Dynamiken von Macht und Herrschaft: Freundschaftskonzeptionen in der Heldenepik der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts 9783110660906, 9783110659382

This study analyses the representation of friendship in the Middle High German epic poems of the first half of the 13th

302 105 1MB

German Pages 337 [340] Year 2020

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Dynamiken von Macht und Herrschaft: Freundschaftskonzeptionen in der Heldenepik der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts
 9783110660906, 9783110659382

Table of contents :
Danksagung
Inhalt
I. Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen
II. Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen
III. Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Heldenepen der germanischen Tradition
IV. Fazit
Literaturverzeichnis
Register

Citation preview

Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik Herausgegeben von Elisabeth Lienert Band 13

Anne-Katrin Federow

Dynamiken von Macht und Herrschaft Freundschaftskonzeptionen in der Heldenepik der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts

De Gruyter

ISBN 978-3-11-065938-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-066090-6 e-ISBN (ePub) 978-3-11-065946-7 ISSN 1611-7581 Library of Congress Control Number: 2020932267 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Universitätsbibliothek Heidelberg, ‹Sigenot›, Cpg 67, Bl. 12v Satz: epline, Böblingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

www.degruyter.com

Danksagung

Die vorliegende Arbeit wurde von der Fakultät Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften der Technischen Universität Dresden im Oktober 2018 als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung habe ich sie gekürzt und leicht überarbeitet. Ich freue mich, an dieser Stelle allen meinen herzlichen Dank aussprechen zu können, die Fortgang und Fertigstellung der Dissertation mit Rat und Hilfe begleitet haben. Prof.  Dr.  Marina Münkler, meiner Doktormutter, gilt mein besonderer Dank nicht nur für die konzeptionelle Begleitung der Arbeit, fundierte Rückmeldungen und umsichtiges Zurechtrücken, durch die ich neue Denk- und Suchbewegungen vollziehen konnte, sondern auch für ihre Offenheit, ihr Vertrauen und ihren wertvollen strategischen Rat in allen universitären Zusammenhängen. Durch die Mitarbeit in dem von ihr geleiteten Teilprojekt ‹Das Ethos der Freundschaft. Diskurse und Narrationen von Gemeinsinn in der mittelalterlichen Literatur› im DFG‑Sonderforschungsbereich 804 ‹Transzendenz und Gemeinsinn› wurde nicht nur meine anhaltende Begeisterung für heldenepische Texte geweckt, sondern auch der thematische Fokus der Studie angeregt. Für gutachterliche Hinweise und kenntnisreiche Diskussionen sei Prof. Dr. Bernd Bastert und PD Dr. Julia Zimmermann gedankt, durch die die Arbeit an argumentativer Klarheit gewonnen hat. Auch den weiteren Kommissionsmitgliedern, Prof.  Dr.  Dorothee Wieser und Prof.  Dr.  Lars Koch, habe ich für ihren langjährigen Zuspruch, wissenschaftliche Inspiration und interessiertes Nachhaken jenseits der Fachgrenzen der germanistischen Mediävistik zu danken. Ebenso bin ich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Professur für ältere und frühneuzeitliche deutsche Literatur und Kultur der Technischen Universität Dresden für ihre wohltuende Kollegialität und zahlreiche produktive Gespräche zu Dank verpflichtet, die ihre Spuren in der Arbeit hinterlassen haben. Besonders danken möchte ich meinem Freund und Kollegen Dr. Kay Malcher für seine fortwährende Bereitschaft zur theoretischen Diskussion sowie zur gründlichen, kritischen Lektüre. Prof.  Dr.  Elisabeth Lienert danke ich für die freundliche Aufnahme in die Reihe ‹Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik› sowie für ihre inhaltlichen Hinweise; dem de  Gruyter-Verlag, v. a. Dr.  Elisabeth Kempf und Laura Burlon, für die kompetente Beratung und ausgezeichnete Unterstützung während der Drucklegung. Für die Gewährung eines namhaften Druckkostenzuschusses aus dem Preisgeld des Betreuerpreises für Promotionen der Graduiertenakademie der Technischen Universität Dresden, finanziert aus Mitteln der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder, sei abermals Prof. Dr. Marina Münkler gedankt. Für Liebe, unendliche Geduld und stete Nachsicht danke ich meinem Mann und unseren beiden Kindern, denen ich dieses Buch widme. Dresden, Frühjahr 2020 Anne-Katrin Federow

V

Inhalt I. Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Gattungskonstruktion in der mittelhochdeutschen Heldenepik: Zur Problematisierung des Gattungsprototyps ‹Nibelungenlied›  . . . . . . . . . 3 2. Zum interpretatorischen Potenzial einer vergleichenden Betrachtung mittelhochdeutscher Heldenepik germanischer und romanischer Provenienz  6 3. Textkorpus in rezeptionsorientierter Perspektive  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 4. Freundschaft als Analysekategorie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Semantischer und realhistorischer Rahmen des mittelalterlichen 4.1. Freundschaftsphänomens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 4.2. Leitfragen und Bestimmung von Freundschaft als geschlossene soziale Vergemeinschaftung nach Max Weber  . . . . . . . . . . . . . . . . 24 5. Macht- und herrschaftssoziologische Perspektivierung von Freundschaft  . . .30 5.1. Heinrich Popitz: Typen der Macht und Genese von Herrschaft  . . 34 5.2. Max Weber: Typen der Herrschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 6. Weitere literatur- und kulturtheoretische Perspektivierung von Freundschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 II. Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 1. Vom Küchenjungen zum französischen König: Karls Weg durch Herrschaftskrisen mittels Freunden in ‹Karl und Galie› und ‹Morant und Galie›  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 1.1. Der kluge David und der kräftige Dederich: Zur Sicherung von Karls Existenz und Status im Exil durch funktional differenzierte Freunde  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1.2. Das Kriegerpaar Morant und Everhart: Zur temporären Kompensation von Karls mangelnder kämpferischer Potenz im Exil durch Kampfgenossenschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Florette und Orie: Zur Überwindung der Krise der weiblichen 1.3. Identität Galies während der Latenz der Brautwerbung durch mitleidende, phasenweise gegeneinander versetzte Freundinnen  . . . 66 1.4. Morant und Galie ane valsche minne: Zur Problematisierung von heterosozialer Freundschaft als Vehikel der Herrschaftsprobe Karls  74 1.5. Aufstieg und Veralltäglichung charismatischer Herrschaft Karls in Frankreich durch ein breites Spektrum freundschaftlicher Bindungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

VII



Inhalt

2. Konflikt und Klage: Zum Wandel mimetischen Begehrens in den Freundschaften Rolands zu Oliver und Karl in der ‹Chanson de Roland›, im ‹Rolandslied› des Pfaffen Konrad und Strickers ‹Karl›  . . . . . . . . . . . . . . . 82 2.1. Konfliktanfällige Kriegerfreundschaft: Roland und Oliver zwischen Konsens und Konkurrenz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2.2. Einmütige Freundschaft im Zeichen von Heiligkeit: Zur Intensivierung und Problematisierung der Nähe‑Beziehung und maßlosen Klage Karls um Roland  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.3. Mit Freunden zur christlichen Weltherrschaft: Zur Verteidigung und Expansion von Karls Herrschaft gegen heidnische Aggressoren in Strickers ‹Karl›  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 3. Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt in Wolframs von Eschenbach ‹Willehalm› im Kontrast zur ‹Bataille d’Aliscans›  . . . . . . . . . . . 118 3.1. Vivianz’ Tod: Zur Verortung von Willehalms Freundschaft im Kontext kollektiven Rachebegehrens  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Rennewarts Hervortreten und Verschwinden: Zur 3.2. Problematisierung der Intimität der Freundschaft Willehalms zu Rennewart  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3.3. Zur Labilität von Willehalms Herrschaft: Ein opfertheoretischer Annäherungsversuch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3.4. Labilität und Entdifferenzierung: Zum Verlust des herrschaftsrelevanten Potenzials von Freundschaften  . . . . . . . . . . . . 154 III. Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen der germanischen Tradition  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 1. Kudruns 13‑jährige Gefangenschaft in Ormanie: Freundschaft als Liminalitätsphänomen in der ‹Kudrun›  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 1.1. Hildeburgs compassio: Zur Kompensation von Kudruns Leid durch eine langjährige Freundin  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 1.2. Ortruns Solidarität: Zur Statusaufwertung Kudruns durch eine neue Freundin  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 1.3. Zum Risiko weiblicher Identität in der liminalen Phase der Brautwerbung: Freundschaft als communitas  . . . . . . . . . . . . . . . . . .  174 1.4. Vom Herrschaftsvakuum der Hegelingen zu stabiler Bündnispolitik: Freundschaften als Vehikel der Veralltäglichung charismatischer Herrschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 2. Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs: Die Freundschaft Dietrichs zu Hildebrant in der aventiurehaften Dietrichepik am Beispiel von ‹Virginal›, ‹Rosengarten› und ‹Sigenot›  . . . . . . 186 Warum Dietrich und Hildebrant Freunde (zu nennen) sind: 2.1. Zum integrierenden Vermögen des Freundschaftskonzepts  . . . . . . . 191 Zur Machtfülle Hildebrants gegenüber Dietrich in ihrer 2.2. status‑asymmetrischen Freundschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .202

VIII

Inhalt

Zur Dialektik von Orthodoxie und Heterodoxie in der Dietrich‑Hildebrant‑Freundschaft: Ein feld- und habitustheoretischer Annäherungsversuch  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 2.4. Wolfharts Vermittlungsfunktion zwischen den von Dietrich und Hildebrant besetzten doxischen Polen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 2.5. Charismatisierung von Dietrichs Herrschaft: Zum Verhältnis von Gefolgschafts- und Lehensfeudalismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 3. Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement: Die Spielregeln der Freundschaft(-sdarstellung) im ‹Nibelungenlied›  . . . . . . 236 3.1. Falsche Freunde im ersten Teil: Gunther‑Siegfried, Brünhild‑Kriemhild und ihre Freundschaftsfalle  . . . . . . . . . . . . . . . 239 3.1.1. Das Ende der Freundschaft durch Similarität: Zur Gleichheit der Machtformen bei Gunther und Siegfried  . . . . . 239 3.1.2. Die Beziehung von Brünhild und Kriemhild als Freundschaft im potentialis: Vom Fehlen weiblicher Begleitfiguren  . . . . . . . . . . . . . . 248 Zu viele Freunde: Wucherung von Freundschaft im zweiten Teil  . . . 252 3.2. 3.2.1. Ähnlichkeit und mangelnde Exklusivität: Zur Potenzierung destruktiver Züge durch das Freundschaftsnetzwerk um Hagen als Knotenpunkt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 3.2.1.1. Ortwin und Hagen: Zur Austauschbarkeit des Freundes  . . . . . . . . . 254 3.2.1.2. Dankwarts Verstärkereffekt auf Hagen: Zu eigenmächtigem Handeln und Stellvertretung unter Freunden  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 3.2.1.3. Volker als Hagens Duplikat: Zum destruktiven Sog von Freundschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 3.2.2. Geschenke erhalten die Freundschaft? Zur Symbolisierung von Freundschaft durch Gaben  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 3.2.2.1. Rüdiger als Gegenbild eines exklusiven Freundes  . . . . . . . . . . . . . . . 274 3.2.2.2. Rüdiger und Hagen: Zum Problem der Umstellung von traditionalen auf zweckrationale Motive der Freundschaft  . . . . . . . 281 3.3. Sentenzen: Ein Loblied auf die Freundschaft?  . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 3.4. Wie Freundschaft Herrschaft nicht stützt: Ein (Anti‑)Regelkatalog   287 2.3.

IV. Fazit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Ausgaben  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Forschungsliteratur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Register  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

IX

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen Heldendichtungen erzählen von den großen Taten und Kämpfen von Helden: Gilgamesch, Achill, Eneas, Roland. Sie berichten aber nicht von ihnen als isolierte Heldengestalten, sondern auch von ihren Gefährten: Enkidu, Patroklos, Pallas, Oliver. Obwohl schon allein diese exemplarische Zusammenstellung die starke zeitliche wie räumliche Ausdehnung dieses literarischen Motivkomplexes in heldenepischen Texten verdeutlicht, eröffnet sich demgegenüber eine erstaunliche Forschungslücke im Hinblick auf die Konstruktionen von Freundschaft, die ich zumindest für den Bereich der mittelhochdeutschen Heldenepik der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zu schließen versuchen werde. Obwohl sich Freundschaft in jüngster Zeit sowohl in der mediävistischen Geschichtswissenschaft wie auch der Germanistik zu einem eigenen Forschungsfeld entwickelt hat, bekamen heldenepische Texte jenseits des ‹Nibelungenliedes› unter dieser Optik deutlich weniger Aufmerksamkeit als etwa der höfische Roman. Die bisherige Zurückhaltung der Forschung zur Freundschaft insbesondere in der Heldenepik hat m. E. mehrere Gründe: (1) Zum einen behinderte die Dominanz des Liebesthemas in den literarischen Texten selbst sowie in der Forschungsdiskussion die Beschäftigung mit Darstellung und Stellenwert von Freundschaft in der mittelalterlichen Literatur. (2) Zum anderen stellt in diesem Zusammenhang auch die Vielgestaltigkeit des Freundschaftsphänomens ein Problem der analytischen Trennschärfe dar. Wenn ‹Freundschaft› –  wie die Geschichtswissenschaft erarbeitet hat  – ein Beziehungsspektrum abdeckt, das sich von nicht‑feindlichen, aber formalen Kooperationen über politische Bündnisse und Vasallitätsverhältnisse bis hin zu personalen Beziehungen erstreckt, dann muss man mit Überlagerungen und Verschränkungen verschiedener Art rechnen. Inwiefern kann man dann Freundschaft gegenüber Verwandtschaft und Gefolgschaft absetzen? Und ist dies dem Gegenstandsbereich überhaupt angemessen? (3) Definitorische Probleme ergeben sich darüber hinaus aus der semantischen Breite und Ambivalenz der mittelhochdeutschen Begriffe, die Freundschaft adressieren. Diesem terminologischen und phänomenologischen Problemfeld der Punkte zwei und drei werde ich mich u. a. in Abschnitt vier dieser Einleitung zuwenden und eine an Max Weber geschulte und handlungstheoretisch zugeschnittene Freundschaftsdefinition vorschlagen, wie sie bei den Textanalysen zur Anwendung kommen soll. (4) Ein letzter Problemkomplex, der die Aufarbeitung der Freundschaftskonfigurationen insbesondere der Heldenepik verstellte, hängt mit der Gattungskonstruktion in der germanistischen Mediävistik zusammen. Die bisherigen Forschungsbemühungen um literarische Freundschaftsdarstellungen v. a. im Kontext des höfischen Romans1 fortschreibend werde ich mich dem durchaus anders gelagerten Feld der mittelhochdeutschen Heldenepik widmen. Mir geht es hierbei weniger um diskursanalytische Fragen unter Hinzuziehung von antiken und mittelalterlichen diskursiven Texten aus dem Bereich der Theologie und Philosophie, da diese bereits hinreichend zufriedenstellende Antworten erfahren haben. Es sollen vielmehr dezidiert innerliterarische Zusammenhänge der Freundschaftsdarstellungen in den Blick genommen werden: In einer rezeptionsorientierten Perspektive werde ich eine strukturelle und funktionale Zusammenschau der heldendepischen Texte der germanischen 1

Vgl. den Forschungsüberblick in Abschnitt vier dieser Einleitung.

1

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

wie romanischen Tradition unternehmen, wie sie um die Mitte des 13. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum vorliegen. Während die Forschung diese beiden Traditionslinien innerhalb der Heldenepik in aller Regel trennt, sollen sie hier zusammengedacht werden. Freundschaft soll auf ihre Konstellation und Funktion für den Gesamttext wie für die Figuren hin befragt werden. Bei der inhaltlichen Bestimmung der Analysekategorie ‹Freundschaft› lehne ich mich eng an die Definition von geschlossenen sozialen Beziehungen bzw. Vergemeinschaftungen nach Weber an, wie ich sie in Abschnitt 4. 2. dieser Einleitung vorstellen werde. In komparatistisch‑strukturalistischem Zugriff auf Heldenepen sowohl romanischer wie germanischer Tradition zeichnen sich typologische Muster i. S. v. kleinräumigen narrativen Sequenzen ab, vor deren Hintergrund die individuelle Profilierung des Freundschaftsthemas im Einzeltext durch close reading herausgearbeitet werden soll. Diese Profilierung wird zusätzlich durch punktuelle Zugriffe auf literatur- und kulturtheoretische Überlegungen verschiedener Provenienz geschärft. Die dabei leitenden Basisannahmen und Forschungsfragen werden ebenfalls im vierten Abschnitt der Einleitung verhandelt. Schon ein erster grober Überblick lässt einen signifikanten Zusammenhang von Freundschaft und Herrschaft erkennen. Wenngleich unser heutiges Verständnis von Freundschaft ein ganzes Spektrum verschiedenster Beziehungen abdecken kann, so mag einem der hier anvisierte Nexus kontraintuitiv erscheinen, zumindest vermag er zu irritieren. Nähert man sich aber den soeben angerissenen Fragen zum Status von Freundschaft in der Zusammenschau der Heldenepen, dann fällt ihre politische Funktionalisierung mit Blick auf die Herrschaft des Helden überdeutlich ins Auge: Regelmäßig wird Freundschaft in mittelhochdeutschen Heldenepen virulent im Kontext von Herrschaftskrisen. Unter Krise möchte ich in grober Anlehnung an die Überlegungen Jürgen Habermas’ allgemein einen Verlust an Souveränität verstehen.2 Konkret sind diese Krisen in Heldenepen gattungskonstitutiv sowie mittel- oder unmittelbar herrschaftsrelevant. Es handelt sich dabei um Momente des Scheiterns mit disruptiver Kraft, die Diskontinuitäten im ‹Selbstverständnis› der Figur als Herrscher/in und in der Erzählung bewirken. Die Geschichte kann nicht ungestört fortgeführt werden und diese Kluft wird durch die Freundin/den Freund der Herrscherin/des Herrschers überwunden. Hier wäre in mehrfacher Hinsicht weiter zu differenzieren, wie sich in der Textanalyse erweisen wird: Zu unterscheiden wäre etwa Herrschaft in der Krise von einer Krise der Herrschaft bzw. des Herrschers, mittelbare und unmittelbare, intern oder extern ausgelöste Herrschaftskrisen. Ganz grob kann man aber zunächst festhalten: Der Held gerät in Gefangenschaft, muss flüchten und im Exil leben, wird verraten, gerät in einen (Heiden‑)Krieg etc. Freunde und Freundinnen begleiten die Herrscher und Herrscherinnen durch diese verschiedenen herrschaftlichen Krisensituationen und führen sie gestärkt aus ihnen heraus. Es ließe sich daher thesenhaft zuspitzen, dass Freundschaft nachgerade als Krisenbewältigungsmechanismus fungiert. Hierbei geraten Genese und Wandel der Herrschaft regelmäßig in den Fokus der Texte. Aufgrund dieser angenommenen Funktionalisierung von Freundschaft für den politischen Raum bietet sich eine macht- und herrschaftssoziologische Analyse an, 2

2

Habermas 1973, S. 10: «Mit Krisen verbinden wir die Vorstellung einer objektiven Gewalt, die einem Subjekt ein Stück Souveränität entzieht, die ihm normalerweise zusteht.» Habermas dimensioniert das in der Folge durchaus auch historisch. Entscheidender scheint mir hier allerdings die Verquickung des Krisenbegriffs mit dem Souveränitätsgedanken, der v. a. mit Blick auf meine interpretatorische Ausrichtung auf Macht und Herrschaft und damit auch Herrscherfiguren und ihre Freundschaften zentral ist.



1.  Gattungskonstruktion in der mittelhochdeutschen Heldenepik

die ich anhand der Theorien von Heinrich Popitz und Max Weber durchführen werde. Die Vorstellung der soziologischen Ansätze erfolgt in Abschnitt fünf dieser Einleitung.

1. Gattungskonstruktion in der mittelhochdeutschen Heldenepik: Zur Problematisierung des Gattungsprototyps ‹Nibelungenlied› Bevor ich mich den Leitfragen der Analyse und damit den beiden methodisch‑theoretischen Zugriffsweisen auf die Heldenepen aus der Perspektive der Freundschaft und der Herrschaft nähere, werde ich mich mit der Problematik der heldenepischen Gattungskonstitution auseinandersetzen (müssen). Jede Arbeit in diesem Bereich –  sei es nun Ganzschrift, Aufsatz oder Einführung  –, die sich mit Texten jenseits des ‹Nibelungenliedes› beschäftigt, sieht sich mit dem mehr oder weniger offensiv vorgetragenen Begründungszwang konfrontiert, die heldenepische Provenienz des Textes zu plausibilisieren. Während in der Forschung zum höfischen Roman zumindest im Groben Einigkeit darüber herrscht, wie die Gattung konstituiert ist und welche Texte dazuzuzählen sind, scheint demgegenüber das zähe Ringen um die ‹Substanz› und textuellen Vertreter der mittelhochdeutschen Gattung Heldenepik beim derzeitigen Stand der Diskussion unabschließbar. Der kleinste gemeinsame Nenner besteht lediglich darin, dass das ‹Nibelungenlied› heldenepisch ist. Bei den anderen möglichen Kandidaten gibt es jeweils ebenso viele vehemente Fürsprecher/innen wie Gegner/innen.3 Wenn man diese angeblichen Zweifelsfälle aus der Gattung Heldenepik gedanklich herausstreichen würde, wie es die derzeitige Forschungslage suggeriert, so führt dies zu einem gleichermaßen höchst unbefriedigenden Ergebnis in zweifacher Hinsicht: Nicht nur fielen Texte wie die ‹Kudrun›, das ‹Eckenlied› und andere aus jeglichem Gattungsraster –  ein Umstand, den man vielleicht noch mit Hybriditätsüberlegungen beikommen könnte – es führte aber v. a. dazu, dass die mittelhochdeutsche Gattung der Heldenepik lediglich aus einem einzigen Text bestünde: dem ‹Nibelungenlied›. Wie kam es zu dieser Schieflage innerhalb der Gattung? Mir scheinen hier mehrere Aspekte zusammenzuspielen, ohne dass die folgende Zusammenschau Anspruch auf Vollständigkeit hätte: (1) Man gewinnt insgesamt den Eindruck, dass trotz aller Fortschritte im Bereich der Gattungstheorie subkutan nach wie vor idealisierte Vorstellungen vom Helden und der Heldenepik, die sich von der Forschung des 19. Jahrhunderts, vielleicht auch vom ‹Hildebrandslied› her speisen, den nüchternen Blick auf die Gesamtgattung verzerren. Erwartet wird wohl ein Zusammenspiel aus Exorbitanz und selbstdestruktiver Todesnähe des Helden, Archaik und Ästhetisierung von Gewalt (Leichenberge, Blutmeere).4 Diesem Bild entspricht dann in der Tat das ‹Nibelungenlied› noch am ehesten. Bei 3

Kerth/​Lienert 2000, S. 108, fassen die Schwierigkeiten der Korpuskonstitution zusammen: Während die Zuordnung der historischen und aventiurehaften Dietrichepen noch einigermaßen unumstritten ist, wird diese für ‹Ortnit/​Wolfdietrich› schon diskutiert, die ‹Kudrun› nach wie vor als «Fremdkörper» (ebd.) in der späten Heldendichtung begriffen, bei ‹Biterolf  und  Dietleib› wird heftig gestritten und der ‹Dukus  Horant› gleich ganz ausgeklammert. 4 Ein solches Heldenbild entwirft u. a. von See 1981 [1978], S. 192, der die Faszination des Helden an eine «exorbitante Demonstration» der «Selbstmächtigkeit» und daraus folgend «seine Ungebundenheit, seine Unvernünftigkeit und Regelwidrigkeit» bindet. Moralische Vorbildhaftigkeit sei hierfür nicht zwingend. Ähnlich auch noch Meisig 2010, S. 172: «Der Krieger ist ein Einzelkämpfer, ein einsamer Wolf. Seinen Ruhm erwirbt er für sich persönlich. Der Held ist und bleibt Individuum. Es geht immer nur um die Leistung des Einzelnen

3

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

einer Zusammenschau aller als fraglich heldenepisch diskutierten Texte ergibt sich aber das Bild des immer schon Hybriden und Höfisierten. Hierbei mag die Gewichtung je nach Einzeltext und Maßstab für das Höfische verschieden sein, aber das sollte nicht dazu führen, dass ganze Textzweige aus dem Gattungskanon gestrichen werden. Das, was die Dietrichepikforschung als aventiurehaft bezeichnet, wäre dann als Konstituens und nicht als exkludierendes Akzidenz in Rechnung zu stellen. (2) In der Forschung herrscht seit den Arbeiten von Hans-Robert Jauẞ und Klaus Grubmüller Einigkeit darüber, dass man Gattungen nicht substantialistisch, sondern nur über Textreihen sowohl synchron wie diachron bestimmen kann.5 Beim höfischen Roman ist es einigermaßen plausibel, den ‹Erec› als Referenztext zu nutzen, weil er der –  auf die Gesamtreihe gesehen  – Bedingung der Exemplarizität genügt. Ganz anders stellt sich die Sachlage im Bereich der Heldenepik dar: Wenn man – wie dies mehr oder weniger explizit geschieht – das ‹Nibelungenlied› als Ursprungs- und Vergleichsfolie nutzt, dann erhebt man methodisch und logisch unzulässig die Ausnahme zum Paradigma der Gattung. Von dieser unplausiblen,6 aber nichtsdestoweniger meist unhinterfragten Prämisse ausgehend, kann folgerichtig kein anderer Text an diesen ‹Standard› heranreichen. Das ‹Nibelungenlied› ist zweifelsohne in vielerlei Hinsicht ein exzeptioneller Text, dessen ungebrochene Aktualität und Attraktivität sich nicht nur an der unüberblickbaren Masse an wissenschaftlichen Publikationen, sondern auch an zahlreichen Popularisierungsversuchen und Adaptionen zeigt. Diese Vorliebe darf aber nicht zu dem Kurzschluss verleiten, die Sonder- und damit genau besehen Randerscheinung ins Zentrum der Gattung zu rücken.7 So wird der Gattungsrahmen vielmehr dezentriert und verzerrt, das eigentliche Zentrum hingegen in einer Weise marginalisiert, die sich in den zahlreichen Unkenrufen der Disparatheit, Inkohärenz und des Schematismus der nachnibelungischen (!) Heldenepik verbal Bahn bricht und sich nicht zuletzt auch in der stiefmütterlichen Behandlung seitens der Forschung niederschlägt.8 (3) Im Gegensatz zur Chanson de geste mit der Figur Karls des Großen als einheitsstiftender Gestalt fehlt der deutschsprachigen germanischen Heldenepiktradition ein solches sagengeschichtliches Zentrum. Hier gibt es vielmehr mehrere historische Kerne – Siegfried-, Dietrich- und Hildesage –, die zwar auf verschiedenen Ebenen miteinander […].» Gerade das individualistische dieses Ansatzes kann man durchaus in Zweifel ziehen, die Texte zeigen vielmehr einen Helden, der im Dienste des Kollektivs agiert. 5 Vgl. Jauẞ 1977 [1972]; Grubmüller 1999. 6 Die Vorliebe der Forschung für das ‹Nibelungenlied› ist vom Einzeltext aus gesehen durchaus verständlich, seine Zentralstellung innerhalb der Gattung jedoch nicht, weil man aus dem Einzeltext gerade keine generalisierbaren Gattungskonstituenten extrahieren und vom ‹Gattungsprimus› schwerlich der ‹Gattungsdurchschnitt› gebildet werden kann. 7 Millet 2003, S. 147, erkennt zwar, dass das ‹Nibelungenlied› im Bereich der Heldenepik «schlichtweg ungeeignet [ist] als Ansatz zu einer Gattungsbildung», schließt aber überraschenderweise in der Folge alle späteren Texte aus der Gattung aus, als umgekehrt die Repräsentativität des ‹Nibelungenliedes› für die Gesamtgattung kritischer zu beurteilen: «Was in Deutschland unmittelbar nach dem ‹Nibelungenlied› an ‹Heldendichtung› entsteht, ist eine Reihe von Abenteuerbüchern, die weder formal noch inhaltlich eine Beziehung zum Epos aufweisen […].» (S. 147) Es folgen die wenngleich zurückhaltend formulierten, so doch altbekannten Negativurteile, die mittlerweile zum wissenschaftlichen Standard des Schreibens über späte Heldenepik gehören: «Alle diese Texte verbindet unter anderem die serielle Reihung heldenhafter Abenteuer einfachen Zuschnitts, die Präsenz märchenhafter oder fantastischer Antagonisten (Zwerge, Drachen, Riesen), der meist versöhnliche, jedenfalls immer unproblematische Charakter der Helden sowie die in der Regel nur oberflächliche Problematisierung der Handlung.» (S. 148) 8 Vgl. den Forschungsüberblick bei Kerth/​Lienert 2000.

4



1.  Gattungskonstruktion in der mittelhochdeutschen Heldenepik

interagieren, jedoch meistenteils parallel existieren.9 Von dieser Sachlage her rechtfertigt es sich auch nicht, eine Art ‹Nationalepos› anzunehmen. Dessen ungeachtet wird dem ‹Nibelungenlied› abermals eine Frontstellung eingeräumt. Nach der pervertierenden Inanspruchnahme während der NS‑Diktatur wurde das ‹Nibelungenlied› forschungsgeschichtlich rehabilitiert und wird mit allerlei Pathosformeln bedacht, in deren Schatten die anderen heldenepischen Texte nicht bestehen können. Ich will mit diesen Forschungstendenzen innerhalb dieser Arbeit brechen. Zwar ist man sich der oben aufgeführten Einwände durchaus bewusst, die wissenschaftliche Praxis gestaltet sich aber weiterhin ‹Nibelungenlied›‑zentriert. Was Heldenepik ist, was ein Held ist, wird nach wie vor vom ‹Nibelungenlied› her gedacht und alle anderen heldenepischen Texte werden an diesem im Kern gemessen und dadurch nicht als Einzeltexte gewürdigt. Die Rede von der ‹nachnibelungischen› Heldenepik, wie sie v. a. Elisabeth Lienert und Sonja Kerth in der Diskussion geprägt haben,10 offenbart auch die weit verbreitete Forschungsposition, deren Wert bestünde lediglich darin, sich am ‹Nibelungenlied› abzuarbeiten, darauf zu antworten, dieses zu relativieren, zu ironisieren. Der Begriff suggeriert eine intertextuelle Abhängigkeit vom ‹Nibelungenlied›, während es für die Markierung der zeitlichen Relationierung genügte, eine neutrale Bezeichnung wie ‹späte Heldendichtung› o. Ä. zu nutzen. Die Eigenständigkeit der Heldenepik jenseits des ‹Nibelungenliedes› gerät sonst kaum in den Blick. Die Einzeltexte in dieser Hinsicht stärker zu profilieren und eine möglichst forschungsgeschichtlich unbefangene Perspektive auf das weite Spektrum der deutschsprachigen Heldenepik zu werfen, gehört daher zum Kernanliegen meiner Arbeit, zählt doch insbesondere die späte Heldenepik nach Einschätzung Lienerts zu den «prekärsten Gegenstände[n] moderner Mediävistik»11. Die um die Jahrtausendwende getroffene Einschätzung von Kerth und Lienert hinsichtlich der eklatanten Wissenslücken im Bereich der Heldenepik treffen leider nach wie vor zu: Das Grundproblem der Erforschung nachnibelungischer Heldenepik liegt in der völligen Atomisierung. Übergreifende Aspekte – Fragen der Gattungszugehörigkeit, der Zyklusbildung und Intertextualität, der Aspekt Meta-Dichtung (nachnibelungische Heldenepik ist grundsätzlich auch «Dichtung über Heldendichtung»);12 gemeinsame Themen wie Geschichtsperspektive, Herrschafts- und Gefolgschaftsfragen, Kampf und Töten, Heldenbilder – sind kaum übergreifend diskutiert worden.13

Die kritischen Einwände sollten verdeutlichen, dass eine andere Bestimmung einer nicht ‹Nibelungenlied›-zentrierten mittelhochdeutschen Heldenepik geboten scheint und gelingen kann. Eine Reihe verbindender Merkmale ließe sich bei aller Heterogenität hinsichtlich Inhalt, Form und Stil schnell ausmachen, die zuletzt Lienert aufgearbeitet hat.14 Die Schlagworte lauten: Ein historischer Sagenkern liegt als Geltungsbehauptung  9 10

11 12 13 14

Vgl. zu den Sagenkreisen mittelhochdeutscher Heldenepik der germanischen Linie Lienert 2015a, S. 20–23. Vgl. z. B.  Kerth/​Lienert 2000. Lienert 2001, S. 241. Curschmann 1976. Kerth/​Lienert 2000, S. 117 f. Lienerts 2015a Einführung in die mittelhochdeutsche Heldenepik schließt die lange bestehende Lücke bei den Gesamtdarstellungen des ganzen Spektrums der Heldenepik, bei Definition und Abgrenzung der Gattung zumindest mit Blick auf die ‹harten Fakten› der Entstehung und Überlieferung, der Stoffkreise, des Aufbaus, der Nachwirkung der Heldenepen. Sie fokussiert allerdings kaum nicht-philologische, im engeren Sinne literatur- und kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Forschungsergebnisse. Große Defizite zeigen sich daher nach wie vor im Bereich der Poetik, wenngleich sich die Forschungslage für die ‹Kudrun› und für die aventiurehafte Dietrichepik schon gebessert hat. Aber gerade im Bereich der aventiurehaften Dietrichepik

5

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

und Teil des kollektiven Gedächtnisses15 allen Texten – in wie transformierter und umgedichteter Version auch immer  –16 zugrunde. Diese erfüllen –  zumindest dem Anspruch nach – die formative Funktion, die eigene Herkunft zu erinnern und so die Identität der Gemeinschaft zu sichern. Allen Texten eignet, ohne hier in die Details gehen zu wollen, ein intrikates Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Der Held fungiert als Repräsentant eines Kollektivs, die Handlung vollzieht sich innerhalb einer kriegerisch fundierten und hierarchisch geordneten politischen Sozialstruktur, in der die Gefolgschaftsthematik und andere politische Interaktionsformen zentral sind, ab.17 Auch die Aspekte von Formelhaftigkeit, Stereotypie, Wiederholung, Variation und Hyperbolik stimmen überein.18 Entscheidend für die Einheit der mittelhochdeutschen Gattung Heldenepik ist aber ihre immer schon vorgängige Gattungsmischung und damit einhergehend die Hybridität ihrer Heldenfiguren unter Einflüssen des höfischen Romans, aber auch der deutschen Chansons de geste.19

2. Zum interpretatorischen Potenzial einer vergleichenden Betrachtung mittelhochdeutscher Heldenepik germanischer und romanischer Provenienz Es gibt also gute Gründe, die mittelhochdeutschen Heldenepen der germanischen Tradition gemeinsam zu betrachten. Ich schließe mich daher Lienerts neuerlichem Plädoyer für die Beibehaltung der Gattungsbezeichnung Heldenepik und damit einem Zusammenrücken jener fraglich heldenepischen Texte trotz ihrer Inhomogenität an.20 Ich möchte aber noch fallen die Forschungsaktivitäten textspezifisch sehr disparat aus. Während es um das ‹Eckenlied› einigermaßen gut bestellt ist, gibt es faktisch kein Interesse für den ‹Sigenot›. Die Bemühungen zur historischen Dietrichepik haben insgesamt ebenfalls einen Aufschwung erfahren. Vgl. die Ausführungen zum Stand der Forschung in den jeweiligen Textkapiteln dieser Arbeit. Einigermaßen karg steht es immer noch um den ‹Ortnit‑/ Wolfdietrich›‑Komplex. Spezifisch erzähltheoretische Zugriffe auf mittelhochdeutsche Heldenepen versammelt der von Federow/​Malcher/​Münkler 2017 herausgegebene Band «Brüchige Helden – Brüchiges Erzählen». Eine desolate Editionslage muss man heute allerdings dank der Dietrichepik‑Editionen Lienerts und den anderen, in den jeweiligen Interpretationskapiteln verwendeten neueren Editionen nicht mehr beklagen. 15 Zum Begriff des kollektiven Gedächtnisses vgl. Assmann ²1999, S. 21 und 52–55. Zu dessen Verhältnis zu Heldenepen vgl. Heinzle 2000, S. 22; Heinzle 2004, S. 16. 16 Vgl. Heinzle 1994, S. 25, hat dieses charakteristische Umerzählen historischer Fakten auf die Begriffe Reduktion, Assimilation und Koordination gebracht: Die komplexen Ereignisse werden zunächst auf elementare Affekte und Konflikte zurückgeführt (Eifersucht, Rache etc.), dann in traditionelle und einprägsame Erzählschemata transformiert (Brautwerbung, treuloser Ratgeber etc.) und ggf. zyklisch zusammengeschlossen. 17 Vgl. Friedrich 2014, S. 175; Kerth 2007, S. 33; Müller 1993, S. 124. 18 Vgl. Meisig 2010, S. 169. Müller ³2009, S. 61, plädiert dafür, dies dem ‹Nibelungenlied› nicht als Inkohärenz anzulasten. Der Eindruck des Disparaten –  nicht nur des ‹Nibelungenliedes›  – erklärt sich nicht nur vor dem anachronistischen Zugriff ausgehend von modernen Erwartungen an Geschlossenheit und Handlungsmotivation, sondern v. a. durch den Vorrang paradigmatischen und episodenhaften Erzählens gegenüber syntagmatischer Progression. 19 Vgl. Kerth 2007, S. 33–35; Wyss 2000, S. 20; Heinzle 1978, S. 264; Kern 2000, S. 93. Davon abzusetzen ist der Hybriditätsbegriff von Miklautsch 2005, die eine mehr oder weniger bewusste Vermischung narrativer Muster verschiedener Gattungen und eine Überlagerung mehrerer Rollentypen in der Heldenfigur anhand der ‹Wolfdietriche› annimmt. 20 Vgl. Lienert 2015a, S. 14–16. Sie begründet dies mit der Bestimmbarkeit von Gattungskonstituenten in Relation zu den anderen großepischen Gattungen, insbesondere zum höfischen Roman, und mit Indizien für ein mittelalterliches Gattungsbewusstsein. Kritischer sehe ich hingegen –  das sollte deutlich geworden sein – Lienerts weitere Begründung für einen Gattungsbegriff Heldenepik, in der sie davon ausgeht, dass das

6



2.  Zum interpretatorischen Potenzial einer vergleichenden Betrachtung

einen Schritt weiter gehen und vergleichend auch Heldenepen der französischen Tradition einbeziehen, die im Zuge des allgemeinen Kultur- und Literaturtransfers in hochhöfischer Zeit den Weg in den deutschsprachigen Raum gefunden haben. Dieses vielleicht extravagant zu nennende Zusammendenken zweier Traditionslinien erscheint ebenso reizvoll wie erklärungsbedürftig. Warum, darf man polemisch zugespitzt fragen, sollte man etwa das ‹Rolandslied› und aventiurehafte Dietrichepik, warum Wolframs von Eschenbach ‹Willehalm› und das ‹Nibelungenlied› vergleichend betrachten? Unter welchen Voraussetzungen ist das statthaft und welchen interpretatorischen Mehrwert kann man sich davon versprechen? Bevor ich dies begründe, muss zunächst einiges Grundsätzliches zur französischen Heldenepik dargestellt werden. Bernd Bastert definiert das Erzählregister anhand der Figuren, der Geografie und Chronologie: Unter dem europaweit verbreiteten Erzählregister der Chanson  de  geste sollen (groß‑)epische Texte narrativen Charakters verstanden werden, die in der Regel in der merowingisch‑karolingischen Epoche spielen, deren Schauplätze in etwa das Gebiet des karolingischen Reiches und dort insbesondere die Ränder und Überschneidungszonen mit nichtchristlichen Kulturen (einschließlich des Heiligen Landes und des Vorderen Orients) umfassen, und deren handelnde Figuren historische wie fiktive Personen aus der merowingisch‑karolingischen Dynastie sowie deren Verbündete und Gegner samt deren Nachkommen bilden.21

Es gibt relativ feste Konturen der Gattung, die fast ausschließlich stofflich determiniert sind. Die Texte gerieren sich darüber hinaus in unterschiedlicher Intensität als Historienerzählungen. Die Einheit der Chansons de geste steht in der Romanistik nicht in Frage, obwohl man auch dort durchaus gewisse Disparitäten ausmachen kann. Diese werden aber durch verschiedene Subkategorisierungsversuche aufgefangen, führen jedenfalls nicht zum Auseinanderfallen der Gattung im Lichte der Forschung wie in der Germanistik bei den Heldenepen germanischer Provenienz.22 Die Kohärenzstiftung gelingt in den Chansons de geste wesentlich durch die Figur Karls des Großen, durch die Zyklusbildung der Gattung und durch die heilsgeschichtliche Fundierung der Texte über die ­Heidenkriegsthematik. Bastert kann daher wie folgt die deutschen Übertragungen bestimmen: Unter deutschen Chanson de geste‑Adaptationen oder -Bearbeitungen sollen diejenigen Texte verstanden werden, auf die einerseits die allgemeine Charakterisierung des Erzählregisters Chanson  de  geste zutrifft, und die andererseits direkt oder indirekt, z. B. über niederländische Zwischenstufen, mit hinreichender Sicherheit auf französische Quellen des 12. bis 15. Jahrhunderts zurückzuführen sind ‹Nibelungenlied› «Ausgangstext und Muster für die meisten mittelhochdeutschen Heldenepen» (S. 15) sei. Auch im Kapitel «Heldenepisches Erzählen – heldenepische Sinnkonstitution» (S. 169–187) liefert sie Indizien, die ein Zusammendenken der Heldenepen rechtfertigt: Gemeinsamkeiten in der Erzählhaltung (Schemata, Semantisierung von Raum und Zeit, paradigmatisches Erzählen), im Umgang mit Geschichtlichem und in selbstreflexiven Momenten. 21 Bastert 2010, S. 74. 22 Üblicherweise unterscheidet man in der Romanistik die Chansons de geste nach der innerliterarischen Klassifikation von Bertrand de Bar‑sur‑Aube im ‹Girart de Vienne› (V. 11–47), die thematisch die Königsgesten (‹Cycle du roi›), die Wilhelmsgesten (‹Cycle de Guillaume d’Orange› bzw. ‹Cycle de Garin de Monglane›) und die Empörergesten (‹Cycle de vassaux révoltés›, ‹Cycle de Doon de Mayence›) differenziert. Die Einteilung ist aus mehreren Gründen nicht konsistent und daher nur eingeschränkt tauglich. Während zwei Zyklen nach einem genealogischen Prinzip funktionieren, fügen sich die Königsgesten nicht recht ein. Nur die Wilhelmsgesten wurden dem Überlieferungsverbund zufolge zeitgenössisch als Einheit empfunden. Die Kategorisierung erfasst zudem nur die frühen Chansons. Zu anderen Kategorisierungsversuchen s. u.

7

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen oder auf so entstandene deutsche Texte, unter Beibehaltung der literarischen Figuren sowie seinen Chronotopos, reagieren.23

Neben den trennenden Aspekten der Zyklizität und der Kopplung Held‑Heiliger, gibt es aber mehr thematische Berührungspunkte der deutschen und französischen heldenepischen Texttraditionen, als man zunächst vermuten mag:24 Die Texte verhandeln jeweils permanent Fragen von Herrschaft und damit untrennbar zusammenhängend Gefolgschaft, triuwe und Verrat (entweder im Kontext des Heidenkriegs, bei Sippen- oder Vasallitätskonflikten); auch hier gibt es einen Zusammenhang zum Geschichtlichen und fingierte Oralität; auch hier wirkt der Einfluss des höfischen Romans; auch hier wird vom Brauterwerb als Politikum berichtet, das freilich ebenso durch ein Minneideal überformt sein kann. Betrachtet man neue Kategorisierungsversuche zur französischen Heldenepik, wie die thematisch zentrierte Unterteilung von François Suard,25 so zeigen sich die Parallelen deutlich: Unter Typ A, der kriegerische, religiöse Auseinandersetzung zwischen Christen und Heiden verhandelt, werden die Königsgesten, Wilhelmsgesten und Kreuzzugsgesten subsumiert. Typ B bearbeitet feudaladlige Themen wie Vasallitäts- und dynastische Konflikte und deren (kriegerische) Bewältigung oder Scheitern und umfasst die Empörer- und Geschlechtergesten. Typ C schließlich, die sog. ‹Chansons d’aventures›, stellen Texte, die zwar meist im karolingischen Chronotopos spielen, sich aber trotzdem durch eine große Anzahl fantastischer Motive auszeichnen. Sie vereinen Fantastik, Transgressionen und Verwerfungen auf verschiedenen Ebenen (zwischen den matières, zwischen den Geschlechtern [cross‑dressing, Geschlechterwechsel], zwischen den Religionen und Kulturen) und ‹romanhafte› Elemente wie Verwechslungen, Vertreibungen, Wiedervereinigungen oder ritterliche und erotische Abenteuer.26 Das ist insofern interessant, als sich die deutschen Übertragungen im hier betreffenden Zeitraum bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts vorrangig aus Typ A und C speisen,27 also durchaus am Aventiurehaften, das auch in der ‹heimischen› Heldenepiktradition tragend ist, partizipieren. Die Chanson de geste‑Adaptationen rund um den Heidenkrieg (Typ A) integrieren Herrschafts- und Gefolgschaftsproblematiken, die auch in den Heldenepen germanischer Tradition systematische Relevanz besitzen. Das breite Themenspektrum der französischen Texte machte sie disponibel für verschiedene Vereinnahmungen, aber auch interessant für den Literatur- und Kulturtransfer, der jedoch keinem Automatismus unterlag. Die Chansons de geste werden durch die Adaptationen transcodiert und verlieren dabei ihr heldenepisches Substrat, weil sie im deutschsprachigen Raum auf kein gemeinsames Sagengedächtnis rekurrieren können und entsprechend auch Mündlichkeitssignale ausfallen.28 Bastert arbeitet die kompensierenden Tendenzen der Integration der Importliteratur in den deutschen Kultur23

Bastert 2010, S. 74. Formale Aspekte bleiben unberücksichtigt, da die Texte hierin sowohl innerhalb einer Traditionslinie als auch im Vergleich disparat verfahren: stichisch vs. strophisch, Präsenz vs. Zurückhaltung des Erzählers, Anonymität vs. Namensnennung des Autors usw. 25 Vgl. Suard ²2003, S. 79 f. 26 Vgl. Bastert 2010, S. 38 f. 27 Vgl. für die zeitlich und räumlich differenzierten Rezeptionswellen, die auch verschiedentlich auf die Typenvielfalt der Chansons de geste zurückgreifen, ebd., S. 314 und 333. 28 Vgl. Bastert 2012, S. 65 und 70 f. 24

8



2.  Zum interpretatorischen Potenzial einer vergleichenden Betrachtung

raum heraus: Zum einen werden die Einzeltexte aus ihren ursprünglichen Zyklen gelöst, zugleich werden neue zyklische Valenzen ausgebildet durch Anschluss an einheimische Stofftraditionen.29 Im ‹Rolandslied› greift Konrad mehrfach auf deutsche literarische Traditionen zurück, die es dem ‹Selbstverständnis› des Textes zufolge als heldenepisch ausweisen;30 der ‹Willehalm› ist gespickt mit ‹Rolandslied›‑Allusionen, dessen episches Geschehen dem ‹Willehalm› vorausgehend imaginiert wird; Strickers ‹Karl› geriert sich dann folgerichtig als Vorgeschichte zum Willehalm, auf den am Ende referiert wird, und verlängert die Geschichte um die Jugenderzählung Karls i. S. der Mainet‑Sage, deren textuell eigenständige Fassung sich dann schließlich in ‹Karl und Galie› findet. Solche Ansätze zur zyklischen Vernetzung der Texte sind auch den ‹heimischen› Heldenepen durchaus nicht gänzlich fremd. Das Auftreten des Dietrich der (historischen) Dietrichepik im ‹Nibelungenlied› verbindet beide Stoffkreise miteinander; die aventiurehafte Dietrichepik verzahnt die Texte intern zum Teil stärker; auch der ‹Ortnit‑/Wolfdietrich›‑Komplex liefert hierzu ein instruktives Beispiel.31 Zum anderen wird das polyvalente, facettenreiche Bild Karls in der französischen Heldenepik im Zuge der Adaptationen positiv vereindeutigt im Modell des miles christi unter Ausblendung mythisch‑nationaler Funktion der Karlsfigur.32 Schon das deutsche ‹Rolandslied› beschreibt Karl als Heiligen. Die Hagiografisierungstendenz schreibt der ‹Karl› in einer Art Heiligenvita fort. Im ‹Willehalm› führt dies gar zur Wucherung von Heiligkeit.33 Die Partizipation der Adaptationen am legendarischen Muster ist für den heldenepischen Kulturvergleich v. a. mit Blick auf weibliches Heldentum von großem Interesse: Hagiografische Versatzstücke nutzt etwa die ‹Kudrun› zur Darstellung der Titelheldin während ihrer Gefangenschaft.34 Ähnliches lässt sich auch in ‹Karl und Galie› und ‹Morant und Galie› zur Profilierung Galies und ihrer Freundinnen beobachten, nur mit dem Unterschied, dass hier tatsächlich eine religiöse Konversion erfolgt. Ich komme darauf en  detail in den Einzeltextinterpretationen zurück, mir ging es nur darum, aufzuzeigen, dass sich selbst im Bereich der Heiligkeit des Figureninventars Parallelen beider Traditionszweige finden. Die Erforschung der deutschsprachigen Chanson de geste‑Rezeption steckt zwar nicht mehr in grundlegenden Anfängen fest, aber es gibt noch einigen Erkenntnisbedarf.35 Die Germanistik interessierte sich – analog zur Romanistik – v. a. für die Ursprünge der Gattung und beschäftigt sich im Feld der Adaptationen intensiver nur mit dem ‹Rolandslied› und dem ‹Willehalm›, wobei eigentlich nur der ‹Willehalm› wirklich wertgeschätzt 29 Vgl.

Bastert 2010, S. 169–257. Im ‹Rolandslied› finden sich Querverweise auf Stoffe, Motive und Figuren, wie sie sich (später) verschriftlicht in der ‹Kudrun›, im ‹Biterolf und Dietleib› und im ‹Salman und Morolf› finden. 31 Der unikal überlieferte ‹Ältere Sigenot› geriert sich mit den Schlussversen Sus hebt sich Eggen liet (ÄS 44,13) als Vorgeschichte zum ‹Eckenlied›, das in der Handschrift (Cod. Donaueschingen 74) unmittelbar folgt. Die Verbindung ist weiterhin durch die Ausrüstungsgegenstände Dietrichs hergestellt: Über den Helm Hiltegrin wird im ‹Eckenlied› an Dietrichs Kampf gegen die Riesen Hilte und Grin erinnert, der analeptisch im ‹Sigenot› eingespielt wird. Der Zusammenhang von ‹Ortnit› und ‹Wolfdietrich› ist durch die Heirat Ortnits mit der Witwe Wolfdietrichs gestiftet. 32 Vgl. Bastert 2010, S. 269–367. 33 Willehalm und Gyburc werden als Heilige adressiert, der Text lässt aber offen, worin genau diese Heiligkeit besteht. Der Tod des Heiden Tesereiz wird als Martyrium – allerdings der Minne – gekennzeichnet und mit dem von Wundern begleiteten Sterben des christlichen Vivianz parallelisiert. 34 Vgl. Schmitt 2002, S. 175–216. 35 Vgl. den forschungsgeschichtlichen Abriss bei Bastert 2010, S. 60–67. 30

9

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

wird. Zu den Übertragungen im niederdeutschen Sprachgebiet im 13. Jahrhundert und zur späten Rezeptionswelle am Saarbrücker und Heidelberger Hof im 15. Jahrhundert gibt es nur vereinzelte Forschungsbemühungen. Dass die deutsche Chanson  de  geste‑Rezeption in Gänze betrachtet seitens der germanistischen Mediävistik vernachlässigt wurde, hängt einerseits mit dem vorrangigen Interesse an der ‹eigenen› Heldenepik zusammen, andererseits mit dem Fokus auf die hochhöfischen Klassiker um 1200, wodurch später entstandene Texte weniger Aufmerksamkeit erhalten. Des Weiteren führt die Konzentration auf mittelhochdeutsche Texte zur Marginalisierung von mittelniederdeutschen und mittelniederländischen Texten, für die sich dann weder mediävistische Germanistik noch Niederlandistik zuständig fühlt. Die Haltung beginnt sich insgesamt zu wandeln, wenngleich die aktuell umstrittene Frage nach der Eigenständigkeit einer Gattung der Chanson de geste‑Adaptationen im 13. Jahrhundert nicht die Frage nach den Potenzialen eines vergleichenden Blicks auf romanische und germanische Traditionszweige der Heldenepik eintrüben sollte.36 Während es für die Forschungen zum Minnesang und zum höfischen Roman eine Selbstverständlichkeit ist, den literarischen Einfluss der französischen Tradition nicht nur zu registrieren, sondern auch interpretatorisch fruchtbar zu machen, wird dieses Zusammendenken französischer und ‹heimischer› Tradition im Bereich der Heldenepik höchstens rudimentär praktiziert, meist jedoch noch gar nicht ins Kalkül gezogen. Man mag die herangezogenen Vergleiche bei Wolf für die Einzeltexte mitunter beliebig und wenig schlagend finden, im Grundsatz möchte ich seiner Einschätzung aber zustimmen: Bei der engen Verflechtung der deutschen Literatur mit der französischen im 12. Jh. ist auch das Verhältnis zwischen ‹Nibelungenlied› und Chanson de geste in die Betrachtung einzubeziehen. Daß man in dieser Hinsicht bei den meisten Fachkollegen auf Unverständnis stößt, sollte kein Grund zur Resignation sein.37

Insgesamt gibt es erste Versuche und Appelle in der Forschung, die Chanson  de  geste‑Adaptationen stärker in die eigene Bestimmung von Heldendichtung einzubeziehen, in die ich mich hier einreihen möchte.38 Ich greife diese punktuellen Vergleiche in der Forschung auf und versuche, das Potenzial dieser Idee systematisch auszuloten. Ziel ist ein komparatistischer Überblick eines größeren Textausschnitts aus beiden heldenepischen Registern, derer es in der Forschung mangelt. Das Verhältnis von höfischem Roman, Chanson de geste und später Heldenepik genauer zu betrachten, wird der Offenheit der Texte am ehesten gerecht.39 Diese Offenheit darf nicht als unvereinbare Heterogenität 36 Während Hennings

2008, S. 13, die Adaptationen als «zufällige Tupfer im Gemälde einer gewaltigen Literaturlandschaft» bestimmt, differenziert Bastert 2010, S. 115–120, diesen Befund hinsichtlich drei zeitlich‑geografisch divergierenden Rezeptionswellen der französischen Heldenepen im deutschsprachigen Raum, die jeweils unterschiedlich auf die Typenvielfalt der Texte zugreifen. 37 Wolf 1995, S. 272. 38 Einflüsse auf die germanische Heldenepiktradition sieht Kerth 2007, S. 35, nicht nur seitens des höfischen Romans, sondern auch seitens der Chansons de geste. 39 Kerth/​Lienert 2000, S. 117, geben zu bedenken, dass die strukturelle Heterogenität der späten Heldendichtung der germanischen Tradition, die für die aventiurehafte Dietrichepik mit den Arbeiten von Heinzle 1978 und für die ‹Kudrun› mit den Arbeiten von Schmitt 2002 erarbeitet wurde, damit eine große Nähe zu den ebenfalls stark hybriden deutschen Chansons de geste hat. Schmitt, die die ‹Kudrun› als literarisches Experiment und artifizielles Heldenepos aufwertet, sieht nicht nur Anknüpfungen an den höfischen Roman und einen Bezug zur frühmittelalterlichen Spielmannsdichtung, sondern kann auch eine produktive Anknüpfung an hagiografische Texte für die Darstellung weiblichen Heldentums plausibel machen. Ich komme darauf im Rahmen

10



3.  Textkorpus in rezeptionsorientierter Perspektive

der Texte verkannt werden, sondern ist Resultat der intertextuellen Ambivalenzen in der Überblendung verschiedener narrativer Traditionen, wodurch die Gattung anschlussfähig und flexibel im Feld der anderen Gattungen bleiben konnte.40 Die tertia comparationis, unter denen ich die germanische und die romanische Heldenepiktradition vergleichen und so den gemeinsamen Gattungshorizont gleichsam konkretisieren will, sind Freundschaft und Herrschaft. Gerade unter diesen beiden Gesichtspunkten zeigt sich eine frappierende Nähe beider Traditionslinien, die ich eingangs kursorisch umrissen hatte. Der Stellenwert von Freundschaft ist relativ zentral, die Funktionalisierungen dieser Beziehungsform lassen sich parallelisieren, die narrativen Ausfaltungen auf schematischer Ebene (Figurenprofil, Handlungsverlauf) lassen gar übergreifende Regelmäßigkeiten hervortreten. Entscheidend ist hierbei auch der erzählerische Ort des Rückgriffs auf Freundschaftsformationen, der in beiden Traditionslinien fast gesetzesmäßig ausgeprägt zu sein scheint: Immer genau dann, wenn Herrschaft in die Krise gerät, wird eine Freundschaft installiert oder aktiviert, die dieses Vakuum füllt und Herrschaft stabilisiert. Dieser thesenhafte Befund, den es in den Einzeltextanalysen konkret zu unterfüttern gilt, ist umso erstaunlicher, als die vorliegenden Texte nicht nur zwei kulturellen Traditionslinien entspringen, sondern innerhalb der Chanson  de  geste‑Adaptationen die Texte zusätzlich noch mehreren Sprachräumen41 zuzurechnen sind. Trotz der zweifachen Spannungslage von kultureller und sprachlicher Landschaft innerhalb des Korpus zeichnen sich analoge Modellierungen der Verklammerung von Herrschaftsproblematiken und Freundschaft ab, die es nicht zuletzt und nachdrücklich geboten erschienen lassen, die Texte vergleichend zu behandeln. Das der Gattungsstatus und der gattungsmäßige Zusammenhalt über die beschriebene Spannungslage prekär ist, stellt keine unüberwindliche Hürde dar. Wenn man die Texte beider Traditionslinien unter den Aspekten ‹Freundschaft› und ‹Herrschaft› zusammenbindet, dann zeigt sich ein eigenständiges Profil, das man durchaus ‹heldenepisch› nennen kann, insofern es sich gegen andere Gattungsangebote absetzt. Das lässt sich allerdings in den engen Grenzen eines klassisch-ontologischen Gattungsbegriffs nicht fassen. ‹Heimische› und importierte Heldenepik finden auf die Frage ‹Wie ist Herrschaft möglich?› eine ähnliche Antwort: Freundschaft.

3.  Textkorpus in rezeptionsorientierter Perspektive Ausgangspunkt der Textauswahl ist ein doppeltes Unverständnis: Einerseits darf man hinterfragen, warum die (gegenüber dem Feld des höfischen Romans ohnehin abgeschlagene) Heldenepikforschung grob geschätzt 90 % ihrer Aktivitäten ausschließlich auf das ‹Nibeder Frauenfreundschaften zurück. Wichtig erscheint mir in Anlehnung an Schmitt, dass Erzählprinzip der Montage als grundlegend für die Heldenepik zu begreifen. 40 Kern 2000, S.  104, vergleicht diesen Prozess mit dem von Stierle 1980, S. 254, als «Verwilderung des Romans» bezeichneten Phänomens. Schon Heinzle 1978, S. 266, stellt fest, dass die immanente Spannung der Gattungsmischung das Fortleben der aventiurehaften Dietrichepik über Jahrhunderte hinweg garantierte. 41 ‹Willehalm› und ‹Rolandslied› entstammen dem oberdeutschen Raum, wobei das ‹Rolandslied› den Überlieferungszeugen zufolge auch mittel- bzw. niederdeutscher Herkunft sein könnte, während sich die Tradierung des ‹Karl› klar auf den bairisch‑österreichischen Raum erstreckt. Vgl. zur komplementären Überlieferungsdistribution von ‹Rolandslied› und ‹Karl› Bastert 2003a. ‹Karl und Galie› und ‹Morant und Galie› sind dem niederrheinischen Raum und damit einer sprachlichen Kontaktzone zuzurechnen.

11

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

lungenlied› verlagert und sich damit schon im Bereich der Heldenepen germanischer Tradition einer Vielzahl höchst spannender Texte beschneidet. Andererseits darf man es zumindest merkwürdig finden, dass es im Bereich des Minnesangs und des höfischen Romans zum guten wissenschaftlichen Ton gehört, die jeweilige französische Vorlage oder die Einflüsse der Nachbarliteratur jenseits konkreter intertextueller Abhängigkeiten in die Interpretation einzubeziehen, während die Heldenepik gerade nicht in einem größeren kulturellen Zusammenhang verortet wird.42 So bleiben große Erkenntnispotenziale brachliegen. Meine Arbeit möchte durch Fragestellung und Textauswahl dazu beitragen, Heldenepik aus dieser doppelten Nischenexistenz bzw. Schieflage herauszuholen. Im ersten interpretatorischen Zugriff möchte ich mit den Heldenepen französischer Provenienz starten, wobei ich hier wie auch im zweiten Interpretationsdurchgang bei den Heldenepen der germanischen Tradition nicht chronologisch die Texte ihrem mutmaßlichen Entstehen nach behandeln werde. Es ist mir nicht um eine Interpretation der Texte gemäß ihrer (ohnehin vielfach spekulativen) chronologischen Ordnung des Entstehens zu tun. Ich ordne die Heldenepen vielmehr von einem rezeptionsorientierten Standpunkt in der Mitte des 13. Jahrhunderts aus nach innerliterarischen Kriterien. In diesem Sinne folge ich Judith Klingers für andere Zusammenhänge angewandte Vorgehen und Zielsetzung: «Die Reihenfolge der Analysen soll […] keine historische Entwicklung suggerieren; ich beschreibe vielmehr synchrone Variationsmöglichkeiten unterschiedlicher Ausrichtung und Komplexität.»43 Es geht mir nicht um eine Genese der Freundschaftskonzeption in Heldenepen, sondern um deren höchst variable Ausgestaltung, um deren inhaltliches sowie formales Spektrum. Da ich jenen rezeptionsorientierten Zusammenhang beider Traditionslinien fokussiere, kann die Wahl des Zeitraums nur auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts fallen – wohl wissend, dass die Adaptation französischer Heldenepen auf deutschem Sprachgebiet erst im 15. Jahrhundert ein zahlenmäßig und hinsichtlich der bearbeiteten Stoffkreise umfänglicheres Ausmaß annimmt. Zu diesem Zeitpunkt aber kann man den ‹Sitz im Leben› der ‹heimischen› Heldenepen nur unsicher beurteilen. Einiges scheint von archivarischem Interesse (‹Kudrun›), anderes (‹Sigenot›) wird noch bis ins Druckzeitalter rege tradiert. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zeichnet sich der erste große Verschriftlichungsschub ‹heimischer› Heldenepen und gleichzeitig eine erste Welle deutschsprachiger Übertragungen französischer Heldenepen ab, sodass dies den zeitlichen Rahmen der Arbeit abgibt. Mit den nicht‑‹heimischen› Heldenepen zu beginnen, ermöglicht es, einen Blick auf die Texte einzunehmen, der relativ unverstellt ist von Forschungsmythen und Klischeebildung. Mit Wolframs ‹Willehalm› und den ‹Rolandslied›-Versionen des Pfaffen Konrad und des Stricker bewegt man sich zwar noch innerhalb der einigermaßen kanonischen Texte der Germanistik, die sich insgesamt aber noch immer wenig mit dieser Import42

Freilich lassen sich Gründe für diese wissenschaftsgeschichtlich gewachsene Tradition anführen, die nicht unwesentlich in der oben bereits geschilderten Gattungsproblematik – was ist und welche Texte sind unter Heldenepik zu verstehen  – und den damit einhergehenden Einschätzungen ästhetischer Minderwertigkeit weiter Teile der Heldenepik wurzeln. Zugespitzt lautete eine ‹Begründung› etwa so: Wenn es schon keinen Konsens gibt, welche Texte der ‹eigenen› heldenepischen Tradition zuzurechnen sind und sie damit aus dem Gattungsraster herausfallen und man diese obendrein für schlechte Texte hält, dann muss man auf sie keine besonderen Anstrengungen verwenden und dann muss man erst recht keine innerliterarischen Zusammenhänge mit den gattungsmäßigen Pendants der französischen Literatur zu eruieren versuchen. 43 Klinger 2010, S. 191 f.

12



3.  Textkorpus in rezeptionsorientierter Perspektive

literatur im Bereich der Heldenepik beschäftigt hat. Für den ‹Willehalm› und die ‹Rolandslied›-Varianten ist die Forschungslage umfassend, was die Favorisierung der ober- bzw. mitteldeutschen Literaturlandschaft und die Vorliebe für literarische Ursprünge selbst im Bereich der Chanson de geste‑Adaptationen zeigt. Die mittelhochdeutsche Heldenepik mit französischen Wurzeln entfaltet sich zwar erst im Spätmittelalter quantitativ stärker, sucht man aber nach weiteren Texten dieses Traditionszweiges bis zum Ende des anvisierten Untersuchungszeitraums um 1250, so fallen zwei Texte auf, die man bisher höchstens in sehr kleinen Fachkreisen registriert hat: ‹Karl  und  Galie› und ‹Morant  und  Galie›. Diese beiden Texte sind 1210/1215 bzw. 1220/1225 in Köln bzw. Aachen entstanden und wurden um 1400 in der ‹Karlmeinet›‑Kompilation zusammen mit weiteren Erzähltexten zum Leben Karls zusammengefügt, die uns in einer Handschrift von 1470 (A) erhalten ist. ‹Morant und Galie› geriert sich als Fortsetzung zu ‹Karl  und  Galie›, französische Vorlagen oder mittelniederländische Transferstufen sind nicht erhalten. Entstanden in einem sprachlichen und kulturellen Mischraum, haben diese Texte bisher kaum Beachtung in der Forschung gefunden. Es bietet sich an, mit diesen beiden Texten zu beginnen, weil sie eine Fülle an Freundschaftsdarstellungen beinhalten, deren Exemplarizität sich in den nachfolgenden Textanalysen erweisen wird. ‹Karl und Galie› und ‹Morant und Galie› können dergestalt zur Grundierung des Feldes genutzt werden, insofern hier keine, den Blick schon verengende Forschung betrieben wurde. Die Reihe der Heldenepen französischen Ursprungs setzt das ‹Rolandslied› fort. Ich werde die drei Varianten von der französischen Vorlage über Konrad bis zum Stricker hinsichtlich der Freundschaftsdarstellungen vergleichen, um so die Schwerpunktsetzungen in den beiden mittelhochdeutschen Bearbeitungen herauszustellen. Konrads ‹Rolandslied› entstand zwar vor dem hier angesetzten zeitlichen Untersuchungsrahmen, ist aber unverzichtbar, um die Bearbeitungstendenzen in Strickers ‹Karl› deutlich herauszuarbeiten. Den Abschluss der ersten Textreihe bildet der ‹Willehalm› mit seiner französischen Vorlage, der ‹Bataille d’Aliscans›, weil sich dieser Text – ähnlich wie das ‹Nibelungenlied› in der Textreihe der germanischen Tradition – hinsichtlich der Behandlung der Themen Freundschaft und Herrschaft absetzt. Während Freundschaft in den anderen Texten selbst noch im Tod sozial konstruktiv wirkt, kann man das so ungebrochen vom ‹Willehalm› nicht behaupten: Willehalm bleibt mit seiner Trauer um Rennewart isoliert und der Text bricht ab. Dieses Problem stellt sich für die französische Vorlage nicht, weil Renoarts Schicksal geklärt wird, weswegen der Rückgriff auf die Vorlage zu Kontrastierungszwecken hier besonders geboten erscheint. Mit Blick auf die männlichen Kriegerfreundschaften zahlt sich der Vergleich mit dem ohnehin intertextuell adressierten ‹Rolandslied› und der dort dargestellten Konstellation der Waffenbruderschaft aus und wird erweisen, dass diese Einheitlichkeit suggerierende Bezeichnung textuell je verschiedene Ausgestaltungen erfahren kann. Die zweite interpretatorische Reihe der Heldenepen der germanischen Tradition wird durch die ‹Kudrun› eröffnet, um sie frei von der weiterhin dominierenden Deutungshypothese, es handle sich um eine harmonisierende Antwort auf das ‹Nibelungenlied›, die sich mit Blick auf die Freundschaftsthematik gerade nicht bestätigt, interpretatorisch befragen zu können. Gerade im Bereich der Frauenfreundschaften erweist sich der vergleichende Blick auf ‹Karl und Galie› und ‹Morant und Galie› als besonders fruchtbar. Danach folgt eine Untersuchung der Freundschaft zwischen Dietrich und Hildebrant, die anhand einiger 13

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

aventiurehafter Dietrichepen, vorrangig der ‹Virginal›, erarbeitet wird. Mit ‹Sigenot› und ‹Rosengarten› gehe ich zwar – wenngleich bei der Dietrichepik vielfach keine Sicherheit in Datierungsfragen zu gewinnen ist – über den Untersuchungszeitraum etwas hinaus, dies scheint aber statthaft, um die Konstanz der Beziehung Dietrich‑Hildebrant innerhalb der aventiurehaften Dietrichepik aufzuzeigen und sie vor möglichst breiter Materialbasis zu konturieren. Für die Dietrich‑Hildebrant‑Freundschaft ist v. a. der Vergleich zur ebenfalls durchaus agonal angelegten Roland‑Oliver‑Freundschaft aus den Texten des Roland‑Stoffs erhellend. Zugleich möchte ich versuchen, die Funktion Wolfharts im Zusammenspiel mit Dietrich und Hildebrant zu bestimmen, zu deren Freundschaft er optional in den Dietrichepen hinzutreten kann, ohne dass er selbst zu einer Freundesfigur wird. Den Abschluss bildet das ‹Nibelungenlied› aus ähnlich gelagerten Gründen wie beim ‹Willehalm›: Freundschaft vermag ihr prinzipielles Potenzial zu sozialer Kohäsion nicht mehr auszuspielen – die Freundschaften auf der Ebene der Königspaare werden in ihrem Scheitern vorgeführt, die gelingenden Kriegerfreundschaften unterhalb der Herrschaftsebene können im Sog des Untergangs wenig ausrichten oder treiben diesen gar noch voran. Für die Freundschaften des ‹Nibelungenliedes› können im Vergleich zum Rest des Textkorpus sinntragende Abweichungen von der äußeren Anlage und/oder inhaltlichen Ausgestaltung verzeichnet und interpretatorisch fruchtbar gemacht werden. Daneben erscheint es im Licht der eingangs angestellten gattungskonstitutiven Überlegungen zur Heldenepik nur konsequent, den ‹Willehalm› und das ‹Nibelungenlied› ihrem mehrfach ausgeprägten Sonderstatus (nicht zuletzt innerhalb der Forschung) folgend gerade nicht ins Zentrum der Untersuchung zu stellen, sondern sie am Ende der jeweiligen Untersuchungsreihe zu platzieren. Erst vor dem Hintergrund der prinzipiell positiven Funktionalisierung von Freundschaft für Herrschaft im ‹Durchschnitt› der mittelhochdeutschen Heldenepen kann der außergewöhnliche Umgang mit dem Komplex ‹Freundschaft› im ‹Willehalm› und im ‹Nibelungenlied› registriert werden. Andere Texte der Heldenepik, die für die Thematik interessant gewesen wären, wie beispielsweise ‹Biterolf  und  Dietleib›,44 der ‹Rennewart› Ulrichs von Türheim45 oder die späten Chanson  de  geste‑Adaptationen um den Heidelberger oder Saarbrücker Hof hätten den gesetzten zeitlichen Untersuchungsrahmen gesprengt, den man sich allerdings setzen muss, soll – ganz pragmatisch – das Korpus nicht ausufern und soll die rezeptionsorientierte Sichtweise nicht durch eine zu weite zeitliche Ausdehnung fragwürdig werden. Wiederum andere Heldenepen, die zwar in den Zeitraum fallen, aber kaum bzw. nur ansatzweise das Thema der Freundschaft verhandeln, wie das ‹Eckenlied›, oder nur in bestimmten Fassungen, wie der ‹Ortnit‑/Wolfdietrich›‑Komplex, werden auch nicht ­berücksichtigt. Insgesamt möchte ich für die konkrete interpretatorische Arbeit ein im Lichte der Thematik kohärentes Korpus zusammenbinden, dessen Exemplarizität sich sowohl für die Gattung Heldenepik wie für das Feld der Freundschaft im Textdurchgang erhellt. 44

Beim ‹Biterolf  und  Dietleib› liegen die Dinge hinsichtlich der Freundschaftsdarstellung von Dietrich und Hildebrant ähnlich wie in den aventiurehaften Dietrichepen. Hinsichtlich Dietrichs Widerwillen, gegen Siegfried zu kämpfen, und hinsichtlich des anschließenden Streits mit Hildebrant und der Rolle Wolfharts zeigen sich Parallelen konkret zum ‹Rosengarten›, sodass der Ausschluss von ‹Biterolf und Dietleib› insofern kompensiert ist. 45 Auf den ‹Rennewart› komme ich im ‹Willehalm›‑Kapitel allerdings gelegentlich zu sprechen, um bestimmte Punkte weiter zu untersetzen. Eine Gesamtinterpretation kann das freilich nicht ersetzen.

14



4.  Freundschaft als Analysekategorie

Die Zusammenstellung der Texte und der in ihnen bearbeiteten Freundschaftskonstellation soll zudem implizite Prämissen bzw. Vorstellungen, die sich von der Lektüre des ‹Nibelungenliedes› bzw. dem sich daran anschließenden Forschungsdiskurs ableiten lassen, hinterfragen. Man könnte nämlich geneigt sein, Freundschaft in der Heldenepik vorschnell auf rein männliche Figurenkonstellationen, konkreter Waffenbruderschaft bzw. Kampfgenossenschaft, zu verengen, was nicht zuletzt durch die seitens der Forschung emphatisch herausgehobene Rüdiger‑Hagen‑Freundschaft und –  schon mit einigem Abstand  – Hagen‑Volker‑Freundschaft befördert würde. Dass männliche Figuren zugleich auch in anderer Weise freundschaftlich miteinander interagieren könnten, tauchte so im Möglichkeitshorizont gar nicht auf. Weiterhin würden Freundschaften zwischen männlichen und weiblichen Figuren nicht ins Kalkül gezogen. Freundschaften zwischen Frauenfiguren erschienen vor dem Hintergrund der weiblichen Zentralfiguren des ‹Nibelungenliedes›, Kriemhild und Brünhild, prekär und instabil. Der Einbezug weiterer heldenepischer Texte, zumal auch der französischen Tradition, soll diese Vereinseitigungen beheben und so ein breiteres, systematischeres Bild von Freundschaft in Heldenepen der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entwerfen helfen.

4. Freundschaft als Analysekategorie Wie bereits die eingangs skizzierte Beispielreihe angedeutet hat, ist Freundschaft eine in allen kulturellen Räumen und Zeiten vorzufindende soziale Beziehung, deren Vielgestaltigkeit sie für die Erforschung durch mehrere Disziplinen attraktiv macht. Im Spektrum derjenigen Wissenschaften, die sich thematisch mit Freundschaft beschäftigen, ist der erreichte Kenntnisstand aber durchaus disparat. Ich werde mich angesichts der Fülle geistes- und sozialwissenschaftlicher Arbeiten zur Freundschaft auf einen kurzen Überblick im engeren Bereich der Mediävistik beschränken. Untersuchungen, die den Fokus auf die Moderne legen, verstellen den Blick auf vormoderne, zumal literarisch überformte Freundschaftskonfigurationen womöglich eher, weswegen sie nicht in die Textanalyse eingebunden werden sollen.

4.1. Semantischer und realhistorischer Rahmen des mittelalterlichen Freundschaftsphänomens Marina Münkler hat eine Systematik entworfen,46 die einerseits die realhistorischen und literarischen Verhältnisse und andererseits die daran gekoppelten Forschungsfelder im Bereich der Freundschaft abbildet. Zunächst ist zwischen Freundschaft im politisch‑sozialen Feld, im Bereich personaler Bindungen und dem klösterlichen Umfeld zu differenzieren. Freundschaft kann dabei als «als soziale Institution wie als soziale Nahbeziehung fungieren»: Als soziale Institution schafft Freundschaft Verbindlichkeit und Vertrauen zwischen Personen, die über einen gemeinsamen Habitus und die ihm zugeschriebenen Tugenden verfügen. Als persönliche 46 Vgl.

Münkler 2017, S. 56 f. Krüger 2011, S. 23, fasst den Stand mediävistischer Forschungen zu Freundschaft in drei Bereichen zusammen, die allerdings auf sehr unterschiedlichen Ebenen liegen, weswegen ich hier dem Modell Münklers folge.

15

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen Nahbeziehung stabilisiert sie Identität durch den Austausch mit einem Anderen, der als Vorbild, Spiegel des Selbstbildes oder alter ego begriffen werden kann. Damit begründet Freundschaft sowohl sozio‑politische als auch persönliche Vernetzungen, die zur Stabilisierung des sozialen Systems beitragen können. Freundschaft kann daher als zentrales Element eines gesellschaftlichen Tugendsystems sowie als Fundierungsbegriff gesellschaftlicher Ordnung eingesetzt werden, aber auch als Code für Intimität, wobei sie jeweils sehr spezifische Ausprägungen erfahren kann.47

Die in diesen Kontexten entstandenen Texte trennen sich wiederum, so Münkler, in einen diskursiven, theologisch‑philosophischen Zweig, der eine Ethik der Freundschaft im Rahmen einer umfassenden Tugendunterweisung entwirft, und in einen literarischen Zweig, speziell mit narrativen Ausformungen auf, die ein auf Handlungen basierendes Ethos der Freundschaft formulieren. Die Unterscheidung in Diskurse und Narrationen kann hierbei in den literarischen Texten etwa in Dialogen oder reflexiven Textpartien wieder aufgehoben werden: Als Beobachtunginstanz zweiter Ordnung bearbeitet Literatur historische, kulturelle und diskursive Praktiken und Darstellungsformen von Freundschaft, stellt sie symbolisch verdichtet dar und setzt sie in ein dialogisches Verhältnis zu den jeweils zeitgenössischen Praktiken von Freundschaft.48

Der Bereich der politischen Funktionalisierung von Freundschaft zur Stabilisierung und Erweiterung von Klientel-, Gefolgschafts- und Bündnisbeziehungen ist durch die Arbeiten von Gert Althoff, Klaus van Eickels, Claudia Garnier und Klaus Oschema gut erschlossen.49 Da die heldenepischen Texte wesentlich von solchen Netzwerkstrukturen zehren, werden die geschichtswissenschaftlichen Forschungen Eingang in die Textanalysen finden und weiter unten genauer vorgestellt werden. Im Umfeld der Klöster etablierten sich Formen geistlicher Freundschaft, insbesondere der Gottesfreundschaft, die Untersuchungen u. a. von Julian P. Haseldine und Brian Patrick McGuire erfahren haben.50 In diskursiven Texten von Aelred von Rievaulx, Thomas von Aquin u. a. werden antike Ansätze von Cicero und Aristoteles rezipiert und weiterentwickelt.51 Im literaturwissenschaftlichen Bereich hat die Erforschung von Freundschaften in jüngster Zeit insgesamt einen Aufschwung erfahren, wenngleich für die verschiedenen Gattungen in sehr unterschiedlicher Weise. Wurden innerhalb der germanistischen Mediävistik zunächst nur einzelne Motive bzw. Motivkomplexe untersucht wie etwa Erzählungen vom Typ ‹Amicus und Amelius›,52 die frühneuhochdeutschen Prosaromane53 oder die Problematik der Nähe von Homoaffektivität und Homoerotik bei Männerfreundschaften im Antikenroman,54 so haben v. a. die Arbeiten von Carolin Krüger 47 48

49 50 51

52 53 54

16

Beide Zitate Münkler 2017, S. 56. Ebd., S. 55. Vgl. beispielsweise Althoff 1990; van Eickels 2007a, 2007b, 2010; Garnier 2000, 2006; Oschema 2006 und 2009. Einen ersten Einstieg in dieses weite Feld bietet Haas 1998. Vgl. auch die entsprechenden Abschnitte in Epp 1999. Grundlegend dazu Haseldine 2007, 2010; McGuire 2002. Vgl. beispielsweise Signori 2003. Grundlegend dazu Winst 2009a, 2009b; Feistner 1989. Aus der Vielzahl der Arbeiten zur Freundschaft im ‹Engelhard› Konrads von Würzburg sei nur verwiesen auf Virchow 2007; Witthöft 2005; Kraẞ 2015. Zur Freundschaft in frühneuhochdeutschen Prosaromanen umfassend Braun 2001. Kraẞ 1999 und 2012 zu den ‹Troja›- und ‹Eneas›-Romanen. Für ‹Erec› und ‹Iwein› hat Brall 1991, für den ‹Prosa-Lancelot› Michaelis 2009 ähnliche Überlegungen angestellt. Kritischer anhand des ‹Tristan› Diem 1999. Aus einer historischen Perspektive argumentiert van Eickels 2004, S. 46, dass eine idealisierende Überhöhung mann‑männlicher Freundschaft im Sinne von Homoaffektivität nur möglich sei durch konsequente



4.  Freundschaft als Analysekategorie

und Friedrich Michael Dimpel das Thema Freundschaft im höfischen Roman ersterschlossen.55 Dies wird in der Dissertation von Denise Theẞeling fortgeführt und neu perspektiviert werden. Um Freundschaft im Bereich legendarischen Erzählens hatte sich die Forschung lange kaum bemüht, dies ist nun aber grundlegend bearbeitet durch die Dissertation von Matthias Standke.56 Eine ähnlich systematische Untersuchung zum Thema Freundschaft und der dort unterstellten Gattungsspezifik steht für die Heldenepik noch aus.57 Bevor ich mich den Leitfragen der Textanalyse und dem hierfür verwendeten Freundschaftsbegriff widme, sollen zunächst einige Schlaglichter auf wesentliche Voraussetzungen des mittelalterlichen Freundschaftsphänomens in semantischer und realhistorischer Perspektive geworfen werden, die für meine Überlegungen leitend sind. Semantische Untersuchungen zu Konzepten personaler Bindungen verdeutlichen die Komplexität des Begriffsfeldes Freundschaft, das im Mittelalter keine terminologische Trennschärfe gegenüber Liebe und Ehe, Verwandtschaft und Gefolgschaft besaß, sondern dem ein aus heutiger Perspektive merkwürdig weitgefasstes Verständnis zugrundliegt. Der Begriff vriunt kann schon im Althochdeutschen ‹Freund/in›, ‹Vertraute/r›, ‹Nahestehende/r› und ‹Verwandte/r› bezeichnen, in mittelhochdeutscher Zeit dann zudem noch ‹die Geliebte/den Geliebten› bzw. ‹die Ehepartnerin/den Ehepartner›.58 Neben diesen personalen Bindungen können mit dem Begriff vriunt, der die Gesamtheit aller rechtlich zu Schutz und Hilfe Verpflichteten umfasst, auch die vasallitische und ministerialische Gefolgschaft und sonstige Gefährten eines Adligen adressiert werden, wodurch dem Begriff auch eine institutionelle Komponente eignet.59 Weist schon der Begriff vriunt/vriuntschaft Ausblendung homosexueller Konnotationen. Positiv bewerteter homosozialer und negativ bewerteter homoerotischer Diskurs stünden insofern unverbunden nebeneinander. 55 Dimpel 2011 widmet sich mit Blick auf die Stellung der Confidente den Frauenfreundschaften in Heinrichs von Veldeke ‹Eneas›, Hartmanns von Aue ‹Iwein›, Gottfrieds von Straßburg ‹Tristan› und anderen Texten, konstatiert aber auch eine Nähe der Zofe zu den männlichen Hauptfiguren: In den Versuchen der Gefährtinnen, die männlichen Hauptfiguren mit der eigenen Herrin zusammen zu bringen, nehmen diese auch Konflikte mit der Herrin in Kauf. Krüger 2011 erfasst demgegenüber die verschiedenartigen Freundschaftskonstellationen (homosozial, heterosozial, symmetrisch, asymmetrisch) in höfischen Texten um 1200, wobei die disparate Zusammenstellung des Textkorpus (‹Erec›, ‹Iwein›, ‹Tristan›, ‹Parzival›, ‹Eneasroman›, ‹Herzog Ernst›, ‹Rolandslied›, ‹Nibelungenlied› und ggf. die jeweilige französische Vorlage) durchaus problematisch hinsichtlich generalisierender Aussagen für den höfischen Roman im Speziellen ist. Beide Arbeiten stellen jedoch den Facettenreichtum literarischen Schreibens über Freundschaft im höfischen Bereich eindrucksvoll unter Beweis. Demgegenüber ist der Ansatz von Ertzdorff 1996 [1962] überholt. Neben diesen umfassenden Untersuchungen sind mehrere Einzeltextinterpretationen zu erwähnen: Hasebrink 2009; Seeber 2007; Speckenbach 2001; Bleumer 2005; Theẞeling 2015; Lienert 2006; Eming 2015. 56 Vgl. Theẞeling [Druck in Vorbereitung]. Standke 2017 speziell zu Freundschaftskonzeptionen in Ordensgründerlegenden. 57 Hier gibt es bisher nur zu ausgewählten Texten Einzelanalysen, aber keine übergreifenden Untersuchungen. Zum ‹Rolandslied› bzw. ‹Karl› sei auf Meyer 2003 verwiesen, wobei hier die Freundschaft nicht im Fokus steht. Rohr 1999 und Jones 2011 widmen sich Rennewart bzw. Vivianz im ‹Willehalm›. Für die aventiurehafte Dietrichepik vgl. Goller 2009 und Kropik 2004, die aber eher ein reines Erzieherverhältnis zwischen Hildebrant und Dietrich fokussieren. Zum ‹Nibelungenlied› und den entsprechenden Konstellationen um Rüdiger und Hagen vgl. Classen 2010; Ehrismann 1989; Grosse 1995 und Hasebrink 2003. Vgl. für genauere und umfassendere Angaben die jeweiligen Textkapitel. 58 Vgl. die Einträge der Lemmata friunt, friuntlîch und friuntschaft bzw. vriunt, vriuntlîch, vriuntschaft in Schützeichels «Althochdeutschem Wörterbuch», S. 114, und Groẞes «Althochdeutschem Wörterbuch», Bd. 3, Sp. 1273–1278; für das Mittelhochdeutsche BMZ Bd. 3, Sp. 411a–413b. 59 Vgl. Nolte 1990, S. 127–129. Um vriunt in der Bedeutung ‹Verwandter› zu vereindeutigen und gegenüber der Bedeutung ‹Freund› (amicus) stärker zu differenzieren, wurden in Urkunden und bisweilen in literarischen

17

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

eine Bedeutungsfülle von persönlichen, rechtlichen und politischen Beziehungsarten auf, die hinsichtlich Intensität oder Anwendungsbereich nicht weiter differenziert wurde, so wird diese starke Verflechtung noch intensiviert, wenn man den Blick auf angrenzende Begriffe wie minne und geselle wirft. Auch diese konnten sozusagen als Universalbegriffe benutzt werden: Moderne Leser sind geneigt anzunehmen, dass Verwandtschaft, heterosexuelle Liebe, gleichgeschlechtliche Freundschaft und politische Beziehungen klar voneinander geschiedene Kategorien sind (und dies stets so war). Dagegen zeigt eine Analyse der Konzeptualisierung mann‑männlicher Freundschaft im Mittelalter, dass zumindest in den lateinischen Quellen, dieselben Worte Liebe zwischen Mann und Frau, Freundschaft unter Männern und rechtliche Beziehungen wie die Lehenstreue beschreiben. Auf mann‑männliche Bindungen wird das Vokabular von Liebe und Freundschaft in einer Weise angewandt, die es unmöglich macht, zwischen sozialen, emotionalen und sexuell motivierten Beziehungen zu unterscheiden.60

Ähnliche Befunde konnte Theodor Nolte für den mittelhochdeutschen Bereich erzielen: vriunt in der Bedeutung ‹Freund› konkurrierte mit dem schon im Althochdeutschen geläufigen Begriff geselle bzw. entsprechenden Komposita nôtgeselle, hergeselle, trûtgeselle.61 Insbesondere im Bereich des Minnesangs, aber auch der Epik wird vriunt im Sinne der/des Geliebten bzw. der Ehepartnerin/des Ehepartners verwendet. Semantische Detailanalysen sind vor dem Hintergrund einer noch nicht ausdifferenzierten Sprache der Freundschaft wenig aussagekräftig, um eine Freundschaft als solche in den literarischen Primärtexten identifizieren zu können. Es können sich höchstens erste begriffliche Tendenzen abzeichnen,62 für den analytischen Zugriff benötigt man aber eine inhaltlich präzisierende Bestimmung der Beziehung, die ich vorrangig als personale Nähe‑Konstellation betrachten möchte. Diese semantischen Verflechtungen spiegeln mehr oder weniger realhistorische Verhältnisse. Ich greife hier punktuell auf geschichtswissenschaftliche Forschungen zurück, Texten die Adjektive erborn, geborn, anerborn hinzugestellt. Seidel/​Schuster 2007, S. 150, zeigen ähnliche Phänomene auch im Lateinischen und Altfranzösischen. 60 Van Eickels 2007b, S. 159. Van Eickels 2004, S. 22, verweist darauf, dass begriffsgeschichtliche Analysen hochmittelalterlicher historiografischer, juristischer und anderer lateinischer Texte des 12. und 13. Jahrhunderts zeigen, dass der Diskurs von Freundschaft und Liebe eine Einheit bildete. Die Begriffe für Liebe (amor, caritas, dilectio) konnten weitgehend austauschbar gebraucht werden und Freundschaft (amicitia) trägt demgegenüber nur insofern eine spezifische Bedeutung, als der Begriff stets reziprok verwendet wird, also wechselseitig erwiderte Liebe intendiert. Eine Differenzierung nach dem Grad der emotionalen Intensität der Beziehung ist dagegen nicht erkennbar: Politische Bündnisse, Friedensverträge und sogar bloße Waffenstillstandsvereinbarungen können als amicitia, amor, caritas und dilectio bezeichnet werden wie affektive Freundschaftsbindungen oder seit dem 12. Jahrhundert Liebesbeziehungen. Mit dem breiten Bedeutungsspektrum der Liebesterminologie korrespondiert die ebenso weite Verwendung zeichenhafter Gesten physischer Intimität (Kuss, Umarmung, gemeinsames Schlafen in einem Bett und gemeinsames Essen aus einer Schüssel). Die Analyse der gestischen Kommunikation in den literarischen Texten muss also auch mit Überlappungen in den Bereichen Minne, Freundschaft, Vasallität usw. rechnen. Vgl. dazu die Beiträge im Sammelband «Freundschaftszeichen» von Münkler/​Sablotny/​Standke 2015. 61 Nolte 1990, S. 133, behauptet, dass mit vriunt mehr Pathos gegenüber der gegenseitigen Treueverpflichtung verbunden sei, während geselle eher neutral für ‹Gefährte› oder ‹Begleiter› verwendet wurde, untermauert dies aber nur an wenigen Stellen aus dem ‹Nibelungenlied›. 62 Diese Tendenzen lassen sich trotz der Ambiguität der Begriffe v. a. an der Verwendung von vriunt, geselle und triuwe beobachten. Ich werde darauf punktuell in den Einzeltextanalysen zurückkommen. Im Zuge umfassender semantischer Analysen wäre dann zu eruieren, ob solche fraglichen Tendenzen einzeltextspezifisch oder in welcher Form auch immer zu typologisieren (zeitlich, räumlich, gattungsspezifisch) sind.

18



4.  Freundschaft als Analysekategorie

die ich v. a. für das Feld der Freundschaft in der Heldenepik für entscheidend erachte. Nachdem in den Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte lange Zeit Verwandtschaft als wichtigstes Beziehungssystem betrachtet wurde, korrigierten die Arbeiten von Althoff und van Eickels seit den 1990ern diesen Eindruck und stellten die öffentliche soziale, politische und rechtliche Relevanz des Freundschaftskonzepts für die Vormoderne heraus. In mehreren Punkten, die für die hier zu verhandelnden Texte und Fragestellungen wichtig sind, unterscheidet sich die mittelalterliche Praxis recht gravierend von unseren heutigen Freundschaftsvorstellungen, weil Freundschaft oftmals keine rein private Beziehung war, sondern gesellschaftliche Relevanz dergestalt besaß, dass persönliche Bindungen Gesellschaft durch Netzwerkbildung strukturierten. (1)  Zunächst ist eine Verschränkung von Freundschaft und Verwandtschaft zu konstatieren, insofern einerseits Freundschaft Verwandtschaft erweiterte und ähnliche Verpflichtungen begründete wie jene und andererseits indem z. B. der Bruderbegriff zur Intensivierung und Formalisierung von Freundschaftsbeziehungen genutzt wurde. Soziale Beziehungen wurden in Kategorien von Freundschaft gedacht, selbst dann, wenn sie Verwandte betrafen. Ein Verwandter war nicht a priori Freund, wenn er es aber war, so war die Eigenschaft als Freund die eigentliche Beziehungsqualität.63

In der mittelalterlichen Vorstellung schlossen sich Freundschaft und Verwandtschaft keineswegs aus, sondern konnten sich gegenseitig konnotativ zur Stabilisierung der jeweiligen sozialen Formation ausbeuten. Heutige Kriterien zur Unterscheidung von Freundschaft und Verwandtschaft wie Freiwählbarkeit vs. Zuschreibung und Auflösbarkeit vs. Permanenz64 greifen daher zu kurz. Dies ist für die Textanalyse entscheidend, weil Überlagerungen von Freundschaft und Verwandtschaft von daher keinen Hinderungsgrund darstellen, eine solche mehrfach codierte Beziehung nicht primär als Freundschaft aufzufassen. (2) Des Weiteren kann eine Verflechtung von Freundschaft und Vasallitätsbeziehungen festgestellt werden, Lehensverhältnisse galten als Sonderform von Freundschaft. Ganz generell kann man sagen, dass mittels des Freundschaftsbegriffs die Fiktion der Gleichheit auch asymmetrischer Partner installiert werden konnte. Freundschaft schuf in einer hierarchisch organisierten Gesellschaft, die sich jederzeit konfrontativ zuspitzen konnte, einen sozialen Raum rangfreier Kommunikation. Diese Verständigung darüber, dass in Beziehungen der Freundschaft darauf verzichtet werden kann, ständig Rang- und Abhängigkeitsverhältnisse zu demonstrieren, setzt allerdings voraus, dass Einigkeit hinsichtlich der tatsächlichen Hierarchien herrscht. 63

Seidel/​Schuster 2007, S. 151. Braun 2006, S. 68 f., meint mit Blick auf deutsche Erzähltexte des 13.–17. Jahrhunderts, dass der Bruderbegriff metaphorisch für die Freundschaftsbeziehung genutzt werde, um die Nähe sprachlich zu verdeutlichen. Ich würde hier eher eine Konnotaterweiterung des Bruderbegriffs und nicht uneigentliches Sprechen ins Kalkül ziehen. Braun (S. 72 f.) behauptet mit Blick auf den ‹modernen› höfischen Roman wie ‹Iwein›, ‹Tristan› und ‹Wigalois›, dass diese Texte die Polysemie des Freundschaftsbegriffs mieden und ihn nur im Sinne nicht‑verwandtschaftlicher personaler Nahbeziehung nutzten, was er mit der Herauslösung des Romanhelden aus verwandtschaftlichen Bindungen erklärt. Im ‹Nibelungenlied› und im ‹Troja›-Roman fände sich hingegen noch diese Polysemie. Für solche weitreichenden chronologischen und gattungsbedingten Differenzierungen benötigte man umfassende Untersuchungen zur historischen Semantik im Bereich der weltlichen Literatur des Mittelalters, die bislang nicht geleistet wurden. 64 Rexroth/​Schmidt 2007, S. 7, stellen diese Aspekte bzw. Unterscheidungskriterien als Selbstverständlichkeit vor.

19

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen Freundschaft ersetzte nicht die hierarchischen Formen reziproker Bindung, sondern ergänzte sie. Hinter der Verwandtschaft der Brüder stand der Superioritätsanspruch des Älteren, hinter der Liebe zwischen Mann und Frau die Vorstellung der Ehe, in der der Mann das Sagen hatte, hinter der politischen Freundschaft zwischen Herr und Vasall der Anspruch auf herrschaftliche Unterordnung. Anders als heute galt es nicht als Bruch der Freundschaft im Konfliktfall auf diese hierarchisch strukturierten Konzepte zurückzugreifen. Im Gegenteil: Freundschaft setzte voraus, dass beide Freunde sich in allen Fragen von Über- und Unterordnung einig waren. Freundschaft und Hierarchie schlossen sich nicht aus; vielmehr war die Hierarchie oft die Voraussetzung der Freundschaft.65

Auch Freundschaft muss Herrschaft anerkennen, aber sie verpflichtet beide Partner dazu, sich prinzipiell gleichrangig zu behandeln. Asymmetrie der Partner ist – was mit dem heutigen Gleichheitsideal unvereinbar wäre – damit kein Ausschlusskriterium für Freundschaft in der Vormoderne, Freundschaft setzt keine Gleichheit der Partner voraus und impliziert sie auch nicht. Selbst die meisten Freundespaare in geistlicher sowie weltlicher Literatur sind ungleich nach Rang, Herkunft und persönlichen Fähigkeiten. Das Ranggefälle bleibt dennoch erkennbar in der einseitigen Anwendung des Freundschaftsbegriffs. Realhistorisch sprach der Herr den Vasall als Freund an, während der Vasall den Lehnsgeber zumindest öffentlich stets als Herrn anzureden hatte. Verallgemeinert hatte der höherrangige Partner den niederrangigen Partner so zu behandeln, als wäre dieser gleichrangig, während jener gehalten war, die übergeordnete Stellung des Partners nicht in Frage zu stellen.66 So ist denn auch in literarischen Texten stets eindeutig, wer Held und wer Gefährte ist. Angesichts dieser Tatsachen ist es weder realhistorisch noch im literarischen Diskurs statthaft zu fragen, ob eine Beziehung als Freundschaftsbündnis oder als lehensrechtliche Bindung zu verstehen ist, weil sie beides ununterscheidbar gleichzeitig sein kann. Inwiefern sich aus jener gewährten Gleichrangigkeit realhistorisch ein Anspruch auf Mitsprache ableitete, ist strittig.67 Ich möchte u. a. diese Fragestellung an die literarischen Texte anlegen und ausloten, welche Machtbereiche den Freunden in symmetrischen und asymmetrischen Beziehungen zur Verfügung stehen.68 (3) Ein weiterer Punkt, der vormoderne von modernen Freundschaftsvorstellungen trennt und den die Geschichtswissenschaft herausgearbeitet hat, liegt in der Affektivität der Beziehung.69 Freundschaften konnten durchaus mit emotional aufgeladenem Vokabular und Gesten versehen werden, das ist aber keineswegs zwingend. Freundschaft beruht analog zu Verwandtschaft und Vasallität im Kern auf einem Treueverhältnis.

65

Van Eickels 2007b, S. 161. van Eickels 2007a, S. 25 f. Er fasst 2010, S. 407, das ambivalente Verhältnis wie folgt zusammen: «Freundschaft konstituiert Freiraum, in dem Fragen von Rang und Rangdemonstration keine Rolle spielen. Dies diente der Wahrung der Ehre des Rangniedrigeren, dem es erspart blieb, bei jeder Begegnung durch die Demonstration der Überlegenheit des anderen gedemütigt zu werden. Kommunikation im Diskurs von Liebe und Freundschaft erlaubte es dem Lehnsherrn sogar, großzügig zu sein und auf die ständige Sichtbarmachung seiner übergeordneten Stellung zu verzichten, ohne diese durch den Verzicht auf Aktualisierung seiner Ansprüche zu schwächen.» 67 Vgl. van Eickels 2009, S. 221. 68 Zu den hierfür verwendeten Analysekategorien und weitergehenden Fragestellungen s. Abschnitt fünf dieser Einleitung. 69 Das Kriterium der Affektivität für Freundschaft in der Moderne ist bei genauerem Hinsehen allerdings keineswegs zwingend, wie etwa die Rede von Völkerfreundschaften, vom Tier- oder Menschenfreund zeigt. Die Freundschaftssemantik kann ganz verschiedene Nähe‑Grade adressieren und bleibt so kommunikativ anschlussfähig. Vgl. Münkler 2015, S. 79. 66 Vgl.

20



4.  Freundschaft als Analysekategorie Die Treue, die sich Freunde schulden, ist der Treue zwischen Lehensherr und Vasall äquivalent. Sie besteht aus zwei Elementen: (a) Einer negativen Muss‑Bestimmung: Der Vasall darf seinen Herrn nicht töten, verletzen oder persönlich angreifen. (b) Einer positiven Soll‑Bestimmung: Der Vasall soll seinem Herrn umfassend Rat und Hilfe leisten.70

Die ‹negative Treue› stellte den justiziablen Kern des Lehensverhältnisses, aber Vasallität und eben auch Freundschaft, Liebe und Verwandtschaft implizierten umfassende wechselseitige Beistandsverpflichtungen und affektive Bindung, deren Umfang jedoch höchst variabel ausgestaltbar war.71 Inwiefern Freundschaften bzw. literarische Freundschaftsdarstellungen auf Emotionen für die Beziehungskonstitution zurückgreifen, ist damit nur im Einzelfall zu entscheiden.72 Die hier versammelten Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft mahnen zur Vorsicht, die Alterität des Freundschaftsphänomens in seiner historisch distanten Ausprägung auch im literarischen Umfeld ernst zu nehmen und nicht eine Beziehung schon als schlichtes Gefolgschaftsverhältnis abzutun, nur weil es modernen Denkgewohnheiten widerstrebt. Gerade die Anwendung des Freundschaftsbegriffs auf die Heldenepik –  im Gegensatz zum höfischen Roman (s. u.) – könnte auf Widerstände stoßen.73 Man könnte etwa den Standpunkt vertreten, dass in einer ausschließlich vasallitisch konstituierten Gesellschaft kein Raum für personale Freundschaft sei. Zumindest erscheint es erklärungsbedürftig, bestimmte Figurenbeziehungen als Freundschaften aufzufassen, die gemeinhin eher unter Verwandtschaft, Gefolgschaftstreue oder Waffenbruderschaft unter Kriegern oder als Konfiguration aus Herrin und Zofe bei weiblichen Figurenverbindungen rubriziert werden. Es könnte zusätzlich eingewendet werden, dass Typenhaftigkeit der Figuren vorherrsche statt individueller Anlage mit subjektiven Charakteristiken. Als weiterer Hinderungsgrund kann die Determination der Figuren durch Erzählschemata vorgetragen werden, denn damit ist ein Mangel an Innenperspektive der Figuren verbunden, über deren Motive und Ziele man nur und oft in begrenztem Maße durch Erzählerkommentare erfährt. Auch dies stellt für eine affektiv gedachte Freundschaftsbeziehung eine narrative Hürde dar. Letztlich könnte man noch entgegnen, dass Heldenepik weniger über die Figuren und ‹Indivi70

Van Eickels 2007a, S. 29. Er konstatiert 2007b, S. 160, dass Verwandtschaft, eheliche Liebe, vasallitische Treue und Kriegerfreundschaft «aufgefasst werden [können] als unterschiedliche Erscheinungsformen ein und derselben Vorstellung: ein Nichtangriffspakt überhöht durch das implizite Versprechen unerschütterlicher wechselseitiger Hilfe. In diesem Sinne waren die wechselseitigen Pflichten, die Lehensherr und Vasall aneinander banden, nicht grundlegend verschieden von denjenigen, die bestanden zwischen einem Ritter und seinem Gefährten, zwischen zwei Brüdern oder zwischen Ehegatten. Spezifische Zwecke (wie die Vererbung von Besitz in der Verwandtschaft, Fortpflanzung in der Ehe, herrschaftliche Unterordnung in Lehensbeziehungen) ergänzten diese Bindungen; das ihnen zugrunde liegende Konzept der Treue aber war ein und dasselbe (und eben dies machte sie vergleichbar).» 71 Vgl. van Eickels 2009, S. 218. 72 So auch das Fazit von van Eickels 2007a, S. 34: «Welche Funktion Liebe und Freundschaft, ausgedrückt in der Sprache der Worte wie in der symbolischen Kommunikation, im Einzelnen hatten und in welcher Beziehung sie zu den übrigen Formen personaler Bindung standen, kann nur ausgehend vom Einzelfall differenziert erfasst werden.» 73 Hierfür sei exemplarisch Bleumer 2005, S. 257, angeführt, der sich gegen eine Anwendung des Vertrauensund daran anschließend des Freundschaftsbegriffs auf die Heldenepik ausspricht, weil Vertrauensakte einer emotionalen Rückkopplung bedürften, die Heldenepik aber – im Gegensatz zum höfischen Roman – kein ausdifferenziertes emotionales Spektrum vorweisen könne. Das Epos – so Bleumer weiter – kenne zwar Affekte und habitualisierte Begierden, aber kein Gefühl im Sinne eines subjektiven emotionalen Erlebens. Die großen Gesten der Heldenepik inszenierten daher eher Affekte und illustrierten keine gesteigerte Emotionalität.

