstufe und in der Lehramtsausbildung auch lange nach der Änderung der rechtlichen und fachlichen Grundlagen persistent ist. Ebenso zeigt eine Reihe von Studien zur Implementierung geographischer Informationssysteme im Unterricht – sei es im Sinn einer eher technisch-methodisch verstandenen Zugangsweise (exemplarisch Höhnle et al., 2016; Kerski, 2003) oder im Sinn eines didaktisch theoretisch begründeten Zugangs (u.  a. Gryl & Jekel, 2012; Gryl, 2011)  – eine sehr langsame Adoption neuer Technologien und theoretischer Setzungen in Schulen.

 Der Begriff des „Distance Learning“ wird einheitlich unter Anführungszeichen gesetzt, da sich der Fernunterricht zu Zeiten der Corona-Pandemie vom „normalen“ Fernunterricht unterscheidet: Normaler Fernunterricht stellt eine „Lehr-Lernform meist auf vertraglicher Basis mit eigenen, speziell erstellten Materialien, geschulten Lehrenden usw.“ dar (Fickermann & Edelstein, 2020, S.  23). Diese Alternative zum Präsenzunterricht bzw. -studium wird gewählt, wenn sie sich mit sonstigen Verpflichtungen und Lebensweisen am besten verbinden lässt. Im internationalen Diskurs wird auch der Begriff des „emergency remote teaching“ verwendet, um auf die Besonderheiten des flächendeckenden Online-Lernens als Reaktion auf die Krisensituation im Unterschied zu langfristig geplantem qualitativen Online-Lernen zu verweisen (Hodges et al., 2020). 1

32  Geographische Bildung in digitalen Kulturen

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Die erzwungene Phase des „Distance Learning“ im Zuge der Coronapandemie ergibt hier eine völlig andere Situation: eine langsame, kontinuierliche Anpassung der Unterrichtspraktiken war nicht möglich. Während für den deutschen Sprachraum und für das Unterrichtsfach Geographie (und wirtschaftliche Bildung) jenseits kleiner Voruntersuchungen (Jekel et al., 2020) nicht viele empirische Studien vorliegen, sind international eine Reihe von Studien zur Adaption erschienen, die zeigen, dass Wandel auch deutlich beschleunigt werden kann. Bryson und Andres (2020) diskutieren das Verhältnis zwischen synchronen und asynchronen Lerneinheiten im „Distance Learning“ und halten die besseren Ergebnisse bei Kombination beider Lehrstile fest (vgl. auch Strobl, 2020). Alea et al. (2020) legen ihr Hauptaugenmerk auf den institutionellen Rahmen und heben die Abhängigkeit der institutionellen Vorbereitung auf die Bereitschaft der Lehrer*innen hervor, „Distance Learning“ umzusetzen. Zu ähnlichen Befunden kommen auch Jekel, Oberrauch und Breitfuss-­Horner (2020). An die letztgenannte, bereits Ende März 2020 durchgeführte Delphi-­Studie (= Teil 1 der vorgestellten Empirie, siehe Abschn. 32.3) setzt die folgend vorgestellte Paneluntersuchung an, die herausfinden möchte, welche (Lern-)Erfahrungen, Herausforderungen und Chancen sich durch das anhaltende „Distance Learning“ für das Fach Geographie und wirtschaftliche Bildung (GW) ergeben haben und inwiefern sich eine Entwicklung von Kompetenzen seitens der Lehrenden sowie die Herausbildung digitaler Lehr-Lernkulturen erkennen lässt. Dafür wird in Abschn. 32.2 die Thematik zunächst in relevante Entwicklungen der sekundären Bildungslandschaft in Österreich eingebettet und in den Folgekapiteln 32.3 und 32.4 Methodik und Ergebnisse der Studie sowie Diskussion und Schlussfolgerungen (siehe Abschn. 32.5) dargestellt.

32.2 Digitalisierung in der sekundären Bildung und Corona Bereits in den aktuell gültigen österreichischen GW-Lehrplänen für die Sekundarstufe findet sich der Hinweis, dass elektronische Medien den Unterricht bereichern sollen. Über das Unterrichtsprinzip der Medienerziehung (Grundsatzerlass, BMBF, 2012) erfolgte die grundlegende Einbettung der Digitalisierung in Österreichs Schulen. Die eher schwache Institutionalisierung als fächerübergreifender Grundsatzerlass wurde in der Folge durch die verbindliche Übung „Digitale Grundbildung“ ergänzt (BMBWF, 2018; Näheres dazu in Kap. 9). Auf den ersten Blick wirkt der Lehrplan der verbindlichen Übung (BMBWF, 2018, S. 4 ff.) überdurchschnittlich technisch orientiert. Der Großteil der Inhalte, aufgeteilt auf viele Fächer, ist leicht zu integrieren. Zurecht skeptisch (Micheuz, 2017) darf man bei den technisch orientierten Lehrplanthemen „Technische Probleme lösen“ und „Computational Thinking“ sein. Viele Lehrpersonen stellen sich zurecht die Frage, wie man Programmieren und Codieren (engl. Coding) im eigenen Unterricht unterbringen oder integrativ unterrichten soll.2  Breitfuss-Horner und Koller (Kap. 9) zeigen eine Möglichkeit der Umsetzung von Computational Thinking im GW-Unterricht. 2

