Die Herkunft der Ungarn, ihre Sprache und Urkultur [2., verb. Aufl. Reprint 2020] 9783111412160, 9783111048284

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Die Herkunft der Ungarn, ihre Sprache und Urkultur [2., verb. Aufl. Reprint 2020]
 9783111412160, 9783111048284

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Ungarische Jahrbücher Herausgegeben von ROBERT GRAGGER

Inhalt des ersten Bandes. I. Aufsätze und Berichte: BAJZA, J . T., D i e kroatische Publizistik während des Weltkrieges. / BONKXLÖ, A., Die ungarländisshen Ruthenen. I. Die Ansiedlung der ungarländischen Rüthenen. — II. Ursachen der geistigen und wirtschaftlichen Rückständigkeil der Ugro-Russen III. Hungarismen in der ugro-russischen Kultur. / BUDAY, L . T., Die Bevölkerungsbewegung in Ungarn und der K r i e g — Landwirtschaftliche Produktion in Ungarn / FUCHS, A . v., Skizze des angarischen Bankwesens. / GOMBOCZ, Z., Die bulgarische Frage und die ungarische Hunnensage. / GRAGGER, R . , Unser Arbeitsplan. / HORVATH, J . V., Das Genossenschaftswesen in Ungarn / KVASSAY, E. V., Die Donau vom Standpunkt der Schiffahrt. / MALYUSZ, G. T., Die Entstehung des Komitates Turóc. / MoóR, E., Die deutschen Spielleute in Ungarn. / RÉZ, M v , Gedanken über Stephan Tisza. / SEBESS, D . V., Die Agrarreform in Ungarn. / TAG^NYI, K., Alte Grenzschutzvorrichtungen und Grenzödland: g y t f ü und gyepüelvt.. / TAKÄTS, A., Ungarische'und türkische Berufs»cbreiber im 16. und 1 7 . Jahrhundert. / THIM, J R . , Die Gründungsversuche Jugoslawiens 1848/49. / VICILÄN, E . Die Wasserkraft der Donau. / ZoLNAl, B . , Ungarische Literatur 1 9 0 6 — 1 9 3 t .

II. Kleine Mitteilungen und Anzeigen: ANGYAL, D . , Neuere Literatur Uber den ungarischen Freiheitskampf 1848/49. / CONCHA, V., Die ungarische Publizist k I9I8/IG2Q. / GRAGGER, R „ Die turanische Bewegung in Ungarn. / — Über Emil J a c o b s : Untersuchungen zur Geschichte der Bibliothek im Serail zu Konstantinopel — A h e ungarische Legi-nden, Sagen, Schwanke und Fabeln / KLRALY, G . , Deutsche Sagen und Schwanke in einem ungari chen Teufelsbuche. / PEKXR, D., Roland v Eötvös / TOLNAI, W., Das große Wöiterbuch der ungarischen Sprache. Über Sp. G0PÖEV16: Österreichs Untergang — die Folge von Franz Josefs M i S r c g i v u n g v / Das Ungarische Institut an der Universität Berlin. — Die Gesellschaft der Freunde des Ungarischen Instituts. / Die ungarische Übersetzungsliteratur 1 9 1 8 — 1 9 2 0 . / Bibliographie.

III. Besprochene Werke: FRIEDJUNG, H., Historisehe Aufsätze. / GEIST-T.ANYI, P., Das Nationalitäten-Problem auf dem Reichstag zu Kremsier I848/49. / GoròÉVlé, Sp., Österreichs Untergang — die Folge von Franz Josefs Mifliegicrung. / HORVAT, R . , I z b o A a reforma u Hrvatskoj / JACOBS, E., Untersuchungen zur Geschichte der Bibliothek im Serail zu Koiistantinopel I. / JASZI, O., Mult és jövß hatarän. / IVASOV, Juznoslavensko pitanje. / JURIÈIÓ, Svjetski rat i Hrvati. / KAINDI., R . F . , 1848/49 — 1 8 6 6 — 1 9 1 8 / 1 9 . Des deu s'hen Volkes Weg zu. Katastrophe und seine Rcltung. / KALMAR, A , A delszläv kerdés / KIRALY, G., AZ Miasszonyunk szüz Maria csudairól vaiò hei Legenda. — Egy ö ordógiol >ak> lusiória Heltai Gäspär iràsiból. / Körösi CsomaArchivum. / KOVACEVIC, M , Dir K r o l l e n kommen / LIPPAY, Z , A magyar birtokos közeposztäly és a kozélet. / MAKCITM, J . , A horvat- es a szlavonorszàgi magyarok sorsa, nemzeti védelme és a magyar-horvùi irtiven-eg / MILCIKOVIÓ A . , und KREK, [., Kroaten und Slowenen. / ORCZY, A., DemokraiUmus és fogalomkoaosités. / PROHASZKA, O., KjUltura és T e j r o r . / RÉZ, M., Külpolitikai tanulmänyok. / SCHLIEMANN. T h „ Geschichte Rußlands unter Kaiser Nikolaus I / Si'ROXTON, Ch , Palmerston and the Hunganan R e v o lution. / SUL/LAND, L . V , Die südslawische F r a t e und der Weltkr eg / SZÉKELY, St., A forradalmak dtja és a keresztény politika / Szöcsi, J , A horv.it kérdésrol — Horvät vàlasziójog. / TROCSA'NYI, Z., AZ ördög meg az lednyzó / VADNAY, T . , A magyar jövd. / W.(ILDER), V., D v a smjera u hrvatskoj politici. / WlTTMANN, E., A nemzetiségek önreoielkezési jogänak multja és jelene. Preis des I. Bandes (4 H e f t e ; : Gz. 6 ;

