Eduard Mörike - Ästhetik und Geselligkeit [Reprint 2011 ed.] 9783110929690, 9783484108646

Even today, Mörike (1804-1875) is still not accorded the attention he deserves, not least because of the difficulty of r

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Eduard Mörike - Ästhetik und Geselligkeit [Reprint 2011 ed.]
 9783110929690, 9783484108646

Table of contents :
Vorwort
Eduard Mörike – Ästhetik und Geselligkeit. Zur Einführung
Romantische Texturen, erzählte Theatralität und maskiertes Rollensprechen im ›Maler Nolten‹ (Epigonalität und Modernität eines ›Schwellentexts‹ in der ›Schwellenepoche‹ 1830–1850)
»Maskencorrespondenz«. Die Briefintrige im ›Maler Nolten‹
»Magischer Firniß« – »herrlicher Kreis« – »hohe Einsamkeit«. Das Scheitern der Liebe im ›Maler Nolten‹
Der Künstler als Freund. Mörikes ›Hutzelmännlein‹ im Kontext seiner geselligen Erzählkunst
»Unbekanntes Wehe?«. Zum Geschlechterverhältnis in Eduard Mörikes Liebeslyrik
Mörikes poetische Szene und ihre unausgesetzte Verhinderung
Sich in sich selbst und in die Welt finden. Bemerkungen zu zwei Gedichten aus Mörikes ›Maler Nolten‹
Nichtssagende Dinge. Die Funktion des Unwichtigen bei Mörike
Mörikes Lyrik und die antike Literatur. Am Beispiel der ›Häuslichen Szene‹
Die Grazie und ihre modernen Widersacher. Soziale Verhaltensnormierung und poetische Polemik in Eduard Mörikes Epistel ›An Longus‹
Vom Zünden der Tradition. Märchen, Idylle und lyrisches Subjekt in Mörikes ›Wald-Idylle‹
Die Idylle, der Boden und der See. Zu hermeneutisch-poetologischen Problemen bei Mörike
Anschriften der Beiträger

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Eduard Mörike - Ästhetik und Geselligkeit

Wolfgang Braungart und Ralf Simon (Hgg.)

Eduard Mörike Ästhetik und Geselligkeit

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-10864-9 © Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2004 http://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Guide-Drucke GmbH, Tübingen Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach

Inhalt

Vorwort

VII

Wolfgang Braungart und Ralf

Simon

Eduard Mörike - Ästhetik und Geselligkeit Z u r Einführung

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Stefan Scherer Naive Re-Flexion Romantische Texturen, erzählte Theatralität und maskiertes Rollensprechen im >Maler Nolten< (Epigonalität und Modernität eines >Schwellentexts< in der >Schwellenepoche< 1830-1850) Claudia

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Liebrand

»Maskencorrespondenz« Die Briefintrige im >Maler Nolten< Kristin

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Rheinwald

»Magischer Firniß« - »herrlicher Kreis« - »hohe Einsamkeit« Das Scheitern der Liebe im >Maler Nolten< Wolfgang

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Braungart

Der Künstler als Freund Mörikes >Hutzelmännlein< im Kontext seiner geselligen Erzählkunst Renate von

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Heydebrand

»Unbekanntes Wehe?« Z u m Geschlechterverhältnis in Eduard Mörikes Liebeslyrik Ralf

Simon

Mörikes poetische Szene und ihre unausgesetzte Verhinderung Klaus

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Weimar

Sich in sich selbst und in die Welt finden Bemerkungen zu zwei Gedichten aus Mörikes >Maler Nolten
Häuslichen Szene«

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Günter Oesterle Die Grazie und ihre modernen Widersacher Soziale Verhaltensnormierung und poetische Polemik in Eduard Mörikes Epistel >An Longus
Wald-IdyIle
Biedermeier< oder >Vormärz< nennen möchte, gewonnen? N i c h t viel, wenn daraus eine Marginalisierung und Verharmlosung Mörikes resultieren sollte; nicht viel mehr, wenn ein weiteres Mal die geistesgeschichtliche Epochensemantik als problemlos zuhandenes Instrument der Einsortierung benutzt wird; einiges jedoch, wenn man von hier aus nach den ästhetischen Eigentümlichkeiten Mörikes fragt und mögliche Verbindungen zu aktuellen Forschungsansätzen in den Blick nimmt. Im vorliegenden Band entwickelt der Beitrag Stefan Scherers eine Reihe von Kategorien, die nach beiden Seiten hin offen sind: zur geschichtlichen Positionierung hin wie auch zu einer Mörike spezifisch erfassenden Charakterisierung. Scherers Analyse des maskierten Rollensprechens im >Maler Nolten< nimmt den Ausgang bei der Beschreibung einer Theaterszene, die zugleich die Uraufführung von Tiecks ironischem Lustspiel >Die verkehrte Welt< im M e d i u m der Literatur inszeniert. Die Differenz zwischen dem Potenzierungsprojekt der romantischen Ironie und dem Verkleinerungsprojekt von Mörikes sogenannter >Epigonalität< kann gerade in der A u f f ü h r u n g eines der romantischen Zentraltexte erläutert werden. Scherer etabliert dabei eine interessante Denkfigur, nämlich die einer Involution, eines internen Wucherns der Spaltungen. Bei Mörike bekommt das Unwichtige und

Wolfgang Braungart und Ralf Simon

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N e b e n s ä c h l i c h e , das in sich selbst hineinfallende u n d verkleinerte M o m e n t eine außerordentliche Wichtigkeit. Anstatt dies als eine F o r m a t i o n des biedermeierlichen Interieurs z u beschreiben, w i r d M ö r i k e in der D e n k f i g u r einer in sich hineingeh e n d e n P o t e n z i e r u n g gleichsam inversiv so konzipiert, d a ß die D i n g e zersplittert u n d in eine p e r m a n e n t e V e r k l e i n e r u n g hineingezogen werden. Sie k a n n als Reflexionsprozeß gelesen werden, s o wie in der r o m a n t i s c h e n Ironie die Potenzierung ein Reflexionsprozeß ist. N u r läuft die M ö r i k e s c h e P o t e n z i e r u n g nach innen u n d gegen sich selbst, so daß die D i n g e i m m e r alltäglicher, i m m e r unwichtiger werden. A u s d e m A n s a t z von Scherer wird evident, d a ß M ö r i k e s Interieur d u r c h a u s nicht im G e g e n s a t z zur R e f l e x i o n s k o m p l e x i t ä t der R o m a n t i k e r steht, sondern nur eine a n d e r e F o r m a t i o n dieser K o m p l e x i t ä t z u m A u s d r u c k bringt. Scherer s c h a f f t es, den B e g r i f f des E p i g o n a l e n v o n seiner pejorativen W e r t u n g s e b e n e w e g z u b r i n g e n u n d ihn literarhistorisch e b e n s o konzis wie systematisch aufschließend in einer k o m p l e x e n u n d interessanten A r t u n d W e i s e n e u zu b e s t i m m e n . Dieser A n s a t z ö f f n e t d e n F r a g e h o r i z o n t des vorliegenden B a n d e s . Verstehbar wird, wie bei M ö r i k e aus einer geschichtlichen S i t u a t i o n heraus ein ästhetisches R e f l e x i o n s k o n t i n u u m m i t einer lebensweltlichen K o n k r e t i s i e r u n g einhergeht, so d a ß sich die beiden D i m e n s i o n e n >Asthetik< u n d >Geselligkeit< gegenseitig hervorbringen u n d spiegeln. D a ß (so der A u s g a n g s p u n k t bei Scherer) die r o m a n t i s c h e Reflexion Tiecks im Kontext einer geselligen Unterhaltung dargeboten wird, situiert d i e Kunstreflexion i m lebensweltlichen K o n t e x t , aber so, d a ß dieser K o n t e x t einer Ästhetisierung n o c h diesseits des Ästhetizismus unterzogen wird. In die so eröffnete, gesellige R u n d e der ästhetischen Reflexion gliedern sich die Beiträge des B a n d e s ein, i n d e m sie die Facetten v o n M ö r i k e s W e r k auffächern. D e n n es geht u m d e n N a c h w e i s , wie sich M ö r i k e s P r o g r a m m einer K u n s t der Selbstbescheidung u n d Selbstverkleinerung ästhetisch realisiert, welche poetischen F o r m e n es b r a u c h t u n d findet u n d wie es so a u f eine spezifische W e i s e literarische K o m m u n i k a t i o n interpretiert u n d gestaltet. S o l c h e präzisen A n a l y s e n m ü s s e n zugleich a u c h i m Inneren der poetischen T e x t e einen relevanten G e h a l t problematischer Reflexion a u f s p ü r e n . I n d e m sich Renate v o n H e y d e b r a n d u n d R a l f S i m o n der Liebeslyrik M ö r i k e s w i d m e n , arbeiten beide eine Figur des U m w e g s heraus: von Heydebrand, i n d e m sie in einer T y p e n r e i h e von Autorschafts- u n d L i e b e s m o d e l l e n eine V e r s c h i e b u n g der L i e b e in eine Pluralitätvon

F o r m e n v o r n i m m t ; S i m o n , i n d e m er F o r m m o m e n t e

v o n M ö r i k e s S c h r e i b e n als V e r h i n d e r u n g u n d T r a n s f o r m a t i o n eines zentralen Liebesphantasmas zu denken versucht. In beiden Aufsätzen wird ein Kreis geselliger Ästhetik generisch g e w o n n e n : aus einer B e w e g u n g heraus, die sich paradoxerweise durch Selbstverschränkungen entradikalisiert. D a s k o m p l e x e Z u s a m m e n s p i e l v o n äußerst luzider ästhetischer F o r m g e b u n g u n d geselliger T h e m a t i k findet sich bei M ö r i k e vor allem in der A u f n a h m e antiker F o r m e n u n d M o t i v e . S o k a n n sich eine biedermeierliche >Häusliche Szene< d u r c h

Eduard Mörike - Ästhetik und

Geselligkeit

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eine intensive Metrikanalyse als vertracktes Kunststück erweisen (Christina Müller), so kann die »Idylle vom Bodensees die eine Mythologie der Gemeinschaftlichkeit feiert, auch in aller Unaufdringlichkeit eine immanente Poetologie implizieren (Mathias Mayer), und so kann die >Wald-Idylle< eine versteckte Weiblichkeitsimagination transportieren, ohne daß es ihren märchenhaft-idyllischen Ton stören würde (Helmut J. Schneider). Scheiternde Liebe (Kristin Rheinwald), Briefintrigen und wandernde Identitätsproblematiken (Claudia Liebrand), inszenierte Textualität der romantischen Reflexionspoesie (Stefan Scherer): diese Thematiken, die den Roman Mörikes, »Maler N o h e n s von seinen zentralen Momenten her aufzufalten suchen, zielen jeweils auf Verhältnisse der ästhetisch inszenierten Intersubjektivität. Selbst Mörikes Roman, der in gewisser Weise sein dunkelster Text ist, scheint seine Interpreten aufzufordern, nicht bei den Themen der Kunstmetaphysik oder der Selbstbezüglichkeit des ästhetischen Diskurses stehen zu bleiben, sondern den Transfer in den gesellschaftlichen Verkehr zu vollziehen. Daß gerade in einem Kontext von >Asthetik< und »Geselligkeit« eher nebensächlich erscheinende Texte und Themen ins Zentrum zielen, läßt sich an den Beiträgen von Wolfgang Braungart, Günter Oesterle und Thomas Althaus sehen. Dem Versuch, das Nichtssagende und Unwichtige zu thematisieren, ohne es gerade durch die interpretatorische Konzentration doch wieder wichtig und vielsagend zu machen und so ein performatives Paradoxon zu vollziehen, stellt sich T h o m a s Althaus. Gerade an seiner literaturwissenschaftlichen Beschreibungssprache scheint sich ein Grundproblem der Mörike-Forschung zu zeigen: W i e ist eine Rede zu führen, die als textbezogene Interpretation Intelligenz und Askese zugleich behauptet und einfordert? Denn Mörikes Nichtssagendes (Althaus) oder seine involutive Selbstreferenz (Scherer) einer einläßlichen Interpretation zu unterziehen, hieße, das Nichtssagende zu einem Vielsagenden zu machen. M u ß sich die Interpretation also bescheiden, wenn sie diese These einführt? M u ß sie auf eine Formanalyse umschalten, weil sie dem Inhalt keine >Tiefe< zubilligen will? W o Scherer ein Thesenbündel zur geschichtlichen Situierung anbietet und Althaus eine Beschreibungssprache erfindet, die das skizzierte performative Paradoxon auszuhalten bestrebt ist, zielen Braungart und Oesterle mit Märchen und humoristischer Versepistel direkt auf Geselligkeitsformen. Freilich finden auch hier die Analysen schnell eine Kompliziertheit, die die ästhetische Selbstreferenz zur Geltung bringt. Mörikes Kompliziertheit ist jedoch von einer unaufdringlichen Art, die sich nie in die Opposition zum Geselligen stellt, sondern, im Prozeß der Aufdeckung, diese Geselligkeit stets m i t n i m m t . In einer vielleicht etwas übertriebenen Formulierung könnte man sagen, daß Mörike deshalb so kompliziert ist, weil er Kompliziertheit im Unkomplizierten tarnt und immer bereit zu sein scheint, auch noch das virtuoseste Kunststück leichthin dem geselligen Verkehr zu überantworten. Daß seine Texte aber die insistente Befragung eines close reading

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Wolfgang Braungart

und Ralf

Simon

mit reichen Antworten belohnen, zeigt der Aufsatz von Klaus Weimar, der noch einmal, und aufs Neue zu Recht, >Peregrina< nachgeht. Die Fragestellung der Tagung und des Bandes nach dem Zusammenhang von >Ästhetik< und >Geselligkeit< erwies sich, so hoffen die Herausgeber, als fruchtbar. Zugleich ist aber mit der Engfuhrung auf diese Fragestellung auch gesagt, daß die vorliegenden Aufsätze bestimmte Entscheidungen von vornherein getroffen haben. Mehrheitlich interpretieren sie einzelne Texte. In der gegenwärtigen Situation der Literaturwissenschaft ist dies keine Selbstverständlichkeit. Wo schon das Wort Interpretation mancherorts sich offener Polemik gegenüber sieht, unterliegt solches T u n schnell den Kritikmechanismen einer hochelaborierten Theoriedebatte. Zu Mörikes unkomplizierter Kompliziertheit aber mag gehören, daß ihn nur mit Gewinn lesen kann, wer überhaupt noch lesen kann. Zu allzu großen Thesen taugt er wohl nicht. Das macht ihn stark. Er verlangt eine langsame, wiederholte Lektüre, ein besonderes Gefühl für Form und eine Willigkeit, dem Kleinen als solchem nachzugehen. Das macht ihn noch stärker.

Stefan Scherer Naive Re-Flexion1 Romantische Texturen, erzählte Theatralität und maskiertes Rollensprechen im >Maler Nolten< (Epigonalität und Modernität eines >Schwellentexts< in der >Schwellenepoche< 1830—1850) Die neuere Forschung interpretiert Mörikes Roman >Maler Nolten< als singulare, auf die Moderne vorausweisende Erzählung von »Dissoziationen, von identitätszerstörenden Spaltungen und Wiederholungen«.2 Die komplexe, in sich mehrfach gespaltene Darstellung äußert sich in einer intrikaten Kombinatorik disperser Texturen: in einem Textmodell, das die Romantik in Roman und Drama begründet hat. Mörike wiederholt romantische Verfahrensweisen des poetischen Geists,' woraus trotz aller Anbindung auch an den Initiationsroman der Goethezeit eine neuartige Darstellung hervorgeht. Dies zeigt sich vor allem in der psychologischen Plausibilisierung auch der wunderbaren, vom Realitätsprinzip abweichenden Elemente - in einer Darstellung psychopathologischer Zustände und halluzinativer Projektionsmechanismen, die erst von der literarischen Moderne um 1900 eingeholt wird. Auf die »neue Psychologie im literatur- und denkgeschichtlichen Kontext« kommt es mir im folgenden jedoch weniger an.4 Beobachtet wird vielmehr die historische Valenz und Umwertung einer Organisationslogik, die an die Romantik anknüpft. In der Verbindung mit neuen, in der Moderne durchschlagenden Verfahrenselementen läßt dies eine epochale Verortung des Romans in der Ubergangsphase von 1830 bis 1850 zu. Man kann ihr den Namen >Frührealismus< oder >Protorealismus< (Schönert) geben. Das ist jedoch nicht entscheidend. Wichtig ist dagegen, das pluralisierende Zerbrechen goethezeitlicher Basisannahmen in den Blick zu bekommen, das zu variantenreichen und teils widersprüchlichen Texturen führt. In dieser Zeit zerfallen die Regularien des Literatursystems zwischen 1770 und 1830, wie auch immer man die Destabilisierung der poetischen Sicherheiten

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Für den Titel-Vorschlag danke ich Ralf Simon (Basel). Mathias Mayer: Eduard Mörike, Stuttgart 1998, S. 90. »Mörike knüpft nicht nur an, sondern bildet bewußt nach«, schreibt Ulrich Hötzer zur Lyrik, »indem er bei seinem Schaffen auf überlieferte literarische Muster zurückgreift [....] er kann die Stimme des unmittelbaren naiven Verstehens hören. [...] Er kann aber neben dieser Stimme, sozusagen als kontrapunktisch geführte Gegenstimme, die Melodie des übernommenen Musters hören und so den spannungsvollen Zweiklang, den ästhetischen Reiz von Mustern und Verwandlung genießen« (Ulrich Hötzer: Mörikes heimliche Modernität. Hg. von Eva Bannmüller, Tübingen 1998, S. 279J. Marianne Wünsch: Eine neue Psychologie im literatur- und denkgeschichtlichen Kontext. Zur Interpretation von Mörikes »Maler NoltenPeregrinaFeuerreiteraltdeutscher< Poesie wie die erinnerte Legende (>Jung VolkerPhantasus< wie auf Achim von Arnims >Ariel's Offenbarungen (1803) rückführbar 7 und auch bei Mörike perspektiviert durch den Dialog von Texten, die sich poetologisch und epochal positionieren — historisch etwa im Kunstgespräch zur Differenz romantische vs. antike Kunst, 8 poetologisch in den entsprechend ausgedeuteten Landschaftspanoramen und in der, wenn man so sagen darf, geselligen Wechselbefruchtung der Künste zur Hervorbringung indexikalischer bzw. metonymischer Zeichen aus den tableaux vivants in der Residenz. Musik und Tanz führen hier den Kreidestift der zeichnenden Paare, so daß sich Rhythmus und Resonanz der schönen Geselligkeit direkt in ästhetische Formen

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Z u m polyphonen Erzählverfahren, das den multiperspektivischen Text desintegriert, vgl. Achim Nuber: Mehrstimmigkeit und Desintegration. Studien zur Narration und Geschichte in Mörikes »Maler NoltenMaler Noltem, Frankfurt a. M . - Berlin - Bern u. a. 1996; Herbert Bruch: Faszination und Abwehr. Historisch-psychologische Studien zu Eduard Mörikes Roman >Maler Noltem, Stuttgart 1992. Längst offene Türen einrennen zu müssen glaubt Ulrich Kittstein, indem er die literarischen Verweisungen zwischen Binnentexten und Roman betont: Zivilisation und Kunst. Eine Untersuchung zu Eduard Mörikes »Maler Noltem, St. Ingbert 2001. Vgl. Stefan Scherer: Witzige Spielgemälde. Tieck und das Drama der Romantik, Berlin — New York 2003. Alle im folgenden erwähnten romantischen Dramen und Universalbücher sind in dieser Gattungsmonographie in eigenen Kapiteln ausfuhrlich behandelt und über die Gliederung leicht zu erschließen. Eduard Mörike: Maler Nohen. In: Ders.: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hg. von Hans-Henrik Krummacher, Herbert Meyer, Bernhard Zeller. Bd. 3: Hg. von Herbert Meyer, Stuttgart 1967, S. 282f. Im folgenden wird die Historisch-Kritische Ausgabe (Stuttgart I907ff.) stets mit der Sigle H K A in Klammern zitiert.