400

A. Oberrauch et al.

Neben der Implementierung der „Digitalen Grundbildung“ in die Schulpraxis ist die Sekundarbildung in Österreich auch durch eine geringe Nutzung von Lernplattformen im Regelbetrieb gekennzeichnet (Schrenk, 2020; Tengler et al., 2020). In diese Situation traf die Umstellung von Präsenzunterricht auf „Distance Learning“ im März 2020. Es wurde zunächst explizit gefordert, in der Primar- und Sekundarstufe I keine neuen Inhalte zu platzieren, sondern „nur“ bereits Erarbeitetes zu wiederholen und zu vertiefen (Fassmann, 2020). Die Lehrer*innen trafen entsprechend – von wenigen Vorreiter*innen abgesehen – auf eine völlig neue Situation. E- und Blended-Learning-Formate sind bisher weder in der Lehramtsausbildung noch in der Lehramtsfortbildung verpflichtend verankert. Diese erste Phase der Verunsicherung und der starken Technikorientierung ist in Jekel, Oberrauch und Breitfuss-Horner (2020) dokumentiert. Ein Jahr später, im März 2021, nachdem sich die Sekundarstufe 2 mit kurzen Präsenzund Hybridunterbrechungen fast ein ganzes Schuljahr im „Distance Learning“ befunden hatte, ergaben sich neue Fragestellungen: • Welche weiteren (Lern-)Erfahrungen, Herausforderungen und Chancen für fachspezifisches e-Learning ergaben sich aus Lehrer*innen-Perspektive im Zuge der anhaltenden Situation des „Distance Learning“? • Inwiefern lassen sich im Vergleich der beiden Erhebungszeitpunkte Veränderungen in der Beschreibung von Lehr-Lernkulturen und eine entsprechende Professionalisierung bei den Lehrkräften erkennen? Diesen Fragestellungen widmet sich die im Folgenden dargestellte Paneluntersuchung.

32.3 Methodik Den Ausgangspunkt für die Paneluntersuchung bildete eine Delphi-Studie, die im April 2020 mit einer kleinen Gruppe von praktizierenden GW-Lehrpersonen (N  =  11) unterschiedlicher Schultypen der Sekundarstufe in Österreich durchgeführt wurde. Im Rahmen von Delphi-Studien werden Expert*innen befragt, um im Rahmen unübersichtlicher Situationen schnell zu Lageeinschätzungen und Strategien zu gelangen (Häder, 2011). Entsprechend wurde bei der Auswahl der Expert*innen darauf geachtet, dass sie eine breite Übersicht über die Schulpraxis, Wahrnehmungen und Praktiken von Lehrer*innen in ihrem Bereich (z.  B. fungieren sie vielfach als Leiter*innen der Lehrer*innen-Arbeitsgemeinschaften in ihren Bundesländern oder als Fachgruppenleiter*innen an ihren Schulen) sowie eine gewisse Expertise bzw. Aufgeschlossenheit in/gegenüber moderner GW-Fachdidaktik mitbringen (z. B. sind sie im Bereich universitärer Fachdidaktiklehre und ­Lehrer*innen-Fortbildung tätig oder stellen selbst Schüler*innen-orientierte Zugänge ins Zentrum ihres Unterrichts) (vgl. Jekel et al., 2020). Zudem wurde darauf geachtet, dass sie Erfahrungen aus unterschiedlichen Bundesländern und Lehrer*innenbildungsclustern in Österreich einbringen können und in sehr unterschiedlichen Schultypen, von der Mittelschule (3 der Befragten) über die allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS – Sekundar-

32  Geographische Bildung in digitalen Kulturen

401

Tab. 32.1  Übersicht über die methodischen Schritte in den beiden Erhebungsphasen Erhebungsphase 1: Delphi-Befragung April 2020 Erste Befragung Themenabstraktion Themendringlichkeit anonyme durch strukturierende Quantitative Onlinequalitative Gewichtung der im Befragung über Inhaltsanalyse Rahmen der SoSci-Survey mittels MaxQDA Inhaltsanalyse (N = 10) identifizierten Problemfelder durch Teilnehmer*innen (N = 9) über Google Forms 3.–09.04.2020 10.–12.04.2020 14.04.2020

Kollaborative Online-­ Strategieentwicklung zu den am höchst gewichteten Problemfeldern im Rahmen einer Videokonferenz der Autor*innen und Befragten (N = 7) 14.04.2020

Erhebungsphase 2 Zweite Befragung Anonyme Online-­Befragung über SoSci-Survey (N = 10)