in Halbleinen gebunden G z . 8.

UNGARISCHE BIBLIOTHEK Für das Ungarische Institut an der Universität Berlin herausgegeben von ROBERT GRAGGER =

Erste Reihe

1.

Die Herkunft der Ungarn, ihre Sprache und Urkultur Von

Josef Szinnyei

Zweite, verbesserte Auflage

1923

Walter de Gruyter & Co. vormals [G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp.

Berlin und Leipzig

Drui*!: von Walter de G r u y t e r (4 Co., Berlin W, .(

1. F i s c h f a n g und J a g d

38

2. Viehzucht und L a n d b a u

39

3. Hausarbeit, G e w e r b e , Handel

40

4. K r i e g s w e s e n

41

5. Die W o h n u n g und ihre Einrichtung, Hausgeräte und Werkzeuge 6. Metalle

43

7. Die Familie

43

8. Staatliche E i n r i c h t u n g e n

46

9. R e l i g i o n

47

D a stehen wir an dem Grenzsteine der historischen Zeit. Der letzte Schein unserer Fackel flammt auf, und in dem Halbdunkel sehen wir die Ungarn, wie sie die Grenze überschreiten. Vor ihnen die .Morgendämmerung, hinter ihnen stockfinstere Nacht. In dieses Dunkel möchten wir hineinleuchten; wir möchten wissen, woher die Vorfahren der Ungarn kamen, wo ihre Wiege stand, wie der Verlauf ihres Lebens bis dahin war. Vergebens I Unsere Fackel ist erloschen,' und unser Blick verliert sich in geheimnisvolles Dunkel. Aber siehl Ein schwaches Licht beginnt in der Nacht zu däm mern, eine flackernde Flamme, die bald verlischt, bald aufs neue aufleuchtet. Sie schwankt hin und her, wie das Irrlicht. Und dort eine andere; bald leuchtet auch die dritte, die vierte auf. Um sie herum dämmert Halbdunkel in der dichten Finsternis, und unser Auge beginnt zu sehen. Hier sieht es Menschenschädel, dort Kleidungsstücke aus Tierfellen; bald werden Grubenwohnungen, dann Zelte aus Birkenrinde sichtbar, in ihnen primitive Werkzeuge. Um sie herum ist munteres Leben, eifrig schafft jung und alt. Ein paar Männer ziehen das große Fischnetz ans Ufer hin, andere tragen Angelgeräte in den Kahn, das Frauenvolk ist um den Kochkessel geschäftig oder spinnt und näht. Weiter ab bringt eine Gruppe Menschen ihre Bogen und Pfeile in Ordnung, dann schwingen sie sich aufs Pferd. Nicht Wild zu jagen gehen sie jetzt, denn sie gebieten ihren Hunden zurückzu bleiben. Sie ziehen in den Krieg. Danach tritt wieder ein anderes Bild vor unser A u g e : fremde Leute erscheinen unter den Ungarn und bringen ihnen viel Unbekanntes bei. Die Ungarn haben jetzt schon mehr Haustiere, und ihr Boden trägt Weizen, Gerste, Wein und dergleichen. Die Rüstung der Männer ist mit Silber beschlagen, auf ihrer Stirn funkeln Goldplatten, ihr Pferdegeschirr ist prunkhaft; das Frauenvolk schmückt sich mit farbigen Seidenstoffen, Ringen undPerlen. Aber des Neuen wegen geben sie das Alte nicht auf. Auch jetzt fallen die Fische der Flüsse und das Wild des Waldes ihnen zur Beute. Sie sitzen noch ebensogut zu Pferde und schießen ihre Pfeile mit ebensolcher Sicherheit auf den Feind, wie dereinst. Und wenn