Naive Re-Flexion

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einträgt, die aus »gleichartige[m] Geist [...] doch immer etwas Inkorrektes oder Halbes« hervorbringen, das dennoch ins »kleine Gesellschaftsarchiv« >kopirt< wird ( H K A , III, S. 73). A u f all das, so interessant es für die ebenso wie TomziMkabwehrende

lomAmWifaszinierte

Mediologie 9 des Romans ist, kann ich hier nicht näher

eingehen. Mein Augenmerk liegt auf Strukturvorgaben, die auf Dramen bzw. progressive Universalbücher der Romantik zurückgehen. Der >Maler Nolten< spielt zwei Integrationsformen durch. Einmal in Form einer direkten szenischen Einlage: das fiktionsintern

dem Schauspieler Larkens als Verfasser zugeschriebene romantische

Drama >Der letzte König von Orplid«; das andere Mal als narrative Re-Inszenierung einer romantischen Komödie, die den Spiel-im-Spiel-Mechanismus potenziert: Tiecks >Verkehrte Welt< (1798). Schon aber die erste Variante ist bemerkenswert, weil es selbst in der Romantik kaum Texte gibt, die neben Formen radikalisierter Gattungsentgrenzung wie >Ariel's Offenbarungen< (1803) oder Kerners >Reiseschatten< (1811) ganze Dramen in das romantische Universalbuch einbauen. Das ist, wenn ich recht sehe, bei den kanonischen Texten nur in A r n i m s >Gräfin Dolores< (1810) - laut Eichendorffs berühmter Formel eine »Geschichte mit den tausend Geschichten« 10 - der Fall, auf die bemerkenswerterweise Wolfgang Menzels Rezension den >Maler Nolten< bezieht; 11 daneben nur noch, um ein Beispiel aus der romantischen Universaldramatik zu nennen, in Arnims >Halle und Jerusalem< (1811), das mit >Der Harem des Pascha von Jerusalem< ein türkisches Familiengemälde< mit >pantomimischem Tanz< als topisch gewordene Kotzebue-Verulkung in den szenischen Pilgerreisebericht zum Heiligen Grab einblendet. 1 2 So gibt es selbst in Brentanos >verwildertem< Roman >Godwi< (1801/02) nur kleinere szenische Einlagen: dialogische Sequenzen zwischen dem >Ich< des Erzählers und seinen Figuren, die sich jedoch nicht zu vollständigen Dramen verselbständigen. In der späteren Romantik ist trotz aller bestehenden Variabilität der Formen die Einhaltung generischer Konventionen, eine Art klassizistischer Bändigung, zu verzeichnen:

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Attribute in Anlehnung an Bruch, Faszination und Abwehr (Anm. 6); Begriff und Denkfigur nach Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999. Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach, Hartwig Schultz. Bd. 2: Ahnung und Gegenwart. Erzählungen I. Hg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach, Frankfurt a. M. 1985, S. 203. »Nur im Allgemeinen findet man in der reichen und warmen Färbung dieses Romans einige Ähnlichkeiten [gegen den formulierten Originalitätsbefund] mit der tief poetischen und viel zu wenig geschäzten Gräfin von Dolores von Arnim, eine Verwandtschaft, die unserm Verfasser nur zur Ehre gereicht« (HKA, V, S. 34). Vgl. Achim von Arnim: Halle und Jerusalem. In: Ders.: Sämmtliche Werke, Neue Ausgabe V, Schaubühne III, Berlin 1857 (Reprint Hildesheim - Zürich - New York 1982), S. 346-354·

Stefan Scherer

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Die kurze dialogische Einlage in Eichendorffs >Dichter und ihre Gesellen< (1834) bleibt einmalig.'3 Ist also im >Maler Nolten< allein die Einlage einer »undramatische[n] Kleinigkeit« (HKA, III, S. 96) - vierzehn Szenen mit Korrespondenzen zu den parataktischen Reihen und proteushaften Figurenverwandlungen in Kerners >Reiseschatten< (1811) - bemerkenswert, so fällt auch die zwar berühmte, aber kaum organisationslogisch und funktional interpretierte Erzählung von einer Aufführung der >Verkehrten Welt< ins Gewicht.' 4 Tiecks Summe szenisch literarisierter Theatralitätsmodelle um 1800 und Kulminationspunkt frühromantischer Verdopplungsdramatik wird von Mörike fiktional uraufgeführt: und zwar in einer dem Hypotext homologen Prosa, die das »zehnfach reflektirte Spiegelbild der Ironie«, das als »unwillkürliche Selbstpersiflage« »kein Mensch« beschreiben könne (HKA, III, S. 339), auf eine Weise narrativ einholt, die Tiecks romantischer Poetik der Verwirrung korrespondiert. Erzählte Theatralität, die den Rollenwechsel und die fiktionsironischen Rollenspiele der frühromantischen Komödien Tiecks jetzt an der Prosa der Verhältnisse durchspielt, modelliert die im >Maler Nolten< verhandelten Dissoziationserfahrungen. Deutlich gemacht werden soll daher im folgenden, in welcher Form Strukturvorgaben romantischer Dramatik ein Textmodell für den >Maler Nolten< bereitstellen, das der Roman aber nicht mehr zur höheren Ganzheit der generisch diversifizierten Spielarten »als Theile Einer Poesie« in der Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungsformen zusammenschließen kann - so das zentrale frühromantische Poetologem Tiecks,'5 das der universale Parallelismus des »Lustspiels« »Kaiser OctavianusVerkehrten Welt< im >Maler Nolten
Neue Mythologie« verstellt die Bezüge Mörikes zu den literarischen Verfahren, die nicht notwendig auf die programmatisch-theoretische Grundlegung zurückzuführen sind. Es gibt bemerkenswerterweise keine Arbeit, die die Bedeutung Tiecks für Mörike systematisch erschließt,'7 selbst wenn diese generell gesehen wird, zumal Mörike sogar in Erwägung zog, den >Maler Nolten< u. a. Tieck zu widmen.'8 Gustav Schwabs einschlägige Rezension des Romans (1833) erklärt Mörike abschließend kurzerhand zum »Schüler« Tiecks (HKA, V, S. 53). Ausgestattet mit dem gleichen Sinn für fiktionsironische Spiele und selbstverulkende literarische Artistik schätzte Mörike besonders die frühromantischen Märchenkomödien. Den >Prinz Zerbino< (1796-1798), eine episierende Geschmacks- und Bildungsreisen-Persiflage in sechs Akten, plant er 1826 auf dem Puppentheater aufzuführen.19 Tatsächlich aufgeführt wird das erste Stück des >PhantasusTragödie< >Leben und Tod des kleinen Rotkäppchens«, wobei sich Mörike vor allem an der »luftigen Leichenfeier« ergötzt:20 ein Motiv, das im >Maler Nolten< wiederholt in verschiedenen Textebenen aufscheint. Das Gedicht >Wir sind Geister, kleine Elfen< (1826) sollte als epilogartige Ergänzung zur Aufführung dieser Kontrafaktur auf das christlich-poetische Trauerspiel >Leben und Tod der heiligen Genoveva« dienen,21 auf das Mörike im Gedicht

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Vgl. zu diesem Defizit auch in der aktuellen Vormärz-Forschung die Rez. von Gustav Frank: Gibt es einen >Vormärz< »nach der Sozialgeschichte«? Aus Anlaß von Bunzel / Stein / Vaßens »Romantik und Vormärz«. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-vonArnim-Gesellschaft 15, 2003, S. 183-192. Vgl. die knappen Bemerkungen zur Rezeption Tiecks in der »Häuslichen Szene« (1853) bei Eduard Berend: Mörike auf Tiecks Spuren. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 12, 1968, S. 315-317. So laut Mörikes Brief an den Bruder Karl vom 6. Dezember 1831 (HKA, V, S. 14); vgl. auch Hans Vetter: Eduard Mörike und die Romantik, Phil. Diss. Bern 1920, S. 14. Mörike an Wilhelm Hartlaub, 20.-25. März 1826 (HKA, X, S. 121). Mörike an Wilhelm Hartlaub, Ende März und Anfang April 1826 (HKA, X, S. 124). Hans-Henrik Krummacher: Mitteilungen zur Chronologie und Textgeschichte von Mörikes Gedichten. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 6,1962, S. 253-310, hier S. 268.

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>Auf der Reise« (1828) anspielt. Reizvoll wäre es, die Verfahrenskorrespondenzen zwischen Mörikes Knittelversen und Tiecks >albernem< Kindermärchen in Knitteln mit einem Sonette exekutierenden, altklug gewordenen Rotkäppchen genauer zu untersuchen. Ahnliches gilt für das >Märchen vom sicheren Mann< (1837/38), das neben den von der Forschung erschlossenen Bezügen auch auf Tiecks >Leben und Taten des kleinen Thomas, genannt Däumchen< (1811) zurückgeführt werden kann. Der Kontrast von pathetischem Sprechen und derb-materieller Motivation zeigt die komischen Potentiale in der FoiTwverulkung einer poetologisch semantisierten lyrischen Rede, mit der Tieck auf die eigene Dramatik und deren Integration gebundener Formen (Sonetten, Stanzen, Romanzen usw.) ins Drama reagiert. Mörikes komisches Versepos, im >OrplidMaler Nolten< angekündigt (HKA, III, S. 117), zeigt Verfahrensähnlichkeiten zum >DäumchenTheogonie< schreibt. Nachweisbar gelesen hat Mörike 1818 den >Kaiser Octavianus«,22 der die schöne Axtifizialität zum Klang-Teppich einer Wort-Oper verselbständigt. Überliefert ist schließlich die Lektüre des frührealistischen Gegenstücks zu dieser Volksbuchadaption: 23 Der >Fortunat< in zwei Teilen (1816) endet im 1. Teil als Komödie und im 2. Teil wie >Maler Nolten< rein negativ mit den gewaltsam, ebenso nüchtern-beiläufig wie ohne jede transzendierende Perspektive zu Tode kommenden Brüdern Ampedo und Andalosia. Es gibt folglich zahlreiche Tieck-Spuren, an denen auch das für Mörike typische Spiel der humoristischen Verkleinerung hohen Sprechens poetologisch und literarhistorisch präzisiert werden kann, selbst wenn die Vorbehalte gegen Tieck, wie der Brief an Hartlaub vom 29. Dezember 1842 zur >Vittoria Accorombona« mitteilt, später wachsen. (Dabei ist freilich anzumerken, daß sich Tieck mit diesem späten Roman im Zeichen des aufkommenden Renaissancismus am stärksten von seinen Re-Inszenierungen frühromatischer Texturen wie in der >Waldeinsamkeit< von 1840 entfernt.) Nicht zuletzt läßt sich generell Mörikes Verteidigung von »Mannigfaltigkeit«, die Sengle als Spezifikum des >Biedermeier< im Prinzip der »Schachtelung und Kleinteiligkeit«24 deutet, auf Tiecks Positivierung maximaler Vielfalt von Themen und Formen zurückfuhren. 25

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Vgl. Hans-Ulrich Simon: Mörike-Chronik, Stuttgart 1981, S. 21. Simon, Mörike-Chronik (Anm. 22), S. 45. Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. Bd. 2: Die Formenwelt, Stuttgart 1972, S. 1005. »Es ist fast die Regel, daß nicht chronologisch erzählt, sondern die Vergangenheit oder Herkunft der Helden im Rückgriff erzählt wird«, schreibt Sengle zum typischen »Prinzip der Kleinteiligkeit« in der Erzählliteratur des »Biedermeier« (S. 1007). Zur Verteidigung der »Mannigfaltigkeit« komplementär zur »höhere[n] Einheit der

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Vor dem Hintergrund einer >realistischen< Bändigung in der späteren Bearbeitung des >Maler Nohen« erfährt auch die >Verkehrte Welt< deutliche Umänderungen: Sie wird nicht mehr als »geistvoll« charakterisiert ( H K A , III, S. 338), sondern als >bizarr< abgewertet ( H K A , IV, S. 310): »Sämtliche Ausdrücke enthusiastischer Tieck-Verehrung werden gestrichen oder umgeändert«. 26 In der Erstfassung aber bietet Tiecks Komödie - über alle sonstigen Affinitäten Mörikes zum Satirischen, Komisch-Phantastischen, Grotesk-Komischen und Skurril-Kauzigen hinaus 27 - ein Strukturmodell, das die Spaltung, Verdopplung und Einlagerung am Rollenwechsel und maskierten Sprechen im verkehrten Welttheater durchspielt. Mörikes literarische Rezeption der parabatischen Komödien Tiecks 28 zeigt sich zuerst im Dramenfragment >SpilIner< bzw. >Die umworbene Musa< (1827). Es agiert das Spiel mit poetischer Formenvariabilität gleich dem romantischen Drama aus und blendet dabei wie der »Gestiefelte Kater« ein »Zwischengespräch unter den Zuschauern« ein. 29 Die »Verkehrte Welt« potenziert das von Shakespeare und Ben Jonson herkommende Spiel-im-Spiel-Modell zu mehrfach ineinandergeschachtelten Bühnen auf der Bühne, die sich wechselseitig bespiegeln. Das Stück zeigt auf der Bühne ein Theater mit Zuschauern, die Rollen in den eingelagerten Stücken übernehmen - und auf diese Weise die durch die Aufspaltung getrennten Sphären auch wiederum verbinden: Der Zuschauer Grünhelm etwa spielt in allen Stücken den Narren, während Pierrot den kommentierenden Zuschauer gibt und Scaramuz zum Vertreter der Aufklärungsvernunft mutiert, gelegentlich aber auch als parabatischer Belobiger des für ihn aufgeführten Familienrührstücks anläßlich seines Geburtstags fungiert, in das als weiteres Stück im Stück zum Geburtstag des Hausvaters eine Pastorale eingeschachtelt ist. Klaus Weimar hat an dieser Technik ein Strukturmodell mit fünf Ebenen expliziert, das als »limited poem unlimited« 30 tatsächlich nach beiden

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leitenden Idee« im »Maler Nolten«, den Mörike im Brief an den Rezensenten Gustav Schwab vom 17. Februar 1833 gegen dessen die Forschung lange beschäftigenden »Duplicitätsi-Befund vorbringt (HKA, XII, S. 19), vgl. Kittstein, Zivilisation und Kunst (Anm. 6), S. 115. Tscherpel, Mörikes lemurische Possen (Anm. 14), S. 163. Vgl. ebd., S. 173. Begriff nach Uwe Japp: Die Komödie der Romantik. Typologie und Überblick, Tübingen 1999, S. I3f. Eduard Mörike: Sämtliche Werke. Hg. von Herbert G. Göpfert, München 2I958, S. 1173. Die beiden szenischen Fragmente experimentieren mit der Annäherung des halluzinatorischen Sprechens Spillners an den inneren Monolog (vgl. S. 1164), aber auch mit dem parodistisch (und mit historischem Bewußtsein, d. h. ganz korrekt rein paargereimt und sonst ungeregelt) inszenierten Knittel, vergleichbar den angedeuteten Bezügen auf Tiecks »Rotkäppchen« in »Wir sind Geister, kleine Elfen« (vgl. S. 1169). Klaus Weimar: Limited poem unlimited - Tiecks verkehrtes Welttheater. In: Hendrik Birus (Hg.): Germanistik und Komparatistik. DFG-Symposion 1993, Stuttgart - Weimar 1995, S. 144-159.

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Richtungen hin verlängerbar ist: Die Zuschauer in der >Verkehrten Welt< imaginieren (im Gegensatz zum >Gestiefelten Katerunendliche Verdopplung«3' am Theatralitätsparadigma des (verkehrten) Welttheaters nach beiden Richtungen hin grenzwertig durch: in mehrfach gestaffelten Theater-im-TheaterEinlagen und rollenspezifischen Ausdifferenzierungen auf der einen Seite, durch die imaginäre Verlängerung des reflexiven Zuschauerbewußtseins hin zu weiteren Beobachterinstanzen auf der anderen Seite. Formen des maskierten Sprechens in fremden Rollen, die aus der konsequenten Gleichsetzung von mundus und theatrum resultieren 31 und die später von Brentanos illudierender Spielkomödie 33 >Ponce de Leon« im wuchernden Wortspiel fortentwickelt werden, agiert Tieck bereits früh in den Herausgeber-, Erzähler- und Autorfiktionen der >StraußfederWilliam Lovell< und >Ritter Blaubart«, indem er die verfugbaren Genres aufgreift, ineinander kompiliert und dadurch zuletzt ihren aufklärerisch pragmatischen Nutzen delegitimiert. Bei Mörike ist der Schauspieler Larkens vor diesem Hintergrund, pointiert gesagt, eine Art personifizierter Tieck-Textur. Er fingiert Briefe und spricht in fremden Rollen, er inszeniert autonome Kunst und erzählt fremde Texte. Der Arrangeur all dieser Maskeraden, mit denen die Kommunikationsblockade zwischen Nolten und Agnes gelöst und Constanze von Nolten getrennt werden soll, hat aber die Fäden des Schicksals gleich Andrea Cosmio in Tiecks >William Lovell« oder Sarmiento im >Ponce de Leon< nicht mehr in der Hand. Larkens ist damit dekonstruiertes Zitat der ironischen Schicksals-Figurationen in frühromantischen Texten. Im Unterschied zur »hohe[n] harmonische[n] Verwirrung« 34 der fiktionsironischen Rollenspiele Tiecks und der illudierenden Maskeraden Brentanos münden die Intrigen, die »Lügenschrift« und die »Maskencorrespondenz« Larkens ( H K A , III, S. 48) in die Katastrophe. Alle Kalküle zur Wiederherstellung der Verbindung Nohens mit Agnes gehen schief, ja sie führen letztlich ihren T o d herbei, so daß auch Larkens den einzigen Ausweg im Selbstmord sieht. Die Verzweiflung über die Unmöglichkeit, mit einer kunstvollen Inszenierung das Leiden an der eigenen Zeit zu heilen, findet die Erlösung wie Ulmon im >OrplidVerkehrten Weltpoetischen Wahnsinn* gleich dem Hypotext versetzt, ist selbst noch einmal vermittelt. Denn der Präsident übergeht, als er vom Schicksal Larkens' berichtet, dessen »allmälige Verkümmerung« und erzählt »dafür mit den eigenen Worten [...], auf welche Art er zur Bekanntschaft: des Schauspielers gelangte« (HKA, III, S. 338; Hervorhebung von mir, S. S.). Er berichtet von einer Aufführung der >Verkehrten Welt< durch den Schauspieler S " , die nichts anderes als »meisterhaft« gewesen sei und gerade deswegen das >philiströse< Publikum in Rage gebracht habe: » Tieck selbst würde die Physiognomie des Haufens, als mitspielender Person, neben den unter die Zuschauer vertheilten Rollen, sich nicht köstlicher haben denken können« (HKA, III, S. 339) - »Der Vorhang fiel. Das alterierte Publikum drängte sich murrend und drohend nach den Thüren, Einige wollten auf der Stelle Rechenschaft haben« (HKA, III, S. 341). Mörike holt die parabatische Verwirrpoetik Tiecks ein, indem er die Nacherzählung der Aufführung unvermerkt in einen Spiegelsaal komischer Stimmen verwandelt, die - »durch ein dünnes Drahtgitter getrennt« (HKA, III, S. 339) - in die Loge des Präsidenten eindringen: indem er also auch hier ein Bild des Getrennten und doch Vereinten,35 einer gewissermaßen intransparenten Durchlässigkeit, verwendet, die als Bildlogik den ganzen Roman durchzieht; und zwar auf diejenige Weise, in der ζ. B. Wispel sowohl im Roman als auch im >OrplidLügenschrift< an Agnes im N a m e n N o h e n s , sondern auch sein eigenes poetisches Frühwerk, das

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als romantisches Drama >Der letzte König von Orplid< die tatsächlich beabsichtigte politische Satire als Poesie unter dem Vorwand camoufliert, es handele sich um ein »reines Kindermärchen« ( H K A , III, S. 149): Zitat auf den Paratext des >Gestiefelten Katers«, der selbst bereits am Indifferenzpunkt von poetischer und politischer Satire angesiedelt war. D i e realen Konsequenzen aus der politischen Deutung dieser Poesie für N o h e n und Larkens (die Inhaftierung) lassen sich von daher nicht nur als poetischer Kommentar Mörikes zum Geltungsverlust romantischer Wirkungsästhetik lesen, sondern eben auch zu den begrenzten Möglichkeiten von Vormärz-Literatur unter den Bedingungen der Zensur.