8.–28.02.2021

stufe I und II, 5 der Befragten) bis zu berufsbildenden höheren Schulen (BHS, 3 der Befragten) unterrichten. 7 der Befragten Personen sind weiblich, 4 männlich. Das Altersspektrum der Befragten reicht von 32 bis 57 Jahre, das Schuldienstalter variiert zwischen 1 und 32 Jahren. In Tab. 32.1 sind die Teilschritte der Delphi-Befragung, die im Rahmen der Panelstudie als Erhebungsphase 1 betrachtet wird, dargestellt. Aufgrund der anhaltenden Situation des „Distance Learning“ im Schuljahr 2020/21 bot es sich an, dieselbe Gruppe der Befragten zu einem zweiten Zeitpunkt erneut zu befragen, um Antworten zu den oben genannten Fragestellungen zu generieren. Studien, bei denen bei denselben Untersuchungseinheiten (in unserem Fall: Proband*innen) dieselben Inhalte mehrfach bzw. zu mindestens an zwei unterschiedlichen Zeitpunkten erhoben werden, heißen Panel-Studien (Häder, 2019; Schupp, 2019). Sie stellen eine Form der zeitlichen Längsschnittuntersuchung dar, bei der sich eine Gruppe – das sog. „Panel“ – wiederholt zum gleichen Thema äußert, um Veränderungen im Zeitverlauf festzustellen (Schupp, 2019; Mayntz et al., 1978). Die zweite Erhebungsphase wurde im Februar 2021 durchgeführt und wurde aufgrund der erachteten Notwendigkeit, die anhaltende hohe Belastung der Lehrpersonen nicht weiter zu verschärfen, auf die Online-Befragung reduziert. Während das Panel aus 11 Personen bestand, nahmen an den schriftlichen Befragungen jeweils nur 10 Personen teil. Mittels offener Fragen wurden (leicht adaptiert) dieselben Inhalte wie in Befragungsphase 1 erhoben: • Positive und negative Erfahrungen in der Fernlehre • Einsatz technischer Werkzeuge und Veränderungen des Einsatzes seit Beginn des „Dis­ tance Learning“ • Wahrgenommene Veränderungen hinsichtlich Aufgabenkultur • Beziehungen zu Schüler*innen • Maßnahmen sozialen Lernens • Sich ergebende Herausforderungen, Chancen und zentrale Problemfelder, die für das Unterrichtsfach GW vorrangig bearbeitet werden müssen, um die Ziele und Inhalte geographischer und wirtschaftlicher Bildung mit Mitteln des „Distance Learning“ zu erreichen

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Zusätzlich wurde in Phase 2 auch gefragt, inwiefern eine Professionalisierung auf Seiten der Lehrkräfte erfolgt ist und welche Methoden, Zugänge und Erfahrungen auch nach der Phase des erzwungenen „Distance Learning“ weiterhin genutzt werden wollen. Die Auswertung der qualitativen Daten orientierte sich am inhaltlich strukturierenden Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz, 2018, S. 100 ff.) und wurde mit Hilfe der Analysesoftware MAXQDA durchgeführt. Die Kategorisierung der Daten erfolgte im ersten Schritt entlang der Leitfragen, wobei die Kategorien, gegliedert in Ober- und Subcodes, induktiv aus dem Material abgeleitet wurden (siehe Anhang, Auszüge aus dem Kategorienschema). Da die Befragten im Verlauf der Befragung immer wieder auf dieselben Themenaspekte zu sprechen kamen, wurden im Anschluss an die Codierung Subkategorien entlang von Themenaspekten aggregiert. Dafür wurde das Mappingtool MAXMaps verwendet, mit Hilfe dessen Analyseelemente (z. B. Codes, Codings, Memos etc.) visuell auf einer Arbeitsfläche („Map“) dargestellt, zusammengefasst und in Beziehung zueinander gesetzt werden können (Kuckartz & Rädiker, 2020; Rädiker & Kuckartz, 2019). Durch entsprechende Formatierungen des Kategoriensystems bleiben auf der MAXMAP Informationen zur jeweiligen Herkunft und Kontext der Codes (siehe Abb. 32.1: Die unterschiedlichen Farben der Codes zeigen die unterschiedliche Herkunft/den unterschiedlichen Kontext in Bezug auf die Leitfragen.) sowie zu Häufigkeiten des Auftretens bestimmter Kategorien (Abb. 32.1: je intensiver die Farbsättigung des Codesymbols, desto häufiger kam der Code vor) aufrecht. Diese Maps haben entsprechend auch eine explorative Funktion, mit der sich dominierende Themen, Zusammenhänge, Widersprüche zwischen zentralen Aussagen zu unterschiedlichen Themenaspekten etc. entdecken und darstellen lassen (Kuckartz & Rädiker, 2020). In der folgenden Ergebnisdarstellung werden die in Bezug auf die Forschungsfrage relevantesten Ergebnisse zusammengefasst, anhand von wörtlichen Zitaten aus dem Datenmaterial und einem Ausschnitt aus der MAXMAP visualisiert sowie wesentliche Unterschiede zu den zentral angesprochenen Problemfeldern zum Befragungszeitpunkt 1 dargestellt. Bevor die Ergebnisse erläutert werden, ist methodenkritisch anzumerken, dass die Aussagekraft der Ergebnisse und ihre Verallgemeinerbarkeit aufgrund der sehr kleinen Stichprobengröße eingeschränkt ist. Das ist vor allem der Konzeption der Delphi-Studie geschuldet, die als Befragungsphase 1 (Tab.  32.1) den Auftakt in die empirische Studie bildete. Die kollaborative Online-Strategieentwicklung in der Videokonferenz erforderte eine überschaubare Teilnehmer*innenzahl. Entsprechend wurde beim Sampling stark darauf geachtet, dass die Teilnehmenden eine breite Übersicht über die Schulpraxis in ihrem Bereich haben (z.  B. fungieren sie vielfach als Leiter*innen der Lehrer*innen-­ Arbeitsgemeinschaften in ihren Bundesländern oder als Fachgruppenleiter*innen an ihren Schulen), um entsprechend in ihren Wahrnehmungen und Perspektiven eine möglichst breite Bandbreite an Sichtweisen von Lehrer*innen abzudecken, oder/und kennzeichnen sich durch Expertise im Bereich moderner GW-Fachdidaktik. Die schriftliche Befragung ließe sich prinzipiell auch auf eine größere Stichprobe ausweiten, wobei allerdings in dieser Studie bislang der explorative Charakter im Fokus stand. In weiteren Untersuchungen könnten aufbauend auf die nun vorhandene Wissensbasis (semi-)standardisierte Erhebungsinstrumente entwickelt werden, um höhere Proband*innenzahlen zu erreichen und die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse damit deutlich zu erhöhen.