6 sie ihre Lippen zum Reden, zum Singen öffnen, dann strömt über sie dieselbe Sprache, die sie von ihren Urahnen ererbt haben, nur daß sie jetzt entwickelter und an Wörtern reicher ist. +

K *

Doch lassen wir die bildliche Rede. Die eigentliche Geschichte beginnt mit den ersten aufgezeich neten Daten. A b e r dennoch bleibt uns auch das nicht völlig verborgen, was vordem war und geschah, wovon keine A u f z e i c h n u n g spricht, denn mit Hilfe der A n t h r o p o l o g i e , der Ethnologie, der Archäologie und der Sprachwissenschaft können wir eine Reihe Daten aus der vorgeschichtlichen Zeit zusammenstellen, und ein ziemlich großer Teil dieser Daten ist noch glaubwürdiger als der uns über lieferte Bericht manches alten Schriftstellers. Ohne daß wir die übrigen herabsetzen wollten, können wir es doch getrost behaupten, daß unter den erwähnten Wissenschaften die Sprachwissenschaft diejenige ist, die die meisten Daten und die glaubwürdigsten liefern kann; und es kann noch hinzugefügt werden, daß sie die übrigen auch darin über trifft, daß ihre Daten aus einer weit älteren Zeit stammen, als die jener anderen. Nehmen wir nunmehr die Sprachwissenschaft ins Verhör und lassen wir sie berichten, was sie über die Ungarn der vorgeschichtlichen Zeit weiß.

I. Die erste Frage ist die nach dem Ursprung der ungarischen Sprache. Hierauf kann einzig und allein die Sprachwissenschaft Antwort geben, und keine andere Wissenschaft hat irgendeine Stimme dabei. Die Sprachwissenschaft hat nun mit voller Entschiedenheit festgestellt, daß d a s U n g a r i s c h e eine finnisch-ugrische S p r a c h e ist, ein Glied jener Sprachfamilie, deren übrige lebende Glieder das Wogulische, das Ostjakische, dasSyrjänische, das Wotjakisclie. das Tscheremissische, das Mordwinische, die ostseefinnischen Sprachen (Finnisch, Estnisch, Karelisch usw.) und das Lappische sind. Alle diese bilden mit dem Ungarischen die Fortsetzungen, die neueren Variationen ein- und derselben Grundsprache. Schon A E N I ; : A S S Y L V I U S (Papst Pius II., t 1464) erwähnt in seiner »Cosmographia« den Bericht eines Veronesers, laut dessen im asiatischen Skythenlande rohe heidnische Völker wohnen, deren Sprache mit der der Ungarn von Pannonien gleich ist l ). Obwohl das Werk erst im Jahre 1 503 erschien, war dies in Ungarn schon im 15. Jahrhundert bekannt. Auf den Papst berufen sich zwei Geschichtsschreiber, T H U K Ö C Z I *) und B O N F I N I 3), und letzterer fügt hinzu, daß König Mathias Corvinus, der von russischen Kauf Ieuten dieselbe Nachricht erhalten hatte, bestrebt war, jene Stammverwandten zur Übersiedlung nach Ungarn zu bewegen. Auch der Krakauer Domherr und Arzt M A T H I A S VON M I E C H O V behauptet in seinem »Tractatus de duabus Sarmatiis« ( 1 5 1 7 ) , daß die Sprache des in der Uralgegend seßhaften Juhravolkes ( = Ugrier, d. h. Wogulen und Ostjaken) der der Ungarn verwandt ist-f j. Baron S I E G M U N D VON H E R B L - R S T E I N erwähnt es in seinem Werke »Rerum Moscoviticarum Commentarii«, dessen erste Ausgabe im Jahre 1549 erschien, ebenfalls, daß die Juharen :d. h. die Ugrier der Uralgegend) angeblich dieselbe Sprache sprechen wie die Ungarn, aber er wisse nicht, ob es war sei, ') Es sind die Wogulen und Ostjaken gemeint. J

) Chronica Hungarorum. Cap. IX. (ed. SCHWANDTNER 1746, S. 55). 3) Rerum üngaricarum libri XLV. Dec. I. lib. II. (ed. BEL 1 7 7 1 , S. 4 1 ) . I.ib. I. tract. II. (Vgl. Ethnographia. X. Budapest 1899, S. 249.)