II. Romantische Texturen - funktionale und historische Differenzen Tiecks szenische Arabesken spielen - am radikalsten vorangetrieben in der V e r kehrten Welt< - Ambivalenz- und Paradoxiebildungen des auf den Bühnen der B ü h n e verhandelten Welttheaters durch: in szenischen Reflexionen über den Status von Subjektivität und Bewußtsein zwischen Theater und Leben, Fiktion und Präsenz. Tieck verwandelt das selbstironisch literarisierte und gleichermaßen potenzierte wie depotenzierte Spiel-im-Spiel in ein Theater der Lektüre: in eine lesbare innere Theatralität des Subjekts, seiner fiktionalen Selbstbegründungen aus Rolle und >authentischem< Selbstbewußtsein im imaginären Theater der Welt. Die resultierende Derealisierung überträgt Mörike auf die Psychopathologie der Einbildungen: angesiedelt zwischen dem Lügenspiel Larkens' und der psychotischen Unterwerfung Nohens durch ein Schicksal, das sich als Effekt seiner Projektionen zu erkennen gibt. Aller systemreferentiellen Äquivalenzen zum Trotz steht jetzt die finale Negativität dem positiven Glauben an eine höhere Ganzheit, die Desintegration einer Polyphonie als Gleichklang der Welt in der Vielfalt ihrer Stimmen entgegen. Die >Verkehrte Welt< Tiecks gibt darüber hinaus das Strukturmodell der Verdoppelung und Einschachtelung vor. Z u r gleichen Zeit spielt Tieck das Möglichkeitsspektrum des >ganzen< Menschen in der Simultanvirulenz völlig gegensätzlicher Dispositionen im ersten romantischen D r a m a überhaupt, im >Ritter Blaubart< (1796), durch. Die Darstellung der höchst ambivalenten und unkontrollierbar proliferierenden Eigenschaften und Zustände im Menschen zielt schon bei Tieck auf die Erschließung einer Komplexität, die Simon in diesem Stück am Bild der Zwiebel reflektiert. Die Zwiebelbildlichkeit schlägt sich, so in der 9. >NachtwacheRitter Blaubart« herrscht noch ein gewisser spätaufklärerischer Optimismus hinsichtlich der Beschreibbarkeit der verschiedenen Hüllen des Ichs und seines authentischen Kerns, wenngleich die ironische Relativierung der sich spiegelnden Ebenen doch bereits dazu neigt, ein Innerstes letztlich zu dementieren.

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Die Konsequenz tatsächlicher Kernlosigkeit - in der kleinsten Schachtel »ist gar nichts« — formuliert explizit Büchners >Leonce und Lena«.4' Bei Mörike taucht die Metapher nicht auf. Dennoch ist deren Bildlogik im Strukturmodell des »Labyrinths« (HKA, III, S. 359) wie in der Formel vom »Räthsel aus Räthseln« identifizierbar, 42 das einen authentischen Kern der Person nicht mehr kennt, sondern Innerlichkeit nur im performativen Effekt von Medien erfährt: nicht nur in Nohens Jugendepisode, als die schöne Zigeunerin in der Dachkammer aus dem Gemälde lebendig hervorzutreten scheint, sondern eben auch in den direkten Konsequenzen ausgesprochener Worte, insofern die Beichte Nohens Agnes in den Wahnsinn und Selbstmord treibt.43 Gesprochene Worte und die vom Roman aufgeführten Künste sind Taten: Sie >zündenSchonung< als Leitidee der späteren Novellenpoetik Tiecks 45 führt Mörike damit vor allem auch die unkontrollierbaren Konsequenzen der >gefährlichen< Rede vor. 46 Man darf nicht alles sagen, sich nicht völlig aussprechen, weil die Folgen unabsehbar und zuletzt tödlich sind. Paradoxerweise gibt es nun aber, wie Mörikes Darstellung erweist, gar keinen authentischen Kern, sondern nur gewissermaßen >unendliche< Vermittlungen, die der Roman kraft Struktur seiner Einlagetechnik nicht zuletzt auch an den perspektivisch wechselnden Rezeptionsinstanzen (Zuschauern der Stücke, Lesern der Fremdtexte) reflektiert. Der höchst fragile Zustand von Identität - dies demonstriert gerade die eingelagerte Jugendepisode >Ein Tag aus Nohens Jugendleben« - ist Effekt der zahllosen Schalen der Vermittlung, die um ein kernloses Zentrum

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»Teufel! da sind wird schon wieder auf der Gränze; das ist ein Land wie eine Zwiebel, nichts als Schaalen, oder wie ineinandergesteckte Schachteln, in der größten sind nichts als Schachteln und in der kleinsten ist gar nichts« (Georg Büchner: Leonce und Lena. Kritische Studienausgabe. Beiträge zu Text und Quellen von Jörg Jochen Berns, Burghard Dedner, Thomas Michael Mayer u. E. Theodor Voss. Hg. von Burghard Dedner, Frankfurt a. M. 1987, S. 55 [II/i]). » Ο Leben! ο Tod! Räthsel aus Räthseln! Wo wir den Sinn am sichersten zu treffen meinten, da liegt er so selten, und wo man ihn nicht suchte, da gibt er sich auf einmal halb und von ferne zu erkennen, und verschwindet, eh' man ihn festhalten kann!« (HKA, III, S. 406) Nohen beichtet das »Geheimniß« (HKA, III, S. 366) von der »Verwirrung zu der Gräfin« (S. 368), doch das »Bekenntnis« (S. 367) versöhnt nicht, sondern stürzt die Geliebte in den »Absturz angstvoll kreisender Gedanken«, da »jedes Wort zum Dolchstich für Agnesens Herz« wird (S. 368). Vgl. H K A , III, S. 54, Z. 9; S. 234, Z. 18; zur Metaphorik des Zündens der Einbildungskraft vgl. H K A , III, S. 204. Vgl. Ludwig Tieck: Des Lebens Überfluß [1839]. In: Ders.: Schriften in zwölf Bänden. Hg. von Manfred Frank, Paul Gerhard Klussmann, Ernst Ribbat, Uwe Schweikert, Wulf Segebrecht. Bd. 12: Schriften 1836-1852. Hg. von Uwe Schweikert, Frankfurt a. M. 1986, S. 228. Christoph Brecht: Die gefährliche Rede. Sprachreflexion und Erzählstruktur in der Prosa Ludwig Tiecks, Tübingen 1993.

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wie konzentrische Räume angelagert sind. Der Identitäts-Kern Nohens — der Initiationspunkt in seinem Entschluß, Künstler zu werden, den der Roman in seiner Mitte am Ende des ersten Teils erzählt — ist ja selbst nur Effekt einer medieninduzierten Intensitätserfahrung. Die rein phantasmagorische Qualität des Ereignisses hält der Roman auch sprachlich in der Redefigur des >Es war ihm< samt Irrealis im Konjunktiv II präsent: Wenn er seit seinen Kinderjahren, in Rißthal schon, so manchen verstohlenen Augenblick mit der Betrachtung jenes unwiderstehlichen Bildes zugebracht hatte, wenn sich hieraus allmählig ein schwärmerisch religiöser Umgang wie mit dem geliebten Idol eines Schutzgeists entspann, wenn die Treue, womit der Knabe sein Geheimniß verschwieg, den Reiz desselben unglaublich erhöhte, so mußte der Moment, worin das Wunderbild ihm lebendig entgegentrat, ein ungeheurer und unauslöschlicher seyn. Es war, als erleuchtete ein zauberhaftes Licht die hintersten Schachten seiner inneren Welt, als bräche der unterirdische Strom seines Daseyns plötzlich lautrauschend zu seinen Füßen hervor aus der Tiefe, als wäre das Siegel vom Evangelium seines Schicksals gesprungen. ( H K A , III, S. zi6f.)

Die profane Erleuchtung bleibt wie das leitmotivisch zitierte Schicksal strikt perspektivisch gebunden: abhängig von den Projektionen des Subjekts, die sich zwiebeiförmig in zahllosen Erinnerungsschichten um das kernlose Zentrum herum aufbauen. Dem Denkbild konzentrischer Kreise gleich einem Labyrinth, das ein horizontales bzw. synchrones Personenkonzept als Spiegelung von Spiegeln in Spiegeln und als »allmählige Verpuppung« in die Fäden der verschiedenen Texturen (HKA, III, S. 180) sowohl in der Struktur des ganzen Romans als auch in den TeilStrukturen seiner Einlagen abbildet, wird damit eine Zeitdimension eingetragen: eine vertikale Ebene der Erinnerung, die in die historische und genealogische Tiefe der Person wie in die Zeiten-Tiefe von Geschichte und Mythos hineinführt. Die Verschachtelung erinnerter Zeiten bei wechselnden Erzählern 47 prägt nicht nur die gesamte Prosa Mörikes, sondern organisiert auch bereits die frühe Lyrik; denkt man nur an die Erinnerung der Erinnerung zur lyrischen Selbstbeobachtung der eigenen Jugend durch Selbstverdoppelung im Gedicht >Erinnerung< (182z), verbunden mit der Metaphorik des Spiegels in >Besuch in Urach« (1827): »Aus tausend grünen Spiegeln scheint zu gehen / Vergangne Zeit, die lächelnd mich verwirrt«. Die Bildlogik der gestaffelten konzentrischen Kreise organisiert auch später noch die poetische Evokation der >Schönen Buche< (1847).48 Ineinandergeschachtelte Zeiten in der Simultanpräsenz von Mythos, Geschichte und >moderner< Gegenwart verhandelt schließlich das eingelagerte >OrplidGeschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl< (1817) an. Vgl. Barbara Wiedemann: »Ganz verborgen* — Kunstvolle Kunstlosigkeit. In: Mathias Mayer (Hg.): Gedichte von Eduard Mörike, Stuttgart 1999, S. 130-143, hier S. 14z.

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»treulich« ( H K A , III, S. 187) nach der Erzählung Nohens niedergeschriebene, im Roman vom Bildhauer Leopold gelesene Jugendepisode ist nach dieser Struktur organisiert, indem der Leser in gestaffelten Zeitstufen mit wechselnden Binnenerzählern und fremden Textzeugen bis zum direkt zitierten Tagebuch von Nohens Vater Friedrich ins Tiefenzentrum des Romans vordringt. 49 Die >SommernachtOrplidszenischen< Dialogen objektiviert ( H K A , III, S. 2i3f.), so daß auch in diesem genealogisch gesehen >tiefsten< Punkt des Romans die Erzählperspektive im Wechsel der Stimmen ähnlich der Nacherzählung der >Verkehrten Welt< diffus wird. Genau dieser Ort markiert den Initiationspunkt von Nohens Entschluß zum Künstlertum. Hier, in der Mitte des Romans am Ende des ersten Teils, äußert sich der >Ursprungtiefsten< Punkt seiner Lebensgeschichte lagern sich die Zeitstufen und Textformationen wie russische Puppen an. Die rahmenbildenden äußeren Grenzen bilden die beiden Gegenwartsebenen zu Beginn und im zweiten Teil des Romans. Von daher unterliegt die arabeske Unübersichtlichkeit der beiden Teile ohne weitere Kapiteleinteilung 50 einer genau kalkulierten Komposition, die die skizzierte vertikale und horizontale Bildlogik in der Verschachtelung eines gewissermaßen dreidimensionalen Labyrinths einlöst. Der Leser wird im ersten Teil stufenweise in die Vergangenheit geführt, indem die Darstellung der Geschichte und die Chronologie der Ereignisse gegenläufig aufgebaut sind: Lernt man nacheinander die drei Frauen (plus Loskine) kennen, schreitet der Erzähler in die Vergangenheit seines Protagonisten bis zum >Tag in Nohens JugendlebenPeregrinaScheiden von ihn. Ohne Bezug auf überlieferte lyrische Muster 5 2 betreibt der Text eine Auflösung der poetischen Ordnung, um von da aus die Rückkehr zur gebundenen Rahmung des ganzen Zyklus zu vollziehen 53 - und so die labyrinthische Struktur als Doppelung von Ordnung und Verwirrung zu bestätigen. U n d genau an diesem Ort der Lektüre vergangener Poesie aus dem Nachlaß Larkens', im Zentrum des Labyrinths, deutet der Roman seine Konstruktionslogik explizit aus, indem er das Labyrinth als »gewisse planmäßig, aber scheinbar willkürlich in einander geschlungene Laubgänge, mit einem einzigen Eingang« charakterisiert, »welcher sich schwer wieder finden läßt, wenn man erst eine Strecke weit in's Innere gedrungen ist, weil die grünen, meist spiralförmig umeinander laufenden und durch unzählige Zugänge unter sich verbundenen Gemächer fast alle einander gleichen« ( H K A , III, S. 359; Hervorhebung von mir, S. S.). Bezeichnet ist damit die Logik der Wiederholung und Verschachtelung vergleichbarer Strukturen und das Netz der Verweisungen, das die getrennten »Gemächer« miteinander verbindet. Die Abgeschlossenheit des Labyrinths, das Gefangensein in der Verwirrung, zeigt sich, auf den ganzen Roman bezogen, in der von Ellert beobachteten Kreisstruktur. Den Ausgang findet die labyrinthische Verschlingung ins eigene Ich wie in die Familiengenealogie und in die >Fata Morgana der Menschheit, die das eingelagerte >OrplidPoliteiaSchattenspiel< der R o m a n t i k aufruft: und zwar wiederum nicht nur Kerners >ReiseschattenSchattenspiel< wie A r n i m s >Das Loch< aus der >Schaubühnenganz neuen Einrichtung< mittels »Bildern[n] aus Glas« ( H K A , III, S. 95) aufgelöst würde. Soviel aber läßt sich sagen: Ein Wahrnehmungsmodell, das in erster Linie auf die Selbsttätigkeit der Phantasie setzt, wird einer technisch verfeinerten und massenmedial reproduzierbaren Darstellung gegenübergestellt, die eher eine visuelle Überwältigung ansteuert. Beide Formen garantieren jedoch wiederum keine eindeutige Darstellung, sondern provozieren Interpretationskontroversen. Das >reine Kindermärchen< auf jeden Fall, das Larkens in Anspielung auf den >Gestiefeltem Kater< beteuert, wird - nicht zu Unrecht — politisch gelesen und fuhrt zur Verhaftung. Das mit einer Metaphorik der insularen Abgeschiedenheit eingeführte Stück - es spielt auf einem »außerhalb der bekannten Welt gelegenen Boden« ( H K A , III, S. 95) - wird so zum Dementi romantischer Wirkungsästhetik, insofern die reine Poesie in der Restauration als denkbare Darstellungsintention weder funktioniert noch überhaupt erst in Betracht gezogen wird. Das skizzierte Strukturprinzip der Verschachtelung kehrt nun, legt man allein die Schattenbildlichkeit zugrunde, im >OrplidGeister am Mummelsee« als mise en abyme des Romans interpretiert: Der Leichenzug, der beim Begräbnis Larkens wiederkehrt, ist ein >Schattenbild< in einem >Schattenspieldunklen< Text über die Nachtseiten des

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Lebens und der Kunst, in einem »Schattenroman« zur A u f f u h r u n g gelangt. 5 7 Herbert Bruch präzisiert diese Struktur hin auf die L e i t - M e t a p h o r i k v o n B u c h u n d A u g e , die in der Orplid-Insel als »Augapfel der H i m m l i s c h e n « ( H K A , I I I , S. 96) angebahnt wird und sich dort mit den Motiven des Wassers / Sees und des Spiegels verschränkt: Mitten im »stillen Ozean« liegt diese »abgeschlossene Insel« ( H K A , III, S. 95); auf ihr liegt ein »blanke[r], spiegelklare [r] See« ( H K A , III, S. 1 0 0 ) , auf d e m wiederum eine Insel steht. A u c h die T o p o g r a p h i e Orplids erweist sich damit als generativer Kern u n d Abbild einer an russische Puppen erinnernden Textstruktur: M ö r i k e schreibt ein Buch (>Maler NoltenOrplidBergwerken zu FalunzündenMaler N o l t e n < All diese sehr unvollständigen Einzelbeobachtungen lassen Rückschlüsse auf den literarhistorischen Ort des R o m a n s zwischen einer intertextuellen Poetik des Epigonalen und sich abzeichnender Modernität zu, der sich als Frührealismus bei Tieck selbst, in den späten dramatischen Texten des >PhantasusChronik der Sperlinggasse< (1856) über Storms >Bekenntnis< (1887) bis zu Beer-

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Hofmanns >Der T o d Georgs< (1900) verfolgt werden kann. 6 ' Bei Beer-Hofmann verschränkt sich der labyrinthische Diskurs der Moderne 6 2 in der Verselbständigung des personalen Erzählens mit einer Tiefenstaffelung des Erinnerns, die im Nachvollzug seiner traumartigen Assoziativität über die Kindheit in den Mythos eines vorderasiatischen Tempelorgiasmus mündet. Die Komplexität der Konstruktion stellt jetzt explizit die Erzählbarkeit der Welt in Frage: im >Tod Georgs< auf eine Weise, die Rilkes >Malte< zitiert und die Benjamins >ErzählerMund zu Mund< geht, zurückführen wird. 6 ' Auch Mörikes labyrinthische Textarrangements neigen bereits zur >Entfabelung< (Jakob Wassermann), nicht zuletzt weil auch sie sich zu inneren Monologen und in die erlebte Rede verselbständigen, die man gemeinhin erst Büchners >Lenz< attestiert. 64 Hinzu kommen die literarischen Reflexionen auf Effekte des Medien- und Gattungswechsels. So gilt insgesamt auch für Mörike Manfred Franks Befund über Tieck, demzufolge dessen ganze Dichtung »artifiziell gebrochen« sei »durch eine ihrer Textur eingewobene Reflexivität«. 65 Auch Mörikes »ironisch-humoristische Reflektiertheit« betreibt das für Tieck beobachtete Spiel mit Fiktionen, Autorschaften und dem »frommen Betrug« durch die scheinhafte Lüge der Dichtung, 6 6 der an Arnims Zentral-Poetologem von der getauschten Täuschung< denken läßt. Komplex ist Mörikes Prosa nicht zuletzt, weil sich die multiperspektivischen Verfahren, die den konventionellen Faden der alten »erzählerischen Ordnung« verwickeln, 67 mit Augenblicken intensiver Unmittelbarkeit in der tableauartigen Stillstellung der Zeit durch Kunst verschränken. Die »vermittelte Unmittelbarkeit« 68 in intensiven Bildern trügerischer Präsenz zeigt den Irrsinn an der Unentscheidbarkeit von Einheit und Differenz, von Natur und Schrift, Faktum und Inszenierung, Bild «W»abenteuerliche[m] Widerschein« ( H K A , III, S. 35), insofern die Darstellung

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Vgl. Verf.: Linearität - Verräumlichung / Simultaneität - Selbstinvolution. Texturen erzählter Zeit 1900 - 2000. In: Annette Simonis / Linda Simonis (Hg.): Zeitwahrnehmung und Zeitbewußtsein der Moderne, Bielefeld 2000, S. 335-358. Manfred Schmeling: Der labyrinthische Diskurs. V o m Mythos zum Erzählmodell, Frankfurt a. M. 1987. Vgl. Verf.: Richard Beer-Hofmann und die Wiener Moderne, Tübingen 1993, S. 321. Vgl. Schüpfer, Kommunikation im Spiegel (Anm. 6), S. io6f.; Nuber, Mehrstimmigkeit und Desintegration (Anm. 5), S. 44, 272. Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1989, S. 373. Mathias Mayer: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Gedichte von Eduard Mörike, Stuttgart 1999, S. 7-14, hier S. 12. Vgl. die berühmte Passage am Endes des ersten Buchs bei Ulrichs Heimgang in Musil, Mann ohne Eigenschaften (Anm. 35), S. 650. Für Mörike ist die »Balance virtuoser Unschuld und dichterisch vermittelter Unmittelbarkeit« bezeichnend (Christian L. Hart Nibbrig: Verlorene Unmittelbarkeit. Zeiterfahrung und Zeitgestaltung bei Eduard Mörike, Bonn 1973, S. VI).