Abb. 32.1  Ausschnitt aus der erstellten MAXMAP: Ausgewählte Themenfelder und Verknüpfungen zwischen Antwort-Kategorien der Befragten (Je intensiver die Farbsättigung des Codesymbols, desto häufiger kam der Code vor. Die Farben symbolisieren eine unterschiedliche Codeherkunft, z. B. grün: Frage zu ersten Assoziationen zum „Distance Learning“; gelb: Frage zu Chancen/Perspektiven; türkis: Frage zu nützlichen Methoden, Zugänge, Erfahrungen für Post-Distance-Learning; rot: Frage zur Professionalisierung von Lehrkräften.) (Eine hochauflösende Version der Abbildung steht als Zusatzmaterial online zur Verfügung. Sie finden dieses unter der zu Beginn des Kapitels angegebenen DOI im Bereich „Elektronisches Zusatzmaterial“)

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32.4 Ergebnisse 32.4.1 Problemfelder im Vergleich der Erhebungszeitpunkte Im Vergleich zum ersten Befragungszeitpunkt werden mit wenigen Ausnahmen ähnliche Problemfelder des fachspezifischen „Distance Learning“ sichtbar (vgl. Jekel et al., 2020): Während die Themen der ersten Befragung 2020, „Umsetzung kooperativer Lernformen“, „Leistungsbeurteilung und Rückmeldekultur“, „(Kritisches) Arbeiten mit digitalen Lernressourcen“, „Einsatz digitaler Geomedien“ und „Lebensweltorientierung“ weiterhin sehr präsent sind, kommen drei Problemfelder kaum bzw. gar nicht mehr vor: • Das zum Befragungszeitpunkt 1 auftretende Thema „Übersicht im Dschungel der Vielfalt an Tools und Möglichkeiten“ war damals Ausdruck der sehr akuten Problemlage durch digitale Plattformen eine grundlegende Möglichkeit für Kommunikation und Dokumenten-­Austausch etc. zu schaffen und Online-Tools für grundlegende didaktische Operationen zu kennen. Schulen haben sich jeweils auf eine zentrale Plattform eingespielt, der Einsatz erfolgt bereits routiniert(er), wird als hilfreich erkannt und es wird der Wert solcher Plattformen auch in Bezug auf reinen Präsenzunterricht angesprochen. • Die Thematik „Verschärfung von Ungleichheiten hinsichtlich Interaktion, Erreichbarkeit, sozioökonomischer Aspekte“ wird kaum (mehr) als Problemfeld angesprochen. Sie taucht nur mehr in Bezug auf die veränderte Intensität der Lehrer*innen-­ Schüler*innen-Interaktion auf, wobei nach wie vor ein sehr heterogenes Bild vorherrschend ist: Intensivierung von Kontakten vs. Distanzierung aufgrund der Verluste des direkten Kontakts. • Das Themenfeld „Aufgreifen von Corona als Thema für GW-Unterricht“ kommt ebenso nicht vor: Änderungen, Neugewichtungen oder Konzeptionen von Inhalten und Basiskonzepten im GW-Unterricht werden nicht angesprochen. Auch auf gezieltes Nachfragen hin wird allenfalls von einer Reduktion der Themen oder notwendiger Verschiebungen innerhalb der Jahresplanung gesprochen. Die folgenden Erläuterungen zeigen, dass die im Vergleich zu Befragungszeitpunkt 1 weiterhin präsenten Problemlagen aufgrund der vielfältigen Lehr-Lernerfahrungen der Befragten und der Beobachtung der bereits andauernden Ausnahmesituation des „Distance Learning“ zunehmend deutlicher sichtbar werden, während auf der anderen Seite auch die Chancen, die aus der Situation erwachsen und die Etablierung von Lehr-Lernkulturen in einer digitalen Welt bereichern können, differenzierter in Erscheinung treten: Betreffend die professionelle Anwendung von digitalen Werkzeugen und Medien im GW-Unterricht zeigt sich ein sehr ambivalentes Bild: Vielfach beziehen sich Erfahrungen auf die Entdeckung neuer gewinnbringender Einsatzmöglichkeiten digitaler Medien,