8 denn wie eifrig er dem auch nachforschte, es sei ihm nicht gelungen, einen Menschen aus jener Gegend zu finden, mit dem sein Diener, der Ungarisch verstand, hätte reden können 1 ). In der zweiten Hälfte des r 7. Jahrhunderts entdeckte ein Hamburger Arzt, der scharfsinnige Polyhistor MARTIN FOGEL, daß zwischen der ungarischen, der finnischen und lappischen Sprache eine Verwandtschaft bestehe, und als Belege dafür führte er Wortgleichungen und Übereinstimmungen des Sprach baues an. Etwa um dieselbe Zeit entdeckte auch ein anderer hervorragender Polyhistor, der Schwede GEORG STIERNHIELM, die Verwandtschaft der ungarischen mit der finnischen und lappischen Sprache 3 ). Die Zusammengehörigkeit aller finnisch-ugrischen Sprachen behaup tete (auf Grund von Wortgleichungen) zuallererst JOHANN PHILIPP STRAHLENBERG in seinem Werke »Das Nord- und Östliche Theil von Europa und Asia«, das im Jahre 1730 erschien. Bei den Ungarn selbst beginnt die Vergleichung der ungarischen Sprache mit andern finnisch - ugrischen Sprachen mit dem Werke »Demonstratio. Idioma Ungarorum et Lapponum idem esse« des JOHANN SAJNOVICS, das im Jahre 1 7 7 0 erschien, und in dem er die Verwandtschaft der ungarischen Sprache und des Lappischen durch Gleichungen von Wörtern und grammatischen Formen zu beweisen suchte. S A J N O V I C S , obgleich kein Sprachgelehrter, faßte die Sprachverwandtschaft ganz richtig auf. Aus seinem Werke ergibt sich, wenn er es auch nicht ausdrücklich sagt, daß er die Sprachverwandtschaft nicht in der ins A u g e fallenden, handgreiflichen Ähnlichkeit, sondern in der regelmäßigen Entsprechung suchte. Die Sprache der Ungarn und Lappen — sagt er — kann verwandt sein, ohne daß sie einander verstehen; denn wenn diese beiden auch einstmals ein Volk waren, so mußte sich doch sowohl die lappische wie die ungarische Sprache verändern, da sie seit so vielen Jahrhunderten völlig voneinander getrennt waren. Das kann man ja doch nicht annehmen, daß beide sich so erhalten hätten, wie sie zur Zeit der Einheit waren, oder daß beide sich völlig gleichmäßig entwickelt und dieselben Veränderungen durchgemacht hätten. — A u f die »Demonstratio« des S A J N O V I C S folgte im Jahre 1799 das Werk des S A M U E L G Y A R M A T H I : »Affinitas linguae Hungaricae cum linguis Fennicae originis grammatice demonstrata«, in dem schon die ganze finnisch-ugrische Sprachfamilie verglichen ist 3). A m Anfang des 19. Jahrhunderts gesellte sich als dritter zu ' ) Dritte A u s g a b e : Basel 1 5 5 6 , S. 86. ') Vgl. E . N. SETALÄ, [

Beiträge

zur

Geschichte

Lisiä der

suoraalais-ugrilaiscn finnisch-ugrischen

kielentutkimuksen

Sprachforschung).