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bei Mörike scheinhaft, lügnerisch, glänzend, tausendfach gespiegelt und doch auch bezaubernd ist. Fremdtexte formulieren zwar die einzigen Gegenmodelle zur tödlich gewordenen Romanwelt, 6 9 sie verhindern aber nicht mehr die Katastrophe. Schrift ist Medium der Spaltung und Verbindung des Getrennten. Das einstige Glück ist verloren und wird in den >PeregrinaPonce de Leons nun aber auf dem historischen Stand des sentimentalischen Bewußtseins um 1830, gezeichnet vom irreversiblen Verlust einer poetischen Metaphysik. Der literarhistorische Ort des >Maler Nolten« ist folglich der zwischen einer intertextuellen Poetik des Epigonalen auf der einen, vorausweisender Modernität der Texturen auf der anderen Seite, gekennzeichnet durch komplexe Formen und eine literarische Plausibilisierung der Traumförmigkeit des Lebens, die den labyrinthischen Diskurs der Moderne und die »Unentrinnbarkeit des Lebens«, so Hofmannsthals berühmte Formel im >Märchen der 672. Nachts ankündigt. 71 Das Wunderbare, Kernelement der Romantik, wird wie in den späten Dramen und Novellen Tiecks nur noch zitiert: als eine ebenso punktuelle wie letztlich haltlos Valenz im Alltäglichen nur noch insular eingelagert (im >Orplidentdeckt< ( H K A , III, S. i87f.). Z u m Schluß vor diesem Hintergrund noch ein Wort zur epochalen Stellung Mörikes. Gustav Frank hat gezeigt, daß mit >Vormärz< eine literaturgeschichtliche Konstellation zu beschreiben ist, die sich an einem spezifisch strategischen Modell der Epigonalität ausrichtet. Die Verabschiedung der >Kunstperiode< erfolgt im Zeichen des Experiments und arbeitet sich in einem komplexen Prozeß an der Umstrukturierung und Auflösung goethezeitlicher Prämissen ab. Im Zuge solcher Verschiebungen kommt es nicht zu einem Epocheneinschnitt, der sich im Modell des Paradigmenwechsels (T. S. Kuhn) beschreiben ließe, wonach ein älteres Modell, das mit seiner Trägergeneration aussterben wird, durch ein anderes, konkurrierendes ersetzt werden würde, das zugleich von einer jun-

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Vgl. Schüpfer, Kommunikation im Spiegel (Anm. 6), S. 211. Vgl. Nuber, Mehrstimmigkeit und Desintegration (Anm. 5), S. 212. Hugo von Hofmannsthal: Das Märchen der 672. Nacht. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Hg. von Heinz Otto Burger, Rudolf Hirsch, Detlev Lüders, Heinz Rölleke, Ernst Zinn, Bd. 28: Erzählungen 1. Hg. von Ellen Ritter, Frankfurt a. M. 1975, S. 19.

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gen Generation getragen wird. Um 1830 ist vielmehr die Auflösung goethezeitlicher Modellbildungen auf allen Ebenen [...] weit fortgeschritten, [...] ohne daß jedoch schon alternative Formationen des Denk- und Literatursystems bereitstünden, um die aus der späten Goethezeit ererbten Systemprobleme befriedigender, als es im Rahmen von deren Modellbildungen möglich war, [...] zu beheben.72 D i e Auflösungen betreffen teleologisch ausgerichtete Geschichtsmodelle, die K o n zepte v o n Einheit und A u t o n o m i e des Subjekts u n d - daraus resultierend - die Positionierung und Funktion v o n Kunst und Literatur. D i e Tradition bleibt damit als Bezugspunkt f ü r die F o r m i e r u n g v o n >Vormärz< zwar weiterhin relevant. D a s bedeutet aber nicht, daß ihre Systemstellen hinreichende Kriterien fur eine adäquate Beschreibung der spürbaren Veränderungen zur V e r f ü g u n g stellen. 73 M i t anderen W o r t e n : A u c h M ö r i k e s T e x t u r e n produzieren K o m p l e x i t ä t s steigerungen innerhalb des noch bestehenden Paradigmas, die dessen G r e n z e n perforieren, ohne das System selbst zu verabschieden. M ö r i k e s T e x t e sind nicht getragen v o m Gestus der Uberbietung oder polemischen Bestreitung, der etwas Neues, Anderes, Revolutionäres installieren will. Systemtheoretisch konzeptualisierbar ist dieser pluralisierende W a n d e l vor dem System-Wechsel zum Realismus u m 1850 als Involution: gekennzeichnet durch >Rekombinationen< von poetologischen T r a d i t i o n e n u n d Theoriebeständen, die ein internes W u c h e r n der Spaltungen u n d A b g r ü n d e innerhalb

des gegebenen, v o m Literatursystem der Kunstperiode

regulierten R a h m e n s generieren. 7 4 D i e Leerstellen unaufgelöster Rätsel k ö n n e n in einem >Schwellentext< wie d e m >Maler Nolten< noch nicht mit dem Systemwissen der späteren, tiefenstrukturellen Psychologie aufgelöst werden, weil das Literatursystem der Goethezeit noch in das idealistisch-naturphilosophische bzw. metaphysische D e n k e n eingebettet bleibt. G u s t a v F r a n k , J ö r g S c h ö n e r t , M i c h a e l T i t z m a n n u. a. plädieren v o r d e m Hintergrund solcher B e f u n d e zu den variantenreichen Wandlungsprozessen a m E n d e der >Kunstperiode< f ü r eine eigene E p o c h e v o n etwa 1830 bis 1850, der m a n wertungsneutrale N a m e n wie >Frührealismus< oder >Protorealismus< 75 geben kann:

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Gustav Frank: Romane als Journal: System- und Umweltreferenzen als Voraussetzung der EntdifFerenzierung und Ausdifferenzierung von >Literatur< im Vormärz. In: Rainer Rosenberg / Detlev Kopp (Hg.): Journalliteratur im Vormärz, Bielefeld 1996. S. 15—47, hier S. z$f.; dazu auch Gustav Frank: Krise und Experiment. Komplexe Erzähltexte im literarischen Umbruch des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1998, hier v. a. S. 19-35. Vgl. Madleen Podewksi: Kunsttheorie als Experiment. Untersuchungen zum ästhetischen Diskurs Heinrich Heines, Frankfurt a. M. - Berlin - Bern u. a. 2002, S. I2f. Vgl. Ingo Stöckmann: Vor der Literatur. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas, Tübingen 2001, S. 363—371, zur »Rekombination« hier S. 369, zum >involutiven Selektionstyp< S. 364. Vgl· Jörg Schönert: Berthold Auerbachs >Schwarzwälder Dorfgeschichten« der 40er und der 50er Jahre als Beispiel eines »literarischen Wandels«? In: Michael Titzmann (Hg.): Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier, Tübingen 2002, S. 331-345, hier S. 34iff.

Naive Re-Flexion

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Romantische Verfahren und Motive wie das Wunderbare und eine die >Kunstperiode< tragende >ästhetisch-philosophische< Orientierung 7 0 sind hier nicht ausgeschlossen, insofern poetische M e t a p h y s i k u n d neuartige Negativität koexistieren, ohne daß bereits ein T h e o r i e m o d e l l f ü r die Beschreibbarkeit v o n E r f a h r u n g e n existiert, die der komplexe T e x t selbst w a h r n e h m b a r macht; oder noch allgemeiner: o h n e daß der T e x t bereits zu einer Systematik im Sinne einer >ästhetisch-ethischen< O r i e n tierung vordringt, die das Literatursystem >Realismus< ab 1850 reguliert. 7 7 D a s involutive W u c h e r n erzeugt die f ü r M ö r i k e signifikante »Tiefe des A u s drucks«, 7 8 i n d e m es die unabsehbaren Schächte des Ichs ausleuchtet u n d m i t den Spaltungen u n d Vervielfältigungen hybride Strukturen erzeugt. L u h m a n n charakterisiert I n v o l u t i o n als »Uberziehen alter Mittel«: » V o r h a n d e n e F o r m e n u n d Mittel w e r d e n wiederverwendet, abgewandelt, diversifiziert u n d verfeinert u n d [...] bis an die G r e n z e n des existentiell M ö g l i c h e n [...] getrieben«. Involution heißt daher »Wiederholung. A n w e n d u n g desselben M e c h a n i s m u s auf die durch ihn ausgelösten Folgeprobleme«. 7 9 Insofern steht I n v o l u t i o n im Verhältnis zur Epigonalität als Poetik der intertextuellen Reminiszenz u n d W i e d e r h o l u n g . 8 0 Es ist eine Komplexitätssteigerung durch Depotenzierung statt durch Uberbietung, durch Verkleinern und Verfeinern, dem anarchische, weil eigensinnige Z ü g e durch Hypertrophie eignen. 81 Involution bietet daher ein alternatives, defensiveres Beschreibungsmodell f u r Epigonalität neben der experimentellen K o m b i n a t o r i k etwa bei Heine. D i e Wiederholung trägt auch dem Wiederholten eine Differenz ein. Daraus resultiert mit den Paradoxien der Wiederholung 8 2 die Hybridisierung.

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Vgl. Schönert: Auerbach (Anm. 75), S. 345 (Schaubild). Zu solchen Regularitäten vgl. Michael Titzmann: Epoche und Literatursystem. Ein terminologisch-methodologischer Vorschlag. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3, 2002, S. 294-307. Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. Bd. 3: Die Dichter, Stuttgart 1980, S. 742f.; die Formel stammt von Storm im Brief an Mörike vom 12. Juli 1853. Niklas Luhmann: Interaktion in Oberschichten. Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert. In: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. I, Frankfurt a. M. 1980, S. 72—161, hier S. 87 u. 98. Markus Fauser: Intertextualität als Poetik des Epigonalen. Immermann-Studien, München 1999; Burkhard Meyer-Sickendiek. Die Ästhetik der Epigonalität. Theorie und Praxis wiederholenden Schreibens im 19. Jahrhundert: Immermann - Keller - Stifter — Nietzsche, Tübingen — Basel 2001; Sabine Haupt: »Es kehret alles wieder«. Zur Poetik literarischer Wiederholung in der deutschen Romantik und Restaurationszeit: Tieck, Hoffmann, EichendorfF, Würzburg 2002. Vgl. Gert Mattenldott: Epigonalität. In: Ders.: Blindgänger. Physiognomische Essays, Frankfurt a. M. 1986, S. 72-100, hier S. 89f. u. 98. Vgl. Andre Robert / Christoph Deupmann (Hg.): Paradoxien der Wiederholung, Heidelberg 2003: »Jeder Akt der Wiederholung im Bild, im Mythos, in der Erzählung trägt jedoch eine Abweichung in das Identitätsschema ein, und durch ihre bloße Form unterminiert die Wiederholung die Originalität dessen, was doch als Ursprüngliches bestätigt werden soll« (Verlagsankündigung Winter-Verlag 1, 2003).

Stefan Scherer

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Epochal gesehen ist Mörikes >Maler Nolten< ein Schwellentext, weil er Regularien des Literatursystems der >Kunstperiode< wiederholt, dabei aber bereits auf Umweltreferenz bei insularer Wahrung vergangener Poesie und ihrer Metaphysik umstellt. Den Realismus erreicht Mörike schließlich über die Märchentexte >Der Schatz< und >Das Stuttgarter Hutzelmännlein< hinweg in der >MozartMetatexte< romantischer Autoren wie Tieck und Eichendorff zwischen 1835 und 1850 an ihre Systemgrenze. Auch sie reflektieren ihren Status als zitierte Romantik - ein Prozeß, der bei Tieck spätestens um 1811 mit dem >Phantasus< virulent wird. In Büchners >Lenz< (1835/1839) ist die Trennung von der poetischen Metaphysik vollzogen. Tieck dagegen steht noch diesseits der Grenze, weil die >Waldeinsamkeit< (1840) den Leser mit der poetischen Gefangennahme Ferdinand Lindens in romantische Motive und Texturen hineinfuhrt.83 »Tieck spielt die Reinszenierung der Romantik an einen Punkt hin [...], an dem eine Fortsetzung nicht mehr möglich ist, [...] ohne [...] daß daraus eine völlige Desavouierung der Romantik folgen würde«.84 Die Formel >Wiederholen und Durcharbeiten^ die Heinz Brüggemann auf den Protagonisten der >Waldeinsamkeit< bezogen hat, 8 ' läßt sich in übergeordneter Hinsicht auf die >SchwellenWaldeinsamkeitMaler Nolten
Maler Noltenc Herbert Bruch: Faszination und Abwehr. Historisch-psychologische Studien zu Eduard Mörikes Roman »Maler NoltenMaler Nohens Frankfurt a. M. u. a. 1991; Isabel Horstmann: Eduard Mörikes >Maler NoltenMaler Nohens Frankfurt a. M. u. a. 1997; Jong-Mi Park: Eduard Mörikes >Maler Nohen« im Hinblick auf die Schicksalsfrage, Marburg 1992; Irene Schüpfer: »Es war, als könnte man gar nicht reden«. Die Kommunikation als Spiegel von Zeit- und Kulturgeschichte in Eduard Mörikes >Maler Nohen«, Frankfurt a. M. u. a. 1996; Roland Tscherpel: Mörikes lemurische Possen. Die Grenzgänger der schönen Künste und ihre Bedeutung fiir eine dem »Maler Nohen« immanente Poetik, Königstein 1985; Gisela Beste: Bedrohliche Zeiten. Literarische Gestaltung von Zeitwahrnehmung und Zeiterfahrung zwischen 1810 und 1830 in Eichendorffs »Ahnung und Gegenwart« und Mörikes »Maler Nohen«, Würzburg 1993; Marianne Behrendt: Die Figur der Elisabeth in Eduard Mörikes Roman »Maler Nohen«. In: Ghemela Adler / Erich Huber-Thoma (Hg.): Romantik und Moderne. Neue Beiträge aus Forschung und Lehre. Festschrift für Helmut Motekat, Frankfurt a. M. - Bern - New York 1986, S. 55-75; Sigrid Berka: Kindfrauen als Projektionsfiguren in Mörikes »Maler Nohen« und Wedekinds »Monstretragödie«. In: Gerhart Hoffmeister (Hg.): Goethes Mignon und ihre Schwestern. Interpretationen und Rezeptionen, Frankfurt a. M. u. a. 1993, S. 135—164; Julia Bohnengel: »Der wilde Athem der Natur«. Zur Friedrich/Loskine-Episode in Mörikes »Maler Nohen«. In: Reiner Wild (Hg.): »»Der Sonnenblume gleich steht mein Gemüthe offen«. Neue Studien zum Werk Eduard Mörikes, St. Ingbert 1997, S. 45-69; Heide Ellert: Eduard Mörike: »Maler Nohen«. In: Romane des 19. Jahrhunderts. Interpretationen, Stuttgart 1992; Sabine Hausdörfer: Späte Blendung - Eduard Mörikes »Maler Nohen«. In: Dies.: Rebellion im Kunstschein. Die Funktion des fiktiven Künstlers in Roman und Kunsttheorie der deutschen Romantik, Heidelberg 1987, S. 241—264; Raymond Immerwahr: Mörike's »Maler Nohen« as a Romantic Novel. The Problem of Unity. In: Michael S. Batts / Anthony W. Riley / Heinz Wetzel (Hg.): Echoes and Influences of German Romanticism. Essays in Honour of Hans Eichner, New York - Bern - Frankfurt a. M. - Paris 1987, S. 63-83; Jeffrey L. Sammons: Fate and Psychology. Another Look at Mörike's »Maler Nohen«. In: Ders.: Imagination and History. Selected Papers on Nineteenth-Century German Literature, New York u. a. 1988, S. 33-54; Annette Scholl: »Kunst! ο in deine Arme wie gern entflöh ich dem Eros!« Kunst und Künstler in Mörikes »Maler Nohen«. In: Wild, Neue Studien, s.o., S. 71-89; Marianne Wünsch: Eine neue Psychologie im literatur- und denkgeschichtlichen Kontext. Zur Interpretation von Mörikes »Maler Nohen«. In: Karl Richter / Jörg Schönert / Michael Titzmann (Hg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770—1930. Walter Müller-Seidel zum 75. Geburtstag, Stuttgart 1997, S. 185-232. Ich verzichte darauf, die Genreproblematik zu diskutieren. Vgl. dazu Rudolf Volk: Die Kunstform des »Maler Nohen« von Eduard Mörike, Berlin 1930; Neudruck 1967.

Die Briefintrige im >Maler Nolten
WahlverwandtschaftenMaler Nolten< durchsetzt ist). 9 N o h e n s Busenfreund Larkens n u n , der der U b e r zeugung ist, N o h e n werde schließlich nach seiner >Constanzeverirrung< reumütig zu seiner Idealpartnerin zurückkehren, hält, u m d e m F r e u n d den sicheren Rückweg zu Agnes zu ebnen, heimlich u n t e r N o h e n s N a m e n die Korrespondenz m i t der Verlobten aufrecht. 1 0 Alles geschieht zunächst, wie von Larkens prophezeit: D i e Verbindung zwischen Constanze und dem Maler k o m m t nicht zustande, und Nolten wendet sich wieder Agnes zu. D a ß sich die Larkensschen Vorhersagen erfüllen, ist allerdings wenig bemerkenswert, sind doch beide Ereignisse, die A u f l ö s u n g der Verbindung zwischen Constanze u n d d e m Maler u n d seine Wiedervereinigung mit Agnes, Resultat v o n Larkens' M a n i p u l a t i o n e n u n d Interventionen: Der P r o p h e t sorgt mithin selbst dafür, d a ß seine Prophezeiungen sich bewahrheiten. Z u Beginn des zweiten Romanteils h a t sich das Paar Agnes u n d N o l t e n wieder g e f u n d e n : U n d der R o m a n k ö n n t e enden, wie viele R o m a n e enden, mit der Hochzeit des Liebespaares, das nach Irrungen, W i r r u n g e n glücklich in den sicheren H a f e n der Ehe einfährt. Auf dieses >glücldiche Ende< verzichtet Mörikes Text u n d entfaltet stattdessen die Ausläufer u n d Spätfolgen der Briefintrige. Der Intrigant, der im N a m e n seines Freundes die Briefe an dessen Braut schrieb, bringt sich u m - u n d der R o m a n k o m m e n t i e r t diesen Suizid: (Einige Jahre nachher hörten wir von Bekannten des Malers die Behauptung geltend machen, daß den Schauspieler eine geheime Leidenschaft fiir die Braut seines Freundes zu dem verzweifelten Entschlüsse gebracht habe. Wir wären weit entfernt, diese Sage, wozu eine Äußerung Nohens selbst Veranlassung gegeben haben soll, schlechthin zu verwerfen, wenn wirklich zu erweisen wäre, daß Larkens, wie allerdings vorgegeben wird, kurz nachdem er seine Laufbahn geändert, Agnesen bei einer öffentlichen Gelegenheit, und unerkannt von ihr, zu Neuburg gesehen habe. [...]).11

Die auf R e t t u n g angelegte Intrige fordert also ein Todesopfer: den Intriganten. U n d sie fordert nicht n u r ein Todesopfer. N o l t e n f ü h l t sich veranlaßt, Agnes von

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Zu den Verweisen des Romans auf die »Wahlverwandtschaften* vgl. ζ. B. Jürgen Kolbe: Tragik und Bindung. Eduard Mörikes Roman >Maler Noltcrr. In: Ders.: Goethes »Wahlverwandtschaften* und der Roman des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1968, S. 56—85. Ähnliche Konfigurationen finden sich in einer ganzen Reihe weltliterarischer Texte, vgl. ζ. B. den (späteren) Text: »Cyrano de BergeracLiebesdienst< des Freundes zu erzählen. Agnes verfällt ob dieser Verdoppelung respektive Aufspaltung ihres Bräutigams 11 endgültig dem Wahnsinn und stirbt. Auf Agnes' T o d folgt derjenige Theobalds (und Elisabeths und Constanzes). Mörikes Roman produziert Leichen im Uberfluß; der ästhetische Raum erscheint als solcher erst dadurch abgeschlossen, daß das >lebendige< Romanpersonal stillgestellt, mortifiziert wird (in einen R a u m des Todes, der Kunst überführt wird). Die Intrige als metaphysischer und theologischer Abfall, wie von Matt sie beschreibt, die Intrige als Strategie, das Fatum zu suspendieren, scheint im Falle von Mörikes Text dem von den Gestirnen, dem Schicksal für die Romanfiguren Vorgesehenen, dem über sie Verhängten nur Vorschub zu leisten, der Erfüllungsgehilfe der Moira zu sein — eine Konfiguration übrigens, die sich durchaus als ironischer Romankommentar zur metaphysikkritischen Auflehnung gegen die Vorsehung qua Intrige lesen läßt. Erfüllungsgehilfe der Moira wird die Intrige gerade durch die Entfaltung ihres säkularen, antitheologischen Potentials. Sie fuhrt den Romanfiguren und der Leserin, dem Leser vor - und das kann als ihr aufklärerisches Verdienst gelesen werden - , daß faktischer Grund aller Kommunikation Desinformation und Verwirrung ist, daß alles, was kommuniziert wird, Verdacht erregen müßte, daß mündlich, brieflich oder wie auch immer medial Geäußertes auf Pläne zurückzuführen ist, die verborgene Interessen verfolgen; daß die Intrige in ihren Auswirkungen komplex und unkalkulierbar bleibt - auch für den Intriganten, der nicht wirklich Herr im eigenen Intrigenhause ist. Der Intrigant demonstriert einerseits seine subjektive Ermächtigung; er schmiedet selbstbewußt seine Ränke. Andererseits läßt die >Intrigenmaschinerie< den, der vorgeblich die Fäden der Intrige in der Hand hält, selbst als Marionette erscheinen. Auch das Sprechen des Intriganten ist ein Gesprochenwerden, auch seine Aktion eine Reaktion, auch sein Verstehen ein Mißverstehen. Die subjektive Ermächtigung, die von Matt postuliert, ist damit immer schon eine vorgebliche. Das Konzept der Intrige, in dem er aufklärerische Subjektermächtigung wirksam sieht, impliziert immer gleichzeitig auch die Depotenzierung und Dekonstruktion handlungsmächtiger Subjektivität. Jedenfalls geht das Lektüreprogramm, das uns die Intrige eindringlich vorschlägt, von Täuschung, von zielgerichteter Verstellung aus. Es faßt den Text als eine Scheinvorrichtung auf, die das Entziffern der verdeckten Botschaft zur Aufgabe macht; es sucht geheime Pläne

Diese Verdoppelung/Aufspaltung wird im Roman immer wieder thematisiert. So heißt es beispielsweise in bezug auf Larkens: »Jedesmal ergriff ihn die eigenste Rührung, wenn er solche treuherzige Linien ansah, die nach des Mädchens Meinung der Geliebte lesen sollte, und die unser Schauspieler doch wiederum nur sich selber zueignen konnte, da es nur Antworten auf dasjenige waren, was er zwar ganz im früheren Sinne Nohens geschrieben, aber doch gleichsam durch alle Fasern des eigenen innigsten Gefühls übertragend, empfunden hatte. In der That, er kam sich dann immer wie ein gedoppeltes Wesen vor, und nicht selten kostete es ihn Mühe, sein Ich von der Theilnahme an diesem zärtlichen Verhältniß auszuschließen« (S. 90).