21

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

dualschicksale›, sondern eher über einen Handlungsplan sowie die kollektive Ausrichtung der Aktionen funktioniere, was einer idealischen Freundschaftskonzeption im Wege stehe. Ich kann diese Skepsis insgesamt nicht teilen, sondern werde vielmehr den Freundschaftsbegriff als Beschreibungskategorie unter Beachtung der genannten Einschränkungen nutzen (s. u.), um aufzuschlüsseln, inwieweit dieser Ansatz zur Erklärung der mich interessierenden Textpassagen trägt. Es scheint mir nicht plausibel, auf den Freundschaftsbegriff in der Heldenepik nur deswegen zu verzichten, weil Vorstellungen von einem besonderen personalen Gepräge der Beziehung, der Intimität in einem emphatischen Sinne eines gemeinsamen Fühlens, Denkens und der Selbstenthüllung oder der individuelle Wert der Freundschaft für die hier zu untersuchenden Texte nicht oder nur partiell verfangen. Ich finde es zudem durchaus fragwürdig, angesichts der Darstellung von Personenverbandsstaaten, die wesentlich mit einem austarierten Beziehungsnetz arbeiten, ausgerechnet auf bestimmte Funktionalisierungen wie Zofe, Erzieher, Ratgeber abzuheben. Dagegen ließe sich der Verdacht einer ‹Bürokratisierung› mittelalterliche Verhältnisse ins Feld führen. Der Freundschaftsbegriff scheint als übergeordnete Kategorie, die in ihrer funktionalen Ausformung nicht von vornherein festgelegt ist, angemessener und flexibler, zumal er in seiner historischen Verwendung sowohl ‹öffentliche› als auch ‹private› Aspekte umfasst. Bei (der literarischen Darstellung von) charismatischer Herrschaft ist unmittelbar einsichtig, dass sich diese durch personale Nahbeziehungen, die sich als Freundschaften beschreiben lassen, auszeichnet und erhält. Das trifft im Grunde auch auf traditionale Herrschaftstypen zu, wenngleich deren Organisation stärker netzwerkartig ist. Allerdings benötigt man auch dort bestimmte, eben freundschaftliche Beziehungsausformungen, weswegen in der Textanalyse v. a. solche Sonderdyaden in den Blick geraten werden. Ich folge hier der Argumentation von Münkler: Freundschaft [gehört] zu jenen elementaren Formen sozialer Vernetzung, für die es einen permanenten Bedarf gibt, weil in stratifizierten und erst recht in funktional differenzierten Gesellschaften die sozialen Beziehungen und deren Pflege nicht mehr allein über Familie und Verwandtschaft gesteuert werden können […]. Der Begriff der Freundschaft muss daher soziale Strukturlasten tragen, die ihn mit einer Vielzahl von Funktionen befrachten.74

Innerhalb der germanistischen Mediävistik haben sich einige Perspektivierungen etabliert, um Freundschaft in literarischen Texten zu erfassen, von denen ich mich kritisch absetzen möchte, um einen anderen, analytischen Freundschaftsbegriff einzuführen, der sich v. a. im Hinblick auf die bereits angeschnittenen Spezifika heldenepischer Texte besonders eignet. Bei Untersuchungen zu literarischen Texten mit Freundschaftsthematik hat es sich – überspitzt formuliert – eingebürgert, die eigenen Analysebegriffe von Ciceros ‹Laelius de amicitia› oder Aristoteles’ ‹Nikomachischer Ethik› her zu beziehen.75 Hierbei wird eine Kontinuität vom antiken zum mittelalterlichen Freundschaftsdiskurs unterstellt, die dann zur bruchlosen Anwendung der Begrifflichkeiten auf mittelhochdeutsche fiktionale Texte zu berechtigen scheint. Unabhängig davon, dass die Vorstellung der literarischen Rezeption der antiken Ideen auf fragwürdigen, letztlich nicht beweisbaren Prämissen fußt, zweifle ich, dass man mit diesen Denktraditionen den literarischen Texten vollauf 74

75

22

Münkler 2017, S. 56 f. Vgl. etwa von Ertzdorff 1996 [1962]; Classen 2006.



4.  Freundschaft als Analysekategorie

gerecht wird.76 Mir scheint es vielmehr so, dass diejenigen Untersuchungen mit diesem Zuschnitt Freundschaftskonfigurationen z. B. als Tugend-, Nutzen- oder Lustfreundschaft ‹labeln›, ohne dass mit dieser Etikettierung viel für die individuelle Profilierung der fraglichen Freundschaft im Text gewonnen wäre. Die antiken Konzeptionen denken Freundschaft vorrangig als symmetrische Beziehung, in den heldenepischen Texten finden sich aber überwiegend asymmetrische Freundschaften. Aber selbst wenn man von dieser Schwierigkeit absieht, ließe sich für die anvisierten heldenepischen Texte höchstens die Tendenz einer Mischung von Tugend- und Nutzenfreundschaft konstatieren, wie man sie auch im höfischen Roman vorfinden kann. Die Unterschiede von höfischem Roman und Heldenepik hinsichtlich Freundschaft sind selbst bei groben Überblick erkennbar. Als Vergleichskriterien sowohl zwischen Texten der Heldenepik wie zwischen den beiden dominierenden großepischen Gattungen um 1200 bieten sich die antiken Kategorisierungen daher nicht an, weil sie nicht differenziert genug sind. Ähnlich gelagert sind meines Erachtens nach die Probleme bei Arbeiten, die auf moderne empirische Sozialforschung zurückgreifen.77 Ich bin gegenüber solchen Rückprojektionen von Erkenntnissen zu modernen oder gar postmodernen Freundschaftsmodellen auf mittelalterliche Kontexte skeptisch. Auch wenn Freundschaft ein anthropologisches Phänomen ist, so doch ein synchron wie diachron höchst variables, weswegen sich die Möglichkeiten von Übertragungsleistungen auf einem derart abstrakten Niveau bewegen müssten, dass damit bestenfalls für die Durchdringung der literarischen Texte noch wenig gewonnen wäre, schlimmstenfalls den historisch distanten Denkformen zu wenig Rechnung getragen würde. Da es aber nicht mein Ziel ist, die longue durée höchst fraglicher Konstanten von Freundschaft herauszustellen, sondern das Profil der helden­epischen Einzeltexte wie der Gattung zu erarbeiten, scheint auch diese Methode ungeeignet. Zuletzt sind einige ambitionierte Versuche zu erwähnen, die Freundschaft in Anlehnung an Luhmann als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium systematisch‑analytisch zu fassen versuchen.78 Münkler erläutert die Vorteile dieser Betrachtungsweise damit, dass der mit symbolisch generalisiertem Kommunikationsmedium gemeinte Vorrat an Redewendungen, Gesten, Zeichen etc. das Gelingen von Freundschaftskommunikation wahrscheinlicher mache, indem sie als Selektionsofferten anschlussfähig bleiben. Freundschaft als solcherart generalisiertes Kommunikationsmedium kann dann sowohl für öffentliche, politische als auch intime, personale Kommunikation genutzt werden.79 Ich möchte die Erklärungskraft dieses Ansatzes hier keineswegs bestreiten, selbst aber einen anderen Theoriemix zur Anwendung bringen. Das lässt sich einerseits von den Texten her begründen, die konventionalisierte Gaben und Sentenzen meiden oder 76

Rexroth/​Schmidt 2007, S. 9, schätzen die häufig verwendete Unterscheidung von Tugend- und Nutzenfreundschaft angesichts der Pluralität der Freundschaftsformen in der modernen Gesellschaft als kaum angemessen ein. Analoges kann man mit guten Gründen auch über mittelalterliche, zumal fiktionale Kontexte sagen. Ich schließe damit an eine Idee Münklers an, die sie im Nachantrag zur Installation des Teilprojekts S: «Das Ethos der Freundschaft. Diskurse und Narrationen von Gemeinsinn in der mittelalterlichen Literatur» im Dresdner Sonderforschungsbereich 804: «Transzendenz und Gemeinsinn» (2011, S. 15) skizziert hat. 77 Vgl. Braun 2001, der auf die Ergebnisse von Graham Allans für seine Analyse der Prosaromane zurückgreift. 78 Braun 2001 zu ausgewählten frühneuhochdeutschen Prosaromanen; Theẞeling 2015 zum ‹Tristan› Gottfrieds von Straßburg; Standke 2017 zu Ordensgründerlegenden. 79 Vgl. Münkler 2015, S. 86 f. und 2017, S. 57; auch Münkler/​Standke 2015, S. 10 f.

23

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

gar problematisieren.80 Andererseits leitet es sich aus meinem Frageinteresse ab. Um das Zusammenspiel von Macht und Herrschaft mit Freundschaft möglichst textspezifisch entfalten zu können, benötige ich wechselnde, aber je adäquate Theorieangebote. Als spezifische Ausformung eines solcherart symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums betrachtet Kraẞ das von ihm sog. Phänomen der passionierten Freundschaft. Die Vorzüge systemtheoretischen Herangehens liegen sicherlich in der funktionalen Perspektivierung, allerdings scheint mir die vorrangig bei Kraẞ zu beobachtende Vorstellung von Freundschaft als Passion in einem affektiv aufgeladenen Sinne eher dem höfischen Roman als der Heldenepik adäquat, gerade weil der höfische Roman eine elaborierte Sprache der Liebe und ein reflexiv gebrauchtes Modell von Minne und Ehe verhandelt, aus dem sich die Freundschaftsthematik speist.81 Demgegenüber hat Liebe in der Heldenepik keinen solchen modellhaften Charakter für Freundschaft, weil sie nicht das Zentrum der Gattung bildet. Zwar kommen auch Minneehen in den Texten vor, die über Bündnispolitik hinausgehen, aber dies trifft erstens nicht auf alle Texte zu und selbst bei Texten mit Minneehen haben diese oft nur episodenhaften Charakter; zweitens werden die Motive größtenteils konventionell und nur ansatzweise systematisch reflexiv eingebaut.

4.2. Leitfragen und Bestimmung von Freundschaft als geschlossene soziale Vergemeinschaftung nach Max Weber Um nun in Abgrenzung zu den bisherigen methodisch‑theoretischen Herangehensweisen (gegenüber den antiken Freundschaftskonzepten, gegenüber Sozialforschung und systemtheoretischen Zugängen) zu einer positiven Bestimmung des hier verwendeten Freundschaftsbegriffs zu gelangen, sollen zunächst thesenhaft einige Basisannahmen vorgestellt werden: Die Heldenepen arbeiten nicht mit abstrakten, idealisierenden Freundschaftsvorstellungen, sondern stellen Freundschaften situativ und funktional angepasst und damit variabel dar. Es ist dann einerseits mit gattungsübergreifenden Grundkonstanten (literarisch weit verbreiteten Motiven wie dem des aufopfernden Freundes u. Ä.), andererseits mit einer spezifischen Freundschaftsdarstellung heldenepischer Prägung zu rechnen, die sich aus der Zusammenschau der Einzeltexte ergibt. Fragt man nach dem Stellenwert von Freundschaft in Heldenepen, so zeigt sich, dass diese ebenso zentral ist wie die Themen Herrschaft, Verwandtschaft/​Gefolgschaft, Krieg und Brauterwerb. Innerhalb der Verhandlung des Themas Freundschaft lassen sich strukturelle Parallelen in der Darstellung im Rahmen erzählerischer Sequenzen und der Plotanlage erkennen. In dieser zunächst strukturalistisch, histoire‑orientierten Perspektive müssten dann Kriterien für die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der einzelnen Freundschaftsdarstellungen gefunden werden. Fruchtbar scheinen zunächst die bei Krüger eingeführten Differenzierungen entlang der Aspekte Statussymmetrie/‑asymmetrie und Gender.82 Darüber hinaus müssten weitere 80

Das werde ich im ‹Nibelungenlied›‑Kapitel entfalten. Kraẞ 2006 adaptiert neben der Idee eines symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Freundschaft insbesondere die Vorstellung passionierter Liebe von Luhmann und überträgt sie auf Freundschaft. Das scheint mir die Texte aber insgesamt tendenziell zu überfordern. Zur Ausformung der höfischen Liebe grundlegend Jaeger 1999. 82 Vgl. Krüger 2011, S. 35. Die anderen, von Krüger aufgestellten Parameter sind für heldenepische Texte eher 81

24



4.  Freundschaft als Analysekategorie

fragliche Kategorien wie Homosozialität/​Heterosozialität, Heimlichkeit/​Öffentlichkeit, Deckung von Freundschaft und Verwandtschaft/​Gefolgschaft vs. sozial anderweitig nicht gebundene Freundschaft etc. auf ihre Tragfähigkeit geprüft werden. Erarbeitet werden könnte so ein Modell von freundschaftsthematisch ausgerichteten Regelmäßigkeiten. Durch diesen strukturalistischen Ansatz, der mehrere Texte miteinander vergleicht und so Freundschaftskonstanten abstrahiert, gerät aber die einzeltextspezifische discours‑Ebene nicht in den Blick.83 Ich werde mich im Anschluss an Udo Friedrich daher für eine vermittelnde Position entscheiden, der sowohl die übergreifende wie konkrete Perspektive auf die Texte ermöglicht.84 Mir soll es aber nicht um die Interpretation eines Gesamttextes gehen, sondern um die für Freundschaft relevanten Sequenzen. Wie, nach welchen Mustern und Kriterien, entwerfen die Texte Freundschaft konkret? Die Relation der Freunde kann variiert und auch mit verschiedenen Werten – von gegenseitiger Solidarität, Komplementarität der Freunde etc. – besetzt und unterschiedlich hierarchisiert sein. Die für Freundschaft relevanten Sequenzen können zudem ganz unterschiedliche Extensionen annehmen. Sie können nur fragmentarisch angedeutet sein und damit Erwartungshaltungen provozieren, eine geschlossene Episode in größerem Erzählzusammenhang sein oder «Kulminationspunkt einer einzelnen Geschichte werden.»85 Da die Erzählkerne «Aggregate der Sinnbildung»86 sind, kann man daran auch die Frage nach den über das Freundschaftsnarrativ und dessen Variationen verhandelten Werten stellen. Damit zusammen hängt dann die Frage nach der Bedeutung von Freundschaft im Vergleich zu Liebe, Verwandtschaft, Vasallität bzw. Gefolgschaft als weiteren Vergesellschaftungsformen innerhalb der Heldenepik. Da ich jedoch davon ausgehe, dass Freundschaft nicht nur funktional in den Gesamttext eingebunden ist, sondern auch identitätskonstitutiv für den Helden/die Heldin ist,87 braucht man einen offenen, von lebensweltlichen Basisannahmen befreiten Freundschaftsbegriff, entlang dessen man im Sinne des hermeneutischen Zirkels die Spezifika des Einzeltextes in permanentem Abgleich mit dem Korpus betrachten kann. Mit einem offenen Freundschaftsbegriff soll natürlich nicht einem Diktum der Beliebigkeit das Wort geredet werden, sondern ich werde auf einen rein analytischen Begriff zurückgreifen, der nicht mit eng gefassten Vorannahmen zu Gehalt und Funktionsweise von Freundschaft operiert, die den Texten womöglich nicht angemessen wären und den Blick unzulässig

83 84

85 86

87

ungeeignet wie die Dichotomie von funktionaler und ideeller Ausrichtung der Freundschaft oder analytisch wenig fruchtbar wie das Kriterium der räumlichen Verortung. So argumentiert auch Dimpel 2011, der durch die Optik eines Aktantenmodells die Spezifika der ihn interessierenden Nebenfiguren vom Typus Confidente nicht näher betrachten kann. Friedrich 2014 unterscheidet forschungsgeschichtlich archetypisch‑typologische und historisch‑philologische Zugangsweisen zur Heldenepik und verbindet diese auf einer mittleren Ebene. Die strukturalistische Analyse verortet den Helden als Funktionselement, als Aktant auf der Handlungsebene und vermag prototypische narrative Sequenzen zu bestimmen (Initiation, Bewährung, Tod etc.), von denen jeweils nur bestimmte Punkte aktualisiert werden. Der historisch‑philologische Zugang lässt den Einzeltext zu seinem Eigenwert kommen. Durch solche Einzelfalluntersuchungen kann man zwar Befunde zum Heldenentwurf differenzieren, aber innerhalb der Vielfalt und Variabilität keine allgemeinen Strukturen und Funktionen der Handlungs- bzw. Erzählmuster mehr erkennen. Neuere Ansätze kombinieren daher zunehmend die Vorteile beider Methoden und schalten so deren jeweilige Nachteile weitestgehend aus. Ich werde hieran anschließen. Ebd., S. 189. Ebd., S. 191. Das zeigt nicht zuletzt der vielfach ablesbare Wunsch der Helden bzw. Heldinnen nach der Anerkennung durch den Freund bzw. die Freundin. Im noch vorzustellenden Modell der Machttypen (Abschnitt 5. 1. dieser Einleitung) kann das als autoritative Macht beschrieben werden.

25

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

einschränken würden. Dieser analytische Freundschaftsbegriff ist nicht nur deswegen notwendig, weil sich Freundschaftsdarstellungen der Heldenepik nicht mit Vorstellungen einer emphatisch aufgeladenen Beziehung fassen lassen, wie sie sich aus einer modernen Perspektive herleiten, sondern auch weil die Texte selbst die Freundschaftsbeziehungen nicht begrifflich‑programmatisch als eine solche insinuieren (s.  semantische Begriffsverwirrung oben). In den Texten wird bisweilen mit Beschreibungen des Freundes als Ratgeber, Kampfgenosse oder Erzieher eher auf funktionale Momente abgehoben. Aus den weiter oben referierten Gründen präferiere ich den übergeordneten Freundschaftsbegriff, um diese Beziehungen zu adressieren. Zudem muss ein dem Gegenstand angemessener Begriff das Problem der Asymmetrie der Freunde (die jedoch intern symmetrisch agieren) und das irritierend agonale Moment so mancher Freundschaftsdarstellung in der Heldenepik abbilden können. Vergesellschaftung in der Heldenepik scheint zentral durch triuwe und Netzwerkbildung geprägt zu sein. Insofern ist weiterhin anzunehmen, dass sich auch Freundschaften als Teil solcher Vergesellschaftungsprozesse stärker durch Taten, die triuwe sinnfällig zur Anschauung bringen, als diskursiv (Figuren- und Erzählerreflexionen, Figurendialoge, Briefe etc.) entfalten. Für Freundschaft gilt somit, was van Eickels auch für Liebe und Brüderlichkeit herausgestellt hat: Freund ist man nicht, sondern als Freund erweist man sich.88 Trifft dieser performative und appellative Impetus von Freundschaft zu – und die Textbefunde sprechen stark hierfür –, so kann man den Freundschaftsbegriff am ehesten noch handlungstheoretisch einfangen. Dafür bietet es sich an, Webers Kategorien aus den «Soziologischen Grundbegriffen», wo er in logischer Folge die Phänomene sozialen Handelns, sozialer Beziehungen, sozialer Ordnung und sozialer Verbände entwickelt, anzuwenden.89 Bevor ich Freundschaft als geschlossene soziale Beziehung bzw. geschlossene soziale Vergemeinschaftung im Sinne Webers einführe, seien die Grundkategorien zum besseren Verständnis kurz erläutert. Weber begreift soziales Handeln als Handeln, bei welchem sich der Handelnde mit seinem subjektiv gemeinten Sinn explizit am Handlungspartner orientiert. Sinnhaftes bedeutet intentionales Handeln (im Gegensatz zu bloß reaktivem Verhalten), das man näherungsweise verstehen kann. Der Sinnbezug ist mit Blick auf die Texte eine problematische Kategorie, weil gerade in der Heldenepik Figurenintrospektionen oftmals fehlen, allerdings kann man mit Jan‑Dirk Müller von der prinzipiellen Orientierung der Figuren der Heldenepik an ihre Rollenbindung, an ihren Status im Gesellschaftsverband und an Interaktionsmustern rechnen.90 Dimpel weist zu Recht darauf hin, dass einerseits Figuren auch selbst mit Intentionen anderer Figuren rechnen und andererseits Motive sowohl kausal als auch

88

Van Eickels 2009, S. 222. Die Paragraphenfolge bildet diese Sukzession aber nur unzureichend ab. Die Texte Webers werden zitiert nach der Max  Weber‑Gesamtausgabe 1984 (Abschluss steht noch aus) und abgekürzt als MWG (danach folgt in der üblichen Zitierweise mit römisch I  der Verweis auf die Abteilung ‹Schriften und Reden›, nach einem Schrägstrich in arabischer Zählung die Band- und ggf. Teilbandnummer, nach der Seitenangabe folgen zur besseren Orientierung in Klammern dahinter die Titelangaben der alten Ausgaben von «Wirtschaft und Gesellschaft», die in MWG übernommen wurden). Vgl. für die folgenden Ausführungen MWG  I/23, S. 147–207 (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel I: «Soziologische Grundbegriffe», §§ 1–13: «Methodische Grundlagen» bis «Verband»). 90 Vgl. Müller 1998 über das ‹Nibelungenlied›.

89

26



4.  Freundschaft als Analysekategorie

final zu befragen sind.91 Da Weber den Sinnbezug zunächst hauptsächlich dazu nutzt, um soziales Handeln gegenüber anderen Formen des Handelns und gegenüber zufälligen Ereignissen abzugrenzen, liegt der Fall dann doch nicht so problematisch, weil man von einem mehr oder weniger planmäßigen narrativen Arrangement ausgehen kann. Weber unterscheidet sodann vier Motive des sozialen Handelns: Wie jedes Handeln kann auch das soziale Handeln bestimmt sein 1. zweckrational: durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von anderen Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als ‹Bedingung› oder als ‹Mittel› für rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigne Zwecke, ­– 2. wertrational: durch bewußten Glauben an den – ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden – unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg, – 3. affektuell, insbesondere emotional: durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen, – 4. traditional: durch eingelebte Gewohnheit.92

Diese Bestimmungsgründe kommen in der Praxis nie rein vor, sondern in Kombinationen. Sie erklären auch das Handeln in sozialen Beziehungen, das Weber wie folgt definiert: Soziale ‹Beziehung› soll ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heißen. Die soziale Beziehung besteht also durchaus und ganz ausschließlich: in der Chance, daß in einer (sinnhaft) angebbaren Art sozial gehandelt wird, einerlei zunächst: worauf diese Chance beruht.93

Der Begriff ist nun gerade deshalb als erster Ansatzpunkt für die Bestimmung von Freundschaft in heldenepischen Texten geeignet, weil er zunächst nur ein gegenseitiges Eingestelltsein voraussetzt und noch keine konkreten Anforderungen an den Inhalt des beidseitigen Handelns stellt. Zu beachten ist, dass die Beteiligten nicht den gleichen Sinngehalt in ihr Handeln legen müssen, Gegenseitigkeit in einer sozialen Situation also keineswegs zwingend ist. Das ist v. a. bei konfliktbehafteten Momenten der Freundschaftsfigurationen wichtig. Unter sozialer Beziehung im Weber’schen Sinne können daher auch Feindschaft, Geschlechterliebe, Konkurrenz, Pietät, Austausch auf dem Markt etc. verstanden werden. Der Begriff bietet damit die oben besprochene notwendige Offenheit, die das Freundschaftskonzept in der Heldenepik benötigt, das vielfach auf Kampf und Agonalität als Darstellungsmitteln zurückgreift. Wichtig ist für die grundsätzliche begriffliche Fassung des Freundschaftsbegriffs aber seine relationale und dynamisch‑prozessuale Anlage, die ihn auch wesentlich mit Macht und Herrschaft verbindet (siehe Abschnitt fünf der Einleitung). Diesen Stand kann man nun mit Weber weiter präzisieren, der Handeln aus Interessenlage und Sitte gegenüber Handeln unter der Vorstellung einer legitimen Ordnung unterscheidet. Weber spricht von der Geltung der Ordnung, wenn die Chance besteht, dass sich die Beteiligten tatsächlich an dieser Ordnung orientieren. Der Sinngehalt des Handelns besteht dann im Handeln, das angebbaren Maximen folgt. Die Ordnung der Freundschaft gilt dann, insofern ihr eine wertrationale Orientierung unterliegt. D. h. bezogen auf die Texte, dass sie Freundschaft als Wert, ein Freundschaftsethos, installieren. 91 Vgl.

Dimpel 2011, S. 143–150. MWG I/23, S. 175 [Herv. im Orig.] (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel I: «Soziologische Grundbegriffe», § 2: «Arten des sozialen Handelns»). 93 MWG I/23, S. 177 [Herv. im Orig.] (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel I: «Soziologische Grundbegriffe», § 3: «Soziale Beziehung»). 92

27

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

Wichtig ist, dass die Ordnung nicht nur qua Befolgen gilt, sondern auch durch Umgehen und Verletzen und selbst bei gleichzeitiger Orientierung des Verhaltens an verschiedenen, einander widersprechenden Ordnungen. Die intakte Geltung zeigt sich dann daran, dass ein Bruch verhehlt werden muss. Auch dies kann theoretisch die konfliktbehafteten Momente von Freundschaft oder auch konfligierende triuwe‑Verpflichtungen einfangen. Weber differenziert nun – im Anschluss an Ferdinand Tönnies’ Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft  – soziale Beziehungen in Vergemeinschaftungen vs. Vergesellschaftungen und in offene vs. geschlossene Formationen. «‹Vergemeinschaftung› soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns – im Einzelfall oder im Durchschnitt oder im reinen Typus – auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht.»94 Die von Weber stark betonte Gefühlsebene der Zusammengehörigkeit scheint nun mit Blick auf die helden­epischen Texte problematisch, dies relativiert sich aber, wenn man betrachtet, dass Vergesellschaftungen als auf (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich beruhen und die Mehrzahl der sozialen Beziehungen teils den Charakter von Vergemeinschaftungen, teils den von Vergesellschaftungen tragen.95 Mit Blick auf die Heldenepen muss man für die Anwendung des Vergemeinschaftungsbegriffs die Ebene gefühlter Zuordnung ausdehnen und auch die Zuschreibungen durch Dritte einkalkulieren. Hier zeigen sich dann durchaus Signale, dass die Texte die beiden Freunde einander bei- und zuordnen etwa durch gemeinsame narrative Präsenz, durch entsprechende Figuren- oder Erzählerkommentare. ‹Subjektiver› Zugehörigkeitsausdruck findet sich zudem in den Klagen um den toten oder totgeglaubten oder den in räumlicher Distanz befindlichen Freund.96 Offen ist eine soziale Beziehung, wenn die Teilnahme an ihr allen Interessierten möglich ist. Geschlossen sind soziale Beziehungen hingegen, wenn der Sinngehalt der Beziehung oder ihre geltende Ordnung «die Teilnahme ausschließen oder beschränken oder an Bedingungen knüpfen».97 Die Motive für Öffnung oder Schließung (nach außen oder innen) können wiederum traditionell, affektuell, wert- oder zweckrational sein. Freundschaft könnte man als vorrangig affektuell bzw. affektiv und wertrational geschlossene soziale Beziehung bzw. Gemeinschaft begreifen, die sich gegenüber der vorrangig traditional geschlossenen Verwandtschafts- und Gefolgschaftsbeziehung abgrenzen lässt. Um Freundschaft nun noch gegenüber Liebesbeziehungen ausdifferenzieren zu können, muss der Charakter der wertrationalen bzw. affektiven Bindung konkretisiert werden. Eine negative Bestimmung wäre im Fehlen des Minneaffekts auszumachen. Positiv bestimmt werden kann die Freundschaftsbeziehung hingegen durch ein ausgeprägtes Ethos der triuwe. Zudem kann man die Bestimmungsgründe von Freundschaft inhaltlich weiter 94

MWG I/23, S. 194 f. [Herv. im Orig.] (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel I: «Soziologische Grundbegriffe», § 9: «Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung»). Beispielhaft erläutert er weiter: «Vergemeinschaftung kann auf jeder Art von affektueller oder emotionaler oder aber traditionaler Grundlage ruhen: eine pneumatische Brüdergemeinde, eine erotische Beziehung, ein Pietätsverhältnis, eine ‹nationale› Gemeinschaft, eine kameradschaftlich zusammenhaltende Truppe. Den Typus gibt am bequemsten die Familiengemeinschaft ab.» (MWG  I/23, S. 195, jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel I: «Soziologische Grundbegriffe», § 9: «Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung») 95 D. h. auch Vergemeinschaftungen können zusätzlich wert- und/oder zweckrational orientiert sein. 96 ‹Subjektiv› verwende ich hier zwar in Anlehnung an Weber, das Konzept setzt allerdings eine Form von Individualität voraus, die den heldenepischen Texten nicht gerecht wird. 97 MWG I/23, S. 198 (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel I: «Soziologische Grundbegriffe», § 10: «Offene und geschlossene Beziehungen»).

28



4.  Freundschaft als Analysekategorie

unterfüttern durch den «Tatbestand der Solidarität»98 im Sinne Webers, womit er meint, dass bestimmte Arten des Handelns von Beteiligten den anderen an der sozialen Beziehung Beteiligten zugerechnet werden. D. h. sowohl positive als auch negative Chancen und Konsequenzen fallen den Freunden gleichermaßen zugute oder zur Last. Des Weiteren lässt sich die Freundschaftsbindung als Form einer «Autoritätsbeziehung auf Gegenseitigkeit»99 nach Popitz fassen. Ich komme in Abschnitt 5. 1. dieser Einleitung genauer auf seine Machttypologie zu sprechen, möchte aber an dieser Stelle gezielt auf das für Freundschaften wichtige gegenseitige Autoritätsmoment aus- und vorgreifen. Popitz skizziert im Zuge seiner Ausführungen zur autoritativen Macht in «Phänomene der Macht» einen historischen Wandel von institutioneller Autorität in traditionellen Gesellschaften (Autorität haftet an bestimmten gesellschaftlichen Positionen) hin zu persönlicher Autorität, die sich aus persönlichen Beziehungen heraus entwickelt und die er weiter typisiert. Für die Anerkennung von Individualität benötigt man soziale Beziehungsräume, die sich der gesellschaftlichen Standardisierung entziehen und denen eine gewisse Abschottung gegen die Umwelt eignet, also Räume sozialer Nähe und Zweierbeziehungen von langer Dauer und Intensität wie in Liebes- und Freundschaftsbeziehungen. Diese Autoritätsbeziehungen auf Gegenseitigkeit sind geprägt von einer Reziprozität der Bindung und der Erwartungen. Sieht man vom für die Heldenepik problematischen Individualitätsbegriff ab, kann man mit Blick auf die Darstellung in den literarischen Texten durchaus davon sprechen, dass Freundschaften jene gegenseitigen Anerkennungsprozesse illustrieren, womit die beiden Akteure sich reziprok autoritative Macht übereinander einräumen. Die interne Spannung wird von den Texten dann je unterschiedlich bewältigt. Das Phänomen der gegenseitigen Autorität ist für die Texte v. a. immer genau dann ein vordringliches Problem, wenn den Protagonisten, die i. d. R. Herrschergestalten sind, die Anerkennung durch die ‹Umwelt› in Zeiten der Krise entzogen ist. Die Erwartung der gesellschaftlichen Validierung der eigenen Rolle wird funktional eingebunden. In einem anderen Text beschreibt Popitz dieses Phänomen als Gruppenautorität, das v. a. in egalitären oder leicht hierarchischen Gruppen vorkommt und bei der die Bindung der Mitglieder einer Gruppe den Charakter einer Autoritätsbindung hat, genauer. Begreift man Freundschaft als eine solche Kleingruppe, dann hat die Zugehörigkeit zu ihr für die Freunde einen autoritativen Wert, an dem die Selbstanerkennung hängt und der sich mit dem Grad der Schließung nach außen steigert, und beide sind gleichermaßen am Geben und Nehmen von Zugehörigkeitsanerkennungen beteiligt. «Es entsteht ein Autoritäts‑Zirkel, in dem jeder gefangen ist und den jeder in Gang hält.»100 Soziale Kontrolle ist allgegenwärtig und die Zugehörigkeit zur Gruppe wird permanent verhandelt. Zugehörigkeitsgewissheit/‑zweifel können durch Vertrauen oder Misstrauen, Nähe oder Distanz, Zuwendung oder Abwendung jederzeit von jedem der Freunde geschwächt oder gestärkt werden. Das ist auch für die Abgrenzung gegen vasallitische Verhältnisse konstitutiv, die aufgrund der vertikalen Anlage der Beziehung keine wechselseitig autoritativen Bindungen entfalten. Vasallität lässt sich eher mit dem Weber’schen Begriff des Verbands fassen:  98 MWG 

I/23, S. 203 (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel I: «Soziologische Grundbegriffe», § 11: «Vertretungsgewalt»).  99 Popitz ²1992, S. 154. 100 Popitz 1994, S. 319.

29

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen Verband soll eine nach außen regulierend beschränkte oder geschlossene soziale Beziehung dann heißen, wenn die Innehaltung ihrer Ordnung garantiert wird durch das eigens auf deren Durchführung ­eingestellte Verhalten bestimmter Menschen: eines Leiters und, eventuell, eines Verwaltungsstabes […].101

Wesentlich ist hierbei nicht die bloße Orientierung an der Ordnung, sondern dass das Handeln des Leiters (hier: Lehensherr) auf die Durchführung der Ordnung abzielt. Die Personen innerhalb des Verbandes sind dann darauf eingestellt, im Sinne der Ordnung zu handeln (hier: ihre Lehenspflichten zu erfüllen). Freundschaft zeichnet sich im hier verstandenen Sinne kurzgefasst durch gegenseitig aufeinander eingestelltes Handeln, wertrationale Bindung durch triuwe und Autorität auf Gegenseitigkeit, Zugehörigkeit i. S.  von Zuordnung der Freunde im Lichte der Figuren selbst oder durch Dritte (Erzähler, andere Figuren), relative Schließung nach außen und Solidarität aus. Daneben spielen erzählerische Mittel wie gemeinsame narrative Präsenz und (zumindest suggerierte) zeitliche Stabilität und Dauer der Beziehung eine Rolle. Der Begriff bleibt damit für die Textanalyse anschlussfähig und markiert zunächst Basiselemente, deren individuelle Ausprägung zu weiteren inhaltlichen Bestimmungen führen wird.

5.  Macht- und herrschaftssoziologische Perspektivierung von Freundschaft Die Freundschaftskonfigurationen der heldenepischen Texte aus macht- und herrschaftssoziologischer Sicht zu befragen, scheint geboten, um den bereits thesenhaft umrissenen Mechanismus von Freundschaft als Krisenbewältigungsphänomen genauer fassen zu können. Entsprechende Herrschaftskategorien zur Analyse werden benötigt, weil die Heldenfiguren der Texte gleichzeitig Herrschergestalten sind. Eine Unterscheidung in Macht einerseits und Herrschaft andererseits ist für meine Analyse grundlegend, insofern Macht eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Herrschaft ist. Zudem ergibt sich ein Zusammenhang von Freundschaft und Herrschaft nicht durch einen unmittelbaren Automatismus dergestalt, dass man einer Heldenfigur nur einen Freund zur Seite stellen müsste und dann lösten sich die Herrschaftsprobleme. Es stellt sich die zentrale Frage, wie Freunde ihren Freund und gleichzeitigen Herrscher stützen (oder in Fällen wie dem ‹Nibelungenlied› eben auch nicht stützen). Man kann versuchen, diese Frage sehr textnah zu beantworten, etwa indem man alle Stationen von Rat, Hilfe, Kampfbeistand, Rettung, gemeinsamer Flucht oder gar religiöser Konversion herausstellte. Aber das wäre dann nicht viel mehr als eine Aneinanderreihung beliebig substituierbarer Textstationen, die keine Rückschlüsse auf systematische ‹Gesetzmäßigkeiten› im Zusammenhang zwischen Freundschaft und Herrschaft zuließe. Eben jenen Brückenschlag, so meine ich, kann eine Machttheorie leisten, weil sie aufzeigen kann, welche Machtpotenziale die Freundesfiguren für die Herrschergestalten aktivieren. Wenn man davon ausgeht –  wie das die Soziologie gemeinhin tut  –, dass Macht axiologisch indifferent und omnipräsent ist, also jede Beziehung prägt, dann müsste Macht auch in Freundschaften gewichtig sein und könnte insbesondere als positiver Faktor wirken. Diese 101

30

MWG I/23, S. 204 [Herv. im Orig.] (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel I: «Soziologische Grundbegriffe», §§ 12 f.: «Verband»).



5.  Macht- und herrschaftssoziologische Perspektivierung von Freundschaft

trianguläre Konstellation von Freundschaft, Macht und Herrschaft bildet das Zentrum der Arbeit. Freundschaft wird durch die Aspekte Macht und Herrschaft nicht etwa gestört oder exkludiert, sondern Bedingung ihrer Ausübung, Stabilisierung und Erweiterung. Durch eine Analyse sowohl der Macht- als auch Herrschaftsverhältnisse kann nicht nur der Macht zwischen gleichrangigen Waffenbrüdern, sondern auch der Macht des rangniederen Freundes gegenüber dem ranghöheren Freund und zugleich Herrscher Geltung verschafft werden. Da Freundschaft auch innerhalb von Vasallitätsverhältnissen situiert sein kann, muss man bei den folgenden Leitfragen im Zentrum des textanalytischen Interesses zwischen status- bzw. rangmäßig symmetrischen und asymmetrischen Männer- bzw. Frauenfreundschaften differenzieren: Bei asymmetrischen Freundschaftsdyaden wäre zum einen nach den intern verteilten Machtverhältnissen, die mit der Machttypologie von Popitz erfasst werden sollen, zu fragen. Daneben interessieren bei asymmetrischen Freunden bzw. Freundinnen v. a. die Machtpotenziale des bzw. der Rangniederen gegenüber dem bzw. der Ranghöheren, die sich primär dadurch ergeben, dass die Beziehungen die äußere Asymmetrie nach innen als Symmetrie camouflieren, wodurch sich Möglichkeiten ergeben, intern vom Rang unabhängige Machtasymmetrien zu zeigen und spezifisch zu nutzen.102 Weiterführend muss dann bedacht werden, inwiefern die Machtpotenziale dazu beitragen, die Herrschaftskrise zu begleiten und zu überwinden. Bei symmetrischer Freundschaftskonstellation, etwa bei Kriegerfreundschaften unterhalb der Herrschaftsebene, wäre demgegenüber die Frage zu stellen, wie die Freundschaft der beiden die Herrschaft eines Dritten befördert. Die übergreifende Frageperspektive lässt sich wie folgt zusammenfassen: Inwiefern führen die Machtprozesse innerhalb der Freundschaftskonstellationen zur Entwicklung, Stabilisierung und/oder Erweiterung von Herrschaft? Betrachtet man nun das vielfältige Theorieangebot der Soziologie zu Macht und Herrschaft, so kann man Imbusch beipflichten: In Bezug auf Macht und Herrschaft scheint nur in einer Hinsicht Übereinstimmung zu bestehen, dass man nämlich äußerst unterschiedlicher Meinung sein kann, was diese Phänomene bedeuten, wie sie zu charakterisieren sind und wie man sie überhaupt messen oder generell feststellen kann. Nicht nur gibt es eine unendliche Vieldeutigkeit der mit dem Begriff Macht belegten Phänomene, sondern es existiert auch ein unscharfer Wortgebrauch, der Macht nur ungenügend von ähnlichen oder verwandten Phänomenen (etwa Autorität, Einfluss, Zwang, Gewalt etc.) abgrenzt.103

Die mangelnde Trennschärfe und Pluralität des Machtbegriffs sah schon Weber, der Macht in den «Soziologischen Grundbegriffen» von «Wirtschaft und Gesellschaft» als «soziologisch amorph»104 definiert. Seine berühmte Begriffsbestimmung zeigt aber zu102

Vgl. die Ausführungen zur Gleichheitsfiktion in asymmetrischen Beziehungen, wie sie die Geschichtswissenschaft herausgearbeitet hat, in Abschnitt vier dieser Einleitung. Diese Konstellation findet sich auch in den literarischen Texten. 103 Imbusch 82010, S. 164. Die Klage über die diffusen theoretischen Fassungen von Macht und Herrschaft innerhalb der Soziologie ist selbst zur wissenschaftlichen Geste geronnen. Beispielhaft sei Lukes 1983, S. 106, zitiert: «In der Erörterung der Macht, so hat es den Anschein, anything goes.» Das Theorieangebot ist entsprechend breit: Parsons, Dahrendorf, Elias, Giddens, Bourdieu, Foucault etc. Auch das Spektrum der konkreten Untersuchungsgegenstände von Macht und Herrschaft ist kaum noch zu überblicken. 104 MWG I/23, S. 211 (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel I: «Soziologische Grundbegriffe», § 16: «Macht und Herrschaft»). Weber setzt erläuternd hinzu: «Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen.» (ebd.)

31

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

gleich, dass abstrakte Aussagen über Macht wenig zu ihrer Erkenntnis beitragen: Weber definiert als Macht «jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.»105 Während sich Weber daher konsequenterweise dem in seinen Augen analytisch präziser fassbaren Herrschaftsphänomen zuwandte, ist für die hier leitenden Fragestellungen eine Differenzierung und begrifflich operationalisierbare Fassung beider Komplexe notwendig. Insofern bietet sich eine Kombination der Machttheorie von Popitz106 und der Herrschaftssoziologie von Weber an, die sich hinsichtlich ihrer Prämissen als äußerst kompatibel und gegenüber dem Freundschaftsbegriff als anschlussfähig erweisen. Die Kategorisierungen von Weber und Popitz sind operationalisierbar und differenziert genug, um sie gewinnbringend auf die literarischen Texte anwenden zu können.107 Beide Theorien ergänzen und erhellen einander gegenseitig. In einer bewusst vergröbernden Perspektive kann man konstatieren, dass beide Herrschaft jeweils als institutionalisierten, verfestigten, legitimierten «Sonderfall von Macht»108 betrachten, wobei Weber seinen Fokus auf Herrschaft und deren aktuelle Geltung im status quo legt und Popitz demgegenüber Macht und deren Institutionalisierungsprozesse betrachtet, also Herrschaft in statu nascendi und damit denjenigen kritischen Zustand, in dem sich die Figuren der zu untersuchenden Texte vielfach befinden. Neben dieser Komplementarität auf der herrschaftstheoretischen Ebene ergeben sich auch zahlreiche Ähnlichkeiten hinsichtlich der Basisannahmen, die zugleich auch auf die literarischen Texte zutreffen. Vergleicht man allein die oben stehende Machtdefinition Webers mit derjenigen von Popitz – «‹Macht› in einem allgemeinen anthropologischen Sinn meint etwas, was der Mensch vermag: das Vermögen, sich gegen fremde Kräfte durchzusetzen.»109 – so fallen mehrere Parallelen auf:110 Die Rede von der ‹Chance› bzw. dem ‹Vermögen› verweist auf die Potenzialität von Macht, die wiederum nur innerhalb 105 MWG  I/23,

S. 210 (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel I: «Soziologische Grundbegriffe», § 16: «Macht und Herrschaft»). Diese Definition wurde vielfach sehr einseitig dergestalt ausgelegt, dass das Ausüben von Macht immer Widerstreben und Unterliegen impliziert. Weber räumt aber selbst ein, dass Macht angesichts ihrer Vielgestaltigkeit nicht immer bedeutet, den eigenen Willen durchzusetzen. Zur Auslegungspraxis in der Soziologie vgl. Abels 42009, S. 240. Die Popularität des Weber’schen Machtbegriffs liegt nach Brodocz 2013, S. 10 f., daher weniger in seinen klaren konzeptuellen Grenzen begründet, sondern vielmehr in den vielfältigen Anknüpfungs- und Variationsmöglichkeiten. Es können darunter verschiedene Arten von Chancen, sozialen Beziehungen, aber auch verschiedene Varianten des eigenen Willens, des Widerstrebens, der Durchsetzung und der Machtressourcen subsumiert werden. Diese Offenheit macht den Begriff aber analytisch für meine Zwecke unbrauchbar. 106 Während Weber zu den Klassikern der Soziologie und insbesondere der Herrschaftssoziologie zählt, die Verwendung seines theoretischen Instrumentariums daher naheliegt, kann man Popitz als jüngeren Klassiker bezeichnen. Obwohl eine systematische Popitz‑Rezeption noch aussteht, kann man seine Studie «Phänomene der Macht» als grundlegend für das Feld der politischen Soziologie betrachten. Stärkere Anknüpfungen gab es bisher v. a. an den Typus der Aktionsmacht, aber auch die anderen Machtformen erhellen Basiszusammenhänge. Einen Überblick über die Popitz‑Rezeption bietet Pohlmann 2005, S. 21 f., der auch eine Einführung in Denken und Werk gibt. 107 Begriffliche Präzisierungen sind auf diesem Feld ungemein wichtig, um verschiedene Formationen von Macht und Herrschaft überhaupt erst erkennen und dann analysieren zu können. Anter 2013, S. 153, formuliert das so: «In der sozialwissenschaftlichen Theorie haben sich meist diejenigen Konzepte durchgesetzt, die plausible Unterscheidungen anbieten können und in der Lage sind, diese zu operationalisieren. So verhält es sich bei Webers Herrschaftstypologie; so verhält es sich auch bei Popitz’ Grundformen der Macht.» 108 MWG I/22–4, S. 127 (ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitt: «Herrschaft», § 1: «Macht und Herrschaft. Übergangsformen»). 109 Popitz ²1992, S. 22. 110 Popitz ²1992 knüpft in seinen Essays zur Macht mehrfach explizit an Weber an. So folgt er S. 232 Webers

32



5.  Macht- und herrschaftssoziologische Perspektivierung von Freundschaft

sozialer Beziehungen, aber nicht zwangsläufig innerhalb gesellschaftlicher Ordnungen besteht. Macht ist ein situationskonkreter, handlungsbezogener Begriff, der an Interaktion und einen personalen Charakter gebunden ist.111 All dies verweist auf eine latente Instabilität des Phänomens. Macht ist damit zugleich auch ein primär relationaler und dynamisch ausgerichteter Begriff. Man kann Macht – entgegen alltagsweltlicher Redewendungen – nicht besitzen, sondern sie entsteht im Handeln und bleibt daran gekoppelt. Webers Definition ist in dieser Hinsicht wörtlich zu nehmen, denn die Chance zur Durchsetzung des eigenen Willens besteht außerhalb einer sozialen Beziehung gar nicht.112 Macht ist demnach ein Element aller sozialen Beziehungen. Webers anthropologische Grundierung des Machtverständnisses ist bei Popitz expliziert. Macht ist laut Popitz omnipräsent und konstitutiv für menschliche Beziehungen, wodurch Macht Vergesellschaftung von Grund auf bestimmt.113 Beide Theorien sind zudem intentional angelegt und kalkulieren, dass der eigene Wille auf Widerstand stoßen kann. Dieses Widerstreben gehört aber nicht zwangsläufig zum Machtphänomen, womit Gewalt nicht glatt verrechnet werden darf. Der Zusatz «gegen Widerstreben» bzw. gegen «fremde Kräfte» verdeutlicht zunächst nur, dass mit der Intention der Macht auch eine mögliche Wirkungschance verbunden sein muss, sonst handelt es sich lediglich um einen ohnmächtigen Willen oder bloßen Wunsch. Es bedeutet aber noch nicht, dass Handeln wirklich erfolgreich sein muss. Praktisch heißt das, dass Macht in Widerstandssituationen eindeutiger intentional zugerechnet werden kann als in Situationen mit problemloser Fügsamkeit.114 Macht bedarf im Gegensatz zu Herrschaft weder der Zustimmung noch der Legitimation. Wichtig ist hierbei, die Theorien nicht einer einseitigen Lesart zu unterwerfen, wonach Macht destruktiv wirkt. Macht ist moralisch und normativ zunächst indifferent, in der neueren Soziologie dominiert daher in Übereinstimmung mit Weber und Popitz die funktionale Sichtweise, dass sich aus Macht eine grundsätzliche Gestaltungsfähigkeit aus dem Wechselspiel von Fähigkeiten und Abhängigkeiten in sozialen Beziehungen ableitet. Macht kann konstruktiv im Sinne von Handlungsorientierung und -koordination wirken, kann Stabilität und Ordnungssicherheit bieten.115 Dies ist v. a. mit Blick auf die hier angestrebte Kopplung an (die begrifflich schon präzisierte) Freundschaft und (die noch definitorisch zu umreißende) Herrschaft eine entscheidende Dimension. Während Weber den Machtbegriff angesichts der Unbestimmtheit seiner Quellen und Wirkungen nicht weiter entfaltet, führt Popitz unter explizitem Rückgriff die bei Herrschaftsdefinition. Stets ist er aber bestrebt, Webers Konzepte weiterzuentwickeln und zu präzisieren. Vgl. Pohlmann 2005, S. 8. 111 Das passt zum hier verfolgten handlungstheoretisch ausgerichteten Freundschaftsbegriff. 112 Vgl. Anter 2012, S. 55–59; Imbusch 82010, S. 164; Imbusch ²2012, S. 10. 113 Vgl. Anter 2012, S. 34. Dass Macht konstitutiv für jede soziale Beziehung und damit für die gesamtgesellschaftliche Organisation ist, hatte bereits Norbert Elias mit Nachdruck betont. 114 Vgl. Treiber 2007, S. 149. Insbesondere am oftmals schweren Stand der ratgebenden Freunde zeigt sich im Endeffekt dann doch deren Macht gegenüber dem Helden. Um nur ein erstes Beispiel zu geben: Hildebrants Rat gegenüber Dietrich läuft vielfach oft ins Leere oder wird von Dietrich sehr kritisch aufgenommen, setzt sich zuletzt aber doch durch. 115 Anter 2012, S. 47 f., fasst zusammen: «Die alte Frage, ob Macht etwas Gutes oder Böses sei, lässt sich nicht pauschal beantworten, weil Macht sehr verschiedene Gesichter hat. […] Es wäre also verfehlt, die Macht generell auf die Seite des Guten oder Schlechten zu stellen. Sie kann die Ordnung bewahren, aber auch bedrohen; sie kann sowohl gut als auch böse sein.» Vgl. auch Anter 2013, S. 158; Maurer 2006, S. 94 f.

33

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

Weber offen gebliebenen Fragen weiter, inwieweit sich verschiedene Formen von Macht unterscheiden lassen, um von dort aus deren Voraussetzungen und Folgen zu betrachten. So entsteht eine im Folgenden genauer darzustellende, soziologisch vielversprechende Heuristik, die zudem die Lücke zum Sonderfall der Herrschaft als transpersonalem Verhältnis, dem ich mich in Abschnitt 5. 2. unter Webers Typologie der Herrschaftsformen nähere, schließt.

5.1.  Heinrich Popitz: Typen der Macht und Genese von Herrschaft Popitz hat seine Machttheorie in mehreren Essays, die zwischen 1968 und 1992 entstanden sind, entfaltet und sie in «Phänomene der Macht», seinem sicherlich bedeutendsten Werk, zusammengestellt.116 Obwohl es sich um Einzelstudien handelt, ist die Gesamtkonzeption systematisch geschlossen. Popitz’ Denken über Macht hat eine sozial‑anthropologische Grundlage verbunden mit einem Universalitätsanspruch. Er geht davon aus, dass Macht als Element der conditio humana unausweichlich in allen menschlichen Beziehungen präsent ist.117 Mittels dieser «Anthropologisierung des Macht‑Konzepts»118 kann er drei wesentliche Strukturmerkmale und Prämissen von Macht herausarbeiten:119 (1) Machbarkeit von Macht i. S.  der Konstruierbarkeit und Veränderbarkeit von Machtbeziehungen sowie sozialen Ordnungen; (2) Omnipräsenz von Macht, die jede soziale Beziehung durchdringt; (3) Freiheitsbegrenzung durch Macht, die damit rechtfertigungsbedürftig, prekär und instabil ist. Die mit der zweiten Prämisse adressierte «Generalisierung des Machtverdachts»,120 wonach Macht soziale Beziehungen jedweder Art formen kann, gilt es, v. a. hinsichtlich der Freundschaften in den literarischen Texten im Blick zu behalten. Diesen Befund befragt Popitz dahingehend, auf welchen Fähigkeiten die Macht von Menschen über Menschen beruht und warum Macht ‹ertragen› wird. Diese Fragen führen ihn zu vier anthropologisch nicht weiter reduzierbaren vitalen Abhängigkeiten bzw. Bedürfnissen des Menschen. Ihnen entsprechen vier Grundformen der Macht, von denen sich wiederum andere Typologisierungsmöglichkeiten ableiten lassen. Macht steht demnach im Konnex von grundlegendem menschlichem Handlungsvermögen und menschlichen Bedürfnissen. Im Sinne Weber’scher Idealtypen121 führt Popitz alle empirischen Machtphänomene auf die Grundtypen der Aktionsmacht, der instrumentellen Macht, der autoritativen Macht und der datensetzenden Macht zurück. Diese antworten auf die 116

Christ 2010, S. 253, meint, dass Popitz durch «Phänomene der Macht» (1. Auflage 1986, 2. Auflage 1992 um vier Kapitel erweitert) zu einem der wichtigsten Theoretiker der deutschsprachigen Gewaltforschung geworden ist. Die anderen Machtformen harren noch der Forschungsdiskussion. 117 Vgl. Popitz ²1992, S. 11. 118 Ebd., S. 21. Für diese und folgende Ausführungen vgl. den Essay «Das Konzept Macht» (1992), S. 11–39. 119 Vgl. ebd, S. 12–20. Popitz leitet die Prämissen zwar geistesgeschichtlich her, sieht sie aber nicht auf historische Konstellationen begrenzt, sondern verbindet mit ihnen einen universalen Anspruch. Insgesamt nehmen daher die Analysen der modernen Gegenwartsgesellschaft für soziologische Verhältnisse wenig Raum ein. Vgl. Pohlmann 2005, S. 5 f. und 9. 120 Popitz ²1992, S. 16 [Herv. im Orig.] (im Essay «Das Konzept Macht» [1992]). 121 Vgl. Anter 2012, S. 83. Beim Idealtypus handelt es sich um eine erkenntnisfördernde Konstruktion, bei der unter Abstraktion von der Wirklichkeit ein Modell gewonnen wird, dass ideale Phänomene und Strukturzusammenhänge verstehen und erklären kann. Der Idealtypus wird nicht aus dem Durchschnitt der Wirklichkeit gebildet, sondern ist ein gedanklicher Entwurf, der das Charakteristische einer Erscheinung in idealer Weise steigert. Weber nutzt die Idealtypen‑Methode zur Definition von soziologischen Begriffen und zur Erklärung ihrer Zusammenhänge. Vgl. Abels 42009, S. 33–36.

34



5.  Macht- und herrschaftssoziologische Perspektivierung von Freundschaft

Grundprobleme der sozialen Existenz von Menschen, nämlich seiner Verletzbarkeit, seiner Zukunftsorientierung in Interaktionen, seiner Maßstabs- und Anerkennungsbedürftigkeit und schließlich seiner Angewiesenheit auf Artefakte.122 In funktionalistischer Perspektive kommen Machtverhältnisse dem Bedürfnis nach Sicherheit und Verbindlichkeit entgegen, indem sie Komplexität reduzieren und von Entscheidungszwängen/‑konflikten entlasten. In den von Popitz als «Ordnungssicherheit» und «Investitionswert» bezeichneten Aspekten liegt die eigentliche Bedeutung des Machtkonzepts in anthropologischer Hinsicht und das lässt Macht auch für die Machtunterworfenen attraktiv erscheinen.123 Sehr zugespitzt könnte man formulieren, dass der Machttrieb von alter dem Sicherheitstrieb von ego entspricht. Demzufolge können sich Machtbeziehungen v. a. dann behaupten, wenn sie Sicherheitsbedürfnisse befriedigen.124 Diese Überlegungen werden sich bei der Textanalyse als fruchtbar erweisen. Die vier Grundformen der Macht tauchen realiter –  auch dies analog zu Webers Idealtypenkonzept  – meist in Mischformen auf und können Macht durch Kombination akkumulieren.125 Unterhalb dieser Machtarten operiert Popitz leider nicht ganz systematisch mit weiteren Machtdimensionen, die man im Anschluss an Imbusch grob mit Machtquellen (Überlegenheit/physische Stärke, Persönlichkeit/​Charisma, Eigentum/​ Besitz, Organisation), Machtmitteln bzw. Medien der Machtausübung (Kapital im umfassenden Sinne Bourdieus, Organisationen, Sanktionsgewalt des Amtes, Information) und Wirkungsmechanismen von Macht (Sanktion, Kompensation, Manipulation) umreißen kann.126 Ich werde auf diese Überlegungen in der Textanalyse gelegentlich zurückgreifen, da es hierzu aber noch keine umfassenden theoretischen Grundlagen gibt und die Kategorisierungen Imbuschs Überlagerungsphänomene zwischen den verschiedenen Dimensionen erkennen lassen, kann das keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder hinreichende analytische Trennschärfe erheben. Zu beachten gilt es aber grundsätzlich, dass durch die Kombination der verschiedenen Machtdimensionen ihre Reichweite, ihr Geltungsgrad und ihre Wirkintensität variieren, was v. a. hinsichtlich der Geschlechterdifferenzierung in den literarischen Texten größerer Aufmerksamkeit bedarf. Was versteht Popitz nun unter den einzelnen Grundformen der Macht? (1) Verletzende Aktionsmacht bzw. Verletzungsmacht beruht einerseits auf der Verletzungsfähigkeit und andererseits auf der Verletzbarkeit des Menschen.127 Über diese Form der Macht kann 122 Vgl.

Popitz ²1992, S. 32. Dass wir Machtverhältnisse akzeptieren, begründet Popitz mit eben jenen vitalen Abhängigkeiten: «Wir leben eine verletzbare Existenz, angewiesen auf Artefakte, zukunftsbezogen und begründungsbedürftig in unserem Handeln. Daher müssen wir Macht erleiden.» 123 Vgl. ebd., S. 221–227 (im Rahmen des Essays «Prozesse der Machtbildung» [1968]). Ordnungssicherheit ließe sich als mehr oder weniger feste Gewissheit hinsichtlich Verhaltenserwartungen in Interaktionen übersetzen. Investitionswert meint das investierte Interesse in eine Ordnung, wodurch die Bindung an die Ordnung mit zeitlich fortschreitender Dauer immer enger wird. Beide Aspekte bilden den sog. «Ordnungswert» der Ordnung. 124 Vgl. Anter 2012, S. 51 und 88 f.; Anter 2013, S. 156 f.; Abels 42009, S. 254. Anter 2012, S. 51, verweist darauf, dass der Entlastungsaspekt die Machttheorie anschlussfähig an die Institutionentheorie macht. Das Potenzial des Konzepts der Ordnungssicherheit sei aber generell noch längst nicht erschlossen (ebd., S. 153). 125 Vgl. Popitz ²1992, S. 35–37. 126 Vgl. Imbusch 82010, S. 169–173. 127 Vgl. zu den folgenden Ausführungen Popitz ²1992, S. 24 f. und 43–46 (Essay «Gewalt» [1986], S. 43–78). Auf den Seiten 48–75 widmet sich Popitz dem Phänomen der Entgrenzung menschlicher Gewaltverhältnisse, der absoluten Gewalt des Tötens, der totalen Gewalt, die Terrorakte erklärt, und auch der Ordnungsstiftung durch Gewalt. Beim letzten Punkt macht Popitz einen circulus vitiosus aller Gewaltbewältigung aus: Gewalt lässt sich nur in sozialen Ordnungen bewältigen, diese müssen aber ihrerseits gewaltfähig sein.

35

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

theoretisch jeder verfügen, obschon sie ungleich verteilt ist aufgrund von Begabung, Übungsgewinnen usw. Sie ist relativ voraussetzungslos und ressourcenunabhängig, es müssen nur die interagierenden Partner anwesend sein. Da der Mensch in verschiedener Hinsicht verletzungsoffen ist – kreatürlich, ökonomisch und sozial – unterscheidet Popitz als Subkategorien (a) Machtaktionen zur körperlichen Verletzung, also Gewalt, daneben (b) Aktionen zur materiellen Schädigung und schließlich (c) Aktionen zur Minderung sozialer Teilhabe, also der gesellschaftlichen Integrität. Die drei Subtypen können durch verbalen Tadel und Vorwarnungen angekündigt werden, sie können kombiniert und intern gesteigert werden. Gewaltaktionen können sich von körperlicher Verletzung über Zufügen von Schmerz und Verstümmelung bis hin zum Tod intensivieren. Aktionen gegen soziale Teilhabe können beginnen mit Distanzierungen, Kontaktvermeidung, dann folgen Handlungen, die andere herabsetzen und verspotten, es schließen sich formelle Status‑Degradierungen an und münden in vollkommenem gesellschaftlichem Ausschluss, Vertreibung, Einsperren und Entmündigung. Der Geschädigte hat als Außenseiter, als Unbemittelter bzw. als Verletzter durch die Machtaktionen seine Konkurrenzfähigkeit verloren, ein Machtgefälle wurde installiert. Popitz macht hier ausschließlich die negativ‑destruktive Seite von Aktionsmacht stark. Im Sinne der oben referierten soziologischen Einsicht, dass Macht axiologisch indifferent ist, werde ich in der Textanalyse durchaus auch die positiv, integrierenden Aspekte dieser Machtform betonen. Das erscheint mir v. a. im Hinblick auf die Frage sozialer Teilhabe nur folgerichtig. (2) Instrumentelle Macht als Unterwerfungsmacht basiert zum einen auf der verhaltenssteuernden Kraft von Drohungen und Versprechen und zum anderen auf der Zukunftsorientiertheit des Menschen.128 Sie ist damit voraussetzungsreicher als Aktionsmacht, weil man glaubhaft über Gewähren oder Entzug von Gratifikationen verfügen muss, kann aber demgegenüber Macht räumlich entgrenzen, zeitlich auf Dauer stellen und langfristig das Verhalten anderer steuern.129 Die Sanktionsmittel, die Angst bzw. Hoffnung erzeugen, erhöhen die Wahrscheinlichkeit der Befolgung, gänzlich kann diese Machtform aber nicht auf Kontrolle verzichten. Versprechen und Drohen nutzen dabei die prinzipielle Ungewissheit alles Zukünftigen bei gleichzeitiger Zukunftsorientiertheit des Menschen machtproduktiv für langfristige Manipulationen aus. Auch wenn sich Popitz in seinen weiteren Ausführungen auf Drohungen beschränkt, so liegen doch sowohl Drohungen als auch Versprechen ähnliche Strukturzusammenhänge zugrunde, sodass ich seine Überlegungen zur Drohung analog für den Bereich des Versprechens weiterführe: Beide operieren mit Alternativen und teilen die Handlungen des Betroffenen in zwei Klassen (Fügsamkeit vs. Nichtfügsamkeit, richtig vs. falsch etc.): Die Methode instrumenteller Machtausübung ist die Formulierung einer Alternative, eines Entweder  –  Oder. Der Alternativensteller teilt das Verhalten des Betroffenen in zwei Klassen, in Fügsamkeit und Unbotmäßigkeit. Er dichotomisiert alles, was der Betroffene tun könnte, in Ja- und Nein‑Handlungen. Was immer der Betroffene tun wird – es wird zwingend zur Antwort auf eine Frage,

128 129

36

Für die folgenden Ausführungen vgl. ebd., S. 26 und 79–103 (Essay «Drohen und Bedrohtsein» [1992]). Popitz ²1992, S. 26, führt aus: «Die instrumentelle Macht des Drohens und Versprechens ist die typische Alltagsmacht, die konventionelle Form der Durchsetzung gegen fremde Kräfte. Zugleich ist sie ein notwendiges Element aller dauerhaften Machtausübung. Jedes langfristige Machtverhältnis beruht auch auf instrumenteller Macht.» [Herv. im Orig.]



5.  Macht- und herrschaftssoziologische Perspektivierung von Freundschaft die er sich selbst nicht gestellt hat. Er kann nicht nicht antworten. Die Definition seiner Situation ist oktroyiert.130

Der Alternativensteller gibt Frage und Alternativen vor und begrenzt damit den Interpretationsrahmen für den Betroffenen. Er baut in die Alternative eine Präferenz ein und versucht diese durch ungleichgewichtige Belastung mit Sanktionsverzicht vs. Sanktionsanwendung in Übereinstimmung mit dem Betroffenen zu bringen. Bei Drohungen führt dann abweichendes gegenüber dem geforderten Verhalten zur Durchsetzung der negativen Sanktion, bei konformem Verhalten zu Sanktionsverzicht. Bei Versprechen führt spiegelbildlich konformes Verhalten zur Durchführung der positiven Sanktion und abweichendes Verhalten zum Sanktionsverzicht. In beiden Fällen ist der Alternativensteller zugleich Vollziehender oder Auslöser der Sanktion, weil er in dem von ihm formulierten Alternativen selbst vorkommt. Das unterscheidet instrumentelle Macht von Einfluss, da z. B. der Warnende, Ratgebende nicht selbst in seine Überzeugungsversuche involviert ist, während der Drohende oder Versprechende sein eigenes Verhalten explizit vom zukünftigen Verhalten anderer abhängig macht. Drohungen sind gegenüber Versprechen aber rentabler und stärker steigerungsfähig, weil der Drohende im Falle von Konformität gar nichts tun muss, während der Versprechende in diesem Fall das konforme Verhalten belohnen muss. Das im Falle von Konformität bei Drohungen ‹gesparte› Machtpotenzial kann wiederum für weitere Drohungen genutzt werden. (3) Die Grundlage autoritativer Macht bildet die «Orientierungsbedürftigkeit, Maßstabs‑Bedürftigkeit»131 des Menschen, sein Bedürfnis nach handlungsleitender Sicherheit.132 Autoritative Macht vermag im Gegensatz zu instrumenteller Macht nicht nur das Verhalten, sondern auch Einstellungen zu steuern. Der Autoritätsabhängige übernimmt und verinnerlicht Urteile, Meinungen, Wertmaßstäbe und Perspektiven von der Autoritätsperson, deren Autorität letztlich auf dem Wunsch des anderen beruht, von ihm oder ihr anerkannt zu werden. Autoritative Macht ist damit aber noch voraussetzungsreicher als instrumentelle Macht, weil sie willentliche und internalisierte Folgebereitschaft erzeugen muss. Dafür wirkt sie aber auch außerhalb des unmittelbaren Kontrollbereichs, eben weil eine innere Kontrollinstanz installiert wurde: Der Abhängige kontrolliert sich selbst entsprechend den Vorstellungen der Autoritätsperson. Folgebereitschaft kann erwartet werden, ohne dass es weiterer Mittel zur Durchsetzung bedürfte. Autoritative Macht ist allerdings in dieser Hinsicht auch prekär und riskant, weil schwer vorhersehbar ist, welche Einstellungen wie übernommen werden, wie Anerkennung vom Gegenüber aufgefasst wird usw. Der Verinnerlichungsprozess kommt verallgemeinert dadurch in Gang, dass die Selbstanerkennung einer Person auf der sozialen Anerkennung durch andere fußt, quasi einer inneren Repräsentation der Fremdanerkennung. Wenn dieses Anerkennungsstreben auf eine bestimmte, für den Abhängigen subjektiv wichtige Person fixiert wird, entstehen autoritative Bindungen, die sich wechselseitig bekräftigen: Der Abhängige erkennt die Autoritätsperson besonders an, weil er von ihr selbst besonders anerkannt werden will, gerade weil davon wiederum sein Selbstwertbewusstsein abhängt. 130

Ebd. Während dem Betroffenen bei Aktionsmacht etwas angetan wird, wird er bei instrumenteller Macht zum Werkzeug eines fremden Willens. 131 Ebd., S. 28. 132 Für die folgenden Ausführungen vgl. ebd., S. 28 f. und 104–159 (Essays «Die Autoritätsbindung» [1986] und «Autoritätsbedürfnisse. Der Wandel der sozialen Subjektivität» [1987]).

37

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

Diese Autoritätsbeziehung kann für Macht fruchtbar gemacht werden, wenn die Autoritätsperson die Anerkennungsbedürftigkeit des Anderen dazu nutzt, dessen Verhalten, Einstellungen und Art der Wahrnehmung durch Gabe oder Entzug von Anerkennung zu steuern. Autoritative Macht operiert wie instrumentelle Macht mit Alternativen, nämlich von erhoffter Anerkennung oder befürchtetem Anerkennungsentzug. Machthaber dieser Machtform sind insofern Vermittler normativer Ordnungen. Popitz verweist zwar beispielhaft auf Priester, Könige und Patriarchen, er will Autorität aber gerade nicht als etwas Außergewöhnliches im Sinne von Webers Charisma‑Konzept verstehen, sondern als Alltagsphänomen. Wer sich einer Autoritätsperson unterwirft, erkennt zwar deren Überlegenheit an, diese kann aber ganz partiell (Vorzüge des Habens, des Könnens oder des Wissens) oder generell‑vage sein (Prestige als unfassbare Superiorität). Popitz arbeitet zudem deutlich die Ambivalenzen des Autoritätskonzeptes heraus, das Gutes ebenso wie Schlechtes bewirken und jederzeit auch umschlagen kann (Nähe von Bewunderung und Hass, Treue und Verrat). (4) Datensetzende Macht ist am voraussetzungsreichsten, weil sie auf technischem Handeln beruht.133 Diese Macht vermittelt sich über Objekte und der in den technischen Artefakten steckenden Eingriffsmacht in die Lebensbedingungen anderer Menschen. Indem man die Umwelt technisch handelnd ändert, setzt man gewissermaßen Daten, denen die Machtbetroffenen ausgesetzt sind. Auch wenn Popitz’ Machttypologie wesentlich zu einem differenzierten Machtverständnis beiträgt, so weist sie doch Inkonsistenzen auf, auf die Anter zu Recht hinsichtlich der datensetzenden Macht abhebt. Diese Machtform liegt kategorial auf einer anderen Ebene als die anderen Machtformen, ihr anthropologischer Bezug ist auch deutlich schwächer ausgeprägt.134 An diesem Punkt ist die Theorie weiterzuentwickeln. Mit Blick auf die literarischen Texte schlage ich ein abstrakteres Verständnis datensetzender Macht vor, das vom technischen Bezug entkoppelt wird. Datensetzende Macht wäre dann gegeben, wenn die Situation des Machtbetroffenen (Daseinsbedingungen, Umwelt) geändert werden und damit seine Verhaltensspielräume eröffnet und begrenzt werden. Dieser Eingriff in die Umwelt kann wiederum bedingt sein durch Einfluss, Wissen usw. Popitz hat nun neben den Grundformen der Macht auch Akte der Machtausbildung an Beispielen illustriert und leitet daraus mehrere Zusammenhänge ab. Macht entsteht, stabilisiert und vergrößert sich in Verbindung mit überlegener Organisationsfähigkeit, mit exklusiven Verfügungsgewalten über mehr oder weniger knappe und damit begehrte Güter und mit Prozessen gegenseitiger Anerkennung.135 Im letzten Teil der «Phänomene der Macht» fasst Popitz dann die Dynamiken der Institutionalisierung von Macht in Richtung auf Herrschaft theoretisch‑systematischer und stellt zunächst drei Tendenzen heraus, nämlich Entpersonalisierung, Formalisierung und Integration von Machtverhältnissen in eine übergreifende Ordnung.136 Macht wird von Personen gelöst und an be133 Für

die folgenden Ausführungen vgl. Popitz ²1992, S. 30 f. und 160–181 (Essay «Technisches Handeln» [1986]). 134 Vgl. Anter 2013, S. 155. 135 Vgl. Popitz ²1992, S.  185–231 (Essay «Prozesse der Machtbildung» [1968]). Als Beispiele betrachtet er Situationen in einem Passagierschiff, im Gefangenenlager und in einem Internat, in denen alle Beteiligten unter gleichen Voraussetzungen starten und sich dennoch Machtverhältnisse herausbilden. 136 Vgl. ebd., S. 233. Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich auf S. 232–260 (Essay «Macht und Herrschaft. Stufen der Institutionalisierung von Macht» [1986]).

38



5.  Macht- und herrschaftssoziologische Perspektivierung von Freundschaft

stimmte Funktionen bzw. Positionen gebunden. Diese Umstellung von persönlicher zu unpersönlicher Herrschaft hat aber nur die Moderne im Blick und ist für traditionale Gesellschaften zu modifizieren. So tritt dort Macht auch im institutionalisierten Zustand in persönlicher Form auf, ist aber nicht mehr an face to face‑Kommunikation gebunden. Macht wird im Institutionalisierungsprozess zunehmend nicht mehr durch Ad hoc‑Entscheidungen Einzelner, sondern regelhaft ausgeübt und schließlich in ein soziales Gefüge integriert. Diese Tendenzen führen zur Konsolidierung und Erweiterung von Macht und damit zu dauerhaften, verlässlichen Strukturen, weshalb der Prozess nur schwer reversibel ist. Um diese Prozesse genauer fassen zu können, entwirft Popitz schließlich ein idealtypisches Stufenmodell ausgehend von Macht bis zur Verfestigung als Herrschaft, das die o. g. globalen Tendenzen in sich aufnimmt.137 (1) Sporadische Macht ist auf Einzelfälle beschränkt, weil keine ausreichenden Machtmittel zur Verfügung stehen, die Machtausübung sich nicht auf wiederholbare Situationen bezieht und/oder der Machtabhängige nicht räumlich gebunden werden kann. (2) Im Stadium normierender Macht kann der Machthaber Verhaltensregelmäßigkeiten und standardisierte Leistungen durchsetzen, weil er Machtmittel und Bindungskräfte erhöhen konnte. ‹Institutionalisierter› ist dieses Stadium deshalb, weil die persönliche Anwesenheit des Machthabers nicht mehr zwingend ist (Entpersonalisierung), das Handeln von Machtunterworfenen und Machthaber schematisiert ist (Formalisierung) und weil die Normierungen Verhalten erwartbar machen (Integration). (3) Positionalisierung von Macht in Richtung Herrschaft ist dann erreicht, wenn überpersonale Machtstellungen implementiert sind, die Macht übertragbar und vom Träger unabhängig machen. So kann man seiner Macht bspw. durch Kleidung, Attribute und Rituale eine überpersonale Aura verleihen, man kann damit aber auch Macht an einen Nachfolger vererben.138 Mit der dritten Stufe ist der Schritt zur Herrschaft gelungen, alle weiteren Stufen bauen das erreichte positionelle Gefüge lediglich aus. (4)  Die Installation von Positionsgefügen der Herrschaft bzw. von Herrschaftsapparaten um die zentrale Machtposition führt zu verfestigter Arbeitsteilung. Popitz verweist hier auf Phänomene innerhalb von Gefolgschaften. Wesentlich ist, dass die Machtstellungen hier nun endgültig übertragbar, die ‹Herrschaftsfunktionäre› also austauschbar sind, während die Herrschaftsfunktion bleibt. Stufe (5) bildet schließlich die staatliche Herrschaft mit der spezifischen «Veralltäglichung zentrierter Herrschaft»139 in Folge der Monopolisierung von Normsetzung, Rechtsprechung und Normdurchsetzung. Popitz’ Stufenmodell scheint das Ziel zu verfolgen, Webers Herrschaftskonzept weiterzuentwickeln und zu differenzieren.140 Im Bereich der Macht und der Genese von Herrschaft ist ihm damit ein systematisches Analyseraster gelungen, für das Feld der Herrschaftsformen ist Webers Typologie dienlicher. Popitz argumentiert zwar damit, dass Machthaber auch versuchen, Anerkennung zu finden, um Macht in Herrschaft zu überführen, für die sich daran logisch anschließenden herrschaftstheoretischen Über137

Vgl. ebd., S. 236–260. Hier greift Popitz ebd., S. 245, explizit auf Webers Konzept der Veralltäglichung des Charisma hin zu Amtsund Erbcharisma zurück. 139 Ebd., S. 259 (Essay «Macht und Herrschaft. Stufen der Institutionalisierung von Macht» [1986]). 140 Vgl. Anter 2012, S. 87. Popitz ²1992 folgt S. 232 Webers Herrschaftsdefinition, zeigt sich aber S. 233 enttäuscht darüber, dass Weber das Verhältnis Machtausübender‑Machtabhängiger nicht weiter beleuchtet hat, sondern nur Befehlsgewalt, Gehorsamspflicht und Autorität als Schlagworte ins Feld führt. 138

39

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

legungen ist man dann aber auf Weber rückverwiesen, dessen Verdienst es ist, Herrschaft an die Konstruktionsprinzipien Legitimität und Organisation zu koppeln.

5.2.  Max Weber: Typen der Herrschaft Bevor Webers Herrschaftstypologie vorgestellt werden kann, sei darauf hingewiesen, dass seine Herrschaftssoziologie keine geschlossene, konsistente Systematik darstellt, sondern ein unvollendetes, im letzten Lebensjahrzehnt Webers zwischen 1910–1920 in verschiedenen Arbeitsphasen entstandenes Projekt geblieben ist. Diesen Befund verstellte die von Marianne Weber und Melchior Palyi herausgegebene Erstausgabe von «Wirtschaft und Gesellschaft» und suggerierte ein kohärentes und in allen Teilen gleichermaßen autorisiertes Werk. Dies führte zu dem langlebigen Rezeptionsmissverständnis von «Wirtschaft und Gesellschaft», wonach der abstrakt‑typologische, erste Teil der Ausführungen zu Herrschaft durch den historischen, zweiten Teil konkretisiert werde.141 Dass man mindestens zwei Fassungen (erste Phase 1909/1910–1914; zweite Phase 1919/1920) unterscheiden muss, verdeutlicht spätestens die neue Max Weber‑Gesamtausgabe.142 Der zweite Teil von «Wirtschaft und Gesellschaft» in den alten Editionen stellt die sog. ältere oder erste Fassung der Herrschaftssoziologie dar. Deren Einzelkapitel sind nachgelassene Manuskripte von ganz unterschiedlichem Bearbeitungs‑/Fertigstellungsgrad. Edith Hanke fasst den philologischen Befund wie folgt zusammen: Die Herrschaftssoziologie der älteren Fassung ist kein fertiger, in sich abgeschlossener und zum Druck freigegebener Text Max Webers, sondern ein nachgelassenes Konvolut von Texten, die offensichtlich verschiedenen Bearbeitungsstufen entstammen und abschließend nicht mehr in einen homogenen Zusammenhang gebracht worden sind. Aus diesem Grund treten Begrifflichkeiten und andere Aussagen in unterschiedlicher Akzentuierung oder gar widersprüchlicher Weise auf den Plan.143

Als weitere für die Herrschaftsthematik relevante Texte folgen Zwischenstufen in Form des Presseberichts über den Wiener Vortrag «Probleme der Staatssoziologie» (1917) und der nachgelassene, erst posthum veröffentlichte Aufsatz «Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft» (vermutlich 1918).144 Auch der Vortrag «Politik als Beruf» (1919) gehört hierhin.145 Es folgt die sog. jüngere oder zweite Fassung der Herrschaftssoziologie, 141 Vgl.

Hanke 2001, S. 21; Breuer 2011 [1991], S. 5. neue Max Weber‑Gesamtausgabe ediert die ältere (und die Texte der Zwischenstufe) und die jüngere Fassung der Herrschaftssoziologie von «Wirtschaft und Gesellschaft» in getrennten Bänden, nämlich MWG  I/22–4 und I/23. Genauere Informationen kann man dem jeweils sehr ausführlichen editorischen Bericht entnehmen. Die Beschäftigung mit dem Thema Herrschaft setzt eigentlich schon mit dem sog. Kategorien- oder Logosaufsatz (MWG I/12) von 1913 ein. Eine übersichtliche Synopse der herrschaftsrelevanten Texte samt Konkordanzen zur früheren Standardausgabe von «Wirtschaft und Gesellschaft» findet sich in MWG I/22–4, S. 88 f. 143 Hanke 2001, S. 31. 144 Der Vortrag «Probleme der Staatssoziologie» ist nur indirekt über einen anonymen Bericht in der «Neuen Freien Presse» vom 26.10.1917 zugänglich, wodurch weitere inhaltliche Unsicherheiten entstehen (vgl. den editorischen Bericht in MWG  I/22–4, S. 745–750). Bei dem Aufsatz «Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft» handelt es sich um ein Textfragment, das Marianne Weber im Nachlass fand und 1922 in den «Preußischen Jahrbüchern» veröffentlichen ließ (vgl. den editorischen Bericht in MWG  I/22–4, S. 717). Da der Text konzeptionell große Ähnlichkeiten zur zweiten Fassung der Herrschaftssoziologie aufweist, ist mit eher später Entstehung zu rechnen. So schon Breuer 1988, S. 315, und Hanke 2001, S. 43. Sicherheit in der Datierung kann man aber nicht gewinnen. 145 Der Vortrag findet sich in MWG I/17, S. 113–254, nebst Abdruck und Transkription der Manuskriptseiten. 142 Die

40



5.  Macht- und herrschaftssoziologische Perspektivierung von Freundschaft

die in der Erstausgabe von «Wirtschaft und Gesellschaft» im ersten Teil unter Kapitel III. «Die Typen der Herrschaft» rubriziert wurde und die Weber 1920 noch selbst zum Druck freigegeben hatte.146 Aufgrund der konzeptuellen Umstellungen innerhalb der verschiedenen Arbeitsphasen und aufgrund der Tatsache, dass nur die zweite Fassung von Weber autorisiert, aber auch nicht vollendet ist, können hier nur die groben gedanklichen Linien der Typologie nachgezeichnet werden. Im Sinne der Funktionalisierung der Begrifflichkeiten für die Textinterpretation meine ich, pragmatisch auf die verschiedenen Fassungen und die dort brauchbaren Kategorisierungen zurückgreifen zu können, ohne hierin alle systematischen Verschiebungen darzustellen, sofern das angesichts des Grades der Unabgeschlossenheit überhaupt möglich ist.147 Weber bestimmt Herrschaft als «Sonderfall von Macht»148 und als «Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden […].»149 Schon zu Beginn der älteren Herrschaftssoziologie spitzt Weber den Herrschaftsbegriff auf «Herrschaft kraft Autorität»150 zu und damit auf ein Befehls‑Gehorsams‑Verhältnis auf Grundlage von Legitimität. Diese Form von Herrschaft findet sich in den Bereichen Ökonomie, Religion und Politik, Weber interessiert sich aber vorrangig für Herrschaft im politischen Verband.151 Der Charakter der Herrschaft wird hierbei nach innen durch die Art der Legitimierung und nach außen durch das Organisationsprinzip bestimmt. Indem Herrschaft auf Legitimität beruht, ist sie gegenüber Macht dauerhafter und stabiler. Legitimität wird bei Weber zweiseitig betrachtet: Es bedarf einer Übereinstimmung 146 Die

Herausgeber von Band  I/23, Borchardt, Hanke und Schluchter, urteilen S. 47: «Verglichen mit den Vorkriegsmanuskripten zur Herrschaft bringt also das Kapitel III tatsächlich eine lehrbuchartige Darstellung mit terminologischen und klassifikatorischen Präzisierungen sowie insgesamt eine argumentative Verdichtung.» 147 Die Schwierigkeiten zeigen sich in der nicht abreißenden Diskussion über begriffliche und konzeptionelle Unklarheiten bei Webers Herrschaftssoziologie: Wie ist das Verhältnis von handlungstheoretischem Ausgangspunkt und sozialen Ordnungen zu bestimmen? Wie das Verhältnis von Legitimität und Legalität? Welche Logik steckt hinter den insgesamt fünf Typologien in den «Soziologischen Grundbegriffen» und dem III. Kapitel «Die Typen der Herrschaft» (beides MWG I/23), nämlich der Typen des sozialen Handelns (s. o. Abschnitt 4. 2.), der Typen von Legitimitätsgarantien, von Legitimitätsgründen, von Gehorsamsmotiven und denjenigen der legitimen Herrschaft? 148 MWG I/22–4, S. 127 (ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitt: «Herrschaft», § 1: «Macht und Herrschaft. Übergangsformen»). 149 MWG I/23, S. 210 (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel I: «Soziologische Grundbegriffe», § 16: «Macht und Herrschaft»). 150 Weber unterscheidet MWG I/22–4, S. 129 (ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitt: «Herrschaft», § 1: «Macht und Herrschaft. Übergangsformen»), «Herrschaft kraft Interessenkonstellation (insbesondere kraft monopolitischer Lage)», wie es sich in Tauschverhältnissen auf dem Wirtschaftsmarkt findet, und «Herrschaft kraft Autorität». Diese, auf ein Autoritätsverhältnis abzielende Definition, bildet fortan den Kern von Webers Herrschaftsbegriff, der sich so durch alle herrschaftsrelevanten Schriften zieht. Vgl. Hanke 2001, S. 23. 151 Vgl. Breuer 2011 [1991], S. 11. Der politische Verband ist ein Derivat des Herrschaftsverbands: «Ein Verband soll insoweit, als seine Mitglieder als solche kraft geltender Ordnung Herrschaftsbeziehungen unterworfen sind, Herrschaftsverband heißen.» (MWG  I/23, S. 211; Herv.  im  Orig., jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel  I: «Soziologische Grundbegriffe», § 16: «Macht und Herrschaft») und «Politischer Verband soll ein Herrschaftsverband dann und insoweit heißen, als sein Bestand und die Geltung seiner Ordnungen innerhalb eines angebbaren geographischen Gebiets kontinuierlich durch Anwendung und Androhung physischen Zwangs seitens des Verwaltungsstabes garantiert werden.» (MWG I/23, S. 212; Herv. im Orig., jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel I: «Soziologische Grundbegriffe», § 17: «[Politischer und hierokratischer Verband]») Maurer ²2012, S. 363, übersetzt Webers Verbandsbegriff in die heute gebräuchliche Terminologie der Organisation (Nationalstaat, Parteien, Kirchen, Unternehmen).

41

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

zwischen dem Legitimitätsanspruch der Herrschenden und dem Legitimitätsglauben der Beherrschten, die diesen Anspruch als gültig annehmen und anerkennen. Weber weist zwar darauf hin, dass Herrschaft faktisch auf mehreren Gründen (Interessenlage, Neigung, Sitte) fußen kann und fußt, dass diese Herrschaft dann aber höchst fragil wäre. Legitimität ist ein extrem voraussetzungsvoller Grenzfall der Geltungsbegründung von Herrschaft, aber der entscheidend stabilisierende, dem daher Normativität eignet:152 ‹Gehorsam› soll bedeuten: daß das Handeln des Gehorchenden im wesentlichen so abläuft, als ob er den Inhalt des Befehls um dessen selbst willen zur Maxime seines Verhaltens gemacht habe, und zwar lediglich um des formalen Gehorsamsverhältnisses halber, ohne Rücksicht auf die eigene Ansicht über den Wert oder Unwert des Befehls als solchen.153

Für Herrschaft genügt das faktische Befolgtwerden eines Befehls nicht allein, sondern es kommt darauf an, dass der Befehl als geltende Norm angenommen wird. Weber spricht daher auch vom «Gehorchenwollen» bzw. vom «Interesse […] am Gehorchen»154 oder gar vom «Legitimitätsglaube»155 seitens der Beherrschten, also davon dass bestimmte 152

Weber verdeutlicht das an mehreren Stellen innerhalb der herrschaftsrelevanten Schriften, wenn er den mannigfaltigen, nicht normativen Motiven der Fügsamkeit die drei normativen Geltungs- bzw. Legitimitätsgründe gegenüberstellt, die allein soziologisch bedeutsam sind: «Herrschaft, d. h. die Chance, Gehorsam für einen bestimmten Befehl zu finden, kann auf verschiedenen Motiven der Fügsamkeit beruhen: Sie kann rein durch Interessenlage, also durch zweckrationale Erwägungen von Vorteilen und Nachteilen seitens des Gehorchenden, bedingt sein. Oder andererseits, durch bloße ‹Sitte›, die dumpfe Gewöhnung an das eingelebte Handeln; oder sie kann rein affektuell, durch bloße persönliche Neigung des Beherrschten, begründet sein. Eine Herrschaft, welche nur auf solchen Grundlagen ruhte, wäre aber relativ labil. Bei Herrschenden und Beherrschten pflegt vielmehr die Herrschaft durch Rechtsgründe, Gründe ihrer ‹Legitimität›, innerlich gestützt zu werden, und die Erschütterung dieses Legitimitätsglaubens pflegt weitgehende Folgen zu haben. An ‹Legitimitätsgründen› der Herrschaft gibt es, in ganz reiner Form, nur drei, von denen – im reinen Typus – jeder mit einer grundverschiedenen soziologischen Struktur des Verwaltungsstabs und der Verwaltungsmittel verknüpft ist.» (MWG I/22–4, S. 726; Herv. im Orig., Kapitel II: «Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft») Vgl. auch MWG I/22–4, S. 136 (ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitt: «Herrschaft», § 1: «Macht und Herrschaft. Übergangsformen») und MWG  I/23, S. 449 f. (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel III: «Die Typen der Herrschaft», Abschnitt 1: «Die Legitimitätsgeltung», § 1: «[Herrschaft]»). In der parallelisierenden Gegenüberstellung nicht‑normativer Fügsamkeitsmotive vs. normativer Legitimitätsgründe schließe ich mich den Positionen von Baumann 1993, insb. S. 362–364; Breuer 1997, S. 108; 2000, S. 6 f. und 2011 [1991], S. 19 f. an. 153 MWG I/23, S. 452 [Herv. im Orig.] (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel III: «Die Typen der Herrschaft», Abschnitt 1: «Die Legitimitätsgeltung», § 1: «[Herrschaft]»). Dass faktisch ganz andere Gründe des Handelns bestimmend sein können, sah Weber freilich, aber diese sind nicht zentral für die Herrschaftskonstitution: «Die ‹Legitimität› einer Herrschaft darf natürlich auch nur als Chance, dafür in einem relevanten Maße gehalten und praktisch behandelt zu werden, angesehen werden. Es ist bei weitem nicht an dem: daß jede Fügsamkeit gegenüber einer Herrschaft primär (oder auch nur: überhaupt immer) sich an diesem Glauben orientierte. Fügsamkeit kann vom einzelnen oder von ganzen Gruppen rein aus Opportunitätsgründen geheuchelt, aus materiellem Eigeninteresse praktisch geübt, aus individueller Schwäche und Hilflosigkeit als unvermeidlich hingenommen werden. Das ist aber nicht maßgebend für die Klassifizierung einer Herrschaft. Sondern: daß ihr eigner Legitimitätsanspruch der Art nach in einem relevanten Maß ‹gilt›, ihren Bestand festigt und die Art der gewählten Herrschaftsmittel mit bestimmt.» (MWG I/23, S. 451, jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel III: «Die Typen der Herrschaft», Abschnitt 1: «Die Legitimitätsgeltung», § 1: «[Herrschaft]») So schon MWG I/22–4, S. 135 (ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitt: «Herrschaft», § 1: «Macht und Herrschaft. Übergangsformen»). 154 Beide Zitate MWG I/23, S. 449 [Herv. im Orig.] (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel III: «Die Typen der Herrschaft», Abschnitt 1: «Die Legitimitätsgeltung», § 1: «[Herrschaft]»). So schon MWG  I/22–4, S. 133 (ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitt: «Herrschaft», § 1: «Macht und Herrschaft. Übergangsformen»). 155 MWG I/23, S. 450 (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel III: «Die Typen der Herrschaft», Abschnitt 1: «Die Legitimitätsgeltung», § 1: «[Herrschaft]»).

42



5.  Macht- und herrschaftssoziologische Perspektivierung von Freundschaft

Akteure normativ zum Befehlen berechtigt und andere zu Gehorsam verpflichtet sind.156 Herrschaft ist keine mechanische Befehls‑Gehorsams‑Kette, sondern sehr voraussetzungsreiches, sinnhaftes Bezogensein der Handlungen verschiedener Akteure.157 Seinen Fokus legt Weber aber eher auf die Selbstrechtfertigungen seitens der Herrschenden, die mittels verschiedener persuasiver Aktivitäten158 die Bedingungen für diesen «säkularen Glaubensakt»,159 für die gemeinsam geteilte Vorstellung der Vorbildlichkeit und Verbindlichkeit der Ordnung schaffen.160 Erst diese Richtigkeitsanerkennung verleiht Herrschaft eine zeitlich, inhaltlich und sozial generalisierende Wirkung hinsichtlich des Gehorsamsmotivs.161 Legitime Herrschaft ist damit ein wesentlicher Mechanismus der Vergesellschaftung, weil sie die Planbarkeit wechselseitiger Handlungserwartungen innerhalb von Verbänden ermöglicht. Herrschaft hat somit sozialintegrative Effekte und reduziert Kontingenz.162 Die Legitimität kann sich wiederum auf drei Prinzipien gründen, die dann die Struktur von drei legitimen, idealtypisch gedachten Herrschaftsformen bestimmen: Es gibt drei reine Typen legitimer Herrschaft. Ihre Legitimitätsgeltung kann nämlich primär sein: 1.  rationalen Charakters: auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen ruhen (legale Herrschaft) – oder 2.  traditionalen Charakters: – auf dem Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen ruhen (traditionale Herrschaft), – oder endlich 3.  charismatischen Charakters: auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen (charismatische Herrschaft).163 156

Dieser Verpflichtungsaspekt führt dazu, dass Herrschaft i. d. R. Folgsamkeit für einen Befehl erwarten kann und im Gegensatz zu Macht nicht mit Widerstreben rechnen muss, was es faktisch selbstverständlich nicht ausschließt. Herrschaft ist damit bei Weber im Prinzip konsensuell angelegt, was in der neuen Forschung durchaus skeptischer gesehen wird. Vgl. bspw. Maurer 2006, S. 101. Von heuristischem Wert ist die Bestimmung aber insoweit, als sich mit ihr Herrschaft von Zwang scheiden lässt. Zwang muss zur Durchsetzung von Macht permanent auf Machtmittel zurückgreifen, während Herrschaft unabhängig von weiteren motivationalen Anreizen relativ situationsabstrakt wirkt und keiner fortgesetzten Kontrolle bedarf. Vgl. Lukes 1983, S. 116; Tyrell 1980, S. 79–81. Auch Tausch und Interessenausgleich im weitesten Sinne müssen situativ erzeugt werden, während Herrschaft auf rollenmäßige Organisation und damit zeitliche Kontinuität setzen kann. 157 Weber grenzt daher Herrschaft von Disziplin ab, die er in den «Soziologischen Grundbegriffen» unmittelbar folgen lässt. Vgl. MWG I/23, S. 211 (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel I: «Soziologische Grundbegriffe», § 16: «Macht und Herrschaft»). Tyrell 1980, S. 77, grenzt Herrschaft weiterhin überzeugend gegen Appell bzw. Aufforderung ab: Auffordern kann jeder, befehlen kann und darf aber nur derjenige mit exponiert herrschaftlicher Stellung. Die Aufforderung kann keinen Anspruch auf Achtung formulieren, während das Nichtbefolgen eines Befehls das Herrschaftsverhältnis als sozialer Beziehung negiert, nicht jedoch den Anspruch des Herrschenden auf Gehorsam. 158 Weber spricht in der älteren Herrschaftssoziologie gar von «Legenden» (MWG  I/22–4, S.  147, ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitt: «Herrschaft», § 3: «Herrschaft durch ‹Organisation›. Geltungsgründe»). 159 Kroll 2006, S. 125. 160 Maurer ²2012, S. 364, fasst es wie folgt: «Herrschaft kann bei Weber als die sozial gültige Metaregel interpretiert werden, dass den Anweisungen berechtigter Personen zu folgen ist, unabhängig von der konkreten Situation.» Wie genau sich der Anerkennungsprozess vollzieht, erklärt Weber aber leider nicht, sondern betrachtet im Wesentlichen schon bestehende Ordnungen. 161 Vgl. Tyrell 1980, S. 85–91. 162 Vgl. Maurer 2006, S. 95. 163 MWG I/23, S. 453 [Herv. im Orig.] (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel III: «Die Typen der Herrschaft», Abschnitt 1: «Die Legitimitätsgeltung», § 2 «[Die drei reinen Typen legitimer Herrschaft]»). Die Typologie findet sich aber schon in den frühesten Schriften zur Herrschaftssoziologie.

43

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

Weber gewinnt die Herrschaftstypen durch Idealtypenkonstruktion, nutzt dann den legalen Typus als Ausgangspunkt, um die anderen beiden Typen in einem komparatistischen Verfahren zu gewinnen.164 Die Typologie darf nicht als historisches Entwicklungsmodell oder als Abbild der Wirklichkeit missverstanden werden. Tatsächlich muss man mit Kombinationen, Mischungen, Angleichungen und Umbildungen rechnen, die Weber auch auf breiter historischer Materialbasis veranschaulicht.165 Neben dem ersten Konstruktionsprinzip der Legitimität, das Herrschaft von seiner ideellen Seite betrachtet, hat Weber auch noch das zweite Konstruktionsprinzip der Organisation bzw. Verwaltung und damit die materiell‑institutionelle Seite von Herrschaft im Blick.166 Im Folgenden werde ich mich hinsichtlich der Relevanz für die Textanalyse auf den traditionalen und charismatischen Herrschaftstyp beschränken. Während sich legale bzw. bürokratische Herrschaft auf gesatzte Regeln stützt, basieren traditionale und charismatische Herrschaft auf persönlicher Autorität (aufgrund von Tradition oder Charisma),167 was sie im Hinblick auf die literarischen Texte und deren hochadliges Figureninventar interessant werden lässt. Extrem anregend wirkte innerhalb der Weber‑Rezeption v. a. die charismatische Herrschaft, die Weber gern auch mit dem sperrigen Begriff des Charismatismus adressiert. Weber führt den Typ der charismatischen Herrschaft in der älteren Herrschaftssoziologie wie folgt ein: Das Charisma ruht in seiner Macht auf Offenbarungs- und Heroenglauben, auf der emotionalen Überzeugung von der Wichtigkeit und dem Wert einer Manifestation religiöser, ethischer, künstlerischer, 164 Innerhalb

der Weber‑Forschung gab es mehrere Versuche, die Typologie um einen vierten, demokratischen Typus zu erweitern. Vgl. Ingold/​Paul 2014, S. 247–249. Einen Anhaltspunkt dafür liefert Weber selbst im Vortrag «Probleme der Staatssoziologie», der einen vierten Typus anführt, der sich allein aus dem Willen der Beherrschten legitimiert. Vgl. MWG  I/22–4, S. 755. Die große Unsicherheit, dass uns dieser Text nur über einen Zeitungsbericht zugänglich ist, mahnt zur Vorsicht, zumal Weber in den anderen Texten keine solche Herrschaftsform explizit benennt, vielleicht aber mit der herrschaftsfremden Umdeutung des Charisma intendiert und beschreibt. Vgl. MWG I/23, S. 533–542 (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel III: «Die Typen der Herrschaft», Abschnitt 6: «Die herrschaftsfremde Umdeutung des Charisma», § 14: «Die herrschaftsfremde Umdeutung des Charisma»). Daneben versuchte man, diesen Typus aus der Typologie der Handlungsmotive in den «Soziologischen Grundbegriffen» (s. Abschnitt 4. 2. dieser Einleitung) zu deduzieren. Vgl. etwa Bader 1989 und Wagner 2007. Dagegen wurden überzeugende Argumente vorgetragen von Breuer 2000, S. 7. Bei den Legitimitätsgründen handelt es sich aufgrund ihres normativen Charakters um Kategorien sui generis. 165 So schon MWG  I/22–4, S. 148 (ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitt: «Herrschaft», § 3: «Herrschaft durch ‹Organisation›. Geltungsgründe»), aber auch MWG I/23, S. 455 (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel III: «Die Typen der Herrschaft», Abschnitt 1: «Die Legitimitätsgeltung», § 2: «Die drei reinen Typen legitimer Herrschaft»). Kroll 2006, S. 125, erläutert, dass selbst in modernen Gesellschaften zwar die legale Herrschaft dominiere, aber dennoch mehrere Legitimationsgründe miteinander konkurrieren. Man müsse «das Problem der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen» bei der historischen Analyse berücksichtigen. Weber richtet sich damit, so Hanke 2001, S. 34 f., gegen lineare Geschichts- und Stufenmodelle. 166 Hanke 2001, S. 33 f., stellt den umgekehrt proportionalen Bezug von Legitimation und Organisation heraus: Bürokratische Herrschaft mit regelhaft perfektionierter Organisation ist in hohem Grade stabil und bedarf daher kaum oder nur im geringen Maße des Legitimitätsglaubens, während sich die charismatische Herrschaft durch fehlende Organisation bzw. durch kaum vorhandene Verwaltung der Alltagsbedürfnisse auszeichnet, wodurch die innere Bindung hier fast die alleinige Rolle für Stabilisierung spielt. Die traditionale Herrschaft rangiert zwischen den beiden Extremen und basiert je nach Grad der Organisation fallweise mehr oder weniger auf Legitimitätsvorstellungen. Weber bezieht daneben –  aber keineswegs systematisch  – auch Aspekte der Wirtschaftsordnung, des Rechts und der Erziehung/​Bildung mit in die Herrschaftsbestimmung ein. 167 Vgl. MWG I/22–4, S. 148 (ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitt: «Herrschaft», § 3: «Herrschaft durch ‹Organisation›. Geltungsgründe»).

44



5.  Macht- und herrschaftssoziologische Perspektivierung von Freundschaft wissenschaftlicher, politischer oder welcher Art immer, auf Heldentum, sei es der Askese oder des Krieges, der richterlichen Weisheit, der magischen Begnadung oder welcher Art sonst. Dieser Glaube revolutioniert ‹von innen heraus› die Menschen und sucht Dinge und Ordnungen nach seinem revolutionären Wollen zu gestalten.168

Die Herrschaft des Charismatikers beruht auf seiner Außeralltäglichkeit bzw. seiner persönlichen Gnadengabe und deren stetiger Bewährung. Den charismatisch Begabten zeichnet eine weltenthobene Aura aus. Er muss beweisen, dass eine scheinbar nicht zu bewältigende Aufgabe tatsächlich und zwar nur durch ihn bewältigt werden kann. Als Beispiele nennt Weber Heilande, Propheten, Künstler, Zauberer, Schamanen, Demagogen, Berserker, Kriegsfürsten, Helden aller Art. Die Anerkennung des charismatisch Qualifizierten ist die Pflicht derer, an die sich seine Sendung wendet; die Herrschaft entsprechend auf diesen exklusiven Kreis begrenzt. Die charismatische Herrschaft in ihrer reinen Form ist ein Krisenphänomen, sie entsteht in Zeiten «psychischer, physischer, ökonomischer, ethischer, religiöser, politischer Not»169 außerordentlicher Situationen, in denen die bisher geltenden Sozialbeziehungen und Gruppenzugehörigkeiten fragil werden, und antwortet darauf schöpferisch‑revolutionär mit bisherigen Normen brechend.170 Das ist v. a. vor dem Hintergrund des hier behaupteten Zusammenhangs von Freundschaft und herrschaftlichen Krisen in den literarischen Texten interessant. Im Vergleich zur bürokratischen Organisation legaler Herrschaft ist die Verwaltung im Charismatismus spezifisch irrational. Charisma konstituiert eine sehr persönlich organisierte Strukturform: Der Held bindet eine freiwillige Gefolgschaft, die ausschließlich dem Führer persönlich gehorcht; die engere Gruppe der Jünger wird nach charismatischer Qualifikation und persönlicher Hingabe ausgelesen. Für die Herrenloyalität der Jünger ist die Interessensolidarität mit dem Herrn (ideell wie materiell) entscheidend. Herr, Jünger und Gefolgsleute müssen, um der Sendung zu genügen, außerhalb der alltäglichen Verpflichtungen etwa von Familie und Beruf stehen. Der Bestand dieser Herrschaftsform ist aufgrund ihrer institutionell nicht verfestigten Form in besonderem Maße labil und risikoreich: Die Anhänger können den Charismaträger verlassen, wenn Bewährung und Erfolg z. B. in Form von Wundern, Heldentaten oder dem allgemeinen Wohlergehen ausbleiben. Positiv gewendet bedeutet es mit Blick auf die Textanalyse aber auch, dass charismatische Herrschaft von ihrer Organisationsform her besonders prädestiniert für Freundschaft(‑sdarstellung) zu sein scheint. Wenn Charisma nicht aufgrund ausbleibender Leistung untergeht, so führt der ihm in reiner Form fremde Antrieb der Gefolgschaft und Jünger nach Verstetigung der Herrschaft zu Veralltäglichungsprozessen. Diese zeigen sich entweder in der Bewältigung des 168 MWG  I/22–4,

S. 481 (ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitt: «Umbildung des Charisma»). Für alle weiteren Ausführungen zum Charismatismus und dessen Transformationen sei auf die entsprechenden Passagen in MWG I/22–4, S. 460–587 (ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitte «Charismatismus», «Umbildung des Charisma», «Erhaltung des Charisma» und «Staat und Hierokratie»), S. 734–741 (zur charismatischen Herrschaft im Rahmen von Kapitel II: «Die drei reinen Typen der Herrschaft») und I/23, S. 490–532 (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel III: «Die Typen der Herrschaft», Abschnitt 4: «Charismatische Herrschaft», § 10: «[Charismatische Herrschaft]» und Abschnitt 5: «Die Veralltäglichung des Charisma», §§ 11–13: «[Die Veralltäglichung des Charisma. Die Nachfolgefrage]» bis «[Mischformen der Herrschaft]») verwiesen. 169 MWG I/22–4, S. 460 (ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitt: «Charismatismus»). 170 Breuer 2011 [1991], S. 25: «Charismatische Herrschaft ist der Ausnahmezustand im soziologischen, psychologischen und nicht zuletzt auch historischen Sinn.»