S. 3, 37i) »Das patriotisch-wissenschaftliche Streben, in der Kerne nach

historiaan

Helsinki

1892,

sprachverwandten

9 diesen beiden NIKOLAUS RÉVAI und benutzte sowohl in seinen »Antiquitates linguae Hungäricae« wie in der »Elaboratior Grammatica linguae Hungaricae« das Material der finnisch-ugrischen Sprachen zur Erklärung ungarischer Wörter und grammatischer Formen. Danach folgte ein langer Stillstand, den die Luftschlössern nachjagende Philologie der romantischen Schule ausfüllte. A m Ende der dreißiger Jahre brach ANTON REGULY ZU seiner langen, mit vielen Mühen und Entbehrungen verbundenen nordischen Studienreise auf. Sieben Jahre verbrachte er in Rußland und sammelte eine Menge finnisch-ugrischen Sprachmaterials. Um die Mitte des Jahrhunderts begann PAUL HUNFALVY seine grundlegende Tätigkeit auf dem Gebiete der vergleichenden Sprachwissenschaft, und von da an ruhte die Arbeit auf diesem Gebiete nicht. Zu HUNFALVY gesellte sich bald JOSEF BUDENZ. Mit Leib und Seele widmete er sich dem Studium der sog. uralaltaischen und später fast gänzlich dem der finnisch-ugrischen Sprachen. Er entfaltete eine riesenhafte Tätigkeit; 34 Jahre hindurch arbeitete er ununterbrochen, schrieb Abhandlungen, Sprachlehren, Wörterbücher, gab T e x t e heraus, und endlich schrieb er zur Krönung seiner Tätig keit seine beiden Hauptwerke, das vergleichende ungarisch-finnischugrische Wörterbuch und die vergleichende Formenlehre der finnisch ugrischen Sprachen. Und was gleichfalls sein großes Verdienst ist: er gründete eine Schule, er erzog eine neue Generation von Sprachforschern, die dann seine Arbeit fortsetzte. Aber nicht nur in Ungarn, sondern auch in anderen Ländern ging die Arbeit auf dem Gebiet der finnisch-ugrischen Sprachforschung in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts emsig von statten und dauert noch heute an. Finnische, estnische, dänische, schwedische, norwegische, deutsche, französische und russische Gelehrte arbeiteten und arbeiten mit vereinten Kräften am Vorwärtsbringen der finnisch ugrischen Sprachwissenschaft. Und während dergestalt ernste, gewissenhafte gelehrte Männer das angefangene Gebäude ruhig weiterbauen, dessen Fundament ihrer Überzeugung, folglich der Überzeugung der Sachverständigen nach, so fest ist, daß es niemals erschüttert werden kann, finden sich in Ungarn unter den Nichtsachverständigen noch immer manche, die an der Festigkeit des Fundamentes dieses Gebäudes zweifeln. Noch immer gibt es Anhänger VÁMBÉRYS, die an den türkisch-tatarischen Völkern zu suchen, ist bekanntlich bei den Ungarn viele Jahrhunderte alt, und SAJNOVICS und GYARMATHI sind die Ahnen unserer vergleichenden Sprachwissenschaft geworden«, sagt GEORG VON DER GABELENTZ : Liter. Centralblatt 1886, S. 96 und Die Sprachwissenschaft, S. 26.



Vgl. noch:

Berlin 1 9 1 5 , S. 2

KR. SANDFELD-JENSEN, Die Sprachwissenschaft.

Leipzig

und

IO Ursprung der ungarischen Sprache glauben. Es gibt vorsichtige Schriftsteller, die vom Ursprung der ungarischen Sprache redend konstatieren, daß ein Teil der Sprachforscher das Ungarische für eine finnisch-ugrische Sprache hält, die aber nicht verabsäumen, hinzuzufügen, daß es nach anderen in die türkisch-tatarische Sprachfamilie gehöre. Es gibt aber auch weniger vorsichtige, die die »finnischugrische Theorie« ganz außer acht lassen, und denen das Ungarische geradezu eine türkisch-tatarische Sprache ist. Dies Verhalten mancher Unkundigen gegenüber den Ergebnissen der finnisch-ugrischen Sprachforschung erklärt sich hauptsächlich daraus, daß sie über das Wesen und die Grade der Sprachverwandtschaft nicht im reinen sind. Denen, die sich für die Sache einiger maßen interessieren, schwebt meistens die Verwandtschaft der germanischen oder der romanischen Sprachen vor. Diese Verwandt schaft ist so augenscheinlich, daß auch der Laie sie leicht erkennen kann. Wo dann eine Verwandtschaft dieses Grades nicht besteht, dort will der Laie gar keine Verwandtschaft anerkennen. Nun steht aber die Sache so, daß die germanischen Sprachen sich etwa zu Be ginn unserer Zeitrechnung verzweigten, und die romanischen sich erst in der ersten Hälfte des Mittelalters zu besonderen Sprachen ent wickelten. Dagegen begann die Verzweigung der finnisch-ugrischen Sprachfamilie in einer viel älteren Zeit. Die erste Trennung mag um die Mitte des dritten Jahrtausends vor Christi, der Beginn der weiteren Trennungen anderthalb Jahrtausende später erfolgt sein1). In unserer Sprachfamilie stehen daher die Ergebnisse vor sehr, sehr langer Zeit geschehener Trennungen und einer seit sehr, sehr langer Zeit dauernden Sonderentwicklung vor uns. Nun ist aber das Leben der Sprachen eine fortwährende Veränderung: neue Gebilde ent stehen, alte verschwinden. Je größer der Zeitraum, der die jetzigen Sprachen von der Zeit ihrer Grundsprache trennt, um so mehr ursprüngliche Elemente sind verloren gegangen, und um so mehr Neues ist entstanden. Daraus folgt ganz natürlich, daß die gemein samen Elemente, die von der finnisch-ugrischen Grundsprache zurückgeblieben sind, nicht so zahlreich, und auch wegen der viel früheren Trennung und längeren Sonderentwicklung nicht so leicht erkennbar sein können, wie die gemeinsamen Elemente der germanischen und der romanischen Sprachen. Die Beweise der Sprachverwandtschaft sind Übereinstimmungen von grammatischen Formen und Wörtern. Der Laie sucht in den ') Vgl. E. N. SETALÄ, Suomensukuisten kansojen esihistoria [ = Urgeschichte der finnisch-ugrischen Völker], (Maailmanhistoria | = Weltgeschichte] II, 495, 497, 508).