Die Briefintrige im Maler Nolten
Wahrheit< hinter dem >Schein< festzulegen (denn vielleicht liegt ja hinter der >Wahrheit< eine noch >wahrere< Wahrheit). Der Roman bietet keinen sicheren Grund. Auch die Paranoia, die paranoische Rezeptionshaltung, die die Briefintrige nahelegt, ermöglicht nicht, einen archimedischen Punkt der >Eigentlichkeit< zu fixieren. Diese von mir paranoisch genannte Lektüreeinstellung erinnert an eine Rezeptionshaltung, wie sie Roland Barthes in seiner >Typologie der Lektürelust - oder der Lustleser< beschreibt. Barthes spricht von »Paranoikerfn]«, die »verzwickte Texte, wie Argumentationsreihen entwickelte Geschichten, nach Spielregeln, geheimen Zwängen aufgebaute Konstruktionen konsumieren oder hervorbringen«. 13 Slavoj Zizek, um neben Barthes einen zweiten Namen ins Spiel zu bringen, kennzeichnet eine solche Lese- oder Rezeptionseinstellung als die von »Aficionados«. »Aficionados« wenden sich ihren Texten in der Annahme zu, in ihnen sei ein »gottähnliche[r] Demiurg« am Werke gewesen, »der selbst über die kleinsten Details seiner Arbeit herrscht«. 14 In dieser Perspektive von Barthes u n d Zizek sind die zahlreichen Wahnsinnigen, die den Roman bevölkern, die die geheimen Absichten, hintergründigen Pläne, den großen Verhängnis- und Bedeutungszusammenhang hinter allem vermuten (unter ihnen Agnes), diejenigen, die über eine durchaus angemessene Rezeptionshaltung verfugen, gerade weil sie dem Lektüreimperativ des ausgreifenden Verdachts folgen. (Und in Parenthese sei angemerkt, daß dieses Lektüreprogramm nicht ohne Auswirkungen bleibt auf diejenigen, die den Roman >Maler Nohen« lesen.) D a ß schon das Kind Agnes diesem Imperativ einer verdachtsorientierten Rezeption gehorcht, macht eine kleine Geschichte deutlich, die ihr Vater auf Aufforderung Nohens während dessen Besuchs im Forsthaus dem anwesenden Baron erzählt: >Nun, meine Tochter war etwa zehn Jahre, zur Zeit, da Ihr Herr Bruder, der Herr Oberforstmeister [gemeint ist der Bruder des Barons], von Ihren Reisen zurückkamen, und die Gnade hatten, manchmal in meinem Hause davon zu erzählen. Dieser Herr, nachdenklich und ernsthaft, aber freundlich und gut gegen Kinder, machte auf das Mädchen einen besonderen Eindruck, der ihr lange geblieben ist. Nun kommt sie einmal (die Gesellschaft war gerade weggegangen) von ihrem Sitz hinter dem Ofen, wo sie eine Zeitlang ganz still gesessen und gestrickt hatte, hervor, stellt sich vor mich hin, sieht mir scharf in's Gesicht und lacht mich an, wie über etwas, das mir schon bewußt seyn

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Roland Barthes: Die Lust am Text, Frankfurt a. M. 1984, S. 93. Slavoj Zizek: Alfred Hitchcock oder Die Form und ihre geschichtliche Vermittlung. In: Ders. (Hg.): Ein Triumph des Blicks über das Auge. Psychoanalyse bei Hitchcock, Wien 1992, S. 9-21, hier S. 21.

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müßte, und dabei fährt sie mir mit der Stricknadel schalkhaft über die Stirn. Auf meine Frage, was dies zu bedeuten habe, gibt sie keine deutliche Antwort und geht wieder an ihren Platz. So treibt sie's zu verschiedenen Zeiten ein paarmal. Zuletzt ward ich doch ungeduldig und fuhr sie etwas hart an, da fiel sie in ein Weinen, indem sie sagte: Gesteht es nur Papa, daß es die Länder und Städte gar nicht gibt, von denen Ihr alls redet mit dem Herrn; ich merke wohl, man thut nur so, wenn ich um den Weg bin, ich soll Wunder glauben, was Alles vorgehe draußen in der Welt, und was doch nicht ist; deßwegen laßt ihr mich auch nie weiter als bis nach Weil, nach Grebenheim und Neitze. Zwar daß unsers Königs Land sehr groß ist, und daß die Welt noch viel viel weiter geht, auch noch andre Völker sind, weiß ich wohl, aber Paris, das ist gewiß kein Wort, und London, so gibt es keine Stadt; Ihr habt es nur erdacht und thut so bekannt damit, daß ich mir Alles vorstellen soll.< (S. 28of.) D e r R o m a n t e x t markiert Agnes' Verhalten, ihre Strategie, v o n einem grundsätzlichen Fiktionalitätsverdacht auszugehen, 1 5 als »Grille« (S. 280) u n d »Caprice«, die sich, G o t t sei D a n k , verloren habe. N u r in ihrer Kinderzeit - so N o h e n - habe sich seine Braut als Mittelpunkt und Zweck einer großen Erziehungsanstalt betrachtet, die auf jene Weise allerlei lebhafte Ideen in des Kindes Kopfe habe in Umlauf setzen und seinen Gesichtskreis durch eine Täuschung erweitern wollen, deren Nutzen sie zu ahnen glaubte, doch nicht begriff. Sie vermuthete, man wisse überall, wohin sie komme, wer ihr da und dort begegnen werde, und da seyen alle Worte abgekartet, Alles auf das sorgfältigste hinterlegt, damit sie auf keinen Widerspruch stoße. (S. 281) Hätte Agnes an dieser Vermutung festgehalten - an der Vermutung, daß »alle Worte abgekartet, Alles auf das sorgfältigste hinterlegt, damit sie auf keinen Widerspruch stoße« —, wäre sie auf die Larkenssche Intrige w o h l nicht hereingefallen u n d hätte die Briefe als das gelesen, was sie sind, nämlich D o k u m e n t e einer absichtsvollen Täuschungsmaschinerie. Verhängnisvoll erscheint in dieser Perspektive nicht Agnes' Inklination zur Paranoia, sondern die Suspension dieser Inklination.' 6

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Es ist sicher nicht zufällig, daß das Kind in der Szene strickt, das heißt literal ein Textum herstellt, während es die gehörte Geschichte fur etwas fiktiv Gewobenes hält. Vgl. auch Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel - Frankfurt a. M. 1995, S. I4f. Hingewiesen sei darauf, daß die Unterstellung geheimer Bedeutungen, die Privilegierung sonst unbeachteter, für irrelevant gehaltener Details, die Vermutung, daß unter dem manifesten ein anderer, verborgener Sinn festzumachen sei, auch fiir jene Deutungstechnik zentral ist, die von Interpreten immer wieder an den >Maler Nolten< herangetragen wurde: nämlich die der Psychoanalyse. Mit guten Gründen hat Marianne Wünsch den >Maier Nolten< als »einen bemerkenswerten Fall der Relation von Literatur(system) und Wissenssystem [bestimmt], bei dem die Literatur in keiner früheren oder zeitgenössischen Theorie vorgegebene Konzepte und Regularitäten für einen kulturell noch völlig Undefinierten >Objektbereich< tentativ entwirft und damit gewissermaßen eine >potentielle Theorie< bzw. ein >potentielles Wissen< vorschlägt« — eine Theorie, die dann mehr als 50 Jahre später in der Psychoanalyse eine Ausgestaltung gefunden hat (Wünsch, Neue Psychologie im literatur- und denkgeschichtlichen Kontext [Anm. 7], S. 229).

Die Briefintrige im >Maler Nohen*.

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Z u klären bleibt allerdings, wie und warum die Larkenssche Briefintrige >funktioniert< und warum Agnes, trotz ihrer Inklination zur »Lektüreform des ausgreifenden Verdachts«, 17 der Intrige nicht auf die Spur kommt. Agnes führt die Liebeskorrespondenz mit Larkens, der vorgibt, er sei Nohen, ohne daß sie die Täuschung bemerkt. Blind bleibt sie für das Betrugsszenario, weil auch Agnes ihrerseits mit zielgerichteter Verstellung befaßt ist. Ihre Präokkupation mit dem eigenen Simulationsverfahren generiert einen blinden Fleck: Sie ist nicht in der Lage, das Illusionsgebäude der Larkensschen Intrige als solches wahrzunehmen. 18 Als ihr Vater sie, nach ihrer halben Liaison mit Vetter Otto, auffordert, Theobald zu schreiben, »einen unbefangenen heitern Brief, so wie dein letzter vor drei Wochen war, das wird ihn freuen«, antwortet Agnes: »Ihr wißt nicht Vater, wie es um die Zukunft steht, drum mögt Ihr wohl so sprechen. Aber seht, ich denke nun, Theobald muß ja mein Mann nicht eben seyn, und ich darf ihn dennoch lieb behalten. Ist's ja doch ohnehin noch nicht an der Zeit, daß wir uns die Brautschaft förmlich aufsagen, und warum soll ich ihn eher als nöthig ist, aus seinem guten Glauben reißen, da er die Wahrheit jetzt noch nicht begriffe, warum nicht immerfort so an ihn schreiben, wie er's bisher an mir gewohnt war? Ach, ganz gewiß, ich sündige daran nicht, mein Herz sagt mir's; er soll, er darf noch nicht erfahren, was ihm blüht, und, Vater, wenn Ihr ihn lieb habt, wenn Euch an seinem Frieden etwas liegt, sagt Ihr ihm auch nichts! Dagegen aber kann ich euch versprechen, ich will vor der Hand mit Otto nichts mehr gemein haben. Die Zeit wird ja das Übrige schon lehren.· (S. 6of.)

Agnes verfolgt also ein ganz ähnliches Geschäft wie Larkens: sie ist mit dem So-Tun-als-ob befaßt. U n d wie für Larkens gilt auch für sie: einem Ziel dient die Briefintrige sicher und zuverlässig - der Textproduktion. Nach Niederschrift des Briefes gibt sie diesen zur Durchsicht an ihren Vater: »Aber welch' köstliche, hinreißende, und doch wohlbedachte Worte waren das! [...] N u r die absichtliche Leichtigkeit, womit jene ernsten und tiefen Bewegungen in Agnesens innerm Leben hier gänzlich übergangen waren, frappirte den Vater an dem sonst so redlichen Kinde« (S. 61). Den Vater »frappiert« also, daß seine offene, natürliche, naive, authentische, unverstellte, redliche Tochter sich als Meisterin der Aussparung, des Verschweigens, der Manipulation erweist: als versierte Schauspielerin, die souverän den Eindruck erweckt, sie könne kein Wässerchen trüben. 19 Natürlichkeit, Authen-

Ich übernehme die Formulierung von Torsten Hahn: Medium und Intrige. Über den absichtlichen Missbrauch von Kommunikation. In: Claudia Liebrand / Irmela Schneider (Hg.): Medien in Medien, Köln 2002, S. 89-105, hier S. 99. Oder — anders formuliert: Agnes läßt sich ganz auf die Fiktion ein. Daraufhingewiesen sei, daß sowohl die Zuschreibungen von Natürlichkeit und Naivität wie die der Verstellung, des Maskenspiels, der Schauspielerei zwei prominente Weiblichkeitstopoi aufrufen, die spätestens seit dem 18. Jahrhundert im Bereich der Literatur und der Humanwissenschaften als Gemeinplätze zu gelten haben.

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tizität und Naivität geraten zum Effekt der Kunstfertigkeit einer Schauspielerin, die so tut, als ob sie gar keine Rolle spiele. 10 Die Kunst, über die Agnes verfügt, ist ihre Kunstfertigkeit, ihr Maskenspiel zu verbergen - und diese Harmlosigkeitsmaskerade ist konstitutiv (nicht nur) fiir das Schreiben von Frauen. Höchste >Natürlichkeit< wird dann erreicht, wenn es gelingt, die Inszenierung vergessen zu lassen; der Roman verweist mithin metakritisch auf die diversen Konzepte der Kunstideologie der Natürlichkeit. Wie gut es Agnes gelingt, ihre Manipulation unsichtbar zu machen, zeigt der Eindruck des Vaters: »So kann bloß ein Mädchen schreiben, das völlig ungeteilt in dem Geliebten lebt und webt« (S. 61). Obwohl er weiß, daß dem nicht so ist, daß Agnes nicht »völlig ungeteilt in dem Geliebten lebt und webt«, schließlich turtelte sie mit Vetter Otto, kann er sich der persuasiven Kraft des Briefes nicht entziehen. Der Brief wirkt (auf den Vater, wie später auf Larkens) überzeugend, also ist er wahr. Die >WahrheitAuthentizitiätNatürlichkeit< des Briefes stellen sich als sein nachträglicher Effekt ein. 21 Die Wirkung des Briefes produziertest

das, was durch diese Wirkung eigentlich beglau-

bigt werden soll: die Wahrheit, die Authentizität der Liebe. Was als Voraussetzung des Liebesbriefes gilt - das natürliche, das authentische Gefühl (so präsentiert es die diskutierte Konfiguration des >Maler NoltenLiaisons dangereusesMaler Noltem

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Diese Erfahrung hat die Marquise beim Lesen von Briefromanen gemacht: >De plus, une remarque que je m'etonne que vous n'ayez pas faite, c'est qu'il n'y a rien de si difficile en amour, que d'ccrirc ce qu'on ne sent pas. Je dis ecrire d'une ίζςοη vraisemblable: ce n'est pas qu'on ne se serve des memes mots; mais on ne les arrange pas de meme, ou plutöt on les arrange, et cela suffit. [...] C'est le defauc des Romans; l'Auteur se bat les flancs pour s'echauffer, et le Lecteur reste froid. Heloise est le seul qu'on en puisse excepter; et malgri le talent de l'Auteur, cette observation m'a toujours fait croire que le fond en etait vrai.Maler Noltew

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u n d er baut dabei auf das, was er selbst ad absurdum gefuhrt hat: D a s Vertrauen in die Authentizität des geschriebenen Wortes im Brief. Larkens' R ü c k z u g v o r der Aussprache m i t N o h e n entspringt seiner Skepsis gegenüber der W i r k s a m k e i t unmittelbarer K o m m u n i k a t i o n , welche auf seine U n f ä h i g k e i t zur eigenen Identitätsfindung z u r ü c k z u f ü h r e n ist. 1 2 D i e s zwingt ihn unablässig dazu, e n t w e d e r selbst im Schutz einer Rolle zu kommunizieren oder andere unter seiner Regie stellvertretend in A k t i o n treten zu lassen. Letzteres gilt speziell f u r den A u f t r i t t Elisabeths in der Silvesternacht a u f d e m A l b a n i t u r m u n d f ü r die A u f f ü h r u n g des >Letzten K ö n i g s v o n Orplid< i m H a u s e des G r a f e n . In beiden Fällen nutzt Larkens einen geselligen R a h m e n , u m seine Botschaften zu vermitteln bzw. seine Intrige ins W e r k setzen zu können. D e r Auftritt Elisabeths auf d e m A l b a n i t u r m in der Silvesternacht ist mit anderen Mitteln ebenso eine Phantasmagorie w i e die A u f f u h r u n g des Orplid-Stückes: Larkens verkleidet Elisabeth, deren A n b l i c k im R o m a n mehrfach Ohnmächten auslöst, als »König der Nachtwächter«' 3 und verhüllt damit ihre bedrohlich-erotische W i r k u n g . Stattdessen erscheint sie als androgynes W e s e n , denn im Kontrast zu K a p u z e n u m h a n g , Stock u n d w e i ß e m Bart steht das T i m b r e ihrer S t i m m e , »worin m a n jedoch trotz einer gewissen D u m p f h e i t gar bald das Frauenzimmer unterscheiden konnte«. 1 4 O b w o h l der N a c h t w ä c h t e r auf alle Anwesenden unheimlich wirkt, ja sogar »vorübergehendes G r a u e n erregt«, 15 ist dies dennoch Elisabeths einziges Erscheinen im R o m a n , das keinen unmittelbaren physisch-psychischen Schaden anrichtet, da sie w e d e r äußerlich noch in ihren T a t e n »sie selbst« ist. D e r T e x t , den Larkens ihr in den M u n d legt, ist eine fiktive Tagebucheintragung, die - ohne daß ihr N a m e genannt wird - Agnes z u m Gegenstand hat. Sie wird als Schlafende imaginiert, die v o m treulosen Verlobten träumt; am E n d e prophezeit der Beobachter zukünftiges Leid f ü r die T r ä u m e r i n . Agnes wird also in ihrer realen, ihr selbst jedoch unbewußten Situation dargestellt, so daß sich in diesem Bericht wahrer K e r n u n d Imagination überblenden. D e r A u f t r i t t des Nachtwächters dient der Unterhaltung aller A n w e s e n d e n . Adressat ist jedoch allein N o h e n , der auch als einziger Larkens' Rolle als U r h e b e r durchschaut und entsprechend verstimmt ist. I n d e m der Schauspieler seine Botschaft vor P u b l i k u m vermittelt, zwingt er einerseits den M a l e r dazu, sich deren Inhalt zu stellen u n d entzieht sich selbst zugleich der unmittelbaren Kritik durch den F r e u n d . Geselligkeit ist f ü r Larkens also keineswegs Selbstzweck oder gar O r t der Geborgenheit, sondern Mittel zur K o m m u n i k a t i o n , die auf direktem W e g z u m Scheitern verurteilt wäre. Faszination und U n b e h a g e n , die alle A n w e s e n d e n ergreifen, dienen ihm dazu, den E i n d r u c k auf den Freund zu verstärken.

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Liebrand, Identität und Authentizität (Anm. 7), S. 109. H K A 3, S. 34. H K A 3, S. 33. H K A 3, S. 38.