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z. B. in Bezug auf Möglichkeiten des kollaborativen Arbeitens in Kleingruppen oder die Möglichkeit, schnell und einfach Einschätzungen aller Schüler*innen einer Klasse zu erheben und sichtbar zu machen. In puncto spezifischere Geomedien zeigen sich auch „neue“, „kreative“ Möglichkeiten des Einsatzes digitaler (Geo-)Medien  – wobei diese nur vereinzelt genannt werden und die Ausnahme bilden, z. B. „Besonders positiv, eine Spurensuche im virtuellen Raum. Die Ergebnisse haben gezeigt, dass handlungsorientierter Unterricht auch digital Hirn, Herz und Hand ansprechen kann.“ (B8: 2–3) Ebenso wird der Einsatz von digitalen Geomedien als „intensiver“ bezeichnet, da die aktive Verwendung sich stärker von lehrer*innenseitig auf schüler*innen-seitig verschoben hat, weg vom Demonstrieren bzw. Vorzeigen hin zur eigenständigen Bearbeitung/ Lösung von Aufgabenstellungen im höheren Anforderungsbereich (AFB) mit Hilfe von Geomedien, vgl. „Einsatz hat sich bei mir weniger geändert, aber ich denke, dass die Schüler ,gezwungen‘ waren, mehr damit direkt selber zu arbeiten – was in manchen Fällen im Präsenzunterricht nicht so geschieht.“ (B2: 6–8) Dadurch zeigt sich für Lehrpersonen eine neue Per­spektive von der Lehrstoffvermittlung hin zur Lernbegleitung. Im Gegenzug verschafft es den Schüler*innen die Möglichkeit, nicht mehr nur den Unterricht zu konsumieren, sondern eröffnet durch sinnvolle Ausweitung des Methodenspektrums einen Weg zum selbstständigen Erarbeiten und Lernen (Horner, 2006; Strobl, 2020). Die Erkenntnisse solcher (oft eigener) Erfahrungen der Befragten, die vielfältige Potenziale des in die Sphäre des Digitalen verlegten Lehr-Lernraums sichtbar machen, werden oftmals im Widerspruch zur dominanten Unterrichtsrealität im Umfeld der Befragten thematisiert. Dies spitzt sich im Besonderen auf die Kluft zu, die sich zwischen den vielfältigen Handlungsoptionen „Aufgaben zu stellen, die eigenständiges Lernen fördern“ und der verstärkten Dominanz des Anforderungsbereichs I (im Sinne von Reproduktion und einfacher Reorganisation, siehe BMUKK, 2012) auftut (siehe auch Abb. 32.1 im Zentrum: Widerspruch zwischen der Chance, eigenständigeres Lernen zu fördern, und der Verfestigung dominanter Praktiken im Anforderungsbereich I wurde mit einem Pfeil visualisiert und mit einem wörtlichen Zitat untermauert): „Im Umfeld stelle ich paradoxerweise fest, dass trotz erweiterter Handlungsoptionen (mit digitalen Tools etc.) viele Kolleg*innen oft nur noch im AFB I tätig sein. Obwohl es für Transferleistungen und Reflexionen (AFB II und III) durchaus viele Anlässe gebe.“ (B8: 11) Wie bereits zum Befragungszeitpunkt 1 festgestellt (vgl. Jekel et al., 2020, S. 63 f.), manifestiert sich die Beschränkung auf Anforderungsbereich I stark in Zusammenhang mit dem Thema der Leistungsbeurteilung und einem in der Situation des „Distance Learning“ erhöhten Korrektur- bzw. Rückmeldeaufwand (siehe auch den in Abb. 32.1 visualisierten Zusammenhang von Anforderungsbereichen und Leistungsbeurteilung) bzw. erscheinender hoher Praktikabilität von auf reine Reproduktion beschränkten Auto-Korrekturmöglichkeiten im digitalen Lehr-Lernraum. Dass Anforderungsbereich II und III zu kurz kommen, wird in der Befragung auch auf weitere Ursachen, wie z. B. die Erfahrung zurückgeführt, dass kooperative Lernformen