[I

verwandten Sprachen gleiche oder ähnliche Elemente. Er schaut nur mit bloßem A u g e , daher erblickt er sehr vieles nicht. Umgekehrt findet er oft in stockfremden Sprachen Elemente, die er wegen ihrer zufälligen Gleichheit oder Ähnlichkeit für verwandt hält. Hin gegen untersucht der Sprachforscher die Sprachen mit der L u p e und dem Seziermesser und bemerkt deshalb auch Übereinstimmungen, die dem Laienauge verborgen bleiben. Der Sprachforscher weiß, daß in der fortwährenden Neubildung und Veränderung, die man das Leben der Sprache zu nennen pflegt, Regelmäßigkeit herrscht. Somit auch in der Entwicklung der Laute, nur daß die Richtungen und Ergebnisse des Lautwandels in den verschiedenen Sprachen häufig verschieden sind. Die F o l g e der Regelmäßigkeit des Lautwandels ist die, daß in den gemeinsamen Wörtern und Wortelementen der verwandten Sprachen die Laute, welche ursprünglich identisch waren, nach der T r e n n u n g aber sich verändert haben, in regelmäßiger W e i s e voneinander abweichen, mit anderen Worten, einander regelmäßig entsprechen. A u c h in den finnisch-ugrischen Sprachen sind schon viele derartige regelmäßige Lautentsprechungen festgestellt i. In diesen Ausführungen g e b e ich nur einige Proben aus den Ergebnissen der finnisch-ugrischen vergleichenden Lautlehre 2 ). So entspricht dem anlautenden f des Ungarischen p in den verwandten Sprachen, z. B . f e i H ä l f t e : halb; Seite): wog. pal, tscher. pel \ fö ( K o p f ) : finn. pä. Dem /.. B. häl Dem Sprachen wog. nel,

anlautenden h tieflautender Wörter entspricht k und ch, [Fisch): md. kal, finn. kala, tscher. kol, wog. chül. n im Wortanlaut entspricht in einem Teile der verwandten «, im andern Teile «, z. B. nil (Pfeil): wotj. nil, lp. nill, aber md. nal, finn. nuoli.

') Vgl. J. SziNNYEl, Finnisch-ugrische Sprachwissenschaft. Leipzig 1922. (Sammlung Göschen), S. 20—40.

2. Aufl.

Berlin

und

2 ) Hier ist natürlich nur eine sog. gröbere Lautbezeichnung angewendet. ä — mit Lippenrundung gebildetes a\e -= geschlossenes e ! ä = offenes e\y dem t entsprechender hinterer Vokal | 0 — dem e entsprechender hinterer Vokal j s = deutsches ß |i deutsches seh \ s — französisches s ! S = französisches / : c deutsches s, tz j c — deutsches tsch j v — deutsches w | w — bilabiales «1 h ist kein Dehnungszeichen. Der Akut (') neben oder Uber einem Konsonantenzeichen bezeichnet Palatalisierung (Mouillierung) : t', d', s, i ----- t, d, ,r, s + / zu einem Laut verschmolzen; n = französisches oder italienisches gn ; /' = ital. gl. Der am Wortende stehende Bindestrich (-) bedeutet, daß die betreffende Form der von den Suffixen entblößte Stamm ist. Abkürzungen: ung. = ungarisch, finn. - finnisch, est. = estnisch, md. — mordwinisch, lp. = lappiscli. tscher. — tscheremissisch, syrj. =• syrjänisch. wotj. = wotjakisch, wog. = wogulisch, ostj. — ostjakisch.