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T r o t z d e m hält Larkens die Fäden nicht gänzlich in der H a n d : D e m Auftritt des Nachtwächters geht der nicht v o m Schauspieler geplante V o r t r a g der Ballade v o m Feuerreiter durch einen der Stadtmusikanten voraus, deren eindeutig sexuelle Konnotationen seit den Untersuchungen v o n v. Graevenitz u n d B r u c h ' 6 hinreichend bekannt sind. Elisabeths Auftritt erfolgt mitten in die A u f f ü h r u n g hinein — der V o r t r a g der Ballade bricht mit d e m bedeutungsschweren V e r b »brennt's« ab - u n d stellt mit d e m unmittelbaren Z u s a m m e n t r e f f e n v o n erotisch gefärbter Ballade u n d der Personifikation der erotischen B e d r o h u n g den E r f o l g der V e r hüllung durch Larkens sogleich in Frage: D i e F l a m m e n der Ballade lodern im feurigen Blick Elisabeths durch die M a s k e weiter. Auch die zweite große Inszenierung zum vermeintlichen W o h l e des Freundes ist zum Scheitern verurteilt: D i e A u f f ü h r u n g des phantasmagorischen Zwischenspiels über den letzten König von Orplid, die Larkens dazu dient, die Briefintrige auf den W e g zu bringen, erweist sich als Fallstrick politisch motivierter Ränke gegen Nolten u n d ihn selbst. Der Schauspieler tappt in die v o n ihm selbst gelegten poetischen Fallen, da sich die W i r k u n g von Poesie nicht vorausbestimmen läßt. Larkens geht v o n einem Konsens über die D e u t u n g der v o n ihm produzierten K u n s t aus, die es aber nicht geben kann, weil die Interpretation seines Kunstwerks v o n einer Vielzahl v o n Faktoren wie d e m Geschlecht u n d Alter, dem sozialen Status, dem Bildungsgrad und der psychischen Disposition der Rezipienten abhängig ist.' 7

Ein weiteres M a l greift Larkens vermittelnd in das Leben seines Alter Egos ein, wenn er als Chronist v o n dessen Jugenderlebnis in Erscheinung tritt. D i e M o t i vation f u r die Literarisierung v o n N o h e n s Initiationserfahrung findet sich auf den ersten Blick in seiner selbst gefühlten B e s t i m m u n g z u m Dichter, während er den Schauspielerberuf nur u m des Broterwerbs willen ausübt. 1 8 Larkens findet allerdings nicht nur sein Publikum im Freundeskreis, er wählt auch sein Sujet aus demselben U m f e l d . N o h e n s Jugenderlebnisse liefern das dramatische Potential, an welchem sich die poetische Phantasie des Dichters entzündet. Larkens eignet sich damit den K e r n der Persönlichkeitssubstanz seines komplementären Ichs an. 1 9 E r ästhetisiert aber auch das persönliche Erleben N o h e n s u n d macht es schließlich öffentlich: Larkens gibt seine A u f z e i c h n u n g e n an L e o p o l d zur Lektüre weiter.

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Gerhart von Graevenitz: Die Kunst der Sünde. Zur Geschichte des literarischen Individuums, Tübingen 1978, S. 69fr.; Bruch, Faszination und Abwehr (Anm. 8), S. 5IT. Es scheint, als ob Mörike auf diese Weise sein eigenes Werk der Kritik und Beurteilung entziehen und sich selbst vor den ästhetischen Forderungen seiner Freunde, speziell Friedrich Theodor Vischers, schützen wollte. »[E]r wollte im Reiche seiner eigenen Dichtung leben und empfand es übel, wenn ihn mitten in der schaffenden Lust das Handwerk störte, was um so unvermeidlicher war, da seine Arbeiten ganz außerhalb der allgemeinen Bühnensphäre lagen und nur von einem engen Freundeskreise gefaßt und geschäzt werden konnten.« (HKA 3, S. I77f.). Liebrand, Identität und Authentizität (Anm. 7), S. 110.

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hortus conclusus«, des Ortes, an dem Maria als

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Dies geht auf exegetische Deutungen von Hld 4,12 und 15 zurück: Maria als reine Jungfrau fängt den Fisch (Christus, nach griech. Ichthys) am Quell. Die Begriffe >fons< (Quelle) und >puteus< (Brunnen) sind dementsprechend geläufige Symbole fiir Maria. Auch im Deutschen wird häufig semantisch nicht zwischen Quelle und Brunnen differenziert. Maria wird daher als lebensspendende Quelle betrachtet, was u. a. in Brunnenwallfahrten Ausdruck findet. Mörike selbst hat die Verbindung von der Wasserfrau und dem Brunnen als ihrem einzigen Zugang zur Menschenwelt in seiner >Historie von der schönen Lau< thematisiert. Zur Deutung der Skizze und des von Tillsen ausgeführten Gemäldes siehe Bruch, Faszination und Abwehr (Anm. 8), S. 306—317. H K A 3, S. 195. Im Märchen symbolisiert das Hinabsteigen in einen Brunnen den Zugang zum Bereich des Unbewußten. Schüpfer spricht in diesem Zusammenhang vom machtvollen Sog des Mütterlich-Weiblichen (Schüpfer, Kommunikation [Anm. 2], S. 133).

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Jungfrau, Braut oder Gottesmutter34 dargestellt wurde. Elisabeth tritt in allen diesen drei Funktionen auf: Der Erzähler bezeichnet sie explizit als Jungfrau," sie selbst sieht sich als Braut Theobalds, und sowohl Theobald als auch Agnes erahnen in ihr den mütterlichen Ursprung. Nun handelt es sich in beiden Brunnenszenen aber nicht um einen >hortus conclususs sondern eher um einen >hortus apertus«, denn beide Brunnen sind Teil von Ruinen. War also das alte Bildthema dazu gedacht, die Verschlossenheit, sprich Jungfräulichkeit der Muttergottes darzustellen, so ist hier keine Unberührtheit mehr zu finden, denn die schützenden Mauern sind zerstört. Dies symbolisiert den Einbruch der Sexualität und psychischen Störung in die Welt Nohens und Agnes'.

Constanze und Elisabeth Zwischen beiden Frauen gibt es zunächst keine direkten Verbindungen, schon deshalb, weil sie sozial am weitesten voneinander entfernt stehen. Constanze kennt nur das Bild der Orgelspielerin, auf dem Nohen Elisabeth als Geist verewigt hat. Das Unheimliche der Szenerie begegnet Constanze im Traum, verdichtet in der Prophezeiung »Constanze Josephine Armond wird auch bald die Orgel mit uns spielen.« 36 Es ist also das Kunstwerk, eine Abstraktion heimlicher Ängste und Sehnsüchte durch den Künstler Nolten, die zum realen Bindeglied zwischen den beiden Frauen wird. Ohne die künstlerische Verdichtung, die ihr Modell Elisabeth zum Todessymbol stilisiert und so auf das Unterbewußte der Betrachterin einwirkt, hätte die spätere Begegnung mit Elisabeth keine derart fatalen Folgen für die psychische und physische Gesundheit der Gräfin haben können. Die unmittelbare Schockwirkung des realen Zusammentreffens mit Elisabeth ist daher bei Constanze ungleich größer als bei Agnes. Während Agnes der Zigeunerin zunächst einigermaßen neutral und unvoreingenommen gegenübertritt, ist Constanzes Bild von Elisabeth bereits fest in ihrem Bewußtsein eingebrannt, und entsprechend heftig ist die Reaktion: Die Gräfin fällt in Ohnmacht und ist unmittelbar danach fieberkrank und leidend an Körper und Seele. 37 Sie reagiert damit ähnlich wie Nohen bei seiner ersten Begegnung mit Elisabeth. Auch Theobald wird ohnmäch-

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Schon Bauer stellt die Verbindung zwischen der Muttergottes und Mörikes Peregrina her: Das oben zitierte Gedicht beginnt mit einer Anrufung der Gottesmutter, der eine ganze Strophe gewidmet ist. Außerdem erwähnt das Gedicht eine Felsenklause unterhalb eines Bergquells. Diese Brunnenstube hieß in Mörikes Freundeskreis in Erinnerung an Mörikes Maria-Meyer-Erlebnis »das Mariebronnenstübchen< (Bauer, Briefe [Anm.20], S. 107). H K A 3, S. 194. H K A 3, S. 70. H K A 3, S. 257.

Das Scheitern der Liebe im Maler Nolten
schönen Wilden< präsent - das ihrer Mutter, deren Portrait als verboten-lockendes Geheimnis auf dem Dachboden lagert. Nohen und Constanze sind als Künstlernaturen beide empfänglich für die dem Kunstwerk innewohnende Botschaft an das Unterbewußte und fallen folglich beide zunächst in Besinnungslosigkeit und anschließend in Wahnsinn. Während Theobald als Mann die Erschütterung in produktiven Wahnsinn< ummünzen kann - die Begegnung mit Elisabeth macht ihn zum Künstler - gerät Constanze durch den Wahnsinn ins gesellschaftliche Abseits.' 8 Die logische Konsequenz ist der Tod. 3 9

Agnes und Margot Margot gehört zusammen mit Nohens Schwestern Adelheid und Nannette zur Fraktion der Frauen, die mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stehen und sich nicht in den Strudel der Leidenschaften ziehen lassen. Mörike spielt bei Margots Charakterisierung mit den typischen weiblichen Klischees des 19. Jahrhunderts, dem gelehrte Frauen noch immer ein Greuel waren. So bezahlt sie ihre Kenntnisse in »sonst nur dem männlichen Geschlecht zukommende[n] Fächer[n] der Wissenschaft« mit einem Äußeren, das »bei viel Einnehmendem, manches unangenehm Auffallende hatte« - unter anderem hat sie ein »feines Bärtchen um die Lippen«! Z u ihren Gunsten spricht, daß sie über das »munterste Herz« verfügt und ohne den »geringsten Zug gelehrter Koketterie« ihre Kenntnisse vertritt. 40 Dies macht auch Margot zu einer Außenseiterin in ihrem gesellschaftlichen Umfeld; es fehlt ihr zwar nicht an Verehrern, doch auch diese sehen sich - wie sie selbst — nicht selten dem Spott ausgeliefert. Margot interessiert sich auffallend fur Agnes: Überhaupt hatte ihre Neigung zu dem stillen Mädchen etwas Wunderbares, man darf wohl sagen, Leidenschaftliches. Man sah sie, zumal auf dem Spaziergange, nicht leicht neben Agnes, ohne daß sie einen Arm um sie geschlagen, oder die Finger in die ihrigen hätte gefaltet gehabt.4'

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Vgl. Schüpfer, Kommunikation (Anm. 2), S. 128: Der Wahnsinn macht die weiblichen Hauptfiguren zu Randfiguren. Ähnlich schockiert ist auch der Künstler Leopold beim Anblick Elisabeths: »Ich kam fast von Sinnen beim Anblick dieser Physiognomie [...] die Erscheinung bestürzte mich dergestalt, daß ich mich wohl drei- viermal im Ring herumwirbelte [...]« (HKA 3, S. i84f.). Diese Formulierung gleicht weitgehend der Beschreibung, die Nolten von seinem ersten Anblick Elisabeths gegeben hatte (HKA 3, S.195). Leopold hat gegenüber Nolten nur den Vorteil, daß Elisabeth nicht unmittelbar auf sein Leben einwirkt, sondern er in ihr als Rezipient des Orgelbildes eine Todesbotin sieht; dies verhindert eine nachhaltigere Erschütterung, aber die Vorboten einer Ohnmacht sind auch bei ihm festzustellen. H K A 3, S. 348.

HKA 3, S. 357·

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Eine Erklärung fur diese Zuneigung versucht der Erzähler wenig später: Sie habe »ihr Lebenlang nie einen Umgang gehabt, wie ihn das Herz bedurfte«. Ausgerechnet »das anspruchslose Kind« Agnes scheint ihr den Weg zur Freundschaft bahnen zu können, »da sie in Agnesen vielleicht die erste weibliche Kreatur erblickte, welche sie von Grund des Herzens lieben konnte und von der sie wieder geliebt zu werden wünschte.« 42 Unter dieser Prämisse läßt sich Margots Gelehrsamkeit als Ersatzbefriedigung fur emotionale Defizite in ihrer Entwicklung deuten. Umgekehrt erfährt Agnes durch Margot zum ersten Mal eine uneigennützige Liebe, die nicht darauf ausgerichtet ist, etwas aus ihr zu machen, was sie nicht sein kann oder will. Margot macht sich kein falsches Bild von Agnes, sondern schätzt sie so wie sie ist und sucht gerade deshalb ihre Freundschaft. Margot ist in ihrer Erscheinung wie intellektuell das Gegenbild zu Agnes, doch die Isolierung innerhalb ihrer jeweiligen Sozialisation macht sie zu Leidensgenossinnen. Allerdings ist Agnes von Elisabeth und den Männern in ihrer Umgebung bereits so weit von sich selbst entfremdet worden, daß sie mit dieser uneigennützigen Freundschaft nichts Rechtes anzufangen weiß. Sie reagiert zunächst mit Verlegenheit, im Wahnzustand sogar mit schroffer Ablehnung: »gegen das Fräulein, trotz der schwesterlichsten Liebe, womit diese ihr stets nahe zu seyn wünschte, verrieth sie ein deutliches Mißtrauen«. 43 Das Gelingen von Freundschaft und Geselligkeit scheitert hier an den vielfachen seelischen Manipulationen, die Larkens und Nohen im Interesse ihres ästhetischen Konzepts von Weiblichkeit an Agnes vorgenommen haben. In Agnes' Wahnvorstellungen verschmelzen auch Elisabeth und Margot miteinander: Beide haben bräunliche Haut und wirken daher auf ihre Umgebung exotisch. Zudem treten beide selbstbewußt und freier als alle anderen weiblichen Figuren auf, was Agnes gleichermaßen anzieht und abstößt. So erscheint ihr Margot, die anfangs körperliche Nähe zu Agnes suchte, nicht nur - wie Elisabeth - als Nebenbuhlerin, sondern zugleich als Botin ihrer verdrängten (homoerotischen) Sexualität.

Friedrich N o l t e n u n d L o s k i n e Die Rückblende auf die Begegnung des Malers Friedrich mit der »schönen Wilden« Loskine ist, wie Larkens bemerkt, die »prototypische Erklärung zur Geschichte unseres Freundes [Nolten] «, 44 Der Leser erfährt von Friedrich und Loskine durch ein Tagebuchfragment, das in die Jugendgeschichte Theobalds eingebettet ist. Zwar handelt es sich dabei um ein sehr privates Zeugnis und der Leser stellt sich

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H K A 3, S. 358. H K A 3, S. 379· H K A 3, S. 187.

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verkleidet< er sich als Zigeuner und erkauft sich sein Aufenthaltsrecht durch seine Freigiebigkeit. Trotz dieser Mimikry bleibt Friedrich Eindringling in der Gruppe der Fahrenden, was spätestens dann deutlich wird, als man sein Werben um Loskine entdeckt. Bemerkenswerterweise nimmt auch sie innerhalb ihrer Gemeinschaft eine Außenseiterrolle ein: »Unter den Übrigen bildet sie indessen eine ziemlich isolierte Figur; man läßt sie auch gehen, weil man ihre Art schon kennt, und doch hängen alle mit einer gewissen Vorliebe an ihr.« 47 Dieses Abweichen von der Norm innerhalb einer homogenen gesellschaftlichen Gruppe trifft in ähnlicher Weise auf Agnes und Constanze zu. Dieser Umstand macht Loskine und ihre

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Mörike bittet Waiblinger ζ. B. im Brief vom 11. November 1821 um dessen Tagebuch und erhält von ihm mehrfach Auszüge daraus, die nicht nur von ihm selbst, sondern auch von den Freunden gelesen wurden. »Oder schändet es in der That einen vernünftigen Mann, den sein Beruf selber auf die Entdeckung originaler Formen hinweiset, eine Zeitlang der Beobachter von wilden Leuten zu seyn, wenn er unter ihnen unerschöpflichen Stoff, [...], mit doppelter Empfänglichkeit anschaut?« ( H K A 3, S. 206) Zwar revidiert Friedrich seine Ansicht im folgenden Eintrag wieder, doch bestätigt das Portrait Loskines als wirkungsmächtiges Zeugnis für die Nachwelt die künstlerische Essenz der Beziehung zwischen dem Maler und der Zigeunerin. H K A 3, S. 207.

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Schwestern anfällig für das, was man aus der Sicht ihrer jeweiligen Sozialisation als Tabubruch werten muß. 48 Es gibt den männlichen Figuren des Romans die Möglichkeit, sie zum Ausbrechen aus ihrem sozialen Gefüge zu bewegen, mit jeweils katastrophalen Folgen. Solange sich Loskine in ihrem vertrauten Umfeld bewegt, zeichnen sich ihr Auftreten und ihre Handlungen durch große Würde und eine magische Aura aus. Sie scheint die Fäden in der Hand zu halten, doch dies gilt nur, sofern man sie mit den Augen des noch unter ihrem Bann stehenden Friedrich betrachtet. Die Dreieckssituation zwischen Friedrich, Loskine und Marwin entsteht nur deshalb, weil das Mädchen dem Vetter offenbar gegen ihren Willen versprochen wurde. Diese ihrer halbzivilisierten Gesellschaftsordnung entsprechende Regelung beschneidet Loskines scheinbare Freiheit erheblich und zwingt sie dazu, ihre Gemeinschaft zu verlassen, wenn sie ihrem Gefühl folgen will. Die Entscheidung für Nohen ist ihre letzte freie Handlung, denn als Friedrichs Frau verliert sie ihre fiir den Maler ebenso reizvolle wie bedrohliche Freiheit und begibt sich in größere Abhängigkeit vom Manne als jede andere weibliche Gestalt des Romans, weil die ihr feindlich gesonnene bürgerliche Gesellschaft Loskine die Integration in die eigenen Reihen verweigert. Für Friedrich aber wird es jetzt problemlos möglich, Loskine zu porträtieren, da sie durch den Eintritt in die ihm vertraute Sphäre ihre magische Ausstrahlung verliert und weil das Exotische ihrer Erscheinung in der anderen Umgebung zum Zitat reduziert wird. Das Unbeschreibbare der ersten Begegnung wird im Nachvollzug künstlerisch visualisiert und übt von nun an seine Wirkung als Kunstwerk auf die nachfolgende Generation aus.

Theobald und Elisabeth Hatte Elisabeths Mutter Loskine in der Umgebung ihrer fahrenden Gesellschaft anfangs noch eine Heimat, so ist Elisabeth lebenslang aus jeglicher Gemeinschaft verbannt. Als Tochter eines bürgerlichen Außenseiters und einer durch die Heirat sozial heimatlos gewordenen Mutter ist ihr von Geburt an die Möglichkeit zur Eingliederung in einer Schutz gewährenden Gesellschaftsstruktur verwehrt und ihr Werdegang als Peregrina und unbehauster Eros vorgezeichnet. Als Heimatlose begegnet sie auch Nohen. In ihr fokussieren sich nahezu alle entscheidenden psychischen Erfahrungen Theobalds: Durch sie wird er erstmals mit weiblicher Verfuhrungskunst und erotischer Bedrohung konfrontiert. Sie veranlaßt ihn, sich

Zum sozialen Konflikt Loskines und der anderen Protagonistinnen siehe auch Julia Bohnengel: >Der wilde Athem der Natur«. Zur Friedrich/Loskine-Episode in Mörikes >Maler NoltenMaler Nolten
Letzten König von Orplid< wird mit einem Fackelzug der leere Sarg Ulmons zu Grabe getragen, während der todessehnsüchtige König den Z u g von Ferne beobachten muß. Am Ende des Ausflugs zum Geigenspiel kehren die Teilnehmer in Begleitung des ausgelassenen Raymund, der einen übermütigen Fackellauf vollführt, nach Neuburg zurück, wo sie den Baron im Sterben liegend vorfinden. Larkens schließlich wird mit einem Fackelzug von Künstlern und Schauspielern zu Grabe getragen. In diesem Kontext ist der Brautzug eine Ankündigung des Todes: Liebe und T o d sind untrennbar miteinander verbunden. Zugleich repräsentieren die Fackelzüge stets die Isolation Einzelner innerhalb einer Gemeinschaft. Die Teilnehmer am Fackelzug bleiben gesichtslos und anonym und stehen damit im Kontrast zur Einsamkeit oder Exponiertheit der jeweiligen Protagonisten. Der fackeltragende Hochzeitszug ist »feierlich stumm«, der Blick des Ichs ist auf die Braut fokussiert. Die Hochzeitsgesellschaft bildet die Kulisse, die eigentliche Verbindung ist kein gesellschaftliches, sondern ein individuelles Ereignis. König Ulmon als distanzierter Beobachter seiner eigenen Beisetzung gehört keiner Gemeinschaft an. Zwar scheint er Bindeglied zwischen den menschlichen

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H K A 3, S. 361. Zur Deutung der exotische Szenerie sowie der doppelten Strukturierung der Zeremonie als bürgerliche Trauung und heidnisch-magische Verbindung mit Peregrina als Braut vgl. vor allem Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München 1989, S. 184-209. Die Bedeutung des Rechtsgehens des Bräutigams läßt sich nicht eindeutig klären. Vgl. dazu Renate von Heydebrand: Eduard Mörikes Gedichtwerk. Beschreibung und Deutung der Formenvielfalt und ihrer Entwicklung, Stuttgart 1972, S. 76.