45

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

Nachfolgeproblems (Designation durch Herr, Jünger, Gefolgschaft; Erb-, Gentil- oder Amtscharisma) oder in Formen der Annäherung an die beiden anderen Herrschaftsformen, also in Traditionalisierung oder Legalisierung.171 Diese Veralltäglichung schlägt sich dann insbesondere in der Organisation der Herrschaft nieder. So wird die genuin persönliche Rekrutierung der Jünger- und Gefolgschaft ersetzt durch rationale oder traditionale Regeln. Die Verflechtung mit dem Traditionalismus ist insofern naheliegend, als jener wie der genuine Charismatismus auf dem Glauben an die gültige Heiligkeit der Autorität konkreter Personen und auf der Hingabe an Pietätsbeziehungen und -pflichten ihnen gegenüber basieren. Der hier interessierende Fall der Traditionalisierung führt dann zu einem ständischen Prinzip, wobei am Stand erbcharismatische Vorstellungen eines besonderen Prestiges haften. Zudem werden Herrengewalten durch Bildung von Lehen ­appropriiert, der Charismatismus wandelt sich dann zum Feudalismus: «Der ur­sprüngliche Sonder­charakter äußert sich in der erbcharismatischen oder amtscharismatischen ständischen Ehre der Appropriierten, des Herren wie des Verwaltungsstabs, in der Art des Herren‑Prestiges also.»172 Ursprüngliches Charisma schwindet im Rahmen dieser Umwandlungsprozesse und findet sich nur noch in (stark) geschrumpften Formen wieder. Im Rahmen seiner Überlegungen zur Bewältigung des Nachfolgeproblems rechnet Weber mit sog. charismatischer Erziehung, der die Vorstellung der Erwerbbarkeit von Charisma im weitesten Sinne (statt Gnadengabe) zugrunde liegt. Heldentum oder magische Qualitäten gelten zwar nicht als erlernbar, aber erweckbar durch die Entfaltung der latenten charismatischen Qualitäten. Dies geschieht durch Isolierung aus gewohnter Umgebung und den Eintritt in eine besondere Erziehungsgemeinschaft, die Umgestaltung der Lebensführung, Askese, körperliche Übungen. Hier wiederum entpuppen sich die gemeinhin als Erzieher oder Zofen kategorisierten Figuren in den literarischen Texten als besonders qualifizierte und qualifizierende Freunde des Charismaträgers. Die erreichte Stufe charismatischer Vervollkommnung wird hierbei fortwährend geprüft durch psychische und physische Leiden. Die Anforderungen werden erhalten und gesteigert, indem nur diejenigen ins Gefolge aufgenommen werden, die ebenfalls die Proben erfolgreich absolviert haben.173 Traditionale Herrschaft umreißt Weber in der jüngeren Herrschaftssoziologie folgendermaßen: Traditional soll eine Herrschaft heißen, wenn ihre Legitimität sich stützt und geglaubt wird auf Grund der Heiligkeit altüberkommener (‹von jeher bestehender›) Ordnungen und Herrengewalten. Der Herr (oder: die mehreren Herren) sind kraft traditional überkommener Regel bestimmt. Gehorcht wird ihnen kraft der durch die Tradition ihnen zugewiesenen Eigenwürde.174 171 Der

systematische Status der Begriffe Versachlichung, Veralltäglichung, Legalisierung, Traditionalisierung und die Möglichkeiten der Lösung der Nachfolgeproblematik bleiben insgesamt unklar. Weber hat von der ersten Fassung der Herrschaftssoziologie über den Aufsatz «Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft» bis hin zur zweiten Fassung der Herrschaftssoziologie die Umbildungsprozesse des Charisma jeweils anders akzentuiert, wobei die Neugruppierungen intern inkompatibel und inkonsistent geblieben sind. Vgl. die detaillierte Darstellung bei Breuer 2011 [1991], S. 44–52. 172 MWG I/23, S. 507 (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel III: «Die Typen der Herrschaft», Abschnitt 5: «Die Veralltäglichung des Charisma», § 12a: «[Übergang in die Alltagsherrschaft]»). 173 Diese Überlegungen finden sich nur in MWG  I/22–4, S. 530 f. (ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitt: «Umbildung des Charisma»). 174 MWG I/23, S. 468 [Herv. im Orig.] (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel III: «Die Typen der Herrschaft», Abschnitt 3: «Traditionale Herrschaft», § 6: «[Traditionale Herrschaft]»). Für alle weiteren Ausführungen

46



5.  Macht- und herrschaftssoziologische Perspektivierung von Freundschaft

Die traditionale Herrschaft speist ihre Legitimität aus persönlichen Pietäts- und Loyalitätsbeziehungen, was sie einerseits mit dem Charismatismus gemein hat, wobei sich Herrenpietät hier aus der Autorität der Tradition speist. Es handelt sich andererseits um eine Alltagsherrschaft, was sie mit der legalen Herrschaft teilt, allerdings gewinnt der Traditionalismus seine Geltung aus dem «Glauben an die Unverbrüchlichkeit des immer so Gewesenen als solchen»175 und nicht aus frei gewählten Regeln.176 Weber unterscheidet auch hier verschiedene Spielarten, wobei deren Systematik sich im Laufe der Arbeiten an der Herrschaftssoziologie jeweils neu akzentuiert und verschoben hat.177 Die verschiedenen Formen traditionaler Herrschaft leitet Weber vom sozialen und ökonomischen Modell des Oikos und der streng persönlichen Autorität des Hausherrn her, dessen politische Ausformung den reinen Typus des Patriarchalismus darstellt, der noch ohne einen eigenen Verwaltungsstab auskommt.178 Auch die weitere Subtypenbildung wird von der Art des Verwaltungsstabes her gewonnen. Bei denjenigen traditionalen Herrschaftsformen mit eigenem Verwaltungsstab unterscheidet Weber den reinen Patrimonialismus,179 den ständischen Patrimonialismus/ patrimonialer Feudalismus/präbendaler Feudalismus und den (reinen) Feudalismus. Ich beschränke mich wiederum auf die für die Textanalyse wichtigen Fälle: Ständische Herrschaft soll diejenige Form patrimonialer Herrschaft heißen, bei welcher dem Ver‑ waltungsstab bestimmte Herrengewalten und die entsprechenden ökonomischen Chancen appropriiert sind.180 zum Traditionalismus sei auf die entsprechenden Passagen in MWG I/22–4, S. 247–450 (ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitte «Patrimonialismus» und «Feudalismus»), S. 729–733 (zur traditionalen Herrschaft im Rahmen von Kapitel II: «Die drei reinen Typen der Herrschaft») und MWG I/23, S. 468–490 (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel III: «Die Typen der Herrschaft», Abschnitt 3: «Traditionale Herrschaft», §§ 6–9a: «[Traditionale Herrschaft]» bis «[Traditionale Herrschaft und Wirtschaft]»), S. 513–520 (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel III: «Die Typen der Herrschaft», Abschnitt 6: «Feudalismus», § 12b: «[Lehensfeudalismus]») verwiesen. 175 MWG I/22–4, S. 247 (ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitt «Patrimonialismus»). 176 Breuer 2011 [1991], S. 84, weist darauf hin, dass das Heilighalten der Tradition bedeutet, die Grenzen sozialen Handelns zu respektieren, wodurch «Reflexionssperren» eingebaut werden, die die bestehende Ordnung als insgesamt nicht disponibel erscheinen lassen. 177 Vgl. den Überblick ebd., S. 86 f. 178 «Patriarchalismus heißt der Zustand, daß innerhalb eines, meist, primär ökonomischen und familialen (Haus‑)Verbandes ein (normalerweise) nach fester Erbregel bestimmter einzelner die Herrschaft ausübt.» (MWG  I/23, S. 475, jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel III: «Die Typen der Herrschaft», Abschnitt 3: «Traditionale Herrschaft», § 7a: «Typen traditionaler Herrschaft») Weber führt an dieser Stelle der jüngeren Herrschaftssoziologie noch die Gerontokratie als primären Typ traditionaler Herrschaft ohne Verwaltungsstab neben dem Patriarchalismus ein. Die anderen herrschaftsrelevanten Texte Webers kennen nur den reinen Patriarchalismus. Der Herr ist angesichts des fehlenden Verwaltungsstabes noch stark vom Gehorchenwollen der Genossen abhängig, wodurch das Recht de facto im Interesse der Genossen ausgeübt werden muss. Insofern spricht Weber hier zu Recht noch nicht von Untertanen, sondern von Genossen. 179 Der Patrimonialismus rekrutiert seinen Verwaltungsstab patrimonial aus persönlich Abhängigen (Sippenangehörige, Sklaven, haushörigen Hausbeamten/​Ministerialen etc.) oder extrapatrimonial aus persönlichen Vertrauensbeziehungen zum Herren (freie Günstlinge) und weist ihnen Ämter zu oder gibt später auch Land und Inventar zur eigenen Verwaltung aus. Die Hausgewalt wird damit dezentralisiert; der Herr bietet Schutz, die Untertanen Hilfe, Abgaben und Frondienste. Die Untertanen (nicht mehr Genossen!) werden nach Willkür und Gnade des Herrn versetzt und nicht entlohnt, sondern primär am Tisch des Herrn verpflegt sowie von ihm equipiert. Mit wachsendem Verwaltungsstab erfolgt die Versorgung durch Pfründe oder Lehen, wodurch sich aber schon der jeweils fließende Übergang zwischen den verschiedenen Subtypen abzeichnet. Ein Beispiel für die Form des reinen Patrimonialismus stellt der Sultanismus dar. 180 MWG I/23, S. 477 [Herv. im Orig.] (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel III: «Die Typen der Herrschaft», Abschnitt 6: «Feudalismus», § 7a, 8, 9: «[Typen traditionaler Herrschaft]»).

47

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

Ständische Ausformungen unterscheiden sich vom reinen Patrimonialismus, insofern die Mitglieder des Verwaltungsstabs sich nicht mehr in völliger persönlicher Abhängigkeit vom Herrn befinden und nicht die persönlichen Diener des Herrn sind. Die Mitglieder des Verwaltungsstabs haben vielmehr eine unabhängige Eigenstellung und besitzen ein Eigenrecht an dem ihnen kraft Privileg oder Rechtsgeschäft verliehenen Amtes, Landes oder Befehlsgewalt. Die Appropriation erfolgt an eine ständisch qualifizierte Schicht. Die Verwaltungsmittel befinden sich damit in der Regie des Verwaltungsstabs und nicht mehr des Herrn. Die Herrenmacht ist zwischen dem Herrn und dem Verwaltungsstab geteilt. Innerhalb dieser ständischen Form differenziert Weber Präbendalismus und Feudalismus, wobei letzterer einen derartigen Grenzfall darstellt, dass er ihn schließlich sehr ausführlich als eigenständige Form traditionaler Herrschaft betrachtet.181 In der präbendalen Version ist der Verwaltungsstab nur kraft verliehener Grundherrschaften und Steuerleistungen, sog. Pfründen, und nicht durch persönliche Treuebeziehung gebunden.182 In der feudalen Ausprägung, insbesondere im freien Feudalismus beruht die Herrschaft gänzlich auf Gefolgschaftspietät zum Herrn. Die Adelsverwaltung als reinste Form des Feudalismus funktioniert nur über ein ganz persönliches Treueverhältnis und den Appell an die ständische Ehre. Beim Feudalismus verzweigt Weber –  zumindest in der älteren Herrschaftssoziologie –183 seine Typologie noch tiefer und unterscheidet u. a. noch den gefolgschaftlichen und den lehensmäßigen Feudalismus. Herrschaft beruht im ersten Fall auf freier Gefolgschaft nicht verwandter Personen kraft persönlicher Treue ohne Verleihung von Grundherrenrechten, im zweiten Fall auf einer Kombination von persönlicher Treuebeziehung und Lehen, also Benefizialwesen, die spezifisch für den mittelalterlichen Okzident ist. In beiden Fällen kommt es m. E. insbesondere auf gegenseitig bezeugte autoritative Macht im Sinne von Popitz an, was wiederum eine Basis für Freundschaft in der Darstellung der Texte formt bzw. was die Darstellung von Freundschaft begünstigt. Diese beiden Typen des Feudalismus deutet Weber – wie oben bereits angedeutet  – später als Modus der Veralltäglichung des Charismas, und insbesondere den Lehensfeudalismus als Hybridform zwischen traditionaler und charismatischer Herrschaft.184 Der Lehensfeudalismus vereint die charismatische Komponente der ständischen Quali181

«Der Feudalismus stellt den Grenzfall in der Richtung des ‹ständischen› im Gegensatz zum ‹patriarchalen› Patrimonialismus dar.» (MWG I/22–4, S. 411, ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitt: «Feudalismus») Vgl. für die Mehrfachzuordnung des Feudalismus im System der Herrschaftsformen bei Weber den Überblick bei Breuer 2011 [1991], S. 162–169. «Feudalismus [kommt] herrschaftstypologisch gesehen mindestens dreimal vor […]: bei der traditionalen Herrschaft, bei der Feudalismus einen Grenzfall des ständischen Patrimonialismus verkörpert; bei der charismatischen Herrschaft in der Gestalt des Gefolgschaftsfeudalismus und des erbcharismatischen Feudalismus; und im Anschluß daran in einem gesonderten Abschnitt über den Lehensfeudalismus als Mischtyp.» (ebd., S. 167) 182 Der ständische Patrimonialismus präbendaler Ausprägung bindet den Verwaltungsstab durch Pfründe, die ein lebenslängliches, unvererbliches Entgelt des Inhabers für seine Dienste darstellen. Es handelt sich um ein Amtseinkommen, bei dem das Einkommen dem Amt und nicht der Person gewidmet ist. Dies unterscheidet es rechtlich vom Lehen, der wesentlich strukturprägenden Kraft im Rahmen des Lehensfeudalismus. Pfründe können (Natural‑)Deputate aus Güter- oder Geldvorräten des Herrn, Dienstland oder Renten‑/Gebühren‑/ Steuereinkünfte sein. Im Gegenzug übt der Pfründner Herrengewalten im Auftrag des Herrn aus. Die Lasten der Amtsausübung musste der Pfründner (im Gegensatz zum Lehensnehmer) i. d. R. nicht selbst tragen. 183 Vgl. MWG I/22–4, S. 385 (ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitt: «Feudalismus»). 184 Vgl. insb. MWG  I/23, S. 513–517 (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel III: «Die Typen der Herrschaft», Abschnitt 6: «Feudalismus», § 12b: «[Lehensfeudalismus]»).

48



6.  Weitere literatur- und kulturtheoretische Perspektivierung von Freundschaft

fikation (s. «Herren‑Prestige» in den obigen Ausführungen zum Erbcharisma)185 mit einer patrimonialen Basis ohne deren unmittelbare Abhängigkeiten.186 Weber erwägt, dass die feudale Treuebeziehung zwischen Herr und Vasall aus freiem Gefolgschaftswesen im Rahmen der Veralltäglichung des Charisma entstanden ist: «[D]ie feudale Treuebeziehung zwischen Herren und Vasallen [kann] […] auch als Veralltäglichung eines nicht patrimonialen, sondern charismatischen Verhältnisses (der Gefolgschaft) behandelt werden […].»187 In jedem Fall erfolgt eine freie kontraktuelle Verpflichtung zwischen freien Männern, bei der Rechte (Land, politische Gebietsherrschaft) und Pflichten (Dienste in Krieg oder Verwaltung) fixiert werden. Die Freiheit des eingegangenen Lehensverhältnisses führte zu einigen Besonderheiten: Sie wurde nicht als Unterwerfung betrachtet, sondern erhöhte sogar die Ehre des Vasallen; das Verhältnis war unter Verzicht des Lehens seitens des Vasallen jederzeit kündbar, während umgekehrt der Lehensentzug nur aufgrund von Felonie und nur unter Duldung der anderen Lehensnehmer möglich war; das Lehen war dem Vasallen als Eigenrecht unveräußerlich zugeordnet und konnte schließlich gar vererbt werden. Der Lehensherr herrschte damit indirekt über die Lehensbeziehungen, was insofern prekär werden konnte, weil er auf persönliche Treue zählen können musste. Dies ist für die Textanalyse im Auge zu behalten. Da die Lehensbeziehung in voller Ausprägung nur einer Herrenschicht angehören kann, weil sie auf einen spezifisch emphatischen ständischen Ehrbegriff als Basis der Treuebeziehungen und auch der kriegerischen Tüchtigkeit baut, bedurfte es einer herrschaftlichen (‹ritterlichen›) Lebensführung und der entsprechenden Erziehung, in der der individuelle Heldenkampf eine entscheidende Rolle spielte. «Dies Gemeinschaftsgefühl der feudalen Gesellschaft ruht auf einer Erziehungsgemeinschaft, welche ritterliche Konvention, ständischen Stolz und ein daran orientiertes Gefühl für ‹Ehre› anerzieht […]»188

6. Weitere literatur- und kulturtheoretische Perspektivierung von Freundschaft Die nun folgenden Einzeltextanalyen der Heldenepen sind im Grundsatz so aufgebaut, dass sie mit einer Bestimmung der interessierenden Freundschaftskonstellation als geschlossene soziale Beziehung nach Weber starten. Daran schließt sodann die Analyse der Machtformen der Freunde übereinander nach der Typologie von Popitz und die Ver185

Charismatisch ist der «Appell nicht nur an die Pietätspflichten, sondern an das aus spezifisch hoher sozialer Ehre des Vasallen fließende ständische Würdegefühl als entscheidender Determinante seines Verhaltens. Das Ehrgefühl des Kriegers und die Treue des Dieners sind beide mit dem vornehmen Würdegefühl einer Herrenschicht und ihren Konventionen in untrennbare Verbindung gebracht und an ihnen innerlich und äußerlich verankert.» (MWG I/22–4, S. 396, ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitt: «Feudalismus») 186 «Echte Lehensbeziehungen in vollem technischen Sinne bestehen 1. stets zwischen Mitgliedern einer sozial zwar in sich hierarchisch abgestuften, aber gleichmäßig über die Masse der freien Volksgenossen gehobenen und ihr gegenüber eine Einheit bildenden Schicht, und kraft der Lehensbeziehung steht man 2. in freiem Kontraktverhältnis und nicht in patrimonialen Abhängigkeitsbeziehungen zueinander.» (MWG I/22–4, S. 384, ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitt: «Feudalismus») 187 MWG  I/22–4, S.  380 (ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitt: «Feudalismus»). Vgl. auch MWG  I/22–4, S. 490 f. und 515–517 (ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitt: «Umbildung des Charisma»). 188 MWG I/22–4, S. 449 (ältere Herrschaftssoziologie, Kapitel I, Abschnitt: «Feudalismus»).

49

I.  Einleitung: Methodisch‑theoretische Vorüberlegungen

ortung der Ausprägung von Herrschaft nach Weber an. Zur Entfaltung der Spezifika der Freundschaftsdarstellung im jeweiligen Einzeltext wird darüber hinaus nach dem ersten Interpretationskapitel zu ‹Karl  und  Galie› und ‹Morant  und  Galie›, das durch close reading das Spektrum der Freundschaftskonstellationen ersterschließt, punktuell auf weitere Literatur- und Kulturtheorien zurückgegriffen. Neben der profilierenden und erklärenden Kraft dieser zusätzlich herangezogenen Theorien mit Blick auf Freundschaft erhellen sie die in theoretischer Hinsicht noch wenig beleuchteten Heldenepen in komplexitätssteigerndem Sinne, die bisweilen dem Forschungsverdikt, von einfacher Machart zu sein, unterliegen. Diesem kontrollierten Theoriepluralismus liegen folgende Überlegungen zugrunde: Einerseits benötigt man übergreifende Kategorien, die es erlauben, die korpusinhärente Verknüpfung von Freundschaft und Herrschaft einzufangen, und andererseits solche, die die jeweilige Textspezifik dieses Konnex im ständigen hermeneutischen Abgleich mit dem Gesamtkorpus adäquat abbilden. Man braucht zum einen übergeordnete Konzepte von Freundschaft, Macht und Herrschaft, welche die Leitkategorien der Analyse aller Texte bereitstellen und der historischen Spezifik der beiden Phänomene von Freundschaft und Herrschaft Rechnung tragen. Diese grundierende Perspektivierung leisten die Machttheorie von Heinrich Popitz, die Herrschaftssoziologie Max Webers und ein an seiner Definition von geschlossener, sozialer Vergemeinschaftung orientiertes Freundschaftskonzept. Man braucht aber zum anderen bei der Interpretation eines bestimmten Einzeltextes wechselnde, aber je adäquate Theorieangebote, um die jeweiligen thematischen sowie strukturellen Eigenheiten im Umgang mit Freundschaft einfangen zu können und sie gerade nicht im Dienste falsch verstandener Schematisierungsbestrebungen höherer Ordnung einzuebnen. Die Variabilität des Gehalts und der narrativen Präsentation von Freundschaft verlangte nach einzeltextspezifisch ausgewählten Theorienangeboten der Literatur- und Kulturwissenschaft, um die individuelle Tönung von Freundschaft sowie die Dynamik ihres Zusammenwirkens mit Herrschaft herauszustellen. Die Arbeit beschreitet damit einen spannungsvollen Mittelweg, der auf einem abstrakten Niveau gemeinsame Fluchtpunkte des Zusammenwirkens von Freundschaft und Herrschaft auf der Plotebene registriert, ohne dass hierbei die Einzeltextspezifika aus dem Blick geraten. Mein Ziel ist es dabei, dass sich beide Perspektiven gegenseitig befruchten und v. a. über den Spannungsbogen der Gesamtarbeit hinweg die –  wie man frei mit Jan-Dirk Müller189 sagen könnte – Spielregeln der Freundschaft(-sdarstellung) mehr und mehr herauszuschälen und anzureichern. Wenn ich dabei Angebote ganz verschiedener Provenienz – etwa der Soziologie und Ethnologie – kombiniere, dann geht es mir dabei nicht um ein «wissenschaftliches L’art pour l’art», sondern um einen «methodologischen Polytheismus» im positiven Sinne.190 Dieser zielt pragmatisch auf einen Werkzeugkasten, der Probleme lösen hilft, unter der Bedingung, dass die Palette der angewendeten Theorien dem Gegenstandsbereich adäquat ist, ihre Anwendung im Prozess ständiger Reflexion unterliegt und sie ein interpretatorisches Vermögen freisetzen können. Die Verwendung des jeweils hinzutretenden Theoriesettings wird in den einzelnen Kapiteln entsprechend näher plausibilisiert. Wenn man diese in der Zusammenschau disparat oder inkommensurabel finden mag, so ist das für die Gesamtanlage der Arbeit insofern unschädlich, 189 Vgl. 190

50

Müller 1998. Wacquant in Bourdieu/​Wacquant 2006 [1992], S. 52 und 54.



6.  Weitere literatur- und kulturtheoretische Perspektivierung von Freundschaft

als diese zusätzlichen Perspektivierungen je nur den Einzeltext weiter erhellen sollen. Sie sollen hingegen nicht der Vergleichbarkeit der Texte dienen, wiewohl sie ihr auch nicht abträglich sind, weil diese durch die grundierende macht- und herrschaftstheoretische Lesart gesichert wird. Konkret werde ich die Texte des Roland-Stoffs mit Réne Girards Theorie mime­ tischen Begehrens analysieren, um den Wandel eben jener Struktur in der Textreihe ‹Chanson de Roland›, ‹Rolandslied› und ‹Karl› herausstellen zu können. Der ‹Willehalm› wird sodann mittels Girards Opfertheorie mit der ‹Bataille d’Aliscans› kontrastiert, um so die Labilität von Willehalms Herrschaft im Zusammenhang mit dem Verschwinden Rennewarts strukturell fassen zu können. Arnold van Genneps Liminalitätstheorie und deren ritualtheoretische Weiterentwicklung bei Victor Turner wird für die Deutung der Freundschaften in der ‹Kudrun› als Schwellen- und communitas‑Phänomen fruchtbar gemacht. Die agonal ausagierte Freundschaft Dietrichs mit Hildebrant und die akzidentielle Rolle Wolfharts darin in den aventiurehaften Dietrichepen wird mittels der Habitus- und Feldtheorie Pierre Bourdieus profiliert. Das ‹Nibelungenlied› dient am Schlusspunkt der Textreihe Systematisierungszwecken und soll daher –  wie schon der Auftakt mit ‹Karl und Galie› und ‹Morant und Galie› – einem close reading unterzogen werden.

51

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen 1. Vom Küchenjungen zum französischen König: Karls Weg durch Herrschaftskrisen mittels Freunden in ‹Karl und Galie› und ‹Morant und Galie› Die Chanson de geste‑Adaptation ‹Karl und Galie› wird nach Hartmut Beckers recht einhellig auf 1215–1225 datiert und ins ripuarische Sprachgebiet (wohl Aachen) lokalisiert.1 Dieser Text bildet den Auftakt der ‹Karlmeinet›‑Kompilation, die verschiedene niederrheinische Karlsdichtungen vereint und mutmaßlich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstand.2 Bevor ‹Karl  und  Galie› Eingang in den ‹Karlmeinet› gefunden hat, existierte es allerdings als eigenständige Dichtung und erfuhr mit ‹Morant und Galie› eine Fortsetzungsgeschichte. Diese entstand ca. 1220–1230, wohl im Kölner Raum.3 Über Quellen von ‹Karl  und  Galie› kann man nur mutmaßen, direkte Vorlagen –  so es sie gab – sind nicht überliefert.4 Da der Text sowie seine Fortsetzung nur einem sehr 1

Beckers 1994, S. 3–5. Bastert 2010, S. 92, stellt aber heraus, dass Datierung und Lokalisierung keineswegs eindeutig geklärt sind und gibt einen Forschungsüberblick über die Schwankungsbreite bei der zeitlichen Einordnung des Textes. ‹Karl und Galie› (KG) wird zitiert nach der Ausgabe von Helm 1986. Die Versangabe folgt der üblichen Zählung des ‹Karlmeinet› nach der Ausgabe von Kellers 1858. 2 Der ‹Karlmeinet› (KM) ist nur in Handschrift A  von 1470/1480 vollständig überliefert, daneben existieren neun Fragmente. Eine genaue Beschreibung der Fragmente findet sich bei Beckers 1988, S. 188–206. Nach (1) ‹Karl und Galie› folgen in der insgesamt 36 000 Verse umfassenden Kompilation (2) ‹Morant und Galie› und (3) eine aus verschiedenen Quellen sich speisende Zwischenpartie zu den Eroberungskriegen und politischen Kämpfen Karls. Diese Eigenschöpfung des Kompilators nutzt das ‹Speculum historiale› des Vinzenz von Beauvais und den ‹Spieghel historiael› des Jacob van Maerlant. Vgl. Beckers 1983, Sp. 1019. Daran schließt sich (4) eine niederrheinische Übersetzung der mittelniederländischen Chanson de geste ‹Karel ende Elegast›, (5) eine eigenwillige Bearbeitung des Konrad’schen ‹Rolandsliedes› mit dem sog. ‹Ospinel›‑Einschub und schließlich (6) ein kurzer Abriss der Ereignisse bis zum Tod Karls nach lateinischen und niederländischen chronikalischen Vorlagen an. Ob das (7) ‹Darmstädter Gedicht über das Weltende› noch Teil des ‹Karlmeinet› ist, wird unterschiedlich beurteilt. Das ‹Gedicht über das Weltende› bildete ursprünglich den Abschluss des Kodex, wurde aber im 19. Jahrhundert separat gebunden. Das Gedicht wirkt zunächst wie ein sekundärer Zusatz, weswegen es von Keller auch nicht mit in seine Ausgabe des ‹Karlmeinet› von 1858 aufnahm, ist aber durch die Darstellung von Karls Tätigkeiten im Bereich des Kirchenbaus angesichts des Jüngsten Tages (KM  540,39–42) inhaltlich mit dem sechsten Abschnitt der Kompilation verbunden. Bastert 2010, S. 152, geht daher –  wie ich meine zu Recht  – davon aus, dass die Aufnahme des Gedichts nicht zufällig, sondern programmatischen Überlegungen geschuldet ist. Karls Leben wird so in einen heilsgeschichtlichen Rahmen gestellt. Schon Beckers 1983, Sp. 1023, sieht in dem Gedicht eine Art Epilog, also einen integralen Bestandteil der Kompilation. 3 ‹Morant  und  Galie› (MG) ist als ebenfalls ursprünglich eigenständiger Text neben der ‹Karlmeinet›‑Handschrift  A noch in zwei weiteren, früher entstandenen Handschriften überliefert. Vgl. Beckers 1983, Sp. 1016–1018. Da schon in diesen beiden Handschriften die Dopplung der Morant‑Figur erläutert wird, ist anzunehmen, dass die beiden Texte bereits vor ihrer Zusammenstellung im ‹Karlmeinet› eine Art Doppelroman bildeten. Morant ist eine Nebenfigur aus ‹Karl  und  Galie›, die dort allerdings im Kampf stirbt. Morant aus ‹Morant und Galie› ist, wie der Erzähler dort erläutert, nicht mit jenem Morant zu verwechseln (MG v. 211–229). ‹Morant und Galie› wird zitiert nach der Ausgabe von Frings/​Linke 1976. 4 Es wird zumeist angenommen, dass die Quelle von ‹Karl  und  Galie› eine verlorene altfranzösische Chanson de geste ist. Vgl. den Überblick im «Verfasserlexikon»‑Artikel zum ‹Karlmeinet› von Beckers 1983, Sp. 1015, und Bastert 2014, S. 235 f. Nur Zandt 1976, S. 173, und van Anrooij 1999, S. 10, haben die alte These einer mittelniederländischen Vorlage von Bartsch 1861 wieder aufgegriffen.

53

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

kleinen Kennerkreis vertraut sind, seien hier zunächst die Eckpunkte der Handlung skizziert. Es handelt sich um eine eigenwillige Bearbeitung der Mainet‑Sage, insofern Karl zweimal das exile and return‑Schema durchlaufen muss:5 Nach der Thronusurpation durch Hanfrat und Hoderich erobert Karl vom spanischen Exil aus seine Herrschaft in Frankreich zurück und erweist seine Idoneität als König; danach kehrt er nach Toledo zurück, entführt und heiratet schließlich Galie, wodurch er das Ideal als Minnender erfüllt. Hierbei greift der Text auf verschiedene Gattungs- und Erzählschemata zurück: Versatzstücke aus Chanson de geste, Minnesang, Minne- und Aventiureroman verbinden sich mit einer eigensinnigen Variante des Brautwerbungsschemas zu einer gewaltigen Hybride. Die Besonderheit dieser Hybridität, wie dies Heike Sievert herausgestellt hat,6 liegt in der unbekümmert‑spielerischen Erzählhaltung, die in der Rekombination gängiger Muster Konflikte ungeachtet jeglicher Plausibilitätserwartungen meidet und so einen Text von ausgesprochener Frohsinnigkeit produziert. Um den Kenntnisstand von ‹Morant  und  Galie› ist es kaum besser bestellt. Beckers vermutet zwar eine altfranzösische Chanson  de  geste als Vorlage, Ben Peperkamp die Vermittlung über eine mittelniederländische Zwischenstufe.7 Letztlich muss dies aber spekulativ bleiben. Es ist ebenso gut denkbar, dass es sich um eine Neuschöpfung handelt, die sich stark an Mustern der Chanson  de  geste bedient.8 ‹Morant  und  Galie› knüpft inhaltlich an die Handlung von ‹Karl  und  Galie› an und zeigt das mittlerweile mehrere Jahre verheiratete Herrscherpaar als Opfer einer Verleumdung, die Karls Urteilsvermögen und Gerechtigkeitssinn auf die Probe stellt. Die Intriganten unterstellen Galie und dem treuen Vasallen Morant ein außereheliches Verhältnis, während es sich hierbei – wie der Erzähler nicht müde wird zu betonen – um ein rein freundschaftliches Band handelt. Durch einen Gerichtsprozess sowie einen Zweikampf kann die Ordnung aber restituiert werden. Obwohl es sich bei ‹Karl und Galie› und ‹Morant und Galie› in mehrfacher Hinsicht um Randphänomene handelt – verfasst in einer Mischsprache,9 wohl relativ unabhängig von der oberdeutschen Literaturtradition auf niederrheinischem Gebiet entstanden,10 Zeugen der zögerlichen Rezeption altfranzösischer Heldenepen im deutschsprachigen Beckers 1989b, S. 185, hält wegen z. T. gravierender inhaltlicher Divergenzen weder die altfranzösische Chanson  de  geste ‹Mainet› (zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts, Fragment) noch andere volkssprachliche Versionen für die Vorlage von ‹Karl  und  Galie›. Basisinformationen zum altfranzösischen ‹Mainet› gibt Hennings 2008, S. 24 f. Sie erläutert S. 129–134 Gemeinsamkeiten und Unterschiede von ‹Karl und Galie› mit französischen, italienischen und spanischen Versionen des Mainet‑Stoffs und stellt heraus, dass die Entführung Galies und die Orias‑Episode singuläre Züge des deutschen Textes sind. Allerdings kann nicht geklärt werden, ob dies die Zutat des deutschen Autors war oder ob er dies schon in der nicht erhaltenen Vorlage vorfand.  5 Beckers 1989a, S. 133, spricht in Analogie zum höfischen Roman vom Doppelwegschema bzw. Doppelkreisschema des Textes, durch welchen die Integration der höfischen Minnehandlung in den archaischen Stoff gelinge.  6 Vgl. Sievert 2003, S. 112–116.  7 Vgl. Beckers 1983, Sp. 1017; Peperkamp 1991.  8 Das ist insofern möglich, als Bastert 2014, S. 237 f., darlegt, dass die Handlung von ‹Morant und Galie› in keiner der anderen europäischen Literaturen vorkommt. Der Stoff von der unschuldig verleumdeten Königin Sibille differiert zu stark; der häufig in altfranzösischen Heldenepen vorkommende Name Morant de Reviers ist ein zu schwaches Indiz für eine Vorlage.  9 Das niederrheinisch geprägte Mittelhochdeutsch erschwert den Zugang durch viele mittelniederländische Einsprengsel zusätzlich. 10 Es gibt allerdings keine Indizien für eine über ‹Morant und Galie› hinausgehende literarische Rezeption von ‹Karl und Galie›, sodass angesichts des Sprachstandes der überlieferten Zeugen davon auszugehen ist, dass die beiden Texte nur im niederrheinisch‑ripuarischen Raum Verbreitung gefunden haben. Vgl. Beckers 1988, S. 207. Der Befund lässt darauf schließen, dass sich in diesen sowie in den anderen Texten des ‹Karlmeinet›

54



1.  Vom Küchenjungen zum französischen König

Raum, von der Forschung kaum beachtet –11 sollen sie den Anfang der Untersuchung des Freundschaftsthemas in deutschsprachigen Heldenepen bilden. Hierfür eigenen sie sich außerordentlich gut, weil das Thema einen zentralen Stellenwert für die Figuren Karl und Galie und deren gemeinsame Herrschaft hat. Karl überlebt durch die unmittelbare Hilfe der Freunde David und Dederich die Mordpläne der Thronusurpatoren Hanfrat und Hoderich, findet ehrenvolle Aufnahme am spanischen Hof von Galafers und kann seinen Thron in Frankreich zurückerobern. Mittelbar spielt in diesen Hergang auch die Freundschaft des Kriegerpaares Morant und Everhart hinein. David und Dederich übernehmen darüber hinaus auch unterstützende Rollen beim Glücken der Minnehandlung im zweiten Teil des Textes. Im Kontext von Minne und der Konversion Galies werden in beiden Texten auch Frauenfreundschaften installiert (Galie mit Florette und Orie), die neben ihrer begleitenden und identitätssichernden Funktion für Galie auch zur Erweiterung bzw. Stabilisierung des Einflussbereiches von Karl durch geschickte Verheiratungen beitragen. Mit Morant wird in ‹Morant und Galie› an eine als Freund vorgeprägte Figur in ‹Karl und Galie› angeknüpft (wenngleich es sich nicht um identische Figuren handelt) und vorgeführt, was passiert, wenn Freundschaft selbst krisenhaft wird. Die Texte eröffnen ein Panorama ganz verschiedener Freundschaftskonstellationen (symmetrische vs. asymmetrische, homosozial männliche, homosozial weibliche und heterosoziale Freundschaften), deren macht- und herrschaftsrelevante Praktiken es im Folgenden herauszuarbeiten gilt. Vor dieser Folie lässt sich dann in den nachfolgenden Textanalysen einerseits Typisches, andererseits Individuelles der Freundschaftsdarstellungen und deren Beziehung zum Herrschaftskomplex in den anderen Heldenepen herauspräparieren. Deswegen soll für dieses Kapitel neben der von Weber gewonnenen Freundschaftsterminologie die grundierende macht- und herrschaftssoziologische Perspektivierung im Anschluss an Popitz und Weber im Zusammenspiel mit einer möglichst textnahen Lektüre Anwendung finden, um eine klare Vergleichsfolie für die weiteren Interpretationen herauszuarbeiten.

1.1. Der kluge David und der kräftige Dederich: Zur Sicherung von Karls Existenz und Status im Exil durch funktional differenzierte Freunde Im Bereich der asymmetrischen Freundschaften, die Karl in ‹Karl  und  Galie› unterhält, zeigt sich mit David und Dederich eine Verdopplung der Freundesfigur. Beide sind eine Literaturtradition manifestiert, die unabhängig vom hochdeutschen Raum in eigenständiger Weise auf Entwicklungen aus der französischen Literatur und Kultur zugegriffen hat. 11 ‹Karl und Galie› hat bisher keine große Forschungsresonanz gefunden, was nicht zuletzt mit der Suggestion der Leichtigkeit und der damit angenommenen Trivialität des Textes zu tun haben mag. Bislang wurden vorrangig Fragen der stoffgeschichtlichen und sprachlichen Provenienz bearbeitet. Vgl. Beckers 1988; 1989c. Nur zögerlich hat sich die Forschung bisher dem Text aus literaturwissenschaftlicher Sicht genähert und sich hierbei wiederum ganz punktuell auf wenige Motive beschränkt: Am meisten interessierte der für das deutschsprachige Mittelalter literarturgeschichtlich nahezu singuläre Einschub eines lyrischen Wechsels bzw. eines Minnedialogliedes zwischen Galie und Karl, dem sich gleich mehrere Arbeiten widmeten. Vgl. Beckers 1979a und b; Geith 1998; Sievert 2000. Daneben gab es isolierte Bemühungen zum Einfluss des Höfischen. Vgl. Beckers 1989a und b. Des Weiteren eine Untersuchung von Beckers 1990 zu den Thronusurpatoren und von Hirhager 1998 und Federow 2016a zu den Spielszenen. Der thematische Schwerpunkt und Handlungsrahmen von ‹Morant  und  Galie›, die Gerichtspraxis, bildete folgerichtig das Zentrum der insgesamt auch noch sehr spärlichen wissenschaftlichen Bemühungen. Neben sprachgeschichtlichen Arbeiten (Frings 1926/1927), finden sich v. a. Arbeiten zu Fragen der realhistorischen (Frings/​Linke 1953, Minis 1988), aber auch der literarischen und kulturellen Bezüge (Krolla 2012) des Rechtsgangs.

55

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

gegenüber Karl rangniederer Herkunft und beide tragen unmittelbar zur Restitution von Karls Herrschaft bei. Aber die beiden Figuren werden hinsichtlich der von ihnen genutzten Aspekte von Macht differenziert und entsprechend verschiedenen Wirkungsbereichen zugeordnet. Während der alte Jäger David aufgrund seiner lebenspraktischen Klugheit mehr als Ratgeber, Kundiger und Erzieher des noch jungen Karl auftritt, wird der Schenke Dederich als Freund aufgrund seiner kriegerischen Stärke gebraucht und tritt in militärischen Handlungsfeldern in Erscheinung. Die beiden Freunde Karls werden gleich zu Beginn des Textes eingeführt. Hanfrat und Hoderich usurpieren mittels ihres märchenhaft errungenen Reichtums den französischen Thron nach dem Tod Pippins und wollen das vertraute Verhältnis von David zu Karl für ihre Mordpläne ausnutzen. David kann sich den Forderungen der beiden jeweils listig entziehen, übergibt Karl in die Obhut Dederichs und unterrichtet in der Zwischenzeit die Reichsfürsten. Hanfrat und Hoderich degradieren Karl in die Küche und können so die Reichsfürsten dazu bewegen, die Schwertleite und Krönung Karls zu verschieben.12 Auf Anraten Dederichs schlägt Karl Hoderich mit einem Pfau beim Festmahl. Nun schwebt Karl in höchster Gefahr und David und Dederich ersinnen den Plan, nach Spanien an den Hof von König Galafers zu gehen, wohin sie 200 Mann begleiten. David erwirkt durch geschickte Gesprächsführung die freundliche Aufnahme Karls in Toledo, wo Karl binnen eines Jahres ritterliches Verhalten besser beherrscht als alle anderen. Karls Gefolge unterstützt Galafers im Kampf gegen Bremunt, der ihn bekriegt, um seine Tochter Galie zur Frau zu nehmen. Innerhalb der Kämpfe wird neben den Waffenbrüdern Morant und Everhart v. a. Dederich besonders hervorgehoben. Karl besteht nach seiner Schwertleite die erste Bewährungsprobe gegen Bremunts Neffen Kaiphas und tötet schließlich auch Bremunt. Mit militärischer Unterstützung von Galafers erobert Karl seine Herrschaft in Frankeich zurück. Auf die als Pilgerfahrt getarnte heimliche Entführung Galies nimmt Karl lediglich David und Dederich mit, deren Wissen bzw. Körperkraft auf dem Hinund Rückweg mehrfach benötigt werden. David stirbt allerdings bei der Belagerung der Burg Termes, auf die Karl und Galie mit David und Dederich sowie Galies Freundinnen Florette und Orie vor dem Heiden Orias geflüchtet sind, der Galie gewaltsam zur Frau nehmen will. Karls Trauer um David wird über drei Szenen verteilt. Dederich hat seinen letzten Auftritt im letzten Kampf gegen Orias und verschwindet dann einfach aus der Geschichte. Für die letzten Züge der Geschichte –  Taufe von Galie, Orie und Florette sowie Hochzeit von Karl und Galie als auch Orie und Godin – werden die Freunde Karls nicht mehr benötigt. Dass es sich bei David und Dederich um Freunde Karls handelt, die nicht nur in einem durchschnittlichen Gefolgschaftsverhältnis zu Karl stehen und auch nicht nur in dieser Bestimmung aufgehen, lässt sich schon allein an der dauerhaften und stabilen Anlage der Beziehung ablesen, die sich über den gesamten Text erstreckt und auf die Geschichte mit Rettung und Flucht Karls, der Rückeroberung Frankreichs und der Minne‑/Pilgerfahrt im zweiten Teil entscheidend einwirkt. Im Text wird zwar durchaus geschildert, dass David auch Tätigkeiten als Diener übernimmt und von geringem Stand ist, was aber für seine vorrangige Darstellung als Freund ganz unerheblich ist. David bezeichnet sich 12

56

Die Verbannung Karls in die Küche wird bereits in KG 6,34–37 geschildert, aber erst zu einem späteren Zeitpunkt, als die Reichsfürsten an den Hof kommen, handlungsrelevant. Das Motiv nutzt die Fallhöhe Karls aus, sodass sein weiterer Werdegang als steiler Bewährungsweg vorgezeichnet ist.



1.  Vom Küchenjungen zum französischen König

selbst im Sinne einer Standeszuschreibung als arme[r] man (KG 28,26). Er hilft Karl beim An- und Auskleiden (KG 67,22–25; 73,61 f.), spendet ihm Licht (KG 74,16 f.), richtet sein Bett her (KG 75,29–34) und versorgt die kleine Gruppe auf der als Pilgerfahrt getarnten Entführung Galies mit Gejagtem (KG 147,48 f.). David und Dederich werden aus der Masse der Gefolgschaft der 200 und auch innerhalb des Heeres gesondert herausgehoben, wodurch ihre fast durchgängige narrative Präsenz in der Geschichte eine besondere Qualität im Sinne einer exklusiven Zuordnung zu Karl erhält, sodass die Freundschaften nach außen relativ abgeschlossen sind. Hierfür spricht auch die Tatsache, dass der sterbende Pippin David seinen jungen Sohn Karl öffentlich überantwortet und zum Erzieher bestimmt (KG  6,41–45; 6,62–64). Diesen Vertrauensbeweis gibt David, als er die Reichfürsten von der prekären Lage Karls unter Hanfrat und Hoderich unterrichten will, an Dederich weiter, den er mit der Fürsorge für Karl während seiner Abwesenheit betraut (KG 8,21–37).13 Neben der Darstellung Davids und Dederichs als Begleitfiguren hinsichtlich der Gesamtanlage der Geschichte werden die beiden auch immer wieder innerhalb von Einzelszenen durch andere Figuren oder durch den Erzähler Karl zugeordnet. So wollen Hanfrat und Hoderich die besondere Vertrautheit Davids mit Karl für ihr Mordkomplott ausnutzen, erkennen also die besondere Beziehung der beiden: «David, wyr syns gewys, / Dattu so rechte heymelich bys / Karlle unssem junckeren.» (KG 7,20–22) Für Hoderich und Hanfrat impliziert Vertrautheit offensichtlich nicht zugleich auch Vertrauen, für David hingegen –  wie sich an seinen folgenden Überlegungen und Handlungen zeigt  – schon, was ihn neben anderen Aspekten als Freund ausweist. Dederich wird Karl in den diversen Schlachten v. a. räumlich zugeordnet – der Erzähler versichert mehrfach, dass Dederich nicht von Karls Seite wich (KG  120,1–11; 190,39 f.; 203,19 f.). Bei der Akquise von Mitstreitern bei der Flucht schwören die 200 Helfer David und Dederich den Treueeid, dass sie Karl unter Einsatz von Gut und Leben beistehen (KG  28,52–64), d. h. sie erkennen David und Dederich als legitime Vertreter und Fürsprecher Karls an. Ein weiteres Indiz dafür, dass man es bei Karl‑David und Karl‑Dederich mit Freundschaften als geschlossenen sozialen Beziehungen bzw. Vergemeinschaftungen im Sinne Webers zu tun hat, besteht darin, dass zweckrationale Handlungsmotive, wie sie in Vergesellschaftungen typisch sind, von David und Dederich seitens des Erzählers bei der Einführung der Figuren explizit ausgeschlossen werden: Durch dat was hey [d. i. David] dem kinde so holt, Dat hey durch silber noch durch golt Eme [d. i. Karl] neyt aff en woulde staen, So wee yd eme ouch mochte ergaen. (KG 7,1–4)

Das Motiv wird im Zusammenhang mit einem der mehreren Anläufe zur Ermordung Karls erneut vom Erzähler eingespeist: Hey [d. i. David] achte weynig umb dat goet Dat eme dy broeder [d. s. Handfrat und Hoderich] baden beyde. Ee hei Karlle woulde leide An syme lyve haven gedaen, 13

Karl wird damit jederzeit durch mindestens einen der beiden Freunde beschützt.

57

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen Hei hede selver sunder waen Geleden grois ungemach. (KG 14,7–12)

In frappierend ähnlicher Weise heißt es über Dederich: Dorch den willen was hey [d. i. Dederich] werliche Syme juncheren [d. i. Karl] so rechte holt, Dat hey durch silber noch durch golt Eme neit ovels en woulde doen. (KG 8,41–44)

Die Parallelisierung der Figuren wird dahingehend weitergetrieben, dass für beide zwar noch traditionale Handlungsmotive benannt werden, da beide schon unter Pippin als Jäger (KG 6,46–48) bzw. Schenke (KG 8,39 f.) gedient haben, wodurch eine verlässliche, generationenübergreifende triuwe‑Bindung suggeriert wird.14 Im Text wird aber in der Gesamtschau vorrangig auf wertrationale und affektive Momente der Beziehung und deren gegenseitige Anlage abgestellt. Bei David lassen sich diese Freundschaftsmomente v. a. an der großen Anteilnahme an Karls erbärmlichem Zustand unter der Terrorherrschaft Hanfrats und Hoderichs ablesen, die im Text mit der außergewöhnlichen Zuneigung Davids zu Karl begründet werden. Der Erzähler beteuert in hyperbolischem Gestus: Ich wene, dat nye alt man / Eyn kynt so rechte leve gewan / Als hey [d. i. David] hadde synen junckeren. (KG 6,49–51) So beklagt David oft den Zustand Karls in seiner Kemenate, wie der Erzähler gleich zu Beginn der Einführung der Figur vermerkt: Der gode jeger David Geynck vil dicke ind menche zyt Schryen in eyne kemenade Syns junckeren noede, Want man yn also drugde In up yn zuckde. (KG 6,53–58)

David drückt seinen Kummer über Karls Lage auch gegenüber den Reichsfürsten aus (KG 9,54). Dass auch Karl eine enge Verbindung zu David hat, zeigt sich bei der gleich dreifach dargestellten Totenklage Karls um David, der bei der Belagerung von Termes tödlich verwundet wird. In der ersten Szene des clagen sanck (KG 183,9) wird die Trauer Karls am eindrücklichsten geschildert: Dat geynck do dem konynck reyne Harde sere zo bene. Eme wart leyde, eme wart zoren, Want hey hedde verloren Den goden vrunt David den alden. Syne hende begunde hey valden An Davids wangen Ind hait en umbvangen. Karlle dede syn hertze we. (KG 183,16–24) 14

58

Explizit wird das von David angesprochen, der Dederich nach dem Zwischenfall beim Festessen, bei dem Karl Hoderich mit einem Braten geschlagen hat, um Hilfe bei der Flucht bittet: «Ind las ouch gedencken dich, / Wee leiff dich hade der vader syn.» (KG 26,10 f.)



1.  Vom Küchenjungen zum französischen König

Karl umarmt den Toten, beklagt ihn laut und weiß, dass er ihm sein Leben verdankt (KG  183,25–31). Karl lässt David aufwendig begraben, [o]ff hey eyn vorste were (KG 183,35) und schwört Rache für Davids Tod an Orias (KG 183,38–43). Als Karl innerhalb der Waffenruhe abermals in Trauer verfällt (KG 184,13 f.), ermahnt ihn Galie, dass Karl am Tod Davids und dem Willen Gottes nichts ändern könne und er mit den anderen fröhlich sein solle (KG 184,22–38). Beim Abzug von Termes nach Paris besucht Karl noch einmal Davids Grab, begonde weynen usser der maessen (KG 207,13) und betont in seiner Klage sein hertz lyden (KG 207,16). Galies Ermahnung wiederholt sich (KG 207,23–30). Die Tochter Davids wird schließlich sogar Galies Taufpatin. Karl und Galie kümmern sich im Gegenzug für Davids Dienste um das Mädchen, Want sy eme [d. i. Karl] geynck nahe Noch des alden mannes [d. i. David] doit De eme van mencher hande noyt Dicke geholpen hadde waele. (KG 209,11–14)

Der Freundschaft wird damit ein quasi‑familiärer Status zugeschrieben. Die Freundschaft Karls zu Dederich drückt sich weniger affektiv als vielmehr in Form von Autorität auf Gegenseitigkeit im Sinne Popitz’ aus. Der Rat Dederichs, Karl solle Hoderich mit dem Pfau in Anwesenheit aller Reichsfürsten beim Mahl ins Gesicht schlagen, wirkt zunächst extrem riskant, geradezu unverantwortlich waghalsig, er zielt aber auf den Statuserhalt Karls (KG  21,24–22,12). Dederich erkennt Karl als legitimen Herrscher an, sein Tun soll ihn als diesen markieren.15 Dederich formuliert das negativ, in dem er meint, dass Hanfrat und Hoderich Karl «vur eynen dwais» (KG  21,37) halten. Der Schlag sei demgegenüber einer, «[d]e Vranckrich zo eren mach ergaen.» (KG 21,33) Hierfür sichert Dederich Karl seinen Schutz unter Einsatz seines eigenen Lebens zu (KG  21,63–22,12): «De mach uch doen unmasse. / Myn leven ich by uch lasse.» (KG 22,5 f.) Die Szene dient auch zur Illustration der unverbrüchlichen triuwe Dederichs bis in den Tod hinein. Auch Karl fürchtet schließlich den Tod nicht mehr, weil er seiner adligen Identität ohnehin beraubt, also gesellschaftlich bereits ‹tot› ist. Betrachtet man den Gesamttext, leitet diese Aktion des Faustschlags den Weg zur Rückeroberung des Throns durch Karl ein; sie zwingt zur Flucht und zum Kampf aus dem Exil heraus. Es ist die erste – wenn auch noch nicht ritterlich vollendete – Form der Gegenwehr und sichert Karls hochadlige Identität. Karl wiederum erkennt Dederich als einen seiner hervorragendsten Krieger an. Nach der finalen Schlacht gegen Bremunt erkundigt sich Karl gesondert nach dem Verbleib von Dederich, den er gut hat kämpfen sehen (KG 95,27–36). Als vermutet wird, dass er gefallen ist, beklagt und beweint er ihn (KG 95,43–46). Als man Dederich dann schwer verletzt auf dem Schlachtfeld findet, nimmt Karl Dederichs Kopf auf seinen Schoß und versichert, «Ind en soulde dat kosten dusent punt marck, De kost en were mir neit zo starck, Ich woulde id allet dar umb geven, Dat ir behalden moget ur leven.» (KG 96,32–35) 15

Im Text wird bezeichnenderweise die Situation größter Erniedrigung, als Karl den Spieß in den Saal trägt, genutzt, um ausgiebig sein unglaublich schönes Antlitz darzustellen. Karls Destination als herausragender Held wird in der Beschreibung als [d]at alre starckeste kynt / Dat ee me gesyn wart synt (KG 22,35 f.) und als besonders gutaussehend (trotz Küchendreck; KG 22,39–51) deutlich.

59

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

Karl will denn auch seinen Feldzug zur Rückeroberung Frankreichs erst starten, wenn Dederich wieder genesen ist (KG  99,6–10) und übergibt ihm schließlich sein Schwert Gosobele (KG  103,28–31), das er vorher von Galafers im Rahmen seiner Schwertleite geschenkt bekommen hat (KG 55,29). Die Verdopplung der Freundesrolle um Karl in den Figuren David und Dederich ist funktional, insofern sie hinsichtlich ihrer Qualitäten und den ihnen zur Verfügung stehenden Typen von Macht differenziert werden. Davids hervorstechende Qualität bzw. dominantes Machtmittel ist sein Wissen. Er handelt klug und listig, er weiß um Normen feudaladligen, politischen Verhaltens und er weiß zudem, wie mit einem Herrschaftsverband umzugehen ist. An vielen Stellen wird David mit Attributen wie wysslich (KG 7,53; 14,6; 14,45; 68,41; 74,24), behende (KG 25,39) oder witzich (KG 75,18) belegt oder mit lyst (KG 7,54; 8,3; 27,47) in Verbindung gebracht. Seine weitreichenden Kenntnisse und Informationen nutzt David im Sinne instrumenteller und datensetzender Macht aus, die Karls Identität und Herrschaft zum Vorteil gereichen. Die Weisheit und Voraussicht Davids lassen ihn Hanfrat und Hoderich mehrfach überlisten, wodurch er den Mordersuchen der beiden jeweils entgeht. Zunächst verspricht er den beiden nach einer lang geplanten Pilgerreise, Karl töten zu wollen (KG 7,56–8,1). Danach sichert er Hanfrat und Hoderich zu, Karl mittels eines Krautes, das allerdings erst in vier Wochen wachse, umzubringen (KG 14,18–39). David stellt hier jeweils das von den Brüdern Gewünschte in Aussicht und koppelt durch sein listiges, aber eben auch riskantes Vorgehen sein Leben an dasjenige Karls. Nur so kann er ihm das Leben retten. Hieran zeigt sich, dass David nicht einfach auf die Funktion als Ratgeber reduziert wird, insofern er in sein Versprechen selbst involviert ist. Warnung, Rat und Empfehlungen sind demgegenüber Überzeugungsversuche, die andere durch Hinweis auf mögliche Gefahren oder Chancen beeinflussen.16 David hingegen bindet sich mit seiner Machtausübung selbst. In Anlehnung an Popitz’ Überlegungen zur Drohung kann man über Versprechen konstatieren, dass diese Selbstbindung umso prekärer wird, je unwahrscheinlicher die Erfüllung des Versprechens wie im Falle Davids ist. Während David die Brüder Hanfrat und Hoderich listig hinhält, kann er die Reichsfürsten überzeugen, einen Hoftag in Paris abzuhalten, um sich Karls unwürdigem Dasein zu vergewissern. David zeigt ihnen die Alternativen auf: Entweder sie halten einen Hoftag ab und erwerben sich dadurch «ere ind prys» (KG 9,20) oder sie verlieren Karl (KG 8,61–9,1). Als sich nach der Saalschlacht die Flucht aus Paris nicht mehr vermeiden lässt, weiß David, dass sich noch mehr Helfer finden lassen, wenn man Morant und Everhart von dem Unternehmen überzeugt (KG 27,36–44). Dies gelingt, weil David auch in dieser Gesprächsstrategie mit Alternativen operiert. Entweder Karl stirbt (KG 28,16–20) oder die 200 Ritter begleiten ihn auf der Flucht, wofür er ihnen in Aussicht stellt, dass Karl sie zu gegebener Zeit dafür entlohne (KG  28,31–43). Dieses Vorgehen bewährt sich abermals, als David für Karl und seine Helfer um Aufnahme bei Galafers bittet. Hier verspricht er Galafers, dass ihn die tapferen, kräftigen Ritter im Kampf gegen Bremunt unterstützen können (KG 32,43–53). Bevor er Karls Identität preisgibt, lässt sich David von Galafers versichern, dass ihnen nichts passiere. Dieses umsichtige Agieren zahlt sich aus, denn tatsächlich hegte Galafers Groll gegen Pippin (KG 33,9–34,3). 16 Vgl.

60

Popitz ²1992, S. 83.



1.  Vom Küchenjungen zum französischen König

Das kluge Vorgehen Davids und seine persuasiven Qualitäten17 manifestieren sich als datensetzende Macht: er rettet Karls Leben, er schart Unterstützer um ihn und sorgt für eine sichere Aufnahme im Exil. Seine Kenntnisse erweisen sich aber auch im zweiten Teil der Geschichte als fruchtbar, wenngleich nicht mehr in so existenzsichernder Weise wie im ersten Teil. Immerhin kennt er aber sichere Zufluchtspunkte auf der ‹Pilgerfahrt› (KG  137,37–42; 154,59–155,13) und trägt so seinen Teil zum Gelingen der Karl‑Galie‑Minne bei. Körperliche Gewalt und damit auch entsprechende Aktionsmacht stehen David hingegen nicht offen. Beim heimlichen Ausritt Karls, bei dem er Kaiphas, den Neffen Bremunts, tötet und sich erstmals als Ritter bewährt, bemerkt David, «Vermocht ich id, ich soult zo deser zyt / Uch sere slaen up uren nacken / Ind ouch an ure kynbacken.» (KG  69,9–11) David hatte nämlich befürchtet, Karl habe seine Männer heimlich verlassen wollen. Dass David diese Drohung nur im Konjunktiv äußert, ist insofern bezeichnend, weil er regelmäßig im Bereich körperlicher Gewalt und militärischer Erwägungen scheitert. So erkennt er zwar beim Rückeroberungsfeldzug mit Galafers, dass dessen Heer im Land des befreundeten Gerfein lagert und bittet Karl um den Weiterzug. Karl lehnt dieses Ansinnen aber aus militärischen Erwägungen heraus ab, weil man so das Heer aufschrecken würde. Er verspricht aber, Gerfein zu gegebener Zeit zu entschädigen (KG 103,55–104,37). Vor der Verurteilung von Hanfrat und Hoderich greift David zur Gewalt und schlägt dem gefesselten Hoderich mit einer Stange den Arm blutig und Karl muss dazwischen springen, damit er die beiden Usurpatoren nicht tötet. Anschließend hält David eine Schmährede auf das schimpfliche Verhalten der beiden gegenüber Karl, woraufhin ein Gelächter ausbricht. Auch Karl muss lachen und beruhigt David,18 dass die beiden die gerechte Strafe, aber mit einer förmlichen Verurteilung, erhalten (KG 129,12–55).19 Erst als Hanfrat und Hoderich zum Tod durch Erhängen verurteilt sind, scheint es legitim und gerecht, dass David die beiden auf dem Weg zum Galgen noch in einen Weiher stößt, sodass sie schlammverklebt gehängt werden müssen (KG 130,12–21). Zumindest gibt es keine anderslautenden Erzählerkommentare.20 An den zahlreichen Schlachten und Kämpfen von ‹Karl und Galie› nimmt David nicht teil oder übernimmt lediglich Hilfsarbeiten, in dem er Steine zur Verteidigung der Burg herbeiholt (KG  180,13–15; 182,50–53). Die Nicht‑Teilnahme am Krieg wird einmal gar gesondert hervorgehoben. Als sich alle zum Kampf gegen Bremunt rüsten, übergeben 17

Das ist wichtig, weil die Basis instrumenteller Macht das glaubhafte Verfügen über Strafen bzw. Belohnungen ist. Es zeigt sich auch, wie dadurch langfristig das Verhalten gesteuert werden kann, weil die Versprechen zeitlich und räumlich dehnbar sind. Vgl. ebd., S. 26. David greift mit seinen Alternativen zudem auf die Modellierbarkeit von Hoffnungen und Befürchtungen zurück und passt sich in seinen Versprechen an. Vgl. ebd., S. 98–102. 18 Karls smutzlachen (KG 129,41) ist wohl nicht herablassend zu verstehen, sondern eher als ‘Schmunzeln’. Vgl. KG 138,42, wo smutzlachen dem Kontext nach auch eher ‘verschmitzt schauen’ bedeutet. 19 Überhaupt scheinen die beiden Zwischenfälle –  vor David hat nämlich bereits Belin einen Anschlag auf Hanfrat und Hoderich zu verüben versucht (KG 128,64–129,11) – eher darauf ausgerichtet zu sein, Karl zu einer zügigen Eröffnung des Verfahrens gegen die beiden Usurpatoren zu treiben. Belin fragt ihn bei seinem Anschlagsversuch daher auch «Wes beydet yr so lange dan?» (KG 129,11) 20 Insofern scheint das ‹Schlammbad› ein probates Mittel für einen Mann der Worte zu sein, um doch noch individuelle Rache für Karls erbärmlichen Zustand unter Hanfrat und Hoderich zu nehmen, wenn ihm in der Logik der Erzählung der Griff zur Waffe verwehrt bleibt. Vorher allerdings soll gezeigt werden, dass Karl als gerechter Richter Hanfrat und Hoderich einem förmlichen Prozess zuführt. Statt individueller Rache soll die Ausmerzung der beiden Verräter als Gemeinschafts- und ‹Staatsakt› inszeniert werden.

61

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

die Franzosen Karl in Davids Obhut (KG  38,20–38). Auch wenn David im Bereich körperlicher Gewalt und Kriegsführung keine Hilfe für Karl ist, so kann ihn der Erzähler angesichts seiner Leistungen im Bereich instrumenteller und datensetzender Macht zu Recht als Karlles bewere van Vranckrich (KG  67,20) bezeichnen. In der Tat schafft er durch seine kluge Politik die notwendige Voraussetzung – Sicherheit – zur Überwindung der Herrschaftskrise Karls. Der Mangel Davids an körperlicher Stärke wird durch Karls zweiten Freund Dederich kompensiert, dessen augenfällige Machtquelle seine kämpferische Überlegenheit ist, die in nahezu allen Auftritten der Figur handlungsrelevant ist. Durch seine körperliche Aktionsmacht sichert Dederich nicht nur Karls Überleben bei der Saalschlacht im Anschluss an die Pfauen‑Episode,21 sondern auch seinen militärischen Erfolg bei allen Schlachten. Der Erzähler betont Dederichs Kampfkraft und -kunst im Rahmen der Auseinandersetzungen gegen Bremunt und Kaiphas im ersten Teil (KG  40,23–32; 42,30–45; 50,54–63; 84,13–86,16) und gegen Orias im zweiten Teil des Textes (KG 180,11–24; 202,65–203,20). Aber nicht nur innerhalb von Massenschlachten erweist sich Dederich als Stütze Karls, sondern auch im Einzelkampf. Dederich kämpft im Rahmen der ‹Pilgerfahrt› im zweiten Teil des Textes an der Seite Karls gegen den ‹Ritter mit dem Speer› und dessen 12 Gesellen (KG 152,15–56). Dederich bietet Karl durch körperliche Aktionsmacht nicht nur individuellen Schutz, sondern verhilft auch allen militärischen Stationen auf dem Weg zur Restitution von Karls Herrschaft zum Erfolg, wie die durchgängige erzählerische Hervorhebung seiner Taten beweist. Selbst Dederichs Wissen um die Fluchtmöglichkeit zu Galafers ist mit kriegerischen Erwägungen verbunden, da er annimmt, Karl werde sicher aufgenommen, wenn eine Schar französischer Ritter Galafers gegen Bremunts Angriffe verteidige (KG  27,5–28). Wie diese Schar allerdings zu akquirieren ist, weiß wiederum nur David (s. o.). Da Gewaltfähigkeit – ob nun in kriegerischer oder höfisch‑sublimierter Form – unverzichtbarer Bestandteil männlicher adliger Existenz ist, kann Dederich Vorbild Karls sein und besitzt in dieser Hinsicht autoritative Macht, wie ich dies im Kontext der Autoritätsbeziehung auf Gegenseitigkeit bereits erläutert habe. Dass Dederich Karls Einstellungen und nicht nur sein Verhalten steuert, also autoritative und nicht instrumentelle Macht besitzt, zeigt sich eindrucksvoll an der Pfauen‑Episode: Dederich muss gegenüber Karl nicht mit Vor- oder Nachteilen argumentieren, sondern erzeugt eine willentliche und einwilligende Folgebereitschaft. An Karl kann man sehen, dass autoritative Macht durch Maßstabsbedürftigkeit wirkt.22 Welch hohen Stellenwert die Freundschaften nicht nur für Karl, sondern auch für das Gelingen der Geschichte haben, zeigt sich genau dann, als sich David und Dederich in Oriette von Karl trennen und gemeinsam mit Florette nach Termes vorausgehen. Karl hat sich bis zu diesem Punkt mit Hilfe der Freunde seine Herrschaft zurückerobert, seine Qualitäten als Held v. a. in den Zweikämpfen gegen Kaiphas und Bremunt unter Beweis gestellt und seine Braut heimlich entführt. Der Aufstieg Karls und der Abschluss der Minnehandlung verzögern sich aber, weil die Gruppe aus Karl, David, Dederich, Galie und Florette wegen eines Schwächeanfalles von Galie Rast in Oriette machen muss. Als Galie erkennt, dass sie sich im Land ihres tyrannischen, heidnischen Onkels Orias befinden, 21

Dederich rettet Karl aus dem Kampf und übergibt ihn der Obhut Miles (KG 23,22–34). Popitz ²1992, S. 28 f.

22 Vgl.

62



1.  Vom Küchenjungen zum französischen König

trennt sich die Gruppe, um weniger Aufsehen zu erregen. Ohne die Unterstützung seiner Freunde ist Karl nun allerdings wehrlos dem Ansinnen Orias ausgeliefert, der von der schönen Fremden, Galie, gehört hat und sie schließlich auch gegen ihren Willen gewaltsam zur Frau nehmen will. Karl wird festgesetzt und kann sich ohne Davids Ratschläge oder Dederichs Kampfkraft nicht wehren. Es ist daher symptomatisch für den hohen Stellenwert der Freundschaftsthematik in ‹Karl und Galie›, dass der rettende Einfall zur Überwindung dieser retardierenden Krise Karls und Galies von Galies neu gewonnener Freundin Orie ausgeht und umgesetzt wird. Obwohl David und Dederich als rangniedere Figuren und langjährige Diener unter Pippin parallel angelegt sind, ergänzen und komplettieren sie sich hinsichtlich ihrer Machtmittel, sodass beide entscheidenden Anteil an der Existenz- und Identitätssicherung Karls und der Rückeroberung seiner Herrschaft haben. Das Zusammenwirken der beiden Freunde verdeutlicht eine Konzentration ihrer Macht, die zur Abwehr der äußeren Bedrohungen der Ordnung benötigt wird. Popitz konstatiert, dass bei Bedrohungen der sozialen Ordnung irgendein Dritter benötigt werde, der über mehr Macht verfügt als der Kontrahent.23 Dieser Mechanismus scheint mir mit der Installation der Freunde in ‹Karl und Galie› narrativ umgesetzt. Nachdem sowohl die Herrschaftskrise überwunden als auch die Minne zu Galie nicht mehr gefährdet ist, bedarf Karl der Begleitung durch die Freunde nicht mehr –  David stirbt, Dederich wird nach seinem letzten Auftritt im Kampf gegen Orias nicht mehr erwähnt. Dies zeigt, dass die Konstruktion der Freunde als unmittelbare Begleitfiguren Karls funktional auf das Erringen und die Verstetigung der Herrschaft Karls ausgerichtet sind. Dafür spricht auch, dass David und Dederich jeweils nur mit Karl, nicht jedoch untereinander befreundet, die Freundschaften also Karl-zentriert sind.

1.2. Das Kriegerpaar Morant und Everhart: Zur temporären Kompensation von Karls mangelnder kämpferischer Potenz im Exil durch Kampfgenossenschaft Neben diesen unmittelbar auf Karl und dessen Fortkommen ausgerichteten Freundschaften Karls zu David und Dederich ist mit Morant und Everhart ein Freundespaar im Text installiert,24 das mittelbar Karls Herrschaft aufbaut und stützt. Über die Motive der Freundschaft von Morant und Everhart berichtet der Erzähler nichts. Dass die beiden aber eine Freundschaft im Sinne einer geschlossenen sozialen Beziehung unterhalten, ist unzweifelhaft: Die beiden Figuren werden von anderen Figuren des Textes wie vom Erzähler jeweils nur als Paar adressiert, was für eine Schließung nach außen wie für eine Zuordnung zueinander spricht. Als Dederich den Fluchtplan vorschlägt, weiß David sofort, dass man sich an Morant und Everhart wenden müsse. Gewänne man jene für das Vorhaben, würden sich auch andere anschließen: «Her synt komen zo desem hove Zwene ritter van groissem love, 23

24

Vgl. ebd., S. 64. Tatsächlich ist das Freundespaar im Rahmen der Mainet‑Tradition singulär. In allen anderen romanischen Versionen nimmt Morant eine wesentlich stärkere Rolle ein. Das Wiederauftauchen Morants in ‹Morant und Galie› könnte an diese Stofftradition anschließen (s. u.). Everhart findet sich in keiner anderen Fassung. Vgl. Hennings 2008, S. 132 und 133, Fn. 219.

63

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen Dat in allem Franckriche Neirgent en synt ere geliche. Van rechter manheide Gesellen synt sy beide. Der heyschet Morant, Eyn edeler ritter wael bekant, Der ander heyschet Everhart. Woulden de mit Karlle up de vart, Got soulder mee beraden dan.»  (KG 27,36–44)

Auch Bremunt erkundigt sich innerhalb der Schlacht danach, wer die beiden Kämpfer seien, die ihn und sein Heer so bedrängen: «We synt de zwene de do rydent Vur alle de anderen do so strydent? Sy doent mir harde groessen vale. Ir swert de sneiden also waele. Verwasen moessen sy beide syn. Sy haven mir de lude myn Hude dys dages me erslagen Dan alle de ich do seyn dragen Swert in eren henden.»  (KG 82,37–45)

Hebt der Erzähler im Rahmen der Kämpfe im ersten Teil von ‹Karl und Galie› bestimmte Kämpfer gesondert hervor, so berichtet er von Morant und Everhart stets als unzertrennlicher Dyade. Die beiden scheinen in der Logik des Textes ohne den jeweils anderen gar nicht zu existieren. So ist es nur folgerichtig, dass Everhart nach dem Tod Morants nicht nur im Rahmen der Klage behauptet, er wolle lieber sterben, statt ohne Morant zu leben. Everhart klagt: «Sal ich ur nu eynich syn? Des is mir we zo mode. Leve geselle gode, Hertze vrunt, we is mir gescheit? Nu en mag ich leven neit, Synt dat ich uch haen verloren. Den doit wil ich hude erkesen, Ich en vorchte uch hude hy mit mynen henden.»  (KG 83,25–32)

Tatsächlich stirbt Everhart beim Versuch, Morants Tod an Bremunt zu rächen, diesem gewissermaßen ‹hinterher›. Hieran zeigt sich auch, dass sie gegenseitig aufeinander eingestellt handeln: Sie kämpfen und sterben gemeinsam und sprechen mit einer Stimme. Morant und Everhart sichern David als erste ihre Unterstützung beim Fluchtplan zu (KG 28,44–49) und halten dann gemeinsam eine Kampfesrede gegenüber den Franzosen vor der Schlacht gegen Bremunt (KG 38,33–53). Sie werden schließlich auch nicht individuell, sondern als Freundespaar von Karl betrauert und ehrenvoll begraben (KG  86,47–87,21; 95,21–26; 95,64–96,7; 96,51–97,3). Morant und Everhart verfügen ausschließlich über körperliche Aktionsmacht. Bei der Einführung der beiden Figuren in der Figurenrede Davids wird auf ihre «rechte[] 64



1.  Vom Küchenjungen zum französischen König

manheide» (KG 27,40) und ihren daher rührenden unvergleichlichen Ruhm in ganz Frankreich abgehoben (KG 27,36–39, Zitat s. o.). In ihrer Ansprache an die französische Truppe vor dem Kampf gegen Bremunt stellen sie Mangel an verzacheit (KG 38,39), das Streben nach «ere» (KG 38,42) und «manheit» (KG 38,49) als Kriegerideale heraus. Neben diesen kurzen Sequenzen zur Vorbereitung von Flucht und Kampf präsentiert der Erzähler die Freunde ausschließlich kämpfend und betont dabei ihre substantielle Durchschlagskraft (KG 40,12–22; 43,12–18; 50,30–33; 82,23–83,2). Im ersten Kampf gegen Bremunt schlägt Everhart jenem eine tiefe Wunde durch den Halsberg, woraufhin Bremunt und mit ihm sein Heer fliehen und Galafers den vorläufigen Sieg davonträgt (KG 43,19–33). Obwohl nur Everhart in dieser Szene handlungsrelevant ist, wird er trotzdem unmittelbar vorher vom Erzähler gemeinsam mit Morant im Kampfgetümmel eingeführt (KG 42,12, zweene gesellen gude). Die unverbrüchliche Einheit zeigt sich in einer strukturell ähnlich gelagerten Szene wenig später. Nun ist es Morant, der die Schlacht durch einen Zweikampf gegen Kaiphas eröffnet, aber auch hier gerät Everhart nicht aus dem Blick, denn Morant wird mit dem Zusatz Everhartz geselle (KG 50,30) belegt. In der letzten Schlacht gegen Bremunt will Karl für den Tod Morants und Everharts Rache nehmen, woraufhin Bremunt und sein Heer abermals fliehen (KG  87,10–88,17). Diesmal kann Karl ihn aber stellen und im Zweikampf endgültig besiegen. Die beiden sind somit maßgeblich am erfolgreichen Ausgang der Kämpfe von Galafers beteiligt, die schließlich auch Karls Kämpfe um die Minne Galies sind. Die Siege gegen Bremunt und Kaiphas bilden nicht zuletzt auch die Grundlage dafür, dass Karl sich die Unterstützung Galafers sichern und mit ihm nach Frankreich weiterziehen kann. Mit dem Zweikampf gegen Bremunt kann Karl seinen Status als Held zementieren. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass die beiden Figuren genau in jener Schlacht sterben, in der Karl erstmals persönlich mitkämpft. Nach seiner Schwertleite und dem Zweikampf gegen Kaiphas, in dem er sich bereits beweisen konnte, profiliert ihn der letzte Kampf gegen Bremunt als Krieger. Angesichts des erreichten Status Karls scheinen die Kampfgenossen Morant und Everhart nicht mehr als Figuren benötigt zu werden, die Karls Kraft in dessen Abwesenheit repräsentieren. Auch wenn die Machtfülle von Morant und Everhart begrenzt und deren Wirkung nur mittelbar ist, verhelfen sie Karl doch zu ersten Siegen und ermöglichen ihm wichtige Bewährungsproben. Darüber hinaus vergegenwärtigen sie exemplarisch seine militärische Stärke an einem Punkt der Geschichte, an dem es Karl angesichts seiner Jugend selbst noch nicht möglich ist, diese auszuspielen; ihre Macht wirkt also kompensatorisch. Die beiden personifizieren Gefolgschaftstreue und fangen so Karls vorübergehenden Machtmangel auf. Die Darstellung der beiden Figuren ist dieser temporären Funktion angepasst. Im Gegensatz zu David und Dederich gewinnen sie kein individuierendes Profil, man erfährt nichts weiter über die beiden, außer dass sie herausragende Kämpfer sind. Sie sind nicht Karl direkt, sondern ausschließlich einander als Krieger zugeordnet, was die Darstellung als symmetrisches Freundespaar, das lediglich kämpfend die Geschichte vorantreibt, bedingt.

65

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

1.3. Florette und Orie: Zur Überwindung der Krise der weiblichen Identität Galies während der Latenz der Brautwerbung durch mitleidende, phasenweise gegeneinander versetzte Freundinnen Analog zu Karl wird im Text auch Galie in der Krise vorgeführt. Minnehandlung und Verheiratung sind als narrative Stationen besonders geeignet, Krisen weiblicher Identität vorzuführen, da die Frau von einer Familie in eine andere wechselt. Betrachtet man Brautwerbungserzählungen wie ‹König  Rother›, ‹Orendel›, ‹Salman  und  Morolf›, ‹Münchner› und ‹Wiener Oswald› sowie den ‹Ortnit‑/Wolfdietrich›‑Komplex, so verläuft dieser Wechsel – sieht man von schematypischen Rückentführungshandlungen ab – meist unproblematisch. Innerhalb des hier betrachteten Korpus der Heldenepen gibt es hiervon zwei auffällige Ausnahmen: ‹Karl und Galie› sowie ‹Kudrun›. In beiden Texten wird die Phase des Übergangs der Braut in die Familie des Bräutigams narrativ zerdehnt und das Gefahrenpotenzial dieses Abschnittes aktualisiert. In beiden Texten wird dieselbe Lösungsstrategie genutzt, um diese Gefahren abzudämpfen und die Identität der Braut zu sichern: Der Protagonistin werden Freundinnen zur Seite gestellt, die als Begleitfiguren mit ihr die Notlage durchlaufen. Im Falle Galies handelt es sich bei den beiden Freundinnen um Florette und Orie. Hier wiederholt sich die Verdopplung der Freundesfigur bei asymmetrischen Freundschaften – wie man bei Karls Freunden David und Dederich gesehen hat – im Bereich der weiblichen Hauptfiguren. Angesichts der klassischerweise begrenzten Handlungsoptionen weiblicher Figuren in mittelalterlichen Texten können die beiden rangniederen Figuren vorrangig Galies gefährdete Identität schützen. Sie haben damit aber nur mittelbar Einfluss auf die vollwertige Restitution von Karls Herrschaft durch die Begleitung der für ihn adäquaten Ehefrau. Anders als bei David und Dederich ist die funktionale Differenzierung der Freundinnen Galies sehr viel weniger ausgeprägt. Sie nutzen zwar verschiedene Machtquellen und Typen von Macht, aber sie entfalten damit eine ähnliche Wirkung. Dazu passt, dass die beiden Freundinnen – anders als Karls Freunde – nicht zeitgleich agieren und durch das Ineinandergreifen ihrer Handlungen den Erfolg der Hauptfiguren sichern, sondern gewissermaßen phasenversetzt Galie und dadurch die Minnehandlung unterstützen. Hierdurch sind die beiden Freundschaften gegeneinander noch stärker isoliert: Florette und Orie unterhalten keine weitere Verbindung zueinander, die Dyaden verbinden sich nicht zu einer Freundschaftstriade. Durch diese Schließung der Beziehung nach außen und untereinander werden die Freundschaften funktional klar auf Galie hin orientiert. Florette wird mit der Ankunft Karls in Toledo unmittelbar nach der Vorstellung Galies als handelnde Figur und damit zu Beginn der Minnehandlung eingeführt.25 Sie weiß als Einzige von Galies Minnebegehren und Konversionswünschen, trägt gegenüber Karl Galies Minne an ihrer statt vor, begleitet sie auf der entbehrungsreichen Flucht und trennt sich gemeinsam mit David und Dederich von Galie und Karl in Oriette. Hier nun übernimmt Orie die Freundesrolle und verhilft Karl und Galie zur Flucht vor dem ungebührlichen Ansinnen ihres Bruders Orias nach Termes.26 Dort und auch in Paris hat 25

Der Stellenwert Florettes als Freundin in ‹Karl  und  Galie› zeigt sich auch vor ihrem stoffgeschichtlichen Hintergrund. Eine vergleichbare Figur, Flore, findet sich innerhalb der Mainet‑Tradition allein in der Chanson de geste ‹Mainet›. 26 Die Orias‑Episode enthält keine andere Fassung der Mainet‑Sage. Vgl. Hennings 2006, S. 175. Umso interessanter ist es, dass dieser Handlungsteil mit einer weiteren Freundin unterfüttert wird.

66



1.  Vom Küchenjungen zum französischen König

zwar Florette noch einige Auftritte im Rahmen von Spielen und der Taufe, gerät aber nicht mehr als Freundin in den Blick. In Termes und Paris erweist vielmehr Galie gegenüber Orie die Reziprozität ihrer Freundschaft und verhilft ihr im Rahmen von (gemessen an höfischen Standards) merkwürdigen Spielen zu einem Ehemann, nämlich Godin. Mit der Übergabe von Oriette als Lehen an Godin endet ‹Karl und Galie›. Auf eine ähnliche Ausgleichshandlung der Freundschaftsdienste von Florette muss diese bis zum Ende von ‹Morant und Galie› ‹warten›. Florette wird in der Fortsetzungsgeschichte gewissermaßen als Freundin reaktiviert, durchläuft mit ihr die Erniedrigungen des Ehebruchsprozesses und erhält schließlich Morant, den verleumdeten Freund Karls in diesem Text, zum Mann. Betrachtet man ‹Karl  und  Galie›, aber auch ‹Morant  und  Galie› hinsichtlich der narrativen Präsenz der Freundinnen Galies, so zeigt sich, dass Galie stets gemeinsam mit einer der beiden Figuren die Handlung durchläuft. Die bereits grob dargelegte Reziprozität der Freundschaftsdienste illustriert ein gegenseitig aufeinander eingestelltes Handeln und die Anerkennung ihrer Zugehörigkeit auf der histoire‑Ebene. Dies beruht zusätzlich auf einer subjektiv gefühlten Zusammengehörigkeit der Figuren, die sich an vielen Einzelszenen zeigt. Beide Freundschaften werden durch traditionale Motive flankiert – Florette ist Galies Erzieherin,27 Orie mit Galie eng verwandt –, sie treten aber ganz in den Hintergrund. Das wird im Text v. a. bei der Einführung Ories deutlich. Orie versichert Galie in ihrem ersten Vier‑Augen‑Gespräch in Oriette, ohne sie zu kennen und einen Vorteil darin zu sehen, Schutz (KG 165,20–25), woraufhin sich Galie vorstellt und erst jetzt ihrerseits verspricht, dass ihr ihre Hilfe vergolten werde (KG  166,12–17). Als Orie Galie als ihre nichte (KG 166,41) identifiziert, sie küsst, umarmt und mit vertrauten Anreden begrüßt (KG 166,41–57; 166,65–167,3), versichert sie ihr abermals, mit Rat und Tat beizustehen (KG 166,58–61). Daran, dass Orie Beistand zusichert, noch bevor sie weiß, dass es sich bei Galie um eine nahe Verwandte handelt, zeigt sich, dass die Freundschaft der beiden Frauen von ihrer verwandtschaftlichen Verbindung gänzlich unabhängig ist. Die vom Erzähler ausschließlich herangezogene Bedingung der Möglichkeit der Frauenfreundschaften ist die affektive Zuneigung und die daraus resultierende Solidarität der Frauen untereinander. Das kann man einerseits an vertrauten Anreden und Gesten ablesen. Beispielhaft sei hier das Gespräch zwischen Galie und Florette herangezogen, in dem Galie ihre Minne zu Karl und ihren Konversionswillen gesteht und Florette um Rat bittet: Galie spricht Florette als «leve junffrawe» (KG  70,41; 70,52), «hertze gude» (KG  70,45), «hertze mynne» (KG  70,59), «leve mynne» (KG  71,43) oder auch «[g]ude mynne» (KG 72,8) an. Florette nutzt vergleichbare Anreden für Galie (KG 71,9; 72,20). An späterer Stelle, bevor sie Karls Minnegeständnis unterhalb von Galies Fenster mit anhören, beschreibt der Erzähler, dass die beiden ze samen under eyme cleyde (KG 74,40) liegen. Galie küsst und umarmt Florette für den gespendeten Trost (KG  133,26–29), als Galie befürchtet, Karl werde nicht nach Toldeo zurückkehren und sie holen. Auch Galie und Orie pflegen einen ähnlich affektiv aufgeladenen Umgang miteinander. Sie küssen und umarmen einander (z. B. KG 166,48 f.) und nutzen vertraute Anreden (z. B. KG 166,44 f.). Andererseits wird die Zuneigung der Freundinnen zueinander an den verschiedenen Klageszenen, in denen der Schmerz der jeweils anderen nachvollzogen und mitgelitten wird, illustriert. Florettes Beistand und Mitgefühl betont der Erzähler beispielsweise, als Galie 27

Florette wird in ‹Karl und Galie› als Galien meisterinne (KG 35,12) eingeführt. Auch in ‹Morant und Galie› wird an Florette zuerst als junfrouwe inde meisterinne (MG v. 387) erinnert.

67

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

vom ‹Strahl der Minne› getroffen wird (KG 36,18 f.) und nach dem lyrischen Einsprengsel des Wechsels bzw. Minnedialogliedes mit Karl in Ohnmacht fällt (KG 141,65–142,2). Auch während Galies Schwächeanfall auf der als ‹Pilgerreise› getarnten Flucht weicht Florette nicht von ihrer Seite und zeigt offen ihren Kummer (KG 154,9 f.): Florette was yr [d. i. Galie] ummer by. Sy hoeff ind lachte sy, Sy allet was sy mochte Dat yr zo gode dochte. Florette stalte sulchen rouwen Umb Galien ir junffrawen, Dat dat waz zo offenbaer.  (KG 157,41–47)

Galie wiederum weint bitterlich um Orie, die während der Sperber‑Episode von Orias mit einem Messer am Arm verletzt wird (KG 189,32–34). Beide Freundinnen Galies begeben sich aus dieser affektiven Zuneigung heraus mit Galie in eine ellende‑Situation mit (aus Figurenperspektive) ungewissem Ausgang.28 Florette bezieht ihre Macht aus der Vertrautheit zu Galie bzw. dem in sie gesetzten Vertrauen durch Galie. Worauf sich dies gründet, lässt der Erzähler allerdings im Dunkeln. So nutzt Galie diese besondere Nähe zu Florette gewissermaßen als Begründung, warum sie nur ihr ihre Minne zu Karl gesteht: «Du weres mir ee getruwe / Vur allen mynen junf‑ frawen gemeit / De neit en wysten myne heymlicheit.» (KG  70,42–44) Ihre Sehnsucht nach Karl, nachdem Galafers aus Frankreich nach Toledo zurückgekehrt ist, bespricht Galie abermals nur mit Florette und sucht bei ihr Rat (KG  132,45–133,29). Nach dem Minneduett mit Karl weiht Galie Florette [v]ur al den anderen junffrawen (KG  142,14) ein. Dieses Vertrauen Galies ermöglicht es Florette, als Ratgeberin und Trostspenderin v. a. in Belangen der Minne in Erscheinung zu treten. So rät Florette Galie, sich nicht durch öffentlichen Lobpreis Karls in ihrem Minnebegehren zu verraten (KG  80,41–49). Sie versichert Galie Karls Treue, als jene fürchtet, er könne nicht zu ihr zurückkehren (KG  133,13–25). Florette beruhigt Galie, als sie sich von ihrer Verwandten Bargone bei der nächtlichen Flucht mit Karl trennen muss (KG 144,61–145,49). Hieran zeigt sich, dass im Text Freundschaft ein höherer Wert als Verwandtschaft zugeschrieben wird, denn auf Bargone kann Galie – wenngleich schweren Herzens – verzichten, auf Florette nicht. Es wird betont, dass Florette Galie durch die gemeinsamen Gespräche trost (KG 72,59; 133,29) spendet. Außerdem ist Florette aufgrund der besonderen Nähe zu Galie bei den wesentlichen Minnegesprächen zwischen Karl und Galie nicht nur dabei (KG 75,35–78,13; 142,29–144,8), Florette gesteht beim ersten Minnegespräch auch für Galie deren Minne zu Karl (KG 76,4–25). Galie kann dieses Geständnis nur noch bestätigen und fügt lediglich hinzu, dass sie konvertieren wollen (KG 76,45–52). Das Vertrauen Galies gibt Florette aber darüber hinaus soziale Aktionsmacht. Diese bleibt allerdings an den entscheidenden Stellen im potentialis, was der Definition von Weber und Popitz durchaus entspricht, wonach Macht zunächst nur in der Chance besteht, seinen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen. So zeigt sich bei Florettes erst ablehnender Haltung gegenüber Galies Minne zu Karl und ihren Konversions28

68

Was Galie (und mit ihr auch Florette) für Karl hinter sich lässt, schildert der Erzähler explizit (KG 145,51–146,2). Sie verzichtet auf die Alleinherrschaft über Spanien, Reichtum, ihren wunderschönen Saal und all ihr Gefolge.



1.  Vom Küchenjungen zum französischen König

wünschen, dass sie durch Distanzierung von Galie die Möglichkeit hat, über sie Macht auszuüben und sie in ihrer Entscheidung zu isolieren: «Galya, hertze mynne, Mir is we, dat ir der synne All suver gaer syt verwoit. We mochte das duncken goet, Dat ir mynnent eynen cristen man De rechten ewen nye en gewan. Myn soesse junffrawe, lasset dese zale. Ir en doet en truwen neit waele, Begunt dyr keren ure synne An eyns cristen mans mynne.»  (KG 71,9–18)29

Diese Macht wird jedoch stets positiv gewendet und so dient die Freundschaft der Bildung eines Schutzraumes. Galie kann nämlich Florette vom Christentum überzeugen (KG 71,29–72,55), übt ihrerseits also autoritative Macht über Florette aus. Die an vielen Beispielen illustrierte Begründung für die Überlegenheit des Christentums verdeutlicht, dass die von Autoritätsträgern gesetzten Wertmaßstäbe mit höherer Wahrscheinlichkeit übernommen werden, wenn sie selbstevident und fraglos erscheinen.30 Der lange Dialog zwischen Galie und Florette thematisiert damit nicht nur die Freundschaft der beiden, sondern leistet zugleich selbst Beziehungsarbeit, indem Macht ausgehandelt wird. Nach Florettes Kritik an Galies Liebe zu Karl wegen dessen Glauben und Galies längeren Erläuterungen zum Christentum schließt sie appellativ. Galie verleiht damit ihrem Wunsch nach Übereinstimmung im Denken und Glauben mit Florette Ausdruck: «Florette leve, en sy neit styve, Gude mynne, bedencke dich Ind do du williclich als ich. Bekere dich an den waren got Des gewalt ind gebot Over all ertrich geyt.»  (KG 72,7–12)

Florette wird gleichsam als Kommunikations- bzw. Reflexionsraum für die komplexen Themen Minne und Religion genutzt. Noch weiter zugespitzt könnte man von Florette als einer Galies Einstellungen spiegelnden Figur ohne individuierende Züge sprechen. Über Herkunft, Stand und Alter Florettes erhält man nämlich keinerlei Informationen. Im Sinne dieser die Einstellungen Galies verstärkenden Funktion Florettes versichert sie: «Junffrawe wael bekant, Nu weset vro ind blide. Ich wyl zworen an desem gezyde Mit uch, dat wysset sunder waen, Alle de sachen ane gaen De uch leve synt ind goet.»  (KG 72,47–52)

29

Diese Macht illustriert Galie mit einem Vergleich in ihrer nachfolgenden Figurenrede: «Wer greiffet in eyn bare schwert / Hey ist wael wert, dat he sich snyde.» (KG 71,22 f.) 30 Vgl. Popitz ²1992, S. 122. Ambivalenzen und Unbestimmtheiten würden die Einstellungsübernahme hingegen erschweren.

69

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

Florette kann mit Blick auf den Fortgang der Minnehandlung mit ihrer sozialen Aktionsmacht im Sinne der Änderung der Daseinsbedingungen Galies wirken, besitzt also datensetzende Macht. Florette und Galie bilden eine Leidensgemeinschaft, wobei die Freundin nach der Anbahnung der Minne v. a. Galies neu gewonnene religiöse Überzeugung stützt. Hieran knüpft dann auch ‹Morant  und  Galie› an, wenn im Gerichtsprozess nicht nur Galie, sondern mit ihr auch Florette und weitere Jungfrauen gefangen genommen (MG  v. 3357–3369) und barfuß sowie schlecht gekleidet vorgeführt werden (MG v. 3704–3730). Während des Prozesses wird Florette ausschließlich betend dargestellt (MG v. 3401–3462; 4211–4232), wobei sie zunächst ihre damalige Entscheidung zur Konversion im Angesicht des Todes überdenkt, dann aber umso bestärkter um den Beistand der Gottesmutter bittet.31 Wenngleich ‹Morant und Galie› die beiden Freundinnen nicht mehr durchgängig in unmittelbarem Umgang miteinander zeigt,32 so aktualisiert der Text doch auf diese Weise ihre Freundschaftsdienste und ‹gleicht› sie in der Hochzeit mit Morant ‹aus›.33 Die Geschichtlichkeit und Dauer der Freundschaft wird so vergegenwärtigt. Karl initiiert zwar die Hochzeit, da sich Morant auch als sein Freund erwiesen hat, die Begründung für die Hochzeit zielt aber auf Reziprozität sowohl gegenüber Morant als auch Florette: Karl will eren rouwen / gesenften inde gesůzen / inde mit lieve bůzen / ir groze beswere. (MG v. 5232–5235) Karl ernennt Morant zum Marschall über all seine Länder und zum Herrscher neben ihm,34 Florette erhält Burgen, Städte und Ländereien, die ihr untertan sein sollen (MG v. 5390–5406). Galie, die nicht in gleichem Maße über die Herrschaftsgewalt verfügt wie Karl, aber über Reichtümer entscheiden kann, gibt Florette Gold und Silber dazu (MG v. 5513–5518). Florette wird durch die Ehe mit Morant wohl nobilitiert. Man erhält in ‹Karl  und  Galie› zwar keine Informationen über ihre Herkunft, aber in jedem Falle erfährt sie durch die Ehe eine starke Statusaufwertung. Orie bezieht ihre Macht, die Galie v. a. in der Oriette‑Episode aus einer misslichen Lage verhilft, aus ihrer Figurenanlage als liebreizende, tugendhafte Figur, die ihr soziales Kapital verschafft. Noch vor dem ersten Zusammentreffen mit Galie wird Orie zunächst recht konventionell als hoesch […] ind goet / Gezogen ind waelgemoet / […] edel ind schone, / […] / […] versunnen ind wys (KG  155,49–53) eingeführt. Ungewöhnlich ist allerdings die mehrfache Betonung ihrer besonders machtvollen Stellung in Oriette, die ihr im Vergleich zur prekären Gewaltherrschaft ihres Bruders Orias zukommt, der als [z]ornych, molich ind boese (KG 156,7) vorgestellt wird.35 Während Orias nach Auskunft des Erzählers aufgrund seiner Hartherzigkeit Probleme mit der Folgebereitschaft seiner Dienstmannen hat (KG 156,12–18), ist Orie aufgrund ihrer Liebenswürdigkeit die informelle Herrscherin in Oriette: Wat sy geloffde, yd wart vollenbracht, / So sy yd dat beste mit yrre macht / Ummer volbryngen mochte. (KG  155,59–61) Nicht nur gegenüber der 31

Neben Galie wird auch Florette als vorbildliche Christin gezeigt, die selbst in Bedrängnis noch am neuen Glauben festhält. 32 Florette ist allerdings dabei, als Galie und Karl Morant ein Stück seines Weges in seine Heimat begleiten, was im Text für die ‹Wiedereinführung› der Figur als junfrouwe inde meisterinne (MG v. 387) Galies genutzt wird. 33 Wie selbstverständlich ist Florette wieder als Begleiterin in der Not anwesend. 34 Der marschalc (MG v. 5395) ist eine Amtsbezeichnung der fränkischen Verwaltung für den höchsten Beamten neben dem König. 35 Die Grausamkeit Orias’ wird auch an späterer Stelle offenbar, als er ohne weitere Begründung eine alte Frau von einer Brücke stößt und darüber lacht, als sie ertrinkt (KG 164,53–165,1). Der Erzähler versichert hier, dass Orias solche Untaten oft verübe.

70



1.  Vom Küchenjungen zum französischen König

Gefolgschaft kann sie auf die Durchsetzung ihres Willens zählen –  De ritter duden yr gebot / Bas dan Orias yrs heren (KG 156,38 f.) – auch gegenüber Orias verfügt sie aufgrund seiner [b]roderliche[n] mynne (KG 156,52)36 über diese besondere Macht: Want wes sy woulde begynnen Des halp hey [d. i. Orias] yr mit synnen. Wes en zo mencher stunde Neman gebeden en kunde Des bade sy en alleyne waele. (KG 156,61–65)

In der Oriette‑Episode ist es dann folgerichtig ausschließlich Orie, die Galie helfend zur Seite steht. Galie und Orie treffen erstmals bei einem Mahl zusammen, in dessen Anschluss Orie Galie auf Druck ihres Bruders standesgemäß einkleiden soll (KG  160,48–161,1). Orie versteht sofort, dass Galie ihr Pilgergewand, das sie für die Flucht von Galafers angelegt hatte, wegen ihres christlichen Glaubens gern trägt (KG 161,5–10), muss sich hier aber noch dem ernstlychen (KG 161,24) Willen Orias’ beugen. In der folgenden, ungleich ehrenrührigeren Szene für Galie schreitet Orie aber in dem Moment ein (KG 163,35–40), als Orias Galies Minne mit Gewalt nehmen will, wogegen diese sich heftig wehrt. Als sich abzeichnet, dass Orias sich durch nichts von seiner Untat abbringen lassen will, ersinnt Orie eine List (KG 163,60–164,29). Sie schickt Orias auf die Jagd und kann so ungestört mit Galie sprechen. Ihre Begründung fußt auf ihrer autoritativen Macht: Orias wolle, da die eigene Mutter auch eine Frau sei, Galie nicht entehren; außerdem könne Orie als Frau in einem vertraulichen Gespräch mit Galie mehr ausrichten als 40 Männer. In dem folgenden Zwiegespräch zeigt sich abermals Ories autoritative Macht. Sie kann Galie dazu bringen, ihr ihre Identität zu offenbaren, nachdem Orie Galies «groesse schonheit» (KG  165,10) und ihren «groesse[n] adel» (KG  165,11) anerkannt und ihr bedingungslosen Schutz zugesichert hat: «Durch den wyllen en verberget neit Mir ur synne dar yr zo seyt, Sal ich uch helpen hynne, Ind erveret uch neit, gude mynne. Ich geloven off myne sicherheit De ich durch en geynen eyt Neit en woulde brechen, So wan is soulde vermechen. Ouch soulde ich uch node melde, Wat ich des mochte intgelden.»  (KG 165,18–27)

Galies autoritative Macht, die sich in Termes und Paris an Orie zeigen wird, wird hier bereits angedeutet: Galie stellt sich vor und verspricht ihrerseits, Ories Hilfe vergelten zu wollen (KG  166,12–17). Nachdem sich die beiden Frauen als Verwandte identifiziert haben (KG 166,41), bekräftigt der Erzähler nochmals Ories Willen zum Beistand in Form von Rat und Tat:

36

Der Erzähler illustriert Orias’ Zuneigung zu seiner Schwester in einer Art Übereignungsformel: Zo yrme leyde was eme leyde / Ir leyff syn lyff mit stedicheyde, / Er ruwe was syn ruwe. / Hey heilt yr broderliche truwe. / Er vroude was de vroude syn. (KG 156,55–59)

71

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen Sy was erer van hertzen vro, Dat sy wael geleys also, Wye gerne allet dede Mit wercken ind mit gereide, So wes sy geirde ind wat sy woulde Ind ummer me begynnen soulde. (KG 166,56–61)

Schließlich ist Orie auch ganz unvermittelt bereit, den christlichen Glauben anzunehmen (KG 167,5–8). Diese Absicht wird an späterer Stelle wiederholt und mit Galies Zugehörigkeit zum Christentum begründet, deren autoritative Macht hierin aufscheint: «[…] Wan ich have mich aldurch Des bedacht in myme synne, Dat ich cristenliche mynne Mit uch wyl halden gerne. Dys en sprechen ich neit zo scherne, Want ich kennen uch so wys, Ducht uch cristenheit unprys, Ir souldes node walden. Durch dat wyl ich mich halden An den geloven den ir halt.» (KG 169,30–39)

Hier, wie schon bei Florettes Bekehrung, zeigt sich eindrücklich, wie autoritative Macht dazu führt, dass Wertmaßstäbe der Autoritätsperson, hier Galies Wertmaßstäbe, übernommen werden und zu einem radikalen Einstellungswechsel führen können. Das ist umso erstaunlicher, als man sich bei Autoritätsbeziehungen eher den Erfolgreichen anschließt, um an deren Erfolg zu partizipieren.37 Galie befindet sich aber in prekären äußeren Umständen. Dass sie ihre beiden Freundinnen dennoch für das Christentum gewinnen kann, spricht dafür, dass ihr Prestige ungebrochen ist und durch die Konversionen bestätigt wird. Ories autoritative Macht wirkt in der Folge im Sinne der Änderung von Galies Umständen, also datensetzend: Nachdem Galie im weiteren Verlauf des Gesprächs von Termes berichtet hat, organisiert Orie die Flucht unter dem Vorwand, ihr Bruder solle von der Schande, sich mit einer Christin zu verbinden, geschützt werden (KG 168,11–58). Der Erzähler hebt explizit hervor, dass der Plan nur aufgrund von Ories autoritativer Macht gelingt: Do sy dyt woulde, yd moeste wesen, Want yr hordet mich zo voren lesen, Dat sy ys geramte hadde also, Dat alle de ritter waren vor, Wat sy durch sy mochten gedoen. Dar vur en woulden sy neit geroen. Durch dat wart ir an der nacht Alle ir wylle vollenbracht, We dat sy en woulde haven. (KG 168,59–169,1)

37 Vgl.

72

Popitz ²1992, S. 108–112.