12

Dem m im In- oder Auslaut entspricht teils m, teils Im, z. B. sem (Auge): ostj. sem, wog. säm, aber finn. silmä. Dem z im In- und Auslaut entspricht t und d, z. B. säz (Hundert): wog., ostj. sät, finn. sata, md. iada. Dem g, d, b im In- und Auslaut entspricht tig, nd, mb und nk, nt, mp, z. B. mög (Hintergrund, hinterer Raum): tscher. möngeS (zurück) jeg (Eis): ostj. jenk \ odu (Höhle): md. undo (Höhlung) \äd (geben): finn. anta- i venäbb (älter): estn. vanemb\eb (Hund): ostj. ämp. Dem v im In- und Auslaut entspricht in gewissen Fällen m, z. B.nev(Name): ostj. mm, wog. näm \ nälv (Zunge): wog. nälm, ostj. nälem. Gehen wir nunmehr zu den Beweisen der Sprachverwandtschaft über. Beginnen wir mit den Übereinstimmungen der Suffixe und betrachten wir einige der ins Auge fallenden. Dem ungarischen käl (aufstehen) und käl-t (aufwecken) entspricht im Wog. käl- und käl-t-, im Ostj. kil- und kil-t-. Dem in Sprachdenkmälern vorkommenden felä-m- (erschrecken) entspricht das wog. pel-m-, dessen Grundwort pel- — ung. fei (sich fürchten) ist. Das Bildungssuffix des ung. Zeitwortes felä-ml- (erschrecken) ist mit dem des wog. Zeitwortes päsa-ml- (sich auflösen) identisch. Das Suffix -p des veralteten Zeitwortes ällä-p- (stehen bleiben) bezeichnet die Plötzlichkeit der Handlung, und dasselbe bezeichnet das -p im wog. mäse-p- (plötzlich anziehen). Dem Suffix des wog. chänt-l- (Krieg führen, von chänl »Heer« = ung. häd) entspricht dasj-/ im ung. sö-l (reden), dälo-l (singen). Vom ung. Zeitwort el (leben) stammt älä-vä-n (lebendig), ebenso vom finn. elä- (leben) elä-vä (lebend). Ein vom ung. äl- (schlafen; abgeleitetes Wort ist älo-m (Schlaf Traum), und dem entspricht das ostj. äle-m und das wog. ülu-m. Ung. läp (bedecken) = wog. läp-, und das aus diesem gebildete Wort l&pi-l (Dach) entspricht dem ung. läpe-l (Decke). Wie der Ungar sagt: men-ni (gehen), ker-ni (bitten), värr-ni (nähen), ähnlich sagen auch die Wotjaken: myn-ny, kur-ny, vury-ny, und die Syrjänen: mun-ny, kor-ny, vur-ny. Härmä-d-, ned'ä-d-, hato-d- (der dritte, vierte, sechste) = syrj. kuime-d, nol'e-d, kvaite-d, wog. chürnii-t, nili-t, chäti-t (Stamm: chürmi-nt-, nili-nt-, chäli-nt-). Ung. vere-i (blutig) = finn. vere-s, karelisch vere-S (blutig, roh, frisch), und ung. evä-i (-jährig) = tscher. iä-S. Dem ung. särv-ü (-hörnig) entspricht das md. sur-u (gehörnt); dem ung. täv-i (Teich-) im Ostj. tou-i, und dem ung. tel-i (winterlich) in der wog. Sprache täl-i.