Das Scheitern der Liebe im >Maler Nolten
WarnungScheiden von ihr< und den Strophen I und II von >Und wieden. Einzig die beiden letzten Strophen des abschließenden Sonetts scheinen nicht so recht mit der Handlung zusammenpassen zu wollen. Zwar entzieht sich Elisabeth ihrer Ergreifung, im Tod erzwingt sie jedoch die Wiedervereinigung mit Theobald. Im Sonett hingegen wendet sich Peregrina vom Ich ab und verläßt es für immer. Liest man die beiden Terzette jedoch losgelöst vom Rest des Gedichts und des gesamten Zyklus, so eröffnet sich eine andere, der Romanhandlung entsprechende Lesart: Wie? Solche Schönheit könnt' ich einst verlassen? So kehrt nun doppelt schön das alte Glück! Ο komm! In diese Arme dich zu fassen! Doch wehe! welche Miene, welch' ein Blick! Sie küßt mich zwischen Lieben, zwischen Hassen, Und wendet sich und - kehrt mir nie zurück.' 8

Ohne den Zusammenhang des Gedichtzyklus lesen sich beide Strophen wie eine Zusammenfassung der Nolten-Agnes-Handlung im zweiten Romanteil. Beide

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H K A 3, S. 195. H K A 3, S. 364.

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Frauen wurden von Theobald verlassen; zu Agnes ist N o h e n zurückgekehrt, nicht aber zu Elisabeth. Agnes schließt er in seine Arme, mit ihr will er - vergeblich - an vergangenes Glück anknüpfen. Auch ist es nicht Elisabeth, die sich von Theobald abwendet, sondern Agnes, die buchstäblich zwischen Lieben und Hassen schwankt, weil sie den richtigen und den falschen Nolten nicht mehr auseinander halten kann. Agnes ist es schließlich auch, die Nolten am Ende verläßt und ohne ihn den T o d findet, während der Maler im Sterben mit Elisabeth vereinigt wird. Peregrina weist somit Attribute und Eigenschaften beider Protagonistinnen auf: Sowohl solche der bürgerlichen Braut als auch der jenseits aller Normen stehenden Zauberin. Bilden beide Frauen am Beginn der Romanhandlung ein scharf konturiertes Gegensatzpaar, nähern sie sich im Verlauf der Ereignisse äußerlich und im Verhalten einander an. Agnes' Haar verfärbt sich von blond zu braun, sie wird von Elisabeths Wahnsinn infiziert und erhält dadurch Anteil an einer jenseits der bürgerlich-patriarchalen N o r m stehenden Welterfahrung.

Theobald und Agnes - Larkens und Agnes Kein anderes Paar ist weniger zur Kommunikation fähig als Agnes und der Maler. Der Leser lernt Agnes zu Beginn des Romans als eine Abwesende kennen; die Verlobung ist eigentlich bereits gescheitert. Agnes tritt als Hinderungsgrund für Nohens neue Herzensbindung mit Constanze auf, als vermeintlich treulose Geliebte, von der sich Nolten innerlich entfernt hat. Gegenüber Larkens bringt Nolten eine leidenschaftliche Anklage vor, die Ausdruck seiner Erwartungshaltung an Agnes ist: Siehst du, wenn äußerste Reinheit der Gesinnung, wenn kindliche Bescheidenheit und eine unbegränzte Ergebung von jeher in meinen Augen für die Summe desjenigen galt, was ich von einem weiblichen Wesen verlangen müsse, das ich für immer sollte lieben können, so ist der Eigensinn begreiflich und verzeihlich, womit sich mein Herz verschloß, sobald jene Eigenschaften anfingen, sich im Geringsten zu verläugnen; denn je gemäßigter meine Ansprüche in jedem anderen Sinne waren, desto beharrlicher durften sie seyn in dieser einzigen Rücksicht, mit welcher nach meinem Gefühle der schönste und bleibendste Reiz aller Weiblichkeit wegfällt."

Nolten hat ein weibliches Idealbild entworfen, das er auf Agnes anwendet, und er kehrt sich enttäuscht von ihr ab, als es bei der Braut Anzeichen von Individualität und Abweichung gibt. Die Schlüsselbegriffe »Reinheit der Gesinnung«, »kindliche Bescheidenheit« und »unbegränzte Ergebung« repräsentieren einen bürgerlichen Wertekatalog, welcher der Frau keine eigenständige Persönlichkeit und vor allem

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H K A 3, S. 42.

Das Scheitern der Liebe im >Maler Nolten
Hutzelmännleins< als eine Mythologie ernstzunehmen, in der grundlegende Probleme menschlicher Existenz zur Sprache kommen. 4 Aber sonst?5 Das literaturgeschichtliche und wissenschaftliche Interesse an Mörike gilt schon immer weit mehr der Lyrik und inzwischen, seit etlichen Jahren, auch dem düsteren und sperrigen >Maler NoltenHutzelmännlein< wirken, gerade im Vergleich mit dem frühen >Maler NoltenDie Hand der Jezerte< und der überaus komplexen Struktur der drei umfangreichen Erzählungen ab (schon Mörikes Freunde haben das freilich viel kritischer formuliert), so erscheinen sie, alles in allem, leicht zugänglich, unheroisch, unpathetisch. Das ist ein ernstes Rezeptionshindernis. Die Erzählungen wimmern nicht vor Weltschmerz - und sie haben sich damit wohl auch selbst torpediert. Denn die deutsche Literatur liebt nun einmal weit mehr das Düstere, Melancholische, das Scheitern, die Verzweiflung, nicht die Heiterkeit und Freundlichkeit. 6 N u r durch das Leid geht man in die Glückseligkeit der Kunst ein, um ein Diktum zu variieren, das man dem sterbenden Büchner noch rasch in den Mund gelegt hat. 7 Das alte christliche Modell der Leidens- und Opfergeschichte wirkt in der Kunst der Moderne fort.

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Gerhard Storz: Eduard Mörike, Stuttgart 1967, S. 253-265, hier S. 265. Franz Futterknecht: Eduard Mörikes Stuttgarter Hutzelmännleins Versuch einer Interpretation. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 28 (1993), S. 115-134. Zu nennen sind noch: Wolfgang Popp: Eduard Mörikes »Stuttgarter Hutzelmännlein* zwischen Volksmärchen und Kunstmärchen. In: Wirkendes Wort 20 (1970), S. 313-320; außerdem: Herwig Landmann: Mörikes Märchen >Das Stuttgarter Hutzelmännlein* im Verhältnis zum Kunstmärchen. Phil. Diss (masch.) F U Berlin 1961. Vgl. Peter Eichhorn: Kritik der Heiterkeit, Heidelberg 1973 (Ist unserer Literatur die Heiterkeit vergangen? Antwort auf die Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vom Jahre 1972); Petra Kiedaisch: Ist die Kunst noch heiter? Theorie, Problematik und Gestaltung der Heiterkeit in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, Tübingen 1996; Harald Weinrich: Kleine Literaturgeschichte der Heiterkeit. Erw. u. überarb. Neuausg., München 2001. In Caroline Schulz' Tagebuchaufzeichnungen über Büchners letzte Tage heißt es vom sterbenden Büchner, er habe »mit ruhiger, erhobener, feierlicher Stimme die Worte gesprochen: >Wir haben der Schmerzen nicht zu viel, wir haben ihrer zu wenig, denn durch den Schmerz gehen wir zu Gott ein!< - >Wir sind Tod, Staub, Asche, wie dürften wir klagen?«« Hier zit. nach Georg Büchner: Werke und Briefe. Mit einem Nachwort von Fritz Bergemann, München 9 I974, S. 321. - Es geht mir nicht darum, ob Büchner das nun gesagt hat oder nicht, sondern nur um die ihm unterstellte christologische Wende zum Schmerzensadel.

Der Künstler als Freund

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Die Bedeutung, die die Leidensgeschichte Jesu fur eine Nobilitierung des Leids und auch für die Konstitution des Subjekts durch das Leid hat, kann man, glaube ich, nicht hoch genug einschätzen. Aus dem Künstler macht die Moderne darum häufig den ärmsten Teufel und Erlöser zugleich. Erst das >Requiem< beglaubigt Mozarts Genie und Heiterkeit. Für die deutsche Literatur (und Literaturwissenschaft) liegt die Wahrheit im mißlingenden, nicht im gelingenden Leben. Da haben es so freundliche Helden wie der Bauernsohn Frieder, der so ist, wie er heißt, und der den Frieden auch anderen bringt, der heitere, gesellige Hofrat Arbogast und seine Frau Annchen/Josephe, wie das liebenswürdige Paar Seppe und Vrone nicht gerade leicht. Mörikes Helden, gerade die der drei umfangreichen Erzählungen, mögen die Menschen, aber sie bejahen auch sich selber. Ihnen gelingt, freilich nicht von selbst und einfach so, sondern weil sie sich wirklich darum bemühen, die Versöhnung von »Selbstliebe und Geselligkeit«, das große Problem des sozialethischen und naturrechtlichen Diskurses des 18. Jahrhunderts.8 Bei Mörike darf selbst der heiter-melancholische Mozart mit seiner Frau Constanze einmal das ganze, gelingende Leben - bezeichnenderweise im Schloß eines Grafen — genießen, wenigstens fur einen Tag. Doch auch in dieser Erzählung scheint noch das Modell der Leidensgeschichte zur Kunst, der Kunst durch. Der (Klein-)Bürger Mozart opfert sich für die Gesellschaft und für die Kunst und versöhnt so die Gesellschaft in ihren Antagonismen. 9 Er verbrennt und verbraucht sich. Das macht die Feuersymbolik der Erzählung überdeutlich. In all seiner Heiterkeit ist Mozart doch auch ein Schmerzensmann, der den Preis des Todes für seine große Kunst zahlt. Daran läßt der Schluß der Novelle keinen Zweifel. 10 Mörike meint es immer gut mit seinen Figuren, selbst mit der bösartig-ungeselligen Ulmer Meisterswitwe und dem tierquälerischen, in sich verhärteten Bauern Peter. Es sind Geschichten der Zustimmung zur Kunst wie zum Leben. Meister Blase, der doch Vrone Kiderlen (und damit ihren koboldhaften Mentor selbst) übers Ohr haut, bekommt vom Hutzelmann zwar eine sanfte Rüge, aber dazu noch ein Rezept für eine Schuhwichse, die ihn sogar zum reichen Mann macht. Mörikes Geschichten gehen alle gut aus.

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Z u diesem sozialethischen Grundproblem des 18. Jahrhunderts, das dem Theologen Mörike natürlich vertraut war, vgl. jetzt ausführlich Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2001 (Communicatio 26). Vgl. zur gesellschaftsbegründenden Funktion des Sündenbocks Rene Girard: Der Sündenbock, Zürich u. a. 1998. Vgl. hierzu meine detaillierte Interpretation, die mir aus meiner heutigen Sicht in ihrer Tendenz freilich viel zu >heroisch< ausfällt: Eduard Mörike: »Mozart auf der Reise nach Praggeneigten Lesen (am Rande: warum gibt es keine Studie zu diesem Topos?); sie brauchen den freundlichen und liebenden Leser, den Leser, der sich gerne Zeit nimmt, der genau zuhört, der sich den scheinbar so leicht erzählten Geschichten anvertraut. Sie implizieren damit auch ein bürgerliches (Lese-)Milieu, das, trotz Friedrich Sengles grundlegender Revision, mit biedermeierlich vielleicht doch eher irreführend beschrieben ist." Sie brauchen den Leser, der selbst fähig ist zum Gespräch und der über die Tugenden einer geselligen Hermeneutik verfügt, wie sie etwa Schleiermacher gefordert hat. Mörikes Erzählungen realisieren eine Poetik der Geselligkeit, und darin sind sie der Lyrik nun dann doch sehr viel näher, als es auf den ersten Blick scheinen mag. 1 2 Freundschaft, Liebe, Geselligkeit, Kunst: auf diesen für das 18. und 19. Jahrhundert grundlegenden ästhetisch-sozialen Zusammenhang bleibt Mörike sein Leben lang bezogen. 13 Unter dieser hermeneutischen Voraussetzung, der Bereitschaft zur Zuneigung, ja: der Zustimmung, merkt der gutmütige, verträgliche Leser, der hier gefordert ist, dann eben doch bald: Ganz so einfach ist das alles womöglich doch nicht. Es gibt auch hier das Ambivalente, Abgründige, Melancholische. Die Heiterkeit und Freundlichkeit der Erzählungen ist alles andere als naiv. Die Erzählungen verschweigen Trauer und Melancholie nicht, die mir sogar fast als das Einfachere, Näherliegende, ja Konventionellere erscheinen als die Heiterkeit und Freundlichkeit. Daß man damit tatsächlich eine wichtige Dimension des Erzählens bei Mörike berührt, ist bei der >Mozart-Erzählung< offensichtlich. Sie ist konsequent doppelbödig. Ihr Schweben zwischen heiterer Geselligkeit und Lebenslust einerseits, auch im Erzählton, und Melancholie und Todesbewußtsein andererseits ist von

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Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848, Stuttgart. Bd. 1: 1971, Bd. 2: 1972, Bd. 3: 1980. Vgl. Verf.: Prolegomena zu einer Ästhetik der Geselligkeit (Lessing, Mörike). In: Euphorion 97 (2003), S. 1-18. Vgl. fiir diesen Zusammenhang von Ästhetik und Geselligkeit um 1800 Gerhard Kurz: Das Ganze und das Teil. Zur Bedeutung der Geselligkeit in der ästhetischen Diskussion um 1800. In: Christoph Jamme (Hg.), unter Mitwirkung von Frank Völkel: Kunst und Geschichte im Zeitalter Hegels, Hamburg 1996 (Hegel-Deutungen, Bd. 2), S. 91—113: außerdem den Überblick bei Markus Fauser: Rhetorik, Gespräch, Geselligkeit: Deutsche Umgangsliteratur des 18. Jahrhunderts. In: Carleton Germanic Papers 23 (1995), S. 21-42; und ders.: Das Gespräch im 18. Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeit in Deutschland, Stuttgart 1992; eine gute Einführung mit der wichtigsten neueren sozial- und geschichtswissenschaftlichen Literatur bei Marita Metz-Becker: Geselligkeit. Formen bürgerlicher Alltagskultur um 1800. In: Österreichische Zeitschrift fiir Volkskunde LII/101 (1998), S. 409-432; vgl. außerdem: Emanuel Peter: Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert, Tübingen 1999.

Der Künstler als Freund

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der Forschung i m m e r wieder herausgearbeitet worden. 1 4 Solche Doppelbödigkeit, die ihr in der Rezeptionsgeschichte den Spitzenrang u n t e r Mörikes Erzählungen eingebracht hat, sollte also generell als M a h n u n g dienen, die Versöhnlichkeit seiner Erzählungen zumindest nicht m i t Banalität zu verwechseln. Die Genialität der »Mozart-Erzählung« kann f ü r den a r m e n Literaturwissenschaftler, der doch aus der Mörikeschen Versöhnlichkeit etwas m a c h e n m u ß , auch darin liegen, d a ß sie den Melancholie-Diskurs k o n s e q u e n t m i t e i n e m Diskurs darüber, was d e n n das große Kunstwerk ausmacht u n d wie es zustande k o m m t , verschränkt. - Eine kritische Bemerkung a m Rande sei hier erlaubt: W i r , die Z u n f t der Literaturwissenschaftler, haben uns, scheint mir, ein wenig a n g e w ö h n t , die poetologisch-ästhetische Reflexion, die das Kunstwerk der M o d e r n e in der T a t so häufig auch leistet, gleichsam selbstverständlich als das eigentliche »Adelsdiplom der Kunst< anzusehen, vielleicht in der H o f f n u n g , d a ß dabei auch etwas Glanz auf uns, die das bemerken, u n d auf unsere Disziplin fällt, die d a f ü r zuständig ist. Es scheint mir höchste Zeit fiir eine Selbstbefragung der Literaturwissenschaft auch in dieser Hinsicht, warum wir gerade Selbstbezüglichkeit u n d Selbstreflexivität der Kunst so sehr favorisieren, w o sie d o c h eigentlich nichts anderes als T a u t o l o g i e n hervorbringt. D i e Kunst ist die K u n s t ist die Kunst, wenngleich gewiß o f t auf eine höchst raffinierte Weise. Ein G r u n d scheint m i r darin zu liegen, d a ß diese Selbstreflexivität der ästhetischen M o d e r n e letztlich Ausdruck des unglücklichen Bewußtseins der M o d e r n e ist, die sich so i m m e r n e u selbst bestätigt in i h r e m Sonderstatus. M a n wird es mir also nachsehen müssen, w e n n ich im folgenden dieses »Adelsdiplom< auch Mörikes >Hutzelmännlein< zuerkennen will. Allerdings wird sich zeigen, daß Mörikes poetisches N a c h d e n k e n über die Kunst zugleich auf einen energischen Hinweis hinausläuft, w o sie d e n n wirklich hingehört: ins gesellige