1.  Vom Küchenjungen zum französischen König

Auf dem Weg nach Termes entschließt sich Orie, Galie und Karl zu begleiten. Damit kappt Orie – so die ausschließliche Argumentation des Erzählers (KG 169,24–29) – aus Zuneigung zu Galie alle Verbindungen zu ihrem bisherigen Leben: sie distanziert sich von ihrem Bruder, sie verlässt ihre Heimat Oriette und sie hat gedanklich bereits ihre religiöse Konversion vollzogen. Mit dem Ortswechsel von Oriette nach Termes, vom heidnischem zum christlichen Land und mit dem Übergang von der beschwerlichen und riskanten Flucht Karls und Galies zur sicheren Zwischeneinkehr bei Gerfein ändert sich auch die Ratsituation zwischen den beiden Frauen: War es bisher Orie, die Galie mit Rat und Tat zur Seite stand, so ist es nun Galie, die den aktiven Part der Ratgeberin übernimmt. Diese neue Rolle wird Galie explizit im Rahmen von drei recht eigenwilligen Spielen zugeschrieben, die primär der Anbahnung der Eheminne zwischen Orie und Godin dienen.38 Als Orie wegen des Kussraubs durch Godin im ersten Spiel –  einer Art Huckepack  – üble Nachrede fürchtet, wendet sie sich mit ihrem Kummer heimlich und ausschließlich an Galie. Sie äußert die vage Vermutung, dass Minne der Grund für den Vorfall sein könnte, und rät von weiteren Spielen ab (KG 174,38–50). Orie will den Rat nach Auskunft des Erzählers beherzigen (KG  174,51–57) und übergeht ihn beim zweiten Spiel –  einem nicht weiter erläuterten Graswerf‑Spiel  –, im Rahmen dessen Galie den Rat wiederholt (KG  184,56–62), nur deswegen, weil sich Godin zwischenzeitlich als großer Krieger im Kampfintermezzo gegen Orias und damit in der Logik der Narration seine Geeignetheit als Minnepartner erwiesen hat. Beim dritten Spiel –  einer Scherzkommunikation  – wechselt Galie schließlich den Modus freundschaftlicher Hilfe und fädelt geschickt das öffentliche Bekenntnis der beiden Liebenden zueinander ein. Das Spiel mit verschiedenen Wissensbeständen ermöglicht es, das Vertrauen der beiden Frauen zueinander auf die Probe zu stellen und es mehrfach durch den Erzähler wie die Figuren zu bekräftigen. Galie weiht die anwesenden Frauen über das bevorstehende Schauspiel ein und versichert, es sei sunder valschem gamen (KG 211,21). Der Erzähler beteuert, dass Ories Befürchtungen, Galie handle durch has (KG  213,10), völlig unbegründet seien (KG  213,9–14). Galie bekräftigt diese Rückversicherung (KG 213,22 f.). Nachdem sich die beiden Figuren ihres freundschaftlichen Verhältnisses rückversichert haben, argumentiert Galie für eine Ehe mit Godin.39 Orie illustriert ihre Opferbereitschaft für Galie, indem sie die Ereignisse in Oriette ins Gedächtnis ruft (KG 213,65–214,26) und erläutert, dass es Galies Pflicht sei, ihr «mit truwen» (KG 214,24) beizustehen. Orie stimmt den Plänen Galies zu, wenngleich durch die Erinnerung an die Oriette‑Episode vielmehr 38

Die Spiele dienen aber nicht nur der Installation eines weiteren Minnepaares im Text, sondern festigen auch die Freundschaft zwischen Galie und Orie und sind darüber hinaus ein Baustein in einer ludisch geprägten Poetologie von ‹Karl und Galie›. Vgl. hierfür Federow 2016a. Beim ersten Spiel handelt es sich wohl um eine Art Huckepack, allerdings mit der unterhaltsamen Wendung, dass die Frau den Mann trägt und Godin Orie hierbei einen Kuss stiehlt (KG 172,47–174,57). Beim zweiten Spiel (KG 183,46–186,4) reißen die Spieler zunächst Gras aus, schließlich kommt es nach Regeln, die im Text nicht weiter beleuchtet werden, dahin, dass Godin Gras in den Mund geworfen werden muss. Orie wirft aber zusätzlich noch Dreck in Godins Mund, den dieser auf die versammelten Damen, insbesondere aber auf Orie, spuckt. Im dritten Spiel (KG 210,61–214,30) weiht Galie die anwesenden Damen ein, sie wolle Godin und Orie ‹hinters Licht führen› und trotzt den beiden mittels bloßstellender Anspielungen ein öffentliches Minnegeständnis ab, in dessen Folge ihre Ehe gestiftet wird. 39 Galie sagt, «Hey is hoessch ind guet, / Kune ind waelgemoet, / Van vursten wael geboren» (KG 213,31–33) und damit ein adäquater Mann. Zudem drohen Gerüchte, wenn man zu lange ledig bliebe (KG 213,35–38). Orie ist weiterhin weder verwandtschaftlich noch herrschaftlich abgesichert, sodass ihre Lage mit einem eventuellen Verlust Galies prekär wäre (KG 213,41–49).

73

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

auf die Reziprozität der Freundschaft abgestellt wird. Die Taktik, den bisherigen Einsatz Ories wieder ins Gedächtnis zu rufen, wendet Galie sogleich auch gegenüber Karl an (KG 214,35–61), den sie um seine Zustimmung zu ihrem Vorhaben bittet. Die Gespräche mit Karl und Gerfein sowie die Eheschließung sind dann reine Formsache, der Erzähler expliziert anschließend nur noch die Übergabe von Oriette an Godin und damit auch an Orie (KG 215,68–216,4). Es wird jeder Punkt in der Hilfe Ories durch Galies Freundschaftsdienste im Rahmen der Spiele gespiegelt: Hatte Orie Galie in Oriette vor Schande durch Orias beschützt, so zielen die Ratschläge Galies während der ersten beiden Spiele und im Nachgang des dritten Spiels auch darauf ab, ihre Ehre zu erhalten. Beendete Orie durch die Fluchthilfe die ellende‑Situation Galies und ermöglicht so erst die Eheschließung mit Karl, so leistet Galies Vermittlungsarbeit im Anschluss an das dritte Spiel in reziproker Weise diese Integrationsarbeit in familiäre Bande. So wie in der Folge der Hilfe von Orie Galie ihren herrschaftlichen Status zurückgewann, so gewinnt Orie durch die Heirat mit Godin ihr Heimatland Oriette zurück. Orie erschöpft sich zwar durch die Installation ihrer eigenen Minnegeschichte im Rahmen der Spiele nicht ausschließlich in ihrer Rolle als Freundin Galies wie etwa Florette. Beide übernehmen aber gleichermaßen wichtige Funktionen für die Identitätssicherung Galies. Indem sie beide mit ihr riskante Fluchtphasen durchschreiten, halten sie ihren Konversionswillen wie ihre hochadlige Abstammung auch im ellende vergewissernd präsent. Beide Freundschaften konsolidieren darüber hinaus mittelbar Karls Herrschaft, denn erst die über das Vehikel der Freundschaft gestiftete Ehe Orie‑Godin vermag das Vasallitätsverhältnis von Karl und Godin durch verwandtschaftliche Bande weiter zu unterfüttern. Karl hat so an den Rändern seines Herrschaftsgebietes einen sicheren Bündnispartner gewonnen und einen der führenden Männer des Landes, Gerfein als Vater Godins, noch enger an sich gebunden. Das ehemals heidnische Gebiet Oriette ist nun in christlicher Hand. Ganz analog verhält es sich mit der Ehe zwischen Florette und Morant, die am Ende von ‹Morant und Galie› installiert wird. Hier existieren keinerlei verwandtschaftliche Beziehungen; Florette und Morant werden allein aufgrund freundschaftlicher triuwe zum bedingungslos verlässlichen Neben‑Herrscherpaar erhoben (MG v. 5513–5518).40

1.4. Morant und Galie ane valsche minne: Zur Problematisierung von heterosozialer Freundschaft als Vehikel der Herrschaftsprobe Karls In ‹Morant und Galie› finden sich neben der Fortsetzung der Freundschaft zwischen Galie und Florette noch zwei weitere Freundschaftskonstellationen, die einander bedingen und die aufgrund ihrer einzigartigen Anlagen aus dem untersuchten Korpus herausstechen: Zum einen liegt mit Morant und Galie die einzige heterosoziale Freundschaftsformation vor, zum anderen ist Freundschaft hier nicht ‹nur› ein Mechanismus zur Überwindung krisenhafter Situationen. Die Freundschaft zwischen Morant und Galie ist Auslöser 40

74

Dass es neben dieser Heirat auch zur Verheiratung von Morants Bürgen Volquin und Elinant mit Marmorine und Blancandine, weiteren Jungfrauen Galies, kommt, schmälert diese nicht, da im Text deutlich hinsichtlich der Gaben abgestuft wird (MG  v. 5356–5378). Während Volquin und Elinant Land erhalten, wird Morant zum Nebenherrscher; während Marmorine und Blancandine einen Mann erhalten, wird Florette neben einem höherrangigen Mann zudem mit Sonderrechten und Land ausgestattet.



1.  Vom Küchenjungen zum französischen König

einer Krise, die wiederum mittels Freundschaft bearbeitet und überwunden wird. ‹Morant und Galie› berichtet, wie die titelgebenden Figuren durch das Neid erfüllte Trio Ruhart, Fukart und Hertwich eines außerehelichen Verhältnisses bezichtigt werden.41 Karl, der zwar im Grundsatz als vorbildlich christlicher Herrscher angelegt ist, aber angesichts der Intrige als schwacher König präsentiert wird, klagt die beiden an. Erst ein gottesgerichtlicher Zweikampf kann die Aufrichtigkeit Morants sowohl gegenüber Galie als auch gegenüber Karl über jeden Zweifel erheben. Durch diese Probe wird sowohl Freundschaft – nämlich diejenige zwischen Morant und Karl – als auch Herrschaft gestärkt. Karl überträgt Morant weitreichende herrschaftliche Befugnisse, dessen er sich im Rahmen des Prozesses auch als würdig erwiesen hat. Die Freundschaft zwischen Morant und Galie wird, da sie funktional v. a. für die Illustration der Herrschaftskrise Karls benötigt wird, hinsichtlich der Motive ihrer Zugehörigkeit kaum unterfüttert, die Beziehung insgesamt nur sehr skizzenhaft narrativ ausgestaltet. Man erkennt eine intensive triuwe‑Bindung Morants an sowohl Karl als auch Galie, überhaupt wird triuwe als hervorstechende Eigenschaft Morants immer wieder betont. Morant wird in krassem Gegensatz zum Verräter Ruhart als ein Ritter eingeführt, der ie mit trouwen Karle inde siner vrouwen mit eren ane schande heime inde enbůzen lande  (MG v. 201–204)

diente. Beim Abschied von Karl und Galie bei St. Dionis betet Morant, dass er den beiden zů helpen inde zů troste (MG v. 426) gereiche. Morant bittet beim Zusammentreffen mit dem Verrätertrio, die sich als Boten Karls ausgeben, sie mögen sowohl Karl als auch Galie seiner vruntschaf inde lieve / mit minnen ane brieve (MG v. 551 f.) versichern.42 An den wenigen Stellen, in denen Morant und Galie miteinander im Vorfeld des Prozesses interagieren, wird die Beziehung als affektiv geladen beschrieben. Galie begleitet Morant, der nach vielen Jahren an der Seite Karls seine Heimat besuchen möchte, bis nach St. Dionis an dessen Seite reitend (MG v. 376–379), umarmt (MG v. 353) und beschenkt ihn zum Abschied mit ihrem eigenen Maultier sowie reichlich Gold (MG  v. 453–467). Sie bittet Morant um rasche Rückkehr und stellt ihm dafür weitere Kostbarkeiten in Aussicht (Silber, Gold, Seide und Kleidung; MG v. 396–401), aber er entgegnet, er wolle ihretwegen und nicht der Gaben wegen zurückkehren: «ich ne wille schiere / komen dare ir gebiet, / vrouwe, inde umbe have niet.» (MG v. 404–406) Damit werden zweckrationale Motive für die Beziehung von Morant und Galie explizit zurückgewiesen. Der Erzähler berichtet ansonsten nur sehr allgemein von der vroude inde blitschaf (MG  v. 380), die die beiden durch ihre Gespräche hatten. Die Darstellung der subjektiv gefühlten Zugehörigkeit von Morant und Galie erinnert dabei tendenziell an Minnepaare. Das lässt sich einerseits damit begründen, dass es an entsprechend literarisch vorgeprägten Darstellungsmodi für die außergewöhnliche Konstellation einer heterosozialen Freundschaft mangelte. Andererseits lässt sich so glaubhaft der Vorwurf eines außerehelichen Verhältnisses motivieren. Auffälligstes und damit auch kompromittierendes Indiz ist die überaus freundliche Begrüßung Morants durch die noch nichts ahnende Galie am Hof 41

Grund für die Verleumdung ist avaritia. Sie hassen Morant aufgrund seiner Vorzugsstellung am Hof Karls (MG v. 156–161). 42 Vgl. die kontrastierende Einführung Morants gegenüber dem Verräter Ruhart bei Krolla 2012, S. 56–58.

75

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

Karls, unmittelbar bevor die Anschuldigungen erstmals öffentlich vorgetragen werden: Sie setzt Morant neben sich und berührt ihn liebevoll (MG v. 1466–1477; 1500–1541): mit ere wizer hant si streich Morandes houvet inde har, an sine wangen, dat is war, van grozer lieve si’ne slůch, ane zoren he id ouch verdrůch, der here van Riviere.  (MG v. 1536–1541)43

Der mehrfach vorgetragene Vorwurf valscher minne (MG v. 163)44 zwischen Morant und Galie wird vom Erzähler dementiert (MG v. 205 f.) – Galie sei Morant zugetan mit reinen herzen inde sinne / ane einige lose minne. (MG v. 345 f.) Freundschaft wird hier, da sie v. a. als Vehikel für die Herrschaftsprobe Karls benötigt wird, problematisiert. Innerhalb des Prozesses tauschen die beiden im Zuge der allgemeinen Klagen dann nur noch ermutigende (MG v. 2505–2556; 4142–4183) bzw. beruhigende Worte (MG v. 4019–4042) aus. Die Freundschaft von Morant und Karl ist einerseits traditional gefärbt, indem der Erzähler an verschiedenen Stellen das lange Bestehen der Beziehung betont. Andererseits wird dies mit wertrationalen Motiven semantisch überschrieben, denn ‹Morant und Galie› knüpft ganz geschickt an verschiedene ausgewiesene Freundesfiguren aus ‹Karl und Galie› an und bündelt sie in Morant. Am deutlichsten wird die namentliche Rückbindung an die Morant-Figur aus ‹Karl und Galie›, der dort aber im Kampf gegen Bremunt gestorben ist. Der Erzähler erklärt diese Inkohärenz durch die Namensgleichheit der Figuren und setzt zur Distinktion den Namenszusatz ‹van Riviere› hinzu (MG v. 211–229). Man mag das als erzählerisches Unvermögen auffassen, ich meine aber, dass mit der Namensdopplung an eine Figur angeknüpft wird, die der Rezipient als unverbrüchlich treuen Freund aus ‹Karl  und  Galie› kennt.45 Der Name wird thematisch ausgebeutet als Vorzeichen für die Anlage des Morant van Riviere als Freund Karls. In der Tat soll – so wird es in ‹Morant und Galie› behauptet – auch Morant van Riviere seinerzeit Karl zu Galafers begleitet haben (MG  v. 231–235) und wird so nachträglich in die histoire von ‹Karl  und  Galie› implantiert. ‹Morant  und  Galie› forciert diese Fiktion weiter: Im Rahmen des Prozesses erinnert Morant zu seiner Verteidigung an den langen und entbehrungsreichen Dienst unter Karl (MG  v. 1725–1780). Er habe Karl vor Hoderich und Hanfrat bewahrt, sei mit ihm eines Morgens heimlich nach Toledo geflohen und habe ihn dort als Mainet vorgestellt. Er habe zudem dafür gesorgt, dass er sich bei Galafers mehrfach ritterlich beweisen konnte etwa mit der Tötung Bremunts. Außerdem habe er hinsichtlich der Minne zu Galie beratend beigestanden. Diese Retrospektive bündelt nun exakt diejenigen Freundschaftsdienste, die David und Dederich in ‹Karl und Galie› übernommen haben. Klugheit und Körperkraft, die herausragenden Eigenschaften Davids und Dederichs, bündeln sich auch in Karls Lob auf Morant im Vorfeld der Verleumdung: Er kenne Morant als einen Mann, 43

Auch die Tatsache, dass Morant während des Gerichtskampfes an Galies Bitte denkt und daraufhin furchtlos kämpft (MG v. 4321–4328), erinnert doch deutlich an das Motiv der Kräfteregeneration beim Gedanken an die oder beim Anblick der Minnedame. 44 Vgl. auch MG v. 650–684; 767–770; 809–822; 1554–1561; 1969–1986; 2012–2020. 45 Krolla 2012, S. 163–171, argumentiert mit einem stoffgeschichtlichen Anschluss an die Morant‑Figur der romanischen Mainet‑Tradition. In beiden Sichtweisen wird an eine vorgeprägte Freundesfigur angeknüpft.

76



1.  Vom Küchenjungen zum französischen König «de zů gůder mazen alle dinc wale kan als ein wis birve man, den ich so sere minnen.»  (MG v. 622–625)

Wie eng das Verhältnis von Karl und Morant, das durch die Prädestination Morants als Freund durch die literarischen Bezugnahmen auf ‹Karl und Galie› unterfüttert wird, ist, zeigt sich an Karls Trauer, als er von Morants Plänen, seine Heimat zu besuchen, hört: Er fragt verzweifelt, wer sein Banner dann in der Notlage halten soll,46 bittet um Aufschub der Reise (MG v. 254–282) und schließlich, dass er spätestens zu Pfingsten wieder an seinem Hof sei, damit Morant ihm auf dem Hoftag die Krone aufsetzen könne (MG v. 283–301). Hierfür will er Morant mit 12  Städten und 10  Burgen beschenken als Lohn für seine «groze[] arbeit» (MG v. 313) des steten Beistandes. Karl ist auch während des Prozesses untröstlich, dass Morant und Galie sterben müssen (MG v. 1690–1696) bzw. dass er ihnen großes Unrecht angetan hat (MG v. 4695–4701). Obwohl Morant und Galie das Vertrauen Karls genießen sollten, scheinen die beiden innerhalb der Intrige und damit innerhalb der Freundschaften machtlos. Weder können sie sich gegenseitig helfen, weil beide in die Krise involviert sind, noch können sie das ihnen aus dem Vertrauen innerhalb der Freundschafts- bzw. Minnebeziehung erwachsende Machtpotenzial gegenüber Karl ausspielen. Nachdem Freundschaft in allen bisher betrachteten Konstellationen Krisen konstruktiv und ohne weitere Komplikationen durch die Macht der Freunde überwunden werden konnten, kann man an Morant und Galie eindrucksvoll sehen, was passiert, wenn Freunde machtlos sind, präziser: wenn sie ihre Machtpotenziale nicht aktualisieren können. Die soziale und körperliche Aktionsmacht Karls, die ihm als Herrscher zukommt, isoliert Morant und Galie und entmachtet sie. Diese heikle Situation kann nur durch die Allmacht Gottes im Zweikampf gelöst und die Katastrophe verhindert werden. Das vorherige Machtvakuum des Freundes Morant wird im Nachgang durch die Überantwortung weitreichender Befugnisse kompensiert. Karls Herrschaft wird durch den Freund damit in gewisser Weise gespiegelt und doppelt abgesichert: Karl le mit siner hant, dat he over al sin lant geweldich marschalc were inde nest eme here, so he důn inde lazen wale zů gůder mazen mochte geweldecliche in al sime riche.  (MG v. 5393–5400)

Freundschaft kann zu guter Letzt doch noch ihr sozial und herrschaftlich konstruktives Potenzial entfalten. Die Asymmetrie der beiden Freunde ist damit auf ein Minimum reduziert.

46 Wie

Krolla 2012, S. 61, Fn. 162, richtig bemerkt, ist Morant als Bannerträger der einzige im Text, der ein Hofamt innehat, wodurch er als gemeinschaftsstabilisierender Amtsträger ausgewiesen ist.

77

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

1.5. Aufstieg und Veralltäglichung charismatischer Herrschaft Karls in Frankreich durch ein breites Spektrum freundschaftlicher Bindungen Der hohe Stellenwert von Freundschaften für ‹Karl  und  Galie› wie ‹Morant  und  Galie› dürfte sich an den zahlreichen Freundesfiguren in verschiedenen Konstellationen gezeigt haben. Dafür spricht auch aus stoffgeschichtlicher Perspektive, dass ‹Karl  und ­Galie› nach Kenntnis aller romanischen Mainet‑Versionen gegenüber jenen ‹neue› Freunde, nämlich Everhart und Orie, einführt und Florette, die es als Flore nur im ‹Mainet› gibt, stark profiliert wird. Alle Freunde geben für Karl und Galie ihre Heimat und damit ihren sicheren Status auf. Freundschaft erfordert in der Konzeption der Texte nicht nur Einsatz, sondern auch hohe Risiko- und Opferbereitschaft.47 Dazu passt die Anlage als ­Protagonisten‑zentrierte Freundschaften. Bis auf Orie, die mit Godin in begrenztem Umfang eine eigene Minnegeschichte erhält, sind alle Freunde mittelbar oder unmittelbar auf Galie oder Karl ausgerichtet, gehen hierin auf und unterhalten keine freundschaftlichen Beziehungen untereinander. Den ästhetischen Vorbehalten der Forschung gegenüber den beiden Texten wäre eine um Freundschaften zentrierte Erzählstruktur entgegenzuhalten. Hinsichtlich der Machtfülle zeigen sich größere Differenzen nur bei asymmetrischen gegenüber symmetrischen Freundschaften. Die Freunde innerhalb asymmetrischer Freundschaften haben zwar – ähnlich wie bei der symmetrischen Freundschaft zwischen Morant und Everhart – meist nur eine dominante Machtquelle, sie nutzen aber gegenüber jenen situativ mehrere, verschiedene Machttypen im Sinne Popitz’. Morant und Everhart verfügen hingegen nur über körperliche Aktionsmacht, wodurch ihre Handlungen recht stereotyp sind und ihre Konzeption eindimensional bleibt. Bei den anderen Freundesfiguren zeigt sich im Kontrast dazu, wie die Nutzung unterschiedlicher Machttypen zur Akkumulation von Macht und damit zu gesteigerter Wirksamkeit führt.48 Die Freunde in asymmetrischen Freundschaften wirken aufgrund dieser relativ größeren Machtfülle datensetzend und beeinflussen damit die Daseinsbedingungen von Karl und Galie entscheidend. Über die beiden Texte und die verschiedenen Freundesfiguren hinweg werden alle Machttypen nach Popitz eingesetzt, allerdings nicht schematisch, sondern je nach Figurenkonzeption, motivationaler Zuordnung der Freunde und Situation wird Macht kontextsensitiv verwendet. Die Texte zeigen hierin auch angesichts von Standardsituationen wie dem Erteilen von Rat einen hohen Grad an Differenzierung. In der Analyse erweisen sich die in der Einleitung genannten Kriterien Symmetrie/​Asymmetrie und Gender als sinnvoll und distinktiv. Das Kriterium Heimlichkeit/​Öffentlichkeit der Freundschaftsdienste trägt für diese beiden Texte hingegen nicht. Es geht nicht kongruent mit männlichen oder weiblichen homosozialen Freundschaften, ist also keine Frage der Geschlechtlichkeit, sondern scheint eher kontextbedingt. So operiert David durch seine Listen verstärkt heimlich, während Orie und Galie öffentlich für und mit den Freunden agieren. Wenngleich die asymmetrischen Freundschaften von den symmetrischen aufgrund der unmittelbaren Wirkung der Freundschaftsdienste analytisch zu trennen sind, so wird das Ranggefälle durch die Reziprozität und die Schließung der Beziehung nach außen überspielt. Da die Freundschaften im Plot genau dann ansetzen, wenn die Protagonisten in eine Krise geraten, geht das Gros der Aktivitäten innerhalb der Freundschaften vom 47

Das gemeinsame Durchleben entbehrungsreicher Situationen wird nicht zuletzt auch symbolisch sinnfällig in der Pilgerkleidung, die Karl, David, Dederich, Galie und Florette bei der heimlichen Brautentführung tragen. 48 Vgl. Popitz ²1992, S. 36 f.

78



1.  Vom Küchenjungen zum französischen König

rangniederen Freund aus. Hierzu passt, dass die Freundschaften die Protagonisten aus einer prekären Isolation herausführen und sie als Zugehörige einer Gruppe und in einer ihnen zugeschriebenen Rolle anerkennen. Solche Anerkennungsprozesse können nach Popitz neben Rollenpartnern nur durch Rollengleiche erfolgen, die als einer Spielart der Gruppenautorität jene vertritt.49 Rollenpartner bieten Familien- und Verwandtschaftsstrukturen, für die Anerkennung durch Rollengleiche benötigt man hingegen Sondergruppen, die in ‹Karl und Galie› als Freundschaften modelliert sind. Die Anerkennung von Individualität bzw. im Falle mittelalterlicher Literatur von spezifisch aktualisierten Rollenmodellen bedarf, so suggerieren die Texte, sozialer Nahräume und Beziehungen von Dauer und Intensität.50 Jene Anerkennung in kleinen Gruppen oder Freundschaftsdyaden, die die eigene Rollenerfüllung gesellschaftlich validieren können, unterscheidet sich von derjenigen größerer Gemeinschaften, die ‹lediglich› Zugehörigkeitsgewissheit bieten können.51 Solche Nahund Kleingruppen mit gegenseitiger Anerkennung tendieren zwar zur Gleichheit, es kann aber durchaus sein, dass einer der Beteiligten relativ weniger von der Anerkennung durch den anderen abhängig ist.52 Dies zeigt sich auch in den Texten: So sind Karl und Galie im Rahmen der Krise durch einen Anerkennungsentzug seitens der Freunde stärker verletzbar, als mit sukzessiver Überwindung dieser. Dann können die Protagonisten auch im Rahmen von Verwandtschaft, größeren Gefolgschaftsverbänden und Minne bzw. Ehe Anerkennung erhalten und damit treten dann auch die Freundschaften aus dem erzählerischen Fokus.53 Wo Freunde mit der Durchsetzung ihrer Macht scheitern, so nur dort, wo es der Installation einer Norm (Galie und Florette müssen konvertieren), dem Spannungsbogen bzw. der Selbsterhaltung der Erzählung (Morant und Galie müssen angeklagt werden) oder der positiven Charakterisierung des Protagonisten dient (Karl muss sich als militärisch kluger Stratege über Davids Rat hinwegsetzen). Das Scheitern der Freunde bleibt allerdings die Ausnahme. In aller Regel erweisen sich ihre Handlungen und Ratschläge als überaus erfolgreich hinsichtlich der Sicherung der Statusgewissheit der Protagonisten und der Rückgewinnung, Stabilisierung und Konsolidierung der Herrschaft Karls. Freundschaft tritt hierbei zu keiner Zeit in Konkurrenz zu anderen Beziehungssystemen wie Verwandtschaft oder Minne. Auch untereinander geraten die Freunde in keinen Konflikt.54 Freundschaft substituiert vielmehr Verwandtschaft und Gefolgschaft an einem Punkt, an dem diese nichts gegen die Krise auszurichten vermögen und kompensieren diesen Mangel. Haben Freundschaften diese wesentliche Funktion erfüllt, so neigen die Texte dazu, die Freundschaften in diese anderen Beziehungssysteme zu integrieren. Vor allem die Frauenfreundschaften Galies werden am Ende in Ehen überführt, die entweder Verwandtschaft und/oder Vasallität stärken. 49 50

51 52

53

54

Vgl. ebd., S. 141–144. Vgl. ebd., S. 153. Popitz entwickelt seine Überlegungen hier am modernen Subjekt, also für Exklusionsindividualität. Mir scheinen ähnliche Mechanismen aber auch auf die Anerkennung von Inklusionsindividualität zuzutreffen. Vgl. ebd., S. 156. Vgl. ebd., S. 157. So stirbt David im zweiten Teil von ‹Karl  und  Galie›; Dederich und Florette werden einfach nicht mehr erwähnt. Während eine Existenz Morants ohne Everhart nicht möglich scheint, können Karl und Galie bisweilen auch erfolgreich ohne Freunde agieren. Der im höfischen Roman anzutreffende prekäre Status der Confidente als Nebenbuhlerin oder von Missgunst bedrohter Mitwisserin wie etwa im Falle von Brangäne oder Lunete bleibt den Freundinnen in ‹Karl und Galie› und ‹Morant und Galie› erspart.

79

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

In ‹Karl  und  Galie› und ‹Morant  und  Galie› kann man entlang der Freundschaftsbeziehungen den stufenweisen Institutionalisierungsprozess von Herrschaft nach Popitz55 und damit einhergehend eine Traditionalisierung einer zunächst charismatischen Herrschaft nach Weber in geradezu prototypischer Weise beobachten. Karl verfügt zunächst nur über sporadische Macht in der Pfauen‑Episode, die auf diese singuläre Aktion begrenzt ist. Nachdem Karl mit Hilfe der durch die Freunde geschaffenen Voraussetzungen sich im Zweikampf mit Kaiphas bewährt hat,56 kann Karl nun ab dem zweiten Kampf gegen Bremunt selbst seine Schar der 200 Mann mobilisieren. Hiermit verfügt er über normierende Macht, insofern als er in gleichartigen Folgesituationen diese Macht immer wieder durchsetzen und auf Fügsamkeit bauen kann.57 Mit der Rückgewinnung Frankreichs und der Inthronisation hat Karl positionelle Macht gewonnen. Damit ist der entscheidende Schritt zur Erringung von institutionalisierter, geregelter Herrschaft geschafft. Die Herrschaft Karls hängt an seiner Person, allerdings ist seine permanente Anwesenheit zur Verdauerung der Herrschaft nicht mehr notwendig, wie seine ‹Pilgerfahrt› und die Herrschaftssicherung durch einen Stellvertreter vorführt. Am Ende von ‹Karl und Galie› ist der gesamte Herrschaftsapparat, der an der zentralen Position des Herrn hängt, ausgebildet. Von solchen Positionsgefügen der Herrschaft kann man sprechen, wenn die Bindung an den Herrn auf Dauer gestellt ist und von einer festen Gefolgschaft ausgegangen werden kann. Dies ist in ‹Karl und Galie› gegeben, insofern Karl durch die Heirat Galies die eigene Genealogie und damit stabile Herrschaftsverhältnisse in Frankreich gesichert hat und insofern die Gefolgschaft stellvertretend in der Verheiratung von Orie mit Godin und deren Belehnung in ihrem Stellenwert betont und verstetigt wird. Damit ist der herrschaftliche Zustand vor dem Aufstieg Hanfrats und Hoderichs, der das gesellschaftliche Ordnungsgefüge rasant ausgehöhlt hat,58 wieder erreicht. Am Ende von ‹Morant und Galie› kann man dann von der Veralltäglichung zentrierter Herrschaft sprechen, da Karl als Inhaber des Monopols über Normsetzung (Gesetzgebung, Rechtsnorm), Rechtsprechung (Sanktionsmonopol) und Normdurchsetzung (einschließlich Gewaltmonopol) verfügt, wobei als Voraussetzung hierfür konkurrierende Mächte (Verleumdertrio) ausgeschaltet werden müssen. Dies wird anhand des Prozesses gegen den Freund Morant anschaulich gemacht.59 Karls Entscheidung, den Verleumdern statt seiner 55 Vgl.

Popitz ²1992, S. 236–259, und die Darstellung in der Einleitung. Entscheidend scheint mir, dass sich Karl nicht schon mit der Schwertleite, sondern erst durch den Kaiphas‑Kampf als satisfaktionsfähig erwiesen hat. Dieser findet sich zudem nur in ‹Karl  und  Galie› und keiner anderen Fassung der Mainet‑Sage. Beckers 1989b, S. 191 und 194, fasst den Kampf als frühen Hinweis auf Karls spätere Rolle als Heidenbekämpfer auf. Wichtig ist hierbei Beckers’ 1989b, S. 192 f., Hinweis auf die Gestaltung der Szene als David‑Goliath‑Kampf, der die Leistung und Geeignetheit Karls imposant unter Beweis stellt. Karl selbst begründet den Kampf neben der minnetechnischen Aufmerksamkeitssteigerung von Galie noch mit der Erringung von «[p]rys, loff, roem ind ere» (KG 61,54). Der Erzähler erläutert, dass Karl in seinem Kampfbegehren seiner edel[en] art (KG 64,18) folge. Der Kampf befriedigt damit Karls ständisches Ehrempfinden und macht dies für alle sichtbar. 57 In den vorherigen Kämpfen haben Morant und Everhart durch ihre Heeresansprache die Franzosen mobilisiert. Die beiden Freunde wurden in der Analyse bereits als temporäre Stellvertreter von Karls militärischer Macht identifiziert. 58 Vgl. Beckers 1990, S. 217. 59 Sehr detaillierte Darstellungen der heldischen Bewährung und art‑Entfaltung Karls finden sich mit Blick auf ‹Karl und Galie› bei Beckers 1989a, S. 131 und S. 139–143, und mit Blick auf ‹Morant und Galie› bei Krolla 2012. Beckers liest den Aufstieg Karls v. a. unter dem Aspekt von Höfisierungstendenzen, da sich Karl nicht nur als überragender Held, sondern auch als vorbildlich Liebender erweisen muss. In der Tat ist die Darstellung Karls als Minneritter stoffgeschichtlich einmalig, da er sonst nur als gewaltiger, heiliger Herrscher 56

80



1.  Vom Küchenjungen zum französischen König

Frau und seinem Freund und Vasallen zu glauben, zeigt ihn zunächst als wenig souveränen Herrscher.60 Die Anklage erhöht aber den öffentlichen Legitimationsdruck auf Karl, weil Herrscherehe und Vasallenbeziehung wesentlicher Teil des politischen Raumes sind. Der Vorwurf gegen die Ehefrau und den wichtigsten Vasallen Karls droht, die Stabilität der Hofgemeinschaft entscheidend zu schwächen. Nicht nur Karl, sondern der gesamte Hof sieht sich einer Bewährungsprobe ausgesetzt. Karl muss sich als Gerichtsherr, der Hof im Fürstenrat beweisen.61 Mit dem gottesgerichtlichen Zweikampf geht die Forderung nach einem gerechten Richter von Karl an Gott über und so wird dem Teufel als Initiator der Handlung auch der wahre Gegner zugeführt. Als dann der Verrat aufgeklärt ist, übernimmt Karl beim Abschlussfest mit Schwertleiten, Hochzeiten und Belehnungen wieder herrschaftliche Ordnungsleistungen.62 Obwohl Karl durchaus schwach erscheint, geht es in ‹Morant und Galie› nicht um Hofkritik, sondern um die narrative Beantwortung der Frage, unter welchen Bedingungen und Schwierigkeiten ein junger König mit den Anforderungen von Herrschaft umgehen soll.63 Zu dieser Aufstiegsbewegung passt, dass Karl in ‹Karl  und  Galie› innerhalb einer poetischen Jugendgeschichte gezeigt wird und erfolgreich Thron und Frau erwirbt. Wesentlich ist hierbei, darauf hat bereits Sievert hingewiesen,64 dass eine innere Krise des Helden, ein retardierendes Scheitern ausbleibt. Daran haben nicht zuletzt, so konnten die Einzelanalysen zeigen, die Freunde Karls, aber auch Galies entscheidenden Anteil, indem sie deren Identität sichern. Bastert konnte mit Blick auf die Gesamtkonzeption überzeugend herausarbeiten, dass ‹Karl  und  Galie› und ‹Morant  und  Galie› die ‹Innenpolitik› Karls behandeln.65 In ‹Karl und Galie› muss Karl seine Eignung für das Herrscheramt zeigen, ist damit rex idoneus. In ‹Morant  und  Galie› kann Karl nach anfänglicher Schwäche die Gefährdung seiner Herrschaft abwenden und der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen. Hier erscheint er als rex iustus. In Webers Terminologie startet Karl damit in der Krise und aus dieser Notsituation heraus, in der die bisher geltenden Sozialbeziehungen und Gruppenzugehörigkeiten brüchig geworden sind. Es erwächst eine labile, charismatisch gefärbte Herrschaft, die sinnfällig im Gefolge der 200 ihn ins Exil begleitenden Krieger wird. Gehorsam und Geltung erfolgt zunächst allein durch die Hingabe an den aufstrebenden Helden Karl, einen geordneten Verwaltungsstab gibt es nicht. Das Gefolge verzichtet hierbei bewusst, wie dies für charismatische Herrschaftsformen typisch ist, auf seine lokalen, verwandtschaftlichen und sonstigen Rollenbindungen, auf ökonomische Versorgung und soziale Sicherheit, um als kriegerische Gefolgschaft am Charisma des Herrn zu partizipieren. Karls Erziehung ist ebenfalls charismatisch geprägt, da im Text suggeriert wird, dass Heldentum zwar nicht erlernbar ist, aber die latenten Fähigkeiten dazu durch die Isolierung von der gewohnten Umgebung, dem Einfluss der Familie sowie durch die Umgestaltung der Lebensgezeichnet ist. Vgl. Geith 1998, S. 82. Mit dem gestiegenen Stellenwert von Minne rückt auch die Darstellung Galies mehr ins Zentrum, deren Macht und deren Freundschaften wesentlich zum Gelingen von Karls Herrschaftsaufstieg beitragen. 60 Die folgende Darstellung fußt auf den Ergebnissen von Krolla 2012, S. 61–64. 61 Dass das nicht reibungslos klappt, zeigt Krolla 2012, S. 80–83. 62 Vgl. ebd., S. 216 f. 63 Vgl. ebd., S. 228. 64 Vgl. Sievert 2003, S. 113. 65 Vgl. Bastert 2003b, S. 135 f. Im ‹Rolandslied› Konrads und den anderen Fassungen des Stoffs erstreckt sich die Bewährung Karls auf außenpolitisches Gebiet.

81

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

führung geweckt werden können. So erwähnt ‹Karl und Galie› explizit, wie Karl binnen eines Jahres am Hof Galafers ritterliches Verhalten besser beherrschte als alle anderen (KG 44,44–49). Der Kaiphas‑Kampf ist ein eindrucksvolles Zeugnis der erreichten Stufe der charismatischen Vervollkommnung, die allerdings in den Folgekämpfen immer wieder erschüttert wird und sich bewähren muss. Folgerichtig besteht Karls kriegerischer Stab nur aus denjenigen, die ebenfalls vergleichbare Proben bestanden haben.66 Mit der Krönung geht eine Traditionalisierung von Karls Herrschaft einher, die sich als zunächst Gefolgschaft-, schließlich aber als Lehensfeudalismus als Spielarten des freien Feudalismus präsentiert. Es herrscht zwar immer noch eine besondere Pietätsbeziehung zum Herrn als Herrschaftsbasis, diese wird aber in traditionale Regeln bzw. Gefüge eingeschrieben. Nach Weber dient der Traditionalismus dem Alltag abseits von Krisen. Hierzu passt, dass die Traditionalisierung in ‹Karl  und  Galie› erst nach Überwindung der Thronusurpation einsetzt. Die charismatische Gruppe kehrt damit in die Bahnen des ‹Alltags› zurück, aus dem sie enthoben war. Damit endet das reine Charisma, verschwindet aber nicht einfach, sondern wird durch die Traditionalisierung hybrid, da das Königtum weiterhin die Aura des Amtscharisma trägt. Der Feudalismus wird zunächst auf rein gefolgschaftlicher Basis allein kraft persönlicher Treuebeziehung zu Karl ohne Verleihung von Grundherrenrechten belassen. Hier spielen wiederum Karls Freunde David und Dederich eine wesentliche Rolle, die stellvertretend das freie Gefolge repräsentieren. Nach der Hochzeit mit Galie deutet ‹Karl und Galie› in der Belehnung Godins eine weitere Stabilisierung in Richtung Lehensfeudalismus an, auf den ‹Morant und Galie› in mehreren Belehnungsakten, insbesondere aber gegenüber Morant den Akzent legt. In den Texten wird damit angedeutet, wie aus einer charismatischen Gefolgschaft ein Staat, aus charismatisch selegierten Gefolgsleuten Lehenträger und aus situationsbezogener Gefolgschaftspietät eine konstante persönliche Treuebeziehung wird. Es wird zudem illustriert, dass mit dem Vasallenverhältnis eine Aufwertung des Status und der Ehre des Vasallen einhergeht und dass die Auslese allein durch den Herrn erfolgt. Diese Auslese ist wesentlich durch das System der stabilisierenden Freundschaften gesteuert. Der Vasall findet damit in der Ehre des Herrn seine eigene Ehre und umgekehrt ist der Vasall der Garant der eigenen Herrenstellung. Das sicherlich realgeschichtlich wesentliche System aus Schutz- und Hilfeverpflichtungen im Lehensfeudalismus spielt für die Texte nur implizit eine Rolle.

2. Konflikt und Klage: Zum Wandel mimetischen Begehrens in den Freundschaften Rolands zu Oliver und Karl in der ‹Chanson de Roland›, im ‹Rolandslied› des Pfaffen Konrad und Strickers ‹Karl› Das ‹Rolandslied› des Pfaffen Konrad67 und Strickers ‹Karl›68 gehören in der Forschung nach Wolframs ‹Willehalm› sicherlich zu den bekanntesten deutschsprachigen Chanson de 66

Hier zeigt sich, dass es bei charismatischer und feudaler Erziehung große Schnittmengen gibt, da beide auf ein spezifisch ständisches Ehrgefühl abzielen. 67 Das ‹Rolandslied› dürfte nach opinio communis um 1170 im Auftrag Herzog Heinrichs des Löwen, wahrscheinlich am Regensburger Hof entstanden sein, wenngleich Bastert in jüngster Zeit wieder Braunschweig als Abfassungsort zur Diskussion gestellt hat. Vgl. Bastert 2010, S. 79–85. Damit einhergehend diskutiert er auch eine Entstehung erst 1185. Das ‹Rolandslied› zeigt mit einer vollständigen, mit Federzeichnungen

82



2.  Konflikt und Klage: Zum Wandel mimetischen Begehrens

geste‑Adaptationen. Beide fußen auf der altfranzösischen ‹Chanson de Roland›.69 Im Kern berichten alle Versionen davon, wie Karl das heidnisch besetzte Spanien bis auf Sarraguz in der Hand König Marsilies erobert. In der Folge greifen heidnische Täuschung und Verrat aus den eigenen Reihen durch Genelun dergestalt ineinander, dass Karl mit einem Großteil des Heeres abzieht und sein Neffe Roland mit 20 000 Mann die Nachhut stellt, die im anschließenden Kampf gegen Marsilies Truppen untergeht. Zu Beginn und gegen Ende der ersten großen Ronceval‑Schlacht sind die beiden berühmten Hornstoßszenen eingeschaltet. Oliver bittet Roland zunächst vergebens, sein Horn Olifant zu blasen, um so Karls Hilfe herbeizuholen. Als Roland das Horn in einer zweiten Konfrontation mit Oliver endlich bläst, ist es bereits zu spät für eine Rettung. Karl kommt mitsamt Heer auf dem Schlachtfeld an und erhebt eine große Klage insbesondere um den toten Roland. In der zweiten großen Ronceval‑Schlacht gegen Marsilie und das nachrückende Heer des heidnischen Großherrschers Baligan schlägt Karl die Heiden dann vernichtend. Zurück in Frankreich wird Genelun im Prozess mit Ordal zum Tode verurteilt. Konrad drängt im ‹Rolandslied› –  neben notwendigen Änderungen auf formaler Ebene –70 den nationalen, innerfeudalen Konflikt zwischen der Zentralmacht des Königs und der Partikularmacht der Fürsten gegenüber der ‹Chanson  de  Roland› zurück und unterlegt die Geschichte durchgängig mit einer Kreuzzugsideologie, die den Martyriumsgedanken und die Kontrastierung von Christen und Heiden trägt.71 Strickers ‹Karl›

68



69

70

71

bebilderten Handschrift (P) und fünf Fragmenten, die wohl noch alle aus dem 12. Jahrhundert stammen, eine für diese Zeit schnelle und breite Distribution. Das ‹Rolandslied› wird mit der Sigle RL zitiert nach der Edition von Kartschoke 1993. Eine regelrechte Erfolgsgeschichte dürfte nach Auskunft der Überlieferung mit 24 Handschriften und 21 Bruchstücken der ‹Karl› gewesen sein, der – je nach angesetzten literarischen und realpolitischen Bezügen – zwischen 1215 und 1233 entstanden ist. Vgl. Geith/​Ukena‑Best/​Ziegeler 1995, Sp.  419 und 423. Zur Datierungsfrage, der Beschreibung der Handschriften und ihres Verhältnisses zueinander vgl. zuletzt die Einleitung zur ‹Karl›‑Edition Singers 2016, S. X–LIX. Die für die verschiedenen Daten herangezogenen Begründungen finden sich im Forschungsüberblick bei Bastert 2010, S. 85–87. Der ‹Karl› wird mit der Sigle K zitiert nach der Ausgabe von Singer 2016. Zu beachten ist, dass die Verszählung in Singers Edition gegenüber der alten Edition von Bartsch 1857 differiert, deren Zählung Singer rechts neben dem Text mit vermerkt. Mehr als verdoppelt schon das ‹Rolandslied› durch erläuternde Zusätze, Kommentare, Dialoge und ausführliche Schlachtbeschreibungen mit seinen 9094 Versen die altfranzösische Vorlage, so baut der ‹Karl› dies durch Einfügen der Jugendgeschichte Karls und weiterer, auf im Wesentlichen jüngere altfranzösische ‹Chanson de Roland›‑Fassungen zurückgehende Szenen auf 12 058 Verse aus. Basisinformationen zur ‹Chanson de Roland› bietet Hennings 2008, S. 22 f. Die ‹Chanson de Roland› entstand mutmaßlich um 1100 und umfasst je nach Fassung ca. 4000 Verse. Für das ‹Rolandslied› kann als Vorlage eine Version der ‹Chanson de Roland› gelten, die am ehesten durch die assonierende Oxforder Fassung repräsentiert wird. Der Stricker griff für die Modernisierung des ‹Rolandsliedes› im ‹Karl› partiell auch auf die jüngere, reimende altfranzösische ‹Chanson de Roland›‑Tradition vom Typ Châteauroux/​Venedig VII zurück. Vgl. von der Burg 1976. Einen Überblick über die Neuerungen im ‹Karl› gegenüber dem ‹Rolandslied› auf formaler Ebene gibt Hennings 2008, S. 112. Die ‹Chanson  de  Roland› der Oxforder Version wird mit der Sigle ChdR zitiert nach der zweisprachigen Ausgabe von Steinsieck 1999, die angegebenen Übersetzungen sind ebenfalls dieser Edition entnommen. Sofern ich nicht auf Verse, sondern ganze Laissen verweise, mache ich das mit der ergänzenden Angabe L. nach der Sigle kenntlich. Konrad nutzt Reimpaare statt Laissen, er ersetzt laisses similaires und laisses parallel, die der Steigerung und differenzierten Perspektivierung eines Ereignisses dienen, durch eine fortschreitende Beschreibung. Vgl. Bauschke 1995, S. 3–16; auch Bastert/​Buschinger/​Claassens/​Knapp 2014, S. 193 f. Nellmann 1985, Sp.  125, spricht daher vom ‹Rolandslied› als der «geschlossenste[n] mhd. Darstellung der Kreuzzugsideologie im 12.  Jh.»; Bastert/​Buschinger/​Claassens/​Knapp 2014, S. 204, gar von «einer religiösen conjointure». Darstellerisch schlägt sich das in einer massiven Steigerung v. a. biblischer Bezüge nieder, die die Handlung religiös perspektivieren und heilgeschichtliche Sinnangebote vereindeutigen. Die Gegenüberstellung von Christen und Heiden wird nach dem augustinischen Modell der civitas  Dei gegen

83

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

verstärkt die schon im ‹Rolandslied› ablesbare Tendenz zur Milderung des politischen Konflikts sowie der Fokussierung auf Karl und gibt dem Stoff eine vitenähnliche Struktur, die die Ereignisse in Spanien durch Erzählen der Jugendvorgeschichte und einer über den Tod Karls hinausgehenden Perspektive im Epilog rahmt.72 In der Romanistik ist der ‹Chanson de Roland› als Ursprung und gewissermaßen Archetyp der Gattung besondere Aufmerksamkeit zuteilgeworden. Die Germanistik übernahm die Vorliebe für die Anfänge und stellte das ‹Rolandslied› ins Zentrum der umfangreichen Forschungsaktivitäten zum Roland‑Stoff. Der ‹Karl› wird seit seiner Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert demgegenüber stiefmütterlich behandelt, auch wenn man ihn heute nicht mehr als höfisch‑aktualisierte, aber insgesamt wenig originelle Umarbeitung von Konrads Text betrachtet, sondern zunehmend als Text von eigener konzeptioneller Machart und selbständigem Aussagegehalt.73 Innerhalb der Forschungsaktivitäten zu ‹Chanson de Roland›, ‹Rolandslied› und ‹Karl› geriet das Thema Freundschaft schon häufiger in den Blick, wenngleich für die Freundschaft Roland‑Oliver v. a. die beiden Hornstoßszenen und für die Freundschaft Karl‑Roland insbesondere die Totenklage eine prominente Rolle spielten. Die Freundschaften an weiteren Stationen des Textes zu unterfüttern, unterblieb zumeist und soll daher auch Ziel der folgenden Analyse sein. In vergleichenden Studien werden oftmals ‹Chanson de Roland› und ‹Rolandslied› einander gegenübergestellt.74 Werden alle drei Versionen einbezogen, so beschränken sich die Untersuchungen nur auf eine der beiden Freundschaftskonstellationen.75 Daher soll hier eine Gesamtschau versucht werden, die die Zusammenhänge der beiden Freundschaften und deren sich wandelndes Verhältnis je nach Akzentsetzung des Einzeltextes befragt. In macht- und herrschaftssoziologischer Perspektivierung werden sich hier erste Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den Freundschaften in ‹Karl und Galie› und ‹Morant und Galie› herausstellen. Über welche Machtformen verfügen die Freunde untereinander und gegenüber Dritten? Stützen die Freundschaften Karls Herrschaft oder werden sie gar problematisiert? Die nachfolgende Darstellung zielt neben der Erfassung der jeweiligen Akzentsetzungen in den Freundschaften durch komparatistische Lektüre die civitas  diaboli gestaltet. Zusätzlich werden Elemente aus der hagiografischen Tradition implementiert. Eine kompakte Darstellung dieser Umarbeitungen in religiöser Hinsicht findet sich bei Ernst 1988. Vgl. auch Kerth 1995 sowie Seidl 2009, die das Verhältnis als asymmetrische Gegenbegrifflichkeit im Sinne Kosellecks 1975 liest. Strohschneider 2012 schließt sich Seidls Lesart an, hebt aber auf die strukturelle Leistung der Dichotomie als Kontingenzreduktion ab, in dem Fremdes als Negation des Eigenen begriffen werden kann. Dass diese Erzählhaltung zu einer Ästhetisierung des Abschlachtens der Heiden führt, zeigt Przybilski 2007. 72 Vgl. Hammer 2012; Klein 1998, S. 315–323. 73 Die späte ‹Rolandslied›‑Bearbeitung des ‹Karlmeinet› (im 14. Jahrhundert Eingang in die Kompilation, Entstehung ggf. schon im 13. Jahrhundert) fällt hinsichtlich der Forschungsbemühungen dagegen noch weiter ab und ist nur einem kleinen Kennerkreis geläufig, obschon auch dieser Text in markanter Weise Akzente setzt. Die Forschung zum ‹Karl› könnte durch die beiden Neueditionen von Weber 2010 und Singer 2016 weiter profitieren. 74 Vgl. Buschinger 1996, die sich aber auf die Konstellation Roland‑Oliver beschränkt. Buschinger 2010 betrachtet zwar auch nur Roland‑Oliver, bezieht aber neben ‹Chanson  de  Roland› und ‹Rolandslied› noch den ‹Karl› und die Bearbeitung im ‹Karlmeinet› mit ein. Ihre Lesart der letzten beiden Texte ist allerdings wenig differenziert und verrät deutlich eine negative ästhetische Beurteilung, die die Analyse unzulässig subjektiv färbt. Heisler [Freienhofer] 2009 betrachtet ausgehend vom gestischen Ausdruck Karls für Zorn und Trauer die Konstellation Roland-Karl in beiden Texten näher. 75 Klein 1979 betrachtet vergleichend die Totenklage Karls um Roland in allen drei Versionen. Ukena‑Best 2000 bindet darüber hinaus weitere Szenen für die Konstellation Roland‑Karl ein. Meyer 2003 wendet sich für alle drei Texte den Hornstoßszenen und damit Roland‑Oliver zu.

84



2.  Konflikt und Klage: Zum Wandel mimetischen Begehrens

v. a. auf den Wandel und die Weiterentwicklung des Stoffs hinsichtlich der Freundschaftskonstellationen beginnend bei ‹Chanson de Roland› über das ‹Rolandslied› hin zum ‹Karl›, der die Geschichte Rolands im deutschsprachigen Raum vom ersten Viertel des 13. Jahrhunderts bis weit ins 15. Jahrhundert hinein ‹populär› gemacht hat. Die Männerfreundschaften in den drei Texten des Roland‑Stoffs changieren zwischen interner Harmonie und intern ausgehandelter Konkurrenz bei Roland und Oliver sowie zwischen interner Harmonie bei äußerer Problematisierung eben dieser Eintracht zwischen Roland und Karl. Dieses konfliktbeladene Freundschaftshandeln bei gleichzeitigem Anstreben desselben Ziels und derselben Werte stellt gegenüber ‹Karl  und  Galie› und ‹Morant  und  Galie› eine Akzentsetzung dar, die die Anwendung weiterer theoretischer Zugangsweisen rechtfertigt. Zugleich wandeln sich die Freundschaftsdarstellungen auch im Vergleich der drei Texte des Rolands‑Stoffs untereinander. Um diese vielschichtige Ausgangslage zu erfassen, soll die Konstitution der Freundschaftsdarstellungen neben der textnahen Lektüre sowie der macht- und herrschaftssoziologischen Grundperspektive theoretisch durch Überlegungen von Réne Girard zum mimetischen bzw. triangulären Begehren konturiert werden. Dieser kulturtheoretische Ansatz vermag es, komplexe Beziehungskonfigurationen mit widerstreitenden Kräften zu analysieren. Zudem lässt sich dergestalt die spezifische Tönung der Freundschaften in Abhängigkeit von den angesprochenen konzeptionellen Änderungen von der ‹Chanson de Roland› bis hin zu ‹Karl› als auch in Abhängigkeit der beiden Freundschaftsdyaden untereinander präzise fassen und erklären.

2.1. Konfliktanfällige Kriegerfreundschaft: Roland und Oliver zwischen Konsens und Konkurrenz Roland und Oliver76 als Freunde zu betrachten, ist in der Forschung unumstritten. Mir soll es daher nicht darum gehen, zu zeigen, dass sie Freunde sind, sondern in welcher besonderen Weise sie ihre Freundschaft ausagieren und inwiefern die drei Texte dahingehend differieren. Hier fehlt es in der Forschung an einer nuancierten und zugleich theoretisch gestützten Gesamtschau. Von der Grundanlage her ist ihre Beziehung als eine statussymmetrische Kriegerfreundschaft angelegt. Damit verfügen beide über körperliche Aktionsmacht und zunächst auch gleichermaßen über autoritative Macht übereinander, gegenüber Karl als besonders hervorgehobene Ratgeber innerhalb der 12 Pairs (ChdR v. 175 f.; RL v. 109 f.; K v. 487–490), dem engsten Vertrautenkreis des Königs, und schließlich gegenüber Karls Heer als vorbildliche Kämpfer. Geltungsgrad und Wirkintensität von Roland und Oliver ist damit schon bei grober Betrachtung viel größer als diejenigen von Morant und Everhart, obwohl die nun zu betrachtende Dyade von den äußeren Parametern her ganz analog zu jener aus ‹Karl und Galie› gestaltet ist. Das ist v. a. dadurch bedingt, dass die Beziehung von Roland und Oliver narrativ innerhalb mehrerer Szenen ausgestaltet ist und sich ihre Darstellung nicht nur auf kriegerische Handlungen beschränkt, sondern kriegsnahe Ratsituationen mit einbezieht. So werden aus stark typisierten Hintergrundakteuren relevante Handlungsträger mit differenzierterem Profil. 76

Die Namensformen werden, wo sie nur geringfügig differieren, nach den beiden mittelhochdeutschen Texten vereinheitlicht.

85

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

Die Anlage als statussymmetrische Waffenbrüder bedingt ein Changieren des Freundschaftshandelns zwischen Konsens und Dissens, Kollaboration und Konkurrenz. Die weitgehende Gleichheit von Roland und Oliver in ihrer Kriegerexistenz birgt ein großes Konfliktpotenzial, das von allen drei Roland‑Texten in bestimmten Szenen gesondert ausagiert wird. Hier bricht die prinzipielle Einmütigkeit der Figuren, wie sie sich im Fürstenrat zum Friedensangebot Marsilies, im gemeinsamen Kampf und nicht zuletzt auch in der Sterbeszene Olivers zeigt, gewissermaßen eruptiv auf. Da nur Oliver aufgrund der Gleichheit Rolands Heroenstatus gefährden kann, trägt ihre Freundschaft stets das Potenzial zur Desintegration in sich.77 Der Zusammenhalt kann jederzeit in Konflikt umkippen. Bei der Szene der Botenberufung begehren beide die Ehre des Gangs zu Marsilie, bei den beiden Hornstoßszenen führen ihre differierenden Ansichten zum offenen Streit und der versehentliche Schlag des blinden Olivers auf Rolands Kopf symbolisiert die Konkurrenz um die Heldenposition. Wie lässt sich nun eine solche prononcierte, noch näher zu beleuchtende Konfliktdarstellung theoretisch als konstitutiver Teil der Roland‑Oliver‑Freundschaft konzeptualisieren? Girards Überlegungen zum triangulären Begehren können hier heuristisch fruchtbar gemacht werden,78 um den innerhalb der Roland‑Oliver‑Freundschaft wirkenden Mechanismus erklären zu können. Girard differenziert zwischen einem geradlinigen, spontanen Begehren und einem triangulären, mimetischen Begehren, das er an literarischen Texten entwickelt. Bei letzterem begehrt ein Subjekt ein Objekt aufgrund eines Mittlers, dessen Vorbild nachgeahmt wird. Man begehrt nicht aus sich selbst heraus, sondern weil der Andere, der Mittler dasselbe begehrt.79 Für die Vermittlungsleistung ist es dabei ganz unerheblich, ob die Mittlerinstanz eine Person bzw. Figur oder ein abstrakter Wert ist, dem

77 Vgl.

Meyer 2003, S. 31–33. Ich beziehe mich hier auf Girards frühe Abhandlung «Mensonge romantique et vérité romanesque» (1961). Zitiert wird aus der deutschen Übersetzung 1999 [1961]. Die Überlegungen Girards fanden v. a. über Analysen zum male bonding bzw. male homosocial desire im Sinne Sedgwicks 1985, die die Ideen Girards aufgreift, Eingang in die mediävistische Forschung. Vgl. die Applikation des Modells auf mittelhochdeutsche Texte Kraẞ 2002, 2003, 2005; Mindnich 2003; Hasebrink 2009 und Zimmermann 2017/2018. Ich möchte für meine Lesart der Texte des Roland‑Stoffs die Anwendung der Überlegungen Sedgwicks (neben anderen Chansons de geste und höfischen Romanen) auf die ‹Chanson de Roland› durch Ailes 1999 dennoch nicht fortsetzen und auf die beiden mittelhochdeutschen Bearbeitungen ausweiten. Dass ich Girard für die Perspektivierung meiner Interpretation den Vorzug vor Sedgwick gebe, hat mehrere Gründe: Zwar versteht sie Begehren nicht als einzelnen affektiven oder emotionalen Zustand, sondern als soziale, formende Kraft der Beziehung, wodurch das ganze Spektrum männlicher Bindungen (sozial, familiär, institutionell, ökonomisch, politisch, erotisch) erfasst werden kann. Vgl. Sedgwick 1985, S. 1–5. Sie gewinnt das Konzept homosozialen Begehrens allerdings durch die Analyse erotischer Dreiecke in literarischen Texten von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, wodurch sie das Objekt auf die Position der Frau zwischen zwei Männern festlegt und damit andere Konstellationen männlich-homosozialen Begeherens aus dem Blick geraten. Vgl. problematisierend Kraẞ 2004, S. 242 und 2010, S. 230, der daher in seinen Analysen von Montaignes Freundschafts‑Essay (Kraẞ 2002) und des ‹Tristan› Gottfrieds von Straßburg (Kraẞ 2004) die Modelle Sedgwicks und Girards zusammendenkt. Girards trianguläre Figur ist in dieser Hinsicht ontologisch offener und geschlechtlich nicht fixiert. Die für Sedgwick und die Queer Theory wichtige Integration homoerotischen und ‑sexuellen in das Kontinuum homosozialen Begehrens im Rahmen ihrer Überlegungen zum erotischen Dreieck spielt für meine Lesart zudem keine Rolle. Für meine Zwecke erscheint mir ihr psychoanalytischer Zugang zum Begehren in einem libidinösen Sinne nicht adäquat. Mit Blick auf die hier angestrebte vergleichende Darstellung des Wandels des Begehrens innerhalb der Freundschaftsbeziehungen (s. u.) ist für mich die weitere Differenzierung mimentischen Begehrens bei Girard analytisch aufschließend, während Sedgwick eine vergleichbare Feinstruktur nicht bietet. 79 Vgl. Girard 1999 [1961], S. 12 f. und 36. 78

86



2.  Konflikt und Klage: Zum Wandel mimetischen Begehrens

man nacheifert; ob sie ‹real› oder ‹imaginär› ist.80 Dass der ontologische Status des Objekts nicht festgelegt ist, macht das Modell Girards für die hier vorzufindende Dreieckskonstellation hermeneutisch anschlussfähig. Darüber hinaus ist diese Betrachtungsweise kompatibel mit dem von Weber gewonnenen, rein analytischen Freundschaftsbegriff als geschlossene, soziale Vergemeinschaftung, den ich hier verfolge. Das Objekt wird – so Girard – in den Augen des Subjekts umso begehrenswerter, je mehr der Mittler das Objekt auch begehrt oder zumindest begehren könnte. Das Prestige des Mittlers überträgt sich auf das begehrte Objekt und verleiht ihm so (scheinbar) einen Wert, verklärt es. Die Vermittlung erzeugt damit ein Begehren, das mit dem des Mittlers identisch ist, wodurch nun zwei, durchaus auch widerstreitende Begehrensstrukturen existieren. Die Manifestationen dieses Begehrens können von Zuneigung bis Hass reichen. Strukturanalogien dieser triangulären Figur finden sich auch in den zu untersuchenden Texten, wodurch sich die grob beschriebenen Ambivalenzen in der Roland‑Oliver‑Freundschaft analytisch einfassen lassen. Der Lektüre der Texte des Roland‑Stoffs liegt dabei die Annahme zugrunde, dass die Homosozialität Rolands und Olivers einem triangulären Begehren folgt, bei dem das Subjekt Oliver das Objekt Kriegerethos begehrt, weil der Mittler Roland dieses begehrt. Ihr Begehren ist von einem kriegerischen Männlichkeitsentwurf geprägt.81 Zwischen Roland und Oliver existieren nun zwei gleichermaßen auf Kriegerisches gerichtete Begehrensstrukturen, die einerseits die Bindung der beiden intensiviert und andererseits latent bedroht. Dies führt zu einem der Freundschaft inhärenten Konfliktpotenzial v. a. im altfranzösischen Heldenepos, weil Roland und Oliver zugleich als identisch und different präsentiert werden.82 Die Männlichkeit der beiden Helden wird durch Gegenüberstellung eines Mannes geformt, der eine Spiegelung seiner selbst ist. Dies bedeutet, dass der bedeutsamste Widerpart durch den nächsten Gefährten gestellt wird. Gerade weil Roland und Oliver als Krieger und Helden statusgleich sind und ihre Freundschaft symmetrisch angelegt ist, geht die größte Gefahr für die eigene Rolle vom jeweils anderen aus: «The only serious challenge to Roland’s heroic status comes from Oliver.»83 80

Vgl. ebd., S. 13 und 16. Im Grunde genügt es sogar, sich einzubilden, dass der Mittler das Gleiche begehrt wie man selbst, um das eigene Begehren zu steigern. 81 Klinger 2010, S. 189, fasst das in ihrer Untersuchung als manheit, also als «kämpferische Durchschlagskraft und Kühnheit, die sich als Geschlechtsmarkierung auf das männlich‑adlige Waffenprivileg und die daraus resultierende Gewaltfähigkeit» bezieht. Sie greift für ihre Untersuchung von Begehrensstrukturen im ‹Rolandslied›, ‹Prosa‑Lancelot› und ‹Parzival› weder auf Sedgwick noch Girard zurück. Ich meine hingegen mit Girard, die oben aufgeführten Leitfragen für dieses Kapitel besser bearbeiten zu können. 82 Dieser Männlichkeitsentwurf wurde von Gaunt 1995 für die ‹Chanson  de  Roland› als monologisch beschrieben. Gaunt nutzt mit Mono- und Dialogizität unglücklicherweise Begriffe, die bereits von Bachtin 1979 [1934/1935] für Ein- bzw. Vielstimmigkeit im Roman vorgeprägt sind. Monologizität im Sinne Gaunts meint, dass Männlichkeit nicht durch Abgrenzung von weiblichen Gender‑Entwürfen konstruiert wird, sondern in Relation zu anderen Männlichkeitsmodellen. Vgl. zur Kritik Meyer 2003, S. 30. Die Chansons de geste versuchen, so Gaunt, ein Modell der Brüderlichkeit und bruchlosen Gemeinschaft des Männlichen zu installieren (Monologizität). Wesentlich ist hierbei nach Gaunt, dass der Status dieses Ideals von Solidarität und Einheit der Männlichkeit keineswegs unproblematisch ist, sondern dazu führt, dass Abweichungen nur schwer intergiert werden können und daher marginalisiert werden müssen. Widerspruch oder alternative Männlichkeitsentwürfe führen zu einer internen Dialogisierung, die die Ideologie der Einheit des Männlichen befragt und überarbeitet, wie Gaunt u. a. an der ‹Chanson de Roland› in der Oxforder Fassung zeigt. Vgl. Gaunt 1995, S. 22 f. (zur Männlichkeitskonstruktion in der Chanson de geste); S. 28–30 und 34–37 (speziell zur Situation in der ‹Chanson de Roland›). 83 Ebd., S. 31.

87

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

Das führt wiederum dazu, dass gegenteilige Haltungen unter Männern subversiv wirken und ein kriegerisches Ethos brüchig zu werden droht. In einem ersten Textdurchgang soll zunächst die harmonisierende Kraft dieses Begehrens, aus dem sich auch ihre Machtfülle ableitet, grundsätzlich konturiert werden. Die Geschlossenheit der Roland‑Oliver‑Beziehung wird in allen drei Texten darüber transportiert, dass Erzähler und Figuren des christlichen wie heidnischen Lagers gleichermaßen Roland und Oliver als Einheit wahrnehmen und bei verschiedenen Gelegenheiten wie etwa der Planung der List um Genelun, im Kampf oder im Prozess gegen Genelun gemeinsam adressieren.84 Obgleich die Sterbeszene Olivers und die Totenklage Rolands die besondere Zugehörigkeit emotional zu unterfüttern scheint,85 so ist die Beziehung doch weniger affektiv als vielmehr durch einen gemeinsamen Wertehorizont begründet, der sich aus der adligen Kriegerexistenz speist. So stellt denn auch die Klage Rolands ab auf die Kühnheit und Tapferkeit Olivers (ChdR 1983; 2029; 2207–2214; RL  v. 6432; 6437; K  v. 7405; 7898 f.), seine Unvergleichbarkeit bzw. Unersetzbarkeit (ChdR v. 1984; RL v. 6433), ihre Loyalität zueinander (ChdR v. 2030), die lange Dauer der Kampfgenossenschaft (ChdR v. 2028) und den Verlust für Frankreich und Karl durch seinen Tod (ChdR v. 1985–1987; RL v. 6440 f.; K v. 7900 f.). Beispielhaft sei hier ein Ausschnitt der Klage Rolands aus dem ‹Rolandslied› zitiert: «jâ dû aller tugente vater, wer mächte dich erstaten?» er begunde bitterlîche wainen: «scol ich nu scaiden von dem allerliebesten gesellen? dîn grôz ellen muoz ich iemer mêre clagen. ze wem scol ich nu trôst haben? diu süeze Karlinge nemac dich niemer überwinde.»  (RL v. 6432–6441)

Oliver bittet sterbend entsprechend ihrer Nähe‑Beziehung Gott, er möge Karl und Frankreich, aber insbesondere Roland schützen (ChdR  v. 2016–2018; RL  v. 6501–6510; 84

In der ‹Chanson de Roland› zeigt sich das bei der Botenbeauftragung Geneluns schon früh sehr deutlich, weil sich seine Racheansage nicht nur an Roland richtet, sondern auch an Oliver, «porço qu’il est si cumpainz.» (ChdR v. 324; ‘«weil er sein Gefährte ist.»’) Vgl. auch ChdR v. 545 f.; 558 f.; 575 f.; 585 f.; 791 f.; 902 f.; 935; 947; 963 f.; 1412; 1512 f.; 2215; 2513 f.; 3185–3187; 3754 f.; 3775 f. Der Hass Geneluns und der heidnischen Führer richtet sich gegen Roland und aufgrund der großen Vertrautheit (ChdR v. 586) gegen Oliver gleichermaßen. In der Schlacht tun sich beide durch herausragende Leistungen hervor und im Prozess gegen Genelun wird der Verrat anhand von Rolands und Olivers Tod exemplifiziert. Vgl. für das RL v. 867–874; 1859 f.; 1878; 1949; 1985–1989; 2264–2269; 3586–3591; 5521–5525; 5941–5944; 6398 f.; 7344 f. Vgl. für K v. 1477–1484; 4288–4292; 7201–7205; 7365–7367; 11008 f.; 11019 f. Die abnehmende Bedeutung Olivers (dazu unten genauer) im ‹Rolandslied› und noch mehr im ‹Karl› geht mit einer zunehmenden Bedeutung Turpins einher, die sich schon an der gemeinsamen Adressierung der beiden Freunde mit Turpin und der verhältnismäßig geringeren gemeinsamen Anrede der beiden niederschlägt. Roland wird stärker auf Karl hingeordnet, wodurch er nun öfter allein adressiert wird. Oftmals wird nur noch verallgemeinernd von Roland und sinen gesellen und ähnlichen Wendungen gesprochen, Oliver aber nicht mehr gesondert herausgehoben. 85 Vor allem die Klagegebärden wie Ohnmacht, Weinen, Händeringen suggerieren dies, die Klage ist aber in dieser Hinsicht eher topisch. Vgl. grundlegend zu Trauer- und Klagetopoi Küsters 1991.

88



2.  Konflikt und Klage: Zum Wandel mimetischen Begehrens

K  v. 7482–7497).86 Der Tod bzw. vielmehr die Totenklage erscheint wiederum als exponierter Ort, um die Verbundenheit und Intensität der Beziehung zu untermauern. Das schlägt sich auch physisch in der Ohnmacht Rolands nieder (ChdR v. 1988 f.; 2031; 2220; RL v. 6442–6446; 6752; K v. 7409–7415). Nicht zuletzt ihr gemeinsamer Tod in der Schlacht unterstreicht die kriegerische Basis der Freundschaft, die damit als Freundschaft zum Tod ähnlich derjenigen Morants und Everharts modelliert ist. Durch diese Ausrichtung auf den Tod erscheint dann auch die Totenklage âne mâze (RL  v. 6447) als retrospektives Mittel zur Untermauerung der festen triuwe‑Bande der Freundschaft geeignet. In allen drei Texten wird die körperliche Aktionsmacht durch ihre Spitzenstellung in den Kämpfen und ihre herausragende Durchschlagskraft gegen die Heiden illustriert. Auch wenn die Nachhut in der ersten Ronceval‑Schlacht untergeht, so haben die beiden doch das Heer Marsilies vernichtet und für Karl eine Ausgangsposition geschaffen, von der aus er die Heiden und ihre Verstärkung durch die Truppen Baligans endgültig schlagen und das Christentum in Spanien etablieren kann. Die körperliche Aktionsmacht der Freunde wird in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen noch zusätzlich durch ein, noch vor den beiden großen Schlachten eingeschaltetes Kampfintermezzo betont, in dem der schnelle und makellose Sieg v. a. Roland und Oliver zu verdanken ist (RL v. 839–890; K  v. 1429–1492).87 Nachdem Blanscandiz Karl das vermeintliche Friedensangebot vorgetragen hat, schildern ‹Rolandslied› und ‹Karl› einen Ausfall der Heiden aus Sarraguz. Der genaue Ablauf des Kampfes bleibt undeutlich, die entscheidende Wende wird aber mit dem Eingreifen Rolands und Olivers eingeleitet.88 Ihre autoritative Macht über einander ergibt sich wesentlich dadurch, dass beide idealtypisch eine adlige Kriegerexistenz gepaart mit unerschütterlichem christlichen Glauben repräsentieren. Roland überträgt Oliver bei der Vorbereitung der Formation für die erste Ronceval‑Schlacht die Führung über drei Scharen (RL  v. 3967 f.) und setzt hinzu, dass er sich auf Oliver verlässt: «wol trœste ich mich dîn.» (RL  v. 3969)89 Als Oliver im Kampf gegen einen Heiden seine Lanze zerstört, meint Roland, er solle als Ritter auch zu seinem Schwert greifen: «daz swert ist ain rîterlîch gewant. / ez zimt wol in iuwer hant.» (RL v. 5577 f.) Nachdem Oliver dann einem Heiden – dem Ansinnen Rolands folgend – mit seinem Schwert den Kopf gespalten hat, meint Roland anerkennend: «nu friste dir got dîn leben. / den slac scolte got selbe haben gesehen.» (RL  v. 5587 f.)90 Auch an späterer Stelle lobt Roland Oliver für seinen ehrenvollen Kampf: «dîn muoter truoc aine sælige bürde. / guot wîle, daz du geborn würde! / du hâst daz rîche hiute wol gêret.» (RL v. 5901–5903)91 Roland führt weiter aus, dass die Heiden nun sein Schwert Durndart 86

87

88

89 90 91

Die Aufwertung der Turpin‑Figur zeigt sich im ‹Karl› an vielen Änderungen im Detail. Ein Beispiel: In Olivers Gebet im ‹Karl› bittet er im gleichen Zug für Roland und Turpin um Schutz, während in der ‹Chanson de Roland› und im ‹Rolandslied› nur von Roland die Rede ist. Ohly 1995, S. 55, meint, dass Karls Vertrauen in die Heiden angesichts dieses Zwischenspiels fragwürdig werde. Wichtiger scheint mir, dass die Durchschlagskraft von Roland und Oliver noch vor dem Eintritt in die Beratungen über das heidnische Angebot und noch lange vor Eintritt in die erste Ronceval‑Schlacht unzweifelhaft herausgestellt wird. Beide Texte schildern vorher sehr allgemein den Kampf (RL v. 839–866; K v. 1429–1476), aber erst mit dem Auftauchen Rolands und Olivers können die Heiden auf die Brücke und dann bis zum Stadttor zurückgedrängt werden. Die Christen können schließlich in die Stadt eindringen und den Heiden große Verluste beibringen. Die Szene gibt es in der ‹Chanson de Roland› nicht. Die vergleichbare Szene findet sich in der ‹Chanson de Roland› in den Laissen 106 f. Ähnlich lobend äußert sich Roland in der ‹Chanson de Roland›, nachdem Oliver den Tod des Angelier gerächt

89

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

kennenlernen sollen, nachdem sie bereits Alteclere, Olivers Schwert, kräftig zu spüren bekommen haben (RL v. 5904–5914).92 Angesichts der großen Verluste erhebt Roland in der ‹Chanson de Roland› eine Klage, dass er daran gescheitert ist, die Krieger Karls zu beschützen. Am Ende wendet er sich zu Oliver und schwört sich selbst wie ihm: «Oliver, frere, vos ne dei jo faillir.» (ChdR v. 1866; ‘«Olivier, Bruder, Euch darf ich nicht im Stich lassen.»’) An diesen Stellen wird deutlich, dass beide einander Vorbild im Kampf sind und den Erwartungen des jeweils anderen entsprechen wollen. Die autoritative Macht der beiden Freunde über Karl und sein Heer wird vom Erzähler schon bei der Vorstellung der 12 Pairs deutlich, in der er Roland und Oliver als erstes nennt (RL v. 109 f.) und ihre Vorrangstellung selbst unter den engsten Beratern Karls nochmals herauskehrt. So treffen dann auch alle lobenden Kommentare des Erzählers zu den Pairs in besonderem Maß auf Roland und Oliver zu:93 Sie sind Karls Vorkämpfer, begehren den Märtyrertod, weichen nicht von Karls Seite, sind unzertrennlich und stehen füreinander ein. Roland trägt die toten Pairs sogar auf dem Schlachtfeld zusammen, damit sie auch noch im Tod vereint sind (RL  v. 6731–6738; K  v. 7883–7889).94 Dieses Vorbild entfaltet seine Strahlkraft gegenüber dem Heer, das vom Erzähler des Konrad’schen Textes als geschlossene Einheit, zumal unter Verweis auf den Psalmisten David dargestellt wird (RL v. 3450–3464; 4738–4741; 5779–5784; K v. 4079–4122): ain zuoversicht unt ain minne, ain geloube unt ain gedinge, ain triuwe was in allen. ir nehain entwaich dem anderen. in was allen ain wârhait. des fröut sich elliu die christenhait.  (RL v. 3459–3464)

Daher kann Turpin auch problemlos die Hilfe des Heeres für Oliver und Roland mobilisieren, als er diese von Heiden umzingelt sieht (RL v. 5517–5525). Auch bei der Beratung der Fürsten zum vermeintlichen Friedensangebot Marsilies wird Rolands und Olivers autoritative Macht deutlich. Nachdem Karl bei der Verkündung der Botschaft durch Blanscandiz wohl Hoffnung geschöpft hatte (RL  v. 801–838), so lassen der Rat und allen voran Roland und Oliver mehr Misstrauen walten und erwirken so, dass zunächst ein Bote den Wahrheitsgehalt der Nachricht prüfe. Roland (RL v. 911–936; K  v. 1527–1568) und Oliver (RL  v. 937–968; K  v. 1569–1602) sind bezeichnenderweise die ersten, die sich im Rat zu Wort melden, Roland springt regelrecht auf (RL v. 911).95 Beide vermuten eine List, sehen die errungenen Kampferfolge beim Abzug der Truppen

92

93 94

95

90

hat: «Mis cumpainz est irez! / Encuntre mei fait asez a preiser. / Pur itels colps nos ad Charles plus cher.» (ChdR  v. 1558–1560; ‘«Mein Gefährte ist zornig! / Ganz wie mir gebührt ihm großes Lob. / Wegen solcher Schläge schätzt Karl uns um so mehr.»’) Entfernt vergleichbar ist die Szene mit den Versen 1462–1466 der ‹Chanson  de  Roland›, in denen Roland meint, er werde mit Durndart und Oliver mit Alteclere in den Kampf ziehen. Er erinnert daran, dass sie mit diesen Schwertern schon viele Schlachten geschlagen haben und man kein «Male chançun» (ChdR  v. 1466; ‘«Spottlied»’) über sie singen werde. Vgl. ChdR v. 826–828; 858 f.; 1415; 1510–1514; RL v. 71 f.; 80–82; 130–132; 141 f.; 226 f.; 239–242; 2445–2449; K v. 479–524; 6050–6058; 6732–6738. Vergleichbares fehlt in der ‹Chanson de Roland›. In der ‹Chanson  de  Roland› spricht zwar nur Roland im Fürstenrat (ChdR  L. 14), dies aber wohl, um den Kontrast zu Geneluns Gegenrede in der darauffolgenden Laisse stärker herauszustellen.



2.  Konflikt und Klage: Zum Wandel mimetischen Begehrens

gefährdet und plädieren für die schonungslose Fortführung des Kampfes im Vertrauen auf Gott. Weitere Fürsten schließen sich dem im Grundsatz an, zu einer weiteren Beratung und Planänderung scheint es nur aufgrund von Geneluns Gegenrede zu kommen. Roland und Oliver zeichnen sich durch eine skeptische Einschätzung der Lage und außerordentliche Todesbereitschaft aus.96 Während die bisher besprochenen Szenen den Akzent auf die Einmütigkeit der Freunde durch gegenseitige Vorbildwirkung und damit auf positive Effekte ihres Begehrens legen, zeitigt ihr beidseitiges Streben nach kriegerischer Bewährung durchaus auch prekäre Interaktionsmuster unter Gleichrangigen. Das soll hier zunächst nur an einer Szene exemplifiziert werden, in der die ambivalente Verschränkung ihres Begehrens besonders sinnfällig wird, nämlich im angedeuteten Motiv des Kampfes gegen den Freund. Als Oliver blutverschmiert, todwund und blind noch einmal in die Schlacht zieht, schlägt er Roland versehentlich auf den Kopf (ChdR  L. 149; RL  v. 6462–6488; K  v. 7441–7470). Die mit Roland vergleichbare Kampfkraft Olivers wird symbolisch darin evident, dass Oliver damit der einzige erfolgreiche Schlag auf Rolands Helm Venerant in der gesamten Geschichte gelingt. Im ‹Rolandslied› und ‹Karl› wird dieser Effekt noch durch eine apotropäische Helminschrift verstärkt, von der vorher berichtet wurde: «elliu werlt wâfen, die müezen mich maget lâzen. wilt du mich gewinnen, du füerest scaden hinnen.»  (RL v. 3297–3300; auch in K v. 3985–3988)

Freilich verzeiht Roland Oliver, es wird aber deutlich, dass sich Oliver und so später auch Roland bis zuletzt zum Handeln nach kriegerischen Idealen verpflichtet fühlen. Die Lesart einer konfliktanfälligen Harmonie zwischen Roland und Oliver kann man mit Blick auf die weiteren Differenzierungen Girards beim mimetischen Begehren stärker präzisieren. Girard unterscheidet beim triangulären Begehren wiederum zwei Beziehungsmodi je nach Nähe bzw. Distanz von Subjekt und Mittler.97 Bei der sog. externen Vermittlung ist die Distanz zwischen Mittler und Subjekt groß, weil sich deren Möglichkeitssphären nicht berühren, etwa weil das Vorbild außerhalb der fiktiven Welt des literarischen Subjekts zu verorten ist. Hier kann die Nachahmung vorbehaltlos eingestanden werden und das Subjekt sein Vorbild offen verehren. Beim internen Begehren ist die Distanz zwischen Mittler und Subjekt gering, sodass sich deren Möglichkeitssphären mehr oder weniger überschneiden und damit Widerstreit des Begehrens ermöglichen. Dieses kann sich in Form von Eifersucht, Neid und Hass äußern, weil der Mittler zugleich Vorbild und Hindernis auf dem Weg zum Objekt ist.98 «Nur wer uns daran hindert, ein Begehren zu befriedigen, das er selbst in uns geweckt hat, ist wirklich Objekt des Hasses.»99 Girard spricht entsprechend auch von konfliktueller Mimesis.100 Das Subjekt gesteht die Nachahmung nicht ein, sondern sucht sie zu vertuschen, da die Hinwendung  96 Vgl.

Clark 1986, S. 6. Girard 1999 [1961], S. 17–21.  98 Kraẞ 2005 erklärt den im 53. Kapitel von Sebastian Brants ‹Narrenschiff› beschriebenen Neider als Effekt triangulären Begehrens.  99 Girard 1999 [1961], S. 20. In der Folge gibt es «keine Liebe mehr ohne Eifersucht, keine Freundschaft ohne Neid, keine Anziehung ohne Abstoßung», sondern nur noch «haßerfüllte Faszination» (beides S. 49). 100 Girard 2006 [1972], S. 274.  97 Vgl.

91

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

zum Objekt eigentlich eine Hinwendung zum Mittler ist. Die Rivalität steigert dabei das Ansehen des Mittlers und verstärkt die Bindung des Objekts an den Mittler. Die Freundschaft von Roland und Oliver trianguliert auf die Vorstellung von einem Kriegerethos, d. h. sie folgt der Logik der von Girard als interne Vermittlung beschriebenen Mimetik des Begehrens, wobei die Positionen von Subjekt und Mittler wechseln können aufgrund der Gleichheit der Figuren. Das Begehren verschränkt Roland und Oliver in einer triangulären sozialen Situation, intensiviert ihr eigenes Begehren nacheinander und damit ihre Beziehung. Dieser Verstärkereffekt äußert sich als Konkurrenz, im Extremfall im Kampf gegen den Freund wie in der oben skizzierten Szene. Hasebrink, der die Logik dieser Beziehungsform im Artusroman anhand von Erecs Kampf gegen Guivreiz nachzeichnet, spricht davon, dass die «Performativität des Kampfes die Gleichrangigkeit der Kämpfer als Bedingung ihrer Freundschaft inszeniert.»101 Es handle sich –  so Hasebrink – um einen «paradoxe[n] Versuch einer symmetrischen Konstruktion, de[m] Entwurf einer Freundschaft zwischen offener Agonalität und latentem Begehren.»102 Mit den Überlegungen Girards kann man noch präzisieren, dass die Rivalität das Ansehen des Mittlers Roland sogar steigert und die Bindung Olivers an ihn verstärkt. Der Mittler Roland ist Vorbild und Hindernis zugleich. In der übersteigerten Form interner Vermittlung, die sich hier als Kampf präsentiert, verschiebt sich das Interesse vom Objekt hin zum Mittler selbst.103 Hasebrink fasst das für den ‹Erec› wie folgt zusammen: Der Kampf ist kein Einwand gegen die Freundschaft, nicht ihre Gefährdung, sondern ihre erste und vielleicht privilegierte Vollzugsform. Die latente Agonalität der Freundschaft kommt in dieser kulturellen Konstellation im offenen Streit, in der körperlichen Berührung mit der manheit des anderen zum Ausdruck. Zudem ist das Verhältnis reziprok: Erst da, wo der andere dem Gegner seine manheit in ganzer Wucht entgegenhält, vermag dieser sich in seiner eigenen manheit wahrzunehmen. Der Widerstand des einen aktiviert die Kräfte des anderen. […] Der Text inszeniert […] das Begehren nach der manheit des anderen, einem Habitus, wie er in der Kampfkraft des anderen eingeschrieben und in der Gewalt als vielleicht intensivster Form körperlicher Präsenz umgesetzt ist.104

Inwiefern sich dies auf die Texte des Roland‑Stoffs übertragen lässt, soll nun noch an weiteren Szenen präzisiert werden. Hierbei soll ein signifikanter Wandel der Begehrensstrukturen in den drei Texten im Fokus stehen. Die konfliktaffine Anlage der Freundschaft von Roland und Oliver ist keineswegs in allen drei Texten durchgehalten. In der ‹Chanson de Roland› zeigt sich die Ambivalenz aufgrund identischen Begehrens und sehr geringer Distanz zwischen Subjekt und Mittler am deutlichsten. Im ‹Rolandslied› und ‹Karl› ist die Subjekt‑Mittler‑Distanz größer, weil Roland stärker sakralisiert und Oliver eher marginalisiert wird. Die Überschneidungsmenge des Begehrens wird so geringer, wodurch der Mimetismus nicht in Feindseligkeit umschlägt, sondern ostentativ Einmütigkeit ausgestellt wird. 101

Hasebrink 2009, S. 1, unter Rückgriff auf Sedgwicks Modell. Schon Mindnich 2003 wendet die Denkfigur homosozialen Begehrens analytisch auf das Figurendreieck Demantin, Firganant und Beamunt im höfischen Roman ‹Demantin› Bertholds von Holle an. Die über Beamunt vermittelte Männerfreundschaft wird im ritterlichen Zweikampf aufgenommen, wobei das Königtum Firganants und das Rittertum Demantins hiervon profitierten. 102 Hasebrink 2009, S. 3. 103 Vgl. Girard 1999 [1961], S. 52 und 55. Mit dem Näherrücken des Mittlers in der internen Vermittlung nimmt dessen Rolle zu, während jene des Objekts abnimmt. 104 Hasebrink 2009, S. 6.

92



2.  Konflikt und Klage: Zum Wandel mimetischen Begehrens

Der Wandel der Begehrensstrukturen im Vergleich der drei Texte untereinander hängt mit konzeptionellen Änderungen in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen zusammen. Die Freundschaftsdarstellung von Roland und Oliver wandelt sich in Abhängigkeit von der Gesamtanlage des Textes und damit verbunden mit seinem übergeordneten Aussagegehalt. So beobachtet Matthias Meyer ganz richtig, dass der programmatische Kontrast zwischen dem ‹Draufgänger› Roland und dem ‹Pragmatiker› Oliver aus der ‹Chanson de Roland› im ‹Rolandslied› und noch stärker im ‹Karl› zurückgenommen wird. Die mittelhochdeutschen Bearbeitungen nehmen die inhärente Brüchigkeit der Beziehung derart zurück, dass Konfliktpotenziale kaum mehr aufbrechen, wenngleich die Differenzen im Kern bestehen bleiben. Parallel dazu nimmt Olivers Bedeutung im ‹Rolandslied› und v. a. im ‹Karl› als Rolands Opponent und daher auch seine narrative Präsenz stark ab. Der Grund hierfür liegt in zwei miteinander verbundenen konzeptionellen Änderungen: (1) Die extreme Betonung der religiösen Dimension des Kampfes, seine Anlage als Kreuzzug von göttlicher Provenienz verlangt nach relativer Einigkeit innerhalb des christlichen Lagers. Das führt auch zur Harmonisierung der Roland‑Oliver‑Beziehung und drückt sich als Idealisierung ihres Gottesstreitertums aus. Lienert fasst dies zusammen: Die Zentrierung auf den Gottesstreiter hat […] eine Nivellierung der Heldentypen zur Folge: Alle sind sie gotes recken. Im Gottesstreiter fallen der kluge Olivier und der tapfere Roland –  in der ‹Chanson  de  Roland› Vertreter archetypisch gegensätzlicher Heldenmuster […]  – fast ununterscheidbar zusammen, und selbst der wehrhafte Erzbischof Turpin unterscheidet sich nicht viel von seinen nicht‑klerikalen Mitstreitern.105

(2) Durch das Zurückdrängen der innerfeudalen Problematik und die Betonung der religiösen, ja heilsgeschichtlichen Komponente des Kampfes wird Karls Stellung als rex christianus zentral, der schließlich im ‹Karl› eindeutig zum Heiligen erhoben wird.106 Folglich wird auch Karls Freundschaft zu Roland, der zunehmend als Vasall Gottes agiert und in Analogie zu Christus stirbt, wesentlich aufgewertet. Daher rührt auch der Aufstieg der Turpin‑Figur, der den ideologischen Hintergrund im ‹Rolandslied› und v. a. im ‹Karl› präsent hält. An diesem ‹Umbau› der Freundschaftsbeziehung, der im Folgenden an einigen Beispielen erläutert werden soll, zeigt sich, dass soziale Symmetrie der Freunde Roland‑Oliver und die Symmetrie der narrativen Darstellung nicht kongruent sein müssen. In dem Maße, wie die beiden genannten Faktoren intensiviert werden, wird die Distanz der internen Vermittlung des Begehrens zwischen Roland und Oliver größer, ihre Freundschaft damit weniger konfliktanfällig. Durch die religiöse Stoßrichtung der mittelhochdeutschen Bearbeitungen gewinnt ihre Beziehung die entproblematisierende Tendenz zur externen Vermittlung über die Instanz Gottes – eine Konstellation, die maßgeblich für die Freundschaft Roland‑Karl ist (s. u.), die parallel dazu aufgewertet wird. Durch die forcierte religiöse Codierung Karls als auch Rolands werden die Figuren einander untrennbar zugeordnet, ihre Freundschaft wird gegenüber derjenigen von Roland mit Oliver zentral gestellt. Der Wandel in den Begehrensstrukturen im Vergleich der drei Texte soll nun an einigen Szenen nachgezeichnet werden. Die Tendenz zur Milderung der Konfliktanfälligkeit der Freundschaft Roland‑Oliver kann man sehr deutlich an der bereits skizzierten Szene, in der Oliver Roland auf den Kopf schlägt, ablesen. Die Szene zeigt im Grund105

106

Lienert 2005, S. 93. Für den ‹Karl› hat Ukena‑Best 2000 das hervorragend herausgearbeitet. So auch Bastert 2010, S. 273–292.

93

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

satz zunächst deutlich, wie die Spannung des triangulären Begehrens im Kampf gegeneinander ausagiert wird, während die Details den dargelegten Wandel illustrieren. In der ‹Chanson  de  Roland› wird genau beschrieben, wie Oliver den Helm Rolands von der Spitze bis zum Naseneisen spaltet (ChdR v. 1995 f.) und wie Roland ihn fragt, ob er dies willentlich getan habe – zumal vor dem Hintergrund, dass er ihn nicht zum Kampf herausgefordert habe (ChdR v. 2000–2002). Im ‹Rolandslied› wird die Drastik der Szene durch den Wegfall der Beschreibung des gespalteten Helms gemildert, wenngleich die Tötungsabsicht und damit die grundsätzliche Agonalität ihrer Beziehung offensiv in ­ den Fragen Rolands mitklingt: «hâstuz gerne getân? / warumbe woltestu mich erslân?» (RL  v. 6476 f.) Im ‹Karl› erschrickt Roland lediglich angesichts des Schlages (K  v. 7452) und eine etwaige Rachehandlung unterbleibt durch eine zuvorkommende Frage Olivers (K v. 7453–7457). Ein verbaler Gegenschlag Rolands wie in den anderen beiden Versionen fehlt gänzlich.107 In der Szene der Bestellung des Boten, der den Wahrheitsgehalt von Marsilies Friedensangebot prüfen soll, meldet sich zunächst Roland und dann Oliver freiwillig. Beide werden von Karl abgelehnt. Innerhalb der drei Texte findet dabei eine kleine, aber entscheidende Akzentuierung statt. Nach der freiwilligen Botenmeldung Rolands schaltet sich in der ‹Chanson de Roland› noch vor Karl direkt Oliver ein und weist Rolands Angebot harsch ab mit der Begründung «Vostre curages est mult pesmes e fiers: / Jo me crendreie que vos vos meslisez.» (ChdR  v. 256 f.; ‘«Euer Herz ist sehr hochfahrend und stolz: / Ich würde fürchten, daß ihr in Streit geratet.»’) Im ‹Rolandslied› wird diese verbale Attacke Olivers und Ausdruck seines intern vermittelten Begehrens, das großes Konfliktpotenzial verrät, nicht nur getilgt, sondern die Begründung für die Ablehnung Karl in den Mund gelegt, der sowohl gegenüber dem Einsatz Rolands wie Olivers Bedenken hat: «du [d. i. Oliver] bist ze gæhe mit der rede, / unde Ruolant, mîn neve, / mit zornlîchen worten.» (RL v. 1326–1328) Wird im ‹Rolandslied› noch graduell zwischen Oliver und Roland differenziert –  Oliver greift nach verbalen zu Mitteln der Gewalt, Rolands heldischer Zorn ist unkontrollierbar – so wird im ‹Karl› auch noch dieser Unterschied eingeebnet. In Handschrift C des ‹Karl› kommentiert Karl weder Rolands noch Olivers Angebot, in der Handschriftengruppe HKR begründet er seine Ablehnung der beiden als Boten mit: «dir [d. i. Oliver] und Ruolande / ist mit der rede ein teil ze gâch. / gehœret ir deheinen schâch, / ir zestœret schiere michel êre.» (K v. 1928–1931)108 In der ersten Hornstoßszene der ‹Chanson de Roland› wird in drei aufeinanderfolgenden laisses similaires109 (ChdR  L. 83–85) von Oliver die Aufforderung zum Hornstoß vorgebracht und von Roland mit verschiedenen Argumenten abgewiesen. Roland will selbst 107

Cordes 2017a, S. 312 f., untersucht die Szene in allen drei Texten unter dem Aspekt des Wiedererkennens der Freunde und kommt zu Ergebnissen, die meine Lesart stützen: In der ‹Chanson de Roland› nennt Roland Oliver seinen Namen (ChdR v. 2001), während Oliver Roland im ‹Rolandslied› allein am Klang seiner Stimme identifizieren muss und kann (RL v. 6475–6484). Fokussiert werde so in der mittelhochdeutschen Bearbeitung die besondere Nähe der beiden Freunde. Im ‹Karl› ist es nun Roland, der Oliver allein an der Stimme erkennen kann (K v. 7449–7465), wodurch folglich Roland stärker herausgehoben wird. 108 Ich folge an dieser Stelle ausnahmsweise der Verszählung der Edition von Bartsch 1857, da Singer 2016 diesen Textteil aufgrund seines auf C basierenden Textes nicht verzeichnet, den HKR‑Text allerdings mit der Zählung Bartschs im Apparat (S. 55) aufnimmt. 109 In laisses similaires wird durch Wiederholung oder Variation eines Sachverhalts oder Themas die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf eine besonders bedeutsame Stelle gelenkt und die Spannung erhöht. Vgl. Bauschke 1995, S. 4, die auch eine Übersicht derjenigen Stellen aus der ‹Chanson de Roland› bietet (S. 5), in denen diese Erzähltechnik Anwendung findet.

94



2.  Konflikt und Klage: Zum Wandel mimetischen Begehrens

keinen Ansehensverlust, den der Hornstoß mit sich brächte, erleiden (ChdR  v. 1053 f.) und jenen auch für seine Familie (ChdR v. 1063) und ganz Frankreich (ChdR v. 1064) vermeiden. Als Oliver noch einmal mit der Übermacht des heidnischen Heeres argumentiert (ChdR  v. 1083–1087), bekräftigt Roland den Aspekt des Ansehensverlusts für ihn selbst und Frankreich (ChdR v. 1089–1091). Gerahmt wird die Szene durch weitere konfrontative Elemente. So verweist Oliver darauf, dass der Verräter Genelun an der Situation schuld sei, was Roland zumindest in einer der laisses similaires scharf damit kommentiert, dass Oliver nie Schlechtes über seinen Stiefvater sagen dürfe (ChdR v. 1026 f.). Im Nachgang bringt Roland Oliver endlich zum Schweigen mit dem Kommentar «Ne dites tel ultrage!» (ChdR v. 1106; ‘«Redet nicht solchen Unsinn.»’) bzw. «nel dire ja!» (ChdR v. 1113; ‘«redet nie mehr so!»’) Der Erzähler betont in seinem Kommentar zur Szene Einheit und Differenz der Freunde und damit das Kippmoment des Begehrens: Rollant est proz e Oliver est sage; / Ambedui unt merveillus vasselage. (ChdR v. 1093 f.; ‘Roland ist tapfer und Olivier ist klug. / Beide sind sie von vollendeter Ritterlichkeit.’) Mit Oliver und Roland stehen sich in der ‹Chanson de Roland› sapietia und fortitudo gegenüber. Im ‹Rolandslied› und ‹Karl› wird die Szene durch verschiedene Mittel entschärft. So findet sich keine dreifache Wiederholung der Hornrufbitte, die die Uneinigkeit der Freunde perpetuiert. Oliver bittet in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen lediglich einmal um den Hornstoß und kommt –  anders als in der ‹Chanson  de  Roland›  – nach Rolands abschlägiger Antwort nicht mehr zu Wort (RL  v. 3845–3898; K  v. 4646–4720). Stattdessen schließt sich direkt die religiöse Vorbereitung des Christenheers durch Turpin an (RL  v. 3899–3940; K  v. 4721–4760), gerade so als ob es andere Optionen als die des Kampfes gar nicht gäbe. Die Szene wird damit im Sinne eines epischen Kommentars vereindeutigt, der Wortwechsel zwischen Roland und Oliver gewissermaßen überschrieben. Von einem Disput zwischen Roland und Oliver kann auch keine Rede mehr sein. Oliver argumentiert in seinem kurzen Redeanteil, Roland solle das Horn Alda, Rolands Verlobter und Olivers Schwester, zu liebe blasen und damit zugleich viele gute Vasallen retten (RL  v. 3868 f.; K  v. 4674–4679). In Rolands ungleich längerer Entgegnung dominieren religiöse Argumente (RL  v. 3871–3898; K  v. 4683–4720).110 Roland stellt den Ausgang der Schlacht Gott anheim –  dagegen kann man schlechterdings nichts mehr einwenden und so verstummt Oliver denn auch in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen. Dies zumal Roland damit eine Position vertritt, die Oliver unmittelbar im Vorfeld der Hornstoßbitte in einer kurzen Ansprache an das Heer selbst formuliert hat (RL v. 3848–3863; K v. 4648–4667). Oliver lobt Gott für den bevorstehenden Kampf und schwört das Heer darauf ein, dass man auf himmlische Hilfe gegen die Übermacht der Heiden vertrauen könne.111 110 Roland

argumentiert zunächst, dass die Heiden gar nicht so zahlreich seien und Masse nicht mit Stärke gleichzusetzen sei. Der Kampf biete zudem die Option des Martyriums und damit die Möglichkeit, das ewige Leben zu erringen und sich vor Gott als würdig zu erweisen. Der Kampf sei damit Gottesdienst, gegen den materieller Lohn verblasse. Die Heiden könnten zudem die Christen für feige oder der Hilfe bedürftig halten. Zuletzt bekräftigt Roland sein Vertrauen in Gott und die Stärke Durndarts. Brinker-von der Heyde 2005, S. 12, sieht in Rolands Antwort nicht nur eine Absage an Oliver, sondern auch einen Bezug zur vorher geschilderten Schlachtvorbereitung der Heiden. Roland antworte auf den Hochmut der Heiden mit göttlicher Gewissheit. 111 Eine vergleichbare Ansprache an das Heer hält Oliver in der ‹Chanson de Roland› bezeichnenderweise erst nach dem ersten Hornstoßdisput mit Roland. Die Rede beinhaltet aber nur sehr allgemein die Aufforderung, sich auf dem Schlachtfeld gegen die Heiden zu behaupten (ChdR v. 1170–1179).

95

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

Hier zeigt sich die Tendenz zur Umformung des intern vermittelten Begehrens hin zu externem, über Gott vermitteltem Begehren, das die Konkurrenzsituation einebnet. Der Standpunkt Olivers differiert damit von demjenigen Rolands höchstens noch graduell, im Grundsatz haben sie aber die gleiche Sicht auf den Heidenkampf. Beide sind milites Dei, während Oliver die Verluste aber einzudämmen versucht, folgt Roland einer ausgeprägten Martyriumsfreude.112 Überspitzt formuliert: Aus dem tollkühnen, v. a. auf Ehre und Nachruhm bedachten Roland der ‹Chanson› ist der fromme Roland in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen geworden.113 Im ‹Karl› erfolgt nach Turpins religiöser Anfeuerungsrede noch eine Bekräftigung des Kampfes durch einen Engelsboten, wodurch die von Turpin erteilte Absolution von Gott selbst garantiert wird (K v. 4762–4766). Die von Oliver angedachte Option der Dezimierung der Verluste ist damit gewissermaßen letztinstanzlich durch Gott selbst abgewiesen.114 Im zweiten Disput um den Hornstoß ist nun Roland in der ‹Chanson de Roland› mit Blick auf die großen Verluste von Vasallen bereit, das Horn zu blasen und Karl zurückzuholen (ChdR  v. 1702–1704; 1713 f.). Oliver allerdings quittiert das als große Schande für die Familie (ChdR v. 1705–1707) und unritterliche Tat (ChdR v. 1716) und droht, ihm Alda im (unwahrscheinlichen) Falle des Überlebens zu entziehen (ChdR v. 1719–1721).115 Schließlich weist er Roland explizit die Schuld an der Katastrophe zu und führt dies auf Rolands «folie» (ChdR  v. 1724; ‘«Torheit»’), «estultie» (ChdR  v. 1725; ‘«Tollkühnheit»’) und «legerie» (ChdR v. 1726; ‘«Leichtfertigkeit»’) zurück, die er kontrastiert mit «vasselage par sens» (ChdR  v. 1724; ‘«vernunftgemäßes Rittertum»’) und «mesure» (ChdR  v. 1725; ‘«Maß»’), die er damit als seine eigene Position ausweist.116 Markiert Oliver dergestalt noch einmal die Differenz der beiden Freunde, so rät Turpin anschließend zum Hornstoß, weil sie so Rache nehmen und angemessen für die Toten sorgen können (ChdR L. 132). Turpin bezieht damit Stellung für Rolands Position. Im ‹Rolandslied› und ‹Karl› ist der Konflikt der zweiten Hornstoßszene in seiner verbalen Präsentation abermals gemildert. Aus der doppelten Ankündigung des Hornstoßes durch Roland und der zweifachen Gegenrede Olivers in der ‹Chanson  de  Roland› wird wiederum eine Szene, bei der beide Redeanteile gegeneinander stehen, ohne dass ein wirklicher Disput mit Wechselrede zu erkennen ist. Im ‹Rolandslied› beklagt Roland, dass ein 112 Vgl.