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und entsprechend „Diskussionen“, „Kontroversität“, „Voneinander lernen“ online kaum bzw. nur „mühsam“ umsetzbar seien und die Vertiefung in komplexere Aufgaben/echte Reflexion mehr Unterstützung von Seiten der Lehrkraft bräuchte, als vielen möglich scheint. Ein Themenfeld, dass sich in den Lehr-Lernerfahrungen der Befragten zum Befragungszeitpunkt 2 noch stärker in Bezug auf Chancen/Potenziale für eine weiterentwickelte Lehr-Lernkultur herauskristallisiert, ist das Themenfeld der Lebensweltorientierung. Einige Aussagen verweisen jeweils • auf eine stärkere Einbindung digitaler sowie analoger Lebenswelten der Schüler*innen als Bezugspunkte für Lernprozesse: „Die digitale Welt ist Lebensrealität unserer Schüler*innen, und das sollte sich auch in der Schule abbilden, meiner Meinung nach.“ (B3: 1–3) oder „Ich hoffe, dass auch die Einbindung der Lebenswelt der Schüler*innen (zu Hause) jetzt besser gelingt, dadurch, dass man ja Aufgaben erstellen muss, die zu Hause bearbeitet werden können.“ (B6:16–18) • auf Lebenswelt als zentrales Analyse- bzw. Untersuchungsobjekt für die Bearbeitung geographischer und sozioökonomischer Fragestellungen, z.  B. in Form von „Eigenständige[n] Exkursionen: d.  h. Materialien, womit Schüler*innen selbstständig ihre Umgebung erkunden können (für verschiedene Schulstufen, mit Ausrichtung G und/ oder W). Damit sitzen Schüler*innen nicht nur am Computer/Smartphone, was mir im Distance Learning sehr wichtig erscheint.“ (B6: 24–26)

32.4.2 Professionalisierung von Lehrkräften Folgendes Zitat spiegelt die dominierende Argumentation in Bezug auf die Professionalisierung von Lehrkräften wider (Abb. 32.1, unten links): „Es fand eine verstärkte Technisierung mit einem Ausbau der technischen Kompetenzen von Lehrpersonen statt. Es fehlt für mich aber leider oft der fachdidaktische Aspekt. Das heißt, die Frage, wie diese technischen Möglichkeiten tatsächlich einen Mehrwert für den Unterricht bringen könnten.“ (B4: 12) Eine Professionalisierung von Lehrkräften bringen die Befragten in Bezug auf den Umgang mit Hard- und Software bzw. die technische Kompetenzdomäne zum Ausdruck: „Es wurde auf jeden Fall dazugelernt, die Lehrpersonen trauen sich schon mehr zu und setzen mehr Tools ein (Kanäle, Jamboard, Breakout-Rooms, Lernvideos wurden gedreht, …)“ (B1: 11–12) „Aufgrund der relativen Neuheit der Lernform dominiert im E-Learning-Bereich noch immer der technische Aspekt der Erstellung und Durchführung von Arbeitsaufgaben.“ (B7: 18–20) Diese Beschränkung auf die Technik-Domäne zeigt sich auch in Bezug auf Eindrücke zur Inanspruchnahme von Fortbildungen der Lehrkräfte. Es wurden wenige Angebote genutzt (oft auch aufgrund der allgemeinen Überlastung in Zeiten der Planungsunsicherheit und vielfältigen Leistungsanforderungen) bzw. meist nur jene Angebote, die einen raschen Mehrwert versprachen, wie z.  B. das Erlernen bestimmter technischer Anwendungs-

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möglichkeiten. Eine kritische Reflexion über den Mehrwert und entsprechende Weiterentwicklungen scheinen bislang kaum präsent und bilden ein wichtiges Aufgabenfeld der Lehrer*innenaus-, fort- und -weiterbildung, die sich in Bezug auf dieses Thema in Gegenwart und Vergangenheit auch Defizite eingestehen muss.