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Einige Titel in chronologischer Reihenfolge: Siegbert S. Prawer: The Threatened Idyll. Mörikes »Mozart auf der Reise nach PragHutzelmännleinBoom< läßt sich auch als K o m m e n t a r zu den im 19. Jahrhundert i m m e r lauter werdenden Forderungen nach einer politischen Identität verstehen, die sich in einem deutschen National-Staat darzustellen hätte. Diese N e i g u n g zum Besonderen, ja Marginalen, die f ü r M ö r i k e tatsächlich grundlegend ist - G ü n t e r Oesterle hat dies schon vor etlichen J a h r e n hervorgehoben - ist auch politisch interpretierbar. 2 1 ) M ö r i k e hat dieses regionale, schwäbische Selbstbewußtsein im >Hutzelmännlein< förmlich ausgestellt: in den schwäbischen Gedichten (I, S. 529f., S. 535), im Z u n g e n b r e c h e r »'s leit ' Klötzle Blei glei bei Blaubeur 3 « (I, S. 497): »Bei uns im Schwabenland heißt so ein T o p f aus H o l z gemeinhin eine Habergeis...« (I, S. 487). Seine eigenen Erläuterungen zum >HutzelmännleinStuttgarter< wirkt ja ein wenig abschreckend. M a n stelle sich, Christine Nöstlinger m ö g e mir verzeihen, eine Geschichte vor, die den T i t e l trägt: D e r H a m b u r g e r G u r k e n k ö n i g . Das wirkt doch ein w e n i g irritierend kinderbuchhaft. U n d dann noch die Verkleinerungsform. W i e anders, durchaus tiefgründiger, hört sich da >Klein Zaches genannt Zinnober< an. Freilich hat auch Hölderlin solche Konkretisierungen nicht gescheut. Einige seiner berühmtesten G e d i c h t e sind H e i m a t - bzw. Regionalgedichte: >StuttgartDer Neckaraufhebtutopische< Idee des gelingenden, >freien LebensSinn< der Geschichte: »Wir so gut es gelang haben das Unsre getan.«15 Im Unterschied dazu hält sich Mörike von großräumigen Deutungen der Geschichte völlig fern und konzentriert sich - sozusagen - auf das Individuelle, dessen Recht er gegen die Freunde Vischer und Strauß behauptet. Im >Hutzelmännlein< erhalten auch die einzelnen Geschichten so sehr ihr eigenes Recht, daß sie sich sogar ganz verselbständigen konnten. 26 1873 erschien die >Historie von der schönen Lau< (bei Göschen) als Separat-Druck mit sieben Illustrationen Moritz von Schwinds, der selbst die Initiative dazu ergriffen hatte und ursprünglich die ganze Geschichte illustrieren wollte. Strauß schreibt am 24.1.1838 an Mörike, er solle sich doch »die Produktion durch Anschließung an historische Stoffe, Memoiren u. drgl. bedeutend erleichtern und so in kürzerer Zeit und mit geringerem Kraftaufwand Erzählungen schaffen, die unserer Literatur doch Goldkörner sein würden«. 27 Aber >Das Stuttgarter Hutzelmännlein< und die >Mozart-ErzählungFriedensfeier< - >Der Einzige* — >PatmosDer Gang aufs Land. An Landauen. - Hölderlin (Anm. 22), StA II, 1, S. 84f. Diese Selbständigkeit reicht bis in ihren eigenen motivgeschichtlichen Zusammenhang hinein. Dazu Anke Bennholdt-Thomsen / Alfredo Guzzoni: Das Bild der Wasserfrau in Mörikes >Historie von der schönen Lausozialen< Schreibweisen und Publikationsformen. Mörike aber gelingt es mit seinem lyrischen wie mit seinem erzählerischen Werk - wie wohl keinem Autor des 19. Jahrhunderts sonst - , ein höchstes Kunst- und so auch ein höchstes Individualitätsbewußtsein als sozial geradezu notwendigem erweisen. Dafür ist die >MozartErzählung< der beste Beleg. Es läßt sich aber auch am )Hutzelmännlein< zeigen. Mörike mußte gewußt haben, worauf er sich einließ und was ihn von den Freunden erwartete, als er Anfang der 50er Jahre auf den alten Plan »einer heiteren Erzählung in Prosa« zurückkam und die Arbeit am >Hutzelmännlein< wieder aufnahm. 30 Tatsächlich fällt Strauß' Kritik scharf und unmißverständlich aus. Gegenüber Vischer moniert er am >HutzelmännleinAuf eine Lampe« (1846) gelesen hat: »Ein Ledder wohl zu halten, nach Ledders Natur, ist das Fürnehmst der Schmer allezeit, und hat Glanzes genug an ihm selbsten.« (>Auf eine Lampe< endet mit den berühmt gewordenen, melancholisch-heiteren Versen: »Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein? / Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.«41) Durch die richtige, ihnen gemäße Behandlung offenbaren auch die Dinge des Alltags ihre eigentümliche Schönheit. Hier darf man wohl auch Mörike selbst, der auch dem Marginalen und scheinbar Banalen etwas abgewinnen konnte, über seine eigene Auffassung vom Leben und von der Kunst sprechen hören. Mörikes Werk weiß gleichsam, daß es das gelingende Individuelle nur gibt, wenn es das gelingende Soziale gibt, und daß es das gelingende Soziale nur gibt, wenn es das gelingende Individuelle gibt. In seiner Idee des individuellen Kunstwerks, das oft spielerisch und kauzig bis ins Skurrile sein kann, und des künstlerischen Individuums ist dies immer mitgesetzt. Mörikes ästhetische Idee ist nicht die Mimesis der empirischen Welt. Ohne das Schöne wäre das Alltägliche in der Gefahr, nur banal zu werden. Ohne das Alltägliche wäre die Kunst blutarm und lebensfern. Die Geschichten, die Seppe findet, sind Kuriositäten und Raritäten: zum Beispiel die vom Krakenzahn und »des Königs Salomo Zahnstocher«, der, »wenn man bisweilen das Zahnfleisch etwas damit ritzet, den Weisheitszahn noch vor dem Schwabenalter treiben« soll (I, S. 552). 43 Das gesellige Leben konstituiert den Sinn und Zusammenhang dieser disparaten, diskontinuierlichen Raritäten und Kuriositäten. Mörike selbst war Sammler aller möglichen Kuriositäten und Raritäten. Sammeln ist auch bei ihm Ausdruck einer bürgerlichen Erinnerungsund Dilettantenkultur; das schließt aber durchaus, auch bei Mörike, ein wissenschaftliches Interesse nicht aus. Thomas Wolf hat vor kurzem erst noch einmal deutlich gemacht, welche Bedeutung das wissenschaftlich nicht unambitionierte Petrefaktensammeln für Mörike hatte. 44 Unterwegs zu sich selbst, kommt Seppe mit den Geschichten auch zur Sprache selbst. Der Weg Seppes ist auch ein Weg in das Geheimnis der Sprache, in die ihr immanente Poetik ihrer Lautlichkeit, in ihren Spiel-Charakter, in ihre Skurrilität, aber auch in die ihr innewohnende Geselligkeit und ihren sozial-integrativen Cha-

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Vgl. Thomas Wolf: Brüder, Geister und Fossilien. Eduard Mörikes Erfahrungen der Umwelt, Tübingen 2001, S. n j f i . (>Eduard Mörikes VersteinerungssammlungphihLogie< allein reicht nicht. Was in unseren Tagen etwa von Philosophie, Theologie, Geschichtswissenschaft, Linguistik und Erzähltheorie intensiv diskutiert worden ist, weiß Mörikes >Hutzelmännlein< und wissen intuitiv seine Geschichten überhaupt: daß Geschichten nicht nur eine grundlegende Darstellungsform sind, die ihrerseits Erfahrungen und Geschichtsbewußtsein modelliert, sondern auch ein grundlegender Modus menschlichen Daseins. Das zeigen auch die geselligen Runden im >Schatz< und in der >Mozart-ErzählungHutzelmännleinsMozart-ErzählungMozart-Erzählung< enthält einige kritische Anspielungen auf die Französische Revolution. All das darf eigentlich nicht sein oder allenfalls im Märchen. Das gelingende Leben und die Zustimmung zum Leben, das für Mörike immer ein soziales ist, sie gehören zu den besonders starken Tabus der Kunst in der Moderne.49 Das kümmert Mörike, dessen Kunstbewußtsein so ausgeprägt ist, aber wenig. Er bricht das Tabu, in der Lyrik wie in der Prosa, ziemlich ungehemmt. Mörikes Erzählungen erzählen immer auch davon, was das Erzählen ist und unter welchen Bedingungen es gelingen kann. Und sie erzählen davon, was Gesel-

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Auch die »Idylle vom Bodensee< kommentiert Mörike selbst. - Vgl. in der Gegenwartsliteratur den >Wörterbaum< in Martin Walsers Roman »Ein springender BrunnenmodernTrösterPechschwitzerMittler< an Goethes >Mittler< aus den > Wahlverwandtschaften erinnert. 60 (Heute nennt man diese Mittler Mediatoren.) Das wäre also Mörikes eigenwillige Neuinterpretation. Beide bleiben selbst allein. Während Goethes Mittler jedoch, unsensibel und ungeschickt, wie er ist, die Katastrophe unfreiwilligerweise nur vorantreibt (ist das »das Tragische< des Romans?), also alles andere ist als das, was sein N a m e behauptet, stiftet der Hutzelmann

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So der energische Hinweis Stefan Scherers in der Diskussion. »Und nun, mein Leser, liebe Leserin, leb wohl! Deucht dir etwa, du habest jetzt genug auf eine Weile an Märchen, wohl, ich verspreche, dergleichen so bald nicht wieder zu Markte zu bringe; gefiel dir aber dieser Scherz, will ich es gleichwohl also halten. Es gelte, wie geschrieben steht zum Schluß des andern Buchs der Makkabäer: allezeit Wein oder Wasser trinken ist nicht lustig; sondern zuweilen Wein, zuweilen Wasser trinken, das ist lustig« (I, S. 554). Siehe dazu den Beitrag Ralf Simons im vorliegenden Band. Interessante theologische Nebenbedeutungen kommen ins Spiel, wenn man die jüngste Studie zu Goethes >Mittler< heranzieht. Vgl. Philipp W. Hildmann: Die Figur Mittler aus Goethes Roman >Die Wahlverwandtschaften als Repräsentant der Neologen. In: Euphorion 97, 2003, S. 51-71.

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Wolfgang Braungart

tatsächlich eine >liebende< Geselligkeit. Doch Mörike macht aus seinem Mittler eine Kunst-Figur, die als eine solche die wirkliche und tragfähige Versöhnung bringt. Ein >Datte< ist der Hutzelmann im Grunde schon von Anfang an. Er läßt (anders als Larkens) das Romantisch-Groteske allenfalls von Ferne noch ahnen. (Auch der amethystene Kreisel der schönen Lau, »das herrliche Kunstwerk«, eine weitere Rarität, ist eine Art >DatteRingparabel< anzuspielen, wenn — wie dort dem Ring — dem Kunstwerk des Kreisels, der Musik macht, eine friedenstiftende, gesellige Wirkung zugesprochen wird: »durch seine Kraft und hohe Tugend« kann der Kreisel »die Übeln Händel allezeit in einer Kürze« dämpfen; I, S. 487. 6l ) Das Wunderliche, Koboldhafte, Seltsame, das nicht rational Erklärbare gehört zum Leben dazu und mitten ins Leben hinein. Man weiß, wie sehr sich Mörike für Gespenster interessiert hat. 62 Das Hutzelmännlein schenkt Seppe und Vrone mit dem Leuchter und den Reimen also ein letztes Mal, nach all den Geschichten und ihrer eigenen LiebesGeschichte, die sie ihm auch verdanken, Kunst und sich selbst, den Künstler, das >bucklicht Männ]einAuf eine Lampe« (1846), die noch immer auf ihren »Datte« wartet. 64 Der Hutzelmann behält, wie das Gedicht auf dem Leuchter sagt, sein »Frazzengesicht«. Er behält das Koboldhafte; er behauptet die Differenz der Kunst gegenüber dem normalen Leben. Und doch bleibt er dabei und gerade so: in der Differenz, auf das bürgerliche Familien-Leben bezogen. Ich habe immer dafür plädiert, Literatur in dem, was sie zu sagen hat, wirklich ernst zu nehmen. Schillers zentrale ästhetische Kategorie des Spiels hat ganz gewiß eine große erschließende Kraft; aber sie kann auch den Blick auf den Ernst der Kunst (ja: auch in ihrer >HeiterkeitBucklicht Männlein< gab Günter Oesterle in der Diskussion. - Ob und wie gut Benjamin Mörike kannte, ist schwer zu sagen. Soweit ich sehe, wird Mörike in den Briefen Benjamins nicht erwähnt. Das vorläufige Register der Benjamin-Ausgabe enthält den Namen Mörikes nicht. Zwischen Martin Heidegger, Emil Staiger und Leo Spitzer; vgl. M. Mayer, Eduard Mörike (Anm. 14), S. 72f. - Bemerkenswert und in der Debatte um das Gedicht vielleicht zu wenig beachtet scheint mir auch das Adverb >seligErlebnisgedichten< u n d V e r s e n , die mit geborgten S t i m m e n sprechen, der ersten, das f o l g e n d e G e d i c h t , »Erstes Liebeslied eines Mädchens«, der zweiten G r u p p e zuzurechnen. Ist es überhaupt zulässig, die Inszenierungen von >Liebe< in solchen Gedichten als Bearbeitungen des gleichen »Wehes« zu lesen u n d damit auf ein Erleben des A u t o r s zurückzufuhren? V o r d e m Hintergrund der unabgeschlossenen Kontroversen über die Legitimität von V e r f a h r e n , in denen Leser - u n d namentlich Germanisten! - einen »realen< / »empirischem oder »abstraktem / »implizitem A u t o r , 4 ein »lyrisches Ich« oder einen Erzähler (aller Spielarten) im T e x t oder hinter d e m T e x t konstruieren u n d eine R e f e r e n z zur Lebenswelt des realen A u t o r s herstellen 5 , ist F a r b e zu bekennen: Diese Untersuchung schließt sich, ganz pragmatisch, d e m Verhalten nicht-professioneller, aber auch der meisten professionellen Leser an. Diese verbinden erstens mit einem A u t o r n a m e n eine gewisse, durch biographisches Wissen oder durch Textmerkmale gestützte Einheit des Werks und nutzen sie auch interpretatorisch. 6 Sie vermuten zweitens gerade f ü r Lyrik u n d insbesondere f ü r Liebeslyrik in der Regel ein Erlebnissubstrat des »realen« Autors, 7 und sie übertragen drittens auch das biologische Geschlecht dieses Autors, ggf. der A u t o r i n , auf das Ich mindestens der »Erlebnisgedichte«. 8 ( U m dennoch nicht in puren Biographismus zu verfallen und zu markieren, daß der A u t o r - abgesehen v o m biologischen Geschlecht u n d einigen Lebensdaten - ein Konstrukt des Lesers ist, w i r d er im folgenden in einfache Anführungszeichen gesetzt.) W a s aber, wenn das Ich mit geborgter S t i m m e spricht, womöglich nicht im Geschlecht des realen Autors? O d e r wenn ein Erzähler, ein Beobachter indefiniten Geschlechts berichtet? U n t e r der Prämisse, das W e r k sei einem einheitlichen »Autor« zuzuschreiben, müssen auch solche G e d i c h t e als

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Begriffe und Überblick über verwandte Termini bei Hannelore Link: Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme, Stuttgart u. a. 1976, S. 16-38. Überblick bei Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse, Stuttgart - Weimar 1995, S. 181—213 und Jörg Schönert: Empirischer Autor, Impliziter Autor und Lyrisches Ich. In: Fotis Jannidis / Gerhard Lauer / Matias Martinez / Simone Winko (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999, S. 289—294. Zur Kontroverse um den Autor der genannte Sammelband von Jannidis u. a. (Hg.), 1999, sowie Klaus Weimar: Wer und wo ist der Erzähler im Text? In: Modern Language Notes 109 (1994), S. 495-506. Simone Winko: Autor-Funktionen. Zur argumentativen Verwendung von Autorkonzepten in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis. In: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart - Weimar 2002, S. 334—354; hier besonders S. 343-348. Überblick über die Positionen in dieser Frage bei Burdorf, Einführung (Anm. 5), S.182-193. Publikationen zu der Frage existieren m. W. nicht. Ich stütze mich auf Experimente in meinem Hauptseminar »Geschlechterdifferenz im Lesen«, München SS 1992/93 und in meinem Proseminar »Lesen — zwischen Alltagspraxis und Wissenschaft«, München WS 1994/95.

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Ausdruck seiner Stellung zum Geschlechterverhältnis in eroticis verstanden werden. Vielleicht sind gerade die Formgebungen, die nicht auf authentisches Erleben zu verweisen scheinen, fur die Camouflage besonders brauchbar. Das zweite Gedicht kann darüber bereits Auskunft geben. Erstes Liebeslied eines Mädchens Was im Netze? Schau einmal! Aber ich bin bange; Greif ich einen süßen Aal? Greif ich eine Schlange? Lieb ist blinde Fischerin; Sagt dem Kinde, Wo greifts hin? Schon schnellt mirs in Händen! Ach Jammer! Ο Lust! Mit Schmiegen und Wenden Mir schlüpfts an die Brust. Es beißt sich, ο Wunder! Mir keck durch die Haut, Schießt's Herze hinunter! Ο Liebe, mir graut! Was tun, was beginnen? Das schaurige Ding, Es schnalzet da drinnen Und legt sich im Ring. Gift muß ich haben! Hier schleicht es herum, Tut wonniglich graben Und bringt mich noch um! (30)

Ein naives Mädchen will sich über sein Erleben des ersten Beischlafs und seine Gefühle dabei klar werden. Daß der >Autor< dabei die Frau als Fischerin, also in der aktiven Rolle, auftreten läßt, ist ein Bruch zeitgenössischer Normen und erzeugt in ihr Unsicherheit, wenn nicht Angst: Hat sie einen »süßen Aal« oder eine bedrohliche »Schlange« gefischt? Eine Schlange - wenn auch männlich-phallisch verschoben — riefe das ganze biblische Arsenal von Verführung und Sündenfall auf. Den möglichen Vorwurf, sich auf solch ein ungewisses Abenteuer eingelassen zu haben, weist das Mädchen mit einer unverfrorenen Metonymie »Lieb ist blinde / Fischerin« zurück und gibt seine Frage an andere weiter. Wenn sich aber das emanzipierte Mädchen hier nun selbst als »Kind« bezeichnet: Zitiert es da nur verschmitzt das männliche Wunschbild von der handsamen, unmündigen Frau, oder verrät sich hier ein männlicher >Autorsüß< oder >bedrohlich< - , vielleicht, weil er die eigene Ambivalenz darin wiederfindet? Das nicht gewöhnliche Versmaß ab der zweiten Strophe verweist (auch nach brieflichem Zeugnis) auf einen aufschlußreichen Subtext, Goethes >SehnsuchtAutor< den Sexus sehr konkret und weist dem Mädchen ein gemischtes Geflihl bei dem Akt zu, dessen aggressive, grausame Komponenten - der süße Aal wird zur giftigen Schlange - nicht verschwiegen werden. Trotzdem überwiegen »Lust« und neugieriges Staunen (»Es beißt sich, ο Wunder! / Mir keck durch die Haut«), und auch der tänzerische Dreivierteltakt der Verse läßt die Bedrohung nicht zur Dominante werden. Auch der Wunsch: »Gift muß ich haben!« bleibt zweideutig: Will das Mädchen nun die Schlange vergiften, oder will es vielmehr deren G i f t mit aller Nachdrücklichkeit »haben«? Das »Graben« des Untiers, das noch einmal deutlich auf den Phallus verweist - weder Aal noch Schlange graben! - , wird als »wonniglich« empfunden und, allerdings - man beachte das raffinierte »und«! - als todbringend. Natürlich kann man das als die konventionalisierte Metapher für den Coitus, den »Liebestod« ansehen, in dem die Individualität der Liebenden erlischt. Aber vielleicht meint er hier doch noch anderes. Das Provokante dieser Darstellung verstärkt ein biographisches Zeugnis: Mörike schickt diese Verse als »Hochzeitlied« am 7. Juli 1828 seinem Musikerfreund Friedrich Kauffmann, damit er es komponiere und seiner Braut zum »Absingen« gebe

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An Kauffmann, 7.7.1828 In: Eduard Mörike: Briefe. Hg. von Friedrich Seebaß, Tübingen J· tI939]> S. 119. - Das Gedicht ist im Anhang abgedruckt, S. 121.

Renate von Heydebrand

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mit der Frage, »ob das Lied nicht, auf ein Haar, alle die Seligkeit ausdrückt, die sie in den ersten Tagen Eurer Liebe empfunden«.10 Zum Eintritt in die Ehe also empfiehlt er das Lied, das den Mann nicht als Hausvater, als Herren (oder als von fern verehrenden Sklaven), sondern als Lustobjekt der Frau imaginiert! Sie empfindet in seiner Vorstellung Wonne in Pein! Das war doch das »Unbekannte Wehe« aus »Verborgenheit«? Aber wie sieht es in jenem vier Jahre späteren Gedicht aus? Dort erfährt der Mann das »Wehe« nach der Absage an die Liebe, und Pein steht am Ende; hier erfährt es das Mädchen - in der Vorstellung des >realen< männlichen Briefschreibers wie auch des >Autors< - im Vollzug der Liebe, und Wonne dominiert, bei aller Bangigkeit. Werden also im gewohnten Procedere beide Gedichte auf einen >AutorAutorunmännlich< dem Begehren entsagt, in ihr entsteht sie, wenn sie sich, >unweiblich< lustvoll, dem Begehren hingibt. Die zeitgenössische Zuweisung der Geschlechtsrollen gerät ins Wanken. Dem entspräche auch, daß der Phallus — als »süßer Aal« und »Schlange« - nicht mehr eindeutig männlich kodiert ist. Widerspricht das Gedicht Mörikes dem Goethes also auch in Hinblick auf den Mann? >Verborgen< hinter dem andern Geschlecht gäbe der >Autor< im >Ersten Liebeslied< seine eigene Ambivalenz gegenüber der sexuellen Liebe, vielleicht sogar gegenüber seinem eigenen Geschlecht, preis? Daher die zweite Hypothese: Das »Wehe« hat mit der damaligen Normierung des Verhaltens der Geschlechter durch die »Welt« zu tun: In den Gestaltungen von Liebesschmerz und -glück werden, verhüllt in verschiedene literarische Form- und Zeichensprachen und unter ihrem Schutz, Probleme mit diesen Normierungen sagbar gemacht, bewertet und im spielerischen Umgang mit ihnen vielleicht sogar Problemlösungen angedeutet. Das »unbekannte Wehe« in »Verborgenheit«, der Rückzug in Askese und Alleinsein resultierte dann aus der Unmöglichkeit, in der »Welt« eine freie, sinnlich-lustvolle Liebesbegegnung von geschlechtlich nicht eindeutig fixierten und vor allem nicht hierarchisierten Partnern zu erleben, sei es innerhalb oder gar außerhalb der Ehe. Müßten also glückende Liebesbeziehungen diese hinderlichen gesellschaftlichen Tabus außer Kraft setzen - so wie das >Erste Liebeslied eines Mädchens