Buschinger 1996, S. 72. Lienert 2005, S. 93 f. 114 Ich würde gegen Meyer 2003, S. 45, nicht davon sprechen, dass Olivers Position damit «implizit verteufelt» wird. Dass Turpin parallel zur Marginalisierung Olivers im ‹Rolandslied› und stärker noch im ‹Karl› aufgewertet wird, bedürfte gesonderter Betrachtung. Symptomatisch hierfür ist beispielsweise die Tatsache, dass der sterbende Oliver im ‹Karl› Turpin selbst als seinen Nachfolger in einer Rede gegenüber Roland einsetzt: «huete sin, als tů er din.» (K  v. 7425) Eine entsprechende Szene fehlt in der ‹Chanson  de  Roland› wie im ‹Rolandslied›. Deutlich wird dies auch in der stärkeren Schilderung von Turpins Kampfestaten, wodurch er vom Erzähler an einigen Stellen in einem Zug mit Roland und Oliver genannt wird (etwa K  v. 7201–7205; 7365–7367). Im ‹Karl› bittet der sterbende Oliver von Gott nicht nur Schutz für Karl und Roland, sondern auch für Turpin (K v. 7471–7508). Wie Brinker-von der Heyde 2005, S. 5, feststellt, erhalten im ‹Rolandslied› nur wichtige Figuren Redeanteile während der die Kämpfe begleitenden Redeschlachten. So erhalten Roland (RL v. 4017–4056), Oliver (RL v. 4217–4272) und Turpin (RL v. 4371–4420) gesonderte Szenen mit Reizreden gegen Adalrot, Falsaron und Cursabile und anschließender Schilderung des Kampfes der eigenen Schar. Vgl. Brinker-von der Heyde 2005, S. 18 f. 115 Auch diese Wechselrede ist mittels laisses similaires gestaltet, was die hohe Bedeutsamkeit der Szene signalisiert. 116 Der Schuldvorwurf Olivers kann als Hinweis auf Rolands hybris und Selbstüberschätzung gelesen werden. Vgl. Gerok-Reiter 2007, S. 134. 113 Vgl.

96



2.  Konflikt und Klage: Zum Wandel mimetischen Begehrens

Bote Karl zu einem früheren Zeitpunkt hätte zurückholen können (RL v. 6002–6004) und lenkt damit implizit auf Olivers Standpunkt ein. Im ‹Karl› bedauert Roland dann explizit, nicht auf Oliver gehört zu haben und bittet ihn um Rat (K  v. 6895–6910). Roland setzt hinzu, er wolle gern selbst sterben, wenn Oliver den Sieg davontrüge.117 «Owe trut geselle min! min sele můz immer trůrech sin, daz ich dinen rat hiute ueber gie. nů volgete ich dir, wesse ich wie. […] chundestů nů geraten iht, des wære zit unde not. ich wolte gerne ligen tot, daz ir den sich næmet und lebende hinnen quæmet.»  (K v. 6895–6910)

Im ‹Rolandslied› und ‹Karl› erfolgt zwar auch eine Schuldzuweisung Olivers gegenüber Roland (RL v. 6025 f.; K v. 6917 f.), allerdings ohne Hinweis auf die Differenz betonende Erläuterung zu Rolands Tollkühnheit. Tatsächlich wird Roland in dieser Szene in den beiden mittelhochdeutschen Texten auch als demütig gezeigt, sodass weiteres Opponieren nicht nötig ist. Die beiden Hornstoßszenen sind erhalten und Oliver bleibt auch in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen nach wie vor die einzige Figur, die eine Opposition in Bezug auf Roland formuliert. Von einer tiefer greifenden Differenz kann allerdings nicht mehr gesprochen werden. Dem Disput ist die Heftigkeit und Sprengkraft im Sinne interner Vermittlung mimetischen Begehrens genommen. Rolands religiöse Argumentation macht seine Position sakrosankt, sodass Olivers Einwände, die sich aus einer weltlichen Sphäre speisen, schlicht versiegen (müssen). Selbst an eher unbedeutenden Szenen zeigt sich die Hintanstellung Olivers in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen. Nachdem Karl auf das Schlachtfeld zurückgekehrt ist und man sich für die Schlacht gegen Baligan rüstet, ernennt Karl in der ‹Chanson de Roland› Rabel und Guinemant zu den Nachfolgern Rolands und Olivers. Einer von beiden erhält das Schwert Durndart, der andere das Horn Olifant (ChdR  v. 3014–3017). Damit wird die Einheit des Kriegerpaares, die immer wieder ins Wanken geriet, symbolisch wiederhergestellt und über den Tod hinaus verdauert.118 Im ‹Rolandslied› und im ‹Karl› jedoch werden Rapote und Wineman als Nachfolger allein Rolands präsentiert (RL v. 7765–7778; K v. 8968–8996). Nicht nur wird Oliver getilgt, sondern es braucht nun gleich zwei Männer – im ‹Karl› sogar zwei Brüder Karls –, um Roland zu ersetzen.119 Dass die verhältnismäßige Marginalisierung der Oliver‑Figur weniger durch schlichtes Tilgen wie in der Rapote‑Wineman‑Episode, sondern vielmehr durch Angleichung an die Position Rolands durch die tendenzielle Umstellung des mimetischen Begehrens auf externe Vermittlung vollzogen wird, konnte man an der Szene der Botenbestellung wie 117

Ohly 1995, S. 64, wertet dies nicht als Schuldbekenntnis Rolands. Ich würde hinzusetzen, dass die Schuldfrage, die sich noch in der ‹Chanson de Roland› stellte, angesichts der Überantwortung des Schlachtausgangs an die göttliche Providenz nivelliert ist. 118 Vgl. Mühlherr 2014, S. 264. 119 Im ‹Karl› sind Rapote und Wineman Karls Halbbrüder, die ihn in der Jugendvorgeschichte zunächst verraten (K v. 158–167), mit denen er sich dann aber versöhnt (K v. 254–264).

97

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

den beiden Hornstoßszenen bei Betrachtung der Reihe ‹Chanson de Roland›, ‹Rolandslied›, ‹Karl› sehen. In diese Gestaltungspraxis reiht sich auch die Sterbeszene Olivers ein.120 Der Tod Olivers wird im ‹Rolandslied› und noch stärker im ‹Karl› an den martyriologisch gefärbten Tod Rolands assimiliert. Dieses allseitige Sterben im Zeichen der Heiligkeit und des Märtyrertodes zeitigt den paradoxen Effekt, dass eine allgemeine Idealisierung eher als Zeichen des Bedeutungsverlusts Olivers gelesen werden kann. Denn nicht nur Olivers, sondern auch Turpins Sterben wird analog zum Tod Rolands gestaltet. In der ‹Chanson de Roland› erfährt man lediglich, dass Oliver sich auf die Erde legt und betend stirbt (ChdR v. 2010–2020).121 Im ‹Rolandslied› legt Oliver sich criuzestal (RL v. 6493) bzw. chriuce wis (K v. 7474), also in imitatio Christi, zum Gebet nieder, nach seinem Tod geht ein gleißendes Licht von seinem Körper aus. da wart ein glast, do er starp, liehter danne der sunnen schin. dar inne wart diu sele sin gefueret vil vroeliche in daz grozze gotes riche.  (K v. 7504–7508; auch in RL v. 6521 f.)

Der Erzähler des ‹Rolandsliedes› kommentiert, dass man angesichts dieses Mysteriums nur schweigen könne (RL v. 6523–6527). Die Zeichnung Olivers als gottgefälliger Märtyrer geht im ‹Karl› sogar soweit, dass Olivers Körper bei seinen letzten Worten von 100 heidnischen Lanzen durchbohrt wird, bevor seine Seele in Gottes Reich geführt wird. do stach diu heidenissche diet wol hundert spiezze durh in. da enpfiench sin sele den gewin, dar nach der lip mit triwen warp.  (K v. 7500–7503)

Diese vordergründige Aufwertung der Sterbeszene Olivers wird allerdings arg dadurch relativiert, dass auch das Sterben Turpins durch Engelsboten im ‹Rolandslied› begleitet wird (RL  v. 6764–6770), das in der ‹Chanson  de  Roland› noch ganz ohne wunderbare Zeichen auskam (ChdR L. 166). Im ‹Karl› betet Roland für Turpins Seelenheil und küsst ihn anschließend (K  v. 7930–7944). Da Roland, Oliver und Turpin die einzigen Figuren sind, deren Tod ausführlicher geschildert wird, sind diese Akzentsetzungen in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen bemerkenswert. Hier wie an den anderen betrachteten Szenen zeigt sich, wie der Riss bei interner Vermittlung mimetischen Begehrens in der ‹Chanson de Roland› gekittet wird. Der Vergleich der drei Roland‑Texte verdeutlicht, dass ein Freundespaar von den äußeren Parametern her (männlich homosoziale, symmetrische Kriegerfreundschaft) zwar gleich angelegt sein mag, die narrative Ausgestaltung aber durchaus stärker voneinander differieren kann. Noch eindrücklicher wird dies im Vergleich zu Morant und Everhart aus ‹Karl  und  Galie›. Das Bedeutungsspektrum reicht von Hintergrundfiguren, die nur 120

Hammer 2012, S. 241 und 248, betrachtet die Sterbeszene Olivers im Vergleich zu ‹Chanson de Roland› und ‹Rolandslied› unter dem Aspekt der memoria‑Stiftung. Während im altfranzösischen Text auf Heldenmut und Vasallentreue abgestellt wird, speist sich die Gedächtnisstiftung Olivers in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen durch den stärker geistlich‑theologisch konturierten Kontext. 121 Seidl 2009, S. 55, verweist darauf, dass «Heiligkeitsmarker» wie Duft, Glanz oder Unverwesbarkeit beim Tod Olivers und Turpins in der ‹Chanson de Roland› unterbleiben. Beide sterben zwar betend, aber von weiteren körperlichen Zeichen ist keine Rede.

98



2.  Konflikt und Klage: Zum Wandel mimetischen Begehrens

bestimmte Episoden eines Textes tragen, zu führenden Kriegshelden, die die gesamte Geschichte dominieren. Der Befund gemahnt zur Vorsicht, die Freundschaftsdarstellungen zur sehr aus der Optik eines Kriterienkatalogs heraus zu betrachten und zu rastern. Die Variationsbreite ist selbst bei stoffgeschichtlicher Kontinuität, wie gesehen, mithin groß.122 Nicht nur hinsichtlich des bedeutungstragenden Gehalts statussymmetrischer Freundschaften lassen sich Differenzen feststellen, sondern auch im Darstellungsmodus. Dies wurde hier anhand des Wandels der triangulären Begehrensstrukturen von interner zu externer Vermittlung verdeutlicht. Konkret bedeutet dies, dass Oliver und Roland, die sich in der ‹Chanson de Roland› komplementär zueinander als Repräsentanten von sapientia und fortitudo verhalten und deren Begehren zwischen wetteifernder Nachahmung und heftigem Widerstand changiert,123 einander im ‹Rolandslied› und v. a. im ‹Karl› äquivalent in ihrem Gottesstreitertum sind, wodurch Oliver für die Darstellung Rolands zunehmend entbehrlich wird. Ihr beider Begehren trianguliert extern auf Gott. Marginalisierung Olivers und Überhöhung Rolands bedingen einander insofern. Meyer fasst dies wie folgt zusammen: «Innerhalb der Tendenz, ein Karlslied zu verfassen, hat es literarische Priorität, den internen Konflikt zwischen Roland und Olivier zu begradigen, denn er lenkt potentiell von der hagiographischen Funktion ab.»124 In dem Maße, in dem sich die beiden Freundschaftsdyaden Roland‑Oliver und Roland‑Karl hinsichtlich ihrer Begehrensstrukturen (externe Vermittlung) annähern, wird die Roland‑Oliver‑Freundschaft blasser. Ihr wird nunmehr nur in derjenigen Phase des Plots besondere Aufmerksamkeit zuteil, in der Roland von Karl getrennt ist, also während der ersten Ronceval‑Schlacht (s. Szene, in der Oliver Roland auf den Kopf schlägt; die beiden Hornstoßszenen). Dies bedeutet freilich nicht, dass die Oliver‑Figur obsolet geworden wäre. Sie verfügt nach wie vor über eine große Machtfülle aus Aktions- und autoritativer Macht, die im Freundschaftsbund mit Roland Karls Herrschaft in der ersten Ronceval‑Schlacht mit ihrem Leben verteidigt. Die Niederlage ist daher als Prüfstein für Karls Herrschaft zu verstehen.

2.2. Einmütige Freundschaft im Zeichen von Heiligkeit: Zur Intensivierung und Problematisierung der Nähe‑Beziehung und maßlosen Klage Karls um Roland Parallel zum Zurücktreten der Freundschaft Roland‑Oliver in der Reihe ‹Chanson de Roland›, ‹Rolandslied›, ‹Karl› vollzieht sich das Hervortreten der Freundschaft Roland‑Karl, die ganz wesentlich vom Umbau des Stoffs von einem Rolands- zu einem Karls‑Text lebt. Da sich v. a. in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen in der Figur Rolands der Prototyp des adligen Kriegerheros und des Gottesstreiters kreuzen, kann er zwar einerseits die Freundschaft zu Oliver aufgrund der kämpferischen Valenzen und 122

Sinnfällig wird das nicht zuletzt dann, wenn man noch die ‹Rolandslied›‑Bearbeitung des ‹Karlmeinet› gedanklich hinzuzieht. Dieser Text kehrt gewissermaßen zu den ‹Wurzeln› des Stoffs zurück und zeigt gegenüber der Tendenz zu externer Vermittlung mimetischen Begehrens von ‹Rolandslied› und ‹Karl› mehrfach die Option des Umschlagens interner Vermittlung des Begehrens an. Roland und Oliver sind in dieser Bearbeitung stark konfrontativ gezeichnet und agieren ihre Freundschaft vornehmlich im Modus des Konflikts aus. Der Freundschaftsthematik in der ‹Rolandslied›‑Bearbeitung des ‹Karlmeinet› bin ich an anderer Stelle nachgegangen. Vgl. Federow 2015a. 123 Vgl. Krüger 2011, S. 315. 124 Meyer 2003, S. 48.

99

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

andererseits die Freundschaft zu Karl, die zunehmend religiös fundiert ist, unterhalten. In Texten, die die Kreuzzugsideologie in einer Weise auserzählen, wie es ‹Rolandslied› und ‹Karl› tun, ist andererseits die religiös aufgeladene Freundschaft Roland‑Karl dominant gegenüber derjenigen von Roland‑Oliver. Dies wird vorrangig durch die Zeichnung Karls als Heiligem und eine strukturanaloge Gestaltung Rolands erreicht. Karl wird in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen weniger als aktiv Kämpfender gezeigt, während seine Position als Auserwählter Gottes hervorgekehrt wird. Dementsprechend kann Karl nur einer Figur wie Roland –  und zwar in sehr viel stärkerem Maße als in der ‹Chanson  de  Roland›  – zugeordnet werden, die ebenfalls an der göttlichen Gnade in hervorragender Weise partizipiert. Das mimetische Begehren der beiden Freunde Roland‑Karl ist damit explizit über Gott medialisiert, es liegt der Girard’sche Modus externer Vermittlung vor, der insbesondere in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen betont wird. Karl begehrt Roland und umgekehrt, weil der jeweils andere unter der besonderen Gnade Gottes steht, die ihrerseits von beiden Freunden begehrt wird. Beide bekennen sich –  wie dies für externe Vermittlung typisch ist  – vorbehaltlos zu ihrem nachahmenden Streben.125 Mimetisches Begehren muss keineswegs zwangsläufig mit Konflikten einhergehen, sondern kann ebenso gut zu einer Hingabe zu und Öffnung gegenüber Gott führen. Dies gilt allerdings nur unter zwei Bedingungen, die im Text – ohne hier Kausalitäten zu unterstellen – geradezu mustergültig umgesetzt werden: Das geteilte Begehren bleibt konfliktfrei, solange es sich auf Objekte richtet, die einen gemeinsamen ‹Besitz› nicht ausschließen, und solange soziale Unterschiede oder andere Differenzierungen es kanalisieren.126 Die Freundschaft Rolands und Karls ist beziehungsintern kaum konfliktanfällig, weil auf eine externe Instanz trianguliert wird, wobei durch die prinzipielle Scheidung von Immanenz und Transzendenz keine widerstreitenden Überschneidungen und Ambivalenzen im Begehren auftreten können. Zudem handelt es sich bei Gott bzw. seiner Gnade um eine unerschöpfliche Transzendenzressource im Gegensatz zum knappen Gut kriegerischer Ehre, um das Roland und Oliver konkurrieren und über das ihr Begehren trianguliert. Nicht zuletzt wird das zerstörerische Potenzial mimetischen Begehrens durch die Statusasymmetrie der beiden Figuren beschränkt. Im Anschluss an Kraẞ’ Zuspitzung der Beobachtungen Girards, dass im Modus externer Vermittlung das Begehren des Mittlers wie aus der Position eines Vasallen heraus verehrt werde, möchte ich hier von einem vasallitischen Verhältnis des mimetischen Begehrens sprechen.127 Die Richtigkeit dieser These einmal vorausgesetzt, bedeutet dies, dass in den Texten die äußere Beziehungsanlage der beiden Freundschaften und die Struktur des Begehrens sehr genau miteinander konvergieren. Bei Roland‑Oliver lässt sich aufgrund ihrer Statusgleichheit als Krieger keine soziale Schranke für das mimetische Begehren ausmachen. 125 Vgl.

Girard 1999 [1961], S. 19. Die Beziehung Karls zu Roland wäre unter alleinigem Rückgriff auf Sedgwick nicht analysierbar und zwar nicht nur, weil sie Dreieckskonstellationen auf erotic triangles im Verbund zweier Männer und einer Frau festlegt, sondern auch weil sie damit den Grenzfall interner Vermittlung triangulären Begehrens im Sinne Girards zum Standardfall erhebt. Vgl. zu diesem analytisch stark einschränkenden Problem Kraẞ 2004, S. 241. 126 Vgl. Palaver 2004, S. 60 f., der v. a. die Ambivalenz mimetischen Begehrens in der Argumentation Girards stark macht, dessen Theorie in der Rezeption oft auf den Punkt gewaltsamer Mimesis verengt wird. Zu den beiden Bedingungen der Möglichkeit konfliktfreien mimetischen Begehrens vgl. Palaver 2004, S. 71 und 87. 127 Vgl. Kraẞ 2004, S. 240. Girard entwickelt diese vasallitische Komponente der Verehrung des Begehrens des Mittlers im Zusammenhang mit seiner Interpretation des ‹Don Quijote›. Vgl. Girard 1999 [1961], S. 19 f.

100



2.  Konflikt und Klage: Zum Wandel mimetischen Begehrens

Stattdessen ist an ihr kriegerisches Begehren ein Kampf um das knappe Gut ihrer gesellschaftlichen Stellung geknüpft und entsprechend konfliktträchtig ist ihre Freundschaft, wenngleich dies in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen abgeschwächt und schließlich tendenziell auf externe Vermittlung auf Gott umgestellt wird. Je stärker in den mittelhochdeutschen Texten die prominenten Krieger in Karls Heer durch die besprochenen konzeptionellen Änderungen gleich werden, desto mehr müsste –  folgt man Girard, wonach ein jeweils Nahestehender Vorbild des Begehrens ist – die Gefahr eines Konflikts steigen, was durch die kollektive Ausrichtung des Heeres und Kampfes auf Gott gebannt wird. Dadurch verblasst aber die Freundschaft Roland‑Oliver insgesamt im Vergleich zur für die Herrschaftshandlung wichtigeren Freundschaft Roland‑Karl, deren Begehren ebenfalls extern auf Gott trianguliert. Die vorbehaltlose Verehrung des Begehrens des jeweils anderen und die damit einhergehende Idealisierung und Harmonisierung der Beziehung Roland‑Karl ist hier noch dadurch ausgestellt, dass durch die Statusasymmetrie von vornherein die Option konfliktueller Mimesis getilgt zu sein scheint. Während die Bindung Karl‑Roland untereinander ‹harmonisch› ist, wird allerdings mit steigender Hagiografisierung des Stoffs und der Zeichnung Karls als Heiligem die innerweltliche und individuelle Bindung Karls an Roland zunehmend problematisch für die ‹Umwelt›, wie man nicht zuletzt an den Reaktionen auf die Totenklage Karls um den gefallenen Neffen ablesen kann. Diese Akzentuierungen, deren Auswirkungen auf die Freundschaftsdarstellung sowie auf die Macht- und Herrschaftsthematik sollen daher im Folgenden anhand einiger Szenen entlang der drei Texte nachvollzogen werden. Obwohl Roland Karls Neffe ist, wird an keiner Stelle in den literarischen Texten die Beziehung als vorrangig verwandtschaftliche, sondern als freundschaftliche behandelt, während die Forschung Roland v. a. auf seinen Status als Neffen festlegt. Nun teilen Verwandtschaft und Freundschaft, wie in der Einleitung dargestellt, einige Beziehungskonstituenten, sodass eine Unterscheidung nie ganz trennscharf sein kann, wo sich beide Beziehungsmodalitäten wie hier überlagern. Hinzu kommt, dass die Onkel-NeffeBeziehung einige Prominenz in der mittelhochdeutschen Literatur besitzt. Was für mich dafür spricht, hier die Freundschaftsaspekte gegenüber dem Faktum der Verwandtschaft stärker zu betonen, ist die ausschließlich positive Zeichnung dieser Beziehung gegenüber negativ bzw. zwielichtig angelegten Verwandtschaftsbeziehungen. Die Verwandtschaft Rolands zu Genelun etwa schützt nicht vor Verrat, sie stürzt im Gegenteil die Nachhut auf dem Schlachtfeld von Ronceval sowie am Ende das gesamte Geschlecht Geneluns in den Untergang. Vor dieser Negativfolie muss die Verbindung Roland‑Karl umso deutlicher glänzen. Damit verbindet sich ein Surplus hinsichtlich Gehalt und Funktionalität dieser Beziehung im Hinblick auf Herrschaft, dass ich als Freundschaft fassen möchte. Mir scheint es ohnehin keine adäquate Denkfigur zu sein, Verwandtschaft neben Freundschaft zu ordnen, es handelt sich nicht um Verdrängungsmodelle. Hinzutritt die völlige Absenz zweckrationaler Motive der Schließung der Roland‑Karl‑Beziehung, innerhalb derer nie offensiv Eigeninteressen verfolgt werden, was man von den ‹reinen› Verwandtschaftbeziehungen nun gerade nicht behaupten kann. Die Freundschaft Karls zu Roland kann in allen drei Texten zunächst grundsätzlich als Vergemeinschaftung betrachtet werden, die auf affektueller Zusammengehörigkeit basiert. Ihre Beziehung ist nach außen relativ stark geschlossen, weil sie auf einer besonderen sowohl vasallitischen wie personalen triuwe‑Bindung fußt. Das gegenseitig aufeinander eingestellte und am anderen orientierte Handeln aufgrund affektueller Motive 101

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

kann man v. a. an Karls Trauergebärden bei der Bestellung Rolands zum Anführer der Nachhut sowie bei seiner Totenklage und an Rolands Auseinandersetzung mit Genelun im Kontext der Botenbestellung als auch seiner Rede in der Sterbeszene ablesen. Nachdem Roland als Bote zu Marsilie abgelehnt und Genelun dazu auserkoren ist, folgt ein verbaler Schlagabtausch zwischen Genelun und Roland, an dessen Ende Roland in der ‹Chanson de Roland› nochmals betont, er sei jederzeit bereit, den Botendienst zu übernehmen (ChdR v. 292–295). Im ‹Rolandslied› und im ‹Karl› setzt er zur Entkräftung des Intrigenvorwurfs durch Genelun noch hinzu, dass Karl seiner Loyalität aufgrund der Tatsache, bei ihm erzogen und zu seinen Beratungen hinzugezogen worden zu sein, vertraue: «sô mächte den kaiser riuwen, daz er mich gezogen hât unde nimt mich dicke an sînen rât. daz ime nicht gezæme, ob ich ein roubære wære.»  (RL v. 1481–1485; auch in K v. 2039–2044)

Der zitierte kleine Zusatz in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen verdeutlicht die Dauer und unverbrüchliche triuwe innerhalb der Freundschaft. Die herausragende Bedeutung Rolands für Karl zeigt sich in den mittelhochdeutschen Texten zudem darin, dass Karl Genelun bei der Übergabe des Botenauftrags ankündigt, dass Marsilie bei Einhaltung seines Versprechens die eine Hälfte Spaniens erhalte und Roland die andere (RL v. 1510; K v. 2063 f.). In seiner Sterbeszene hält Roland eine Lobesrede auf sein Schwert Durndart und erinnert daran, wie er es erhalten hat. In der ‹Chanson  de  Roland› habe Gott Karl über einen Engel aufgetragen, Durndart einem Grafen und Heerführer zu übergeben, und Karl habe es Roland umgegürtet (ChdR v. 2318–2321). Diese besondere Zugehörigkeitsanerkennung wird im ‹Rolandslied› wie im ‹Karl› noch dadurch verstärkt, dass Gott selbst sie vornimmt und sie so sakrosankt stellt. In den mittelhochdeutschen Texten befiehlt der Engel Karl nämlich, das Schwert Roland zu übergeben, woran sich Roland sterbend erinnert (RL v. 6862–6869; K v. 8047–8059). Diesen Punkt macht der ‹Karl› bereits in der Engelsbotschaft an Karl im Vorfeld des Spanienfeldzuges und damit gleich zu Beginn des Textes überaus stark. Hier wird auf die von Gott gewollte Übergabe von Schwert und Horn über Karl an Roland verwiesen (K v. 364–379), die in Rolands Sterberede nochmals wiederholt wird. Die entscheidende Pointierung der Freundschaft im ‹Karl› folgt allerdings wenige Verse später, als der Engel Karl instruiert: «swaz ich dir lande han genant, diu gewinnet dir elliu Růlant. der wirt sælden so vol, die wile di er leben sol, daz dů in immer richen solt. dem wis genædech unde holt: an im stet elliu din ere. got minnet in so sere, daz din wille fuer sich gat, unze Růlant sin lebn hat, daz dir der heilige Christ in dirre werlt so willech ist.

102



2.  Konflikt und Klage: Zum Wandel mimetischen Begehrens deste baz soltů in minnen; so mahtů me gewinnen.»  (K v. 427–440)

Freundschaft wird hier nicht nur über die Instanz Gottes vermittelt und damit letztbegründet, sondern Roland und Karl werden gleichermaßen als Gottesfreunde eingeführt –  die Freundschaft trianguliert expressis verbis über Gott. «Die Einmaligkeit dieser menschlichen Bindung liegt also in ihrem göttlichen Ursprung; sie verankert das Heil des einen in der Existenz des anderen und erhebt ihre Gemeinschaft hoch über alle sonstigen menschlichen Beziehungen hinaus.»128 Die Intensität der Bindung wird mittels Karls Klagereden und Trauergebärden verdeutlicht.129 Auf die Ernennung Rolands zum Anführer der Nachhut auf Betreiben Geneluns reagiert Karl in der ‹Chanson  de  Roland› v. a. mit Gesten der Trauer. Diese werden zwar wiederholt und damit die Sorge permanent präsent gehalten, insgesamt ist die Darstellung aber eher knapp und topisch. Karls Blick verfinstert sich und er dämonisiert Genelun (ChdR  v. 745–747). Später senkt er sein Haupt, um die Trauer zu verbergen, streicht und zwirbelt sich den Bart und weint (ChdR  v. 771–773). Karl will Roland gar die Hälfte des Heeres überlassen, aber Roland möchte nur 20 000 Mann nehmen (ChdR L. 63). Der Erzähler betont Karls tiefe Sorge, der nun bereits zum zweiten Mal um Roland weint (ChdR v. 823–825). Auf dem Rückweg nach Frankreich ringt Karl – seine Trauer verbergend – unter seinem Mantel nach Fassung (ChdR v. 830) und beklagt auf Nachfrage durch Naimes, dass er den unersetzbaren Roland zurückgelassen hat (ChdR  v. 840). Anschließend wird geschildert, wie Karl zum dritten Mal weint, was zu Mitleid und Angst durch die 100 000 Franken führt (ChdR v. 841–843). Die Trauer Karls im ‹Rolandslied› und ‹Karl› wird hingegen sehr viel umfänglicher geschildert und umfasst neben der gestischen auch die verbale Ebene in Form von Abschiedsreden zwischen den beiden Freunden. Für beide mittelhochdeutschen Bearbeitungen gilt, was Klinger für das ‹Rolandslied› konstatiert: «Karls übermächtiges Begehren nach fortgesetzter Gemeinschaft mit Roland setzt im ‹Rolandslied› dort ein, wo sich der Ratschluss abzeichnet, Roland das spanische Fahnenlehen zu übergeben.»130 Die körperlichen Reaktionen Karls auf die Ernennung Rolands sind sehr viel heftiger in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen. Es zeichnet sich bereits hier die in den Totenklagen massiv durchschlagende Tendenz ab, dass sich Karls Macht im Kontext seiner Beziehung zu Roland in Ohnmacht verkehren und ihn vom Kollektiv isolieren kann.131 Karl wird bleich, ihm vergeht Hören und Sehen (RL v. 2965–2971), im ‹Karl› versagt ihm daneben noch die Sprache und er weint: […] do gewan er soelech ungemach, daz er enhorte noch ensach: im wande sin herce brêchen, 128

Ukena‑Best 2000, S. 348. Geith 2001, S. 182 f., stellt beim Vergleich der gestischen Kommunikation in der ‹Chanson de Roland› und im ‹Rolandslied› fest, dass ersteres sparsamer, nüchterner damit umgehe, während letzteres stärker auf Schmerz- und Klagegesten zurückgreift. Auch Heisler [Freienhofer] 2009 wertet die Reaktionen Karls im altfranzösischen Text als kontrollierter, während Karl im ‹Rolandslied› gar nicht erst versucht, seine emotionalen Äußerungen zu unterdrücken oder zu verheimlichen. 130 Klinger 2010, S. 197 f. 131 Vgl. ebd., S. 198. 129

103

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen ern mohte ein wort niht gesprêchen, unz er vil lange gesaz. diu ougen im wurden naz.  (K v. 3451–3455)

Karl macht Genelun schwere Vorwürfe, er habe ihn seiner rechten Hand und damit seines Schutzes beraubt (RL v. 2973–2977) bzw. ihm sei nie schlimmeres Leid widerfahren (K  v. 3457–3467): «dune getâete mir nîe sô leîde.» (K  v. 3465) Karl betet in der darauffolgenden Nacht für Roland (RL  v. 3023; K  v. 3517–3521) und wird von prophetischen Träumen geplagt, die Rolands Tod umschreiben (RL  v.  3030–3046; 3066–3081; K v. 3533–3556; 3577–3594; 3621–3649).132 Am nächsten Morgen weint Karl (RL v. 3133 f.; K  v. 3732) und wiederholt gegenüber Genelun, er habe ihm mit Roland seinen Schutz genommen, und verteufelt ihn dafür (RL v. 3100–3112; K v. 3736–3738; 3788–3798): «dů hast mir mine hůte / mit dînem rate benomen.» (K  v. 3736 f.) In seiner letzten Rede an Roland versichert Karl, er wolle lieber die Not mit ihm durchleiden, er sei aber durch die Verabredung mit Marsilie gebunden, die er ohne Ehrverlust nicht aufheben kann (RL  v. 3136–3146; K  v. 3826–3840): «ez get mir rehte an min leben, / daz ich von dir sol chêren.» (K  v. 3830 f.) Roland tröstet ihn und versichert, für ihn und in Gottes Namen nicht zurückzuweichen (RL v. 3203–3215; K v. 3912–3927). Auch hier wird auf die externe Vermittlung der Freundschaft über Gott hingewiesen. Schließlich weint Karl abermals, küsst Roland, umarmt ihn und versichert, dass es nichts in der Welt gebe, was er dafür eintauschen wolle, Roland täglich zu sehen (RL v. 3216–3224; K v. 3929–3936). Im ‹Karl› setzt der Erzähler noch hinzu, dass die Klage der beiden weithin hörbar ist (K v. 3937–3941). Angesichts des Hornstoßes von Roland zeigt Karl in der ‹Chanson de Roland› keine körperlichen Reaktionen (ChdR v. 1758, 1768 f., 1789), während er im ‹Rolandslied› vor Angst stark zu schwitzen beginnt, unruhig wird, sich die Haare rauft (RL v. 6075–6079; ähnlich K v. 6982–6992) und das Heer auf die Rettung v. a. Rolands verpflichtet (RL v. 6130–6134). Im ‹Karl› wünscht sich Karl sogar in einem kurzen Ausruf, vor Roland gestorben zu sein, um das durch Rolands Tod verursachte Leid nicht zu erfahren: «owe Rulant, owe! hete mich der tot genomen ê, danne ih dinen tot gelebt han, so het er wol zů mir getan.»  (K v. 6993–6996)

Wie affektiv aufgeladen die Freundschaft zwischen Roland und Karl ist, zeigen schließlich auch die Szenen, in denen Karl den Leichnam Rolands auffindet bzw. zu ihm zurückkehrt.133 Hier lässt sich in der Reihe der drei Texte eine deutliche Intensivierung des Trauerausdrucks feststellen. Während es in der ‹Chanson  de  Roland› beim Auffinden des toten Rolands keine Trauerrede Karls gibt (ChdR  L. 177), sondern erst nach dem endgültigen Sieg über Marsilie und vor dem Beginn der zweiten Schlacht gegen Baligan, wird diese Leerstelle vom ‹Rolandslied› und vom ‹Karl› gefüllt, die damit die Trauer Karls auf zwei Szenen verteilen und steigern. In beiden Texten schlägt sich Karl beim 132 Zur

Interpretation von Karls Träumen in den drei Texten vgl. Geith 1989, v. a. S. 229 und 232. Die zerbrechende Lanze im ersten Traum steht für Roland, mit dessen Tod symbolisch auch Karls Macht stirbt. Im zweiten Traum wird Karls Arm zerfleischt, was auf Roland verweist, der mehrfach als rechter Arm bzw. rechte Hand Karls benannt wird (ChdR v. 596 f.; 727; 1195; RL v. 2974 f.; 7517; K v. 8214; 10425). 133 Ich gehe hier nur auf die Grundzüge der Szene in den drei Texten ein. Für eine sehr detaillierte Analyse zum Aufbau, zur Topik und zu den Änderungen vgl. Klein 1979.

104



2.  Konflikt und Klage: Zum Wandel mimetischen Begehrens

ersten Anblick Rolands an die Brust, im ‹Rolandslied› rauft er sich zusätzlich die Haare (RL v. 6995–6998), im ‹Karl› erblasst er, ihm bricht fast das Herz und ihn verlassen alle Kräfte: im begonde daz herze krachen, im erlasch diu varwe unt diu chraft. in hete des todes meisterschaft vil nach gar ueber wunden. sin freude was verswunden von der grozzen verlust. er slůch sich diche an di brust mit beiden sinen handen.  (K v. 8184–8191)

Während Karl im ‹Rolandslied› in seiner Rede Roland, Oliver und Turpin adressiert, beteuert, lieber an ihrer statt zu sterben und die Unvergleichbarkeit der Helden betont (RL  v. 6973–6982), gilt die Rede Karls im ‹Karl› allein Roland. Hier beteuert er, dass es keinen größeren Verlust für ihn geben könne als Rolands Tod und dass er unersetzlich sei: «we mir», sprach er, «dirre not! Růlant lieber neve min, daz ich nů můz enbern din. nů erbarmez got durch sine not, daz ich ie gelebte dinen tot. dů můst unt di gesellen din mir immer unersetzet sin, di hie mit dir gelegn sint. ir sit gewesen des riches kint. sin ere ist elliu von iu chomen, nů wirt si im ouch mit iu benomen.»  (K v. 8202–8212)

Ein Zusatz, den nur der ‹Karl› aufweist, untermauert die Zuordnung der beiden Freunde auch und gerade in religiöser Hinsicht. So hält Roland immer noch sein Schwert in der Hand, dass von keinem anderen als allein Karl gelöst werden kann, was von den Anwesenden als Beweis für die Gegenwart Gottes – und zwar insbesondere in seiner Ausrichtung auf Karl und Roland – interpretiert wird (K v. 8213–8222): da wart in allen bi bechant, / daz got was mit in beiden [d. s. Roland und Karl], / swi er sie hete gescheiden. (K  v. 8220–8222) Im ‹Karl› hat Gott die Freunde nicht nur als Freundespaar explizit zusammengeführt (s. o.), er ist auch der einzige, der sie zu trennen vermag. Vor Beginn der zweiten Schlacht reitet Karl in der ‹Chanson de Roland› voran, um Roland zu finden (ChdR  v. 2857–2859), an dessen Tapferkeit er erinnert (ChdR  v. 2864–2867). Auch hier ist der affektive Ausdruck sowohl in gestischer wie in verbaler Hinsicht in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen gesteigert. Im altfranzösischen Text umarmt Karl den toten Roland, fällt in Ohnmacht (ChdR v. 2879 f.; auch später 2891) und rauft sich an späteren Stellen mehrfach die Haare (ChdR  v. 2906; 2930; 2943). Angesichts von Karls Trauer weinen die 100 000 Franken (ChdR v. 2907 f.) bzw. fallen in Ohnmacht (ChdR v. 2932). In seiner insgesamt sechs Laissen (ChdR L. 205–210) umfassenden Totenklage erinnert Karl an Rolands ruhmreiche Kampfeskraft (ChdR  v. 2887–2889), macht sich Schuldvorwürfe und beteuert, ihn jeden Tag betrauern zu wollen, da er mit ihm seine Kraft, seine Lebensfreude, den Hüter seiner Ehre und seinen einzigen Freund verloren habe 105

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

(ChdR v. 2898–2905; ähnlich noch einmal v. 2915 f.). Karl fürchtet zudem, dass sich Völker gegen ihn erheben und er Länder verlieren werde (ChdR v. 2921–2928) und will schließlich angesichts des großen Schmerzes sogar selbst sterben (ChdR v. 2929; 2936–2942). Während in der ‹Chanson de Roland› Karl und die restlichen Franken gleichermaßen vom Tod Rolands affiziert sind (kollektive Ohnmacht nach dem ‹Vorbild› Karls),134 spitzen die beiden mittelhochdeutschen Bearbeitungen den personalen Aspekt der Trauer auf Karl zu. Im ‹Rolandslied› und im ‹Karl› umarmt Karl auch den toten Roland, wiegt ihn hin und her (RL  v. 7506–7509; K  v. 10404 f.), drückt ihn an seine Brust und küsst ihn (K  v. 10374–10379). Darüber hinaus weint Karl allerdings blutige Tränen (RL  v. 7532; 7564; K v. 10517) und es ereignet sich ein weiteres Wunder: Der Stein, auf den die blutigen Tränen fallen, ist bis heute an jener Stelle feucht (RL v. 7565–7567; K v. 10518–10521). Er fungiert als heiliges Memorialzeichen, als «Leidensreliquie»135 und damit als Zeichen der extern über Gott vermittelten Freundschaft. Die in der Trauerrede Karls hervorgehobenen Aspekte sind im ‹Rolandslied› wie im ‹Karl› ähnlich, aber in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen ist der personale Aspekt der Beziehung gegenüber der politischen Bedeutsamkeit der Freundschaft hervorgekehrt und der ‹Karl› baut die Rede quantitativ zudem sehr stark aus (K v. 10406–10513).136 Karl betont, er wolle (mit ihm) sterben (RL  v. 7511; K  v. 10409–10411; 10437–10441); stellt seine Unvergleichbarkeit (RL v. 7518–7521), seine Tapferkeit und Kraft (K v. 10431–10436; 10449–10455) dar; hebt seine Bedeutung als seinen «alters stap» (RL v. 7514; K v. 10412) und seine rechte Hand (RL  v. 7516 f.), als seinen Vertrauten (RL  v. 7536), seinen Trostspender (K v. 104217–10420) und Ratgeber (K v. 10421), aber auch als seinen Beschützer (K  v. 10415 f.; 10462–10471) und als Eroberer der ihm untertänigen Länder hervor (RL v. 7538–7545; K v. 10446–10448; 10472–10488). Karl hat mit Roland einen Teil seiner selbst verloren, ohne Roland scheint er fragmentiert, worauf nicht zuletzt die Bezeichnung Rolands als rechte Hand Karls hindeutet.137 Um einen Eindruck von der Rede zu vermitteln, sei ein Stück aus dem ‹Karl› zitiert: «dů wære mines alters stap. dů wære ein suele miner eren, […] dů wære miner ougen wuenne […] ine gewan nie freude wan von dir. […] von dir quam al diu sælde min. dů wære min zeswiu hant.»  (K v. 10412–10425)

und 134 Vgl.

Freienhofer 2016, S. 69. Klinger 2010, S. 200. Sie führt zu der Stelle weiter aus: «Mit der Analogie zum blutigen Schweiß Christi in der Gethsemane‑Szene (Lk 22, 44) sowie der ikonographischen Nähe der Klageszene zur ‹Notgottes› (bzw. Gnadenstuhl) betreibt der Text eine Sakralisierung der Trauer. Anders als in der ‹Chanson› kreist die Klage auch nicht vorrangig um den heroischen Status des Verstorbenen und identitätsstiftende memoria, sondern um Karls Verlust dessen, der für ihn als Einziger alles war (‹Rolandslied›, V. 7516: «du wariz allez aine.»).» 136 Klein 1979, S. 118, beziffert die Amplifikation der Totenszene von 63 Versen in der ‹Chanson de Roland› über 93 Verse im ‹Rolandslied› hin zu 159 Versen im ‹Karl›. 137 Freienhofer 2016, S. 98, führt aus, dass die Bezeichnung Rolands als rechte Hand diesen zu einem «zentralen Teil des herrscherlichen Körpers» macht. 135

106



2.  Konflikt und Klage: Zum Wandel mimetischen Begehrens «nů verstů [d. i. Roland] also von mir, daz dů fuerest mit dir mine sælde und alle min ere! swaz freude ich immer mere unz an min ende solde haben, diu wirt gar mit dir begrabn. Dů lêst mir grozze swære.»  (K v. 10483–10489)

Im ‹Karl› wird darüber hinaus eine dritte Klagerede Karls eingefügt, nachdem Olivers Schwester Alda über der Nachricht vom Tod Rolands selbst verstorben ist. In dieser kurzen Rede wird mit dem Tod Rolands v. a. der Verlust von Karls «sælde» (K v. 11117; 11119; 11128; 11130) extrem betont und nochmals dem Wunsch, sterben zu wollen, Ausdruck verliehen: […] «ich pin nů sældelos. do ich Růlanden verlos, do starp min sælde und ere; die engwinne ich nimmer mere. ich můz in mime hercen tragen unfreude, weinen und chlagen, die wile diu sele bi mir ist. got herre himelisscher Krist, mueg ichs mit dinen hulden gern, sone la mich langer niht gewern. waz sol ich dir und mir, sit ich der sælden enbir? ich mach nů nieman gefrumn, sit dů mir sælde hast benumn.»  (K v. 11117–11130)

Auch hinsichtlich der Bestattung der Toten sticht der ‹Karl› heraus und baut das Gedenken an Roland zu einem regelrechten Kult aus. In der ‹Chanson de Roland› und auch noch im ‹Rolandslied› wird die gemeinsame Überführung der Leichname von Roland, Oliver und Turpin nach Frankreich und deren Grablege in Saint‑Romain, die noch heute von Pilgern aufgesucht werde, in einem Atemzug genannt (ChdR v. 3689–3693; RL v. 8666–8669). In der ‹Chanson de Roland› wird darüber hinaus von einer vorherigen Totenwaschung und Aufbahrung (ChdR L. 213) und von einer Reliquienverehrung von Rolands Horn Olifant berichtet (ChdR  v. 3685–3687). Das ‹Rolandslied› und der ‹Karl› bauen die Aufbahrung zu einer rituellen Einbalsamierung der Leichname Rolands, Olivers und Turpins aus (RL v. 7601–7622; K v. 10586–10614). Der ‹Karl› fokussiert bei den nachfolgenden Akten der Totenverehrung im Gegensatz zu den anderen beiden Texten ausschließlich Roland. Karl stiftet zum Gedenken an Roland nicht nur ein überaus kostspieliges Spital auf dem Feld von Ronceval, sondern auch eine Kirche über dem Stein, auf dem Roland verstarb,138 und darüber hinaus ein Kloster an der ersten Herberge auf dem Rückweg nach Frankreich (K  v. 10786–10828). Die Erinnerung an Roland wird durch fromme Werke sowie durch Gebete der Pilger und Mönche aufrechterhalten.139 Dies bezeugt – wie die Totenklagen –

138

Die Kirche soll damit an der Heiligkeit des Ortes partizipieren. Hammer 2012, S. 255.

139 Vgl.

107

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

in retrospektiver Ausrichtung die enge Bindung von Karl und Roland und deren religiöse Zuordnung zueinander, die v. a. der ‹Karl› stark macht. Inwiefern Roland über körperliche Aktionsmacht verfügt und so die Herrschaft Karls stützt bzw. –  nur die Ronceval‑Schlacht betrachtend  – im status quo hält, zeigte sich bereits innerhalb der Betrachtungen zur Freundschaft Roland‑Oliver. Alle drei Texte legen aber zudem einen besonderen Akzent auf die militärische Vorrangstellung Rolands innerhalb des Herrschaftsapparates von Karl. Wenngleich die Wahl Rolands zum Anführer der Nachhut nicht im Sinne Karls ist, so werden Roland und Karl doch in struktureller Hinsicht parallelisiert, insofern sie das christliche Heer in die beiden großen Schlachten des jeweiligen Textes führen. Auch wenn Genelun gegen Roland intrigiert, so bringt er bei seinem Vorschlag doch die wesentlichen Argumente für Roland als Heerführer vor. In der ‹Chanson  de  Roland› plädiert Genelun für Roland mit Verweis auf seine «grant vasselage» (ChdR v. 744), was mit ‘«großer Lehnstreue»’ nur unvollständig wiedergegeben werden kann. Vielmehr umfasst der Begriff vasselage –  und das scheint hier auch vorrangig intendiert zu sein  – im Altfranzösischen alle Eigenschaften, die ein guter Vasall besitzen sollte, also neben Treue auch Mut und Tapferkeit.140 Ganz eindeutig ist die Stoßrichtung der Argumentation im ‹Rolandslied› und auch im ‹Karl›, in denen Genelun die Tapferkeit Rolands, insbesondere die Furcht der Heiden vor ihm und die Treue seiner Kampfgenossen ihm gegenüber herauskehrt (RL v. 2939–2953; K v. 3404–3423). Dass die Franzosen selbst auf Rolands Kraft vertrauen, zeigt sich neben ihrer rückhaltlosen Bereitschaft, mit ihm die Nachhut zu stellen, auch an einem kurzen Einschub im ‹Rolandslied› (RL  v. 5975–5980), in dem ihm das Heer in kollektiver Rede zuruft, er solle sich nicht gegen die Heiden schonen und ihn als «voget der Karlinge, / durch‑ soteniu gimme, / aller rîter êre» (RL  v. 5977–5979) bezeichnen. Ein ähnlicher kollektiver Ausruf, der Rolands Leistung als Beschützer des Heeres herausstellt, findet sich auch im ‹Karl›: do sprachen die Kærlinge mit einem gemeinen munde: «wol der wile unt der stunde, da Růlant inne wart geborn! wir wæren alle hie verlorn, wære er uns niht ze helfe chomn. got hat uns mit im vernomn, wir han sin frům und ere. got pflege sin immer mere.»  (K v. 6346–6354)

Dass auch die heidnische Gegenseite Roland als größte militärische Bedrohung einschätzt, zeigt sich an verschiedenen Stellen. Insbesondere bei den Kriegsvorbereitungen der Heiden im Vorfeld der ersten Schlacht wird in allen drei Texten geschildert, wie Marsilie von mehreren seiner Getreuen um den ersten Schlag gegen Roland gebeten wird und zwar zum einen aus Rache für vorangegangene Verluste und zum anderen aus dem Kalkül heraus, dass Karl dann keinen weiteren Krieg wagen werde (ChdR L. 60–78; RL v. 3540–3812; K v. 4257–4610). In der ‹Chanson de Roland› spekuliert Baligan sogar 140

Ich finde die Übersetzung Steinsiecks in der zweisprachigen Reclam‑Ausgabe (S. 63) mit «große Lehnstreue» insofern einseitig, insbesondere da er dieselbe Wendung in V. 1094 mit «vollendete Ritterlichkeit» übersetzt. Vgl. zum Bedeutungsspektrum des altfranzösischen Begriffs vassal, vasselage Blunk 1905, S. 87.

108



2.  Konflikt und Klage: Zum Wandel mimetischen Begehrens

darauf, dass Karl ohne Roland nicht mehr genügend Kraft habe, um Widerstand zu leisten (ChdR v. 3180–3183). Weitere Belege für Rolands körperliche Durchschlagskraft innerhalb der drei Texte sind überaus zahlreich.141 Rolands körperliche Aktionsmacht wirkt datensetzend. Alle drei Texte berichten in Analepsen, dass Roland für Karl – in der Suggestion der Texte gewissermaßen im ‹Alleingang›  – (wahlweise) ganz Frankreich, die Sachsen, Schwaben, Bayern, Franken, Polen, Griechen, Schotten, Waliser, Iren, Engländer, Dänen, Ungarn, Bulgaren, Römer, Apulier, jene aus Palermo, Afrika und Califerne (ChdR v. 2322–2334; 2921–2928; RL v. 6830–6875; 7538–7541; K  v. 400–428; 8035–8046; 10475) bezwungen hat. Karl bilanziert in seiner Totenklage: «daz man mir zweinzech chronen / in minem dienste treit, / daz quam von diner [d. i. Rolands] fruemecheit.» (K v. 10446–10448) Der herrschaftssichernde Wert, den die Freundschaft zu Roland für Karl hat, liegt aber nicht nur in Rolands heroischer Potenz, sondern auch in seiner autoritativen Macht über das Heer. Diese speist sich in der ‹Chanson de Roland› noch vorrangig aus seinem kämpferischen Ruhm, in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen wird sie aber zunehmend religiös fundiert, da Roland durch Gott selbst vor allen anderen ausgezeichnet wird. Ablesen lässt sich Rolands Macht, das Heer in seinem Sinne zu mobilisieren und es auf sich zu verpflichten, v. a. an den vielen Anfeuerungsreden Rolands. Spornt Roland in der ‹Chanson de Roland› fast ausschließlich einzelne Krieger, allen voran Oliver und Turpin, zum Kampf an und hält nur eine kurze Rede an das gesamte Heer, in der er zudem auf reiche Beute abstellt (ChdR  v. 1165–1168), so wird er in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen zu einem führenden Redner umgestaltet. Vor und während der Schlacht ermutigt Roland im ‹Rolandslied› und im ‹Karl› zum Kampf und argumentiert primär mit dem himmlischen Lohn des Martyriums. So sammelt er beim Abschied von Karl auf die schlichte Frage hin, wer ihm folgen wolle, die 12 Pairs und mit ihnen 20 000 Mann unter sich, die ihn unter keinen Umständen verlassen und unter Einsatz ihres Lebens seine Ehre verteidigen wollen (RL  v. 3181–3201; K  v. 3846–3875). Wie sehr dem Heer an Rolands Anerkennung liegt, bezeugt ein Bericht Walthers vom verlustreichen Kampf von Rolands Schar, in der alle bis zuletzt zusammengestanden haben (RL v. 6568): «wir erkanten wol dîne site, / wære wir entrunnen, / daz wir niemer dîne hulde gewunnen.» (RL v. 6553–6555) In weiteren Reden innerhalb der Schlacht polemisiert Roland gegen die Heiden als Truppen des Teufels (RL  v. 5237–5258), appelliert daran, auf die Unterstützung Gottes auch angesichts der heidnischen Übermacht zu vertrauen, und erinnert an den Preis des ewigen Lebens, falls man in der Schlacht sterbe (RL  v. 5806–5828).142 Im Anschluss an eine weitere, ähnliche Rede (RL  v. 6168–6183) versichert Turpin, dass dieser das Heer 141 Vgl.

ChdR  v.  1110  f.; 1161; 1197–1212; 1321–1344; 1580–1592; 1629–1652; 1869–1875; 2124–2129; 4043–4100; 4139–4166; 5053–5066; 5169–5190; 5290–5296; 5343–5366; 5595–5610; 6591–6603; RL  v.  6661–6678; K v. 4435–4954; 4979–4996; 5063–5098; 5961–5992; 6601–6622; 7205–7232; 7250–7309; 7675–7701. 142 Brinker-von der Heyde 2005, S.  16 f., stellt die Rede Rolands (RL  v. 5806–5828) derjenigen Marsilies (RL  v. 5829–5852) gegenüber und zeigt so die Besonderheit von Rolands Redestrategie: «Siegessicher sind sowohl Roland wie Marsilie. Aber der Weg zum Sieg und die Art des Sieges sind grundverschieden. Roland bittet, Marsilie befiehlt; Roland mahnt zur Christusnachfolge, Marsilie fordert Rache; Marsilie erwartet unbedingte Erfüllung seiner Erwartungen, Roland eine willige Annahme von Mühe und Leid; Marsilie sieht den Sieg darin, dass kein Christ entkommen kann, Roland darin, dass der Märtyrertod Leben garantiert.» (S. 17). Diese Analyse ist auch für die anderen Reden Rolands repräsentativ und zeigt, dass Rolands autoritative Macht derart weitreichend ist, dass er gegenüber seinem Heer auf verbaler Ebene nicht aggressiv auftreten muss. Bei Reizreden gegenüber dem Feind setzt er hingegen sehr wohl Worte als Waffe ein. Auch dazu Brinker-von der Heyde 2005, S. 18–23.

109

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

im Glauben bestärke und der Erzähler setzt hinzu, dass die Christen mit wol geintem muote (RL  v. 6192) und großem Erfolg wieder in den Kampf zogen (RL  v. 6184–6195). Die einende, mobilisierende Wirkung Rolands wird im ‹Karl› neben seinen (zumal viel längeren) Reden im unmittelbaren Vorfeld und während des Kampfes (K  v. 4814–4846; 6227–6250; 7151–7162) noch dadurch unterstrichen, dass er bereits bei Karls Aufruf zum Heereszug nach Spanien eine Rede hält und erfolgreich für den Kampf im Namen Gottes wirbt (K v. 482–494).143 Dass diese internalisierte Folgebereitschaft gegenüber Roland darauf fußt, dass er als überlegene religiöse Instanz v. a. in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen gilt, zeigt sich an einem Zusatz im ‹Rolandslied› und ‹Karl› gegenüber der ‹Chanson de Roland›: Nach der Zerstörung des heidnischen Tempels machen sich die christlichen Kämpfer daran, dessen Schätze zu plündern. Hier schreitet nun Roland mit einer mahnenden Rede ein (RL v. 4196–4211; K v. 5121–5133), im Namen Gottes auf den edlen Tand zu verzichten. Die christlichen Kämpfer folgen diesem Rat sogleich und treten das Gold buchstäblich mit Füßen (RL  v. 4212–4216; K  v. 5134–5138). Der ‹Karl› fügt eine weitere Episode ein, die diese Tendenz, Roland zu einer religiösen Autorität auszubauen, fortführt. Im Zuge der Sammlung der Nachhut ereignet sich dergestalt ein Wunder, dass Roland mit seinem Speer ohne Probleme in einen Stein eindringen kann (K  v. 3880–3899). Hieran, so der Erzähler, erkennt Karl, dass sin kraft / mit gotes genaden was behaft (K v. 3897 f.). Roland ist damit die einzige Figur des Textes, an der sich neben Karl noch Wunder vollziehen, wodurch diese beiden Freunde als Auserwählte Gottes einander zugeordnet und nach außen abgeschlossen sind. Auf dieser Linie liegen auch die Änderungen an der Sterbeszene Rolands in den beiden mittelhochdeutschen Texten. In allen drei Texten wird bei Rolands Versuch, sein Schwert zu zerstören,144 um es nicht in heidnische Hände fallen zu lassen, daran erinnert, dass Durndart göttlicher Herkunft und mit verschiedenen Reliquien durchwirkt ist (ChdR  v. 2318–2320; 2344–2348; RL  v. 6862–6869; 6874–6880; K  v. 8047–8051). In allen drei Texten bittet Roland um Vergebung seiner Sünden (ChdR v. 2364; 2369–2372; 2384–2388; RL  v. 6896–6914; K  v. 8069–8072), gibt den Handschuh an Gott zurück (ChdR v. 2365; 2373 f.; 2389 f.; RL v. 6889–6894; K v. 8073–8077) und wird damit nicht nur als Vasall Karls, sondern auch unmittelbar als Vasall Gottes ausgewiesen145 und seine Seele wird von Engeln in den Himmel geleitet (ChdR v. 2374; 2393–2396; RL v. 6920–6923). Im ‹Rolandslied› und im ‹Karl› ist Rolands Tod zudem von wundersamen Naturgewalten begleitet (RL v. 6924–6949; K v. 8110–8140), die sein Sterben in typologischer Lesart mit der Passion Christi parallelisieren.146 Der Gestus, in der Nachfolge Christi zu sterben, 143 Roland

verweist in der Rede zwar auch darauf, dass man «shaz» (K  v. 588) bzw. «gůt» (K  v. 594) erringen könne. Das Motiv ist aber nur eingespielt, damit die nachfolgend zustimmende Menge umso bestimmter konstatieren kann, dass sie gerade nicht durch silber noch durch golt (K v. 598) fahre, sondern um das ewige lebn (K v. 603) zu erstreiten. 144 Die Bedeutsamkeit dieser Szene spiegelt sich in der ‹Chanson  de  Roland› wiederum in der Technik der laisses similaires (ChdR  L. 170–172). Auch die Handschuhgeste wird mit diesem Mittel unterstrichen (ChdR L. 173–175). 145 Vgl. für Auslegungsoptionen der Handschuhgeste Zatloukal 1998, S. 727–730. 146 Vgl. Buschinger 2010, S. 227; Oswald 2004, S. 295–297. In der ‹Chanson  de  Roland› werden ähnliche Phänomene in L. 110 angesichts des Kampfbeginns der ersten Ronceval‑Schlacht geschildert und damit weit vor Rolands Tod. Es ist allerdings umstritten, ob die Naturzeichen in der uns überlieferten Oxforder Version der ‹Chanson de Roland› nicht durch Störungen oder Fehler in der Überlieferung an diese Stelle gerieten. Vgl. dazu Geith 1976, S. 12.

110



2.  Konflikt und Klage: Zum Wandel mimetischen Begehrens

zeigt sich auch daran, dass er im ‹Rolandslied› und ‹Karl› in Kreuzform liegend stirbt (RL  v. 6895; K  v. 8060). Der ‹Karl› setzt bei der Ankunft Karls in Ronceval, wie bereits beschrieben, das Schwertwunder hinzu. In allen drei Texten schließt Roland an den misslungenen Versuch, Durndart zu zerstören, ein gewaltiges Waffenlob an (RL  v. 6824–6888; K  v. 8027–8062).147 Da Rolands Taten an diejenigen Durndarts untrennbar gekoppelt sind,148 wird Roland damit seine eigene Totenrede in den Mund gelegt,149 die in der Retrospektive ein Panorama der Eroberungs- und Heldentaten Rolands zeichnet, die aber allesamt auf Karl und seine Herrschaft hingeordnet sind. Die Bedeutsamkeit der Figur und ihrer Taten für Karl werden durch die religiöse Rahmung in besonderem Maße ausgezeichnet.150 Die Kennzeichnung mit Attributen der Heiligkeit macht Roland Karl gleichrangig. Die autoritative Macht eines dergestalt pointierten religiösen Heerführers reicht dann folgerichtig auch über seinen Tod hinaus. Beim Klang von Rolands Horn zu Beginn der zweiten Ronceval‑Schlacht weinen alle Franzosen aus Mitleid um Roland (ChdR  v. 3119 f.; RL  v. 7936–7939; K  v. 9226–9229), der selbst über seinen Tod hinaus das Heer einen kann.151 Die zweite Ronceval‑Schlacht ist daher nicht nur als Kampf der civitas  Dei gegen die civitas  diaboli inszeniert, sondern auch als Rachehandlung für Roland. In der ‹Chanson  de  Roland› bittet Karl Gott um die Gnade, Roland rächen zu können (ChdR  v. 3108 f.). Im ‹Rolandslied› lässt Karl die fliehenden Truppen Baligans unter Verweis, man möge Roland rächen, verfolgen (RL v. 8579 f.). In den beiden mittelhochdeutschen Bearbeitungen wird im Zusammenhang mit dem Wunsch nach Rache für Roland ein weiteres Wunder eingefügt. Karl bittet Gott, den Lauf der Sonne zu stoppen, um die Feinde noch bei Tageslicht erreichen und bekämpfen zu können (RL  v. 8434 f.; K v. 9943–9945). Im ‹Karl› reicht diese Macht sogar bis zum Prozess gegen Genelun. Dort will Dietrich gegen Pinabel im gottesgerichtlichen Zweikampf antreten, um Roland zu rächen (K v. 11663–11675) – und zwar zudem mit Rolands Schwert Durndart. Eine derartige Begründung und der Kampf mit Durndart fehlen in den beiden anderen Texten. Insofern der Kampf explizit als Analogie zum Kampf Davids gegen Goliath ausgelegt wird (K v. 11681–11696), ist Roland noch in diesem letzten Sieg des Guten über das Böse über sein Schwert und die Rachehandlung für seinen Tod präsent. Das Schwert wird in seiner symbolischen Bedeutung als Instrument des Rechts herausgestellt.152

147

Mühlherr 2014, S. 263 f. und 274, interpretiert m. E. zutreffend die Unzerstörbarkeit des Schwerts als Entsprechung zur Unüberwindbarkeit Rolands im Kampf. Das Schwert spiegelt ihn und seine heroische Potenz. 148 Dies zumal im ‹Karl› die Waffe von Gott selbst Roland überantwortet wurde. 149 Vgl. Bauschke 1995, S. 5 f. Hammer 2012, S. 243, betont, dass sich in Roland die Rolle des Erinnernden und des Erzählers des Heldenepos und damit die Funktion weltlicher und geistlicher Erinnerungsarbeit überlagern: «Rolands textexterner Status als Identifikationsfigur für den (christlichen) Adel wird gerade dadurch gesichert, dass er textintern, auf der Ebene des Erzählten, seine eigene memoria inszeniert.» Klinger 2010, S. 195, sieht in der Unzerbrechlichkeit Durndarts das «letztgültige[] Zeichen eigener Souveränität» Rolands. 150 Hammer 2012, S. 249–254, zeichnet sehr detailliert die Änderungen in der Sterbeszene Rolands im ‹Karl› nach und belegt so die verstärkte Tendenz, Roland und sein Sterben zu sakralisieren. Buschinger betrachtet Rolands Tod als Opfertod in Analogie zu Jesus: «Man könnte sogar Roland mit Christus vergleichen, denn durch seinen Opfertod bringt Roland, der als heiliger Märtyrer stirbt, wie Christus der Menschheit das Heil. Somit macht Konrad ausdrücklich aus Roland eine Christusfigur. Roland opfert sich genau wie Christus für die Menschheit.» (Bastert/​Buschinger/​Claassens/​Knapp 2014, S. 202). 151 Vgl. Mühlherr 2014, S. 165. 152 Vgl. Ziegler 2004, S. 49.

111

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

Dass die Intensität der Bindung Karls an Roland durchaus seine Macht und Herrschaft gefährden kann, zeigen die Szenen der individuellen Sorge und Trauer um Roland, wie sie bereits verhandelt wurden, aber auch die Reaktionen hierauf. Propagiert Karl sonst, dass das Leben nötigenfalls im Kampf für Gott und das Ansehen des Reiches hingegeben werden müsse, so scheint das seine Grenze in der Figur Rolands zu haben: Karls Sorge und Trauer sind fixiert auf die Person Rolands, was angesichts des Verlustes der gesamten Nachhut, darunter bedeutender Krieger und Gefolgsleute, eine auffällige Wendung ins Persönliche ist. Im Kontrast zum ideologisch begründeten Massensterben, das zum Märtyrertum stilisiert und dadurch erträglich gemacht wird, wird das Moment des persönlichen Verlusts vorgeführt.153

Karls maßlose Trauer ist verschieden lesbar: Vordergründig erscheint sie als Passivität, Schwäche und Hilflosigkeit, die die freudige Zustimmung zum Martyrium (zumal durch eine religiöse Autorität von Gottes Gnaden) zu unterminieren droht.154 Die Heiligkeit Karls, die zumindest der ‹Karl› explizit macht, scheint hier mit den Anforderungen innerweltlicher Freundschaft zu kollidieren. In die ostentative Einmütigkeit der Freundschaft Karl‑Roland ist ein Kippphänomen eingebaut, dass eben jene Nähe zu Roland hinsichtlich der Herrschaft Karls problematisiert. Für das ‹Rolandslied› wurde das von Klinger bereits verdeutlicht, wenn sie in den Traumbildern Karls den vorausgeahnten Tod Rolands den «Verlust der kaiserlichen Leibesmacht»155 illustriert sieht, insofern diese eine «Leibgemeinschaft»156 Karls und Rolands imaginieren. Diese körperliche Komponente unterstreicht auch das wiederholte Motiv von Roland als rechter Arm Karls. Das Kippphänomen der Freundschaft pointiert wiederum der ‹Karl› in besonderer Weise. Karl maßt sich in seiner zweiten Trauerszene um den toten Roland an, Gottes Entscheidung zu beurteilen und Rolands Tod als zu früh einzuschätzen: «der dich mir hete gegebn, / der hat dich mir ze frů genomn.» (K v. 10442 f.) Dieser Mangel an Demut gefährdet dabei nicht nur Karls Seelenheil, sondern das Schicksal der gesamten Christenheit, weil sich sein unbeschreibliches Leid auf die Gemeinschaft überträgt und destruktiv wirkt. Das Mitleid treibt die Anwesenden an den Rand des Todes: […] daz da genůge vielen fuer tot, / so nahe gie in sin not. (K  v. 10525 f.) Die eklatante Vernachlässigung der Herrscherpflichten wird im ‹Karl› durch Änderungen bei den Ermahnungen zur Mäßigung sichtbar. In der ‹Chanson de Roland› bittet lediglich Geoffroi d’Anjou und im ‹Rolandslied› eine nicht weiter spezifizierte Gruppen von hêren fürsten (RL  v. 7571) Karl, sich in seinem Schmerz zu zügeln, um sich um die Pflege der Toten zu kümmern bzw. um das Heer nicht zu ängstigen (ChdR  v. 2945–2950; RL  v. 7570–7578). Beide Appelle haben offensichtlich direkt Erfolg. Im ‹Karl› muss der Kaiser hingegen gleich zweimal seiner Herrscherpflichten gemahnt werden –  einmal durch einen Engel (K  v. 8238–8245) und einmal durch die Konvertitin Brechmunda/​Juliane (K  v. 10527–10546). Belehrung und Ermahnung erfolgen im ‹Karl› damit aus himmlischer wie mitmenschlicher Perspektive.157 In der ersten Szene rät Naimes, man solle die Heiden direkt verfolgen, aber Karl ist angesichts des eben aufgefundenen Rolands so bekümmert, dass er weder reiten noch kämpfen kann und dem Tode nahe 153

Loleit 2011, S. 62. Schlechtweg-Jahn 2011, S. 207 f. 155 Klinger 2010, S. 199. 156 Ebd. 157 Vgl. Ukena‑Best 2000, S. 352. 154 Vgl.

112



2.  Konflikt und Klage: Zum Wandel mimetischen Begehrens

ist. Der Engel bezeichnet Karls Verhalten als «missetat» (K  v. 8238), seine große Klage als Handeln «wider gote» (K v. 8240) und belehrt Karl, dem Gebot Gottes zu folgen und selbst in den Kampf zu ziehen. Daraufhin ordnet Karl die Bewachung der Toten an und zieht in die Schlacht. In der zweiten Szene wirft Brechmunda Karl vor: «diz ungefuege hercenleit / missezimt iwerre wisheit.» (K  v. 10529 f.) Sie ruft Karl zur Raison, indem sie ihn daran erinnert, dass die Gefallenen in Gottes Reich eingegangen sind.158 Danach kann Karl zumindest persönlich die nächtliche Totenwache anordnen. Dieses scheinbare Versagen des sonst so makellosen Karls verdeutlicht aber v. a. die Größe des Verlusts nicht nur für Karl persönlich, sondern für das ganze Reich. Gerade angesichts der Zuspitzung Karls zur heiligen Figur im Text des Stricker ist der Tod Rolands als Probe zu verstehen. Wenngleich Karl auf dem Schlachtfeld nicht stirbt, so wird ihm mit dem Verlust des Freundes das Distinktionsmerkmal des Märtyrers eingeschrieben, nämlich extremes Leid anzuerkennen und damit umzugehen.159 Diese «Sakralisierung der Karlstrauer zur Passion»160 hebt ihn als leidende Figur über die allgemeine Trauer hinaus, die er durch religiöse Kampfesideologie und den Kampf selbst überwinden und produktiv werden lassen kann. Die Gefahr, dass die Trauer um den Freund den Herrscher lähmt, wird von den Texten aufgerufen und sogleich funktional als Motor des erneuten, diesmal endgültig siegreichen Kampfs gegen die Heiden neu besetzt. Karl beginnt die zweite Ronceval‑Schlacht zunächst als Rachehandlung für Roland, erringt im Sieg über Baligan aber schließlich die christliche Vorherrschaft in der (Text‑)Welt und kann die heidnische Gefahr bannen. Klinger spricht davon, dass sich in Karl die Stärke Rolands re‑inkorporiere161 und die «kritische Entgrenzung des Herrscherleibs […] zum Zeichen höchster Begnadung»162 umgedeutet werde. Obgleich die innerweltliche Freundschaft Karls zu Roland angesichts von Karls Status als Kaiser und v. a. als Heiliger durchaus Kippmomente beinhaltet, so wirkt sie – auch über den Tod hinaus – ungebrochen sozial konstruktiv. Wie der Vergleich zum anschließend zu verhandelnden ‹Willehalm› zeigen wird, ist diese positive Perspektive, die im Text dem Tod des Freundes abgerungen wird, durchaus nicht selbstverständlich.

2.3. Mit Freunden zur christlichen Weltherrschaft: Zur Verteidigung und Expansion von Karls Herrschaft gegen heidnische Aggressoren in Strickers ‹Karl› Wiewohl im Text ganz verschiedene Facetten mimetischen Begehrens illustriert werden, sind beide Ausprägungen in funktionaler Hinsicht annähernd gleichwertig: Die Freundschaften werden in ihrer stützenden und forcierenden Kraft im Kontext von Heidenkrieg, Heldentum, Herrschaft und Gottesnähe präsentiert. Für die abschließende Analyse der Herrschaftsrelevanz der beiden untersuchten Freundschaften werde ich mich v. a. auf den ‹Karl› stützen, weil er die religiöse Dimension der Herrschaft Karls am stärksten umsetzt. 158

Eine Belehrung Brechmundas, die sich auf das gefallene Christenheer bezieht, findet sich auch im ‹Rolandslied› (RL v. 8641–8656; entspricht K v. 10309–10330). Die hier beschriebene zweite Ermahnung Brechmundas nach der zweiten Klage Karls um Roland gibt es im ‹Rolandslied› hingegen nicht. 159 Vgl. Gerok-Reiter 2002, S. 184. Das erklärt auch, warum Karl zwar die Katastrophe vorausahnt, aber nicht einschreitet, sondern das Unglück annimmt. Vgl. Heisler [Freienhofer] 2009, S. 70. 160 Klinger 2010, S. 199. 161 Vgl. ebd., S. 199 f. 162 Ebd., S. 216.

113

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

Obschon die vergleichende Perspektive eine Marginalisierung der Freundschaft Roland‑Oliver erwiesen hat, so ist deren Leistung für die Sicherung der Herrschaft Karls nicht zu unterschätzen. Ihr Kampf und ihr Tod, mit dem sie einen Teilsieg gegen die Heiden erringen können, stellt eine wesentliche Etappe auf dem Weg zur Überwindung der innerfeudalen Krise mit außenpolitisch verheerenden Folgen dar, in die Karl aufgrund seiner politischen Fehleinschätzung, dem Verräter Genelun zu vertrauen, geraten und die erst mit dem Prozess gegen Genelun beendet ist. Folgerichtig wird die Freundschaft Roland‑Oliver im Plot genau dann relevant, wenn Karl aus dem erzählerischen Fokus tritt und gen Frankreich abzieht. Roland, der für Karl über den Gesamttext hinweg von höchster herrschaftlicher Bedeutung ist, bekommt in dessen Abwesenheit gewissermaßen einen weiteren Freund zur Seite gestellt, der seine heroischen Valenzen bedient, während die Freundschaft zu Karl religiös grundiert ist. Roland ist ja nicht nur Anführer der Nachhut, sondern wird zuvorderst als Vasallenkönig über die Hälfte Spaniens eingesetzt. Roland wird als Interimsherrscher während der Abwesenheit Karls durch einen Freund gestützt. Da Roland nun das Konfliktgeschehen trägt, scheint er den unterstützenden Oliver zu benötigen. Das Schema, der Herrschergestalt in der Not einen Freund beizugeben, scheint für die Heldenepik typisch und wird auch auf der Ebene der Teilerzählungen bzw. Episoden bestätigt. Karl verbindet nun in sich theokratische und profane Herrschaft.163 Hinsichtlich beider Aspekte erweist sich die Freundschaft zu Roland als überaus fruchtbar. Karl hat in Strickers Darstellung nach dem Mordkomplott der Halbbrüder und dem spanischen Exil in der Jugendvorgeschichte (das entspricht inhaltlich der Darstellung, wie sie in ‹Karl und Galie› auserzählt wird) seine Macht in Frankreich zurückerobert und konsolidiert und wird am Ende der Jugendgeschichte als vollkommener, weltlicher Herrscher beschrieben: do tet er als ein wise man, er begunde rihten unde gebn und also herlichen leben, daz diu werlt begonde jehen, ein bezzer kuenech wart ni gesehen danne der von Kærlingen; er tůt an allen dingen daz beste zallen ziten. sus lobte man in witen.  (K v. 266–274)

An späterer Stelle heißt es resümierend (K  v. 1258–1276), Karl sei ein rehter rihtære (K v. 1268), der ‹Erfinder› der pfahte (K v. 1270), zem swerte ein gůt kneht (K v. 1274) und aller tugende ůz erchorn (K v. 1276). Nachdem Karls weltliche Herrschaft über Frankreich stabilisiert ist, erhält er von einem Engel die Gottesbotschaft, er solle zunächst das Römische Reich, darüber hinaus einige weitere Länder erobern und dann nach Spanien in den Heidenkrieg ziehen (K v. 325–441). Hierbei hebt der ‹Karl› explizit darauf ab, dass Gott Karl verkündet, dass Roland ihm all diese Länder erobere und seine Ehre allein von ihm abhänge (K  v. 427–440, Zitat s. o.). Roland wird Karl als Werkzeug himmlischer Providenz, als Helfer zugeordnet, der spätestens in der Ronceval‑Schlacht Heilsgeschichte mitverwirklicht. Die tatsächliche Er163 Die

folgenden Darstellungen können sich v. a. auf die Ergebnisse der hervorragenden Untersuchung Ukena‑Bests 2000 zur Herrschaftsdarstellung Karls im Stricker’schen Text stützen.

114



2.  Konflikt und Klage: Zum Wandel mimetischen Begehrens

oberung der vom Engel aufgezählten Länder wird sogar noch der Vollständigkeit halber skizziert (K v. 447–478). Der Aufstieg Karls zum imperialen Herrscher ist Roland zu verdanken. Will man Karls Herrschaft im Institutionalisierungsprozess von Macht in Richtung Herrschaft nach dem Modell von Popitz einordnen, so verfügt Karl bereits bei Eintritt in die Ronceval‑Handlung über feste Positionsgefüge innerhalb seiner Herrschaft. Nicht nur zeigt die stellvertretende Eroberung weiter Teile Europas durch Roland, dass Karls Macht übertragbar ist und damit feste Herrschaftsstrukturen geschaffen sind, sondern auch der Einbezug der Pairs in die diversen Beratungen um den Heidenkrieg in Spanien und später über die Verhandlungen zum Angebot Marsilies verdeutlichen, dass Karl schon über einen verlässlichen Herrschaftsapparat verfügt. Gerade die Tatsache, dass innerhalb der Beratungen zum Angebot Marsilies nur Genelun eine abweichende Meinung vertritt, verstärkt den Eindruck der Geschlossenheit und Einigkeit der Pairs,164 die exemplarisch Karls Herrschaftsstab repräsentieren und die der Erzähler des Öfteren betont (K  v. 505–524; 570; 678 f. u. ö.). Hieran wird ersichtlich, wie mit steigender Institutionalisierung auch der Legitimitätsanspruch und v. a. -glauben wächst, wodurch Widerstände unwahrscheinlicher werden. Karls Herrschaft ist bereits zu einem hohen Grade institutionalisiert, sodass es im Text dann auch nicht um einen weiteren Verfestigungsprozess (wie in ‹Karl  und  Galie› und ‹Morant  und  Galie›) geht, sondern vielmehr darum, Karls imperiale Herrschaft gewissermaßen in eine christliche Weltherrschaft mit göttlicher Legitimation zu transformieren. Hierfür muss Karl zudem als Heiliger ausgezeichnet werden, sodass seine Herrschaft in der Reihe ‹Chanson  de  Roland›, ‹Rolandslied›, ‹Karl› vom traditionalen Typus des Lehensfeudalismus stärker in Richtung auf den charismatischen Typus nach Weber modelliert wird.165 Die Basis dafür wird bereits in der Engelsbotschaft gelegt. Schon davor betet Karl, dass die Heiden von ihrem Irrglauben abfallen (K v. 275–306) und ist dadurch für die Bekehrungsmission prädestiniert. Innerhalb der Engelsrede wird Karl dann als Auserwählter Gottes gekennzeichnet, der unter seiner Gnade und seinem besonderen Schutz steht. Der Engel versichert, dass Karl die «ewige[] chrone / […] ze himelriche tragen» (K  v. 386 f.) werde. Weiter bekräftigt er: «dir enmach dehein tot / ze disen ziten niht geschaden» (K v. 392 f.) und «got wil diner verte pflegen.» (K v. 426) Karls Zeichnung als vollkommener christlicher Herrscher wird in der Übergabe des Handschuhs an ihn symbolisch sinnfällig, der Karl unmittelbar und ausschließlich dem Gebot Gottes unterordnet. Karls Status als Auserwählter Gottes wird durch diverse Wunder, warnende Träume, direkte Kommunikation mit Gott und typologische Vergleiche mit Josua, David oder Salomon zementiert und kulminiert in der Bezeichnung Karls als sande (K v. 12058).166 Diese Bezeichnung am Ende des Textes wird bereits zu Beginn angebahnt: 164

In der ‹Chanson de Roland› (ChdR L. 16) ist neben Genelun auch noch Naimes gegen eine Fortsetzung des Krieges gegen Marsilie und für die Annahme seines Angebots. 165 Freienhofer 2016, S. 106 f., führt Karls Charisma am Beispiel seines herrschaftlichen splendor in der Hoflagerszene im ‹Rolandslied› aus und verweist auf die umfangreiche ältere Forschung zu dieser Szene. 166 Singer 2016, S. 347, stellt in seinem Kommentar zu den Versen 307–446 die Belege für «das Eingreifen Gottes als Hinweis auf die sanctitudo Karls» zusammen: Gottes Eingreifen in den Heidenkampf (K v. 5139–5146), der Engel bei Rolands Tod (K v. 8073–8087), die Wunder bei Rolands Tod (K v. 8111–8140), das Verdunkeln der Sonne (K v. 8266–8284), das wundersame Auffinden der Gefallenen (K v. 10706–10712), Gottes Eingreifen beim Gerichtskampf Pinabels gegen Dietrich (K v. 11849–11857).

115

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen im was besezzen sin můt mit des heiligen geistes chraft. got hete sin meisterschaft an Karls libe schin getan; er ist ouch heilich ane wan.  (K v. 1258–1262)167

Für die besondere Beziehung Karls zu Gott spricht auch die Einpassung des Stoffs in eine vitenähnliche Textstruktur, wodurch die hagiografischen Valenzen verstärkt werden.168 Karls charismatische Anlage verbalisiert ein Erzählerkommentar zur Motivation der militia Dei: si tatenz beidiu durch got / und durch der liebe gebot, / die si ze dem kuenege haten. (K  v. 559–561)169 Seine Führungsqualitäten als christlicher Heerführer stellt Karl bei Reden zur Verpflichtung der Pairs (K v. 469–604) und Kriegsansprachen an das Heer unter Beweis (K v. 628–670; 8871–8944). Karls Bereitschaft, das eigene Leben im Kampf für Gott zu geben, überträgt sich auf sein Heer und wird zur kollektiven Gesinnung, die unbedingte Gefolgschaft fordert. Da durch die Engelsbotschaft am Eingang des Textes Erfolg und Unbesiegbarkeit Karls vorhergesagt werden, erscheinen Not und Leid als göttliche Prüfungen Karls.170 In dieser Optik sind der unermessliche Verlust mit dem Tod Rolands, Karls Kampf in der zweiten Ronceval‑Schlacht und letztlich auch der Prozess gegen Genelun als Bewährung und Bestätigung der göttlichen Gnade, unter deren Schutz Karl steht, lesbar. Nicht von ungefähr führt der Tod Rolands gerade nicht in eine Herrschaftskrise Karls. Roland konnte in der ersten Ronceval‑Schlacht den Teilerfolg in der Vernichtung von Marsilies Heer erringen, auf dem Karls weiterführender Krieg aufbaut. Wenngleich Karl sich schwertut, den Tod Rolands zu akzeptieren (s. Totenklagen und Ermahnungen im ‹Umfeld›), so nimmt er das Leid schließlich an und macht es im Sinne der Kriegsführung produktiv. Die Ronceval‑Schlacht wird nämlich von Karl einerseits als Glaubenskrieg und andererseits als Rache für Roland motiviert (K v. 9944 f.). Der Sieg Geneluns und der Heiden über Karl um den Preis von Rolands Leben ist nur vorläufig und liefert damit die Ausgangslage für Karls fulminanten Sieg in der zweiten Ronceval‑Schlacht gegen Baligan und dessen ungleich größeres Heer, vor deren Hintergrund Karl umso strahlender als Herrscher und Heidenbezwinger hervortreten kann. «Dass sich diese Siege mehr Gottes Hilfe verdanken als persönlicher Stärke, ist Auszeichnung, nicht Makel»,171 wenngleich Karl in dieser Schlacht erstmals als aktiv Kämpfender, als rex bellipotens gezeigt werden kann.172 Diese Schlacht öffnet zugleich das Geschehen auf eine heilsgeschichtliche Perspektive hin, da Baligan die Weltherrschaft anstrebt (K  v. 8512–8521). Karl trägt mit seinem Sieg zur Erfüllung der Heilsgeschichte bei, indem er die heidnische Expansionspolitik –  zumindest für den Moment  – stoppt. 167

Im ‹Rolandslied› wird Karl zwar als heilig umschrieben, nicht jedoch explizit adressiert. Überlieferungsverbund, Ausstattung und Bildprogramm der Handschriften des ‹Karl› weisen in diese Richtung. Vgl. Bastert 2010, S. 292. 169 Das ist ohne Parallele im ‹Rolandslied›. 170 Vgl. Ukena‑Best 2000, S. 349. 171 Lienert 2005, S. 86. 172 Vgl. Ukena‑Best 2000, S. 336, die anhand mehrerer Beispiele Karls Eigenschaften als souveränen Strategen und überragenden Kämpfer herausstellt. Bastert 2001, S. 203, betont allerdings zu Recht, dass Karl in der Rolle als Kämpfer schon im ‹Rolandslied› gegenüber der ‹Chanson de Roland› zurückgedrängt wird und der Fokus stärker auf seiner göttlichen Gnadenwahl liegt. Vgl. auch Bastert 2010, S. 273 f. 168 Auch

116



2.  Konflikt und Klage: Zum Wandel mimetischen Begehrens

Die religiös gefärbte Freundschaft Karls zu Roland dient nicht nur dem Ausbau der Imperialmacht Karls, sondern sogar über den Tod hinaus der Umsetzung des Heilsplans. Nachdem die äußeren Feinde gebannt sind, muss noch die Krise im Inneren durch Geneluns Prozess überwunden werden. Obwohl Karl selbst hier wenig aktiv auftritt, werden er und der gesamte Hof als Ort der Gerechtigkeit und des Sieges des Guten über das Böse inszeniert. Dies liegt einerseits an der Darstellung des Zweikampfes von Dietrich gegen Pinabel als Ordal und andererseits an der Isolierung von Genelun und seiner Sippe gegenüber dem restlichen Hof. Hatten in der ‹Chanson  de  Roland› neben der Familie Geneluns auch noch weitere Fürsten für eine Begnadigung Geneluns plädiert (ChdR  L. 275), so ist dem Konflikt im ‹Rolandslied› und im ‹Karl› die feudalrechtliche Brisanz genommen, da dort lediglich die Verwandtschaft zu den Fürsprechern Geneluns gehört (K  v. 11524–11558). Die moralischen und religiösen Wertzuschreibungen sind damit vereindeutigt. Dadurch kann Karl nicht nur Genelun zum Tode verurteilen, sondern gleich seine ganze Familie aus seiner Huld verstoßen. Dies zeigt Karls unangefochtene Herrschaftsposition auch in innenpolitischen Belangen, denn immerhin kann er einer der ersten Familien des Landes einfach entbehren.173 Karl wird im Prozess als Verteidiger der Wahrheit und Garant für die Durchsetzung des Rechts, als rex iustus, etabliert.174 Prozess und Zweikampf affirmieren den Heidenkampf, den Kampf des Guten gegen das Böse nochmals auf einer anderen Ebene.175 Nachdem Karl den göttlichen Auftrag des Heidenkriegs vollbracht und einen umfassenden Frieden installiert hat, erfährt man zwar nichts mehr aus dem Leben Karls. Die Versicherung des Prologs, Karl habe sich mittels seiner Taten das ewige Leben verdient (K v. 43–47; 80 f.; 100), wird im Epilog bekräftigt: Do bewærete aber Karl daz, / daz ein sælich mennesch sælde birt, / des manech mennesch sælich wirt. (K  v. 12034–12036) Der als sande Karle (K  v. 12058) bezeichnete Kaiser hat sich den stůl der ewigen jugent (K  v. 12055) erworben und fungiert als Mittler zwischen Mensch und Gott. Dass Karls Herrschaft in weltlicher wie religiöser Hinsicht makellos ist, bedeutet aber nicht, dass der Sieg des Christentums nicht immer wieder aufs Neue errungen werden muss, wie der Verweis auf die Schlacht zwischen Ludwig und Terramer zeigt, mit dem sich der ‹Karl› als Vorgeschichte zum ‹Willehalm› geriert. In der Figur Karls vergegenwärtigt sich auf ideale Weise «eine enge Verbindung von regnum und sacerdotium, von theokratischer Herrschaft und feudaler Legitimität.»176 Dies steht im Einklang mit der Tendenz insbesondere des ‹Karl›, die Kreuzzugsideologie auszubauen. Diese Sakralisierung erfasst auch die Freundschaft Roland‑Karl, wodurch Roland sogar über seinen Tod hinaus als Helfer und Heilsbringer Karls und der gesamten Christenheit fungiert. Karl wiederum waltet als heiliger Herrscher, als rex christianus im Sinne der Heilsgeschichte: «Am Ende des Werkes hat Karl seinen göttlichen Auftrag erfüllt und kann als der von Gott eingesetzte Universalherrscher des global expandierten imperium

173

Die Einschätzung Lienerts 2005, S. 87, dass das Machtbewusstsein der Fürsten im ‹Rolandslied› im Vergleich zur ‹Chanson de Roland› fast bis zur Rebellion gegen Karl gehe, kann ich nicht teilen. 174 Zum Gerichtsprozess im ‹Rolandslied› vgl. Schulz 1998. Für den ‹Karl› vgl. Ukena‑Best 2000, S. 345 f. und Ziegler 2004, S. 24–51. 175 Vgl. Schulz 1998, S. 62. 176 Ernst 1988, S. 215.

117

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

christianum mit uneingeschränkter Macht regieren.»177 Ukena‑Bests Bezeichnung des ‹Karl› als «Herrschaftsroman»178 kann damit nachdrücklich unterstrichen werden.

3. Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt in Wolframs von Eschenbach ‹Willehalm› im Kontrast zur ‹Bataille d’Aliscans› Der ‹Willehalm›179 (1210–1220)180 Wolframs von Eschenbach basiert auf der ‹Bataille d’Aliscans›181 (zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts)182 aus dem Zyklus um Guillaume d’Orange und steht zweifelsohne im Zentrum nicht nur der Forschung zu mittelhochdeutschen Chanson  de  geste‑Adaptationen, sondern der mediävistischen Forschung insgesamt.183 Die Exzeptionalität des ‹Willehalm› schlägt sich auch in der Behandlung der Freundschaftsthematik nieder, die aus dem Muster positiver herrschaftlicher Valenzen ausschert. Anknüpfend an das ‹Rolandslied›, das bzw. dessen Stoff im ‹Willehalm› durch viele Bezugnahmen präsent ist, stehen im ‹Willehalm› ausschließlich homosozial männliche Freundschaften im Vordergrund, die Markgraf Willehalm von Orange einerseits zu seinem Neffen Vivianz, andererseits zum Küchenjungen und unentdeckten Schwager Rennewart unterhält. Dass die verwandtschaftlichen Verbindungen durchaus kein Hinderungsgrund sind, die Beziehungen als Freundschaften aufzufassen, konnte bereits an den Roland‑Texten gezeigt werden und gilt es für den ‹Willehalm› noch herauszustellen. Ähnlich wie dort handelt es sich um v. a. im Umfeld der Schlacht (gegen Heiden) präsentierte Beziehungen. Damit enden die Gemeinsamkeiten aber auch. Wie schon bei den vorherigen Textanalysen so wird sich auch hier zeigen, dass äußere Parameter kaum Auskunft über die jeweilige Ausgestaltung der Freundschaften geben. Mit den Freundschaften Willehalms zu Vivianz und Rennewart liegen zwar zwei Freundschaften gleicher Anlage vor: homosozial männliche Freundschaft zwischen zwei hinsichtlich Alter und Herrschaftsstatus asymmetrischen Partnern, deren Beziehung vom Text v. a. 177

Ukena‑Best 2000, S. 356. Ebd., S. 357. 179 Der Text wird abgekürzt mit der Sigle W und zitiert nach der Ausgabe von Heinzle 2009. 180 Zu den Indizien für diese Datierung vgl. zusammenfassend Bumke 82004, S. 21. Der ‹Willehalm› gehört mit 80 vollständigen und fragmentarischen Handschriften – darunter einige bebilderte Prachthandschriften – zu den am häufigsten überlieferten Texten der mittelhochdeutschen weltlichen Erzählliteratur. Diese stammen fast gänzlich aus dem 13. und beginnenden 14. Jahrhundert. Vgl. zur Überlieferungslage Gerhardt 2011, S. 606–609. 181 Die ‹Aliscans› ist in 12 zyklischen Handschriften, einer Einzelhandschrift M und einigen Fragmenten, die allerdings mehrheitlich erst aus dem 13./14. Jahrhundert stammen, überliefert. Der Text weist damit die häufigste Überlieferung aus diesem Zyklus auf. Die verschiedenen Fassungen differieren z. T. sehr stark, sodass weder ein verlässliches Stemma vorliegt noch Gewissheit über die Vorlage Wolframs herrscht. Am wahrscheinlichsten gilt die venezianische Fassung M als Quelle für den ‹Willehalm›. Vgl. zur Überlieferungssituation, zur Vorlage sowie zum Vergleich des mittelhochdeutschen Textes mit verschiedenen Fassungen der ‹Aliscans› Hennings 2011, S. 552–557. Der Text wird abgekürzt mit der Sigle A  und zitiert nach der Übersetzung von Knapp 2013, dessen Übersetzung wiederum der Ausgabe von Holtus 1985 folgt. Sofern ich nicht auf Verse, sondern ganze Laissen verweise, mache ich das mit der ergänzenden Angabe L. nach der Sigle kenntlich. 182 Zu den Datierungsproblemen der ‹Aliscans› vgl. Bumke 82004, S. 382. 183 Überblick über wesentliche Fragekomplexe bieten die Einführungen zum ‹Willehalm› von Bumke 82004; Greenfield/​Miklautsch 1998 sowie das ‹Willehalm›‑Kapitel im von Heinzle 2011 herausgegebenen Wolfram‑Handbuch, Bd. 1, S. 523–702. 178

118



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt

im Rahmen kriegerischer Handlungen und Klage präsentiert wird. Dies führt allerdings keineswegs zu einer inhaltlich‑funktionalen Dopplung der Freundschaftskonfiguration, wie das bei den Frauenfreundschaften in ‹Karl  und  Galie› und ‹Morant  und  Galie› beobachtet werden konnte, wenngleich die Freundschaften im ‹Willehalm› gleichfalls zeitlich phasiert sind. Es liegt aber auch keine prägnante funktionale Differenzierung der Freunde Willehalms vor, wie dies auf die Freundschaften Karls mit David und Dederich in ‹Karl und Galie› zutrifft. In einem ersten Schritt möchte ich daher die jeweilige Nuancierung der Willehalm‑Vivianzund der Willehalm‑Rennewart‑Freundschaft entlang der vorgeschlagenen Freundschaftsdefinition im Anschluss an Weber und der Machtkategorien nach Popitz herausarbeiten. Hier werden sich Differenzen hinsichtlich der Motive der Schließung der Beziehung als auch hinsichtlich der genutzten Machtdimensionen abzeichnen, die den Freundschaften ein distinktes Gepräge verleihen. Im Zuge dieser Analyse wird sich zeigen, dass Freundschaft im ‹Willehalm› ihre positiven Valenzen mit Blick auf Herrschaft nicht entfalten kann. Wirken Freundschaften in den bisher betrachteten Texten krisenüberwindend und herrschaftsstabilisierend, so scheinen sie im ‹Willehalm› im Gegenteil die Krise mit auszulösen bzw. zu perpetuieren, sodass die Herrschaft Willehalms bis zum Schluss fragil bleibt. Wegen dieser grundsätzlich anderen Ausrichtung von Freundschaft im Zusammenspiel mit Herrschaft bildet die Untersuchung des ‹Willehalm› den Abschluss in der Reihe der betrachteten Chanson de geste‑Adaptationen. In einem zweiten Schritt werden Ursachen sowohl für die Unterschiede der beiden Freundschaften im ‹Willehalm› untereinander wie im Vergleich mit der ‹Bataille  d’Aliscans› als auch für die funktional den anderen Texten gegenläufige Tendenz der Freundschaften eruiert. Diese zunächst textimmanent gewonnenen Befunde und Anschlussfragen sollen erhellt werden unter erneutem Rückgriff auf das literaturwissenschaftlich noch lange nicht ausgeschöpfte Potenzial der mimetischen Theorie René Girards. Ging es mir im Kapitel zu den Texten des Roland‑Stoffs um den Wandel mimetischen Begehrens im Vergleich der beiden Freundschaftskonstellationen sowie der drei Texte untereinander, so soll hier die Idee mimetischer Gewalt die Relektüre des ‹Willehalm› leiten, die Girard im Rahmen seiner Theorie des Opfer- bzw. Sündenbockmechanismus entwirft. Während die Idee mimetischen Begehrens in der Literaturwissenschaft durchaus Anklang fand –  was nicht unwesentlich auf den Umstand zurückzuführen sein dürfte, dass Girard sie an hochliterarischen Texten der Moderne entwickelt  –, zeichnet sich deutlich Zurückhaltung ab, den Gedanken der mimetischen Gewalt literaturwissenschaftlich fruchtbar zu machen. Noch immer steht offenbar zu befürchten, dass Girards Opfertheorie Bilder primitiver Gesellschaften und dunkelster Ritualpraktiken weckt. Die Gefahr, auf Unverständnis und Widerstand innerhalb der Disziplin aufgrund einer selektiven Girard‑Lektüre zu stoßen, sollte aber nicht davon abhalten, die von der Theorie bereitgehaltenen Texterschließungspotenziale produktiv zu machen. Dass man Girards Modell erfolgreich interpretatorisch auf vormoderne Literatur und die in ihr dargestellte stratifizierte Gesellschaft anwenden kann, zeigen nicht zuletzt die Arbeiten von Peter Strohschneider, Bruno Quast, Christian Kiening u. a.184

184

Für diese und weitere Beispiele der Anwendung der Theorie Girards in der germanistischen Mediävistik vgl. die in Unterkapitel drei versammelte Literatur.

119

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

Mir soll es bei meiner Applikation der Idee mimetischer Gewalt auf den ‹Willehalm› deshalb auch gerade nicht um deren spezifisch opfertheologische Ausrichtung gehen, sondern in rein struktureller Hinsicht um den dort entfalteten Mechanismus, die Figur des Opfers als Auslöser von Gewalt und Instrument der Prävention bzw. Befriedung von Gewalt zu qualifizieren. Dieses Muster ist geeignet, «auf einer allgemeinen Ebene Ordnungsstörungen»185 und die «Delegation von Konfliktpotenzialen»186 zu beschreiben, wie sie sich auch in vormoderner Literatur mannigfaltig finden. Zur Beschreibung des Mechanismus in der Literatur ist dabei Folgendes vorauszusetzen: «An die Stelle des Ritus […] kann symbolisch auch die Erzählung treten.»187 In Kienings Worten: «Der Anknüpfungspunkt an Girards Theorie ist also ein weniger historischer als systematischer.»188 Es sollen die Thesen verfolgt werden, wonach die Darstellung der beiden Freunde Willehalms konträren Opferlogiken unterliegt und die mit mimetischer Gewalt einhergehende Entdifferenzierung ausschlaggebend für das Scheitern der herrschaftsrelevanten Potenzen von Freundschaft ist. Die Theorie bietet m. E. interpretatorisches Potenzial für vergleichende Fragen nach der besonderen Qualität der Willehalm‑Vivianz- und Willehalm‑Rennewart‑Freundschaft untereinander und im Kontrast zur altfranzösischen Vorlage sowie nach der divergierenden funktionalen Einbindung der Freundschaften in die Herrschaftsthematik.

3.1. Vivianz’ Tod: Zur Verortung von Willehalms Freundschaft im Kontext kollektiven Rachebegehrens Vivianz als Freund Willehalms aufzufassen, scheint zunächst vor dem Hintergrund der Verwandtschaftsbindung und der Kürze seines Auftretens in der histoire gewagt, ist aber von einer strukturellen und funktionalen Perspektive aus durchaus zu rechtfertigen. Zwar mag auf der Oberflächensemantik Verwandtschaft zentral sein  – und im ‹Willehalm› wird auch ein ausladender Verwandtschaftsapparat entworfen –, entscheidend mit Blick auf Herrschaft scheint mir hingegen Freundschaft. Was dafür spräche, den Freundschaftsaspekt in der Beziehung Willehalm‑Vivianz (und im Grunde gilt das auch für Willehalm‑Rennewart) gegenüber dem Faktum der Verwandtschaftsbeziehung stärker zu betonen, ist die ausschließlich positive Zeichnung dieser Beziehung gegenüber tendenziell negativ oder zwielichtig angelegten Verwandtschaftsverhältnissen. War das in den Texten des Roland-Stoffs bei der Roland‑Karl‑Beziehung noch wenig ausgeprägt, so zeichnet es sich im ‹Willehalm› überdeutlich ab: Das beginnt mit der Enterbung der Heimrich-Söhne, setzt sich fort im Verriegeln des Hofes durch Willehalms Schwester bei dessen Ankunft und im Versuch Willehalms, seine Schwester zu töten. Das betrifft die Mordfantasien Terramers gegenüber seiner Tochter Gyburc ebenso wie Rennewarts Rachedrang gegenüber seinen Verwandten, der in der Tötung des Halbbruders gipfelt. Auf Verwandtschaft allein ist kein Verlass, sie erweist sich als äußerst labiler Beziehungsmodus. Hier wird 185

Mierke 2015, S. 113. Sie untersucht unter wirkungsästhetischer Fragestellung die ‹Crescentia›‑Erzählung aus der Leipziger Kleinepikhandschrift Ms 1279 aus der Perspektive der Sündenbock‑Theorie Girards und bindet über das Theorem der Interpassivität die ‹Sionpilger› des Ulmer Dominikaners Felix Fabri mit ein. 186 Ebd., S. 114. 187 Ebd., im Anschluss an Kiening 2003, S. 43: «Diese überwundene, gleichwohl nach wie vor gefährdende Gewalt sieht Girard aufbewahrt in literarischen Texten.» 188 Kiening 2003, S. 44.

120



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt

mit Figuren wie Vivianz (und Rennewart) ein positiv besetztes, zudem stabiles Mehr eingespeist, das ich eben darum als Freundschaft von ‹einfachen› Verwandtschaftsverhältnissen absetzen möchte.189 Vielleicht ist so auch einem forschungsinternen Widerspruch beizukommen: Die Forschung scheut davor zurück, Vivianz als Freund Willehalms zu deuten, parallelisiert ihn aber gleichzeitig mit Rennewart, dessen Status als Freund allgemein akzeptiert ist.190 Beide sehen durch ihr jugendliches Alter und ihren Adel der Faszination der Minne und der kämpferischen Bewährung entgegen, beide werden von Gyburc für die Schlachten ausgerüstet,191 beide unterstehen der Obhut Willehalms und Gyburcs.192 Entscheidend ist jedoch, dass sie in den Schlachten das Zentrum des Kampfes für die Christen bilden –  Vivianz ist die beherrschende Figur der ersten Schlacht, Rennewart dominiert durch heroische Taten die zweite.193 Sylvia Stevens spricht daher zutreffend von Rennewart als «replacement»194 von Vivianz. Beide verschwinden zudem am Ende der Schlachten aus dem Text. Während Vivianz den Märtyrertod mit Zeichen seiner Heiligkeit stirbt, geht Rennewart scheinbar einfach im Kampfgetümmel unter.195 Die beiden Schlachten enden für Willehalm mit dem Verlust einer dieser beiden wichtigen Bezugsfiguren, die durch die ausgedehnten Klagemonologe Willehalms, die darüber hinaus auch noch ähnliches Vokabular verwenden, aus der Masse herausgehoben werden.196 Diesen Widerspruch, dass einerseits Parallelen zwischen Rennewart und Vivianz – auch und gerade in Bezug auf Willehalm  – gezogen werden, andererseits aber ein je anderes Label für ihre Beziehung zu Willehalm genutzt wird, gilt es, mit Blick auf die vorgeschlagene Freundschaftsdefinition im Anschluss an Weber zu prüfen. Da die Beziehung der beiden im ‹Willehalm› ähnlich zu derjenigen in der ‹Aliscans› gestaltet ist, werde ich mich im Folgenden auf den ‹Willehalm› konzentrieren und nur wichtige Abweichungen gegenüber der Vorlage einbeziehen. Die Zugehörigkeit Vivianz’ und Willehalms i. S.  einer Zuordnung der Figuren zueinander erfolgt v. a. durch die beiden Figuren selbst sowie den Erzähler, weniger durch andere Figuren. Im mittelhochdeutschen Text wird – wie in der Vorlage – schon dadurch, dass Vivianz und Willehalm die letzten Überlebenden der ersten Alischanz‑Schlacht sind, eine nach außen abgeschlossene Beziehung suggeriert: «Vivianz’ exemplarischer Tod und Willehalms exemplarische Trauer spiegeln sich ineinander.»197 Zudem betont der Erzähler, dass der tödlich verwundete Vivianz erst sterben möchte, wenn er vorher noch einmal Willehalm gesehen hat, worum er Gott bittet (W  49,16–22), bevor er das Bewusstsein verliert (W 49,30). 189

Wie bei den Texten des Roland-Stoffs kann auch hier die Abwesenheit zweckrationaler Motive der Schließung der Beziehung angeführt werden. Nie versuchen die Freunde, mittels der gemeinsamen Beziehung offensiv Eigeninteressen zu forcieren. Das kann man von den ‹reinen› Verwandtschaftsbeziehungen gerade nicht behaupten. 190 Vgl. die explizite Bezeichnung als Freund bei Moessner 1976, S. 76; Schröder 1995 [1989], S. 226; Stevens 1997, S. 85; Bumke 82004, S. 343. Przybilski 2003, S. 206, meint gar, dass Willehalm schon beim ersten Anblick Rennewarts «instinktiv die Seelenverwandtschaft mit seinem zukünftigen vriunt» spürt. 191 Vgl. Moessner 1976, S. 80. 192 Vgl. Rohr 1999, S. 44. 193 Vgl. Francke 1972, S. 425; Moessner 1976, S. 80; Przybilski 2003, S. 211. 194 Stevens 1997, S. 98. So schon Francke 1972, S. 425. 195 Vgl. Przybilski 2003, S. 212. 196 Vgl. Rohr 1999, S. 44. 197 Koch 2006, S. 110.