32.4.3 To-dos in Bezug auf relevante Problemfelder In Bezug auf die Frage nach den Problemfeldern, die für das Unterrichtsfach GW vorrangig bearbeitet werden müssen, um die Ziele und Inhalte geographischer und wirtschaftlicher Bildung mit Mitteln des „Distance Learning“ zu erreichen, zeigen sich zentral folgende To-dos, die größtenteils auch schon zum Befragungszeitpunkt 1 herausgearbeitet wurden und für eine wirksame Umsetzung weiter gedacht werden müssen: • Entwicklung förderlicher Leistungsbewertung in digitalen Lehr-Lernumgebungen • Möglichkeiten kooperativen und kollaborativen Arbeitens, die gerade in Zeiten der „Vereinzelung“ von Schüler*innen vermehrt genutzt werden sollten • Konkrete Umsetzungskonzepte und Methodenrepertoires, die sichtbar machen, wie online kritische, reflektierte, kooperative/kollaborative Auseinandersetzung mit kontroversen gesellschaftlichen Themen möglich ist (auch „Muster-Settings für DL-­ Stunden“ – B2: 18–20; Zugänglichkeit für alle – auch fachfremd Unterrichtende – gewährleisten). Daran anknüpfend sei erwähnt, dass „kritische Medienbildung“, „GW als kritisches Denkfach und Medienbildungsfach positionieren“ als wesentliche Chance des „Distance Learning“ beschrieben wird (Abb. 32.1, rechts unten) • Fortbildungen, die nicht auf Anwendung bestimmter Tools abzielen, sondern stärker die Lebenswelt der Lernenden fokussieren und Lehr-Lernprozesse im „Distance Learning“ und darüber hinaus in Bezug auf Lernen für/in einer digitalen Welt reflektieren. Im Unterschied zu Befragungszeitpunkt 1, zu welchem die Dauer der Sondersituation und den vielfältigen Lösungskonzepten (Schichtbetrieb, Hybridbetrieb etc.) noch nicht ­absehbar war, zeigt sich vermehrt der Wunsch bzw. die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Konzepts für Blended Learning. „Ich würde mir erhoffen, dass hier Gesamtkonzepte für Blended Learning entwickelt werden. Dies kann auf einer Mikroebene passieren (meinen GW-Unterricht betreffend) auf einer Mesoebene (fächerverbindender Unterricht, im Klassenteam) oder Makroebene (Konzepte für die Sek II, die mehr Autonomie ermöglichen).“ (B8: 23–24)

32.5 Diskussion und Schlussfolgerungen Die Aussagen der Paneluntersuchung zeigen, dass die Pandemiesituation zumindest im österreichischen Schulsystem mehr bewegt haben könnte als manche Schulreform. Die im Regelbetrieb bisweilen zögerliche Umsetzung von Neuerungen wurde unter der be-

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sonderen Situation erheblich beschleunigt, und die Innovationsfähigkeit von Lehrer*innen eindrucksvoll belegt, wie Daten von Schrenk (2020) zeigen. Es wird über Alternativen zur klassischen Stundenplanregelung, über Probleme der Inklusion, über freiere, selbstverantwortlichere Arbeitsformen für Schüler*innen, sogar über einen wöchentlichen Schultag jenseits der Präsenzlehre nachgedacht (Jekel et  al., 2020; Strobl, 2020), der schüler*innengesteuertes, individualisiertes und lebensweltorientiertes Lernen besser befördern könnte. Gleichzeitig werden Schwierigkeiten mittlerweile sehr klar benannt, die sich um die Einbindung kooperativen Lernens und seiner sozialen Einbettung drehen (Fickermann & Edelstein, 2020) sowie um die Gestaltung von Lernumgebungen, die die Anforderungsbereiche II und III unterstützen (siehe auch Hodges et al., 2020). Insofern vollziehen Lehrer*innen nun jene theoretischen Grundüberlegungen asynchronen Lernens nach, die etwa in professionellen „Distance-Learning“-Angeboten schon einige Jahre angestellt wurden (Strobl, 2020). Diese Aufbruchsstimmung in der Krise sollte genutzt werden. Aus den Ergebnissen der Studie lassen sich für die Fachdidaktik Geographie (und wirtschaftliche Bildung) jedenfalls auch folgende Forschungs- und Entwicklungsbereiche ableiten: • Integrierte Konzepte von, die verstärkt die Valenzen des Unterrichtsfaches in Hinsicht auf fächerübergreifenden, phänomenbezogenen und problem­zentrierten Unterricht adressieren. Damit soll auf die unter den Bedingungen der Globalisierung geänderten Gesellschafts-Raum-Verhältnisse Rücksicht genommen werden. • Die Entwicklung verpflichtender konzeptuell ausgerichteter Aus- und Fortbildungsangebote in den Curricula der Pädagog*innenbildung sowie der Fortbildung bereits aktiver Lehrer*innen. Dies betrifft insbesondere den Rückgriff sowie allenfalls die Anpassung der Basiskonzepte in digitalen Unterrichtsformen. • Die Entwicklung und Beforschung hybrider Unterrichtsumgebungen mit einer Konzentration auf die Anforderungsbereiche II und III sowie die Entwicklung von entsprechenden Angeboten der Leistungsbeurteilung. • Die Unterstützung zur Restrukturierung der Lehrangebote in den Schulen im Sinne von offenerem Unterricht, der auch einen Tag eigenständigen Lernens im „Distance Learning“ pro Woche enthalten könnte. Die Pandemie ist in vielfältiger Weise schmerzhaft. Die im Bildungsbereich gewonnenen Erkenntnisse einer „anderen/neuartigen Schule“ sollten mit Entwicklung und Fortbildung in den oben genannten Bereichen sowohl genützt als auch seitens der Fachdidaktik unterstützt werden, um die anlassbezogene Digitalisierung des Unterrichts stärker hin zu einer Integration von physischer und digitaler Welt zu lenken. Der Anlassfall gibt entsprechend über die aktuellen Notwendigkeiten hinaus die Möglichkeit, nicht nur den aktuellen Unterricht mit digitalen Mitteln umzusetzen, sondern Digitalität auch inhaltlich stärker ins Zentrum des Unterrichts zu stellen.