13 Ung. no-tälän (ledigj, äs-tälän (unvernünftig) = wog. ni-täl, is-täl. D e m ung. Komparativ vereiä-bb (blutiger) entspricht im Lappischen varrasa-bbü und varrasa-p\ dem ung. Komparativ venä-bb (älter) im Estnischen vane-mb. Den ung. Pluralen nilä-k (Pfeile), ¿omö-k (Knoten) entsprechen im Lappischen nuöläh-k, iuölmäh-k. Die Ebenbilder der ung. Pluralformen käzä-i- (Hände), kövä-i- (Steine) sind das finn. käs t- und kiv-i-. Ung. fel-nä (würde sich fürchten), men-tiä (würde gehen) = wog. pel-ni, men-ni, und ung. kellä-nä (es wäre nötig) = tscher. kel-ne-ze. Ung. nävä-m (mein Name), näv-ä (sein Name) und lovä-m (mein Pferd), lov-ä (sein Pferd) = wog. näme-m, nattt-ä und lü-m, luw-ä\ das ostj. sätnä-m (mein A u g e ) stimmt mit dem ungarischen seme-m vollkommen überein; ung. seme-d (dein A u g e ) = wotj. und syrj. iinmy-d", ung. tollä-m (meine Feder) = md. tolga-m, und das Personalsuffix des md. tolga-mok, tolga-muk (unsere Feder) ist mit dem Personalsuffix des ung. Wortes ise-muc (lies iiämük) »unser Ahn, Vater« der Leichenrede aus dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts identisch. Die entsprechende Form für ung. vize-n (auf dem Wasser) ist in wog. Sprache wite-n, und das wotj. kuspy-n (zwischen) entspricht dem ung. küsöbö-n (auf der Schwelle). Poäl-i (gegen) im W o g . entspricht dem ung. fäl-e, und el-t (vor) dem ung. älö-tf, das wog. Ebenbild des ungarischen Wortes hossd-tt (entlang) ist chösi-t; ung. härmä-n, ned'ä-n (ihrer drei, ihrer vier) = wog. chürumän, nilän. Unter den Wörtern der verwandten Sprachen pflegen diejenigen gemeinsam und daher einander entsprechend zu sein, die uralte Begriffe benennen oder bezeichnen. S o : die Zahlwörter, die Benennungen der Teile des menschlichen Körpers, der Glieder der Familie, ferner die Benennungen von Naturerscheinungen und -gegenständen, die Zeitwörter, welche primitive Tätigkeiten ausdrücken usw. Diese sind meistenteils ursprünglich, während dagegen die Wörter einer weiter fortgeschrittenen Kultur meistenteils Lehnwörter oder Neubildungen und neuere Zusammensetzungen sind. Aus den mit ungarischen verwandten Wörtern führe ich hier — nach Begriffsgruppen geordnet — eine Anzahl an: 1. ZAHLWÖRTER. Die ungarischen Zahlwörter 2 — 8 laufen: kel, härom, ned', öt, hat, het, nolc, und die entsprechenden wogulischen Zahlwörter: kit, chürum, mlä, ät, chät, sät, nol\ ung. hüs (20): wog. und ostj. chüs\ ung. näd'vän (40): wog. nälmen\ ung. ötvän (50): wog. ätpetr, ung. hätvän (60): wog. chätpen; ung. säz (100): wog. und ostj. sät. 2. D E R MENSCHLICHE

KÖRPER:

fo (Kopf): finn./«; käi (Haar): wog. chäi (Schopf);

'4

sem (Auge): ostj. sein, wog. säm ; fül (Ohr': ostj. pel, wog. pil'. syrj., wotj. und lp. peP, in (Gaumen): firm, ien; fog (Zahn): wog. punk\ nälv (Zunge): wog. nälm, ostj. Mletn; torok (Kehle): wog. tor das k des ungarischen Wortes ist ein Deminutivsuffix;; hön-älj Achselhöhle;: syrj. kon-ult, kun-ul, wotj. kun-ul, kez (Hand : fmn. käsi ¡Stamm: käte-. käde- ), wog. kät, ostj. kft, tscher. und lp. kü\ mäll ¡Brust): tscher. m?l: !ep (Milz): tscher. lep\ ver 'Blut): wotj. ver. linn. veri, syij. vir; er i Ader): ostj. jer. DIR

FAMII,IK!):

ot. ös Ahn, urspr. \'aier: einst auch in der Form iSä-, s. S. 13): f. ¡sä 'Vater): nö - Frau : ostj. ne. wog. nä: fi ¡Sohn): syrj. und wotj. pi\ ••' ¡jüngerer Bruder;: ostj. it: ip- Schwiegervater): ostj. iip, wog. up, finn. appi, vo (Schwiegersohn): fmn. vävü; meto Schwiegertochter): ostj. meh, wog. man, finn. miniä, arvä Waise'-: linn. orpo. 4.

DIE

NATUR:

a) ei (Nacht): ostj. ei. lp. ejj. hö (urspr. Mond : ostj. chou, md. kou, finn. kü\ tötet (dunkel): wog. Ableitungen von dem entsprechenden Grundwerte;: sätem ¡Abenddämmerung, dunkel), sätäpidunkel werden); te! (Winter): wog. täl. tscher. tei, täväs (Frühling): syrj. tuvys. bi felhö Wolke) : tscher./>