121

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

Dass diese Beziehung das ‹Normalmaß› verwandtschaftlicher Bindung übersteigt, zeigt die göttliche Zusicherung der Erfüllung dieser Bitte in der Rede des Engels Cherubim (W  49,23–26; verweisende Bezugnahme auf die Rede W  65,6–9 und W  65,20 f.). Noch bevor Willehalm den sterbenden Vivianz am Fluss Larkant findet, sind von seinen 20 000 Mann nur noch 14 Kämpfer übrig (W 50,12 f.), die schließlich auch noch sterben werden. Dennoch behauptet der Erzähler, wære im [d. i. Willehalm] niht wan Vîvîanz / ûf dem velde Alischanz / beliben, er möhte dô wol klagen. (W  53,11–13) Ähnlich ordnet später auch Gyburc auf Orange die beiden Figuren einander zu, wenn sie überlegt, «ob ich in [d. i. Willehalm] vrâgen mac der rehten maere von Alischanz, ob er selbe und Vîvîanz daz velt behabeten mit gewalt gein dem künege Tîbalt od wie’z dâ ergangen waere?»  (W 93,2–7)

Die Freundschaft zwischen Willehalm und Vivianz zeigt als Vergemeinschaftung ein gegenseitig aufeinander eingestelltes Handeln v. a. aus affektiven Gründen. Hatte dies schon der oben zitierte Erzählerkommentar angedeutet, so entfaltet sich ihre Zugehörigkeit affektiv in Vivianz’ Sterbeszene, die von einem großen Klagemonolog sowie von weiteren Bekundungen tiefer Trauer durchsetzt ist. Wenngleich dies die einzige gemeinsame, in der histoire präsentierte Szene der beiden Figuren ist, lässt die Intensität der Totenklage doch auf eine außergewöhnliche Verbundenheit schließen.198 Dass die Totenklage ein geradezu prädestinierter Ort für Freundschaftsbekundungen ist, konnte man bereits an den anderen untersuchten Texten sehen. Hier wiederholt sich das Phänomen in stark verdichteter Form, wenn sich die Freundschaft einzig in der Totenklage spiegelt. In der Szene regieren jâmer (W 60,22; 60,26; 61,5; 61,18; 61,22; 62,19; 65,1; 67,25) und herz (W 60,18; 60,22; 61,7; 61,10; 61,15; 62,18; 69,27; 70,1; 70,30) als Leitvokabeln, die sie mit einem affektiven Grundton unterlegen: Der Erzähler und Willehalm bekunden in an Redundanz kaum zu überbietender Weise, wie Willehalm mit Vivianz all seine Freude verloren und gegen immerwährende Trauer getauscht habe (W 60,18 f.; 60,22 f.; 60,26 f.; 61,3–7; 61,26; 62,20 f.; 63,2–4; 67,23–26). Beim ersten Anblick des sterbenden Vivianz heißt es: in sîme [d. i. Willehalms] herzen gar verswant, swaz im ze vreuden ie geschach. mit nazzen ougen er dô sprach: «ei vürsten art, reiniu vruht, mîn herze muoz die jâmers suht âne vreude erzenîe tragen. waere ich doch mit dir erslagen! sô taete ich gein der ruowe kêre. jâmer, ich muoz immer mêre wesen dînes gesindes. […] tôt, nû nim dîn teil an mir! swaz ich mit kumber ie geranc und swaz mich sorge ie getwanc, 198

Im altfranzösischen Text findet sich die Szene in den Laissen 21–30 mit ähnlichen Motiven.

122



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt dâ râmt ich jâmers lêre: nû hân ich sorgen mêre, den mir in herzen ie gewuohs. […] tôt, daz dû mich nû kanst sparn! ich lebe noch und bin doch tôt.»  (W 60,18–61,13)

Der lange Klagemonolog Willehalms noch vor Aufnahme des Gesprächs mit Vivianz betont ebenso: «mir wart dîn tugenthafter lîp / ze vreude an dise werlt erborn: / nû hân ich siuften vür erkorn.» (W  63,2–4) Der Schmerz über Vivianz’ Tod wird im weiteren Verlauf des Textes immer wieder (W  89,1–3) auch im Zusammenhang mit der Trauer Willehalms um Rennewart aktualisiert (W 459,21–460,5; Zitat s. Unterkapitel zwei). Die Bekundungen von Glücklosigkeit wechseln im Klagemonolog Willehalms, bevor Vivianz aus seiner Ohnmacht ein letztes Mal erwacht, ganz regelmäßig ab mit dem Wunsch, an Vivianz’ Seite zu sterben (W 60,24; 60,28–61,2; 61,12–17): «Die Trauer ist totalisierend, sie löscht jegliche Erinnerung oder Möglichkeit der vreude aus und ruft unmittelbar den Wunsch nach dem eigenen Tod hervor […].»199 Der Abschluss des ersten Klageteils fasst diese beiden alles dominierenden Klageaspekte noch einmal zusammen: «waz touc ich nû lebende? der jâmer ist mir gebende mit kraft alselhe riuwe, diu z’aller zît ist niuwe, swaz nû mîn lîp geweren mac, beidiu naht und den tac.» (W 64,25–30)

Willehalm verflucht sich, weil er Vivianz so früh in den Kampf geschickt hat und damit für seinen Tod verantwortlich ist (W 67,10–30): «dich ensluoc hie niemen mêr wan ich.» (W 67,22)200 Der Verlust Vivianz’ trifft Willehalm so stark, dass dies heftige körperliche Reaktionen hervorruft, die sich auffälligerweise wiederum terminologisch um das Herz Willehalms gruppieren.201 Nicht nur weint Willehalm, bis sîn herze was trucken gar (W  69,27), bei der Nachtwache neben dem Toten sîn herze dicke erkrachete. (W  70,30) Willehalms Bewusstlosigkeit (W 61,18 f.), das Legen von Vivianz’ Kopf in seinen Schoß (W 61,28 f.), Umarmungen (W  70,6) und Küsse (W  61,5; 71,21) markieren einerseits die Nähe der beiden Figuren und zeigen andererseits motivische Anleihen aus den Sterbe- bzw. Klageszenen der Roland‑Texte.202 Elke Koch hat in ihrer Interpretation diesen körperlichen Mit- und Nachvollzug der Leiden Vivianz’ bei Willehalm stark gemacht: «Willehalms Ergriffenwerden durch den Tod des Neffen ist durch eine Anteilnahme realisiert, die nicht

199

Koch 2006, S. 106. Auch in der Reimpaarfortsetzung der Fragment gebliebenen ‹Arabel› Ulrichs von dem Türlin wird an Vivianz’ Sterben und Willehalms Klage aus dem ‹Willehalm› Wolframs, dessen Vorgeschichte die ‹Arabel› beinhaltet, unter explizitem Bezug auf Wolfram erinnert (AR Forts. v. 621–628). Die ‹Arabel› wird nach der Edition von Schröder 1999 mit der Sigle AR zitiert. 201 Zur Betonung des Herzens in der Klage Willehalms vgl. Koch 2006, S. 111–114. 202 Zum intertextuellen Verweis auf das ‹Rolandslied› in der Wiederholung der pietà-Haltung Karls bei Willehalm vermerkt Koch 2006, S. 107: «Die Darstellung Willehalms mit Vivianz in seinen Armen reinszeniert diese Trauerperformanz [aus dem ‹Rolandslied›].» 200

123

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

als Einfühlung, sondern als Teilhabe entworfen wird, die bis an die Grenze zwischen Leben und Tod geht.»203 Ihre Zusammengehörigkeit wird neben der affektiven Dimension auch wertrational von ihrer festen triuwe‑Bindung unterfüttert, die beide in der Sterbeszene bekunden. Vivianz versichert sein Treuegebot: «mîn wille in den gebaeren / was, daz ich triuwe gein iu behielt, / die nie dehein wanc von mir gespielt.» (W  66,4–6) Der Erzähler erläutert, dass Willehalm die Nachtwache beim Toten sîn triuwe gebôt (W 70,28). Dass traditionale Motive i. S. von verwandtschaftlichen Bindungen eine untergeordnete Rolle spielen, zeigt sich deutlich daran, dass ihre Onkel‑Neffen‑Verwandtschaft gar nicht näher spezifiziert wird, obwohl der Erzähler sonst –  sogar auf heidnischer Seite  – die Abstammungsverhältnisse akribisch offenlegt. Wessen Sohn Vivianz ist, erfährt man hingegen nicht. Sein Potenzial als Freund überwölbt gewissermaßen Verwandtschaft.204 Hinsichtlich der über- und füreinander ausgeübten Machttypen ist zu beachten, dass es sich bei Vivianz‑Willehalm um eine asymmetrische Freundschaft nicht nur aufgrund des Altersunterschiedes, sondern v. a. aufgrund der Herrschaft Willehalms über Orange, die er als Lehnsmann des französischen Königs Loys ausübt, handelt. Das drückt sich u. a. darin aus, dass nur Willehalm über datensetzende Macht gegenüber Vivianz verfügt, also in seine Daseinsbedingungen eingreifen kann. Das zeigt sich an der Erziehung (W 62,26–29) und der von ihm ausgerichteten pompösen Schwertleite (W 63,5–64,4), an die Willehalm in der Sterbeszene erinnert. Auch Vivianz referiert in seinen letzten Worten auf eben jenen Dienst (W  66,7–17) und in der Reimpaarfortsetzung zur Fragment gebliebenen ‹Arabel› Ulrichs von dem Türlin, die die Vorgeschichte des ‹Willehalm› beinhaltet, wird sie ebenfalls ausführlich dargestellt (AR Forts. v. 355–590). Wie Willehalms Selbstvorwurf, er habe Vivianz getötet, verdeutlicht, verfügte er auch Vivianz’ Kriegseinsatz. Vivianz’ Macht für Willehalm besteht – anders als in den bisher untersuchten Texten, aber in Übereinstimmung mit Rennewart – nicht im Erteilen von Rat, sondern in körperlicher Aktionsmacht. Innerhalb der ersten Schlacht werden lediglich Vivianz’ kriegerische Taten und sein Sterben individuell herausgehoben – er kämpft und stirbt stellvertretend für alle 20 000 Christen. Dargestellt wird in einer langen Szene der Kampf Vivianz’ gegen Noupatris (W 22,14–26,1; Analepse in W 27,28 f.), aus der er schwer verletzt hervorgeht, aber sich in heroischem Gestus die herabhängenden Gedärme mit dem Amorbanner der tödlichen Lanze wieder festbindet. Das Motiv der herausquellenden Eingeweide findet sich zwar in der altfranzösischen Vorlage auch (A L. 3 f.), jedoch unabhängig vom Kampf

203 Ebd.

Die altfranzösische Vorlage kennt weitere hyperbolische Motive wie Sprachlosigkeit, Händeringen, das Zerkratzen der Haut und mehrfache Ohnmacht. Die affektive Dimension der Freundschaft wird im altfranzösischen Text noch zusätzlich in der Reizrede Deramés gegenüber Guillelme in der zweiten Alischanz‑Schlacht mit dem Hinweis, Guillelme habe Vivien doch so geliebt, unterstrichen: «Perduz avez Vivïen lo vaylant, / […]. / Culvert traÿte, ja l’amïez vos tant! / Vien si lo vayne a ton acerin brant.» (A v. 5875–5878; ‘«Verloren habt ihr Vivien, den kampfstarken / […]. / Verräterischer Schurke, Ihr liebtet ihn ja doch so sehr! / Komm und räche ihn mit deinem stählernen Schwert!»’) Eine vergleichbare Szene fehlt im mittelhochdeutschen Text. 204 Vivianz wird zwar als des marcgrâven swester sun (W  23,1) bezeichnet, aber von welcher der drei Schwestern Willehalms er abstammt, bleibt unklar  – auch deshalb, weil alle Schwestern, darunter immerhin auch die französische Königin, merkwürdigerweise namenlos bleiben, obwohl der Erzähler sonst eine Vielzahl namentlicher Nennungen nicht scheut. Demgegenüber wird in der Reimpaarfortsetzung der ‹Arabel› stärker auf die verwandtschaftliche Ebene abgestellt, wenn Gyburc Alyze und Vivianz explizit «alse miniv kint» (AR Forts. v. 122) großzieht.

124



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt

gegen Noupatris, der überhaupt fehlt, bei welchem der Erzähler des mittelhochdeutschen Textes aber große Sympathien für Vivianz entwickelt. So geschwächt kämpft Vivianz zunächst allein, dann mit Hilfe von acht französischen Fürsten gegen die schreckliche Hornarmee Gorhants (W  40,20–42,20), die zu Fuß mit Eisenkeulen kämpft und der man nach Auskunft des Erzählers höchstens mit Flügeln entkommen könne (W 35,13–28). Schließlich unterliegt Vivianz im Kampf gegen Halzebier (W 46,22–47,14), dessen Schlag seinen Tod besiegelt. Erst danach kann Halzebier die acht Fürsten an Vivianz’ Seite gefangen nehmen –  eben jene Fürsten, die später Rennewart in der zweiten Schlacht befreien wird. Als sich Vivianz, nun auch noch zertrampelt von Pferden (W 47,24 f.), mit letzter Kraft zum Larkant schleppt, bilanziert der Erzähler, dass Vivianz sich selben verkouft umb unseren segen (W  48,11) und dass er den gelouben werte, / unz er sîn verh verzerte. (W  48,13 f.) Die Darstellung seines Sterbens am locus amœnus des Larkant (W  49,7–14) ist folgerichtig auch von Zeichen seiner Heiligkeit begleitet (W  62,11–19; 69,12–15). Selbst innerhalb der zweiten Schlacht erinnert der Erzähler wiederholt an Vivianz’ Heldentaten (W 363,5; 363,11; 443,1 f.). Auch Willehalm erklärt, es handle sich bei Vivianz um «mîn bestiu helfe» (W 460,5) und betont damit zum Schluss des Textes noch einmal dessen körperliche Aktionsmacht. Die Freundschaft von Willehalm und Vivianz kennzeichnet das, was Popitz als Autoritätsbeziehung auf Gegenseitigkeit bezeichnet, nämlich wechselseitige Anerkennung und autoritative Macht übereinander. Willehalm überzeugt mit seiner Sorge um das Seelenheil Vivianz’ (W 65,11–16; 68,4–16) diesen von Beichte und Sterbegebet und nach erstem Zögern auch von der Sterbekommunion. Umgekehrt bittet Vivianz Willehalm um Vergebung seiner Sünden (W  69,5 f.), die lediglich in seinem Selbstzweifel bestehen, er könne seine Treue gegenüber ihm und Gyburc nicht deutlich genug ausgedrückt haben. Vivianz’ autoritative Macht über und für Willehalm entfaltet sich hingegen erst post mortem: Nachdem Willehalm versucht hat, den Leichnam Vivianz’ nach Orange zu transportieren, diesen Plan aber wegen zahlreicher Angreifer fallen lassen muss,205 trifft er auf den Perserkönig Arofel (W  78,29–82,11). Nachdem dieser bereits ein Bein durch Willehalm verloren hat, bietet er ihm unermessliche Schätze und sein Pferd Volatin als Pfand für sein Leben. Der fortan im Zusammenhang mit Vivianz entscheidende Mechanismus wird durch einen unscheinbaren Satz Arofels eingeleitet: «dû hâst mir vreuden tôt gegeben.» (W  79,24) Bei diesem Satz denkt Willehalm an den eigenen Verlust mit dem Tod Vivianz’ und tötet aus Rache Arofel nicht nur, sondern köpft den bereits Toten und übernimmt dessen Rüstung und Pferd, um unerkannt durch die heidnischen Truppen nach Orange zu gelangen: dô der marcrâve sîniu wort vernam, daz er sô grôzen hort vür sîn verschert leben bôt, er dâhte an Vîvîanzes tôt, wie der gerochen würde, unz daz sîn jâmers bürde ein teil gesenftet wære. (W 79,25–80,1)

205 Anders

als im altfranzösischen Text (A  L. 132) ist es dem Willehalm der mittelhochdeutschen Bearbeitung nicht vergönnt, den Freund nach Ende der zweiten Schlacht zu begraben.

125

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

Die an Willehalm bislang unbekannte Grausamkeit der Hinrichtung Arofels, die gegenüber der Vorlage noch gesteigert ist,206 erklärt der Erzähler als Rache für den Verlust Vivianz’.207 Dieser Kausalnexus fehlt signifikanterweise in der ‹Aliscans›, eine Erklärung unterbleibt im Gegenteil völlig (A L. 39). Willehalm im mittelhochdeutschen Text hingegen wiederholt an späterer Stelle diesen Zusammenhang gegenüber dem Abt des Klosters, in dem er den Schild Arofels zurückgelassen hatte: «sînes sterbens mich baz luste, / want ich’s morgens kuste / Vîvîanzen dicke alsô tôt.» (W 203,27–29) und «Vîvîanzen […], den ich sît an Arofel rach.» (W 206,17 f.; aus Sicht des französischen Königs 208,9–15) Die Nachricht von Vivianz’ Tod steuert das Verhalten anderer und deren Urteile dergestalt, dass mögliche Verbündete, die vorher ablehnend auf Willehalms Bitte um Kriegsunterstützung reagierten, plötzlich ohne weiteres Zögern in den Krieg einsteigen wollen. Die Zahl der Belege und Bezugnahmen im Text auf diesen Rachemechanismus ist geradezu erdrückend (W 120,30; 123,11–13; 152,1–9; 171,11–13; 183,14 f.; 184,7–13; 242,2 f.; 301,16; 304,7; 305,28; 306,22; 334,12; 380,10–19; 418,24 f.) und wird an handlungsentscheidenden Stellen wie Hilfezusagen, Kriegsrat und Heeresansprachen aktualisiert.208 Die Intensität des Rachebegehrens wird nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ durch Bilder der Trauer um Vivianz herausgestellt: drî starke karrosche und ein wagen möhten’z wazzer niht getragen, daz von der rîter ougen wiel. Heimrîch stuont kûme, daz er niht viel. dâ wart an den stunden manec edeliu hant gewunden, daz si begunden krachen. von herzen vroelîch lachen durh Vîvîanzen wart verswigen. (W 152,1–9)209

Noch im ‹Rennewart› Ulrichs von Türheim, der Fortsetzung des ‹Willehalm›, wird die Erinnerung an Vivianz und die für seinen Tod geleistete Rache präsent gehalten (R v. 6804–6809; 20728–20731; 21114–21116).210 Die Verweise auf Vivien als Motivation für den Kampf sind im altfranzösischen Text wiederum signifikant seltener (A  v. 3968; 206 In

der ‹Aliscans› wird der ohnmächtige Ariofle geköpft, während Arofel im ‹Willehalm› bei Bewusstsein erschlagen, dann seiner Rüstung entkleidet und erst danach geköpft wird. Wie Greenfield 2011, S. 112, scheint es mir auch plausibel, dass durch die gesteigerte Grausamkeit der Zorn Willehalms unterstrichen wird. 207 So auch Greenfield 1989a, S. 60. Rushing 1995, S. 470 und 477 sowie Greenfield/​Miklautsch 1998, S. 83 f., geben einen Überblick über die verschiedenen Interpretationen der Arofel‑Tötung in der Forschung. Sie werde entweder als notwendig und nicht sündhaft oder als Verletzung ritterlicher Regeln und sündhafte Handlung gelesen. Die Frage der Sündhaftigkeit wird im Text selbst jedoch marginalisiert, da weder Erzähler noch Figuren Willehalm für die Tat tadeln. 208 Ähnlich auch Fischer 2011, S. 138, 144, und Jones 2011, S. 118. Greenfield 1989a, S. 55, spricht passend von der «passiven» Vivien‑Handlung bestehend aus Erinnerung an und Rachestreben für Vivien, was sich im mittelhochdeutschen Text noch verstärkt. Koch 2006, S. 95–97, vermerkt zudem, dass der Erzähler schon drei Mal Vivianz’ Tod beklagt, noch bevor Willehalm den Sterbenden findet. Dies stelle eine Emotionalisierungsstrategie dar, die den Rezipienten mit in die Klage um Vivianz einbeziehe. 209 Während Greenfield/​Miklautsch 1998, S. 105, das Bild wegen seiner Hyperbolik als ironische Distanzierung begreifen, liest es Koch 2006, S. 136, als höchste Steigerung der Trauer: «Die kollektivierende Wirkung der Trauer wird durch die entsubjektivierende Darstellung sprachlich (mit)vollzogen. Die Tränen der Ritter fließen zu einer riesigen Wassermasse zusammen. In der vollkommen synchronisierten Geste des Händeringens sind keine Einzelsubjekte mehr zu erkennen.» 210 Der ‹Rennewart› wird mit der Sigle R zitiert nach der Ausgabe von Hübner 1938.

126



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt

4157; 4207–4209; 4218; 4958) und lösen damit keine vergleichbare Rachespirale aus. Die autoritative Macht Viviens ist somit kaum ausgeprägt. Die Freundschaft zwischen Willehalm und Vivianz ist letztlich mit nur einer gemeinsamen Szene, der Sterbeszene von Vivianz, weniger performativ, aber hat einen ausgeprägt appellativen Charakter, insofern über Vivianz das Rachestreben aller aktiviert wird und Willehalm für die zweite Alischanz‑Schlacht das Reichsheer befehligt.

3.2. Rennewarts Hervortreten und Verschwinden: Zur Problematisierung der Intimität der Freundschaft Willehalms zu Rennewart Wie von der Forschung mehrfach registriert, hat Wolfram die Rennewart‑Figur der altfranzösischen Vorlage massiv verändert. Aus dem hünenhaften, dummen, gefräßigen, wilden, grobschlächtigen und aggressiven Renoart wird der komplexe und widersprüchliche Rennewart. Dessen wesentliche Merkmale – Kampfkraft und Stange – bleiben zwar erhalten, die Figur wird aber mit unauflöslichen Ambivalenzen ausgestattet, die seiner Verweigerung der Taufe und seiner, dem Rest der Figuren unbekannten Herkunft geschuldet sind, während Renoart vom König die Taufe vorenthalten wird und er seine Identität nicht müde wird zu betonen. Die ursprüngliche Witzfigur Renoart wird bei Wolfram zu einer Figur, über welche die zentralen Themen Verwandtschaft, Religion, Krieg und Identität problematisiert werden können. Auf diesen Punkt werde ich genauer im zweiten Schritt der Lektüre des ‹Willehalm› im Lichte des Girard’schen Opfermechanismus eingehen. Zunächst werde ich aber die Freundschaftsdarstellung und ihre Funktion für Macht und Herrschaft analysieren und dabei wiederum nur punktuell auf die Vorlage Bezug nehmen. Bei der Beziehung Willehalm‑Rennewart handelt es sich nach der hier vertretenen Definition um eine Freundschaft i. S.  einer relativen Schließung der Beziehung nach außen und gegenseitig aufeinander eingestellten Handelns. Schon die erste Begegnung ist von der Faszination Willehalms für den Küchenjungen Rennewart gekennzeichnet (W  187,1–197,3). Willehalm und Loys beobachten vom Fenster des Palas in Munleun aus Ritterspiele von Knappen, als Willehalm ein unglaublich starker, aber küchenverschmutzter Knabe ins Auge fällt, der von den Knappen mit Spott bedacht wird. Nach mehrmaligem Umwerfen eines Wasserzubers wirft Rennewart einen der Knappen gegen eine Säule, sodass dieser als ob er wære vûl, / von dem wurfe gar zerspranc. (W 190,16 f.) Hierauf erkundigt sich Willehalm nach dem Jungen beim König, der ihm berichtet, er habe ihn von Kaufleuten erhalten und hätte ihn auch weiterhin gut behandelt, wenn er nicht die Taufe verweigert hätte. Willehalm erbittet sich schließlich den Jungen ze stiure (W 191,21) und will ihm «sîn leben / baz berihte[n]» (W 191,22 f.). Als der König auf Bitten von Alyze endlich einwilligt, wird die Schließung der Beziehung nach außen über die verwendete Sprache sinnfällig. Willehalm erzeugt nämlich sogleich eine intime Kommunikationssituation mit Rennewart, indem er ‹Heidnisch› mit ihm spricht, nachdem dieser sich weigert, Französisch zu sprechen.211 211

Youngs 2000, S. 68 f., Interpretation, wonach Rennewart mit seiner Weigerung, Französisch zu sprechen, Willehalm in einen «sprachlichen Machtkampf» (S. 68) zwinge, um sich gleich zu Beginn des Dialogs eine überlegene Position zu verschaffen, kann ich nicht nachvollziehen. Diese Deutung vernachlässigt die Kennzeichnung von Rennewarts Auftritt als schamerfüllt (s. u.). Ich stimme vielmehr Bumke 82004, S. 343, zu: «Willehalm und Rennewart begründen ihre Nähe und Vertrautheit im Medium der fremden Sprache: sie

127

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen dône wold ouch niht zerbrechen der knappe sîniu lantwort (Franzoiser sprâche kund er hort). dô der marcgrâve in komen sach, en franzois er im zuo sprach mit der jungen künigîn urloup. dô gebârt er, als er waere toup unt als er’s niht verstüende. er het ouch guote künde, swaz iemen sprach, man oder maget. der gegenrede wart niht gesaget von sînem edelem munde. der marcgrâve dâ ze stunde sprach kaldeis und heidensch z’im. «die bêde sprâch ich wol vernim», sus antwurt im der knappe dô. des was der marcgrâve vrô. (W 192,10–26)

Ohne Vorbehalte stellt sich Willehalm kommunikativ auf Rennewart ein und ist an glückender Kommunikation mit dem Küchenjungen überaus interessiert, was v. a. der letzte Vers des Zitates unterstreicht. Der Sprachwechsel Willehalms ist im Zentrum der französischen Königsmacht alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Intimität und Nähe der beiden werden vom Erzähler durch den Ausschluss Dritter von der Kommunikation expliziert: ir enweders wort niemen verstuont: / si newâren dâ man noch wîbe kunt, / der doch die stimme hôrte. (W 195,1–3) Auch die sofortige Anrede Rennewarts als «trût geselle mîn» (W 192,27) durch Willehalm signalisiert ihre spontane Vertrautheit, die im Folgenden in Bezeichnungen wie vriunt (W 225,10; 292,3; 452,17), geselle (W 227,4) oder geverte (W 202,8) verstetigt wird und schließlich in der Darstellung als zeswiu hant (W  452,20) gipfelt, womit Rennewart über den intertextuellen Bezug auf das ‹Rolandslied› mit Roland, die Willehalm‑Rennewart‑Beziehung mit derjenigen Karls zu Roland parallelisiert wird.212 Sprachliche Nähe spiegelt sich in physischer Nähe wider. Der Erzähler versichert beim Eintreffen des gesammelten Heeres in Orange, dass über al sîn her kein ander man [d. i.  Rennewart] / vuor im [d. i. Willehalm] dâ sô nâhe bî. (W  226,14 f.; ähnlich in A L. 80 f., wo Renoart stets Guillelme folgt) Schon vorher hatte Willehalm und damit der Heerführer des Reichsheeres (!) beim Abmarsch von Munleun auf Rennewart gewartet (W  201,15; 202,8 f.; A  v. 3733–3735), der seine Stange vergessen hat. Umgekehrt sucht Rennewart Willehalms Nähe und stürzt beispielsweise auf ihn zu, als er ihn im Getümmel des Aufbruchs von Orange in die Schlacht findet: zuo dem markîse Terramêres barn / kom geloufen, niht gegangen. (W 314,18 f.) Die Geschlossenheit ihrer Sonderdyade und das Aufeinandereingestelltsein ihres Handelns wird zusätzlich darüber markiert, dass Rennewart sich seines unwürdigen Zustands durchaus bewusst ist, sich aber ausschließlich gegenüber Willehalm dafür schämt sprechen Heidnisch miteinander (192,6 ff.). Diese Sprache, die sonst niemand in Munleun versteht, ist einerseits ein Mittel, sich der Hofgesellschaft fremd zu machen, schafft auf der anderen Seite aber auch eine persönliche Verbindung zwischen den beiden.» 212 Koch 2006, S. 121.

128



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt

und dass umgekehrt wiederum Willehalm der einzige ist, der sich nicht vor Rennewart fürchtet. Dass Rennewart sich vor Willehalm schämt, bedeutet, dass er sich mit dessen Augen betrachtet.213 Wenn sich Rennewart gegenüber niemandem außer Willehalm schämt, so ist ihm ausschließlich dessen Anerkennung wichtig, wenngleich es beiden noch an Vertrautheit fehlt.214 Dass Willehalm Rennewart nicht fürchtet und ihn bei den beiden Essen in Orange sogar neben seine Frau Gyburc setzt (W  274,2–5; 312,15 f.), während eteslîche vorhten ungemach (W 270,8) und sein Vater Heimrich gar fragt, was passiere, wenn Rennewart seine Wut an ihnen auslasse (W 273,21–23), zeigt sein Vertrauen in ihn. Im altfranzösischen Text fehlen hingegen Belege, dass sich Renoart schäme.215 Er wird auch nicht neben Guiborc trotz Schreckensäußerungen der ‹Umwelt› platziert (exemplarisch A v. 4290 durch Aymeri: «Est ce maufez qi nos voyle tüer?»; ‘«Ist das ein Dämon, der uns töten will?»’).216 Im altfranzösischen Text scheint – neben den angedeuteten, kleineren Abweichungen – die Freundschaft zwischen Guillelme und Renoart ohnehin lockerer gefügt und eher situativ immer neu ausgehandelt zu werden. Das deutlichste Indiz hierfür bildet das Vergessen Renoarts auf dem Schlachtfeld nach der zweiten Schlacht durch Guillelme (A v. 7071–7080), dessen Verbleib anders als im mittelhochdeutschen Text nicht ungeklärt bleibt. Guillelme bemerkt das Fehlen Renoarts sogar bis nach dem Essen in Orange nicht, wofür der Erzähler deutliche Worte findet: Li cons Guillelmes fist forment a blasmer, / Qant Renoars a mis in oblïer. (A  v. 7100 f.; ‘Graf Guillelme handelte sehr schändlich, / als er Renoart in Vergessenheit geraten ließ.’) Renoart ist angesichts dieser mangelnden Wertschätzung (A  v. 7108 f.; 7125) mehr als erbost, kündigt explizit Freundschaft und Vertrauen auf. Gegenüber den Baronen sagt er: «Tres bien li [d. i. Guillelme] dites, […], / Qe plus ne sui ses druz ne ses priveç.» (A v. 7149; ‘«Sagt ihm sehr wohl, […], / dass ich nicht mehr sein Freund noch sein Vertrauter bin.»’) Renoart will nicht nur Guillelmes Burg Gloriette und Orange erobern, sondern auch Loois entthronen (A L. 136 f.) und fordert schließlich Guillelme zum Turnier heraus (A L. 138 f.), worauf dieser gar mit Gelächter reagiert (A v. 7320). Guiborc kann Renoart als einzige beruhigen (A L. 140) und Guillelme fällt vor ihm auf die Knie und bittet um Vergebung für seinen Fehltritt (A v. 7406 f.). Das Vertrauen zwischen den beiden Figuren scheint weniger stabil und verdauert als im mittelhochdeutschen Pendant.

213 Vgl.

Girard 1998 [1982], S. 222, der Scham deshalb als mimetisches Gefühl auffasst. meisten schâm‑Belege finden sich gleich in der ersten Begegnung der beiden Figuren (W 192,3; 193,24; 194,5) und dann später im Zusammenhang mit dem dreimaligen Vergessen der Stange (W  314,25; 315,14; 317,1 f.). Vgl. zum Thema Scham im ‹Willehalm› Yeandle 2002. Vertrautheit und Vertrauen sowie autoritative Macht scheinen mir für die von Figuren gezeigte Scham wesentlich: Kudrun schämt sich, wie in dem entsprechenden Kapitel dieser Arbeit zu zeigen sein wird, bei der Ankunft ihres Bruders und ihres Ehemannes in Ormanie gegenüber ihren Rettern für ihren erbärmlichen Zustand, allerdings nicht vor ihrer Freundin Hildeburg, weil sie eine von Nähe und Vertrautheit geprägte Beziehung unterhalten, während autoritative Macht Hildeburgs gegenüber Kudrun eine eher nachgeordnete Rolle spielt. Umgekehrt verhält es sich bei Rennewart, der in autoritativem Sinne von Willehalm anerkannt werden möchte, während es an Vertrautheit im Umgang mangelt. 215 Der Erzähler argumentiert stark mit der Verdummung Renoarts in der Küche, sodass Reflexion über den eigenen Zustand als Voraussetzung für Scham nicht gegeben ist. 216 In der ‹Aliscans› wird ohnehin nur ein Essen in Orange geschildert, das zweite Essen nach dem Fürstenrat im ‹Willehalm› fehlt. 214 Die

129

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

Im ‹Willehalm› wird die wertrationale Basis der Freundschaft betont, die in der altfranzösischen Vorlage unterbelichtet bleibt.217 Die Freundschaft zu Rennewart scheint v. a. für Willehalm einen Eigenwert zu haben, da im mittelhochdeutschen Text keine deutlichen Motive für die Bitte um Rennewart gegenüber Loys genannt werden. Dort heißt es nur dunkel – wie bereits erwähnt –, er wolle ihn ze stiure (W 191,21) und ihm «sîn leben / baz berihte[n]» (W 191,22 f.). Welcher Art diese Hilfe sein soll, die sich Willehalm von Rennewart verspricht, wird nicht weiter spezifiziert. Die zweite Begründung lässt auf eine uneigennützige Verpflichtung im Sinne einer adäquaten Behandlung Rennewarts schließen. Auch nicht konkreter ist die Formulierung Willehalms gegenüber Rennewart in ihrem ersten Gespräch: «der künic hât dich gegeben mir. / ob dû mich dienstes wider werst, / ich bereite dich schône, swes dû gerst.» (W  194,6–8) Der altfranzösische Text enthält sich sogar gänzlich einer Plausibilisierung (A v. 3492–3495). Die oben angesprochene Hilfe, die Rennewart für Willehalm sei, stellt sich zwar ex post als militärische Hilfe heraus, dies scheint zum Zeitpunkt der Bitte Willehalms um Rennewart aber keine Intention Willehalms gewesen zu sein. Erst Rennewart bringt die Möglichkeit eines Kampfeinsatzes in ihrem ersten Gespräch ein und meint, er wolle Willehalms Verluste rächen (W  194,18). Noch deutlicher ist der altfranzösische Text: Renoart bittet Guillelme nicht nur um seinen Kampfeinsatz, sondern will sogar allein, gewissermaßen ‹auf eigene Faust› in den Kampf ziehen, nachdem Guillelme dem Ansinnen zunächst abweisend gegenübersteht (A L. 75). Das Verschwinden Rennewarts (tot, gefangen?) im mittelhochdeutschen Text gibt hier Anlass für eine umfängliche Klage Willehalms um den Freund, die auf mehrere Szenen verteilt ist (W  452,1–454,14; 459,21–460,5; 467,14–19). In seinem ersten Klagemonolog gedenkt er nicht nur der Kampfesleistung Rennewarts (dazu unten genauer), sondern betont die Reziprozität und Solidarität der Beziehung: «ei starc lîp, klâriu jugent, wil mich dîn manlîchiu tugent und dîn süez einvaltekeit und dîn prîs hôch und breit dir niht dienen lâzen, sô bin ich der verwâzen. hât dich der tôt von mir getân? soltû nû niht mîn dienest hân und al, daz teilen mac mîn hant?»  (W 453,1–9)

Wenngleich Willehalm bedauert, Rennewarts «dienest» nicht rechtzeitig erwidert zu haben, so stellt Willehalms Klage genau diesen «dienest» durch die damit verbundene memoria dar.218 Willehalm verbalisiert darüber hinaus seine subjektive triuwe‑Verpflichtung gegenüber Rennewart –  subjektiv deswegen, weil sich Rennewart in keinem offiziellen Lehens- bzw. Vasallitätsverhältnis zu Willehalm befindet: «mîn triuwe het des schande, / ob niht mîn herze kunde klagen / und der munt nâch dir von vlüste sagen.» (W 453,28–30) 217 Diese

Tendenz zeichnet sich im ‹Rennewart› noch viel stärker ab, wenn sich Willehalm und Rennewart an mehreren Stellen explizit ihrer gegenseitigen triuwe versichern und Hilfe, Solidarität und Nähe als Beziehungskonstituens artikulieren (Rennewart gegenüber Willehalm R  v.  2592–2599; 5433–5437; 16469–16478; Willehalm gegenüber Rennewart R v. 3164–3172; 16375 f.; 19616–19619). 218 Vgl. Koch 2006, S. 117.

130



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt

Auch aus Rennewarts Sicht überwiegt die triuwe‑Motivation in seiner Freundschaft zu Willehalm. Während in der ‹Aliscans› Renoart seinen Kampfeinsatz mit der Überwindung seiner Küchenexistenz und der damit einhergehenden Verdummung begründet, ist Rennewarts Motivation deutlich auf Willehalm ausgerichtet, wenn er – ohne ihn überhaupt zu kennen – dessen Verluste in der ersten Schlacht rächen will (W 194,18). Darüber hinaus wolle er seinen Rat in Angelegenheiten ritterlichen Verhaltens befolgen (W  194,19–22). Beim erstmaligen Vergessen der Stange bekräftigt Rennewart noch einmal, dass er für Willehalm kämpfen wolle (W 201,10–13). Dass Rennewart durch den Kampfeinsatz seine eigene Schmach als Küchenjunge und sich an seinen vermeintlich treulosen Verwandten rächen kann, wird hingegen nirgends als vordringliche Motivation genannt, sondern erscheint eher als ‹willkommener Nebeneffekt› der Freundschaft zu Willehalm.219 Eine affektive Dimension der Freundschaft ist auf der discours‑Ebene im Vergleich zur Willehalm‑Vivianz‑Freundschaft etwas zurückgenommen, wenngleich der Schmerz vergleichbare Dimensionen für Willehalm hat, der eine ähnliche ‹Todessehnsucht› nach dem Verschwinden Rennewarts wie nach dem Tod Vivianz’ verbalisiert: «got, hât dîn erberme kraft, al d’engele in ir geselleschaft müezen mîne vlust erkennen. diz sî mîn hellebrennen, daz diu sêle mîn deheine nôt vürbaz enpfâhe, sît mir tôt des lîbes vreude ist immer mêr. […] dîn erbarme müeze senden mir sô trôstlîchen trôst, des diu sêle ûz banden werde erlôst.»  (W 454,15–30)

Koch beschreibt Willehalms Trauer im Hinblick auf die zitierte Passage als «Funktionsäquivalent körperlicher Qualen in der Legendendichtung» und «Mittel der Auratisierung Willehalms»: «Nimmt er in der Klage um Vivianz noch mitfühlend Anteil an dessen Martyrium, so erlebt er in der Klage um Rennewart sein eigenes.»220 Auch im Text wird der Vergleich der Trauer Willehalms um Vivianz und Rennewart explizit gezogen. Der Verlust der Freude wiege im Falle des Verschwindens Rennewarts ähnlich (W 459,21–460,14) oder gar noch schwerer als im Falle von Vivianz’ Tod (W 454,12–14). In Willehalms zweitem Klagemonolog wird die Parallelisierung von Vivianz und Rennewart extrem forciert, was nicht zuletzt dafür spricht, beide als Willehalms Freunde aufzufassen: «dirre sige mir schunfentiure hât ervohten in dem herzen mîn, sît ich guoter vriunde muoz âne sîn, an den al mîn vreude lac. ôwê tac und ander tac! ein tac, dô mir Vîvîans wart erslagen ûf Aleschans 219

Hinweise hierauf liefern Erzählerbemerkungen wie: sîner hôhen mâge vil verlôs / den lîp durh smaehe, die er kôs. / sîn hant vaht sige der kristenheit. / sus rach er smaehlîchez leit, […]. (W 285,11–14) 220 Alle Zitate Koch 2006, S. 119.

131

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen selbe sibende vürste und al mîn her, wan daz ich selbe entreit mit wer. mîn bestiu helfe aldâ beleip. […] gestern was mîn ander tac. von den beiden ich wol sprechen mac, daz mîn vreude ist verzinset dran, swaz der mîn herze ie gewan.»  (W 459,26–460,14)221

Aus der Perspektive Rennewarts wird hingegen nichts über die Affektivität der Beziehung ausgesagt, sodass diese gegenüber der wertrationalen Ebene weniger Raum einnimmt. Auch bei Willehalm‑Rennewart gilt es, die Asymmetrie ihrer Freundschaft bei der Analyse der über- und füreinander ausgeübten Machttypen zu berücksichtigen. Die Asymmetrie besteht hier nicht nur aufgrund des Altersunterschiedes und des Herrscherstatus’ von Willehalm, sondern auch aufgrund der bisher nicht standesgemäßen Existenz Rennewarts als Küchenjunge. Der religiöse Gegensatz zwischen dem Christen und dem Heiden spielt hingegen keinerlei Rolle. Willehalm weiß zwar um seine aktuell größere Machtfülle, ist sich hingegen über deren statusgemäße Verteilung zwischen ihm und Rennewart keineswegs gewiss: «bistû von sölher art erkant, daz dich rîchen sol mîn hant, ich meine: under mir und niht obe, sô bring ich dich zuo sölhem lobe, gan diu hoehste hant ze lebene mir, daz nie vürsten soldier baz wart vür dich geêret dîn wirde wirt gemêret. bist aber dû hôher, dan ich bin, sô trag ich dir dienstlîchen sin und allez mîn geslehte: daz erteil ich in von rehte.»  (W 331,1–12)

Die Bemerkung markiert vielmehr, dass das offensichtliche Gefälle aus Sicht Willehalms vernachlässigbar ist, wodurch eine subjektive Tendenz zur Nivellierung der Asymmetrie gegeben ist. Am deutlichsten tritt Willehalms Macht gegenüber Rennewart hervor, wenn er ihn aus der Küche ‹befreit›, also datensetzend seine Daseinsbedingungen ändert. Damit einhergeht seine soziale Aktionsmacht, die –  geprägt von der ersten Begegnung miteinander  – sich v. a. in einem sprachlichen Band zeigt. Dieses eröffnet Rennewart nicht nur den Zugang zum adligen Lebensraum, sondern auch eine neue kommunikative Welt. Zunächst kann –  wegen der oben besprochenen Sprachbarriere  – nur Willehalm mit ihm sprechen und er ist auch der Einzige, der mit ihm in kommunikativen Austausch tritt, obwohl der französische König und Alyze bei der ersten Begegnung Willehalms mit Rennewart anwesend sind. So wird Rennewart erst einmal nur über Willehalm sichtbar. 221 Die

Parallelisierung des Schmerzes Willehalms angesichts des (vermeintlichen) Verlusts von Rennewart mit demjenigen beim Tod Vivianz’ wird auch im ‹Rennewart› betrieben, wobei hier der Verlust Rennewarts klar schwerer wiegt (R v. 2143–2163; 2983–2985).

132



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt

Die Freundschaft zu Willehalm stiftet für Rennewart aber ungeahnte kommunikative Möglichkeiten, er kann an seinem ‹Netzwerk› partizipieren. Den Kontakt zur geliebten Alyze kann Rennewart, dem wegen der Verweigerung der Taufe der Umgang mit ihr vom französischen König untersagt wurde, offenbar nur im Gefolge Willehalms wieder aufnehmen, als sich das Heer vom französischen Königspaar und Alyze trennt. Rennewart kann sich von ihr verabschieden, wird von ihr geküsst (W 213,4–30). Den Kontakt Rennewarts zu seiner unerkannten Schwester Gyburc stiftet allererst Willehalm, wenn er ihn in Orange an Mahlzeiten des Hofes teilnehmen und neben Gyburc platzieren lässt (W 274,2–5; 312,15 f.). Überdeutlich wird die von Willehalm ausgehende kommunikative Integration Rennewarts, wenn er nach dem Zwischenfall mit dem in der Küche versengten Bart nicht selbst zu Rennewart geht, sondern Gyburc in die Küche (!) schickt, um Rennewart dort herauszuholen und seinen Zorn zu besänftigen (W 289,16–19). Es folgt das berühmte Gespräch der beiden Geschwister in der Kemenate Gyburcs (W  289,20–296,21). Willehalm verhilft ihm so –  auch wenn das nicht figurenintentional zurechenbar und im Text auch nicht entfaltet ist – zur verwandtschaftlichen Reintegration. Damit geht auch eine Statusaufwertung einher, denn Gyburc darf (anders als Willehalm) Rennewart neu einkleiden, ausrüsten und ihn mit einem Schwert, also einer im Gegensatz zu seiner Stange ritterlichen Waffe, ausstatten. Willehalms soziale Aktionsmacht über Rennewart offenbart sich auch, wenn er ihn zum Heerführer über die 10 000 französischen Deserteure mit dem Schlachtruf ‹Rennewart› ernennt (W 333,1–11).222 In der ‹Aliscans› geht Renoart nicht im Krieg verloren, sondern erhält im Nachgang die Taufe, eine spätere Hochzeit wird angekündigt,223 Guillelme schenkt ihm 2000 Mark und Port Paillart (A L. 145). Darüber hinaus ernennt Guillelme ihn zum Ritter und Seneschall und lässt die erbeuteten Heidenschätze durch Renoart verteilen (A L. 146). Bedeutsam für den mittelhochdeutschen Text ist, dass Willehalm trotz objektiven Gefälles keine instrumentelle oder autoritative Macht über Rennewart anstrebt. Weder versucht Willehalm, Rennewart zum Christentum zu bekehren noch zwingt er ihm ritterliche Ausrüstung auf, sondern akzeptiert die Wahl der Stange, obwohl beides deutlich zur sozialen Desintegration Rennewarts beiträgt. Im ersten Gespräch stellt Willehalm lediglich wertfrei fest, «ich wæne, dû bist ein Sarrazîn» (W  192,28) und fragt ihn anschließend nach seiner Herkunft. Auch bei der Ausrüstung lässt er Rennewart freie Hand (W 195,21–196,7). Als Rennewart seine Stange vergisst, wartet Willehalm im ersten Fall, bis Rennewart sie zurückgeholt hat (W  201,15; 202,8 f.), und lässt sie im zweiten Fall von Knappen herbeischaffen (W 314,16–315,30), statt auf Nutzung von Ersatzwaffen zu bestehen, damit das Heer zügiger vorankommt. Wie schon Vivianz so tritt auch Rennewart nicht als Ratgeber Willehalms auf,224 sondern sein herausragendes Potenzial besteht in seiner körperlichen Aktionsmacht, die er im Sinne Willehalms zum Sieg der Christen in der zweiten Alischanz‑Schlacht einsetzt.

222 In

der ‹Aliscans› bittet umgekehrt Renoart Guillelme um die Übertragung der Befehlsgewalt über die Deserteure (A L. 95). 223 In der venezianischen Fassung M wird angedeutet, dass Renoart Ermengarts Nichte Ermentrut heiraten wird, in allen anderen Fassungen heiratet Renoart Aelis. Vgl. die Einleitung Knapps 2003, S. 10, in dessen Übersetzung der ‹Aliscans›. 224 Ganz anders im ‹Rennewart›, wo Willehalm Rennewart durchaus um Rat fragt (R v. 2143–2163; 2983–2985).

133

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

Wenngleich die Hinweise auf Rennewarts Kampfkraft gegenüber der altfranzösischen Vorlage deutlich zurückgenommen sind,225 dominiert Rennewart dennoch das Geschehen der zweiten Schlacht und ist maßgeblich für den Sieg der Christen verantwortlich.226 Der Erzähler wird nicht müde, seinen Kampfeinsatz (W 364,14–365,29; 388,14–389,9; 398,4 f.; 413,8–414,6; 423,15–425,4; 429,14–431,2; 432,22–27; 441,29–442,30; 444,22–27) neben der spektakulären Befreiung der acht, während der ersten Schlacht gefangenen Fürsten von einem Schiff (W  414,7–418,15) zu betonen. Willehalm ist sich in seiner Klagerede nach der zweiten Schlacht bewusst, «daz ich von im des siges pflac» (W  452,24). Er ist sich sicher: «wan dû revaehte mir ditze lant, dû behabtes hie mîn selbes lîp und Gîburge, daz klâre wîp. wan dîn ellen ûz erkorn, mîn alter vater waere verlorn. ieslîch mîn helfaere, wan dû, verlorn waere, al mîne mâge und mîne bruoder.»  (W 453,10–17)

Willehalm fasst Rennewarts Einsatz in folgenden Vergleich: «dû wære mîns kieles ruoder und der rehte segelwint, dâ von al Heimrîches kint hânt gankert roemische erde.»  (W 453,18–21)

Er habe ihm die Gefangenen befreit und die Deserteure zurückgeführt, sodass alle Christen um ihn klagen sollten (W 453,25–454,8). Willehalm resümiert, dass sein Ruhm erzählerisch verdauert werde: «dû hâst dem toufe prîs bejaget. / vil manegiu jâr man noch saget, / wie dû vaehte ûf Alitschanz.» (W 454,9–11) Wie bereits das Bild von Rennewart als rechte Hand Willehalms (W 452,20) einen intertextuellen Vergleich mit dem Roland des ‹Rolandsliedes› und der dort betonten «reichspolitischen Bedeutung des Hel225

In der ‹Aliscans› wird auf Renoarts Einsatz z. T. weit vor dessen erstem Auftritt in der histoire mittels zahlreicher Prolepsen hingewiesen (A v. 386 f.; 456 f.; 1670–1675; 2013–2015; 3215–3217; 3969–3979; 4358–4360; 5046 f.; 5072; 5079). Solche Prolepsen fehlen im mittelhochdeutschen Text gänzlich. Die gesamte zweite Alischanz‑Schlacht wird in der Darstellung der ‹Aliscans› mehr oder weniger allein durch Renoart bestritten. Er dominiert die Laissen 105–134, in denen sein Kriegseinsatz vom Erzähler betont wird. 226 Seine ungewöhnliche Körperkraft wird bereits im Vorfeld der Schlacht anhand der verschiedenen gewaltsamen Konflikte zwischen ihm und den Edelknappen bzw. Küchenjungen deutlich herausgestellt. Bei der ersten Begegnung von Willehalm und Rennewart trägt letzterer einen vollen Wasserzuber (W  188,3), ihm wird vom Erzähler die Stärke von sechs Männern (W  188,6) bzw. drei Muli (W  188,12) bescheinigt und er wirft einen Knappen an eine Säule, sodass er zerplatzt (ähnlich in A L. 73 f.). Als ihm Küchenjungen in der Nacht vor der Sammlung des Heeres Haare und Kleider angesengt haben, durchbohrt er mit seiner Stange alle Kessel, sodass der Küchenmeister kaum mit dem Leben davonkommt (W 198,20–27). Nachdem die Küchenjungen in der nächsten Nacht seine Stange versteckt haben, stirbt der Küchenmeister und die anderen Köche wirbelt Rennewart in der Luft herum (W  201,27–202,7; ähnlich in A  L. 77 f.). Als beim Essen in Orange Knappen mit seiner Stange hantieren, bis sie umfällt, schlägt er nach ihnen, dass Funken aus den Säulen stieben und alle Knappen aus dem Saal flüchten (W 276,15–277,10). Rennewart schleudert den Koch ins Feuer unter dem Kessel (W 285,30–286,26; ähnlich in A L. 88), weil er ihm mit einem glühenden Scheit Bart und Mund verbrannt hat. Von den Deserteuren erschlägt Rennewart 45, noch bevor auch nur ein Wort gewechselt wurde und das, obwohl sie ungerüstet sind (W 324,8–325,16; noch brutaler in A L. 95). In der ‹Aliscans› tötet Renoart in schneller Folge gleich 350 Franzosen.

134



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt

den»227 nahelegt, so wird dieser Bezug in der Darstellung als Herrschaftsstütze weiter forciert. Wie v. a. der Blick auf Rennewarts körperliche Aktionsmacht zeigt, hat die Freundschaft zu Willehalm –  ganz im Gegensatz zu derjenigen von Willehalm‑Vivianz  – performativen Charakter, wirkt aber keineswegs appellativ. Rennewarts Verschwinden betrübt –  wiederum in krassem Gegensatz zu Vivianz  – niemanden außer Willehalm. Nach Willehalms Klagemonolog treibt ihn sein Bruder Bernart zuerst an, abseits des Schlachtfeldes zu lagern (W 458,1–7), ermahnt ihn zu «mânlîche[m] muot» (W 458,11) vor dem Heer und forciert die Vorbereitungen für den Gefangenenaustausch (W 459,4–16). Zuletzt bittet er ihn: «nû wis mit andaehte geil» (W 459,18). Dieses Gemahnen an Herrscherpflichten angesichts problematischer individueller Trauer erinnert an Karls Klage um Roland in den Texten des Roland‑Stoffs, allerdings stellt sich die Lage trotz der Motivparallele anders dar. Gerade im ‹Karl› erfolgen Mahnungen von göttlicher wie mitmenschlicher Seite und erinnern Karl daran, dass die Gefallenen in Gottes Reich eingegangen sind. Karl beginnt die zweite Ronceval‑Schlacht v. a. als Rache für Roland und erringt dann schließlich die Weltherrschaft, sodass die Freundschaft auch über den Tod hinaus sozial konstruktiv wirkt und Herrschaft stabilisiert. Die ‹Aliscans› kennt dieses Problem nicht, weil Rennewart dort lediglich ‹vergessen› wird, aber noch am Leben ist. Im ‹Willehalm› ist die Lage wegen der Trauer Willehalms allerdings prekär. Zwar bezeugt die Klage retrospektiv – wie auch bei den bisherigen Totenklagen in den untersuchten Texten – die enge Bindung der Freunde, allerdings sind Willehalm alle Möglichkeiten des Trosts, die Karl zur Verfügung stehen, verwehrt. Er kann nicht auf die Rettung von Rennewarts Seele vertrauen, weil er nicht getauft ist. Rache ist angesichts des Sieges über die Heiden nicht möglich. Das Heer ist schon allein deswegen nicht mobilisierbar, weil Rennewart im Gegensatz zu Vivianz –  wiederum aufgrund seines Heidenstatus’  – trotz seiner Heldentaten zu sehr Außenseiter geblieben ist. Bernart erkennt zwar Rennewarts Einsatz an, Trauer empfindet allerdings lediglich Willehalm. Die Freundschaft zu Rennewart destabilisiert in dieser Optik Willehalm und damit seine Herrschaft. Nur zum Schein kann er seine Herrscherpflichten aufrechterhalten: «iedoch stêt ez mir alsô: ich muoz gebâren, als ich vrô sî, des ich leider niht enbin. ez ist des houbetmannes sin, daz er genedeclîche lebe und sîme volke troesten gebe.»  (W 460,15–20)

Und auch die Verstellung gelingt Willehalm zeitlich nur sehr begrenzt. Zum Schluss des Textes, als das Christenheer nach der Matribleizszene am zweiten Tag nach der Schlacht dann tatsächlich abzieht, hebt Willehalm erneut zur Klage an. Der Erzähler suggeriert hierbei, dass diese alles Bisherige weit überrage, wenngleich die Klage dann nicht mehr ausgeführt wird: alrêst begunde mêren der marcrâve die sînen klage. 227

Koch 2006, S. 121, macht die intertextuelle Folie des ‹Rolandsliedes› für ihre Lektüre des ‹Willehalm› fruchtbar. Ich knüpfe daran an, ohne ihre auf Verwandtschaftskonzepte zugespitzte Argumentation zu teilen.

135

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen […] der marcrâve mit jâmers siten alrêst umb’en wurf dô warf. (W 467,14–19)

Die Passivität Willehalms als Effekt dieser Trauer wird im Text unmittelbar vor den zitierten Versen betont, wenn ihm der Weg gewiesen werden muss: nû wart im gemachet kunt, / war er solde kêren. (W 467,12 f.) Willehalms Bruder Gibert setzt erneut ein, Willehalms Klage durch Ermahnung an adäquates Herrscherhandeln einzudämmen: «sölher site niht bedarf  / […] / den got heres hât gewert, / daz er troesten solte …» (W 467,20–24) Der Text bricht über diesem herrschaftlichen Schwebezustand Willehalms ab.

3.3. Zur Labilität von Willehalms Herrschaft: Ein opfertheoretischer Annäherungsversuch Zwar ist Willehalm selbst ‹nur› Markgraf von Orange, aber ihn als Herrscher zu bezeichnen, ist insofern gerechtfertigt, als er weit mehr als nur Lehensnehmer und Sachwalter der Interessen des französischen Königs ist. Er stellt das Zentrum der erzählerischen Aufmerksamkeit dar, seine Geschichte – nicht die von Loys – wird erzählt und er wird im ‹Willehalm› durch die intertextuellen Verweise auf das ‹Rolandslied› deutlich mit Karl dem Großen parallelisiert. Willehalm wird präsentiert als Figur mit eigener ‹Agenda› und als derjenige, von dessen Handeln das ‹Schicksal› des Karolingerreiches abhängt. Willehalm kann unwidersprochen und statusgewiss in Munleun darauf verweisen, als ‹Königsmacher› fungiert, Loys den Thron gegen den Willen der Reichsfürsten verschafft und mehrere Schlachten für die Krone geschlagen zu haben (W 145,16–146,7). Darüber hinaus räumt er in der Auseinandersetzung mit der französischen Königin zwar ein, «es enmugen niht allez künege sîn» (W  158,18), darf aber sogleich und offenbar zu Recht von sich behaupten: «der naehsten bî roemischer krônen, / ich waene iedoch, daz sî mîn name.» (W 158,20 f.) Willehalm wird damit auf der Ebene des discours wie der histoire zum eigentlichen Regenten stilisiert.228 Betrachtet man nun beide Freundschaften Willehalms mit Blick auf seine Herrschaft im mittelhochdeutschen Text, so zeigt sich zwar, dass beide das Potenzial haben, diese weiter zu stabilisieren, aber letztlich nur auf der Ebene sporadischer Macht im Sinne Popitz’ wirken. Sie ermöglichen die Machtausübung im Einzelfall und ad hoc, aber nicht wiederholbar: Willehalms Status im Reich scheint so prekär,229 dass lediglich der Verweis auf die Rache für Vivianz den König und das Heer mobilisieren kann. Dieses Argument fällt für Rennewart, wie beschrieben, aufgrund seines Heidenstatus’ aus. Auch er kann nur zufällig230 beim Herrschaftserhalt Willehalms dergestalt helfen, dass er die 10 000 Deserteure 228

Nicht ganz unerheblich dürfte es auch sein, dass Gyburc, obwohl mittlerweile Markgräfin, dennoch weiterhin vom Erzähler wie auch von den Figuren mit ihrem früheren Titel als Königin adressiert wird (W 23,6 u. ö.). 229 Das mehrfach betonte Nicht‑Begrüßen Willehalms am Königshof und das Verriegeln der Palasttüren in Munleun auf Anweisung der Königin sprechen in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache (W 129,28–130,2). Die Königin meint, dass er mit seinen Kriegen viel Leid verursacht habe und nun sicherlich – schon wieder – ein neues Heer wolle (W 129,22–27). Die französischen Fürsten wünschen ihn sich an die einsamsten Ecken der Welt (Skandinavien, Ghana, ins Lebermeer), weil er die edle Ritterschaft in seinen vielen Kriegszügen aus dem Boden Frankreichs erjeten, also ‘herausgeharkt’ habe (W 141,24) und sie ahnen, dass er wieder ein Heer verloren habe. 230 Zufällig ist die Begegnung insofern, als Rennewart auf dem Rückweg vom Nachtlager, wo er seine Stange nun bereits zum dritten Mal vergessen hat, ins Heerlager ist, als er bei Pitit Punt auf die Deserteure trifft.

136



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt

zurück in die Schlacht treibt und damit zwar einen gewichtigen Beitrag zum Sieg leistet, dieser Beitrag aber nicht verdauert werden kann. Vivianz kann Willehalm nur qua Tod helfen und Rennewart verschwindet, noch bevor seine vielversprechende, v. a. körperliche Macht im Sinne von Willehalms Herrschaft standardisiert werden kann. Der Lehensfeudalismus Willehalms ist so gesehen permanent labil. Er befindet sich mit seiner Markgrafschaft am Rande des Reichs, hat kaum Zugang zum französischen Machtzentrum in Munleun und wenig verlässliche triuwe‑Bindungen innerhalb der Sippe und der Gefolgschaft – seine Schwester lässt bei seiner Ankunft am Hof sogar die Tore verriegeln. Als seine Hilfebitten hinsichtlich militärischer Unterstützung für die zweite Alischanz‑Schlacht kein Gehör beim französischen König finden, springt er beim Essen auf den Tisch, erinnert ihn an seine lehensmäßige Verpflichtung zur Hilfe im Kriegsfall und will sogar seine Lehensbindung aufkündigen (W 179,7–13). Die Übertragung des Reichsheers bleibt ebenfalls Episode und dient eher dazu, die heidnische Invasion in der Peripherie zu stoppen, als Willehalms Position zu festigen. In der ‹Aliscans› stellt sich die Konstellation ganz anders dar: Guillelmes Position ist auch im altfranzösischen Text nicht sonderlich vorteilhaft, aber das Heer für die zweite Schlacht kann hier v. a. aufgrund der hervorgehobenen reichspolitischen Dimension des Konflikts und die Erinnerung an das fortzuführende Vermächtnis Karls des Großen akquiriert werden. Die Rache für Vivien spielt zwar eine Rolle, von ihr hängt aber nicht wie im mittelhochdeutschen Text die endgültige Entscheidung ab. Für die ‹Aliscans› stellt sich darüber hinaus das Problem des Verlusts von Rennewart nicht. Renoart wird hier schrittweise dem Christentum und der Herrschaft Guillelmes angegliedert: Taufe, Rittertum, Lehen, Hofamt warten auf ihn nach der Schlacht. Über die Freundschaft zu Renoart –  so sprunghaft und agonal sie auch sein mag  – ist Guillelmes Herrschaft dauerhaft gesichert und darüber hinaus auf höherem institutionalisiertem Niveau als im ‹Willehalm›. Guillelmes Herrschaft befindet sich mindestens auf der Stufe normierender Macht, bei der Leistungen standardisiert durchgesetzt sind, wie man der Lehensbindung Renoarts ablesen kann. Mit der Anweisung, Renoart solle die erbeuteten Heidenschätze aufteilen, wird auch eine weitere Positionalisierung von Macht in Richtung Herrschaft angedeutet, insofern Macht von der Herrscherpersona auf Dritte übertragbar wird. Wie sind diese Unterschiede sowohl zwischen den beiden Freundschaften Willehalms zu Vivianz und zu Rennewart innerhalb eines Textes als auch zwischen dem mittelhochdeutschen Text und seiner altfranzösischen Vorlage zu erklären? Vivianz und Rennewart sind nicht nur als Figuren an sich trotz der oben aufgezählten Parallelen verschieden angelegt: strahlender christlicher, allseits geliebter Minneritter, der einen Märtyrertod stirbt vs. küchenverschmutzter, gefürchteter und kaum integrierter, verkannter heidnischer Prinz, der scheinbar ohne Weiteres aus der Geschichte getilgt werden kann. Auch die Freundschaften der beiden Figuren zu Willehalm sind von unterschiedlicher Qualität: Bei beiden Figuren spielt zwar körperliche Aktionsmacht eine Rolle, aber die Vivianz‑Freundschaft zeichnet sich durch eine affektive Basis und autoritative Machtdimensionen aus, während die Rennewart‑Freundschaft wertrationale Aspekte und datensetzende Macht in den Vordergrund stellt. D. h. die beiden sind als Freundesfiguren keine einfache Dopplung, aber eine trennscharfe Aufteilung funktionaler Valenzen findet ebenfalls nicht statt. Wie ist das Vorkommen gleich zweier Freundesfiguren dann zu erklären, in welchem Zusammenhang stehen sie? 137

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

Die Freundschaften im ‹Willehalm› büßen ihr positives Potenzial wie gezeigt ein. Wieso gewinnen die Freundschaften hier –  wie in den bisher untersuchten und auch in den noch folgenden Texten  – keine (dauerhafte) sozial konstruktive Funktion? Warum stürzen sie Willehalm vielmehr in eine Herrschaftskrise? Zweifellos hängen diese Fragen mit den Bearbeitungstendenzen im mittelhochdeutschen Text zusammen. Nun kann man keine Sicherheit über Wolframs Intentionen diesbezüglich gewinnen, deren Wirkung auf die Komplexe Freundschaft und Herrschaft sowie auf den Gesamttext kann man hingegen beschreiben. Fragen zum Status der Rennewart‑Figur werden in der Forschung traditionell im Zusammenhang mit dem Status des Textes diskutiert. Man gelangt auch bei dem Problem, ob es sich beim ‹Willehalm› um einen abgeschlossenen, notdürftig ab­ geschlossenen oder fragmentarischen Text handelt,231 ebenso wenig über Mutmaßungen hinaus, wenngleich die Forschung heute allgemein von dessen Fragmentarität ausgeht. Von dieser Annahme aus versteigen sich auch neuere Arbeiten immer wieder zu Spekulationen über den Fortgang des Textes, insbesondere zum ‹Schicksal› der Rennewart‑Figur, deren Geschichte anhand der Vorlage fortgeschrieben wird. Dass der ‹Rennewart› Ulrichs von Türheim diesen Weg Ende des 13. Jahrhunderts beschreitet und den ‹Willehalm› fortsetzt, ist allerdings keine Legitimation, so auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung zu verfahren und Rennewart gewissermaßen über die Textgrenze hinweg zu ‹retten›. Trotz vieler Beiträge zur Rennewart‑Figur und zum Fragment‑Status232 fehlt es an einer geschlossenen Lesart zu diesen Komplexen, die den vorhandenen Textbestand ernst ­ nimmt. Man mag die These von der Labilität der Herrschaft Willehalms und meine im Folgenden auszuführende Deutung Rennewarts vor dem Hintergrund des Textabbruchs und der Fortsetzung des ‹Willehalm› im ‹Rennewart› gewagt finden. Die thematische Sukzession im ‹Rennewart› weist das Ende des ‹Willehalm› als Alternative ab, wodurch sich funktional ein Bruch ergibt. Für eine isolierte Betrachtung des gegebenen Textbestandes von Wolframs Text unabhängig von der in der neueren Forschung stark gemachten Betrachtung in seinem zyklischen Verbund233 spricht Folgendes: Der Überlieferungsbefund ist keineswegs eindeutig dergestalt, dass der ‹Willehalm› auf eine Fortsetzung im ‹Rennewart› abonniert ist, da immerhin eine der zwölf vollständigen Handschriften des ‹Willehalm› diesen allein, zwei weitere gemeinsam mit Strickers ‹Karl› und wiederum zwei Fragmente weiterer Sammelhandschriften ihn im Kontext dezidiert geistlicher Literatur überliefern.234 231

Der Text endet in den meisten Handschriften mit sus rûmt er Provenzâlen lant (W 467,8), was die Geschichte mehr oder weniger beschließen könnte. In den wichtigsten Handschriften G und V endet der ‹Willehalm› allerdings erst 14 Verse später mitten im Satz Giberts. So werden in der Forschung verschiedene Positionen vertreten, wonach W  467,8 das konzeptionelle Ende des Textes darstellt, also kein Fragment vorliegt, oder W 467,8 ein provisorischer Schluss sei (Notdach), also ein Fragment aus inneren (Konzeption ließ sich aufgrund ihrer Paradoxie nicht vollenden) oder äußeren Gründen (Tod Wolframs oder seines Gönners) vorliege. Vgl. das ausführliche Forschungsreferat zur älteren Forschung bei Greenfield/​Miklautsch 1998, S. 163–168. In der jüngeren Forschung ist es um die Frage des Fragmentstatus’ ruhig geworden. 232 Vgl. etwa den Überblick zur älteren Forschung zur Rennewart‑Figur allgemein sowie zu den Fortschreibungsversuchen bei Kielpinski 1991, S. 11–22. 233 Vgl. dazu zuletzt und die bisherige Forschung zur zyklischen Überlieferung zusammenfassend Kreft 2014. 234 Vgl. Bastert 1997, S. 12. Dabei stellt der wichtige St. Galler Cod. 857 (G), entstanden im zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts, den ältesten Textzeugen des ‹Karl› und des ‹Willehalm› zusammen. Zum Überlieferungsverbund des ‹Willehalm› und den sich damit wandelnden Textaussagen vgl. Bastert 2005. Zur bislang kaum beachteten Überlieferung des ‹Willehalm› im nicht-zyklischen Verbund in G, Ha, Fragment 22+31 und 35 vgl. Vetter 2018, die die Überlieferung des ‹Willehalm› jeneseits von ‹Arabel› und ‹Rennewart› als zwar «seltene,

138



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt

Hinsichtlich der hier eingeschlagenen Rezeptionsorientierung ist zu konstatieren, dass die beiden Fortsetzungen des ‹Willehalm› erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstehen und die frühesten Zeugnisse, die einen dreiteiligen Zyklus überliefern, um 1300 datieren. Das bedeutet, dass man für einen, in meinem Argumentationszusammenhang relevanten Rezipienten der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts eigentlich nur den ‹Willehalm› als Einzeltext in Anschlag bringen kann.235 Selbst bei gemeinsamer Überlieferung ist der Neueinsatz des ‹Rennewart› innertextuell deutlich markiert über ein Prologgebet, das den Beginn eines neuen Textes signalisiert (dieses fehlt nur in einer Handschrift). Klar wird das auch am Wandel der Figur Rennewarts und seiner Beziehung zu Willehalm.236 Auf der histoire-Ebene mag der ‹Rennewart› eine Fortsetzung des ‹Willehalm› sein, die discours-Ebene markiert dies aber als arg brüchig. Es handelt sich deutlich um distinkte, aber thematisch zusammengehörige Teile einer Erzählung. Sie sind nicht eigens aufeinander abgestimmt. Selbst wenn man den Überlieferungsverbund prioritär setzte, dann wird das Ende des ‹Willehalm› gerade nicht überschrieben, sondern ragt umso deutlicher als nicht bewältigter Rest heraus. Wolfram hat sich zudem gerade am Ende weit von der französischen Vorlage entfernt, während der ‹Rennewart› noch ein wenig vor dem Ende des ‹Willehalm› ansetzt und auch ansetzen muss, wenn der Bezug zur französischen Vorlage wieder enger sein soll, was offenbar die Stoßrichtung des ‹Rennewart› ist. Der Neueinsatz in der Schlussphase ist wohl notwendig geworden durch die Inkompatibilität von Wolframs Schluss mit der altfranzösischen Vorlage.237 Dass gerade in den Überlieferungsverbünden von ‹Willehalm› und ‹Rennewart› keine Glättung solcher eklatanten Widersprüche erfolgte, also gerade nicht in Wolframs Text eingegriffen wurde, spricht eher dafür, sie als ein Nebeneinander, nicht als Abfolge zu begreifen.238 Nicht unwesentlich dürfte zudem sein, dass auch der ‹Rennewart› Willehalms Verzweiflung angesichts des Verschwindens von Rennewart als Ende des ‹Willehalm› herausstellt: aber für beinahe den gesamten Überlieferungszeitraum nachzuweisende Form der Textzusammenstellung von Wolframs Fragment gebliebenem Epos» (S. 341) bezeichnet. Einen erhellenden Vergleichsfall bietet der ‹Trojanerkrieg› Konrads von Würzburg, der zwar in allen Handschriften mit seiner nahtlos anschließenden Fortsetzung überliefert ist, die ohne jede Thematisierung ihrer fortsetzenden Qualität eine Einheit beider Partien vermitteln will. Dass dieser Verbund aber keineswegs primär war, zeigen die beiden Trojaprosen und die ‹Trojanerkriege› der gereimten Weltchronik-Kompilationen, die offenbar Konrads Text, nicht jedoch seine Fortsetzung benutzen und nach Abbruch des Konrad’schen ‹Trojanerkrieges› zu anderen Quellen wechseln. Vgl. Lienert 1996, S. 332 f. Auch wenn die Mehrheit der Textzeugen den ‹Willehalm› im Verbund mit dem ‹Rennewart› überliefern, so spricht dies keineswegs gegen eine isolierende Betrachtung des ‹Willehalm›, die der primären Rezeptionssituation womöglich doch am nächsten kommt. 235 Daneben darf man auch von der Produktionsseite her durchaus hinterfragen, ob Wolfram einen Zyklus im Sinne der ‹Geste de Guillaume› kannte, denn auch die frühesten Zeugen, die die ‹Bataille d’Aliscans› in einem Zyklus überliefern, datieren mindestens parallel zu, wohl eher nach der Abfassung des ‹Willehalm›. Wolfram kannte vielleicht nur eine Version mit noch nicht sehr ausgeprägter Zyklizität. Dafür spräche der Befund, dass sich kaum zyklische Valenzen im ‹Willehalm› finden, aber das kann ebenso gut auch nachträgliche Bearbeitung sein, wie man das analog beim ‹Rolandslied› beobachten kann. Vgl. Bastert 1997, S. 5–8. 236 Rennewart ist sogleich innerlich Christ statt religiös unentschieden zu sein. Auch die Freundschaft WillehalmRennewart ist ganz anders angelegt: Willehalm weist Rennewart offensiv in ritterliches Leben ein (während er Rennewart im ‹Willehalm› gerade in diesem Punkt so akzeptiert, wie er ist), Rennewart agiert umgekehrt mehrfach als Ratgeber Willehalms (was im ‹Willehalm› nie vorkommt). 237 Vgl. Bastert 2005, S. 124 f. und 128 f. 238 Dass glättende Texteingriffe in den ‹Willehalm› durchaus möglich gewesen wären, zeigen die Gegenbeispiele des Wolfenbütteler Exemplars der ‹Weltchronik› Heinrichs von München und das ‹Buch vom heiligen Wilhelm›, die die Diskrepanzen im Zyklus beseitigen. Vgl. Bastert 2005, S. 136 f.

139

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen umme ir shaden und umme ir sheiden hat ir wol vernomen e. dem markise tet vil we do er Rennewartes vermiste und nit die warheit wiste ob er was lebendic oder tot. der zwivel angest im gebot und daz im vræde gar verswant […].  (R v. 174–181)

Ich möchte daher im Folgenden versuchen, die oben skizzierten Fragen und Problemkomplexe in einer Lesart zu bearbeiten, welche die Prämissen berücksichtigt, wonach Wirkung und gegebener Textbestand befragbar sind, nicht jedoch Autorintentionen oder ein möglicher alternativer Ausgang des ‹Willehalm›. Hierfür ist der Vergleich zur ‹Aliscans› entscheidend. Eine Theorie, welche die erarbeiteten Ergebnisse zusammenführt und die aufgeworfenen Fragen aufhellen kann, ist diejenige des Opfer- bzw. Sündenbockmechanismus’ Girards. Er entwickelt seine Theorie in den beiden maßgeblichen Abhandlungen «Das Heilige und die Gewalt» [Orig. «La violence et le sacré», 1972] und «Der Sündenbock» [Orig. «Le bouc émissaire»,  1982] ausgehend von ethnologischem und literarischem Material (v. a. zum Ödipus‑Mythos und dessen literarischen Bearbeitungen) und führt die Entstehung von Kultur auf die Faszination von Gewalt zurück. Seine These besagt, dass am Anfang aller Religionen, Kulturen und Gesellschaften eine Gründungsgewalt steht. In sozialen Krisenzeiten wird das Chaos beendet und die Gemeinschaft befriedet durch die einmütige, stellvertretende Opferung eines ihrer Mitglieder, des sog. Sündenbocks bzw. des versöhnenden Opfers. Die gemeinschaftliche Krise oder Opferkultkrise ist gekennzeichnet durch mimetische Gewalt, welche die gesamte Gruppe erfasst bzw. – in der Terminologie Girards  – ‹ansteckt› und die auf ihrem Höhepunkt die gesamte Gemeinschaft zu zerstören droht. Girard geht davon aus, dass die ansteckende Gewalt sich nicht durch Differenzen in der Gemeinschaft (etwa des Geschlechts, des Alters, der sozialen Hierarchien) ausbreitet, sondern im Gegenteil durch die Aufhebung aller Differenzen. Dieser bedrohliche Prozess der Entdifferenzierung wird durch die Opferung des Sündenbocks gestoppt, der einerseits monströser Kulminationspunkt der Gewalt ist, sich andererseits aufgrund seiner befriedenden Leistung für die Gesellschaft durch eine Nähe zur Transzendenz auszeichnet. Diese Gründungsgewalt muss allerdings in der Folge im kulturellen Gedächtnis verschleiert werden. Diese, von Girard sog. ‹Verkennung› erfolgt in Form von Mythen oder kultischen Opfern, die die Gewalt wohl dosieren und so einem erneuten Ausbruch vorbeugen. Umgekehrt bedeutet dies, dass alle kulturellen Artefakte den Sündenbockmechanismus stets nur in verhüllter Form präsentieren (können). Man mag zur monokausalen Erklärung von Kultur aus Gewalt stehen wie man möchte – und die ethnologische wie theologische Forschung haben diese scharf angegriffen –239 239 Schon

Quast 1998, S. 354, Fn. 29, muss konstatieren, dass die Fülle der Forschungsliteratur zu diesem Punkt heftigster Auseinandersetzungen nicht mehr überschaubar ist. Vgl. exemplarisch diese Kritik bei Herzog 1992, S. 132. Palaver 2004, S. 234 und 243, erläutert die Probleme, die die Ethnologie mit der Anwendung von Girards Stereotypen der Verfolgung auf Mythen hat und mit seinem Insistieren auf ihrem subkutanen Wahrheitsgehalt. Dieser hermeneutischen Prämisse darf man auch als Literaturwissenschaftler durchaus reserviert gegenüberstehen. Vgl. Quast 1998, S. 354, Fn. 30. Kiening 2003, S. 43, referiert die Kritik so:

140



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt

und man darf aus kulturtheoretischer Sicht Girards bekenntnishaften Umgang mit dem Christentum, aus anthropologischer Perspektive seine Tendenz zur Ontologisierung von Gewalt und anderes mehr ablehnen,240 aber der Mechanismus von Ansteckung, Ausstoßung und Befriedung von mimetischer Gewalt kann den literaturwissenschaftlichen Blick auf einen Text durchaus schärfen. Dass Girards Modell zur Erhellung narrativer Logiken auch vormoderner Texte geeignet ist, konnten Arbeiten von Quast, Strohschneider, Röcke, Kraẞ, Kiening, Kellner und anderen, an die ich hier methodisch anschließe, eindrucksvoll unterstreichen.241 Mit den nachfolgend zunächst knapp erläuterten Thesen möchte ich keineswegs unterstellen, Wolfram habe intentional postmoderne Theoriebildung vorweggenommen. Die Theorie dient vielmehr als Interpretament dazu, verschiedene Fragen im Zusammenhang mit Freundschaft in einer möglichen Lesart zusammenzubinden, die den Vorzug hat, Bearbeitungstendenzen Wolframs stärker zu konturieren. Ich unterstelle mit Röcke: «Höfisch‑adligen Milieus […] scheinen Sündenbockrituale fremd zu sein. Dennoch sind sie auch für diese konstitutiv, treten allerdings sehr viel stärker überdeterminiert in Erscheinung.»242 Betrachtet man den ‹Willehalm› unter der Optik der Girard’schen Theorie, so lässt sich folgende, grob umrissene These vertreten: Die Gesellschaft im ‹Willehalm› zeigt bereits zu Textbeginn deutliche Zeichen bedrohlicher Entdifferenzierung. Der Tod Vivianz’ löst in Form einer Rachespirale mimetische Gewalt aus, die durch ihre ansteckende Wirkung alle Teile der Gesellschaft erfasst. Die Entdifferenzierung wird damit zum akuten Problem für deren Bestand. Träger dieser Entdifferenzierung ist zunächst Willehalm, der in der Folge durch Rennewart abgelöst wird (Girards sog. ‹monströser Doppelgänger›). Rennewart erfüllt als Inbegriff der Implosion aller Grenzen perfekt die Rolle des Sündenbocks,243 welcher zum Schluss des Textes geopfert und Ordnung qua Differenz scheinbar restituiert wird. Willehalms Klage um Rennewart und damit letztlich seine Freundschaft zu ihm gefährden allerdings diese Einmütigkeit massiv, weswegen v. a. Willehalms Brüder Bernart und Gibert intervenieren und ihn zum Abzug der Truppe gemahnen, was Willehalm aller«Er [d. i.  Girard] unterscheidet nicht zwischen ereignisgeschichtlichen Konstellationen und symbolischen Ordnungen. Er behandelt Literatur als Dokument einer archaischen Verborgenheit, nicht als Monument eines spannungsvollen Weltentwurfs.» Davon abgesehen betont Kiening aber den «Erschließungswert [der Theorie] für bestimmte kulturelle Situationen» (ebd). 240 Kraẞ/Frank 2008, S. 10, kritisieren die Kontamination der wissenschaftlichen Außensicht durch Girards persönliche Konversion zum Christentum, wodurch sein kulturtheoretisches Instrumentarium mit dem «verkappte[n] Bekenntnis zum Christentum» kontrastiere. Infolgedessen halten Kraẞ/Frank Girards Unterscheidung in historiografische wie mythologische Verfolgungstexte und christliche Passions- und Märtyrergeschichten für nicht tragfähig und modifizieren entsprechend (vgl. S. 10–13). Palaver 2004, S. 283–286, illustriert, wie die deutschsprachige Theologie Girard unterstellt, er vertrete ein gewalttätiges Menschenbild, während er diesem eine klare Absage erteilt. Quast 1998, S. 354, hebt das Erbe Freuds in den Arbeiten Girard als problematisch hervor. Müller‑Funk ²2010, S. 258 und 272, moniert das Fehlen einer konsistenten, expliziten Methodologie wie einer empirischen Basis bei Girard, die Unbestimmtheit seines Opferbegriffs, die alleinige Erklärung von Gewalt aus Entdifferenzierung und den Rückfall in Binarismen von primitiver vs. moderner Gesellschaft bei gleichzeitigem Selbstwiderspruch, wonach auch moderne Gesellschaften Gewalt ‹verkennen›. Oswald 2004, S. 51 f., kritisiert hingegen den unspezifischen, undifferenzierten Gewaltbegriff bei Girard. 241 Vgl. Quast 1998; Strohschneider 2004; Röcke 2001 und 2004; Kiening 2004; Kellner 2004; Kraẞ 2005 und Nowakowski 2014. 242 Röcke 2004, S. 294 f. 243 Das ist nicht ontologisch so zu verstehen, dass Rennewart ein Sündenbock wäre. Auf ihn trifft zu, was Röcke 2004, S. 301 f., für Keie formuliert: «Zwar ist Keie kein Sündenbock, doch bedient er sich eines Handlungsmusters, das ebenfalls Züge eines Reinigungsrituals aufweist.»

141

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

dings nur zum Schein und unter fortwährender Klage mehr erduldet als aktiv gestaltet. Der Text bricht mit diesem Bild von einem Herrscher in desolatem Zustand ab. Die Unterschiede zur ‹Aliscans› sind durch die Applikation der Idee mimetischer Gewalt plausibilisierbar: Im altfranzösischen Text wird nie der kritische Punkt der Entdifferenzierung überschritten, im Gegenteil werden Grenzen v. a. zwischen Christen und Heiden deutlich betont. Viviens Tod kann dort keine vergleichbare Gewaltspirale in Gang setzen, wenngleich auch hier Guillelme die Gewalt an den französischen Königshof trägt. Das bedrohliche Gewaltpotenzial, welches im ‹Willehalm› die gesamte Gesellschaft betrifft, kanalisiert sich hier auf Renoart, der durch seine, im Text selbst als dämonisch bezeichnete Kraft so weit außerhalb der Gesellschaft steht, dass er als Opfer gänzlich ungeeignet ist. Vielmehr wird er durch das Umschlagphänomen der Taufe voll integriert und damit wiederum – nun aber am anderen Pol – als Opfer unbrauchbar. Tendenzen zur Entdifferenzierung, die für Girards Überlegungen zentral sind, sind schon am Anfang in beiden Texten gegeben. Dies beginnt bereits vor dem Einsetzen der Geschichte von ‹Aliscans› bzw. ‹Willehalm› damit, dass Gyburc ihre heidnische Familie verlässt und zum Christentum konvertiert. Auch die Enterbung der sieben Heimrich‑Söhne ohne jegliche Erklärung zugunsten eines Patenkindes deutet auf die Brüchigkeit verlässlicher verwandtschaftlicher Bindungen (W 5,15–6,18).244 Ein gewichtiger Unterschied zwischen ‹Aliscans› und ‹Willehalm› besteht allerdings in der Darstellung der Heiden, was von der Forschung mehrfach herausgearbeitet wurde.245 Hieran zeigt sich, dass die Entdifferenzierungstendenz des ‹Willehalm› das Fundament des Textes anrührt, während die ‹Aliscans› klare Grenzen zwischen Christen und Heiden zieht. In beiden Texten sind die Unerlöstheit der Heiden und die religiöse Zweiteilung der Welt gesetzt, im ‹Willehalm› wird diese Grenze aber durch Annäherung der Christen und Heiden mehrfach überschritten. Mit Strohschneider kann man von einer «ambivalenten Mehrschichtigkeit»246 der Heiden sprechen.247 Für den ‹Willehalm› bedeutet dies, dass die religiöse Zweiteilung fragwürdig wird. Girard spricht von einer «Symmetrie aller Gegenspieler» und von «Spiegeleffekten»,248 die zugleich Nährboden wie Ausdruck der 244 Auch

wenn die Enterbung in der ‹Aliscans› selbst nicht erzählt wird, ist sie Bestandteil des altfranzösischen Guillaume‑Zyklus und wird z. B. in ‹Les Narbonnais› berichtet und dort damit erklärt, dass das Land zu klein für eine Teilung unter allen Geschwistern sei. Im ‹Willehalm› wird hingegen gar kein Grund genannt. Vgl. Greenfield/​Miklautsch 1998, S. 70. Im ‹Willehalm› konnotiert die Formulierung, dass Heimrich alle sîne süne verstiez (W  5,17), die Gewaltsamkeit der Enterbung in der Wahl des Verbs mit, das wörtlich mit ‘verstoßen’, ‘vertreiben’ oder ‘verderben’ übersetzt werden könnte. Vgl. BMZ Bd. 2/2, Sp. 666a. 245 Vgl. die bei Heinzle 2011 zusammengefassten Forschungsergebnisse, insbesondere in den Kapiteln «Orient» (S. 654–657), «Krieg» (S. 661–666) und «Verwandtschaft, Schonung, Toleranz» (S. 669–672). 246 Strohschneider 1992, S. 28. 247 Es seien für diese Ambivalenz nur die augenfälligsten Punkte angeführt: Im Text wird einerseits Vertrautheit mit und Nähe zu den Heiden suggeriert: Sie haben die gleichen Vorstellungen von hövescheit und Tugend wie die Christen, sie sind mindestens ebenbürtig in Adel und Reichtum, sie folgen der gleichen Auffassung von Minne bzw. Minnerittertum. Sie zeigen eine ähnlich hierarchische staatliche Ordnung und selbst ihr Glaube wird ernsthaft und sorgfältig beschrieben. Andererseits bleiben Fremdheit gegenüber und Distanz zu den Heiden erhalten: Auf die Heiden werden auch Vorstellungen von Monstrosität und Exotik projiziert, etwa durch deren schwarze Hautfarbe oder gar in Wesen wie den hornhäutigen Riesen Gorhants (W 34,30–35,25), durch Schilderungen, wie Christenfrauen die Brüste abgeschnitten, Kinder gefoltert und Männer als Zielscheiben benutzt werden (W  297,14–19). Zwar kommen die Heiden, anders als in der ‹Aliscans›, auch durchaus selbst zu Wort, ihre Schilderung erfolgt aber stets aus christlicher Perspektive, es liegt also kein unmittelbares Heidenbild vor. Sie bleiben Glaubens- und Kriegsgegner. 248 Girard 2006 [1972], S. 73 f.

142



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt

mimetischen Gewalt sind. Die ‹Aliscans› betont hingegen im Sinne wenig komplexer Kreuzzugsideologie die Grenze zwischen Christen und Heiden. Letztere sind Kinder des Teufels, ihr Glaube lächerlich und ihr Sterben gerechtfertigt.249 Sind Grenzen im ‹Willehalm› ohnehin labil und konfliktanfällig, bricht sich die schwelende Gewalt endgültig Bahn mit dem Tod des Vivianz, der stellvertretend für den Tod aller gefallenen 20 000 Kämpfer geschildert wird. Sein stufenweises Sterben durch die Hand Noupatris’ und Halzebiers sowie durch die Kämpfe gegen die Truppen Gorhants erscheint so, als ob die Heiden kollektiv Schuld an seinem Tod tragen. Die Freundschaft zu Willehalm ist wiederum so auratisch illustriert, dass Willehalms Trauer in Zorn und intensives Rachebegehren umschlägt und seine Gewalt gewissermaßen blind wird. Mit Vivianz als gotterwähltem Helden (W  49,1) stirbt symbolisch auch die mit ihm verbundene Unschuld, Tugend und im Grundes alles Gute (W 23,8 f.; 48,25; 62,1–9). Dass die Ordnung nun vollends gestört ist, macht das Bild des hinabstürzenden Lindenastes im Moment von Vivianz’ Tod deutlich, der wortwörtlich in den locus amœnus der Sterbeszene einbricht (W 69,20–24). Nur im Zusammenhang dieses Umschlags von Trauer in Zorn wird auch verständlich, warum Willehalm den schwer verletzten und um sein Leben flehenden Arofel durch Enthaupten regelrecht hinrichtet. Eine Verknüpfung mit Vivien und dem Rachemotiv fehlt bezeichnenderweise in der ‹Aliscans›. Der Rachezyklus im ‹Willehalm› wird später hingegen, wie oben bereits gezeigt, alle Christen erfassen. Aber auch die Gegenseite tritt in die Rachespirale ein, weil der ‹Willehalm› im Gegensatz zur ‹Aliscans› auch eine Szene enthält, in der Terramer seine Verluste in der ersten Schlacht beklagt (W 106,17–107,18). Terramers Zorn richtet sich dann – auch das ist signifikant – gegen seine eigene Tochter. Er will Arabel/​Gyburc quälen (W  108,20 f.) und lässt ihr die Wahl zwischen den drei Todesarten Ertränken, Verbrennen oder Erhängen (W 109,22–29). Willehalm fragmentiert in der skizzierten Arofel‑Szene seinen Gegner nicht nur, sondern plündert ihn auch. Willehalm verlässt damit den Rahmen ritterlichen Verhaltens und wird in einer Art aggressiver Mimikry zu seinem eigenen Gegner, wobei seine wahre Identität weiter durchscheint und damit an seinem Äußeren Entdifferenzierung ablesbar wird. So erkennen ihn die heidnischen Truppen auf dem Weg vom Schlachtfeld nach Orange (W 83,15–23) und auf dem Weg von Orange nach Munleun (W 105,21–27) nicht, selbst sein Kaplan und seine Frau erkennen ihn in Orange wegen der Rüstung und des Pferds von Arofel nicht (W 89,4–92,18). Allerdings verrät sein eigenes, wundes Pferd, das Willehalm hinterhertrabt, die Tarnung (W 84,17–30).250 Die nächste Stufe der Gewalteskalation erreicht Willehalm in Orléans, wo Entdifferenzierung dadurch angezeigt wird, dass der Richter Wegzoll verlangt, weil er ihn für einen Kaufmann hält (W 112,22–115,3), und dass Ernalt den Bericht, Willehalm habe den königlichen Kriegsruf ‹Munschoi› geführt, für eine List ansieht (W 117,1–13). 249 So

ist es in dieser Optik auch selbstverständlich, dass die zurückgebliebenen Heiden am Ende der zweiten Schlacht getötet werden, während im ‹Willehalm› die Gefangenen übergeben werden und für die toten Heiden in der Matribleizszene eine adäquate Bestattung angebahnt wird. Die Heiden werden in der ‹Aliscans› nach Koselleck 1975 in der Denk- und Ordnungsfigur asymmetrischer Gegenbegriffe gefasst, die darauf angelegt sind, gegenseitige Anerkennung auszuschließen. In diese Begriffe sind Wertaxiologien eingeschrieben, die das Fremde vom absoluten Wertmaßstab des Eigenen aus beurteilen und das Fremde daher nur negieren und verachten können. 250 Das Nicht‑Erkennen Guillelmes aufgrund der Rüstung Ariofles findet sich auch in der ‹Aliscans› (A L. 47; 55; 81).

143

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

Damit liegen Transgressionen auf der Ebene abermals der Identität Willehalms sowie der Episteme vor, Wahrheit und Schein können nicht mehr getrennt werden. Willehalm tötet den Richter und greift die Bürgerwehr an, noch bevor er auch nur einen Erklärungsversuch unternommen hat. Die Gewalt spitzt sich dann weiter im Kampf gegen den zunächst unerkannten Bruder Ernalt zu (W  118,4–26). Der Kampf ist nicht nur wegen des literaturgeschichtlichen Topos interessant, sondern hat insofern symbolische Qualität, als er das Problem der Entdifferenzierung qua Ähnlichkeit in besonderer Weise zur Anschauung bringt. Girard umreißt das als «Ähnlichkeitsphobie»,251 die sich im Besonderen (positiven oder negativen) Umgang mit Zwillingen und im Motiv der feindlichen Brüder oder nahen Verwandten niederschlägt, da diese durch ihre Ununterscheidbarkeit die kulturelle Ordnung ins Wanken bringen. Dass die Gewalt zunehmend alle gleich ‹macht›, wird nach dem gegenseitigen Erkennen der Brüder überdeutlich durch Formulierungen Willehalms, er habe hier gegen sich selbst gekämpft: «hie muos ich mich mîn selbes wern» (W 119,16) und «mîn lîp mîn selbes lîbe vâr / hât umbekant erzeiget.» (W 119,21 f.) Auch ihre beiden Leiber und Herzen seien eins: «man mac wol z’eime teile unser zweier lîbe zeln. swer zwei herze wolde weln, dern vunde niht wan einez hie: mîn herze was dîn herze ie, dîn herze sol mîn herze sîn.»  (W 119,24–29)

In der ‹Aliscans› hat die Begründung für den Tod des Kastellans und von 50 Bürgern auffälligerweise keinen Bezug zur Entdifferenzierung, da Guillelme wegen seines bewaffneten Ritts durch die Stadt zur Rede gestellt wird (A L. 57). Der Kampf gegen den Bruder Ernaut ist zudem frei von Ähnlichkeitsbezügen (A L. 58 f.). Die letzte Stufe der Gewalteskalation, die in dieser Phase des Textes noch an der Figur Willehalms hängt, ist mit seinen Auftritten in Munleun (W  126,1–184,30) erreicht.252 Gewalt ist zunächst auf der Ebene von Symbolpolitik präsent, denn Willehalm bringt rostverschmiert, mit wirren Haaren und in Arofels verbeulter Rüstung im Hof sitzend (W  127,17; 127,29 f.; auch am nächsten Tag legt er die Rüstung wieder an 137,3 f.) den Kampf von der Peripherie des Reichs direkt in dessen Zentrum, wo gerade ein Hoffest abgehalten wird: Man mutmaßt, er vert ûz eime strîte her (W 128,23) und wirkt kampf‑ lîche (W 128,25). Am nächsten Tag unterminiert Willehalm abermals die Feststimmung, indem er nun im Saal das Schwert in der Richterpose demonstrativ auf seinen Schoß legt (W 141,6 f.).253 Neben dieser symbolischen greift Willehalm zunehmend zu verbaler Gewalt. Er äußert gegenüber dem Kaufmann Wimar, der ihn als Einziger aufgenommen hat, mehrfach Mordpläne am König (W  136,25–30; 138,4–14; 139,1–5). Willehalm verflucht im Fest251

Girard 2006 [1972], S. 91. Munleun‑Episode vgl. insbesondere das ‹Willehalm›‑Kapitel bei Dörrich 2002, welche die Desintegration Willehalms als strategisch von ihm betrieben liest. In dieselbe Richtung zielen die Überlegungen Starkeys 2002. 253 Mit dem Schwert auf den Knien nimmt Willehalm die Pose des Richters in eigener Sache ein und definiert so das Setting der Szene in seinem Sinn um, indem er signalisiert, dass das Urteil Sache dessen ist, der sein eigenes Recht mit dem Schwert durchsetzen kann. 252 Zur

144



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt

saal die Hofgesellschaft für seine schlechte Aufnahme (W 140,8–10), drängelt sich durch die Gesellschaft und attackiert anschließend den König, dem er unverhohlen mit Gewalt droht (W 145,1–10; Ankündigung der Provokation durch den Erzähler schon 144,6–12). An späterer Stelle beschimpft er seine Schwester, die französische Königin, als Hure und insbesondere als Hure Tybalts (W 152,28–153,28). Als Loys beim Essen immer noch keine Hilfe zusagen möchte, springt Willehalm auf den Tisch und droht mit der Rückgabe seiner Lehen (W 179,4–13). Der Höhepunkt der Eskalation aber ist mit der körperlichen Gewalt Willehalms gegen die Königin im Beisein der gesamten Hofgesellschaft erreicht: Er reißt seiner Schwester die Krone vom Kopf und zertrümmert sie am Boden, er packt sie bei ihren Zöpfen und hätte ihr beinahe den Kopf abgeschlagen, wenn nicht ihre Mutter Irmschart dazwischengetreten wäre (W  147,15–24). Leitbegriff dieser Episode ist mit mehrfacher Betonung der Zorn Willehalms (W 132,10; 137,1; 141,4; 144,4; 146,21; 147,18; 152,28).254 Danach lässt sich beobachten, wie Willehalm sukzessive reintegriert wird und seine Opferfähigkeit damit schwindet. Eine Umkehr der Bewegung zur Ausstoßung Willehalms wird mit der Begrüßung und den Hilfezusagen durch Heimrich eingeleitet (W 148,29 f.; 150,1–29). Anschließend verkündet Willehalm dem Hof die großen Kriegsverluste und berichtet vom Tod des lieblichen Vivianz (W  151,1–30). Die Trauer um Vivianz erfasst den gesamten Hof und stiftet damit eine neue Einheit, die nun auch wieder Willehalm einschließt. Sinnfällig wird seine Reintegration im Fußfall der allseits verehrten Alyze vor Willehalm (W 155,29 f.) wie in ihrer an Willehalms zuht gemahnende Rede (W 157,1–19). Die anschließende Kette der Hilfezusagen durch Irmschart (W  160,24–161,10), die Königin (W  164,10–166,30), seine Brüder (W  170,23–172,30) und schließlich durch den König (W 183,3–184,20) zeigt einerseits Willehalms Inklusion, andererseits aber auch das erschreckende Maß, in welchem der gesamte Hof und ganz Frankreich mit Gewalt und zwar stets unter Verweis auf Rache für Vivianz angesteckt sind. Koch spricht treffend von einer «kollektivierende[n] Wirkung der Trauer», durch die «keine Einzelsubjekte mehr zu erkennen»255 seien. Willehalm ist nun zwar wieder einigermaßen integriert, aber der Sog der Gewalt hat durch den Verweis auf den Tod des Vivianz bereits alle erfasst, die Entdifferenzierung ist zu weit vorangeschritten. Das zeigt nicht nur das anhaltende Spiel des Erzählers mit der Überschreitung von Geschlechtergrenzen,256 sondern auch jene vielfachen Suggestionen 254

Die Gewaltdarstellung ist in der ‹Aliscans› ähnlich. Auch hier tritt Guillelme kriegerisch in Ariofles Rüstung auf (A  L. 61), vollführt er die Schwertgeste im Saal (A  L. 64), finden sich Mordgedanken und ‑drohungen gegen den König (A L. 64 f.) sowie verbale Ausfälle gegen das Königspaar (A L. 67; 72) und die körperliche Attacke gegen die Schwester (A L. 69). 255 Koch 2006, S. 136. 256 Das ist bereits im Vorfeld der Munleun‑Episode angekündigt im Spiel mit der Überschreitung von Geschlechtergrenzen. So redet Gyburc wegen des Kampfes zuversichtlich zu Willehalm, als ob sie ein Männerherz hätte (W 95,3–5), tragen Frauen und Kinder Steine, um Orange zu verteidigen (W 96,29–97,1). Auf die Verteidigung der Burg durch Gyburc wird noch öfter im Text rekurriert (W 226,28–227,17; 231,19–28) und gar mit derjenigen Leistung Rolands und Olivers verglichen (W 250,14–19). Gyburc transgrediert bei der Verteidigung nicht nur Geschlechtergrenzen, sondern auch jene zwischen Leben und Tod, wenn sie Toten Helme aufsetzt, damit der Anschein von Wehrhaftigkeit gewahrt bleibt (W 111,17–20). Nicht zuletzt überschreitet die Schonungsrede im Kriegsrat von Orange ihre Kompetenzen als Frau. In Munleun ermahnt Irmschart die Männer, nicht wie Frauen zu heulen angesichts von Vivianz’ Tod (W  152,10–18), und bietet Willehalm an, höchstpersönlich in den Krieg zu ziehen (W 161,4–10). Mit dem Auftauchen Rennewarts konzentriert sich das Spiel mit Geschlechterrollen auf diesen. So wird er bei seinem ersten Auftritt vom Erzähler als kiuschiu maget

145

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

von Gleichheit innerhalb der Verwandtschaft257 und darüber hinaus und nicht zuletzt die geschilderte Rachelogik, die Christen wie Heiden gleichermaßen erfasst. Girard erläutert, dass mit der Entdifferenzierung aller familiären, kulturellen oder biologischen Unterschiede, «eine unförmige, mißgebildete und monströse Mischung von normalerweise getrennten Wesen»258 geschaffen werde. Dieses Phänomen der Auflösung aller Unterschiede fasst Girard im Bild des kollektiven Doppelgängertums: Überall das gleiche Streben, der gleiche Haß, die gleiche Strategie, die gleiche Illusion einer ungeheuren Differenz innerhalb einer immer vollständigeren Einheitlichkeit. In dem Maße, wie sich die Krise steigert, werden die Mitglieder der Gemeinschaft insgesamt zu Zwillingen der Gewalt. Wir sagen unsererseits, einer sei des anderen Doppelgänger.259

Da die Störung der Ordnung damit bereits einen kritischen Punkt überschritten hat, wird nun sozusagen ein ‹neues› Opfer benötigt, dessen Verschwinden bzw. Tod die Gewaltspirale beendet und die Gesellschaft restituiert. Jenes Opfer bildet Rennewart, der im mittelhochdeutschen Text genau an jener Stelle eingeführt wird, an der Willehalm seines Opferstatus’ entkleidet ist.260 Wie deutlich dieser Wechsel der Gewalt- und Opferfähigkeit von Willehalm auf Rennewart im mittelhochdeutschen Text markiert wird, zeigt der Vergleich zur altfranzösischen Vorlage. In der ‹Aliscans› befindet sich Renoart bereits im Saal (A L. 73), während Willehalm Rennewart im mittelhochdeutschen Text vom Fenster aus beobachtet und ihn erst aktiv zu sich holen muss (W  187,1–6 und 191,19–23). Im altfranzösischen Text informiert Loois Guillelme angesichts von Renoarts Gewalt gegen einen der Knappen, die seinen Wasserzuber umgestoßen haben: «Mult est ireus et plein de cruauté, / Je ne gard l’ore q’il m’et eservelé.» (A v. 3488 f.; ‘«Sehr jähzornig ist er und voll von Gewalttätigkeit. / Ich bin jederzeit dessen gewärtig, dass er mir den Schädel einschlägt.»’) Im ‹Willehalm› sagt Loys hingegen ohne Zögern zu Willehalm: «ez ist im [d. i. Rennewart] selten ê geschehen, daz man in vunde in unsiten. er hât von kinde hie gebiten in mîme hove mit grôzer zuht. er begienc nie sölhe ungenuht.»  (W 190,26–30)

Während Renoart schon immer durch exzessive Gewalt auffiel, scheint sich Rennewarts Gewaltpotenzial ohne jedes Vorzeichen mit dem Blick Willehalms, der auf ihn fällt, zu entfalten. Inszeniert wird damit, was Girard «phasenversetzte Symmetrie» nennt: erst ist Willehalm sowohl Subjekt wie Objekt der Gewalt, dann ist es Rennewart. Bei beiden greift das Gesetz der Reziprozität, wonach man keine Gewalt ausüben kann, ohne sie zu (W  190,1) bezeichnet und später wird behauptet, man könne ihn formen wie ein Mädchen (W  272,18 f.). Zudem sieht er Gyburc bis auf den Bart sehr ähnlich (W 274,23–25). 257 Auf die Nähe zu und Gleichheit Willehalms mit Ernalt wurde bereits hingewiesen. Willehalm versucht darüber hinaus, dass sich seine Schwester mit ihm identifiziert: «si waere des ungeschendet, / ob si jaehe: ‹daz ist der bruoder mîn›» (W  158,16 f.) und appelliert an ihre «genôzschaft» (W  159,5). Die Königin operiert in ihrer Ansprache später selbst mit jener Gleichheitssuggestion: «mîne bruoder, die hie sîn, / gedenket, daz wir sîn ein lip! / ir heizet man, ich bin ein wîp: / dâ’n ist niht underscheiden, / niht wan ein verh uns beiden.» (W 168,12–16) 258 Girard 2006 [1972], S. 234 f. 259 Ebd., S. 120 [Herv. im Orig.]. 260 In der ‹Aliscans› wird schon weit vor Renoarts erstem Auftritt in der histoire durch Prolepsen auf ihn verwiesen (s. o.).