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Anhang Auszüge aus dem Kategorienschema: Exemplarische Ober- und Subcodes mit Ankerbeispielen Leitfrage Beschreiben Sie jeweils eine besonders positive und eine besonders negative Erfahrung aus dem Distance Learning in den letzten Monaten.

Beispiele für Ober- und Subcodes Obercode: „besonders positiv“

Ankerbeispiele

ÔSubcode: „veränderte Leistungsbeurteilung und -sichtbarkeit“

„Jetzt im Distance Learning habe ich plötzlich auch die Einschätzung von Schüler*innen gelesen, die sich sonst im Unterricht ruhig verhalten und schätze ihre Leistungen seither ganz anders ein.“ (B3: Abs.5) „Intensivere Kontakt mit Schüler*innen“ (B5: Abs.2)

ÔSubcode: „Kontaktintensivierung mit Lernenden“ Obercode: „besonders negativ“

„Die negative Erfahrung ist, dass wir auch in der HTL einzelen Schüler*innen im Distance Learning „verloren“ haben, die nun mit gewaltigen Problemen kämpfen, dies im 2. Semester zu kompensieren.“ (B9: Abs.3) ÔSubcode: „fehlende Interkation“ „Besonders negativ: Schwierigkeit, die Schüler direkt im Unterrichtsgeschehen zu beobachten und mit ihnen zu kommunizieren.“ (B2: Abs.5) „Negativ: immer wieder technische ÔSubcode: „technische Probleme“ (B5: Abs.3) Probleme“ ÔSubcode: „Kontaktverlust zu einzelnen Lernenden“

Inwiefern hat sich der Einsatz technischer Werkzeuge in ihrem Unterricht bzw. dem Unterricht ihrer Kolleg*innen seit Beginn des Distance Learning verändert? Was bereitet (weiterhin) Probleme, was erweist sich als besonders hilfreich? Beschreiben Sie Beispiele aus dem eigenen Unterricht oder Unterricht von Kolleg*innen.

Obercode: „Veränderungen im Einsatz technischer Werkzeuge“ „Der Umgang mit den technischen ÔSubcode: „verbesserter Werkzeugen wurde um vieles einfacher, Umgang“ weil man selbst schon viel besser damit vertraut ist.“ (B10: Abs.4) Obercode: „Zweck des Einsatzes digitaler Tools“ „Zum täglichen ,Distance Learning‘ ÔSubcode: „Kollaboratives gehören für mich Tools wie Arbeiten“ Videokonferenzen, die Plattform Google Classroom, das gemeinsame Erstellen von Padlets etc.“ (B10: Abs.4) „Teams ist doch sehr hilfreich. Forms ÔSubcode: „Erstellen von auch, da es leicht zu erstellen ist und Umfragen“ einen Überblick der Antworten erstellt.“ (B6: Abs.7) „Auch Aufgabenstellungen, die dann ÔSubcode: „(kreatives und visuelle Ergebnisse (z. B. Fotos, kritisches) Arbeiten mit (audio) Videoclips) bringen, die man gut online visuellen Medien“ teilen kann, wurden von mir vermehrt gefordert. Schüler*innen sind hier auch meist mit Begeisterung dabei und sehr kreativ. Sie können ihre Produkte dann auch wieder selbst kritisch bewerten.“ (B2: Abs.6) Ô…

410 Leitfrage Inwiefern sind Sie der Meinung, dass durch das nun bereits 10 Monate andauernde Distance Learning eine gewisse Professionalisierung auf Seiten der Lehrkräfte erfolgt ist? In welchen Bereichen wurde dazugelernt, in welchen nicht? Welche Fortbildungsangebote wurden wahrgenommen? Beschreiben und begründen Sie ihre Einschätzung.

A. Oberrauch et al. Beispiele für Ober- und Subcodes Ankerbeispiele Obercode: „Professionalisierung im Umgang mit Hard- und Software“ ÔSubcode: „Ausbau technischer „Professionalisierung im Hinblick auf IT/EDV Kenntnisse.“ (B5: Abs.13) Kompetenzen“ „Es wurde dazugelernt im technischen Bereich.“ (B6: Abs.17) Ô… Obercode: „Professionalisierung in Bezug auf didaktische Umsetzung“ „Die Kombination von Lernmethoden ÔSubcode: „virtuelle und virtuellen Interaktionsformen wurde Interaktionsformen“ gut angenommen.“ (B7: Abs.13) „Ich hoffe, dass auch die Einbindung ÔSubcode: „stärkere der Lebenswelt der Schüler*innen (zu Lebensweltorientierung“ Hause) jetzt besser gelingt, dadurch dass man ja Aufgaben erstellen muss, die zu Hause bearbeitet werden können.“ (B6: Abs. 17)

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