146



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt

erleiden.261 Auf dieser strukturellen Ebene sind Willehalm und Rennewart unterschiedslos. Erst widerfährt Willehalm wie Rennewart Gewalt durch das Fremde (Untergang des Christenheers und Tod Vivianz’ durch Heiden; Entführung durch Christen als Kind), dann gehen beide gewaltsam zunächst gegen das Fremde (Willehalm richtet Arofel hin; Rennewart wehrt sich gegen die Attacken durch französische Knappen und Küchenjungen) und dann das Eigene vor (Willehalms Auftritt in Orleáns und Munleun; Rennewarts Kampf gegen die Heiden in der zweiten Schlacht samt Brudermord). Rennewart wird als «monströser Doppelgänger» Willehalms aufgebaut, wenn er mit Opferzeichen versehen, also als Inbegriff der Indifferenz opferfähig gemacht wird.262 Wenn alle Doppelgänger sind, dann kann «irgendeiner von ihnen zu irgendeinem Zeitpunkt der Doppelgänger aller anderen werden und so Gegenstand einer umfassenden Faszination und eines umfassenden Hasses sein.»263 Rennewart tritt als Opfer nicht nur an die Stelle Willehalms, sondern vertritt alle Mitglieder innerhalb der Gemeinschaft. In der kollektiven Erfahrung des monströsen Doppelgängers sind die Unterschiede nicht aufgehoben, sondern verwischt und vermengt. Die Doppelgänger sind alle gegenseitig austauschbar, ohne daß ihre Identität klar zu erkennen wäre. Sie liefern also, zwischen Differenz und Identität angesiedelt, jenen doppeldeutigen Mittelbegriff, der für die Opferstellvertretung und für die Polarisierung der Gewalt auf ein einziges, alle anderen repräsentierendes Opfer unerläßlich ist. Den Gegenspielern, die nicht zur Einsicht fähig sind, daß nichts sie voneinander trennt, daß sie sich also versöhnen können, liefert der monströse Doppelgänger genau das, was sie brauchen, um zu dem Notbehelf von Versöhnung zu gelangen, den die Einmütigkeit minus eins der gründenden Verstoßung darstellt. Es ist der monströse Doppelgänger, es sind alle monströsen Doppelgänger, die in der Person eines einzigen […] Gegenstand der einmütigen Gewalt werden.264

Wenn alle Mitglieder der Gesellschaft entdifferenziert sind, wie ich dies oben für den Hof in Munleun in den verwandtschaftlichen und geschlechtlichen Transgressionen und dem alle umspannenden Rachebegehren für Vivianz’ Tod ausgeführt habe, dann kann jede/r Beliebige zum Opfer dieser amorphen Masse auserkoren werden. Diese Kontingenz macht der ‹Willehalm› recht deutlich im Blick Willehalms, der wie beiläufig auf Rennewart fällt, der in eben jenem Moment erstmals und mit aller Drastik zur Gewalt greift und sich damit initial als Opfer im Sinne des monströsen Doppelgängers ‹qualifiziert›. Dass Rennewart Willehalm nicht nur gleicht, sondern diesen in seiner Monstrosität noch übertrifft, wird in einer Fülle von Beispielen sinnfällig: Beide sind hochadlig, aber Rennewart übertrifft ihn als Königssohn. Beide zeichnen sich durch außergewöhnliche körperliche Stärke aus, aber während Rennewart seine Stange mühelos tragen kann, vermag sie Willehalm nur unter größter Anstrengung bis zu den Knien zu heben (W 311,24 f.), während es sonst eine ganze Schar Knappen gemeinsam nicht schafft, sie zu bewegen (W 275,13–17). Ihre Entgrenztheit wird jeweils durch Tiervergleiche angezeigt, die zahlenmäßig bei Rennewart aber weit überwiegen. Beide kämpfen gegen ihre Brüder, aber Rennewart tötet seinen Bruder tatsächlich. Beide halten durch heidnische Rüstung 261

Girard 2006 [1972], S. 358. Girard ebd., S. 398, nennt das «opferkultische Vorbereitung». Es ist damit der Versuch gemeint, die Opfer opferfähig zu machen, indem entweder zu stark integrierte Opfer gewissermaßen fremder gemacht oder zu fremde Opfer stärker integriert werden, um die für die Geeignetheit als Opfer wesentliche Ambiguität von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, Integration und Desintegration herzustellen. 263 Ebd., S. 120. 264 Ebd., S. 236 [Herv. im Orig.]. 262

147

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

bzw. Stange die Gewalt in der Hofgesellschaft präsent, in Rennewarts Ausbrüchen wird sie allerdings regelmäßig akut. Die Minne zu den von ihnen begehrten Frauen (Gyburc, Alyze) transgrediert die Religionsgrenzen, aber für Rennewart bleibt die Liebe unerfüllt. Beide kennen das ellende der Gefangenschaft in einem fremden Land, bei Rennewart ist sie allerdings auf Dauer gestellt und damit besonders prekär für seine Identität. Um als Sündenbock geeignet zu sein, ist es wiederum – wie schon bei Willehalm – entscheidend, weder einfach Teil der Gemeinschaft noch schlicht fremd gegenüber dieser Gemeinschaft zu sein. «Es [das Opfer] hat alle Unterschiede absorbiert, insbesondere den zwischen innen und außen; man unterstellt, es bewege sich frei von innen nach außen.»265 Noch deutlicher beschreibt Girard den Mechanismus der Opferselektion im «Sündenbock»: Die Opfer entspringen oftmals ethischen, religiösen Minderheit, haben besondere physische Merkmale oder weisen andere Formen der Anomalie auf, wobei es letztlich egal ist, ob diese Opfer tatsächlich Verbrechen begangen, also Schuld auf sich geladen haben oder nicht.266 Schon allein ihre Opferzeichen als paradoxe Zeichen der Entdifferenzierung legen eine «schuldbehaftete Affinität zur Krise»267 nahe. Vorgeworfen wird den Minoritäten nämlich nicht ihre eigene Differenz, sondern gerade das Fehlen von Differenz innerhalb eines Systems, das Differenzen verlangt. Setzt man dies voraus, ist es nicht schwer, an Rennewart ein Konglomerat an Opferzeichen zu erkennen, das die Randständigkeit des Außerhalb und die Randständigkeit des Innerhalb in sich vereint.268 Wenngleich prinzipiell alle als Opfer in Betracht kämen, so wird Rennewart durch seine Devianz und Zwischenstellung gesondert herausgehoben. Rennewart befindet sich zwischen den Ständen (adlige Geburt vs. Küchenjungenexistenz), zwischen den Religionen (hat sich vom Heidengott ab- und dem Christengott zugewendet, lehnt aber die Taufe als nicht art‑gemäß ab; W 193,9–19), zwischen den Kriegsparteien (kämpft als Heide für die Christen gegen die eigenen Verwandten), zwischen Zentrum und Peripherie (lebt am Machtzentrum des französischen Königshofs, aber dort in der Peripherie der Küche), zwischen den Sprachen (beherrscht Französisch, spricht aber nur ‹Heidnisch›) und zwischen den Geschlechtern (trotz seiner Kampfkraft wird er mehrfach mit Frauen verglichen, s. o.).269 Dadurch, dass Rennewart ständisch nicht eindeutig verortbar ist, ebnet er die Grundlagen der stratifizierten Gesellschaft ein. Sein, den Figuren nicht bekanntes Verwandtschaftsverhältnis zu Gyburc und Terramer unterminiert die Grundlage eines Herrschaft organisierenden Verwandtschaftssystems.270 Nicht zuletzt 265

Ebd., S. 397. Girard 2001, S. 273 f. und 1998, S. 30–32. Weiter heißt es: «Letzten Endes rufen alle extremen Eigenschaften von Zeit zu Zeit den Zorn des Kollektivs hervor, und zwar nicht nur Extreme wie Reichtum und Armut, sondern auch Erfolg und Mißerfolg, Schönheit und Häßlichkeit, Laster und Tugend, Anziehung und Abstoßung; hervorgerufen wird er durch die Schwäche der Frauen, der Kinder, der Greise, aber auch durch die Macht der Starken, die angesichts der Überzahl zur Schwäche wird. Mit großer Regelmäßigkeit wenden sich die Massen gegen jene, die einst eine außergewöhnliche Anziehungskraft auf sie ausgeübt hatten.» (ebd., S. 32) An späterer Stelle spricht Girard auch von der «opferspezifischen Polarisierung» (ebd., S. 51) solcher extremen Figuren, die das Fremde aller Couleur widerspiegeln. 267 Girard 1998 [1982], S. 38. 268 So urteilt Girard ebd., S. 40, über Ödipus. 269 Die Forschung hat dieses Dazwischen, das ich als Entdifferenzierung beschreibe, als Brüchigkeit und Ambiguität der Figur mehrfach herausgearbeitet. Vgl. das Rennewart‑Kapitel in Kleppel 1996, S. 195–235; Knaeble 2015. Psychologische Lesarten von Rennewarts Zerrissenheit wie etwa bei Young 2000, S. 72, verfehlen hingegen die Anlage der Figur. 270 Diese beiden Punkte arbeitet Strohschneider 2000, S.  120, für Gregorius in Hartmanns von Aue gleichnamigem Text heraus. 266

148



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt

seine Stange symbolisiert Ambiguität, die heroische Exorbitanz immer auszeichnet. Dass Rennewart die Stange selbst wählt (W  196,20–30) und nicht wie Renoart einfach sein Küchengerät als Waffe verwendet (A  L. 75 f.),271 dass Rennewart die Taufe ablehnt (W  193,19) und sie ihm nicht wie bei Renoart vom König vorenthalten wird (A  L. 74), verdeutlicht, dass die opferkultische Vorbereitung auch von Rennewart selbst und nicht nur von seiner Umwelt betrieben wird. Diese Indifferenz unterscheidet Rennewart fundamental von Renoart, der erst völlig außerhalb und dann gänzlich innerhalb der Norm steht. Renoart ist bis zum Zeitpunkt seiner Taufe für alle anderen Figuren wie für den Erzähler stets maufé (‘Dämon’) oder diable (‘Teufel’; A v. 3612; 4423 f.; 4692; 4830; 4895; 6042; 6262 f. u. ö.). Dass er von Heiden und Christen gleichermaßen so bezeichnet wird, unterstreicht, dass Renoart jenseits aller Kategorien und eben nicht in jenem spannungsreichen Dazwischen zu verorten ist. Auch die Hyperbolik seiner Gewaltanwendung, die selbst in stark zurückgedrängter Weise im mittelhochdeutschen Text noch seine Außergewöhnlichkeit kennzeichnet, spricht hierfür: Er zertrümmert beim Essen in Orange einen Marmorstein, nachdem ihn Knappen geärgert haben (A L. 87; fehlt im W); er tötet mit einem Streich 350 Deserteure (A L. 95; im W 324,11 sind es immerhin noch 45) und 50 Heiden (A L. 107; fehlt im W); er habe in Summe 20 000 Heiden getötet (A L. 107, fehlt im W) und gilt als Grund für die Flucht der Heiden am Ende der zweiten Schlacht (A L. 122; fehlt im W). An Rennewart ist hingegen sehr gut nachvollziehbar, dass jemand desto eher Verderben anzieht, je mehr Opferzeichen er in sich vereint.272 Die anderen Figuren begegnen ihm daher – bis auf Willehalm (s. o.) – mit einer Mischung aus Faszination und Furcht, worin sich bereits die zweifache Bedeutung als Opfer abzeichnet. Rennewart ist bei den Szenen, an denen er beteiligt ist, zum einen Zentrum der Aufmerksamkeit sowohl der Figuren als auch des Erzählers. Zum anderen wird er dort aber zugleich Ziel von Spott, Beschimpfungen und Gewalt. Insbesondere die vielen Streiche rund um seine Stange vereinen diese beiden Seiten. Die Blicke der anderen Figuren fallen auf ihn, man spricht über ihn und schart sich um seine Stange.273 Die von ihm ausgehende Gewalt wird zunächst noch in Gelächter über ihn verschoben.274 Die Forschung hat vielfach versucht, dieses Irritationspotenzial durch das Postulat einer Entwicklung der Figur und durch die Imagination eines 271

Kasten 1977, S. 400, behauptet, dass Rennewarts Sonderstellung durch diese Änderung herausgehoben werde. Sie argumentiert vorher (S. 398) allerdings, Wolfram habe die ursprüngliche Bedeutung des tinel als Küchengerät nicht erkannt. Auch ihrer Darstellung der Stange als äußeres Zeichen von Rennewarts tumpheit kann ich nicht zustimmen. Zwar wird Renoart durchgängig als durch die Küchenexistenz verdummt bezeichnet, dem Vorurteil, Rennewart erscheine tumber danne ein rint (W  302,15), erteilt der Erzähler des ‹Willehalm› allerdings explizit eine Absage. 272 Vgl. Girard 1998 [1982], S. 40. 273 Sowohl die Blicke Willehalms als auch Loys’ liegen auf Rennewart bei seiner Einführung in den Text, er ist Zentrum des Figurengesprächs und wird vom Erzähler mit aufwendigen Metaphern beschrieben (W 188,20–29; 189,2–24; 195,4–6). Dieses Muster wiederholt sich beim ersten Essen in Orange: Die gesamte Gesellschaft blickt ihn neugierig (wunder; W  269,27 und 270,6) an (W  269,24–27). Heimrich, Gyburc und Willehalm unterhalten sich über ihn und der Erzähler beschreibt ihn abermals in ungewöhnlichen Vergleichen (W 270,18–24; 271,15–26). Die Faszination für seine Stärke kippt allerdings wiederholt in Gewalt. Stets fallen im Umgang der anderen Figuren mit ihm Begriffe wie spot (W 188,2) oder schimpf (W 190,2; 198,23; 312,1) und stets wird er mit entdifferenzierenden Tiervergleichen belegt. Er habe die Kraft von drei Muli (W 188,12), er verhalte sich gegenüber den Küchenjungen wie Hunde, die Wild jagen (W 202,14 f.), er habe Augen wie ein Drache (W 270,60). 274 Ich sehe hier durchaus Parallelen zum provokativen Verhalten Keies, das Röcke 2004, S. 296 f., strukturell mit dem des von Girard beschriebenen Hofnarren vergleicht.

149

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

harmonischen Schlusses über die Textgrenze hinaus unzulässig zu glätten.275 Tatsächlich besteht Rennewarts Bedeutung aber in seiner Markierung als deviant, die auch nach der Aufnahme in den Dienst Willehalms, die seine soziale Desintegration in der Küche formal aufhebt, fortbesteht, was Willehalm beim Essen in Orange auf eine überaus prägnante Formel bringt: «er kan wol vriunt und vîent sîn.» (W 273,30)276 Hinzukommen entdifferenzierende Gewaltakte, die Rennewart als Opfer qualifizieren. Auch hier ist die Stange wieder Kristallisationspunkt der Entdifferenzierung, weil Rennewart mit ihr Küchenjungen wie Knappen, französische Deserteure wie heidnische Gegner schlägt und damit Unterschiede zwischen Ständen und eine einfache Freund‑Feind‑Zuordnung einebnet.277 Die entdifferenzierende Gewalt, die von Rennewart ausgeht, erreicht ihren Höhepunkt aber unzweifelhaft mit den Verwandtenkämpfen in der zweiten Schlacht, in deren Konsequenz Verwandtenmord zum Sieg der Christen führt. Hatte Rennewart sein Rachebegehren an den vermeintlich treulosen Verwandten schon vorher geäußert (W 285,1–6), so strebt er in der Schlacht aktiv einen Kampf gegen seinen Vater Terramer an (W 439,10–19). Seine Rache erfüllt sich schließlich in der Tötung des Bruders Kanliun, den er allerdings nicht als solchen erkennt (W 442,20–23).278 Die Forschung hat viel Energie auf die Klärung der Frage verwendet, ob Rennewart nun des Verwandtenmordes schuldig oder wegen des Nichterkennens unschuldig sei.279 In der Perspektive des Sündenbockmechanismus’ ist dies jedoch völlig unerheblich. Die Opfer müssen nicht unbedingt Schuld in einem ethischen oder juristischen Sinne auf sich geladen haben, es genügt, dass ihnen Verbrechen angelastet werden, was der Erzähler dadurch tut, dass er die Information der Verwandtschaft preisgibt. Der unaufgeregte Darstellungsmodus – ein Erzähler, der sonst keine kühnen Bilder scheut, präsentiert nur Fakten und enthält sich jeder Wertung – scheint die Indifferenz der Handlung zu spiegeln. Viel entscheidender als die Schuldfrage sind allerdings die vorhin besprochenen Opferzeichen, welche die Opfer als Ursache der Krise durch die Gemeinschaft prädestinieren. In der ‹Aliscans› liegt der Fall eindeutig: Renoart tötet in Laisse 121 seinen Bruder Jambu und bekräftigt in Laisse 143 gegenüber Guillelme, er habe für ihn den Bruder getötet. Renoart begeht einen bewussten Brudermord, was für die ‹Aliscans› aufgrund der schroffen Differenzsetzung zwischen Christen vs. Heiden und für Renoart aufgrund fehlender Opferzeichen der Indifferenz unproblematisch ist. Parallel zu Rennewart erreicht die Entdifferenzierung auch im Rest der Gemeinschaft ihren Höhepunkt in der zweiten Alischanz‑Schlacht. Der Erzähler bilanziert vorauseilend im Fürstenrat die Schlacht, wenn er die mimetische Rivalität, die alle Unterschiede tilgt, pointiert: sus râche wider râche wart gegeben. (W  305,30) Wurde das Racheanliegen auf christlicher Seite mehrfach im Zusammenhang mit der Erinnerung an Vivianz 275

Die Entwicklungsthese vertreten beispielsweise Knapp 1983; Lofmark 1972 oder Moessner 1976. Ähnlich auch Gyburc: «mir sol vreude oder ungemach / vil schiere von sîner kumft geschehen.» (W 272,24 f.) 277 Die Szenen werden immer wieder auch im Zusammenhang mit der Rennewart zugeordneten Komik diskutiert. Nun ist Komik als historisch variables Phänomen höchstens festzumachen, wenn andere Figuren im Text lachen und das tut keiner. Aber selbst wenn man den Szenen Komik wie etwa Greenfield/​Miklautsch 1998, S. 176, zugestehen wollte, so ist es doch eine, bei der einem das Lachen im Halse stecken bleibt. 278 Przybilski 2003, S. 219, erfasst das Entdifferenzierende dieser Tötung: «Der selbstvergessene, ganz dem Rausch des tödlichen Kampfs hingegebene Krieger trifft auf sich selbst in der Form seines Bruders, er zerstört diese Form und verschwindet bald darauf selbst aus dem Epos.» 279 Knapp 1970 geht von tiefer Schuld durch ignorantia aus. Auch für Kasten 1977 und Kleppel 1996, S. 288, ist Rennewart schuldig. 276

150



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt

herausgestellt, so formuliert Terramer dieses wiederholt innerhalb der zweiten Schlacht (W  337,22–338,7; 340,30–341,2; 374,12–16). Dass mimetische Gewalt hier noch die Quelle des Chaos ist, während sie später im Sündenbock Ordnung stiftet, zeigt sich im Kampf dann an der unentwirrbaren Vermischung von Christen und Heiden z’einer schar (W 391,16), für die der Erzähler das Bild einer Presse findet: dâ wart der vîent und der vriunt […] vaste ûf ein ander geschoben und manec puneiz entzwei gekloben. dâ nam von Poidwîzes druc al daz her sô grôzen ruc, daz die kristen und die heiden gar gedigen alle z’einer schar, swaz ir dâ waz ze bêder sît, […] als ob si in einer presse zesamne waeren getwungen, die alten mit den jungen, rîch und arme über al. (W 391,8–23)

An anderer Stelle betont der Erzähler abermals die Vermischung von Christen und Heiden: dâ ergienc ein temperîe, als wir gemischet nennen: man moht unsamft erkennen den getouften bî dem Sarrazîn. (W 420,2–5)

Wie sich im Bild der Presse andeutet, leisten auch die vom Erzähler v. a. in der zweiten Schlacht verwendeten Kriegsmetaphern einer entdifferenzierenden Lektüre Vorschub: Da wäre etwa der Vergleich des Krieges mit der Ente, die den Bodensee austrinkt (W 377,4–7); das Ertrinken der Besatzung im Schiff, das sich auf dem Helm des Kliboris von Tananarke befindet und welcher sich bei dessen Tod mit Blut füllt; das schwangere Heidenheer (W  392,28–393,2) oder das Heer, das auf den Wellen des Krieges wogt wie eine Gans (W 398,15) – um nur einige wenige zu nennen.280 Solche Bilder arbeiten mit einer bedrohlichen Verschiebung der Realitätsebenen und signalisieren eine Auflösung der gewohnten Wirklichkeit ins Absurde. Solche Bilder veranschaulichen nichts mehr, sie haben auch keine Unterhaltungsfunktion; sie sind düstere Zeichen einer aus den Fugen geratenen Welt.281 280 Vgl.

zu metaphorischen Aspekten im ‹Willehalm› ausführlich Kiening 1991, S. 122–151, für die Kriegsmetaphern in der zweiten Schlacht insbesondere S. 130–151. Kiening stellt S. 134, heraus: «Auch metaphorisch kann sich keine strenge Dichotomisierung von Christen und Heiden durchsetzen.» Die absurden Metaphern zeigen, so Kiening (S. 147), wie wenig sich das Erzählte mit geläufigen Begrifflichkeiten und gängiger Bildlichkeit beschreiben lässt. Sie sensibilisieren für Probleme der dargestellten Welt sowie der Darstellung selbst. Auch sonst ist die Schlachtschilderung mehr als unübersichtlich. Kiening 1991, S. 59  f., konstatiert: «Dynamisierung und Problematisierung der Darstellung gehen […] ineinander über; Handlungsstränge und Kommentarpassagen verflechten sich zu einem schwer durchschaubaren Gewebe aus Erzählung und Reflexion.» Bumke 82004, S. 310, beschreibt es so: «In jedem Abschnitt wird angegeben, welche Wirkung die Angriffswellen haben und mit welchen christlichen Abteilungen die einzelnen Verbände in Kämpfe verwickelt wurden, ohne daß sich aus diesen Angaben überall ein klares Bild vom Verlauf der Schlacht gewinnen läßt.» und S. 314: «Die Schlacht löst sich in Einzelszenen auf, zwischen denen kein Zusammenhang erkennbar ist.» 281 Bumke 82004, S. 366. Das Irritierende an den Bildern besteht laut Bumke in ihrer Paradoxie: Es befindet

151

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

Der Schwebezustand von Rennewarts kommentarlosem Verschwinden aus der Geschichte aktualisiert diese Entdifferenzierung ein letztes Mal und hebt sie zugleich auf. Dass hierbei die aus opfertheoretischer Sicht eigentlich erwartbare Szene des Kollektivmordes fehlt, ist insofern wenig verwunderlich. Dieser Umstand ist bereits Teil der Verschleierung bzw. «Verkennung» der Gründungsgewalt, die einen neuen Ausbruch der Gewalt verhindert.282 Für die Logik des Sündenbockmechanismus genügen meist dunkle Anspielungen auf eine gewalttätige Lösung.283 Für Rennewart könnte man schon seinen Status als entführtes Kind als vorzeitiges Opfer verstehen,284 das immer nur zeitweilig gerettet wird und dessen ‹Schicksal› sich dadurch höchstens verzögert. Diese aufschiebende Rettung wird im Text dadurch verdeutlicht, dass Rennewart zunächst mehrere Jahre sehr gut am französischen Königshof versorgt wird und mit Alyze spielt, bevor er in der Küche verschwindet (W 190,28 f.; 284,8–30). Das wiederholt sich dann bei der ‹Rettung› durch Willehalm, der ihn aus der Küche befreit, bevor er dann endgültig und im Wortsinn verschwindet. Die Streiche der Küchenjungen und Knappen gegen Rennewart und seine Stange können dann auch im Sinne solcher dunklen Anspielungen als ein simulierter Lynchmord verstanden werden. Ebenso wäre das dreimalige Vergessen der Stange als Selbstvergessen285 im Sinne stillschweigenden Einverständnisses Rennewarts mit der Opferung,286 die für Einmütigkeit und damit Wirksamkeit des Opfers entscheidend ist, zu begreifen. Rennewart erschlägt den Heiden Tedalun (W  444,22–27), der vorher Gandaluß, den Grafen der Champagne, getötet hat. Unmittelbar darauf erwähnt der Erzähler, dass Rennewart die Klagen von Gandaluß’ Gefolgsleuten beobachtet (W 445,1–5), und danach verschwindet er einfach aus der Handlung. Dieses Verschwinden ist einerseits im Vergleich zur altfranzösischen Vorlage ungeheuerlich, wo Renoart an allen wichtigen Stationen des Krieges und so auch seinem Ende durch Flucht der Heiden beteiligt ist, und andererseits, weil der Erzähler, der sich sonst keineswegs mit Einmischungen und Bewertungen aller Art zurückhält, sich hier über den Verbleib Rennewarts ausschweigt. Sein Verschwinden ist lesbar als getarnte Opferung Rennewarts. Auf dem Höhepunkt des Chaos entsteht sich eben nicht mehr die Ente im Bodensee, sondern umgekehrt der Bodensee in der Ente. Der Schiffsmann ertrinkt nicht im Meer, sondern im Schiff. 282 Girard 1998 [1982] verhandelt im Kapitel «Arsen, Kureten, Titaten» Beispiele, bei denen jeweils die zentrale Szene des Kollektivmordes fehlt, aber durch simulierten Lynchmord und andere Andeutungen ersetzt wird. 283 Vgl. Girard 2006 [1972], S. 140 f. Zu diesen Anspielungen zählt er etwa das Verfolgen und Schlagen des Opfers oder eine Übertragung auf die symbolische Ebene eines sportlichen Wettkampfs. 284 Girard 1998 [1982], S. 40, stellt diese Überlegungen für Ödipus und dessen Vorgeschichte als ausgesetztes Kind an. Mir scheint das für Rennewart ganz analog zu gelten. 285 Przybilski 2003, S. 214, zeigt, dass Rennewart durch das Vergessen der Stange gewissermaßen sich selbst vergisst, «um gegen sich selbst in Form seiner nächsten Verwandten kämpfen zu können […].» Daneben können sich auch noch andere Bedeutungen mit der Stange und ihrem Vergessen anlagern, wozu eine reichhaltige Forschung vorliegt. Vgl. Kasten 1977, S. 400, 402 und 404, die in der Stange einen ambivalenten Bedeutungsträger sieht, der einerseits Zeichen von Rennewarts tumpheit sei, andererseits ein Sinnbild für sein Vergeltungsstreben gegen die Verwandten und ein Werkzeug Gottes. Liebertz-Grün 1996, S. 391, deutet das Vergessen als Ausdruck der Todesfurcht vor dem Kampf. 286 Girard 1998 [1982] geht auf die Selbstopferung im Kapitel «Teotihuacan» ein und beschriebt es als «mimetische Zusammenarbeit der Opfer mit ihren Henkern» (ebd., S. 97). Er illustriert dies am Aztekenmythos der Entstehung des Tages und nennt als weitere Beispiele, dass Hexen ihren Scheiterhaufen selbst wählen, dass Häretiker Folter fordern, die sie aufgrund ihres schädlichen Glaubens zu verdienen meinen, und dass Stalinisten mehr bekannten, als von ihnen verlangt wurde. Meist sei diesen Selbstopferungen unter der Oberfläche doch ein Zwangsmoment eingeschrieben. Das trifft durchaus auf Rennewart zu, dessen Vergessen der Stange nicht selbst verursacht ist, sondern z. T. dadurch bedingt ist, dass die Küchenjungen seine Stange versteckt haben (W 201,27 f.).

152



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt

gewalttätige Einmütigkeit und man entledigt sich mit dem versöhnenden Opfer gleichzeitig der Faszination der Gewalt.287 Hier hilft auch die Haltung des Erzählers nicht, der Gewalt mit einer gewissen Abscheu begegnet, weil deren Ablehnung zur Gegenhandlung drängt und in eine paradoxe Situation führt. Um Gewalt zu verhindern, wird nötigenfalls zur Gewalt gegriffen.288 So kann der Erzähler einerseits das Abschlachten der Heiden wie Vieh (W  450,17) als mort (W  10,20) und sünde (W  450,18) bezeichnen und gleichzeitig Rennewarts Verschwinden forcieren. Wie Bumke bemerkt, legt der Erzähler «bewußt einen Schleier über Rennewarts Geschick».289 Während Bumke in dieser Verschleierung keinen Zweck erkennen kann, behaupte ich, dass die Verschleierung, das Ausschweigen des Erzählers schon Teil des Verkennungsprozesses der Gründungsgewalt ist.290 Die einmütige Gewalt muss verkannt werden, um eine erneute Faszination der Gewalt zu verhindern.291 Dass Rennewarts Verschwinden als Opferung aufgefasst werden kann, zeigen auch die zahlreichen Verweise auf seine Nähe zur Transzendenz, was insofern interessant ist, als Opfer nachträglich sakralisiert werden: Das religiöse Denken führt zwangsläufig dazu, im versöhnenden Opfer, d. h. ganz einfach im letzten Opfer, das Gewalt erleidet, ohne neue Vergeltungsmaßnahmen hervorzurufen, ein übernatürliches Geschöpf zu sehen – ein Geschöpf, das Gewalt sät, um dann Frieden zu ernten, einen furchterregenden und geheimnisvollen Erretter, der die Menschen krank macht, um sie anschließend zu heilen.292

Das Opfer ist zu Lebzeiten Verursacher von Gewalt und Chaos, wird aber durch seine kollektive Ausstoßung zu einer Art Erlöserfigur, die mit ihrem Opfer auch alle gegenseitige Gewalt mit sich genommen und Einmütigkeit gestiftet hat.293 Diese Nähe Rennewarts zur Transzendenz wird schon beim dritten Vergessen seiner Stange angebahnt, wenn er sich selbst fragt: «waz wunders mac ditze sîn / daz ich der starken stangen mîn / nû zem dritten mâle vergaz?» (W 317,21–23) Und weiter das Vergessen als Prüfung Gottes interpretiert: «waz, ob mich versuochen wil, / der aller wunder hât gewalt, / und ob mîn manheit sî balt?» (W 317,28–30) Später nehmen die Deserteure Rennewart als gotes hant (W 325,3) wahr. In seiner Klage um Rennewart bemerkt Willehalm, dass er den Sieg gleichermaßen ihm und Gott verdanke: «daz ich von im des siges pflac / und von der hoehsten hende.» (W 452,24 f.) Mit diesen Indizien soll nicht die Heiligkeit Rennewarts behauptet werden, aber sie zeigen doch, dass die Ausstoßung des Opfers – zumindest verdeckt – als Errettung wahrgenommen wird.

287 Vgl.

Girard 2006 [1972], S. 121 und 124. Müller‑Funk ²2010, S. 261. 289 Vgl. Bumke 82004, S. 319. 290 Neumann 2011, S. 142, sieht in der Tatsache, dass Rennewart nochmals im Zusammenhang mit der ansonsten belanglosen Tedalun‑Gandaluß‑Szene auftaucht, hingegen eine bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit des Publikums. Der Erzähler habe Rennewart noch einmal erwähnen wollen, um alle Spannung auf ihn zu konzentrieren, sodass Wolfram zu einem späteren Zeitpunkt den Text vollenden könne. Liebertz-Grün 1996, S. 402, sieht im «Verschwinden des stärksten Helden […] kein Indiz für die Unfertigkeit des Textes, es kann vielmehr als weitere Distanzierung von den Wertvorstellungen des Hochadels interpretiert werden […].» 291 Auf dieser Ebene liegen meiner Meinung nach auch die Beschwichtigungsversuche Bernarts gegenüber Willehalm, wonach Rennewart wahrscheinlich in Gefangenschaft sei, Willehalm also keinen Grund zur Klage habe (W 458,22–25). 292 Girard 2006 [1972], S. 130 f. 293 Vgl. ebd., S. 131 f. und 143. 288 Vgl.

153

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

Rennewarts Opfer bedeutet das Ende aller Gewalt, das Erlöschen des Vergeltungswunsches, stiftet Einmütigkeit und hat versöhnende Kraft. Direkt nach der letzten Erwähnung Rennewarts in W  445,1–5 erklärt der Erzähler die Schlacht für beendet: der marcrâve hiet den sige / mit grôzem schaden errungen. (W  445,14 f.) Das siegreiche Christenheer ist gleichermaßen in Freude und Leid vereint (W 445,18 f.; 446,3 f.; 447,6 f.). Die Restitution der Ordnung wird im Text nun durch das Wiedererstarken von verwandtschaftlichen, hierarchischen und religiösen Differenzen angezeigt. So werden Verwandte und Lehnsherrn auf dem Schlachtfeld gesucht (W 446,12–15). Beim gemeinsamen Mahl (W 447,12–449,13) nach der Schlacht betont der Erzähler, dass der herre und der kneht (W 449,6) und der kurteise (W 449,10) wie der ungehofte man (W 449,11) gleichermaßen gut speisten. Die vorher amorphe Masse des Heeres wird wieder ständisch und sodann religiös differenziert. Am nächsten Tag werden die toten Christen sortiert und je nach Stand verschieden behandelt. Einfache Ritter werden auf dem Schlachtfeld begraben, während die Hochadligen aufgebahrt werden, um nach Hause überführt und einbalsamiert werden zu können (W 451,14). Darüber hinaus erfolgt in der Matribleizszene eine restlose Trennung von Christen und Heiden (W 461,5–462,30):294 Willehalm übergibt dem noch gefangenen König Matribleiz von Skandinavien die restlichen 25 königlichen Gefangenen und bittet ihn, die gefallenen heidnischen Könige vom Schlachtfeld zu holen und ihre Namen wie Länder vollständig festzustellen, damit auch sie aufgebahrt und überführt werden können. Weiterhin erzählt Willehalm (W 464,1–466,5), er habe während der Schlacht ein Zelt mit toten heidnischen Königen gefunden, welches er mit seiner Fahne gegen Plünderungen geschützt habe. Matribleiz soll auch diese Gefallenen an Terramer übergeben. Der Text erfüllt damit auf struktureller Ebene alle vier Stereotype der Verfolgung nach Girard:295 (1) Es wird eine gesellschaftliche Krise als allumfassende Entdifferenzierung beschrieben. (2) Entdifferenzierende Verbrechen werden zuerst bei Willehalm aufgezeigt (Gewalt gegen Verwandte wie Ernalt und seine Schwester), dann bei Rennewart (Stange entdifferenziert und trifft jeden; Brudermord an Kanliun). (3) Zeichen der Opferselektion finden sich wiederum zunächst bei Willehalm (Mimikry der heidnischen Rüstung), bevor dieser durch seinen monströsen Doppelgänger Rennewart abgelöst wird (Indifferenz der Religion, des Standes, der Sprachen usw.). (4) Schließlich wendet sich die Gewalt gegen das Opfer, Rennewart verschwindet.

3.4. Labilität und Entdifferenzierung: Zum Verlust des herrschaftsrelevanten Potenzials von Freundschaften Das Bild der Einmütigkeit der Gewalt gegen das erlösende Opfer nach Ende der zweiten Alischanz‑Schlacht wird durch Willehalms maßlose Trauer um Rennewart gestört. Seine lange Klage (W  452,19–456,24), in welcher er sich selbst tot wünscht (W  455,4 f.), entzündet sich an dem ansonsten einstimmigen Beschluss des Rückmarschs: die vürsten und ir hôhen man / sich bereiten umb ein kêren dan / mit gemeinem râte. (W  452,1–3) Willehalm jedoch was leit diu dannenvart (W  452,18) und zwar wegen des ungewissen Verbleibs seines Freundes Rennewart: der vürste ûz Provenzâlen lant / klagete sêre, daz 294 Anders

argumentiert Fischer 2011, S. 138 f. und 143, wonach die memoria die unüberbrückbar gedachten Gegensätze zwischen Christen und Heiden überwinden helfe. 295 Girard 1998 [1982], S. 25–32 und 38.

154



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt

er niht vant / sînen vriunt Rennewart. (W  452,15–17) Es schließt sich der oben bereits dargelegte, ausufernde Klagemonolog Willehalms an (W 452,19–456,24). Willehalms Bruder Bernart schreitet ein und erinnert Willehalm schroff an seine Herrscherpflichten (W 457,3–459,20): der [d. i. Bernart] strâfte in [d. i. Willehalm] und nam in abe von sîner grôzen ungehabe. dô der herzoge in trûrec sach, zem marcrâven er dô sprach: «dû bist niht Heimrîches sun, wiltû nach wîbes siten tuon. grôz schade bedarf genedekeit. über al diz her wirt ze breit der jâmer durh dich einen, wiltû hie selbe weinen reht als ein kint nâch der brust.»  (W 456,29–457,9)

Bernarts Entgegnung verweist auf genau jene sensiblen Punkte des befriedenden Opfers: Individuelles Handeln («durh dich einen»; W  457,7) und erneute Entdifferenzierung (Vorwurf weibischen und kindischen Verhaltens; W  457,4 und 457,9) bedrohen massiv die qua Einmütigkeit hergestellte labile Ordnung. In diese Optik reiht sich auch Bernarts Verweis auf den kollektiven Beschluss ein, dass man hier direkt am Schlachtfeld nicht lagern könne, gegen welchen sich Willehalm mit seinem Verhalten stellt: «der rîche, der arme, ieweder giht / unser leger sî hie enwiht. / wol ûf: herbergen von dem wal!» (W 458,1–3) Für Willehalm hingegen wiege der Verlust Rennewarts gar höher als jener von Vivianz (W 454,12–14) und selbst im Vergleich zu den Verlusten auf Ronceval, wo bekanntermaßen Roland und die gesamte französische Nachhut Karls umkam, sei seiner höher zu verorten (W  455,6–12). In seiner Klage geht es auch nicht darum, Trost von Gott zu empfangen, sondern er wirft ihm regelrecht vor, dass er solches Leid zulässt: «mîner vlust maht dû dich schamen, / der meide kint!» (W 456,1 f.)296 Während Willehalm bei Vivianz’ Tod sich selbst verantwortlich gemacht hat, beschuldigt er nun beim Verlust Rennewarts Gott dafür. Willehalm lenkt zwar schließlich ein und hält durch diese Mimikry den Anschein der Einmütigkeit aufrecht, hebt aber bei Abzug des Heeres zu erneuter Klage an (s. o. Unterkapitel  zwei).297 Danach bricht der Text ab. So gesehen steht die Matribleizszene nicht für das «Überwinden seiner Trauer, sondern es ist eine Kapitulation vor der Maßlosigkeit seines Schmerzes.»298 Willehalm darf einerseits –  das hatte sich schon in den Texten des Roland‑Stoffs gezeigt  – nicht individuell um den Freund trauern, weil das Heer sonst führungslos ist. 296

Die Forschung fasst diese Schuldzuweisung an Gott verschieden auf: als Gotteslästerung (Ruh 1980, S. 178), als Todsünde (Greenfield 1989b, S. 248), als Verzweiflung (Mergell 1936, S. 170). 297 Nicht nachvollziehen kann ich die Erklärung von Liebertz-Grün 1996, S. 386, für die Nicht‑Erwähnung Rennewarts bei der Gefangenenübergabe, wonach Willehalm nur daran denke, «seine Herrschaft abzusichern», weswegen ihm «die Gefangenen zu kostbar [sind], um sie gegen Rennewart einzutauschen, zumal der Berserker Rennewart […] in Friedenszeiten eine Bedrohung sein könnte.» Willehalm vergesse Rennewart «aus strategischen Gründen». 298 Rohr 1999, S. 64. Koch 2006, S. 120 f., sieht an diesen Punkten ebenfalls die Herrschaftsfähigkeit Willehalms problematisiert, allerdings zeigt sie sich angesichts des Fragmentstatus und der intertextuellen Folie des ‹Rolandsliedes›, in dem Karl auch mehrfach zur Mäßigung der Trauer gemahnt werde, skeptisch und sieht hier gerade kein herrschaftliches Versagen angezeigt.

155

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

Andererseits darf er – und das ist hier viel vordringlicher – nicht trauern, da Vergessen und Gleichgültigkeit gegenüber der kollektiven Gewalt Voraussetzung für die Wirksamkeit des versöhnenden Opfers sind.299 Willehalm verweigert mit seiner Klage nicht nur die Beteiligung an der Verkennung, er stellt diese klaffende Leerstelle ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Er gefährdet damit die labile Restitution der Ordnung und die kathartische Funktion des Opfers für die Gemeinschaft.300 «Ohne das Mittun aller hätte das Opfer seine Wirksamkeit verloren. […] Die Nichtteilnahme eines einzigen macht das Opfer mehr als unnütz, nämlich gefährlich.»301 Willehalms Klage hat spaltendes Potenzial, was im Text aber nicht mehr ausgeführt wird. «Die Eruption der Wahrheit zerstört eine auf der Lüge der gewaltsamen Einmütigkeit gegründete soziale Harmonie.»302 Die Isolation des Opfers ist nicht restlos geglückt und Gewalt bleibt in der Figur Willehalms virulent. Przybilski fasst das Verschwinden Rennewarts, Willehalms Trauer und die geradezu auffällige Nicht‑Trauer aller anderen so: [I]n dem Moment, wo der Kampf zumindest zeitweise ein Ende hat, verschwindet er [d. i. Rennewart], da seine inhärente Sprengkraft durch die pazifizierte Adelsgesellschaft nicht aufgefangen oder umgelenkt werden kann. Nur der andere ‹ewige Krieger› des ‹Willehalm› betrauert sein Verschwinden – dem übrigen Personal fällt sein Vergessen leicht. Doch Rennewart ist nicht nur zu gefährlich für die Hofgesellschaft in der Erzählung, sondern auch für die Erzählung selbst, die beständig die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen verwandtschaftlicher Verbundenheit und triuwe umkreist. Eine Figur, die ein Verbindungspunkt zweier Gentilverbände sein könnte und zugleich diese Verbindung durch ihr Handeln ad absurdum führt, ist eine zu belastende Option, als daß sie letztlich nicht aus der Erzählung verschwinden müßte.303

Mit der Lektüre des ‹Willehalm› mittels der Überlegungen Girards zum Sündenbock hat sich die Interpretation scheinbar weit weg von der Freundschaftsthematik bewegt. Allerdings kann dadurch nun das Zusammenspiel und das individuelle Gepräge der Freundschaften untereinander und im Vergleich zur ‹Aliscans› deutlicher profiliert werden. Dieser Ansatz vermag, die Freundschaften Willehalms in den Gewalt- und Herrschaftsdiskursen des Textes zu verorten: Willehalms Freunde Vivianz und Rennewart werden beide im mittelhochdeutschen Text geopfert, allerdings handelt es sich um Opfer auf ganz verschiedenen Ebenen. Mit dem Tod Vivianz’, für den sich Willehalm persönlich verantwortlich macht, wird ein vermeintlicher Startpunkt des Rachezyklus und der Entgrenzung der Gewalt gesetzt – vermeintlich deshalb, weil sich jedes Gewalthandeln immer als Reaktion auf vorheriges Unrecht begreift. So ließe sich auch der Rachezyklus problemlos bis zur Gyburc‑Willehalm‑Minne und darüber hinaus nach vorn verlängern. Rennewarts Opfer ist hingegen dasjenige, das aller Gewalt ein Ende setzt. Mit der Gewalteskalation nach Vivianz’ Tod besetzt zunächst Willehalm das Feld der entdifferenzierenden Opferzeichen, wird darin aber abgelöst durch Rennewart. Dieser wird an Willehalms statt als dessen monströser Doppelgänger getilgt. So stirbt Willehalm durch seinen Doppelgänger einen symbolischen Tod. Das ist im Text entsprechend im Schlusstableau in der maßlosen Trauer und Klage Willehalms ins Bild gesetzt. 299 Vgl.

Girard 2006 [1972], S. 127. Vgl. ebd., S. 138. 301 Ebd., S. 150. 302 Girard 1995, S. 20. 303 Przybilski 2003, S. 221 f. 300

156



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt

Beide Freunde sterben für Willehalm. Die kollektive Trauer um Vivianz perpetuiert die Gewalt, während die kollektive Nicht‑Trauer um Rennewart304 die Gewalt beendet. Auf Vivianz und Rennewart verteilt sich so die Ambiguität der Gewalt: «Einmal zeigt die Gewalt den Menschen ein schreckenerregendes Gesicht und vervielfacht ihre Verwüstungen aufs äußerste; einmal zeigt sie sich im Gegenteil in einem friedenstiftenden Licht und verbreitet um sich die Wohltaten des Opfers.»305 Das Tragische dieser Freundschaften, wenn man das so sagen kann, besteht darin, dass der Tod der beiden Freunde Willehalm nicht ‹rettet›. Den Tod der beiden Freunde umgibt eine widerständige Leere –  Vivianz wird nicht begraben, Rennewart nicht einmal mehr gefunden. Willehalm ist am Ende des Textes ein victor victus, einer, der den Sieg um einen Preis errungen hat, der allen Sinn zunichtemacht. Es liegt damit der von der bisherigen Textreihe abweichende Fall vor, dass Freundschaft trotz ihrer Machtfülle nicht mehr mit Herrschaft konvergiert. Dieser Befund kann für Rennewart weiter präzisiert werden. Von der Warte mimetischer Gewalt aus betrachtet, hat die Freundschaft Willehalms zu Rennewart ihre gesellschaftliche und damit eminent herrschaftsrelevante Funktion erfüllt, wenn durch das einmütige Opfer Ordnung restituiert ist. Aus der Perspektive Willehalms ist damit aber gerade kein neuer status quo erreicht, stattdessen betont er in seinen Klagen das Individuelle oder besser das Individuierende seiner Freundschaft zu Rennewart. Freundschaft ist immer zu einem gewissen Grade exkludierend und sucht die Abgrenzung gegen andere soziale Beziehungsformen. Das ist für die Texte solange nicht problematisch, wie dies in gesamtgesellschaftlicher und damit herrschaftlicher Hinsicht funktional ist. Dass Willehalm aber auf der qua Freundschaft gestifteten Differenz gegenüber allen anderen zu einem Zeitpunkt besteht, als ihre Herrschaftsfunktion erfüllt ist, leistet dem bedrohlichen Kippmoment, das Einmütigkeit unterläuft, Vorschub. Wie Röcke für die Keie‑Figur der Artusromane zeigt, ist es für die Möglichkeit der Gewaltvermeidung durch die Übernahme der Sündenbock‑Rolle neben seiner Gleichheit mit den anderen Mitgliedern der Artusgesellschaft entscheidend, dass Keie isoliert ist und keine weiteren sozialen Beziehungen unterhält, die eine Vergeltung der Gewalt gegen den Sündenbock initiieren würden. Weder ist Keie mit anderen Mitgliedern der Artsurunde oder gar der Artussippe verwandt noch hat er Freunde.306 Überträgt man dieses Bedingungsgefüge auf den ‹Willehalm›, dann erhellt sich, dass das Nicht‑Erkennen Rennewarts und Gyburcs als Geschwister und die Unerfülltheit der Minne Rennewarts zu Alyze genau jener gesellschaftserhaltenden Funktion der Sündenbock‑Rolle Vorschub leistet. In Bezug auf die Freundschaft Rennewarts zu Willehalm durchkreuzt der Text jenen Nexus in fundamentaler Weise und das stellt der Erzähler pointiert am Ende heraus. So wie Keie, der etwa seine versöhnende Funktion nicht mehr erfüllen kann, sobald er Freundschaften (vornehmlich zu Gawan, aber auch anderen) unterhält (etwa in der ‹Crône› oder im ‹Prosa‑Lancelot›), so disqualifiziert Willehalms Insistieren auf der Klage um Rennewart jenen auch für diese Funktion. Die Freundschaft Willehalms zu Rennewart scheint im Schlusstableau des Textes aus der herrschaftsrelevanten Funktion herauszutreten und einen Eigenwert zu entwickeln, den 304

Ich kann daher die Einschätzung Kielpinskis 1991, S. 87, nicht nachvollziehen, wonach die Klage Willehalms um Rennewart ein Zeichen der erfolgreichen Integration Rennewarts in den ritterlich‑höfischen Kontext sei. 305 Girard 2006 [1972], S. 60. 306 Vgl. Röcke 2001, S. 353 f. und 2004, S. 302.

157

II.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen Chanson de geste‑Adaptationen

Willehalm mit aller Vehemenz in seiner Klage beansprucht. Auch wenn die Klageelemente über weite Strecken topisch sind, so scheint sich mir in ihrer Extension und Akzentsetzung (Beschuldigung Gottes etc.) einer schier nicht enden wollenden Trauer eine Tendenz abzuzeichnen, die man mit Lugowski als Individualisierung bezeichnen kann.307 Freundschaft als soziale Bindung bleibt keine rein äußerliche Zutat zu einer Figur, sondern Willehalm reklamiert für sie in seiner Klage im Grunde einen verinnerlichten Status. Setzt man dies voraus, dann ist klar, dass Willehalm gegen die Einmütigkeit anarbeiten muss, um den individuierenden Eigenwert von Freundschaft im Diskurs zu halten. Der Erzähler des ‹Willehalm› hat dieser Freundschaft seit ihrer Anbahnung entsprechend einen Eigenwert für die Figur Willehalm zugebilligt. Die Motive für die Bitte um Rennewart gegenüber Loys werden vom Erzähler verunklart (s. o.) und stattdessen in der Szene der ersten Begegnung Willehalms und Rennewarts individuelle Attraktion und Faszination behauptet. Vor dem Hintergrund der bisher analysierten Texte – und das wird sich bei den noch zu betrachtenden Heldenepen germanischer Provenienz bestätigen  – existieren offenbar verschiedene Optionen, wie mit der Freundesfigur verfahren werden kann, wenn ihre unmittelbar herrschaftsrelevante Funktion erfüllt ist. (1) Der Freund kann sterben wie David in ‹Karl  und  Galie› oder Oliver in den Texten des Roland‑Stoffs und dann auch in einer umfassenden, religiös fundierten memoria sakralisiert werden wie Roland. Im Falle Rolands wird das herrschaftsrelevante Potenzial seiner Freundschaft zu Karl von jenem für die als Rachehandlung markierte, zweite Ronceval‑Schlacht produktiv gemacht, ohne dass dadurch eine alle erfassende Rachespirale in Gang gesetzt wird wie bei Vivianz. (2) Der Freund bzw. die Freundin kann durch Ehen bündnispolitisch zum dauerhaften Teil der eigenen Herrschaft gemacht werden wie Morant, Florette und Orie in ‹Karl und Galie› und ‹Morant und Galie›. Für die Zeit nach den Eheschließungen interessieren sich die Texte jedoch nicht –  die Freundschaft ist in der Ehe auf Dauer und zugleich stillgestellt. (3)  Schließlich kann der Freund auch einfach aus dem Text getilgt werden wie bei Rennewart. Hierfür liefert das bisher betrachtete Korpus einen entscheidenden Vergleichsfall in ‹Karl und Galie›. Karls Freund Dederich hat seinen letzten Auftritt im abschließenden Kampf gegen den Heiden Orias und verschwindet dann einfach aus der Geschichte. In krassem Kontrast zum ‹Willehalm› wird das Verschwinden dieser Freundesfigur aber zu keinem Zeitpunkt virulent. Willehalms Klage gewinnt vor dem Hintergrund dieses Parallelfalls besondere Brisanz für die Qualität der Freundschaft zu Rennewart. Im Gegensatz zu Dederich in ‹Karl  und  Galie› lässt der Erzähler des ‹Willehalm› die Freundschaft über den Punkt 307

Lugowski ²1994 [1932] meint die Frage nach der Individualität von Figuren bekanntermaßen nicht ahistorisch, sondern wendet sich im Gegenteil entschieden gegen diese, die damalige Auffassung der Forschung prägende Vorstellung. Seine Leitfrage lautet entsprechend: «Wie wird im Ablauf der Zeiten das Dasein des Menschen als Einzeldasein dichterisch‑figurenhaft aufgefaßt, und wie deutet es sich in der Dichtung?» (S. 9; Herv. im Orig.) Dieser Problematik geht er anhand der Geschichte des frühneuhochdeutschen Prosaromans nach. Dabei definiert er den von ihm anvisierten ‹Einzelmenschen› in der Literatur im Zusammenhang mit dem mythischen Analogon: Je mehr sich in der Geschichte der Literatur Figurenindividualität durch Schwächung des mythischen Analogons entwickle, desto stärker ist der Einzelne nicht mehr Teil einer Ganzheit, sondern werde sukzessive «zum ungebundenen und so autonomen Einzelnen.» (S. 14; Herv.  im  Orig.) Folglich setzt seine Bestimmung ganz basal an: «Einzelmensch ist der Mensch, soweit er identifiziert werden kann.» (S. 15) Im Umkehrschluss sind Figuren im Ganzheitscharakter des mythischen Analogons hingegen «Funktionsträger» (S. 81), denen keine Individualität über diese Funktion hinaus zukommt und deren ‹Dasein› sich in Handlungsfunktion(-en) erschöpft (S. 60).

158



3.  Freunde als Opfer: Zum Ausbruch mimetischer Gewalt

ihrer positiven herrschaftsrelevanten Funktionalisierung hinaus überdauern, die dadurch einen Zug ins Individuelle im Sinne Lugowskis gewinnt. In Abwandlung der Darstellung Lugowskis zur Figur Lupoldt in Wickrams ‹Galmy› kann man über Dederich sagen, dass er [a]ls Träger einer bestimmten Handlungsfunktion [hier: Herrschaftssicherung], und nur als das, […] in die Erzählung ein[tritt]. Er verrichtet die ihm aufgetragene Funktion, verschwindet wieder, um immer nur dann von neuem aufzutauchen, wenn dieselbe Funktion […] ihn von neuem ruft.308

Im Gegensatz dazu lässt sich mit Lugowski für Rennewart (und die an ihm hängende Freundschaft) festhalten, daß das Dasein des Funktionsträgers nicht mit seiner Funktion erlischt, sondern daß er, falsch ausgedrückt: in eine wesentlich andere Funktion hinübergenommen wird, recht ausgedrückt: etwas erhält, das ihm ermöglicht, die Funktion zu überdauern und auch etwas anderes zu tun.309

In Analogie zur Beobachtung Lugowskis zur Freundschaft Friedrichs mit der titelgebenden Figur des ‹Galmy› möchte ich über die Freundschaft Willehalms zu Rennewart mit Blick auf den Schluss des Textes behaupten: «Diese Freundesverbundenheit ruht in sich, ist nicht nach außen hin verankert, abhängig, gebunden, erhält ihren Sinn nicht erst aus dem Bezug auf die übergeordnete Ganzheit einer Welt.»310 Lugowski fasst diese Absonderung der Freundschaft gegen die Totalität der textuellen Welt als Indiz für die aufkeimende Individualität. Diese Tendenz zur Transformation von Freundschaft in Richtung der Individualisierung der Figuren Rennewart und Willehalm wird durch die Affektäußerung symbolisiert, die aber aus opfertheoretischer Sicht an genau der falschen Stelle eruptiert und damit die positiven, herrschaftsfunktionalen Valenzen von Freundschaft kippt. Willehalm gibt sich zwar noch den Anschein des Herrschers –  des houbetmannes sin (W 415,18) –, aber seine überindividuelle Rolle als Herrscher ist von seiner Individualität als Freund dissoziiert. Diese Kluft kittet der ‹Willehalm› nicht, sondern stellt den schroffen Gegensatz heraus und entlässt den Rezipienten mit dem Bild einer brüchig gewordenen Herrscherrolle, die an Freundschaft zu scheitern scheint. Diese besondere Qualifizierung von Freundschaft im ‹Willehalm› setzt diesen gegen die bisher betrachteten Texte ab, weswegen er den vorläufigen Schlusspunkt in der Reihe der untersuchten Chanson de geste‑Adaptationen bildet, bevor ich mich nun den Heldenepen der germanischen Tradition zuwende.

308

Ebd., S. 60.

310

Ebd., S. 96.

309 Ebd.

159

III. Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen der germanischen Tradition 1. Kudruns 13‑jährige Gefangenschaft in Ormanie: Freundschaft als Liminalitätsphänomen in der ‹Kudrun› Die ‹Kudrun› (um 1220)1 ist im Vergleich zum alles dominierenden ‹Nibelungenlied› nach wie vor ein Stiefkind der germanistischen Mediävistik, auch wenn sich die Forschungslage schon massiv verbessert hat. Das liegt zum einen an der schlechten Überlieferungslage der ‹Kudrun›, die nur unikal und dazu noch sehr spät zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Ambraser Heldenbuch überliefert ist, was von der Forschung vielfach als Indiz für deren geringe zeitgenössische Verbreitung und Popularität gedeutet wird, was durchaus streitbar ist.2 Zum anderen gilt die ‹Kudrun› als Antwort auf das ‹Nibelungenlied›, an dessen ästhetische Qualitäten es aber mit weitem Abstand nicht heranreiche. Obwohl gerade die mediävistische Forschung weiß, dass Ästhetik aufgrund ihrer historischen Variabilität und subjektiver Rezeptionswirkung kein literaturwissenschaftliches Beurteilungskriterium sein kann, wirkt das vernichtende Urteil der älteren Forschung zur ‹Kudrun› subkutan nach. Einen Ausnahmestatus hat der Text jedoch mit Blick auf die Freundschaftsthematik inne, da dies der einzige heldenepische Text germanischer Tradition ist, der gelingende Frauenfreundschaften darstellt. Der Fokus der Untersuchung soll daher auf der Freundschaft zwischen Kudrun und Hildeburg, aber ebenso auf der Beziehung zwischen Kudrun und Ortrun während der Gefangenschaft Kudruns liegen. Dafür sei kurz der Hintergrund der Handlung im sog. Kudrun‑Teil der ‹Kudrun› in Erinnerung gerufen: Nachdem die Werbung Herwigs um Kudrun erfolgreich war, erbittet sich Kudruns Mutter Hilde eine Jahresfrist bis zur Heimführung. In dieser Zeit überfällt Siegfried, ein ehedem erfolgloser Werber um Kudrun, Herwigs Land. Nachdem die Hegelingen helfend zu Herwig eilen, kann Hartmut, ebenfalls ein früher mehrfach abgewiesener Werber, die mangelnde Bewachung des Hegelingenhofes nutzen und Kudrun samt 62 Frauen, darunter auch Hildeburg, entführen. Es beginnt die Gefangenschaft Kudruns, die neben Hildeburg nun auch von Ortrun, Hartmuts Schwester, begleitet wird. Die Analyse von Freundschaft in der ‹Kudrun› soll eine auffällige Forschungslücke schließen helfen. Die ‹Kudrun›‑Forschung hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend vom qualitativ‑literarischen wie ideologischen Vergleich mit dem ‹Nibelun1

Dieses Kapitel basiert auf meinem, in einem anderen konzeptionellen Rahmen entstandenen Aufsatz, der für diese Arbeit macht- und herrschaftssoziologisch perspektiviert, entlang der hier vertretenen Freundschaftsdefinition neu fokussiert und so in seinen Erkenntnissen weiter geschärft werden konnte. Vgl. Federow 2015b. 2 Von der Überlieferung auf Verbreitung und Popularität zu schließen, ist insofern unzulässig, zumindest aber höchst spekulativ, als dieses Argument nur unter der Prämisse einer geradlinigen Überlieferung trägt. Dass Überlieferung allerdings gerade angesichts der Zeitspanne von 800 Jahren reichlich kontingent sein kann und Überlieferungszahlen dann mithin ihre Aussagekraft massiv einbüßen, wird kaum beachtet. Dass es sich dabei eher um ein Pseudo‑Argument handelt, sieht man am Umgang der Forschung mit dem Parallelfall ‹Erec›, der auch Anfang des 13. Jahrhunderts entstand und ebenfalls singulär im Ambraser Heldenbuch überliefert ist, aber als wirkungsmächtiger Auftakt der Gattung Artusroman im deutschsprachigen Raum gilt.

161

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

genlied› lösen und den Text in seiner Eigenständigkeit würdigen können.3 Doch trotz der Schwerpunktsetzung auf Variationen des Brautwerbungsschemas4 sowie Fragen der Gender‑Problematik,5 bleibt die Arbeit an der These von der besonderen Exponiertheit des Weiblichen in der ‹Kudrun› auf die namensgebende Protagonistin beschränkt. Erstaunlicherweise werden gerade nicht ihre so wichtigen Begleiterinnen Hildeburg und Ortrun betrachtet; somit wurde auch noch nicht die Frage nach weiblichen, homosozial codierten Freundschaftsbeziehungen gestellt. Die Freundschaften Kudruns zu Hildeburg und Ortrun zeichnen sich hierbei nicht durch Intimität im Sinne gemeinsamen Denkens, Fühlens oder der Selbstenthüllung aus, sondern durch Gegenseitigkeit der Beziehung, Wohlwollen und Fürsorge, wechselseitiges Vertrauen und Vertrautheit durch gemeinsame Aktivität, Gleichheit, Reziprozität sowie Symmetrie im Umgang trotz Statusdifferenzen. Man stößt in der ‹Kudrun› so gesehen auf eine besondere Freundschaftskonfiguration, die gerade nicht durch Affektivität konstituiert ist. Die vorläufige These lautet daher: Freundschaft in der ‹Kudrun› ist nicht individuell zu denken, sie hat keinen emotionalen Wert für die Figur im Sinne von Innerlichkeit, sondern muss strukturell betrachtet werden und erfüllt eine Funktion in der Handlungsstruktur. Diese Funktionalisierung, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Herrschaft der Hegelingen steht, zeigt sich an den Frauenfreundschaften in ihrer Sonderstellung gegenüber anderen Beziehungstypen. Mit der Paarung Kudrun‑Ortrun und Kudrun‑Hildeburg liegen Beziehungen vor, die sowohl funktional als auch sozial abgegrenzt sind gegenüber dem sonstigen Beziehungsnetz der epischen Welt, also nicht primär über Verwandtschaft, 3

Die folgenden Beiträge zeigen nichtsdestoweniger exemplarisch die bis heute ungebrochene longue durée dieses Forschungsthemas: Lange 2009, insb. S. 100–107; Schmitt 2001 und 2002. Die ‹Kudrun› wird in der Forschung weiterhin primär als ideologischer Gegenentwurf zum ‹Nibelungenlied› aufgefasst, gegen welches es aber hinsichtlich der literarischen Qualität verblasse: Vergeltung und Rache im ‹Nibelungenlied› vs. Geist der Versöhnung in der ‹Kudrun›, nicht‑christliches vs. christliches Ethos, Heimlichkeit und List vs. Öffentlichkeit und Harmonisierung der Beziehungen. Seeber 2014 hat diesen vergleichenden Blick auf die beiden Texte hinsichtlich der Verwendung komischer Momente eingenommen: Während das ‹Nibelungenlied› Komik nutze, um die Konflikte deutlich zu akzentuieren, zeigt sich über die Verwendung des Komischen in der ‹Kudrun› ein reflexiver Umgang mit Mustern des Tragischen und Heroischen. Jüngst nutzte Koch 2016, S. 59–94 und 127–131, konstitutiv den Vergleich zum ‹Nibelungenlied›, um das heroische Erzählmuster und den Umgang mit mythischen Versatzstücken wie der Greifeninsel‑Episode in der ‹Kudrun› – vor dem Hintergrund bisheriger Forschung wenig überraschend – als Domestizierung von Heroischem bzw. als Höfisierung einzuordnen. Wenn man die ‹Kudrun› als Antwort auf das ‹Nibelungenlied› begreifen und die Vergleichslogik weitertreiben wollte, so bildet die Funktionalität von Frauenfreundschaften eine weitere Dimension: Während sich Kudrun, Ortrun und Hildeburg solidarisieren, scheitert die Beziehung Kriemhild‑Brünhild. 4 Zuletzt Knaeble 2011; Dörrich 2011 und Wenzel 2005. Zwar fallen die hier zu betrachtenden Freundschaftskonstellationen in den Kontext der zahlreichen Variationen des Brautwerbungsschemas, welche die ‹Kudrun›‑Forschung stark beschäftigt, dennoch finden die beiden Nebenfiguren Hildeburg und Ortrun höchstens mit Blick auf die Heiratspolitik zum Schluss des Textes Erwähnung. 5 Mit Blick auf die Gender‑Perspektive des Textes finden sich hinsichtlich Methode und Ergebnis qualitativ sehr disparate Analysen. Ich verweise lediglich auf die neueren Beiträge von Lange 2009, S. 108–111, und Schmitt 2002, S. 13–32 und 217–268, mit einem weit zurückreichenden Forschungsüberblick; Schmitt 2003a und b. Exemplarisch sei hier nur auf die unterschiedliche Bezeichnungspraxis des Textes als ‹Frauenroman› bei Nolte 1985 oder auf die Diskussion der Bezeichnung als ‹Heldinnen‑Epik› bei Bennewitz 2003 verwiesen, die symptomatisch für eine durchaus kontrovers und bisweilen emotionalisiert geführte Diskussion stehen. Bennewitz teilt zwar die allgemeine Einschätzung der Fokussierung auf die Frauenfiguren, findet aber die Etiketten ‹Frauenroman› oder ‹Frauenträgodie› unpassend aufgrund der Begriffseinschränkung in der neueren Literaturgeschichte und des heuristisch geringen Werts einer solchen Kategorisierung. Zudem sieht sie keinen weiblichen Sonderweg, vielmehr verblieben auch die Protagonistinnen in den Normvorstellungen heroischer Männlichkeit.

162



1.  Kudruns 13‑jährige Gefangenschaft in Ormanie

Vasallität oder Hierarchie organisiert sind. Insofern werden hier im Vergleich zu anderen germanischen Helden- bzw. Brautwerbungsepen weibliche Zweierbeziehungen gesondert ausgestellt. Der ‹Normalfall› in der Heldenepik ist hingegen –  vor dem Hintergrund der bisherigen Textanalysen etwas pauschal formuliert  – die Integration von Freundschaft und Verwandtschaft in einer männlichen Sphäre als Basis von Vasallität und/oder Kriegergemeinschaft. Der Entwurf von Freundschaft zwischen Frauen in der ‹Kudrun› stellt in zweifacher Hinsicht –  einerseits als Frauenfreundschaften, andererseits in ihrer Eigenständigkeit gegenüber anderen Beziehungsmodi – den interessanteren Sonderfall im Sinne eines alternativen Modells dar.6 Krüger hat bereits für den höfischen Roman herausgestellt, dass weibliche Freundschaften gegenüber Geschlechterbeziehungen und männlich homosozialen Beziehungen eher marginalisiert werden.7 Wenn allerdings Beziehungen zwischen Frauen auftauchen, dann meist in der asymmetrischen Konstellation Herrin‑Vertraute.8 Die Freundschaften in der ‹Kudrun› sind die einzigen weiblichen, funktionierenden Freundschaften zwischen annähernd statusgleichen Partnerinnen9 in der Heldenepik der germanischen Tradition, während sich die Beziehung Kriemhilds zu Brünhild im ‹Nibelungenlied› als destruktiv erweist.10 Als überaus interessant erweisen sich hingegen die Parallelen zu den Frauenfreundschaften von ‹Karl und Galie› und ‹Morant und Galie›, die aus dem Korpus der mittelhochdeutschen Heldenepen französischer Tradition ebenso als singulär herausragen, wie diejenigen in der ‹Kudrun› für die Heldenepen germanischer Tradition. Die angesprochene Funktionalisierung der Freundschaften für den Plot wird durch diesen direkten Vergleichsfall unterstrichen. Die Ähnlichkeiten in der Anlage der Frauenfreundschaften Galies zu Florette und Orie sowie Kudruns zu Hildeburg und Ortrun sind geradezu frappierend, wenngleich deren Ausgestaltung in der ‹Kudrun› weniger affektiv getönt ist: Der weiblichen Zentralfigur des jeweiligen Textes werden zwei Freundinnen zur Seite gestellt, die in beiden Fällen nicht untereinander, sondern ausschließlich mit der Zentralfigur befreundet  6

Neben den beiden Frauenfreundschaften kämen in der ‹Kudrun› noch weitere Beziehungskonstellationen für den Freundesbegriff in Betracht, allerdings werden dort keine Zweierbeziehungen exponiert, weil sich verschiedene soziale Ebenen überlagern. Zumeist fallen in der ‹Kudrun› nämlich Freundschaft, Verwandtschaft und Vasallität zusammen, wie man beispielhaft am Hof Hetels mit komplexen Beziehungsmodi um Gefolgsmänner wie Wate und Horant beobachten kann. D. h., diese Beziehungen sind neben möglichen Momenten der Freundschaft primär durch andere Beziehungsmuster strukturiert. Auch die kleine Gemeinschaft bestehend aus Hagen und den drei Prinzessinnen auf der Greifeninsel ist eher nach dem Modell einer als‑ob‑Familie strukturiert, weil sich die Frauen um den anfangs noch hilfebedürftigen Hagen kümmern. Außerdem existieren hier noch Interferenzen mit dem Moment des Eros, da Hagen nach seiner Rückkehr nach Irland Hilde heiratet. Gerade der rein freundschaftlich konstituierte Beziehungsmodus von Kudrun zu Hildeburg und Ortrun ist insofern bemerkenswert.  7 Vgl. Krüger 2011, S. 229.  8 Vgl. Bleumer 2005, der diese Konstellation für den ‹Eneasroman› (Dido‑Anna), ‹Iwein› (Laudine‑Lunete) und ‹Tristan› (Isolde‑Brangäne) gesondert betrachtet.  9 Bei Kudrun, Ortrun und Hildeburg handelt es sich jeweils um Königstöchter der Hegelingen, von Portigal (KU 119; 1059) und von Ormanie. Gewisse Asymmetrien sind dennoch vorhanden, da die Freundschaften von der discours‑Ebene her auf Kudrun hin orientiert sind und weil Ortruns Vater Ludwig lehensabhängig von Hagen ist (KU 609–612), was auch als Grund für die Ablehnung Hartmuts als Ehemann Kudruns mehrfach angeführt wird. Hier und im Folgenden zitiere ich mit der Sigle KU nach der Edition von Bartsch/​Stackmann 2000. 10 Vergleichbares findet sich für die Dietrichepik, aber auch die sog. Spielmannsepik hingegen nicht. Lediglich die Galie‑Florette‑Freundschaft stellt einen Parallelfall innerhalb der Chanson de geste‑Adaptationen dar, während die Galie‑Orie‑Freundschaft zugleich verwandtschaftlich fundiert ist. Auf die Brünhild‑Krimhild‑Freundschaft wird im ‹Nibelungenlied›‑Kapitel zurückzukommen sein.

163

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

sind. Eine der beiden Frauenfreundschaften ist jeweils schon zu Beginn des Textes bzw. des Textabschnittes gegeben (Florette, Hildeburg), der Erwerb der anderen wird in der Geschichte dargestellt (Orie, Ortrun). Die Begleiterinnen wechseln sich jeweils mehr oder weniger ab, sodass die Zentralfigur stets durch mindestens eine Freundin unterstützt wird. Die Freudinnen wirken sozusagen phasenversetzt. Die Begleiterinnen geben für Galie bzw. Kudrun wesentliche Identitätsmarker wie Glauben und/oder die eigene Familie bzw. Zugehörigkeit zu einem Hof auf, gehen ein erhebliches Risiko hinsichtlich körperlicher Unversehrtheit und Status bzw. Prestige ein und durchschreiten mit ihr den Leidensweg der Flucht und Konversion bzw. der Gefangenschaft.11 Die Freundschaften werden dann jeweils nur während des Herrschaftsvakuums von Karl bzw. den Hegelingen dargestellt, das narrative Interesse an den Freundschaften versiegt nach der Verheiratung der jeweiligen Freundinnen. Die Freundschaften sollen hier zunächst anhand der Weber’schen Definition geschlossener sozialer Beziehungen und der über- und füreinander ausgeübten Machtdimensionen nach Popitz beschrieben werden, bevor sie in den narrativen Kontext eingebettet und auf ihre Funktion hin befragt werden. In theoretischer Hinsicht werde ich versuchen, die Besonderheiten der Frauenfreundschaften in der ‹Kudrun› sowie deren strukturelle Analogien zu Galies Freundschaften in ‹Karl und Galie› und ‹Morant und Galie› als liminales Phänomen im Sinne von Arnold van Gennep und Victor Turner zu beschreiben, wobei die Freundschaften funktional sowohl hinsichtlich der erzählerischen Entfaltung als auch in Richtung auf ein Modell gesellschaftlicher Ordnung Parallelen zu Übergangsriten aufweisen. Dieser Ansatz bietet sich v. a. mit Blick auf die Beschreibung des Herrschaftsvakuums während des Leidensweges der weiblichen Zentralfigur an.

1.1. Hildeburgs compassio: Zur Kompensation von Kudruns Leid durch eine langjährige Freundin Im Falle von Hildeburg zeigt sich im Text vorrangig auf der Handlungsebene, dass sie als enge Vertraute, Begleiterin und Freundin Kudruns aufgefasst werden kann. Hildeburg ist zunächst einmal die einzige mit Namen versehene Frau der 62 Personen (KU  801,3) umfassenden weiblichen Gefolgschaft Kudruns, die mit ihr entführt wird. Dies ist ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber der sonst amorphen Masse des Gesindes, womit sich die Erwartungshaltung an ein episches Eigenleben verbinden lässt.12 Hierzu passt, dass ausschließlich Hildeburgs Strafdienste gesondert vom Erzähler herausgestellt werden im Rahmen der Schilderung der Maßnahmen gegen Kudruns Gesinde. So muss Hildeburg in den Zimmern der Frauen Gerlints den Ofen beheizen (KU  1009,2). Im Zuge dieser Darstellung rekapituliert der Erzähler noch einmal Hildeburgs Schicksalsweg (von der

11

Die Begleitung Galies ins ellende ist seitens Florette und Orie als freiwillig ausgestellt, während man das für Hildeburg nur bedingt sagen kann, die Teil der mit Kudrun entführten 62 Frauen ist. Der Aspekt ist aber für die weitere Ausgestaltung der Freundschaft unerheblich. 12 Dies entspricht dem Verfahren, welches bereits im Hilde‑Teil der ‹Kudrun› angewandt wurde, denn unter deren 20 Jungfrauen (KU 482,1), die sie mit in Hetels Land nimmt, erhält eben auch nur Hildeburg einen Namen und wird eigens beleuchtet. Krüger 2011, S. 229, hat für den höfischen Roman darauf hingewiesen, dass im Kontext weiblicher Nahbeziehungen meistenteils nur der weibliche Hofstaat als Ganzes zu Repräsentationszwecken dargestellt wird. Vor diesem Hintergrund ist das Verfahren der Hervorhebung Hildeburgs durch namentliche Nennung umso erstaunlicher.

164



1.  Kudruns 13‑jährige Gefangenschaft in Ormanie

Begleitung Hagens über Hilde zu Kudrun)13 und ihre hohe Abkunft (Königstochter aus Portigal; KU 73,3; 119): Ouch was ir einiu dar under  von Galizen lant, die hête ir ungelücke  von Portigâl gesant. si was von Irlande  komen mit Hagenen kinde hin ze Hegelingen.  sît wart si ze Ormanîe ingesinde. Si was eins fürsten tohter,  der hête bürge und lant. (KU 1008,1–1009,1)

Sie ist auch die einzige der Frauen Kudruns mit einer Geschichte, die sie als Vertrauensperson exponiert, was dem Rezipienten durch die Wiederholung aktualisiert wird. Bei Szenen, in denen Kudrun und Hildeburg gemeinsam auftreten, werden sie auch gemeinsam in einer Zwillingsformel vom Erzähler und anderen Figuren genannt, also als geschlossene Freundschaftsdyade wahrgenommen (KU 804,4; 1165,4; 1339,2 f. und 1341,4).14 Es findet hier – selbst wenn nur eine der beiden Figuren, meist Kudrun, für den weiteren Verlauf relevant ist  – auf der Denominationsebene keine Unterscheidung oder Gewichtung der Figuren statt. Eine weitere Ausnahme einer Figur des Gesindes mit Namen bildet lediglich Hergart, die aber als negatives, treuloses Kontrastbild zur dadurch umso stärker hervortretenden, treuen Hildeburg zu begreifen ist. Tatjana Rollnik-Manke betont, dass die Untreue Hergarts, die einen Schenken Hartmuts heiratet, dazu diene, die Treue Hildeburgs, aber auch der anderen Frauen gegenüber Kudrun als nicht‑selbstverständlich herauszustellen, wodurch Gemeinschaft als Wert etabliert werde.15 Dass Wate Hergart bei der Befreiung Kudruns in einem Atemzug mit Gerlint durch Enthaupten tötet, unterstreicht die Ungeheuerlichkeit ihrer Untreue. Die Erwartung an ein episches Eigenleben Hildeburgs findet nun eine Bestätigung in der wiederholten, aufopfernden Tat innerhalb der Freundschaft. Als Kudrun auf dem Höhepunkt der Erniedrigungsstrategien Gerlints täglich allein am Strand Wäsche waschen muss (KU  1054–1057), klagt sie, die ebenfalls eine Königstochter ist –  wie der Erzähler wohl nicht zufällig an dieser Stelle erinnert (KU  1059,1)  –, am heftigsten innerhalb der Gefolgschaft über Kudruns Leid: swaz si alle klageten, daz was gar ein wint. (KU 1059,2) Sodann leistet Hildeburg mit ihrer Unterstützung beim Waschen einen wichtigen Freundschaftsdienst, der als soziale Aktionsmacht Hildeburgs zu begreifen ist, indem er Kudrun aus der sozialen Isolation der Bestrafung durch Gerlint herausholt. Im Dialog zwischen 13

Dazu im dritten Abschnitt dieses Kapitels genauer. Dazu sei nur ein besonders eindrückliches Beispiel erläutert: Als der Gottesbote in Vogelgestalt am Strand auftaucht, umreißt er seinen Auftrag damit, dass Gott ihn ihr, also allein Kudrun, geschickt habe: «ich bin ein bote der dîne, wan mich got ze trôste dir her sande.» (KU 1169,4) Die Botschaft richtet sich laut Engel ausschließlich an Kudrun, sie meint jedoch gegenüber Hildeburg, dass ihnen beiden Hilfe durch Gott zuteilwerde: si sprach ze Hildeburge: «sô wol uns dirre êre, / daz unser got ruochet. jâne sul wir trûren niht mêre.» (KU 1170,3 f.) Kudrun denkt von Anfang an im Plural über sich und Hildeburg im Moment der potenziellen Errettung und sie legt implizit auch Gott in den Mund, dass er an sie beide gedacht habe bzw. sich ihrer beider erbarmen will. 15 Vgl. Rollnik-Make 2000, S. 139. Der Erzähler kommentiert, dass Kudrun und die anderen Frauen es vil dicke (KU 1094,1) beweinten, dass Hergart die swære (KU 1094,3) nicht gemeinschaftlich tragen wollte. D. h., der Schmerz über diese Untreue dauert länger an und stellt keine Bagatelle dar. Kudrun selbst wiederholt diesen Vorwurf, als Hergart um Rettung vor Wate bittet mit dem Verweis, noch gesinde (KU  1514,4) zu sein: Sie habe wenig Mitleid und dafür umso mehr Gleichgültigkeit für das Schicksal Kudruns gezeigt (KU 1515). Laut Schmitt 2001a, S. 174, stellt ihre Heirat mit dem Schenken des Königs zudem einen geschlechtsspezifischen Normverstoß dar. 14

165

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Hildeburg und Gerlint wird mehrfach auf die Strapazen sowie die Gefährlichkeit des Beistands abgehoben und mit gleicher Vehemenz betont Hildeburg die selbstverständliche Bereitwilligkeit zur Hilfe für Kudrun: «ich tæte ez für si gerne» (KU 1061,4) und «lât mich mit ir waschen, swie uns übele oder wol gelinge.» (KU 1062,4) Gerlint erwidert hierauf: […]  «sô wirt dir ofte wê. swie herte sî der winter,  du muost ûf den snê und muost diu kleider waschen  in den küelen winden, sô du dich ofte gerne  in dem phieselgademe liezest vinden.»  (KU 1064)

Angesichts der Drastik der Schilderung des Waschdienstes am winterlichen Strand erweist dieser sich nicht nur als erniedrigende Strafe, sondern auch als lebensbedrohliches Unterfangen. Dies wiederum ist ein Risiko, das Hildeburg ohne Zögern und ohne Ansehen von Konsequenzen eingeht. Hildeburg erfüllt hiermit ein zentrales Kriterium von Freundschaft bis hin zur Selbstaufgabe, nämlich die uneigennützige Förderung des Wohlergehens des Freundes. Das Ausmaß der freiwilligen Selbstbestrafung Hildeburgs für Kudrun illustriert die autoritative Macht Kudruns über ihre Freundin. Gezeigt wird nämlich eine internalisierte Folgebereitschaft Hildeburgs gegenüber Kudrun. Die genauen Gründe hierfür werden allerdings nicht expliziert. Auch der Dialog zwischen Hildeburg und Kudrun über die Hilfe Hildeburgs ist unter Freundschaftsaspekten aufschlussreich. Hildeburg betont weinend zunächst nochmals, wie sehr auch sie unter der Bestrafung der Freundin leide – «jâ riuwet mich vil sêre dîn grôzer ungemach.» (KU  1066,2)  – und beteuert dann in generalisierendem Gestus: «ich trage mit dir die swære gemeine.» (KU 1066,4) Kudrun dankt Hildeburg für ihr Mitgefühl und ihr – auch körperliches – Mitleiden. Dann formuliert sie die positiven Auswirkungen von Hildeburgs Entscheidung: «[…] daz gît uns freude guote / und kürzet uns die wîle. uns ist ouch dester baz ze muote.» (KU 1067,3 f.) Der Erzähler ergänzt: dâ von diu edele Kûdrûn einen trôst gewan. (KU 1065,2) Freundschaft bestimmt sich hier wesentlich als Leidensgemeinschaft.16 Dieser Treuebeweis Hildeburgs wird anschließend verstetigt, denn sie wäscht insgesamt fünfeinhalb Jahre zusammen mit Kudrun (KU 1070). Hildeburg durchleidet mit der Übernahme des Waschdienstes auch jede weitere Bestrafung, die Kudrun zuteilwird. In den Strophen 1193 f. bilanziert der Erzähler, dass beide sich lediglich von Wasser und Roggenbrot ernähren, auf harten Bänken ohne Kissen schlafen und nur zwei dreckige Hemden tragen. Auch die Schilderung des jämmerlichen Zustandes der Frauen bei der Ankunft von Herwig und Ortwin am Strand illustriert eindringlich die Torturen, die sie gemeinsam durchstehen: 16

Siebert 1989 hat sich bisher als einzige mit der Hildeburg‑Figur und der für sie konstitutiven ellende‑Erfahrung beschäftigt und stellt auf S. 214 heraus, dass Kudruns episch ausgestaltetes Leiden in der Figur Hildeburg, welche Hagen, Hilde und schließlich Kudrun in ihren Fremdheitserfahrungen begleitet, bereits angelegt ist. Durch die Beschränkung der Untersuchung auf Hildeburg kommt Siebert (S. 213) allerdings zu dem verkürzenden Ergebnis, dass sie als Leitfigur die Grundideen der ‹Kudrun›, nämlich Mitleid, Treue, Freundschaft und Versöhnungsbereitschaft, verkörpere. Analoges gilt m. E. auch für Ortrun, wie noch zu zeigen sein wird. Auch Lienert 2015a, S. 88, urteilt: «Hildeburgs Beistand ist der einzige zeichenhafte Akt der Solidarität, der ihr [d. i. Kudrun] zuteilwird.» Ich werde hingegen weiter unten versuchen, auch Ortrun als unterstützende Freundin plausibel zu machen. Siebert 1988, S. 191, erklärt – ohne Textbelege – die Freundschaft Hildeburgs durch Religion und Standesordnung. Sie folgert daraus, dass Hildeburgs Bereitschaft zum Mitleiden die Freundschaft zur «Keimzelle des Christentums» mache. Im Text konnotieren jedoch bei keinem der Freundschaftsmomente religiöse Motivationen mit, Mitleiden ist hier also auch nicht als heiligengemäße compassio zu verstehen.

166



1.  Kudruns 13‑jährige Gefangenschaft in Ormanie Si [d. s. Kudrun und Hildeburg] giengen in ir hemeden,  diu wâren beidiu naz. den vil edelen frouwen  was ê gewesen baz. dô bidemte von dem froste  daz arme ingesinde. si wâren in swacher koste;  jâ wâten die kalten merzischen winde. Ez waz in den zîten,  dô der winter sich zerlie, […] in snêwe und ouch in îse  wurden die vil armen weisen funden. Mit strûbendem hâre  sâhen si [d. s. Herwig und Ortwin] si gân. swie in diu houbet wæren  beiden wol getân, ir vahs was in zerfüeret  von merzischen winden. ez regente oder ez snîte,  wê was den vil edelen kinden. (KU 1216–1218)

Die Beständigkeit der Treue und die fortdauernde Aktualisierung der Freundschaft durch gemeinsame Aktivität lassen sich als weitere Aspekte der Freundschaftsbeziehung lesen. Der Erzähler wird auch nicht müde, immer wieder auf diese Aufopferung Hildeburgs für Kudrun zu verweisen. Auffälligerweise geschieht dies v. a. im Kontext der Schlusseheschließungen, innerhalb derer Kudrun u. a. die Ehe mit Hartmut als Dank für diese selbstlose Tat umdeutet. Beim Empfang der heimgekehrten Frauen in Hegelingen kommentiert der Erzähler: dô kom ouch frou Hildeburc ûz fremeden landen, / diu mit ir [d. i. Kudrun] hête gewaschen […]. (KU  1584,3 f.) Kudrun stellt Hartmut Hildeburg als diejenige vor, «diu ê mit mir wuosch der helden dînen.» (KU  1632,4) Auch der Erzähler entlässt Hildeburg aus der Geschichte als diejenige, diu ofte mit ir [d. i. Kudrun] truoc / diu kleider zuo dem grieze, dâ si waschen solden. (KU 1680,2 f.) Der Erzähler stellt an dieser Stelle ebenfalls einen Konnex zwischen Waschdienst und Heirat mit Hartmut her (KU 1680,4). Hildeburgs Macht speist sich wesentlich aus ihrer Vertrautheit zu Kudrun bzw. aus dem in sie gesetzten Vertrauen durch Kudrun. Die Frauenfreundschaft kann sich dadurch auch in der Erteilung von Rat äußern. Nach der Nachricht über die baldige Rettung aus der Gefangenschaft durch Ortwin und Herwig am Strand beschließt Kudrun, nicht weiter der niederen Arbeit des Waschens nachzugehen (KU 1266 und 1268). Hildeburg will Kudrun schützen und erteilt ihr aus Sorge um das Wohl der Freundin den Rat, weiter zu waschen unter zweimaligem Verweis auf die sonst eintretenden Konsequenzen, nämlich körperliche Züchtigung durch Gerlint (KU 1267,4 und 1269,4). Dem Rat schickt Hildeburg die Bitte voraus, dass Kudrun ihr diesen nicht übel nehmen solle: «lât iu niht wesen leit, / daz ich iuch daz lêre […].» (KU  1269,1 f.) Die schützende Einleitung zeigt, dass dieser Rat die Freundschaft auf die Probe stellt. Suggeriert wird so, dass Hildeburg um die Gefährdung der Freundschaft durch den Kudruns Ansichten entgegengesetzten Rat weiß, ihn aber im Sinne Kudruns dennoch erteilt. Hildeburgs Befürchtungen bewahrheiten sich, Kudrun ignoriert den Rat kommentarlos und wirft die Kleider ins Meer. Ihr Verhalten wird zwar durch die nahende Rettung motiviert,17 stellt aber objektiv betrachtet eine potenzielle Störung der Freundschaftsbeziehung dar. Diese Kippfigur, welche die Stabilität der Freundschaft potenziell gefährden könnte, wird aber im Text nicht weiter entfaltet – etwas, das in der ‹Kudrun› noch mehrfach zu beobachten ist. Hildeburgs letzter, schon 17

Cordes 2017b, S. 157, stellt für Kudrun anhand der detaillierten Untersuchung der Redeszenen während ihrer Gefangenschaft heraus, dass sie dort im heldenepischen Modus des Reizens gezeigt wird. Cordes sieht in diesem Dialog mit Hildeburg den außer Kontrolle geratenen Zorn Kudruns illustriert.

167

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

verzweifelter Versuch, Kudrun vor sich selbst zu schützen, besteht darin, dass sie die übrigen Kleider allein zurück in die Burg trägt (KU 1273,2–4).18 Hildeburgs soziale Macht in Form von Rat wird hier im potentialis aufgeführt, wie das auch bei Ratszenen zwischen Galie und Florette beobachtet werden konnte. Die Freundin scheitert mit ihrem Rat nicht, weil dieser schlecht wäre, sondern weil das Scheitern hier funktional für die Spannungssteigerung ist. Gleichzeitig kann so vorgeführt werden, dass Hildeburg über die durch die Freundschaft gegebenen Spielräume verfügt, in kritischer Distanz Kudruns Handeln hinterfragen zu können. Auch die funktionale Einbettung des Scheiterns des Freundes konnte man – wenn auch aus anderen Gründen (Normerfüllung, Charakterisierung des Protagonisten)  – bereits in ‹Karl  und  Galie› verfolgen. Hier wie dort bleibt das Scheitern aber die Ausnahme. Hildeburg ist sonst in der Sicherung der Statusgewissheit Kudruns mit ihren Handlungen und Ratschlägen überaus erfolgreich. Dass die Beziehung zwischen Kudrun und Hildeburg keine einseitige ist, sondern Reziprozität der Freundschaft angestrebt wird, zeigt sich in Kudruns Freundschaftserweisen gegenüber Hildeburg. So wird Kudruns Vertrauen in Hildeburg eindrücklich bei der Ankunft von Herwig und Ortwin am Strand unter Beweis gestellt, als die ihr noch unbekannten Boten sie dergestalt erniedrigt auffinden könnten und sie daher Rat bei Hildeburg sucht. Aus Kudruns Perspektive hält die Situation nur folgende Optionen bereit: Rettung um den Preis der Schande oder fortdauernde Erniedrigung. Der Rat soll Komplexität reduzieren: «Ich vil gotes armiu,  jâ enweiz ich waz ich tuo. trûtgespil Hildeburc,  rât mir dar zuo: sol ich von hinnen wîchen  oder lâzen mich hie vinden in diesen grôzen schanden?  ê wolte ich immer heizen ingesinde.»  (KU 1209)

Der Rückgriff auf das Vokabular eines eher intimen Sprachregisters in der Bezeichnung Hildeburgs als «trûtgespil» signalisiert die Intensität und Dauerhaftigkeit der Beziehung und deren Vertrautheitsgrad miteinander. Kudrun greift gegenüber Hildeburg noch öfter auf solche Anreden zurück; keine andere Figur bezeichnet sie mit derartigen Freundschaftsbegriffen.19 Ferner zeugt die Tatsache, dass Kudrun gegenüber Hildeburg keine Scham empfindet (ganz anders als gegenüber den Ankömmlingen), von einem hohen Grad an Vertrautheit im Umgang miteinander. Die Ratsuche in der für die adlige Existenz wichtigen Frage des Ehrverlusts ist außerdem ein großer Vertrauensbeweis. Hildeburg versichert bedingungslosen Beistand, der ohnehin ein wesentliches Konstituens ihrer Freundschaft ist: Dô sprach diu frouwe Hildeburc:  «ir sehet wol wie ez stât. ir sult an mich niht lâzen  alsô hôhen rât. ich leiste mit iu gerne  allez daz ir tuot. ich wil bî iu belîben  und lîden übel unde guot.»  (KU 1210) 18

Siebert 1988, S. 220 f., ist zu widersprechen, wonach sich in Hildeburgs Rat und Handlung ihre Passivität und Duldensbereitschaft aufgrund ihrer Lebenserfahrung der Fremdbestimmung ausdrücke. 19 Kudrun spricht Hildeburg wiederholt als «gespil» (KU 1199,1 und 1632,3) bzw. «trûtgespil» (KU 1209,2 und 1626,3) an. Die Übersetzung von Störmer‑Caysa 2010, S. 401, 405, 545 und 547, in ihrer zweisprachigen Ausgabe der ‹Kudrun› als ‘«(vertraute bzw. liebste) Gefährtin»’ ist gegenüber der Übersetzung Sowinskis 1995, S. 211 und 213, in seiner einsprachig neuhochdeutschen Ausgabe als ‘«Herzensfreundin»’ bzw. ‘«liebste Freundin»’ zwar weniger emphatisch, beide treffen aber den so geäußerten Freundschaftscode, dessen Semantik bisweilen auch instrumentalisiert wird, um mögliche Beziehungsstörungen zu überdecken wie etwa bei dem politisch motivierten Versuch der Verheiratung Hildeburgs mit Hartmut (KU 1626,3).

168



1.  Kudruns 13‑jährige Gefangenschaft in Ormanie

Das Zitat zeigt eindrücklich, wie die soziale Aktionsmacht Hildeburgs (schützt Kudrun vor Isolation) mit der autoritativen Macht Kudruns (internalisierte Folgebereitschaft Hildeburgs) konvergiert. Ohne weiteren Wortwechsel gehen beide Frauen, können aber von Herwig und Ortwin zurückgehalten und die Rettung schließlich eingeleitet werden. Dass Hildeburgs Beistandsversicherung nicht als Mutlosigkeit oder Handlungsunfähigkeit zu missdeuten ist,20 dafür spricht m. E. die vorherige Szene, in der sie sich durchaus als furchtlose Gefährtin Kudruns präsentiert. Nach der Gottesbotschaft der Errettung waschen die beiden Frauen die Kleidung am Strand langsamer (KU 1187) und werden dafür von Gerlint zornig zur Rede gestellt (KU 1188 f.). In dieser Situation ergreift Hildeburg schützend das Wort und begibt sich damit zusätzlich in die Gefahr der Bestrafung für die Anmaßung, die diese Widerworte in Gerlints Augen darstellen müssen: Dô sprach diu frouwe Hildeburc:  «wir tuon swaz wir gemügen. ouch sult ir iuwer zühte,  frouwe, an uns gehügen. uns armez ingesinde  friuset ofte sêre. wæren warme winde,  wir wüeschen iu deste mêre.»  (KU 1190)

Kudrun kann, da sie in Ormanie keine weiteren Handlungsoptionen hat, die Freundschaftsdienste Hildeburgs erst bei der Rückkehr nach Hegelingen vergelten. Dort gibt sie ihr als ‹Entlohnung› bzw. Gegengabe für ihre Dienste Hartmut zum Ehemann, wodurch Kudruns datensetzende Macht über Hildeburg demonstriert wird. Gegenüber ihrer Mutter Hilde betont Kudrun die friuntlîchiu triuwe Hildeburgs und meint in hyperbolischem Gestus, dass man diese nur mit großen Reichtümern ausgleichen könne: «[…]  möhte iht bezzers sîn dan friuntlîchiu triuwe?  golt oder edel gesteine, swaz des ein rîche hête,  daz solte man Hildeburgen geben eine.»  (KU 1585,2–4)

Der hier behauptete hohe Stellenwert der Freundschaft wird durch die Aufzählung der Güter als Gegengabe symbolisiert, zeigt aber zugleich, dass Hildeburgs Aufopferung letztlich durch nichts auszugleichen und Kudrun sich dessen bewusst und dankbar ist. Hilde bestätigt die Exzeptionalität des Dienstes und der Beziehung in ihrer Erwiderung auch nochmals: […]  «ez ist mir wol geseit, wie si mit dir getragen hât  lieb unde leit. ich gesitze nimmer  frœlîch under krône, des si dir hât gedienet,  unze ich irs mit rehten triuwen gelône.»  (KU 1586)21

In einem Gespräch unter vier Augen (heimlîche; KU 1626,1) verknüpft Kudrun schließlich explizit den Freundschaftsdienst und die Verheiratung mit Hartmut: «wilt du daz ich dir 20

Müller 1998, S. 222, meint, dass Hildeburg sich in so einer heiklen Situation nicht traue, Kudrun etwas zu raten. Siebert 1988, S. 221, erläutert die Szene der Ankunft der Retter mit anschließender Ratsuche Kudruns dergestalt, dass Hildeburg gar nicht in der Lage sei, Rat zu erteilen, denn dies setze die Fähigkeit zum Erkennen von Handlungsalternativen voraus. Hildeburg aber habe nie die Möglichkeit zur freien Willensentscheidung gehabt, könne also verschiedene Optionen gar nicht abwägen. Dieser Interpretation ist entgegenzuhalten, dass sie ein neuzeitliches Muster der Lernfähigkeit und Individualität der Figur voraussetzt, die in der ‹Kudrun› nicht gegeben ist. Zudem ignoriert Siebert in ihrer Einschätzung den später erteilten, sehr vernünftigen Rat Hildeburgs zum Weiterwaschen trotz baldiger Rettung (KU 1269). 21 Hildeburg hat allerdings nur Leid mit Kudrun getragen, freudige Zeiten gab es in Ormanie nicht. Insofern bildet Hildes Antwort nicht die ‹realen› Verhältnisse ab, sondern formuliert eher ein Freundschaftsideal.

169

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

lône / des du mir hâst gedienet, sô wirt dir ze Ormanîe ein rîchiu krône.» (KU 1626,3 f.) Kudruns Plan erfüllt gleich zwei Funktionen: Er dient der Herstellung von Reziprozität in der Beziehung zu Hildeburg und zugleich nüchterner Bündnispolitik. Hildeburg erweist sich abermals als weitsichtige Figur und erhebt folgende Einwände: […]  «unsanfte mir daz tuot, sol ich einen minnen,  der herze noch den muot nie an mich gewande  zuo deheinen stunden. sol ich mit im alten,  wir werden etewenne in zorne funden.»  (KU 1627)

Kudrun hält jedoch die Voraussetzungen für eine politisch funktionale Ehe für vorhanden, denn Hildeburg und Hartmut verfügen beide über Herrschertugenden. Sie antwortet daher knapp mit «daz solt du understân.» [‘«Das wirst du verhindern.»’ bzw. ‘«Das sollst du verhindern.»’] (KU 1628,1)22 Die dargelegte Reziprozität der Freundschaftsdienste – Hildeburg hilft beim Waschen, Kudrun erfragt Rat und vermittelt einen Ehemann  – veranschaulicht ein beidseitig aneinander orientiertes Handeln sowie Zuordnung der Freundinnen auf der histoire‑Ebene des sog. Kudrun‑Teils. Ihre Zusammengehörigkeit wird daneben angezeigt durch die Dauer des Waschdienstes, ihre vertrauten Anreden sowie durch die Tatsache, dass Hildeburg qua Namensgebung aus der Masse der gefangenen Frauen herausgehoben und durch Erzähler wie andere Figuren Kudrun beigeordnet wird. Ihre dergestalt geschlossene Beziehung, die sich gerade nicht hin zu einer Triade mit Ortrun öffnet, basiert wesentlich auf wertrationalen Motiven. Die Freundschaft hat einen autoritativen Wert, an dem insbesondere die Identität Kudruns hängt. Über die Freundschaft wird ihre standesmäßige Zugehörigkeit zur Hegelingensippe anerkannt und diese Zugehörigkeitsanerkennung basiert auf Vertrauen und Nähe.

1.2. Ortruns Solidarität: Zur Statusaufwertung Kudruns durch eine neue Freundin Neben Hildeburg tritt auch Ortrun als Freundin Kudruns auf. Ortruns Freundschaft und Zuneigung zu Kudrun äußern sich (im Gegensatz zur Konstellation Hildeburg‑Kudrun) 22

Siebert 1988, S. 222 f., deutet dies als gewaltsame Verheiratung, welche die ellende‑Erfahrung Hildeburgs institutionell verstetige. Siebert argumentiert hier allerdings mit einem offenbar sehr emotional‑individuell verstandenen Minnebegriff, der sich aber weder hier noch mit Blick auf den Gesamttext realisiert. Grimm 1971, S. 57, und Grosse 1982, S. 322, argumentieren ähnlich, dass Hildeburg eine Neigungs- der politischen Nutzenehe vorziehe. Die Ehen in der ‹Kudrun› sind v. a. politisch motiviert und Minne besteht in der Anerkennung der Ebenbürtigkeit sowie der Herrscherqualitäten der Partner (vgl. Schmitt 2002, S. 167), auch wenn hierfür partiell die klassische Minneterminologie verwendet wird. So sagt Hilde gegenüber Horant, sie wolle Hetel heiraten, wenn er ihr «ze mâze» (KU  405,2) sei. Daher lehnt Hilde Hartmut als Werber um Kudrun aus lehensrechtlichen Gründen ab (KU 610–612). Aus diesem Grund erkundigt sich Ortwin bei seiner Schwester nach der Geeignetheit Ortruns als Regentin (KU  1622) und Hartmut verkündet bei den Heiratsverhandlungen gegenüber Kudrun, er wolle lieber sterben als eine schmachvolle Verbindung eingehen (KU  1638). Hildeburg zielt mit ihrem Einwand nicht auf eine emotionale Ebene, sondern sieht die Gefahr der Dysfunktionalität der Ehe aufgrund von «zorne» (KU 1627,4), also möglicher feindlicher Affekte. Auch Ortwin befürchtet im Vorfeld der hier besprochenen Szene, dass Ortrun ihm bzw. seiner Sippe die Ermordung Ludwigs nachtrage und dies «suiften bræhte» (KU 1620,4). Schmitt 2002, S. 161, sieht in Hildeburgs Einwand der mangelnden Minne im Sinne der Zuneigung aufgrund feudaladliger Tugenden Signalcharakter, denn solch eine Ehe wäre problematisch mit Blick auf die Gemeinschaft, welche in der ‹Kudrun› aber gerade demonstrativ gestärkt wird und eben nicht in der Katastrophe endet wie das ‹Nibelungenlied›.

170



1.  Kudruns 13‑jährige Gefangenschaft in Ormanie

eher auf symbolischer Ebene in Gesten und – wenn man so will – zeichenhaftem Beistand als in konkreten Hilfsmaßnahmen. Eine erste Weichenstellung erfolgt bei der Begrüßung Kudruns in Ormanie: Diu Hartmuotes swester  bî zwein fürsten gie dâ si die Hilden tohter  vlîziclîch enphie. mit weinenden ougen  die maget vil ellende, die kuste des wirtes tohter.  dô nam si Ortrûn bî ir wîzen hende.  (KU 977)

Die gesamte Begrüßungsszene besteht aus zeichenhafter Kommunikation: Kudrun küsst Ortrun mit weinenden Augen, Ortrun nimmt Kudruns weiße Hand. All dies sind stumme Zeichen der Übereinkunft. Warum identifiziert Kudrun Ortrun aber sofort als freundlich gesinnt? Die Begrüßung zeugt zunächst von einem spontanen Vertrauen der beiden Frauen zueinander, eine Begründung für dieses doch sehr auffällige Verhalten Kudruns im Feindesland wird jedoch nicht gegeben. Freundschaft wird so als nicht weiter befragbares Faktum in den Text gestellt, Begründungen sind und bleiben im weiteren Verlauf der Geschichte opak.23 Die zeichenhafte Kommunikation und die im Anschluss an die Szene auftretenden massiven Sympathiebekundungen für die Figur Ortruns durch den Erzähler haben gewiss Signalfunktion für die Freundschaft, die so beschriebene Beziehung wird aber auf der Ebene der histoire nie eingelöst. Auch hier erfährt man – wie schon bei Hildeburg-Kudrun – nichts über die Initiation der Freundschaft. Unmittelbar im Anschluss an die oben geschilderte Szene bekräftigt der Erzähler die symbolhaft ausgedrückte Nähebeziehung zwischen den beiden Frauen in zwei Kommentaren: […]  Kûdrûnen tete wê, daz die von Ormanîe  bî ir megeden wâren. man sach si wider niemen  wan gên Ortrûnen wol gebâren. (KU 981,2–4)

und Ortrûn was alles arges  gegen ir tugende frî. swaz ander iemen tæte,  si was ir [d. i. Kudrun] gerne bî und liebte ir ze wesene  in ir vater lande.  (KU 983,1–3)

Die Erzählerkommentare zeigen einmal, dass man sich die Freundschaft als reziprok und exklusiv denken muss. Sie sind aber auch hinsichtlich der narrativen Präsentation der Freundschaft im Text interessant, denn jeweils werden Nähe und symbolische Kommunikation, die als Indizien von Freundschaft gelesen werden können, in Reduktion auf die Kernaspekte durch kompletive, partielle Prolepsen vorausdeutend präsentiert oder mittels Analepsen nachgereicht. Diese punktuellen Darstellungen isolierter Segmente füllen frühere oder später installierte narrative Lücken und geben dem Rezipienten einzelne Informationen, um bestimmte Elemente der Handlung –  hier die Beziehungsgestaltung – zu verstehen.24 23

Die Überlegung von Grenzler 1992, S. 510, wonach Kudrun Ortrun mit einem Kuss begrüßt, weil diese deren ständisch überlegene Position akzeptiere und der feudalen Hierarchie gemäß handele, findet keine Stütze im Text. Erst einige Szenen später im Kontext der Pflege Kudruns formuliert Ortrun, dass sie ihr dienen und ihr Haupt neigen wolle (KU 1039,3). Das ist aber ein Wissen, das man der Figur Kudrun nicht vorher unterstellen kann. 24 Vgl. Genette ³2010 [1972/1983], S.  32–54. Solche Anachronien erfüllen hier zugleich paradigmatische

171

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

An Gerlint zeigt sich dann, was die eigentlich erwartbare Reaktion Kudruns auch gegenüber Ortrun hätte sein müssen (KU  978,1–979,3). Gerlint versucht Kudrun zu küssen, Kudrun weist dies vehement zurück und markiert in ihrer Entgegnung, dass Nähe, Vertrautheit und die von Gerlint anvisierte Art der Begrüßung kongruent sein müssen. Schon hier werden symbolisch die Fronten zwischen Freund und Feind geklärt.25 Nachdem Hartmut einige Zeit später bereits mehrfach vergebens Kudrun zu überzeugen versucht hat, sie möge die Hochzeit mit ihm in Erwägung ziehen, wechselt er seine Strategie und instrumentalisiert die besondere Intimität und das gegenseitige Vertrauen der beiden Frauen, wenn er seine Schwester als Vermittlerin vorausschickt. Ortrun erwidert Hartmut: «ich sol ir immer dienen  und alle die dâ sint, daz si vergezze ir leides.  mîn houbet wil ich ir neigen. ich und mîne meide  suln ir immer dienen hie für eigen.»  (KU 1039,2–4)

Ortrun will sich gegenüber Kudrun so verhalten, wie es bei ihren Standesverhältnissen angezeigt ist. Damit hat Ortrun eine der Wirkungen der Freundschaft auf Kudrun angesprochen, nämlich Statusaufwertung und Kompensation des Leids.26 Zugleich zeigt sich darin ihre soziale Aktionsmacht, da es in ihrer Entscheidung liegt, Kudrun statusadäquat zu behandeln. Auch hier konvergiert die soziale Aktionsmacht der Freundin mit der autoritativen Macht Kudruns qua Status, wie das schon bei Kudrun‑Hildeburg beobachtet werden konnte. Ortruns Mission ist allerdings für die Freundschaft riskant, denn Kudrun könnte die Fürsorge immerhin als Verrat deuten. Der Erzähler jedoch umgeht auch diese potenzielle Hürde: Es gibt keine interne Fokalisierung auf Ortrun, in der sie ihre missliche Lage überdenkt, und Kudruns Reaktion ist eindeutig auf Bekräftigung der Freundschaft angelegt. Kudrun bewertet die Handlung Ortruns als umsichtige Pflege: Ortrun wolle schließlich nur das Beste für sie und auch wenn sie hinsichtlich der Heirat mit Hartmut ganz anderer Meinung ist, erkennt sie die Bemühungen an: Des sagete ir dô genâde  diu maget wol getân. «daz ir mich sô gerne  gekrœnet sæhet stân bî Hartmuote dem künige  und daz ich lebete in êre, des lône ich iu mit triuwen.  doch müejet mich mîn ellende sêre.»  (KU 1040)

Funktion: Die oft einmalige Darstellung eines sich in Vergangenheit oder Zukunft wiederholenden Ereignisses ist Anlass zu generalisierender Antizipation. 25 Lange 2009, S. 96, hebt die Deutlichkeit der Unterscheidung zwischen vriunt und vîent in der ‹Kudrun› hervor gegenüber der Vermischung von Heimlichkeit und Öffentlichkeit, Wahrheit und Lüge im ‹Nibelungenlied›. Die Sympathie, die der Figur Ortrun durch den Erzähler entgegengebracht wird, unterläuft die sonst übliche Trennung ‹eigen› vs. ‹fremd› und lässt das Beziehungsgefüge insgesamt komplexer werden, wodurch die Geschichte eben gerade nicht in blindem Gemetzel enden kann und so eine saubere Trennung der Racheakte möglich wird. Die Disqualifizierung Gerlints während der Entführung und Gefangenschaft Kudruns wird durch die erzählerische Attribuierung als vâlentinne (KU  629,4), wülpinne (KU  1015,1; 1052,1; 1203,1 und 1280,1) oder tiuvelinne (KU 738,1; 996,1; 1004,1; 1282,1; 1320,3; 1361,4; 1381,1; 1518,4 und 1521,3) weiter untersetzt. 26 Mit der Pflege Ortruns geht natürlich auch die körperliche Verbesserung, ablesbar an der rosigen Haut Kudruns (KU 1046,2), einher.

172



1.  Kudruns 13‑jährige Gefangenschaft in Ormanie

Kudrun lehnt den Kontext des Einsatzes ab, nicht jedoch die prinzipielle Symbolizität der Handlung.27 Auch hier wiederholt sich eine Konstellation, die bei Kudrun‑Hildeburg vorgeführt wurde: Die Freundin scheitert mit ihrem Hilfeversuch nicht aufgrund der Qualität des Rats oder der Labilität der Beziehung, sondern weil das Scheitern funktional für die Aufrechterhaltung der Statusnorm ist. Kudrun kann schlechterdings nicht den ihr inferioren Hartmut als Ehemann in Erwägung ziehen. Ortrun verschwindet dann als aktiver Handlungsträger für lange Zeit aus der Geschichte, sodass die Kontinuität der Freundschaftsbeziehung nur noch summarisch nachgereicht werden kann. Übereinstimmend zwischen Figuren und Erzähler wird aber die Aufrichtigkeit der Beziehung hervorgehoben. Nach Kudruns List gegenüber Gerlint, sie wolle nun doch Hartmut heiraten, bestätigt sich das bisherige Bild der Freundschaftsdarstellung beim Festmahl, auf dem Kudrun und Ortrun wieder aufeinandertreffen. Es werden Gesten getauscht (Kuss; KU  1308,1) und frühere Freundschaftsdienste angesprochen, sodass der Rezipient zusätzliche Informationen über die Beziehungsgestaltung erhält, die dennoch insgesamt recht vage bleibt. Kudrun geht Ortrun im Saal entgegen und in einem verallgemeinernden Kommentar meint der Erzähler: dô si ensamet wâren, dô sach man freude unde wünne. (KU 1307,4) Kudrun ergänzt diese Einschätzung: «Nu lône dir got, Ortrûn»,  sprach daz magedîn. «swie du mir gebiutest,  sô wil ich gerne sîn. du hâst beweinet dicke  mînes herzen leide. getriulîcher dienste  wil ich mich nimmer tac von dir scheiden.»  (KU 1311)

Die Szene ist aber zumindest latent riskant für die Freundschaft, weil Ortrun im Glauben, Kudrun wolle nun ihren Bruder heiraten, auf Kudrun trifft. Der Erzähler problematisiert diese List, die Ortrun ihr durchaus als Vertrauensmissbrauch auslegen könnte, an keiner Stelle und entlastet damit die Freundschaft. Während der Befreiungsschlacht kann Kudrun dann der Reziprozität der Zuneigung auch Taten folgen lassen, wenn sie zunächst Hartmut rettet und dann Ortrun vor Wate schützt und damit ihre datensetzende Machtfülle ausspielt. Den Konnex zwischen Freundschaftsdienst und Gnadenerweis stellt Ortrun selbst her, wenn sie Kudrun händeringend und ihr zu Füßen fallend (KU 1478) daran erinnert, wie es ihr erging, als ihr Vater fiel, und sie um «erbarmen» (KU 1479,1) für Hartmut bittet. Sie argumentiert dann weiter mit Blick auf die geleisteten Freundschaftsdienste und referiert so auf ihre im Sinne Kudruns eingesetzte soziale Aktionsmacht: «sô dich niemen klagete  aller die hie sint, du hêtest friunde niht mêre  danne mich vil einen. swaz dir iemen tæte,  sô muoste ich ze allen zîten umb dich weinen.»  (KU 1481,2–4)

Ortrun appelliert neben allgemeinem Erbarmen auch an Kudruns Pflichten als Freundin, als die sie sich auch selbst bezeichnet. Diese zweifache Argumentation erweist sich als erfolgreich; Kudrun handelt und kann Hartmut durch Eingreifen in den Kampf retten. Die 27

An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Bedeutung von Symbolen und Zeichen Zuschreibungen in Abhängigkeit vom Interpreten und dessen Kontextwissen sind. Das Problem der Arbitrarität potenziert sich zusätzlich mit Blick auf den Sender und dessen Encodierung. In (nicht nur literarischen) Texten verdoppelt sich zudem die Beobachterposition (Figur, Rezipient), die jeweilige Decodierung kann differieren. Vgl.  Müller 2003, S. 122–124.

173

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Pflichterfüllung Kudruns als Freundin wiederholt sich bei der Ankunft in Hegelingen, als Kudrun nicht nur Ortrun, sondern auch ihren Bruder gegen den anfänglichen Widerstand der Mutter Hilde integrieren kann. Kudrun betont als Ausweis von Ortruns Unschuld ihre vielen Dienste in der Fremde und verweist auf die ihr erwiesene Ehre (KU 1579,4). Als Hilde sich unwillig zeigt wegen der durch Ormanie erfahrenen Schmach, plädiert Kudrun gegen das Prinzip der Sippenhaftung und bestätigt Ortruns persönliche Unschuld (KU 1582). Wie bei Hildeburg‑Kudrun liegt hier eine wertrational geschlossene Beziehung vor, die auf Vertrauen und Zugehörigkeit fußt. Dies wird angezeigt durch den Begrüßungskuss Kudruns, die Pflege Ortruns, die Zuordnung beider durch den Erzähler sowie nicht zuletzt durch die Rettung Hartmuts Ortrun zu liebe, obwohl er Kudrun während der Gefangenschaft unverhohlen angedroht hat, sie zu vergewaltigen (KU 1029). Es ist auffällig, dass im Text nicht nur eine, sondern zwei Freundschaften darstellt werden. Wenn man hier eine Spezifik der jeweiligen Freundschaft herausarbeiten wollte, dann könnte man sagen, dass Hildeburg und Ortrun auf verschiedenen Ebenen möglicher Freundschaftsbekundung agieren. Während bei Hildeburg‑Kudrun die Freundschaft vom Einzeldienst abstrahierend über den Modus An- bzw. Abwesenheit funktioniert, Vertrautheit also über räumliche Nähe codiert ist,28 wird Freundschaft bei Ortrun‑Kudrun symbolisiert. Die ‹Kudrun› stellt Freundschaft einmal über Präsenz und einmal über Repräsentation her. Ortruns andere, symbolisch angelegte Form des Freundschaftserweises im Vergleich zu Hildeburg hat wohl primär mit ihrer Position im Interessengefüge der Familie und des Landes zu tun, da sie konfligierende Verpflichtungen gegenüber Kudrun und Ormanie erfüllen muss: Einerseits wünscht sie sich Kudrun als Landesherrin, andererseits will sie ihre Zuneigung zu Kudrun trotz deren Ablehnung Hartmuts fortführen. Diesem Konfliktpotenzial wird im Text durch verschiedene Strategien der Deeskalation entgegengewirkt. Ortrun gerät in keine ausweglose Entscheidungssituation; keine der Figuren reflektiert ihre heikle Zwischenstellung und es werden keine Informationen darüber gegeben, dass Gerlint oder Ludwig Kenntnis über die besondere Beziehung Ortruns zu Kudrun hätten.29

1.3. Zum Risiko weiblicher Identität in der liminalen Phase der Brautwerbung: Freundschaft als communitas Die beiden Freundschaftsdarstellungen erfüllen nun verschiedene Funktionen sowohl mit Blick auf die Figur Kudruns als auch auf den Gesamttext. Auffällig ist zunächst der narrative Ort des Auftretens der Frauenfreundschaften: Freundschaft wird in der ‹Kudrun› nämlich genau dann dargestellt, wenn Kudrun sozial desintegriert und in ihrer Identität destabilisiert ist. Konkret ist die Entführung durch Hartmut der erzählerische Anlass für die Einführung der Freundschaften, also eine Situation der Trennung Kudruns von ihrer 28

Müller 1998, S.  315, beschreibt, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt (Verwandtschaft, Bündnisse, gemeinschaftlicher friedlicher Umgang etc.) über Nähe vermittelt wird und fasst räumliche Nähe als «Abbreviatur persönlicher Beziehungen» auf. Diese symbolische Bedeutung von Nähe als Teilhabe an der persönlichen Sphäre zeigt sich durchaus auch bei Ortrun und Kudrun (KU 983,2; 1046,2; 1506,4 und 1617,4). 29 Hier ist die voreilige Einschätzung Krügers 2011, S. 229, wonach sich Ortrun gegen den Willen Gerlints auf die Seite Kudruns stellt, zu revidieren. Im Text wird der Grad des Wissens bzw. Nicht‑Wissens gänzlich offen gelassen.

174



1.  Kudruns 13‑jährige Gefangenschaft in Ormanie

Familie und dem Verlobten bzw. Ehemann Herwig. Schon auf formaler Ebene der Anordnung der Freundschaften im Plot lässt sich eine erzählerische Ausrichtung der beiden Freundschaften beobachten, die der Isolation Kudruns am Hof in Ormanie entgegenwirken soll. Genau in dieser Scharnierstelle des Textes zwischen Hochzeit und Heimführung der Braut im Brautwerbungsschema, in die in der ‹Kudrun› die Entführung durch Hartmut fällt, liegt auch der Grund für die eingehende Darstellung weiblicher Freundschaften in einem in weiten Teilen heldenepisch konstruierten Text. Schmitt hat gezeigt, dass die identitätskonstituierende Bindung des Einzelnen an den Personenverband genderspezifisch bestimmt ist. Die Zugehörigkeit zu einer Dynastie bzw. Familie als wesentliche Grundlage der Identitätskonstitution ist im Falle von Frauen diskontinuierlich, denn die patriarchale Ehe beinhaltet den Wechsel der Frau von einem Familienverband zu einem anderen. Als Objekt des Austausches wird die nur mittelbare weibliche Identität durch die Prinzipien der Patrilokalität und Patrilinearität zumindest temporär destabilisiert. Unter diesen Voraussetzungen geraten qua Brautwerbungsschema lediglich Frauen überhaupt in die Situation des ellende und insofern muss die Identität der Frau in der Fremde durch andere Mechanismen als Verwandtschaft gesichert werden. Hier fungiert Freundschaft temporär als alternatives Modell. Im Gegensatz zu regulärer Brautwerbung samt Heimführung bedeutet die Entführung Kudruns durch einen Dritten nicht nur die Destabilisierung ihrer Identität, sondern stört das Sozialgefüge des Herrschaftsverbandes insgesamt, weil nicht mehr eindeutig mit der Ehe Kudrun‑Herwig als Zukunftssicherung und Kontinuitätsmarker gerechnet werden kann. Es ist daher nur konsequent, dass im Text auf andere Beziehungsebenen umgeschwenkt wird, die zumindest im Falle Kudruns gewisse Sicherheit geben, während die kollektive Unsicherheit des genealogisch‑dynastischen Fortbestandes der Hegelingen andauert. Der Schwebezustand der Situation und die anschließende Installation von Freundschaft werden auf narrativer Ebene bereits durch besondere erzählerische Aufmerksamkeitsstrategien markiert. Durch die Entführung Kudruns wird die Erzählung zweisträngig und gruppiert sich um die Handlungsorte bei den Hegelingen und am Hof von Ormanie. Der Erzähler fokussiert aber auf der histoire‑Ebene bis zum Beginn der Rückentführungshandlung lediglich auf Kudrun.30 Die Kudrun‑zentrierten Aventiuren sind narrativ bestimmt durch Mittel des Summary, Ellipsen und Wiederholungen,31 inhaltlich sind sie ausgefüllt durch Darstellungen mit Ortrun und Hildeburg sowie die Bestrafungsmaßnahmen Gerlints. Insgesamt passiert auf der Ebene der histoire auch recht wenig in den 13 Jahren und dieser Handlungsstillstand wird für das Fokussieren auf Personen bzw. Personenkonstellationen genutzt. Es finden sich viele Ellipsen, die es sonst im Text eigentlich nur an Generationengrenzen gibt, wodurch die Linearität bzw. Prozessualität des Geschehens in Szenen aufgehoben wird, in die dann wiederum überproportional oft Freundschaftsdarstellungen fallen.

30

Die Situation bei Hilde bleibt erzählerisch unterbelichtet. In Aventiure 20 und 21 folgt die Geschichte allein Kudrun, während der 13 Jahre ihrer Gefangenschaft scheint die Zeit in Hegelingen nach ihrer Entlassung aus der histoire am Ende der 19. Aventiure und der Wiederanknüpfung an den Racheplan in der 22. Aventiure still zu stehen. Auch in den Aventiuren 24 und 25 steht Kudrun im Vordergrund der erzählerischen Bemühungen. Die beiden Erzählstränge werden endgültig erst in der 27. Aventiure wieder zusammengeführt. 31 Vgl. Genette ³2010 [1972/1983], S. 68–71 und 76–80.

175

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Hildeburg wird schon auf der Greifeninsel als Begleitfigur der Protagonisten der ‹Kudrun› installiert, will man nicht von mehreren Hildeburg‑Figuren ausgehen, wofür der Text aber keine Indizien liefert. Hildeburg genießt bei den Eltern Hildes und Hilde selbst einen hohen Stellenwert: Sie ist eine der drei Königstöchter (KU  73,3), die Hagen nach der Entführung durch einen Greif auf einer ansonsten unbewohnten Insel aufnehmen und umsorgen. Während Hagen mit Hilde eine der Prinzessinnen zur Frau nimmt und die Prinzessin aus Island mit einem Fürsten aus Norwegen verheiratet wird (KU  192), erfährt man von Hildeburgs Verbleib erst retrospektiv Genaueres. Bei der Ankunft von Hagens und Hildes Tochter Hilde im Land ihres zukünftigen Ehemannes Hetel führt der Erzähler sie als eine der 20 mitgeführten Jungfrauen Hildes gewissermaßen neu ein32 und resümiert, dass sie lange auf der Greifeninsel gefangen lag (KU 484) und die alte Hilde sie hêt erzogen nâch êren (KU 485,2). Der Erzähler hebt zugleich ihre rîchen mâgen (KU 484,3) und ihre Herkunft aus Portegâle (KU 485,3) hervor. Bei dieser ersten kurzen Fokussierung Hildeburgs wird auf ihr Leben unter fremeder diete (KU  485,4) aufmerksam gemacht und dieser ellende‑Zustand bleibt bis zum Schluss ein wesentliches Merkmal dieser Figur. Bei der Aussöhnung Hildes mit ihrem Vater Hagen nach der Entführung Hildes durch Hetel überantwortet Hagen Hildeburg die Sorge um seine Tochter, indem sie selbst als Vorbild diene: Hagene Hildeburgen  mit armen umbeslôz. er sprach: «nu phlic Hilden  durch dîne triuwe grôz. es gewirret lîhte den frouwen  an sô grôzem ingesinde. nu tuo genædiclîchen,  daz man die zuht an dir vinde.»  (KU 555)33

Hildeburg antwortet und betont dabei zwei Aspekte ihrer Beziehung zur alten Hilde, die in actu nie dargestellt wurden, aber mit Blick auf den Kudrun‑Teil virulent werden: Sie stellt sich selbst als leidgeprüfte, über einen langen Zeitraum beständige Freundin dar. «Herre, ich tuon ez gerne.  ez ist iu wol geseit, daz ich bî ir muoter  hête vil manic leit, daz ich si ze einer wîle  ze friunde nie verlôs. ir volgte ich manige mîle,  ê si iuch ze friedel ie erkôs.»  (KU 556)34

Obschon Hildeburg sehr früh in den Text eingeführt wird, wird ihr Potenzial als Begleitfigur erst während Kudruns Gefangenschaft breit entfaltet und ihr mehr erzählerische Aufmerksamkeit auf der discours‑Ebene geschenkt, sie tritt also aus ihrem Status als Randfigur für die Erzählung heraus. In der epischen Welt scheint sie schon die ganze Zeit über von großer Wichtigkeit gewesen zu sein. Über das in diesem Falle recht hohe Alter der Hildeburg bzw. vielmehr ihre Zeit‑/Alterslosigkeit wurden bisher nur vereinzelt Überlegungen angestellt, die sie als Verkörperung der zeitlosen Rolle der Gefährtin und der symbolischen Repräsentation der Leiderfahrung auffassen.35 32

Genau genommen erfährt man erst an dieser Stelle ihren Namen (KU 485,1). Unter den Frauen Hildes redet Hagen ausschließlich mit Hildeburg und umarmt auch nur sie. Auch an den Körpersignalen/‑gesten Hagens zeigt sich, dass Hildeburg nicht nur in den Augen Hildes, sondern auch ihres Vaters die Position unmittelbar nach Hilde einnimmt. 34 Das Bild von Hildeburg komplettiert sich in dieser kurzen Erzählpassage schließlich dadurch, dass sich die ältere Hilde bei Hagen nach dessen Rückkehr nach dem Befinden nicht nur der Tochter, sondern auch explizit nach Hildeburg erkundigt: «wie gehabet sich ir gesinde dâ und ouch frou Hildeburc diu guote?» (KU 561,4) 35 Vgl. Müller 2004, S. 205, der Hildeburg im Kontext mythischer Zeitverhältnisse und daher nicht als In33

176



1.  Kudruns 13‑jährige Gefangenschaft in Ormanie

Noch durchsichtiger wird die erzählerische Konstruktion im Falle Ortruns, die erst bei Ankunft Kudruns in Ormanie als Figur eingeführt und auf die Funktion als Freundin festgelegt wird. Die sehr späte Einführung der Ortrun, obwohl sich vorher mehrfach Gelegenheiten wie etwa Rat- oder Abschiedsszenen dazu geboten hätten, könnte man natürlich als großes erzählerisches Unvermögen auslegen. Vom Standpunkt finaler Motivation gesehen, scheint es hingegen angezeigt, Ortrun gerade nicht neben die anderen Familienmitglieder zu stellen, die sich alle mehr (wie Gerlint und Ludwig) oder weniger (wie Hartmut, der sukzessive erzählerisch entlastet wird)36 schuldig an Kudruns schlechtem Zustand gemacht haben. Indem Ortrun vorher gerade nicht in solchen Szenen auftaucht, kann sie plausibel als Figur mit Sonderstellung gegenüber Kudrun profiliert werden. Die in der ‹Kudrun› vorzufindende Entführungssituation durch einen Dritten (und nicht durch den erfolgreichen Werber) ist – sieht man einmal vielleicht vom ‹Laurin› ab –37 singulär im Kontext sonstiger Spielmanns- oder besser Brautwerbungs- und Heldenepen. Die Existenz der ledigen Frau (und als solche muss auch Kudrun trotz der Heirat mit Herwig noch gelten, weil die Ehe noch nicht vollzogen wurde) wird in Geschichten des genannten Typs aufgrund ihrer Virginität entweder als gefährdet oder –  wenn auch seltener – als gefährlich geschildert. Diese Gefahrensituation wird in ihrem narrativen Potenzial jedoch nie ausgeschöpft, die ‹Kudrun› hingegen erzählt nun gerade diese Leerstelle aus.38 D. h., die liminale Grenze zwischen zwei Familien, von der sonst Brautwerbungsdividuum betrachtet. Vgl. auch Siebert 1988, S. 194. Mit Hildeburg scheint mir ein Element chronotopischer Abenteuerzeit im Sinne Bachtins verankert zu werden. Die Abenteuerzeit ist nicht biografisch zu verrechnen, sie ist gewissermaßen außerzeitlich, weswegen die Zeit keine Spuren hinterlässt und die Figuren nicht einmal altern. Hildeburg ist sozusagen eine achronische Figur, die anderen Gesetzen als der Rest der Figurenwelt unterliegt. Bachtin entwickelt den Chronotopos der Abenteuerzeit am antiken Roman und sieht ihn im mittelalterlichen Roman fortleben, jedoch können Elemente des Chronotopos in andere Zeitreihen und Gattungen eingespeist und damit transgenerisch werden. Vgl. Bachtin 1989 [1937/1938], S. 9–19. So fasst es auch Lienert 2015a, S. 93, auf: «Dass Hildeburg als Braut für Hartmut in Frage kommt, obwohl sie schon die Freundin von Kudruns Großmutter war, entspricht […] dem Privileg der Alterslosigkeit epischer Helden und Heldinnen; auch ist der Name eine signalhafte Funktionsbezeichnung: Die Vertraute der Heldin heißt in diesem Text immer Hildeburg.» 36 Zur ambivalenten, schließlich aber doch überwiegend (wenn auch nicht bruchlos) positiven Darstellung Hartmuts vgl. Bulang 2006, S. 195–198, und Dimpel 2012. 37 Im ‹Laurin› findet sich wie in der ‹Kudrun› eine länger andauernde Gefangenschaft der Frau. Zumindest in der Jüngeren Vulgatversion (sowohl der Älteren wie Jüngeren Fassung) verbleibt Dietleibs Schwester Similt ein halbes Jahr beim Zwergenkönig Laurin, da Dietleib und Hildebrant diese Zeitspanne bei Dietrich verweilen (L  ÄFJV  v.  und JFJV  v. 225–228). In der Älteren Vulgatversion geschieht die Entführung der dort Kunhilt genannten Schwester Dietleibs hingegen am Morgen des Vortages (L ÄV v. 685). Anders als in der ‹Kudrun› allerdings wird der Zeitraum lediglich benannt und nicht näher ausgeführt. Die gänzlich andere narrative Anlage ist zudem wesentlich dadurch bestimmt, dass die liminale Phase gerade nicht aus der Perspektive der Frau geschildert wird (alle Informationen über den Hergang des Brautraubs und der Gefangenschaft erhält man durch Figurenreden Laurins). Dietleibs Schwester wird zwar gegen ihren Willen festgehalten, durchleidet aber keinerlei Strafen und ihre Virginität ist nicht akut gefährdet. So schildert Laurin die Fürsorge für Kunhilt bzw. Similt durch sein Zwergenvolk (L ÄV v. 717–732; ÄFJV v. 1149–1192) und Dietleibs Schwester bestätigt die gute Behandlung, verweist aber auch auf den Hinderungsgrund einer möglichen Verbindung, nämlich den Unglauben der Zwerge (L  ÄV  v. 1030–1043; ÄFJV  v. 1783–1798). Laurin betont sowohl in der Älteren (L ÄV v. 743) als auch in der Jüngeren Vulgatversion (L ÄFJV v. 1205 bzw. JFJV v. 1161), dass Dietleibs Schwester noch Jungfrau sei. Die Gefahren sind keineswegs so akut wie in der ‹Kudrun›, wo Hartmut Kudrun in einer Szene sogar androht, sie gewaltsam zu seiner Frau machen zu wollen (KU 1029 f.). Der ‹Laurin› wird in der Ausgabe von Lienert/​Kerth/​Vollmer‑Eicken 2011 zitiert. 38 Die Bedrohung der Braut besteht topisch in ihrem heidnischen Vater, der die eigene Tochter heiraten will, oder anderen Heiden, die mit dem christlichen Werber konkurrieren, oder eben anderweltlichen Wesen

177

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

geschichten erzählen, ist in der ‹Kudrun› massiv zur liminalen Phase ausgebaut. Das Auserzählen der Gefährdungssituation als erzählerisches Novum bietet die Möglichkeit der Darstellung von Freundschaften.39 Hierin zeigen sich deutliche Parallelen zu den Frauenfreundschaften in ‹Karl und Galie›. Auch dort wird der Kontext von Minnehandlung und Verheiratung zur Entfaltung der Krise der weiblichen Identität genutzt und der Familienwechsel – wenn auch nicht in Form strenger Brautwerbungsschematik – narrativ zerdehnt. Das Identitätsrisiko für die weibliche Zentralfigur wird auch dort durch die Beigabe von Freundinnen abgefedert.40 Zwar wird Galie nicht wie Kudrun gegen ihren Willen entführt, sondern flüchtet freiwillig mit Karl, aber die ‹Heimführung› Galies vom Hof ihres Vaters nach Frankreich ist durch mehrere retardierende Momente stark ausgebaut und endet eigentlich erst kurz vor Schluss des Textes (KG  204,65). Das Risiko des Unterfangens wird durch die Glaubensdifferenz (Christen in heidnischer Umgebung) sowie folgende verzögernde Stationen unterstrichen: Galies Schwächeanfall, die Episode um den ‹Ritter mit dem Speer› (KG 148,25–153,40), die Episode in Oriette mit der Entführung und dem Vergewaltigungsversuch durch Orias und schließlich der Angriff Orias’ auf Termes. Obwohl mehrere prekäre Kippfiguren eingebaut sind, werden die Freundschaften als insgesamt unproblematisch und ideal geschildert. Dies geschieht analog zu den auch sonst als idealtypisch dargestellten Familienverbänden in der ‹Kudrun›. Die Diversifizierung der Beziehungslandschaft durch die Darstellung von Freundschaften bestätigt damit nur noch einmal, was bei Verwandtschaft, Vasallität und Ehe schon gezeigt wurde, nämlich triuwe, Reziprozität, Übereinstimmung und weitere wichtige Gemeinschaftsideale, die auch für Verlässlichkeit im politischen Bereich eminent wichtig sind. Vertrauensbeziehungen auf verschiedenen Ebenen dienen der Kontingenzreduktion. Hierbei werden mögliche Brüche nur angedeutet, um als Alternativen sofort abgewiesen zu werden und ex negativo die Belastbarkeit der Konstruktion zu demonstrieren.41 Weiterhin zeigen sich Ordnung und Kontinuität aller Beziehungsebenen pointiert an den Freundschaften, die am Ende des Textes wieder in die Familiensituation durch Einheirat eingeholt und dadurch stabilisiert werden. Dies ist auf der Ebene der Freundschaft in der histoire eine Form der Institutionalisierung, wie sie sonst nur bei der Überführung von Minne in Ehe Anwendung findet. Die sonst im Text vorzufindende Integration bzw. Überlagerung verschiedener Beziehungsmodi ist bei den beiden hier betrachteten Konstellationen narrativ zerdehnt. Die zunächst isoliert herausgestellten Freundschaften werden schließlich in das typische System der Identität der verschiedenen Beziehungsmuster eingehegt. Freundschaft wird wie Zwergen oder Riesen. Selbst wenn die Gefahr akut ist, wird sie in der Regel nur angedeutet und ihr narratives Potenzial nicht ausgeschöpft (vgl. die entsprechenden Konstellationen im ‹König Rother›, ‹Orendel›, ‹Salman und Morolf›, ‹Münchner Oswald›, ‹Wiener Oswald› sowie dem ‹Ortnit‑/Wolfdietrich›‑Komplex). Die ‹Kudrun› hingegen nutzt nun diese Leerstelle und erzählt die Gefahrensituation im Sinne der Selbsterhaltung der Erzählung aus. 39 Wesentliche narrative Voraussetzung für das Erzählen der Freundschaftsbeziehungen sind im Umkehrschluss mehrere Abweichungen vom klassischen Brautwerbungsschema nach Schmid-Cadalbert 1985. Die ‹Kudrun› erzählt die Brautwerbung von der Braut her und nicht aus der Perspektive des Werbers. Vgl. Wenzel 2005 und Dörrich 2011. Es wird ein Brautraub installiert, nachdem die ‹eigentliche› Werbungshandlung längst abgeschlossen ist. 40 Auch in ‹Karl  und  Galie› wird der erzählerische Konstruktionscharakter der Freundschaften durchsichtig. Florette ist – analog zu Hildeburg – schon seit unbestimmter Zeit Teil von Galies Gesinde, wird aber erst im Kontext der aufkeimenden Minne Galies zu Karl aktiviert. Orie wird – analog zu Ortrun – erst während der Flucht nach Frankreich als Figur eingeführt. 41 Vgl. Strohschneider 1997, S. 73, der dies für das ‹Nibelungenlied› als Poetologie herausstellt.

178



1.  Kudruns 13‑jährige Gefangenschaft in Ormanie

komplementär zu Verwandtschaft gedacht.42 Dies wiederum zeigt retrospektiv, welch hohe gesellschaftliche und kommunikative Strukturlasten die beiden Freundschaften während der Gefangenschaft Kudruns zu tragen vermögen. Mit Blick auf die Schlussehen ist bei der Konstellation Ortwin‑Ortrun und Siegfried‑Herwigs Schwester jeweils ein Part der Verbindungen mit Kudrun oder Herwig verwandt. Aber die Verbindung von Kudrun‑Herwig zu Ortwin‑Ortrun ist über die Frauenfreundschaft weiter stabilisiert und eine mögliche fortdauernde, friedliche Beziehung zu Hildeburg‑Hartmut ist überhaupt nur durch die Frauenfreundschaft gesichert. Theodor Nolte beobachtet ganz richtig, dass die Ehen genau auf die früheren Feindschaften abgestimmt sind. Siegfried hat Herwigs Land überfallen, dies wird durch die Heirat zwischen Siegfried und Herwigs Schwester befriedet.43 Eine tiefere Feindschaft besteht zwischen den Hegelingen und Ormanie, die daher durch die beiden Hochzeiten Ortwin‑Ortrun und Hartmut‑Hildeburg abgesichert werden muss.44 Die Frauenfreundschaften sind mit Blick auf die Schlusshochzeiten final bzw. kompositorisch motiviert: Kudrun braucht Freundinnen auch mit Blick auf die Bündnispolitik.45 Freundschaft transzendiert zum Schluss die persönliche sowie soziale Sphäre und fungiert als potenzielle Konfliktlösung zwischen ehemals verfeindeten Personenverbänden. Sie wird in der ‹Kudrun› als positiver, gemeinschaftsstabilisierender Wert und schließlich bei den drei Hochzeiten am Ende zukunftsweisend als gesellschaftskonstitutiv dargestellt.46 42

Braun 2006, S. 67, verweist auf ein Modell von Kon 1979, S. 17, in welchem vier Arten des Verhältnisses von Freundschaft und Verwandtschaft berücksichtigt werden (Fusion, Substitution, Ergänzung, Wettbewerb/​ Konkurrenz). Die oben beschriebene Konstellation lässt sich hiermit als Fusion fassen: Freundschaft geht in Verwandtschaft auf, Verwandtschaft bedeutet automatisch Freundschaft. 43 Wie Seeber 2014, S. 249, in der eilig arrangierten Hochzeit eine «kleine ironische, […] possenhafte Einlassung[]» erkennt, die der «politische[n] Neuordnung durch Kudrun einen ironischen Beigeschmack» verleihe und einen «kritische[n] Umgang mit dem politisch‑höfischen Moment» verdeutliche, kann ich nicht nachvollziehen, weil im Text kein Bruch signalisiert wird. Im Gegenteil werden alle Hochzeiten relativ zügig und mit Blick auf Befriedung eingefädelt, sodass sich diese letzte, im Text installierte Ehe nahtlos einfügt. 44 Vgl. Nolte 1985, S. 68. Auch Knaeble 2011 stellt die zentrale Rolle Kudruns bei der Neuordnung der Gesellschaft am Schluss des Textes heraus und führt dies auf die Liminalität der Brautrolle zwischen Tochter und Herrscherin zurück. Den sich dadurch eröffnenden Handlungsspielraum verdeutlicht Knaeble – unter nicht ganz überzeugender Annahme permanenter Gendertransfers bei der Rollenzuweisung im Brautwerbungsschema – auch an den Figuren Hagen und Hilde und zeigt, dass die Serialität des Schemas zuletzt sich selbst destruiert und in die Schlusshochzeiten mündet. Ich argumentiere, dass neben der narrativ verdauerten Liminalität der Braut zudem die Frauenfreundschaften ganz wesentliche Gelingensbedingungen nicht nur für die Eheschließungen, sondern schon vorher für das Durchschreiten der liminalen Phase Kudruns sind, die bei Knaeble keine Erwähnung finden. 45 Nicht nur Hartmut wird u. a. durch mehrfache Absenz vom normannischen Hof mit Blick auf den Schluss moralisch vom Erzähler entlastet, sondern auch Ortrun durch die Freundschaftsbeziehung. Beide Figuren werden dadurch für die finalen Hochzeiten funktional frei. Analog könnte man auch die erst im Kudrun‑Teil stärker einsetzende Profilierung der Hildeburg‑Figur als konzeptionell auf die Bündnispolitik am Ende hin erzählerisch gestaltet sehen. Beck 1976 [1956], S. 465–467, sieht die Entlastung Hartmuts allerdings noch im Kontext einer Racheideologie, die sich in der ‹Kudrun› nach Generationen differenzieren (Rachegeist der Vätergeneration vs. Vergebungswille der jüngeren Generation) ließe. Hingegen hat Lange 2009, S. 68, überzeugend gezeigt, dass Rache und Vergebung in jeder Generation episodenhaft dargestellt werden, sich also argumentativ für keine bestimmte Generation vereinnahmen lassen können. Bulang 2006, S. 197, sieht Hartmuts spätere Rehabilitierung auch erzählerisch schon während Kudruns Gefangenschaft vorbereitet, ohne sich dabei auf die Generationszugehörigkeit stützen zu müssen. Zudem deutet Bulang die gemeinsame Entlastung der Ormanie‑Geschwister an, wenn er erläutert, dass Hartmut nicht nur moralisch, sondern auch genealogisch über die Loyalität seiner Schwester gegenüber Kudrun entlastet werde. 46 Nolte 1985 deutet die Sympathie zwischen Kudrun und Ortrun als ersten Ansatz zur Überwindung der

179

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Neben dieser Funktion als strukturelles Supplement in Bezug auf andere Formen der Soziabilität erfüllen die Freundschaften auch auf der Ebene der sozialen Identität Kudruns während der Entführung eine essentielle Funktion: Kudrun findet in den beiden Frauenfiguren eine Identitätssicherung. Ich habe die Entführungssituation Kudruns bereits als liminale Phase bezeichnet und ich meine, sie lässt sich auch entsprechend mit den Liminalitätstheorien van Genneps und Turners als heuristische Modelle in strukturalistischer Hinsicht beschreiben. Die genannten Theorien sollen nicht im Einzelnen beleuchtet werden, vielmehr geht es darum, an Fragestellungen und Betrachtungsweisen anzuknüpfen, die bei der Beschreibung und Analyse der im Blickfeld stehenden Passage nutzbar gemacht werden können. Insofern erscheint es statthaft, dass ich mich von einer ursprünglich engen Kopplung an das Ritual löse, wie dies bereits in späteren Arbeiten Turners im Begriff des Liminoiden angedacht ist.47 Van Gennep, auf dessen Überlegungen sich Turners Liminalitätsmodell stützt,48 bezeichnet solche Riten als Übergangsriten, die räumliche, soziale und zeitliche Übergänge begleiten, aber auch gewährleisten. Sie erfüllen hierbei je die gleiche Funktion der Kontrolle der Dynamik des sozialen Lebens und weisen die gleiche Form der Dreiphasenstruktur auf. Rites de passage gliedern sich bekanntermaßen in (1) Trennungs-, (2) Schwellen- bzw. Umwandlungs- und (3) Angliederungsriten.49 Dabei kann die Schwellenbzw. Umwandlungsphase, die Turner theoretisch und hinsichtlich ihrer sozialen Funktion weiter untersetzt und liminale Phase nennt, gewisse Eigenständigkeit gewinnen, wenn sie lang genug ausgedehnt wird. Dieses Phänomen wird in der 13‑jährigen Gefangenschaft Kudruns besonders augenfällig: Die Entführung Kudruns ist als liminale Phase so weit gedehnt, dass sie wiederum eine eigene Separations-, Schwellen- und Integrationsphase beinhaltet. Trennungsriten (rites de séparation) kennzeichnen die Ablösungsphase eines Einzelnen oder einer Gruppe von einem früheren fixierten Punkt der Sozialstruktur. Die Separationsphase beginnt im Text mit der räumlichen Trennung Kudruns vom Familienverband, die zeitlich auf Dauer gestellt wird. Hinzukommen der Verlust ihres Besitzes und ihrer königlichen Stellung als auch der bald massiv werdende Zwang zur Heirat Hartmuts. Kudruns soziale Identität ist damit bereits bei der Ankunft in Ormanie stark erschüttert.50 Kudrun wird während ihrer Entführung mehrfach als arm (KU  979,1; 1171,1; 1209,1) bzw. ellende (KU 989,1) bezeichnet. Dies verweist schlaglichtartig auf ihre Trennung vom Sozialverband, auf den Verlust ihres Besitzes und ihrer königlichen Stellung und auf den Zwang zur Verrichtung unwürdiger Magddienste. Feindschaft zwischen den beiden Gemeinwesen. Ich würde dies zuspitzen: Beide Frauenfreundschaften leisten diese Funktion und sie sind nicht nur der Anfang der Konfliktlösung, sondern wesentliche Bedingung. 47 Vgl. Turner 1989 [1982]. 48 Turner greift van Gennep erstmals in dem berühmten Aufsatz «Betwixt and Between. The Liminal Period in Rites de Passage» (1964) auf. Turner knüpft hier einerseits an van Genneps Vorstellung an, dass die mittlere Phase eine Inversion des normalen Lebens und der sozialen Ordnung darstellt, und andererseits an dessen Feststellung, dass diese mittlere Phase oft autonom wird. In «The Ritual Process. Structure and Anti‑Structure» (1969) entwickelt Turner die Überlegungen zur Schwellenphase theoretisch weiter, nennt sie liminale Phase, analysiert deren Merkmale und soziale Funktionen. 49 Vgl. van Gennep ³2005 [1909], S. 20 f., und Turner 2005 [1969], S. 94. 50 Müller 1998, S. 221–223, und Schmitt 2002, S. 185–201, haben wesentliche Punkte der ellende‑Erfahrung Kudruns zusammengefasst.

180



1.  Kudruns 13‑jährige Gefangenschaft in Ormanie

Der Prozess der Statusumkehr wird symbolisch sinnfällig in der sich steigernden Bestrafung Kudruns durch Gerlint aufgrund der Weigerung, Hartmut zu heiraten, was unter der hier gewählten Optik als Weigerung der Angliederung an Hartmuts Sippe lesbar wird und die zeitliche Extension der liminalen Phase bewirkt. Gerlints Bestrafungen zielen auf die ständische Erniedrigung und Desintegration Kudruns bzw. die Entfremdung von der Stellung, die Kudrun dank Geburt, Eheversprechen und Verwandtschaft zukommt. Programmatisch fasst Gerlint das selbst zusammen: «du muost beginnen, ob ich daz leben hân, / daz ander küniginne selten hânt getân» (KU 998,1 f.) und «von allen hôhen dingen wil ich dich swachen unde scheiden.» (KU 999,4) Kudrun muss zunächst Gerlints Kammer heizen, Feuer schüren und wird von ihren Frauen getrennt (KU  996–999). Letzteres ist ein Akt der Zersplitterung der Gemeinschaft und der Isolation Kudruns. Während der gesamten Zeit wird Kudrun schlecht ernährt und erhält unwürdige Kleidung, wodurch ihre Defizienz nun auch körperlich sichtbar wird (KU 1012 und 1024). Der Waschdienst ist dann schließlich der vorläufige Höhepunkt der Bestrafungen, bevor Gerlint ihr kurz vor der Befreiung mit körperlicher Züchtigung droht (KU 1282 f.). Selbst die Streitgespräche zwischen Kudrun und Gerlint kreisen um die Superiorität Kudruns (KU  993; 998 f. und 1279), welche Gerlint brechen will.51 Schwellen- bzw. Umwandlungsriten (rites de marge) kennzeichnen nach Turner eine Zwischen- oder liminale Phase, in der der Passierende von Ambiguität gekennzeichnet ist. Konventionen, Verhaltensmuster und soziale Differenzen werden aufgelöst, die Regeln des sozialen Lebens sind vorübergehend aufgehoben. Individuen, die diese mittlere Phase durchlaufen, durchleben einen Seinswechsel und gehören der alten Kategorie nicht mehr und der neuen noch nicht an. Das Individuum in der Zwischenphase ist identitätslos: Es hat weder Status noch Rang, weder Eigentum noch Insignien. Unstrukturiertheit, Anonymität, Besitzlosigkeit, Statuslosigkeit, Passivität und Inferiorität sind seine wesentlichen Merkmale.52 In diese liminale Phase fallen bei Kudrun nun die identitätssichernden Akte, die wesentlich über die Freundschaften vermittelt sind. Dass Hildeburg z. B. den Waschdienst gemeinsam mit Kudrun ausführt, kann als (Re‑)Integration in eine Form der Kleingemeinschaft verstanden werden. Analoges hat offenbar auch Hartmuts Vorschlag der Fürsorge Kudruns durch Ortrun zum Ziel, nämlich die – wenn auch nur partielle – Überwindung der ellende‑Erfahrung durch eine stabile Beziehung. Angliederungsriten (rites d’agrégation) kennzeichnen die letzte, die sog. Integrationsphase. Der Übergang ist in dieser Phase vollzogen; das Subjekt befindet sich wieder in einem relativ stabilen Zustand und hat gegenüber anderen wieder klar definierte Rechte und Pflichten in Abhängigkeit von der Sozialstruktur. Auch die abschließende Integrationsphase, die Kudrun in ihrem Rang und ihrer Stellung wiederherstellt, vollzieht sich ebenfalls über mehrere Stufen. Den ersten Schritt zur Wiederanbindung an die Sippe stellt die Ankündigung der Rettung durch den Engel dar, welcher Kudrun an ihren Status erinnert.53 Im Gespräch mit den Rettern Herwig und Ortwin am Strand (KU 1212–1254) 51

Zur Analyse der Reizreden zwischen Kudrun und Gerlint über einen sprachpragmatischen Zugang vgl. Cordes 2017b. 52 Vgl. Turner 2005 [1969], S. 105. 53 Im Gespräch mit dem Engelsboten in Vogelgestalt (KU 1167–1186) verweist dieser mehrfach darauf, dass er Kudrun von ihren mâgen (KU 1167,4 und 1169,3) berichten könne. Kudrun fragt dann auch gezielt nach dem Befinden von Hilde, Ortwin, Herwig, Irolt, Morunc, Horant und Wate. Sie versichert sich der Rettung und damit Wiederherstellung ihres Status durch die Schlussfrage nach dem Zeitpunkt des Eintreffens der Boten.

181

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

wird das Wiedererkennen zwar zunächst verzögert und Kudruns noch defizitärer Status mehrfach betont (KU  1216–1219; 1232,1), aber das Dingsymbol des goldenen Rings bezeugt letztlich ihren Rang (KU 1247–1250). Nach der List Kudruns, sie wolle Hartmut nun doch heiraten, findet schließlich ein prächtiges Essen statt. Kudrun und ihre Frauen werden gebadet und neu eingekleidet (KU 1297–1327), wodurch Kudrun auch noch den letzten äußerlichen Makel abstreifen und mit der Rückkehr nach Hegelingen rehabilitiert werden kann. Mit Hilfe der Liminalitätstheorien konnte die identitätsstabilisierende Funktion von Freundschaft in der ‹Kudrun› strukturell herausgearbeitet werden. Wie Turner herausgestellt hat, weist das liminale Wesen entweder keine oder nur wenige Merkmale der Zustände vor und nach dem Übergang auf. Wie gezeigt wurde, ist Kudrun aber gerade keine tabula rasa, sie besteht auf ihrem Status als Hegelingentochter gegenüber Gerlint und Hartmut. Zudem sind die Merkmale der pre- und postliminalen Phase auf die Rollen Hildeburgs, die den alten Zustand in ihrer Person präsent hält, und Ortruns, die strukturell auf den zukünftigen Zustand verweist, verteilt. D. h., die Dopplung der Freundschaftssituation kann als motivische Verklammerung der Schwellenphase gelesen werden. Die Freundschaften sind hierbei von der narrativen Anlage her asymmetrisch, quasi Kudrun‑zentriert, gerade weil sie diese wichtige Identitätsfunktion für Kudrun übernehmen. Ortrun und Hildeburg erhalten nur andeutungsweise eigene Geschichten, ihr Denken und Handeln richtet sich ganz auf Kudrun: Hildeburgs Potenzial als Begleitfigur wird erst im Kudrun‑Teil ausgeschöpft; Ortrun wird gar erst bei der Ankunft Kudruns in Ormanie eingeführt, um Kudrun als weitere freundlich gesinnte Figur an die Seite gestellt zu werden. Auffällig ist es so gesehen nicht, dass Hildeburg und Ortrun nicht miteinander befreundet sind, die Zweier- gerade nicht zur Dreierkonstellation geöffnet wird, wie man zunächst vermuten könnte. Dies verweist auf das Ziel und Zentrum der Freundschaftsbemühungen, nämlich Kudrun. Hildeburg und Ortrun wechseln sich zwar in ihrem Auftreten im Text nicht regelmäßig ab, aber sie überlagern sich auch nicht. Kudrun kann jederzeit Beistand von entweder der einen oder der anderen Figur erhalten. Auch hierin zeigen sich auffällige Parallelen zu den anderen beiden Frauenfreundschaften im Untersuchungskorpus. In ‹Karl  und  Galie› interagieren Florette und Orie ebenfalls nicht miteinander, unterstützten Galie aber phasenversetzt bei ihrer Flucht. Florette und Orie greifen auf verschiedene Machtquellen zurück, in der ‹Kudrun› werden die Freundschaften einmal performativ, einmal symbolisch ausgehandelt. In beiden Texten jedoch geht damit – anders als bei den bisher betrachteten Männerfreundschaften – keine funktionale Differenzierung der beiden Freundesfiguren einher, sondern ein Dopplungsbzw. Verstärkereffekt im Sinne des Identitätserhalts der weiblichen Zentralfigur. Dass sowohl Galie wie Kudrun autoritative Macht gegenüber ihren Freundinnen besitzen, wird durch die prekäre Notsituation der Heldinnen unterstrichen, denn in der Regel heftet sich Die Dichotomie von Struktur und Anti‑Struktur und der am Schluss geleistete Übergang von Liminalität in restituierte Ordnung werden topographisch sinnfällig im Meer als Grenz- und Kontaktzone. So beschreibt Kohnen 2011, S. 90–97, das Meer in der ‹Kudrun› als semantisch aufgeladen mit Dynamiken von Krieg und Versöhnung, Bedrohung und Rettung. Sie illustriert dies u. a. am Beispiel von Kudruns Waschdienst, der Engelsbotschaft und der anschließenden Begegnung mit Herwig und Ortwin am Strand. «Der Strand wird vom Ort des Ausgeliefertseins und der Bedrohung umgewertet zum Ort freundschaftlicher Begegnungen und der spirituellen Erfahrung göttlicher Hilfe.» (S. 95)

182



1.  Kudruns 13‑jährige Gefangenschaft in Ormanie

Autorität an die Erfolgreichen. Dass sich die jeweiligen Freundinnen nichtsdestoweniger zum Christentum in ‹Karl  und  Galie› bzw. zum Statuserhalt in der ‹Kudrun› bekennen, die Folgebereitschaft also internalisiert ist, verweist auf das je ungebrochene Prestige der Heldinnen. Das Solidaritäts- und compassio‑Prinzip der Freundschaften und Kudruns Sicherung der sozialen Identität können durch die Doppelung der Freundschaftskonstellation zudem auf unterschiedlichen Ebenen erfolgen. Einerseits wird eine physische Ebene bedient, umgesetzt in Handlung durch Hildeburg, und andererseits eine ‹mentale› in der symbolischen Vermittlung durch Ortrun. So betrachtet haben die Freundschaften hinsichtlich Vertrautheit und Zusammenhalt Gemeinsamkeit mit dem von Turner beschriebenen communitas‑Phänomen. Die communitas ist die Einheit aller Individuen, welche die Zwischenphase gemeinsam durchlaufen. Während sich Hildeburg von Anfang an in derselben Situation von Entführung und Gefangenschaft wie Kudrun befindet, antizipiert Ortrun die Isolation Kudruns. So wird mehrfach rückblickend auf die Anteilnahme Ortruns am Leidensweg Kudruns verwiesen: Kudrun meint gegenüber Ortrun, «du hâst beweinet dicke mînes herzen leide.» (KU 1311,3); Ortrun erinnert gegenüber Kudrun, «du hêtest friunde niht mêre danne mich vil einen / swaz dir iemen tæte, sô muoste ich ze allen zîten umb dich weinen.» (KU 1481,3 f.) und Kudrun erläutert ihrer Mutter zu Ortrun, «in mînem ellende bôt si mir manigen dienest und êre.» (KU  1579,4) Als Ortrun nach der Befreiung Kudruns als Gefangene mit nach Hegelingen genommen wird, parallelisiert der Erzähler das Geschehen mit der Entführung Kudruns: dô si [d. s. Ortrun und ihre Frauen] von dem lande und von friunden muosten scheiden, / dô mohten si wol gelouben wie Kûdrûnen wære und al ir meiden. (KU  1555,3 f.) Hier zeigt sich gewissermaßen der (Nach‑)Vollzug der liminalen Phase. Der Grund für die Solidarität bleibt –  wie besprochen – unklar. Die Individuen der communitas unterscheiden sich untereinander nicht; zwischen ihnen herrscht Gleichheit, Kameradschaft, Vertrautheit, Ungezwungenheit, Offenheit. Die communitas ist wesentlich gekennzeichnet durch Solidarität im Gegensatz zur normativen Sozialstruktur, die auf Differenzierung, Hierarchisierung, Trennung beruht. Durch das communitas‑Phänomen wird der Zusammenhalt der Gruppe gestiftet; dies dient der emotionalen Stabilisierung und Krisenbewältigung.54 Hier zeigt sich eine Funktion, die wesentlich auch von den Frauenfreundschaften in der ‹Kudrun› getragen wird.55

54 Vgl. 55

Turner 2005 [1969], S. 124. Mit Blick auf Kudrun und den Ausgang des Textes ist es bemerkenswert, dass Kudrun – im Gegensatz zur Kriemhild des ‹Nibelungenliedes›  – ihre Racheambitionen nicht umsetzt. Dies liegt sicherlich im Rückhalt und der Unterstützung, die sie durch die Frauenfreundschaften erfährt, begründet. Schmitt 2001a hat diesen wesentlichen Unterschied von Isolation vs. Integration zwischen Kriemhild im ‹Nibelungenlied› und Kudrun überzeugend herausgestellt. Die Kopplung der Mitleidsfähigkeit Kudruns an die Figuren Hildeburg und Ortrun, die ihr tröstend das Gefühl der Hoffnungslosigkeit nehmen, sieht schon Beck 1976 [1956], S. 481 und 483, aber er unterstellt eine Figurenentwicklung, die ich für eher problematisch halte angesichts des geringen Individualitätsgrades der Figuren. Der Text erzeugt durch den Gegensatz von Mitgefühl, ja Mitleiden der Freundinnen Kudruns gegenüber dem räuberischen Übergriff Hartmuts und dem gewaltsamen Ende des Konflikts in der Befreiungsschlacht als Episodenrahmen eine Spannung, welche die positiven Effekte der Kooperation umso stärker herauszustellen vermag. Krüger 2011, S. 233, fasst zusammen: «Weibliche freundschaftliche Beziehungen funktionieren damit in der Heldenepik als Solidarisierung in der Not.» Nolte 1985, S. 55, bringt es auf den Begriff der «Krisenbewältigungsarbeit». Lienert 2000, S. 146, spricht gar von einer generationenübergreifenden Solidarität der Frauen, die Frieden ermögliche. Es ist hingegen der unbe-

183

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Die eingangs aufgestellte These kann mit Blick auf die Herrschaftssicherung präzisiert werden. Zum einen schützen Freundschaften das Selbst- und Fremdbild der Figur Kudrun. Hildeburg agiert hierbei auf der Handlungsebene und repräsentiert die frühere Stellung Kudruns. Ortrun vermittelt zeichenhaft eine Verbindung zum Wiedererstarken Kudruns zur Königin. Zum anderen stabilisieren Freundschaften horizontale Beziehungen komplementär zu Hochzeiten, welche die genealogische Kontinuität garantieren, weswegen sie auch schließlich in multilaterale Bündnisse und Verwandtschaftsverhältnisse überführt werden. Freundschaft strukturiert nicht nur Verhalten und Kommunikation, sondern kontinuiert Sozialität und Gemeinsinn auch und gerade in nicht institutionell abgesicherter Umgebung.

1.4. Vom Herrschaftsvakuum der Hegelingen zu stabiler Bündnispolitik: Freundschaften als Vehikel der Veralltäglichung charismatischer Herrschaft Der Zusammenhang zwischen Freundschaft und Herrschaft ist in der ‹Kudrun› auf besondere Weise konturiert, wodurch sie sich trotz der Motivparallelen zu ‹Karl und Galie› in diesem Punkt unterscheidet. Dort wirken die Frauenfreundschaften mittelbar auf die Stabilisierung der Herrschaft Karls durch Verheiratung und Vasallitätsbeziehungen. In der ‹Kudrun› tritt nun im letzten Teil die Titelheldin in den Vordergrund des Herrschaftsgeschehens, während Herwig als Herrscher und Handlungsträger eher blass bleibt. Dies hat zur Folge, dass die Frauenfreundschaften viel unmittelbarer herrschaftsrelevant werden. Für beide Texte gilt indes, dass die weiblichen Beziehungen kein sentimentaler Ornat, sondern handlungsstrukturell bestimmend sind. Diese komparatistische Perspektive trägt dabei mehr zur Aufschlüsselung der ‹Kudrun› bei, als es die vielfach favorisierte Lesart als harmonisierende Antwort auf das ‹Nibelungenlied› vermag. Kudruns Herrschaft kann als charismatisch aufgefasst werden, die typischerweise in Krisenzeiten entsteht. In der ‹Kudrun› ist dies als politische Notsituation konzipiert, weil durch die Entführung Kudruns der Fortbestand der Hegelingen gefährdet ist. Die charismatischen Eigenschaften werden laut Weber durch die Isolierung aus gewohnter Umgebung und die radikale Änderung der Lebensumstände erweckt, was in der ‹Kudrun› als 13‑jährige Gefangenschaft der Heldin in Ormanie als charismatischer Prüfung umgesetzt ist. Die Herrschaft des Charismatikers beruht hierbei auf seiner Außeralltäglichkeit und den sich daraus ergebenden persönlichen Loyalitätsbeziehungen der Gefolgschaft zum Herrscher. Auch dies wird in der ‹Kudrun› angezeigt. Einerseits werden Kudrun auf struktureller Ebene legendarische Züge eingeschrieben, wodurch ihre Verweigerung der Ehe mit Hartmut als sich steigerndes Martyrium gelesen werden kann.56 Die charismatische Vervollkommnung wird hier insbesondere durch physische Leiden geprüft. Die soziale Deklassierung beinhaltet die Trennung vom mitgefangenen Gefolge, erstreckt sich auf das Heizen und Feuerschüren in Gerlints Kammer und steigert sich in körperlichen Strafen wie dem Waschen mit nackten Füßen im Schnee und der Androhung von Schlägen mit einem Besen aus Dornenzweigen und nicht zuletzt von Vergewaltigung. In der höchsten gründeten Einschätzung Sieberts 1989, S. 220, zu widersprechen, wonach sich diese Solidarität der Frauen untereinander gegen Männer richte. Dies wird vom Text nirgends gestützt. 56 Zur strukturellen Einbindung des Erzählmusters der Hagiografie vgl. Schmitt 2002, S. 175–216.

184



1.  Kudruns 13‑jährige Gefangenschaft in Ormanie

Not erreicht Kudrun eine Engelsbotschaft in Form eines Vogels, dem sie sich in Kreuzform zu Füßen wirft. Andererseits bewährt sich das Charisma Kudruns darin, dass sie scheinbar nicht zu bewältigende Aufgaben löst, die sich im Text konkret als Beendigung der Gewalt- und Rachespirale durch Hochzeiten darstellt. Dass Rache für den Text durchaus eine Option sein könnte, lässt sich ablesen am Blutbad Wates in der letzten Schlacht, in der er auch die Kinder in den Wiegen nicht verschont werden (KU 1501,4), sowie an Hildes anfänglicher Weigerung der Integration von Hartmut, den sie am liebsten im Kerker sehen will, und Ortrun unter Verweis auf das durch sie erlittene Leid (KU 1596). Auch das nach dem Kampf durch Wate, Frute und 30 000 Mann zerstörte und gebrandschatzte Ormanie, in dem viele Kriegsgefangene gemacht und insgesamt 26  Burgen geschleift wurden (KU  1545–1548), eignete sich als Rachequell. Nach der Aufnahme Hartmuts und Ortruns am Hof Hildes heißt es auch explizit über die Hegelingen: mit vollen wart versüenet der haz, den si dâ truogen, / daz si des gar vergâzen, daz ir recken ê einander sluogen. (KU 1602,3 f.) Kudrun kann hierbei –  auch das ist typisch für charismatische Herrschaft  – mit den Freundinnen eine exklusive Gruppe freiwilliger Gefolgschaft und zwar rein durch ideelle Interessensolidarität (Kudrun kann zu diesem Zeitpunkt keine Gegenleistung erbringen) an sich binden. Diese Kleingruppe, die ich oben mit Turner als communitas bezeichnet habe, steht wie Kudrun selbst außerhalb alltäglicher Verpflichtungen und bildet deswegen eine Gemeinschaft, weil nur diejenigen ins charismatische Gefolge aufgenommen werden, die ebenfalls Proben erfolgreich absolviert haben. Mit der Befreiung Kudruns tritt die charismatische Herrschaft in einen Veralltäglichungsprozess qua Hochzeiten, Krönungen und Bündnispolitik ein. Aufgrund des liminalen Charakters der Entführung kann im Text umschlagartig von der krisenhaften Machtlosigkeit und Handlungsunfähigkeit Kudruns zur Herrscherinnenfigur umgestellt werden. Eine sukzessive Präsentation der Institutionalisierung von Macht in Richtung Herrschaft nach dem Modell von Popitz unterbleibt daher in der ‹Kudrun›. Im Modus der Veralltäglichung charismatischer Herrschaft fokussiert der Text hingegen die Bündnispolitik am Schluss. Die Hochzeiten zwischen Ortrun‑Ortwin, Hildeburg‑Hartmut und von Herwigs Schwester mit Siegfried werden als persönlicher Verdienst Kudruns präsentiert, da sie Hartmut und Ortrun Hildes Gnade verschafft und integriert, an allen Beratungsszenen bezüglich der Ehen beteiligt ist und mehrere Zwiegespräche mit den potentiellen Ehepartnern führt. Das Gelingen der Bündnispolitik ist dabei, wie oben bereits ausgeführt, wesentlich von den Freundschaften Kudruns zu Hildeburg und Ortrun als strukturelles Supplement von Verwandtschaft abhängig. Kudrun kann damit mögliche Racheherde befrieden. Sie meint an einer Stelle auch, sie wolle «der friuntschefte gerne machen mêr.» (KU 1643,1) Der neu installierte Friedenszustand wird im Bild der gemeinsamen Krönung der vier Frauen (KU  1666,4) und Männer (KU  1666,1) sinnfällig und mit einem Fest bei Hilde besiegelt. Die neuen Ehepaare kehren nach und nach in ihre Königreiche zurück, wobei explizit darauf verwiesen wird, dass Hartmut seine Länder, die in der Zwischenzeit von Horant verwaltet wurden, zurückerhält (KU  1693 f.; 1703). Damit wird wiederum eine mögliche Gewaltquelle, nämlich die Schmach der Entmachtung, getilgt. In der letzten Strophe (KU 1707) schwören Ortwin und Herwig einander mit triuwen stæte (KU 1795,2), dass sie das Herrscheramt vorbildlich ausfüllen und gegen Feinde gemeinsam vorgehen 185

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

wollen. Die Herrschaft ist damit vollumfänglich institutionalisiert. Die ‹Kudrun› zeigt am Ende des Textes einen nach der Entführung erneuerten idealtypisch konzipierten Personenverband, in dem triuwe‑Bindungen den gesellschaftlichen Zusammenhalt garantieren. War zu Beginn des Textes die Basis dieses prästabilisierten Systems Bluts- und Schwiegerverwandtschaft, so tritt am Ende Freundschaft hinzu, die Sippe und Gefolgschaft als tragende Sozialstruktur restituiert und die Angliederung weiterer Bündnispartner ermöglicht.57 Kudruns Freundschaften sind eine unverzichtbare Bedingung der Möglichkeit der Wiederherstellung und des Ausbaus der Hegelingen‑Herrschaft nach dem drastischen Einschnitt der Entführung Kudruns. Angesichts der systemrelevanten Stellung der beiden Freundinnen in diesem Zusammenhang kann Kudrun mit guten Gründen in Form einer rhetorischen Frage behaupten: «möhte iht bezzers sîn / dan friuntlîchiu triuwe?» (KU 1585,2 f.)

2. Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs: Die Freundschaft Dietrichs zu Hildebrant in der aventiurehaften Dietrichepik am Beispiel von ‹Virginal›, ‹Rosengarten› und ‹Sigenot› Wenngleich die Erforschung zur Dietrichepik, insbesondere zu den Texten der aventiurehaften Dietrichepik, im letzten Jahrzehnt einigen Aufschwung erfahren hat, man ihre narrativen Inkohärenzen nicht mehr pauschal negativ einschätzt und ihre spezifische Artifizialität ernst nimmt,58 so scheint mir die Analyse der zentralen Figurenbeziehung dieser Texte, nämlich derjenigen Dietrichs zu Hildebrant, nicht recht vorangekommen zu sein. Selbst Untersuchungen, welche die Hildebrant‑Dietrich‑Beziehung in den Mittelpunkt des Frageinteresses rücken, wiederholen im Wesentlichen die nachgerade zum Forschungskonsens geronnene Vorstellung von einem Lehrer‑Schüler‑Verhältnis. Behauptet wird damit eine auf der Erziehung Hildebrants basierende, mehr oder weniger erfolgreiche Entwicklung Dietrichs vom Kampfnovizen zum ‹vollwertigen› Helden. In der Tat legen die (aventiurehaften) Dietrichepen diese Lesart auf den ersten Blick nahe, wird Hildebrant doch als weiser, kampferprobter meister des stets jungen, kampfunerfahrenen Dietrich bezeichnet, die Übergabe der Erziehungsarbeit von Dietrichs Vater Dietmar an dessen Sterbebett an Hildebrant sowie die ‹Ausbildung› Dietrichs (in Kampfkunst, aber auch Rhetorik, Schach etc.) durch Hildebrant mehrfach in Erinnerung gerufen. Auf den zweiten Blick muss allerdings das textinterne Labeling als meister, dem die bisherigen Interpretationen aufzuruhen scheinen, irritieren, denn es bringt zwar Hildebrants umfängliche Ratgeberfunktion auf den Begriff. Was das Etikett des Waffenmeisters allerdings eher bemäntelt und wozu sich die bisherigen Interpretationen 57

Vgl. zum Stellenwert von Verwandtschaft in der ‹Kudrun› Lange 2009, S. 100 f. Ähnlich argumentieren auch Schmitt 2002, S. 237–257, und Kaiser 1981, S. 212. 58 Das kann man an den vermehrten monographischen Bemühungen zur historischen wie aventiurehaften Dietrichepik ablesen. Ich verweise summarisch lediglich auf: Kropik 2008; Grimm 2009; Malcher 2009; Lienert 2010; Mhamood 2012; Kragl 2013; Harms 2013. Innerhalb der aventiurehaften Dietrichepen werden dem ‹Eckenlied› nach wie vor die meisten Forschungsbemühungen zuteil, auch wenn sich das nicht mit der Fülle an Arbeiten zum ‹Nibelungenlied›, dem ‹Willehalm› oder selbst noch zum ‹Rolandslied› vergleichen lässt. Die Forschung zu den hier interessierenden Texten – ‹Rosengarten›, ‹Virginal› und ‹Sigenot› – nimmt sich gemessen an der ‹Eckenlied›‑Forschung noch recht spärlich aus.

186



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

der Dietrich‑Hildebrant‑Beziehung folgerichtig wenn nicht ausschweigen, so doch wenig befriedigende Antworten anbieten, ist die extreme Konfliktanfälligkeit und Spannung zwischen den beiden Figuren. In jedem Text tragen Dietrich und Hildebrant heftige verbale Auseinandersetzungen zum Thema Kampf und damit zusammenhängend zu den Bereichen Frauendienst und Landesherrschaft aus –  beidseitige argwöhnische Unterstellungen, derbe Beleidigungen und bisweilen Handgreiflichkeiten inklusive. Diese Spezifik, die ein einfaches Erziehungsmodell unterläuft, wird besonders deutlich im Vergleich zur bereits betrachteten Beziehung David‑Karl in ‹Karl  und  Galie›. David kommt ebenfalls eine Ratgeberfunktion zu und ihm wird in ähnlicher Weise die Verantwortung für Karls Erziehung am Sterbebett von Karls Vater Pippin übertragen. Davids Freundschaft zu Karl entbehrt jedoch jeglicher Streitereien und des eruptiven Charakters der Hildebrant‑Dietrich‑Relation. Das in der Forschung perpetuierte Lehrer‑Schüler‑Modell zur Beschreibung der Beziehung Hildbrants zu Dietrich hat meiner Ansicht nach noch zwei weitere Schwächen: Zum einen vermag es die gegenüber der restlichen Gefolgschaft Dietrichs herausgehobene Rolle Wolfharts für das Verhältnis von Dietrich und Hildebrant nicht zu erklären. Bisherige Interpretationen legen Wolfhart auf die Rolle des draufgängerischen, großmäuligen Haudegens und der Witzfigur, an der sich der Spott entlädt, fest.59 Aber Wolfharts Handeln ist überaus widersprüchlich und sperrt sich damit klaren Kategorisierungen – mal drängt es ihn zum Kampf, mal schreckt er überängstlich davor zurück; mal überzeugt er wie im ‹Rosengarten› durch diplomatisches Geschick im Umgang mit den Wormser Boten, mal will er in eben jenem Text Kriemhild schlagen und provoziert damit fast einen Eklat. Vor allem aber ist Wolfharts Handeln auf die Beziehung Dietrich‑Hildebrant hin zugeordnet und dieser assoziiert. Dieses besondere Gefüge wurde bislang in der Forschung noch gar nicht befragt. Zum anderen stößt das Lehrer‑Schüler‑Modell mit Hildebrant in der Rolle dessen, der den zaudernden Dietrich zum Kampf treibt, beim ‹Sigenot› an seine Grenzen. Dietrich zieht es in diesem Text zwar zum Kampf und Hildebrant rät mehrfach ab, gegen den titelgebenden Riesen anzutreten, eine schlichte Inversion des Lehrer‑Schüler‑Modells liegt allerdings nicht vor, denn Dietrich tut gemessen an den anderen Texten der Dietrichepik zwar das sonst von Hildebrant von ihm Geforderte, also das eigentlich ‹Richtige› und kämpft, von ungetrübtem Erfolg ist dies allerdings keineswegs gekrönt. Hildebrant bleibt zwar ein Ratgebender, aber sein Rat ist kaum umsetzbar, weil Nicht‑Kämpfen, wodurch der Riese weiter sein Unwesen in Dietrichs Land treiben könnte, im Grunde keine Option ist. Ich möchte in Abgrenzung zum bisher von der Forschung favorisierten Lehrer‑ Schüler‑Modell eine Freundschaftsbeziehung zwischen Dietrich und Hildebrant unterstellen.60 Zu fragen wäre dabei einerseits, inwieweit es statthaft ist, die beiden Figuren 59

Stellvertretend für das Rollendenken in der Forschung sei hier nur Mhamood 2012, S. 173, angeführt, die in ihrem Resümee «Dietrich als schwer zu motivierende[n] Zauderer, Wolfhard als übereifrige[n] Choleriker und Hildebrand als strenge[n] und listenreiche[n] Erzieher typisiert» sieht. Weitere Belege in Unterkapitel drei. 60 In den Texten wird für die Anrede der beiden Figuren meist her und meister genutzt. Lediglich im Bericht Dietrichs gegenüber Ibelin auf Muter in der Heidelberger ‹Virginal› bezeichnet Dietrich Hildebrant als «min frunt» (V10 414,7; fehlt in V12 und V11). Dass Anlage und Bezeichnungspraxis für die Beziehung auseinandergehen, dürfte aber nach den bisher untersuchten Texten nicht irritieren. Hildebrant wird in der Forschung gelegentlich als Freund Dietrichs bezeichnet, ohne dies jedoch genauer zu erläutern. Breyer 2000, S. 72, bezeichnet ihn als «väterliche[n] Freund», Heinzle 1999, S. 12, als «liebste[n] der Helden Dietrichs». Goller 2009, S. 501, deutet die Szenen, in denen sich Dietrich und Hildebrant

187

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

als Freunde zu bezeichnen, und andererseits nach der heuristischen Erklärungskraft der Freundschaftsannahme, also was gegenüber anderen Bestimmungen damit interpretativ gewonnen wäre. Ich meine, es ließen sich durch die Freundschaftsthese sowohl die affektiven Nähebekundungen zwischen Dietrich und Hildebrant wie auch ihre widersprüchlichen Positionierungen zu den Zentralthemen Kampf, Frauendienst, Ehre und Herrschaft und die konfliktgeladene Anlage ihrer Beziehung sinnvoll lesen. Die Annahme einer Freundschaft zwischen Dietrich und Hildebrant vermag zudem die Figur Wolfharts zu integrieren und seine Funktion umfassend zu bestimmen, die bislang losgelöst betrachtet wurde, insofern sich das angenommene Lehrer‑Schüler‑Verhältnis nicht gleichermaßen auf Wolfhart erstreckt. Angesichts der Fülle an Dietrichepen muss eine repräsentative Textauswahl getroffen werden. Ich werde mich daher auf den aventiurehaften Zweig der Dietrichepen und im Besonderen auf die ‹Virginal›, den ‹Rosengarten› und den ‹Sigenot› beschränken.61 Die historischen Dietrichepen, also ‹Dietrichs Flucht›, ‹Rabenschlacht› und ‹Alpharts Tod›,62 bieten zwar auch genügend Material, um die Freundschaftsbeziehung zwischen Dietrich und Hildebrant zu untersuchen, allerdings ist diese hier weniger facettenreich und spannungsgeladen. Das hängt ganz wesentlich mit dem anderen Zuschnitt der Herrschaftskrise Dietrichs zusammen: Während die Bedrohung bzw. Herausforderung in den aventiurehaften Dietrichepen stets von außen hereinbricht (Riesen, Heiden, Zwerge), kommt sie in den historischen Dietrichepen mit Ermenrich, dem Onkel Dietrichs und Usurpator Berns, aus dem unmittelbaren Nahraum der eigenen Verwandtschaft. Modelliert wird dort sozusagen eine Krise von Herrschaft (des einen) durch Herrschaft (des anderen). Während Bern in den aventiurehaften Epen nie akut bedroht ist oder gar in Feindeshand fällt und Dietrich auch nie Gefolgsleute oder Unterstützer in der Schlacht verliert, ist Bern in den historischen Epen stets unmittelbar umkämpft und Dietrich muss herbe Verluste einstecken. Man könnte den Vergleich fortführen, aber es ist auch so ein Nexus erkennbar: In der historischen Dietrichepik führt die akute, äußere Bedrohung dazu, dass der Zusammenhalt im internen Nahraum Dietrichs ostentativ ausgestellt wird, um die Geschlossenheit des Berner Verbandes zu demonstrieren. Wenn mit Ermenrich, wie in ‹Dietrichs Flucht› expliziert, die untriuwe in die Welt gekommen ist (DF v. 3513–3515),63 dann muss im gegnerischen Lager, also in Dietrichs Verband, die triuwe beheimatet sein. Diesem Muster ist dann auch die Dietrich-Hildebrant-Beziehung untergeordnet: Dietrich agiert als extrem vorbildlicher Kämpfer und Gefolgsherr, der sich dem Kampf nicht entzieht, seinen Ratgebern und damit insbesondere Hildebrant folgt und wie in ‹Dietrichs  Flucht› sogar sein Reich opfert, um seine Männer zu befreien. Hildebrants «alles andere als standes- und ranggemäß wechselseitig auf die Schippe nehmen» als Indiz für eine «freundschaftliche[] Beziehung», geht dieser Hypothese aber nicht weiter nach, sondern bleibt im Rahmen der üblichen Analysen von Dietrich und Hildebrant als Herrscher und Ratgeber sowie als Schüler und Lehrer. Er bestimmt Hildebrant zuletzt als Ersatzvater für Dietrich (S. 505). 61 Die Gruppe der aventiurehaften Dietrichepen ist durchaus nicht homogen: Es fallen, da ich auf die Beziehung von Dietrich und Hildebrant fokussieren möchte, diejenigen Texte heraus, in denen Hildebrant nur randständig agiert, also das ‹Eckenlied›, ‹Goldemar› und der ‹Wunderer›. Von den übrigen Dietrichepen habe ich mich für die ‹Virginal›, den ‹Sigenot› und den ‹Rosengarten› und damit gegen den ‹Laurin› entschieden, weil sie das umfang- und facettenreichere Material bieten (mehrere Streitgespräche bis hin zu Handgreiflichkeiten, interne Fokalisierungen, stärkere Präsenz Wolfharts). 62 Die Verortung von ‹Dietrich und Wenezlan› ist schwierig. Lienert 2015a, S. 114, sieht ihn zwischen der aventiurehaften und der historischen Dietrichepik stehen. So auch Heinzle 1999, S. 96. 63 ‹Dietrichs Flucht› wird zitiert nach der Ausgabe Lienert/​Beck 2003.

188



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

geradezu stereotype Funktion besteht darin, Dietrich –  insbesondere wenn er durch seine Trauer tatenlos geworden ist  – Mut zuzusprechen und als uneingeschränkter Unterstützer aufzutreten. Offenen Streit und schroffe Zurückweisung der Ratschläge sucht man vergebens. Diese Glättung, die insgesamt zu einer Harmonisierung der Dietrich‑Hildebrant‑Beziehung führt, erfasst auch die Wolfhart‑Figur, deren positiv besetzter, unbändiger Kampfeswille von der Sorge um den eigenen Nachruhm befeuert wird.64 Die Absenz massiver Bedrohung der Existenz Dietrichs und Berns in den aventiurehaften Dietrichepen führt umgekehrt dazu, dass sich Gestaltungsspielräume eröffnen, das zu beleuchten, was ich nachher als Felder der Gewalt bzw. der Gewaltsublimierung beschreiben möchte. Gerade diese Möglichkeit des Aushandelns resultiert dann in einer konfliktreicheren Beziehung Dietrich‑Hildebrant. Man könnte dies auch in Beziehung dazu setzen, dass Frauenfiguren in der aventiurehaften Dietrichepik eine größere Rolle spielen. Wollte man das zuspitzen, so ließe sich in der Art der Freundschaftsdarstellung ein weiteres, ergänzendes Differenzierzungskriterium zur Abgrenzung der beiden Subgattungen der Dietrichepik (neben Überlieferungsverbünden und neueren raumsemantischen Überlegungen) ausmachen. Hinsichtlich der Freundschaftsgestaltung scheint die aventiurehafte Dietrichepik insofern das interessantere Untersuchungsobjekt abzugeben, gerade weil das spannungsgeladene Moment die konstituierenden Punkte der Dietrich-Hildebrant-Beziehung sehr viel deutlicher hervortreten lässt als ihr ‹geglättetes› Pendant in der historischen Dietrichepik. Ganz davon abgesehen, bedeutet ein Ausagieren der Beziehung im Freundschaftsmodus in den aventiurehaften Dietrichepen nicht, dass dies auch in den historischen Dietrichepen so sei, insofern die Prämisse textgruppenübergreifender Figurenidentität keineswegs zwingend ist. Die aventiurehaften Dietrichepen bieten sich zumal deshalb an, weil sich dort auch im Vergleich zum Textensemble der Gesamtarbeit deutlich eigene Akzentsetzungen und Facetten der Freundschaftsdarstellung herausarbeiten lassen. Unter dem Blickwinkel des zweiten großen Fragekomplexes dieser Arbeit, nämlich des Zusammenhangs von Freundschaft und Herrschaft, scheinen die bunt‑schillernden Aventiure‑Anhäufungen in der aventiuehaften Dietrichepik zunächst wenig geeignet. Allerdings entpuppt sich die Herrschaftsthematik in den aventiurehaften Dietrichepen als deren konstitutiver und im Gegensatz zur historischen Dietrichepik positiver Rahmen: Nicht nur kann der Dietrich der aventiurehaften Dietrichepik seine Herrschaft stets erfolgreich gegen äußere Feinde verteidigen, sondern auch Gebiete bzw. strategisch wichtige Bündnisse hinzuerobern. Er kann so seine Herrschaft ausbauen, während er in der historischen Dietrichepik in ein zirkuläres, unabschließbares Kriegshandeln eingebunden ist, in welchem der ‹arme› Dietrich sein Reich nie vollends gewinnen kann.65 64

Vgl. zur stereotypen Darstellung Dietrichs, Hildebrants und Wolfharts in der historischen Dietrichepik Lienert 2015a, S. 104 und 106 f. Die Kohäsion der Beziehung zwischen Dietrich, Hildebrant und Wolfhart kann in den historischen Dietrichepen sogar soweit gehen, dass sich die drei in ‹Alpharts Tod› einig sind, dass Alphart nicht in den Kampf ziehen dürfe – das ist von der Warte aventiurehafter Dietrichepik aus ein einmaliger Vorgang. 65 Zu Dietrichs Herrschaft in der historischen Dietrichepik vgl. Lienert 2015a, S. 105 f. Sich an dieser Stelle ganz auf die aventiurehafte Dietrichepik zu beschränken und aventiurehafte und historische Dietrichepik nicht gemeinsam zu behandeln, scheint auch mit Blick auf die Überlieferungslage, wonach die Texte beider Subgattungen nie zusammen überliefert sind, geboten, sofern man damit eine bestimmte Rezeptionshaltung unterstellen will.

189

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Wiederum aus Gründen der Repräsentativität kann es nicht Ziel sein, den hier aufgeworfenen Fragen in allen Versionen oder gar Fassungen der Texte nachzugehen, sodass ich mich für die Textarbeit vorrangig auf die ‹Virginal› der Heidelberger Version V10,66 den ‹Rosengarten›  A in der älteren Vulgatfassung67 und den ‹Jüngeren  Sigenot› in der Handschriftenfassung68 stützen werde. Damit ist keine Wertung hinsichtlich der Vorrangstellung der einen oder anderen Version verbunden, deren Abhängigkeiten untereinander ohnehin nicht zweifelsfrei zu klären sind. Bei signifikanten Abweichungen werde ich mich regelmäßig auch auf die anderen Versionen dieser Texte beziehen, hiermit ist aber keine zeitgenössische Rezeption impliziert, die etwa alle Versionen überblickt hätte. Mir geht es allein darum, das Spektrum der Gestaltungsoptionen der Dietrich‑Hildebrant‑Freundschaft möglichst breit abzubilden, dessen sich die Texte, Versionen und Fassungen je spezifisch bedienen. Daher strebe ich auch keine geschlossene einzeltext- oder gar versionenspezifische Interpretation an.69 66

Die ‹Virginal› ist in drei Versionen verschiedener Länge, unterschiedlichem Episodenbestand und divergierendem Schluss überliefert: Die Heidelberger  ‹Virginal› V10 (bzw. h) mit 1097 Strophen endet mit der drohenden Belagerung Berns, die Wiener Version V12 (bzw. w) mit 861 Strophen und die Dresdner Kurzversion V11 (bzw. d) mit 130 Strophen schließen mit der Hochzeit Dietrichs mit Virginal. Entstanden ist die ‹Virginal› wohl noch im 13. Jahrhundert, wobei eine genauere Datierung spekulativ bleiben muss und dementsprechend schwankend in der Forschung (erste oder zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts) ist. Vgl. grundlegend die Angaben in der Ausgabe Lienert/​Pontini/​Schumacher 2017, S. 3–28, nach denen die Texte in den dort verwendeten Siglen auch zitiert werden. Bei der Zitation der Wiener Version V12 ist zu beachten, dass die Strophenzählung bei Lienert/​Pontini/​Schumacher 2017 nach Strophe  50 gegenüber der älteren Ausgabe von Stark 1860 aufgrund von Blattverlust divergiert. Während Stark 1860 die mutmaßlich verlorenen fünf Strophen in seine Zählung einbezieht, nummerieren Lienert/​Pontini/​Schumacher 2017 nur die vorhandenen Strophen durch, geben aber die ältere Strophenzählung in Klammern mit an. 67 Der ‹Rosengarten› ist spätestens Anfang des 14. Jahrhunderts, ggf. aber auch schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden. Vgl. zu Datierung und Überlieferungszeugen Lienert 2015a, S. 134, und Lienert/​Kerth/​Nierentz 2015, S. XIII. Die Textzeugen gruppieren sich zu vier Versionen mit dazugehörigen Fassungen: Version  A mit drei Fassungen (Ältere und Jüngere Vulgatfassung, Dresdner ‹Rosengarten›); Version D mit zwei Fassungen (Vulgatfassung D und Kurzfassung P); eine aus A und D schöpfende Mischversion C und die nur in Bruchstücken überlieferte Version F. Daneben findet sich noch der unikal überlieferte Niederdeutsche ‹Rosengarten›. Zu den Divergenzen im Episodenbestand, formalen Gegebenheiten (strophisch oder stichisch), Versbestand und Wortlaut vgl. die Edition von Lienert/​Kerth/​Nierentz 2015, S. LX–LXVII. Die Zitation des Textes folgt dieser Ausgabe und den dort verwendeten Siglen. Die strophischen Versionen A und C werden der Ausgabe folgend ohne Leerzeile zur Markierung der Strophengrenzen zitiert. Vgl. zur Begründung dieser editorischen Entscheidung Lienert/​Kerth/​Nierentz 2015, S. LXXf. 68 Der ‹Ältere  Sigenot› ist unikal überliefert und umfasst 44 Strophen im Bernerton. Ob er eine Vorstufe des ‹Jüngeren Sigenot› oder dessen nachträgliche Kürzung ist, muss offen bleiben. Der um das Fünffache längere ‹Jüngere  Sigenot› dürfte spätestens um 1300 entstanden und nach Auskunft der Überlieferung mit sieben Handschriften vom frühen 14. bis ins späte 15. Jahrhundert sowie mit 22 Druckauflagen (um 1487–1661) ein «echter Renner beim zeitgenössischen Publikum» gewesen sein, während er «[d]en mit Abstand schlechtesten Ruf im Reigen der Texte aventiurehafter Dietrichepik in der Altgermanistik [genießt]» (Malcher 2009, S. 270). Beispielhaft für solche negativen Einschätzungen sei auf Heinzle 1999, S. 134, und Kragl 2012, S. 528, verwiesen. Entsprechend rar nimmt sich die Forschung zum ‹Sigenot› aus. Die Zitation des ‹Älteren› und ‹Jüngeren Sigenot› erfolgt mit den Siglen ÄS und JS nach der Ausgabe Lienert/​Pontini/​Baumgarten 2020. Die Strophenzählung des ‹Jüngeren Sigenot› divergiert in der Neuausgabe aufgrund der Aufnahme von Zusatzstrophen gegenüber der Edition von Schoener 1928, dessen Zählung allerdings in Klammern mit vermerkt ist. 69 Deswegen kann eine Inhaltsparaphrase der Texte an dieser Stelle unterbleiben, die mehrere Seiten füllen würde, wenn man alle versionenspezifischen Unterschiede aufführen wollte. Ich verweise hierfür auf entsprechende Zusammenfassungen in den Editionen. Vgl. Lienert/​Pontini/​Schumacher 2017, S. 23–26, und Lienert/​ Kerth/​Nierentz 2015, S. LX–LXVII. Auch kann und soll es nicht darum gehen, Datierungsprobleme breit zu verhandeln. Die meisten späten Heldenepen werden – allerdings oft ohne konkrete Indizien – ins 13. Jahrhundert datiert. Das ist angesichts der verhandelten Themen plausibel, aber nicht zwingend, wie Lienert

190



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

In einem ersten Schritt werde ich wie in den bisherigen Einzelinterpretationen die Beziehung Dietrich‑Hildebrant als Freundschaft im Sinne von Webers Definition einer geschlossenen sozialen Beziehung bzw. Vergemeinschaftung erweisen und die sich daraus ableitenden Machttypen der beiden Freunde über ein close reading in einem zweiten Schritt zusammenstellen. Da es sich den äußeren Parametern nach um eine asymmetrische Freundschaft handelt, sind insbesondere die Machtpotenziale Hildebrants über Dietrich zu befragen. Im Anschluss daran möchte ich mich der konstitutiven Spezifik der Hildebrant‑Dietrich‑Beziehung, ihren permanenten Auseinandersetzungen, näher zuwenden. Dafür werde ich in einem dritten Schritt eine Lesart vorschlagen, bei der ich davon ausgehe, dass beide Figuren als ein einander ergänzendes Set entworfen sind, wobei diese Komplementarität Dietrich und Hildebrant zu einer ‹Ein‑heit› trotz ihrer widersprüchlichen Positionierungen hinsichtlich Kampf, Frauendienst etc. zusammenschließt. Während bei Dietrich und Hildebrant die eine nicht ohne die andere Figur – weder auf der Ebene einzelner Szenen noch auf der des Gesamttextes – funktioniert, ist Wolfharts Hinzutreten zu dieser Freundschaft optional, aber doch so häufig, dass sich in einem vierten Schritt Regelmäßigkeiten hinsichtlich ihrer positionellen und funktionalen Einbindung für die Dietrich‑Hildebrant‑Freundschaft wie für das Textganze deduzieren lassen. Wenngleich mein Interpretationsansatz auch für sich allein stehen kann, möchte ich in Abschnitt drei und vier dennoch punktuell auf Begrifflichkeiten aus Pierre Bourdieus Habitus- und Feldtheorie zurückgreifen, um zum einen für meine Lesart wesentliche Aspekte wie die wechselnden Positionen in den Konflikten zwischen Dietrich und Hildebrant deutlicher zu konturieren. Zum anderen ermöglicht der Rückgriff auf Bourdieu zu erklären, wie sich Dietrich in seiner Herrschaftskonstitution, der ich mich abschließend widmen werde, sozusagen blind auf Hildebrant verlassen und ihm seine Macht übertragen kann, obwohl er eben jenem Hildebrant ununterbrochen vorwirft, er wolle ihn durch seine Kampftreiberei töten und um sein Erbe bringen. Das soll zugleich die Frage erhellen, warum umgekehrt Hildebrant trotz dieser Vorwürfe immer wieder sein Leben für Dietrich einsetzt, um dessen Herrschaft gegen äußere Bedrohungen zu verteidigen und auszubauen.

2.1. Warum Dietrich und Hildebrant Freunde (zu nennen) sind: Zum integrierenden Vermögen des Freundschaftskonzepts Dass es sich bei der Beziehung von Dietrich und Hildebrant um kein beliebiges Gefolgschaftsverhältnis handelt, dürfte in der obigen Problemskizze bereits klar geworden sein. Wenn man so will, hat man mit Dietrich und Hildebrant die dauerhafteste und stabilste Freundschaft zumindest der mittelhochdeutschen Heldenepik vor sich, insofern sie über mehrere Einzeltexte hinweg ähnlich konfiguriert ist,70 in jedem Falle aber Dietrich und Hildebrant als Paar entworfen werden: In all jenen Texten der aventiurehaften Dietrichepik, 2015a, S. 23, vermerkt. Sie datiert den ‹Sigenot› und die ‹Virginal› auf spätestens um 1300, wobei letztere ggf. schon im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts entstanden sein könnte. Der ‹Rosengarten› könnte womöglich auch schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden sein, spätestens aber zu Beginn des 14. Jahrhunderts. Vgl. Lienert 2015a, S. 125, 127, 134. Sicherheit ist, das kann man den divergierenden Datierungsvorschlägen in der Forschung ablesen, in dieser Frage nicht zu gewinnen. So auch Heinzle 1999, S. 33 f. 70 Breyer 2000, S. 66, spricht gar davon, dass sie «zu den stabilsten Konstellationen [gehört], die wir in der mittelalterlichen Dichtung kennen.»

191

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

in denen der Bezug auf Hildebrant nicht nur punktuell bleibt,71 ist Hildebrant dauerpräsent an Dietrichs Seite.72 Der Befund, dass Hildebrant als permanente Begleitfigur Dietrich zur Seite gestellt ist, trifft analog auch auf die historische Dietrichepik zu. Und selbst für den Umkreis der Dietrichepik gilt beispielsweise im ‹Nibelungenlied› oder etwa im ‹Biterolf und Dietleib›: Wo Dietrich ist, da muss auch Hildebrant sein. Dietrich und Hildebrant werden auf verschiedenen Ebenen einander exklusiv zugeordnet und ihre Beziehung nach außen abgeschlossen. Mehrfach wird in den Texten vergegenwärtigt, dass Dietrichs Vater, Dietmar, Hildebrant Dietrich anvertraut und jener diesen erzogen hat.73 Dazu nur ein Beispiel: Kurz bevor bei Virginal Dietrichs Fehlen bemerkt wird, rekapituliert Hildebrant, in welch breitem Spektrum er Dietrich ausgebildet habe: «Ich lerte in sprechen reine wort, gantzer tugende vollen hart. Ich lies in nie gehirmen. Ich lerte in eren priesters leben, lop den reinen frowen geben, schachzabel ziehen, schirmen. Ich lerte in eren riterschafft, wie er die behielte menlich in rehter noeten kraft, alde man schatzes wielte.»  (V10 361,1–10; auch V12 542,1–10; fehlt in V11)

Gemeinsam bestrittene Kämpfe werden sowohl performativ wie diskursiv als Basis der Beziehung insinuiert. Wenn Dietrich Hilfe im Kampf etwa gegen die Heiden (V10 107–109; auch V12 223–225; ähnlich V11 38) oder Drachen (V10 143 f.; auch V12 261 f.; Verweis auf Hildebrant fehlt in V11 48) im ersten Teil der ‹Virginal› braucht, dann tritt Hildebrant an seine Seite. Wenn Hildebrant umgekehrt im selben Text Hilfe gegen die Drachen im zweiten Teil braucht, ist Dietrich zur Stelle (V10 912–914 und 918; auch V12 755–757; fehlt in V11).74 71

Da vom ‹Goldemar› nur wenig mehr als neun Strophen im Bernerton erhalten ist, muss offen bleiben, ob Hildebrant in diesem Text eine Rolle spielt. Das ‹Eckenlied› und der ‹Wunderer› beziehen sich nur punktuell auf die Beziehung zu Hildebrant, scheinen aber eine Freundschaft oder zumindest eine enge Vertrautheit vorauszusetzen. Das kann man im ‹Eckenlied› an einer internen Fokalisierung Dietrichs, in der er während eines Kampfes an Hildebrant denkt, ablesen (E7 264; fehlt in E2 und e1) wie am Wiedersehen Dietrichs mit Hildebrant auf dem Rückweg nach Bern (E7 303; fehlt in E2, in der Textverlust zu verzeichnen ist; zugespitzt in e1 273). Im ‹Wunderer› steuert der abwesende Hildebrant Dietrichs Verhalten und Gedanken (WUD 122 f.; auch WUS  122 f.), seine Kampfunterweisungen werden erinnert (WUS  172) und zum Schluss werden sie als Erzählgemeinschaft anzitiert (WUD 214; auch WUS 214). Die Angaben zum ‹Eckenlied› beziehen sich auf die Ausgabe von Brévart 1999, diejenigen zum ‹Wunderer› auf die Ausgabe von Kragl 2015. 72 Wie unentbehrlich Hildebrant für Dietrich ist, zeigt sich gerade an jenen Episoden, in denen Hildebrant absent und Dietrichs Handeln nicht erfolgreich ist: So landet Dietrich, der sich in der Heidelberger und Wiener ‹Virginal› verirrt, als er allein Richtung Jeraspunt vorausreitet, in Gefangenschaft bei den Riesen auf Burg Muter; so erleidet Dietrich gegen Sigenot im ‹Jüngeren Sigenot› einen herben Verlust und muss um sein Leben fürchten, weil er nicht auf Hildebrants Rat gehört hat bzw. weil er allein ausgezogen ist. 73 Vgl. V   10,2–4 (fehlt in  V 10 11 und V12); V10  70,4 (auch V12  179,4; ähnlich V11  29,12); V10  184,2–5 (auch V12 302,2–5; Hinweis auf Erziehung fehlt in der Parallelstelle in V11 60,5 f.); V10 362,12 (auch V12 543,12; fehlt in  V11) sowie zusätzlich in V12  43,4–8 (fehlt in V10 und  V11). Die Überantwortung der Erziehung Dietrichs kennen auch ‹Biterolf und Dietleib› (BD 7988–7998), ‹Wunderer› (WUS 172) und ‹Laurin› (L11 5 f.). ‹Dietrichs Flucht› (DF v. 2530–2545) und Wiener ‹Virginal› (V12 35,3) schließen in diese Übergabe noch Dietrichs Bruder Diether ein. Die Angaben zum ‹Biterolf und Dietleib› beziehen sich auf die Ausgabe von Jänicke 1866. 74 Obwohl in dieser Szene auch andere Figuren hätten Hilfe leisten können, sucht Hildebrant dezidiert die Hilfe Dietrichs: Her Hiltebrant luget umbe sich, / obe er sehe hern Dietrich / irgen noch ime riten. (V10 912,1–3; auch

192



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

Die kämpferische Gemeinschaftsleistung wird schließlich im ‹Jüngeren  Sigenot› dergestalt symbolisch verdichtet, dass der Sieg über Sigenot nur über den gemeinsamen, allerdings phasenversetzten Kampf errungen werden kann.75 Hildebrant kann den Riesen in einem Folgekampf nur töten, weil er in die bereits von Dietrich im ersten Kampf geschlagenen Wunden (JS 79,13; 83,3; 99,4; 103,2–4; 112,1–3) tief hineinsticht (JS 181–183; in der Kampfschilderung im ÄS  23–25 fehlt ein entsprechender Hinweis).76 Noch dazu kämpft er in Dietrichs Rüstung und mit dessen Helm, Schwert und Schild (JS 165,11–13; 167,10 f.; im ÄS nutzt Hildebrant Dietrichs Schwert 21,12–22,10).77 Gemeinsame Kampfaktivitäten werden darüber hinaus an unzähligen Stellen in Gesprächen oder Berichten rekapituliert.78 Die Omnipräsenz des Freundes, wie sie für das Textganze (s. o.) gilt, wiederholt sich auf der Ebene von Figuren- und Erzählerkommentaren, an denen die Zusammengehörigkeit Dietrichs und Hildebrants als Grundgegebenheit der epischen Welt ablesbar ist, insofern die beiden in der stark überwiegenden Mehrheit als Paar adressiert werden. Dafür sei hier nur ein Beispiel aus der Fülle des Materials angeführt.79 Beim Ausritt der beiden aus Bern in der ‹Virginal› zeichnet der Erzähler das Bild einer lange andauernden, unverbrüchlichen Beziehung: Es reit us Berne, also man es seit, durch sines libes tegenheit her Dietherich von Berne, mit ime sin meister Hiltebrant, der sich noch nie von ime gewant. V12  755,1–3; fehlt in  V11) Öfter wird die Freude über den nunmehr mitkämpfenden Freund hervorgehoben (V10 107,13 und 913,9; auch V12 223,13 und 756,9; V11 38,11). 75 Vgl. Malcher 2009, S. 284 f. 76 Dietrich konnte auch die mit Drachenblut gehärtete Rüstung Sigenots aufweichen (JS 69,1–70,4; 79,10) und so Hildebrants Sieg den Weg ebnen. 77 Malcher 2009, S. 284, spricht daher von «Einswerdung [des] Kollektivkörpers»: «Die Waffen Dietrichs an der Figur Hildebrands stellen diesen als eine dingliche und visuell wahrnehmbare Einheit her.» 78 Für die ‹Virginal› sei auf folgende Stellen verwiesen: V  263 f. (fehlt in V ; ähnlich V  76); V  1016 (fehlt 10 12 11 10 in V12 und V11) und V10 413 f.; 417; 420 (fehlt in V11 und V12). Im ‹Jüngeren Sigenot› stellt Hildebrant – zumindest in den Handschriften S2, S5 und S6 – im Kampf gegen Signot heraus, er und Dietrich haben schon gegen mehrere Riesen gemeinsam gekämpft (JS  153,11; fehlt im  ÄS). Dietrich und Hildebrant unterhalten sich zu Beginn des Textes in Bern sitzend über ihre Taten im Allgemeinen und die Bezwingung der Riesen Hilte und Grin im Besonderen. Darüber wird in Erinnerung gerufen, dass Hildebrant ohne Dietrichs Hilfe durch Hilte umgekommen wäre (JS  2; im ÄS  8 rettet hingegen Hildebrant Dietrich). Die Exponierung der Gemeinschaftsleistung der beiden Helden geht so weit, dass der gemeinsame Kampf auf der Ebene einer gemeinsam bestrittenen Erzählung wiederholt wird, Kampfgemeinschaft also auch Erzählgemeinschaft impliziert: Dietrich komplettiert die von Hildebrant begonnene Schilderung (JS 2 f.; fehlt im ÄS). Die Liste solcher Darstellungen und Verweise auf gemeinsames Kämpfen von Dietrich und Hildebrant ließe sich problemlos vermehren. 79 Weitere Belege im ‹Rosengarten› wären etwa RG  D  v. 18–20 und 69–71. Suggeriert werden hier gleichzeitig ein gemeinsamer Wille und unzertrennliches Agieren. In der ‹Virginal› lassen sich noch V10 179,11–13; 183; 193,9–11 (auch V12 279,11–13; 301; 311,9–11; vergleichbar höchstens V11 61,4 und 61,12 f.); V10 183,2–9 (auch V12 301,2–9; fehlt in V11) und V10 234,3–13 (fehlt in V12 und V11) anführen. Anders als bei der ‹Virginal› werde ich bei den Belegen zum ‹Rosengarten› nicht auf die anderen Versionen verweisen, weil das zum einen angesichts der vier Versionen und zugehörigen Fassungen (drei Fassungen für A, zwei bei D) den Rahmen sprengen würde und es zum anderen angesichts der hohen Varianz in Versbestand und Wortlaut sowohl im Verhältnis der Versionen untereinander wie der Fassungen innerhalb einer Version kaum möglich ist. Ich folge damit der Edition von Lienert/​Kerth/​Nierentz 2015, die keine Konkordanzen angibt.

193

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen Das mogent ir hóren gerne. Er pflag sin schon zů aller zite, er kunde ime wol geraten. Důrch in so vo ˙˙ cht er manigen strit, als ie die besten doten. An sime rate ime wol gelang. Durch in so slůg er manigen dot und vil der landes heren twang. (V10 14,1–13; auch V12 45,1–13; fehlt in V11)

An einer ganzen Reihe von Indizien kann man ablesen, dass sich Dietrich und Hildebrant neben der Fremdwahrnehmung durch andere Figuren wie den Erzähler auch in der Eigenwahrnehmung als einander zugehörig anerkennen. Überdeutlich wird dabei, dass ihre Beziehung die rein zweck- oder wertrationalen Motive einer vasallitischen triuwe‑Bindung durch affektuelle Momente einer personalen triuwe‑Bindung überformt. Dass Hildebrant Dietrichs Gefolgsmann ist, steht außer Frage, aber ihre Beziehung wird primär im Modus der Freundschaft ausagiert. Wie in den bereits untersuchten Texten zeigt sich das an der Anteilnahme am Leid des jeweils anderen bis hin zu Klagen über den tot geglaubten, verlorenen, verschwundenen oder gefangenen Freund, die jenen Totenklagen der bereits betrachteten Texte strukturanalog funktionieren. Die Trauergebärden mögen wiederum topisch sein, aber sie sind dennoch von hoher Signifikanz, weil die beiden Freunde ausschließlich wegen des jeweils anderen und wegen keiner anderen Figur sonst in emphatische Klage verfallen bzw. Trauer und Schmerz bekunden. Die Sorge um den Freund liegt insgesamt relativ einseitig auf Hildebrants Seite,80 allerdings ermangelt es den Dietrichepen verglichen mit den bisher untersuchten Heldenepen an einer exponierten Gelegenheit zur Trauer Dietrichs um Hildebrant, nämlich einer Totenklage. Dass die Option des Mitleidens von Dietrich gegenüber Hildebrant nicht systematisch ausgeschöpft wird, aber auch nicht völlig ausgeschlossen ist, zeigt die Klage Dietrichs um den vermeintlich toten Hildebrant im Vorfeld des Kampfes gegen Siegfried im ‹Rosengarten›.81 80

Vgl. im ‹Sigenot› die sehr persönlich getönte Klage Hildebrants um den tot geglaubten Dietrich (JS 134,10–13; fehlt im ÄS und JS 135,7–13; ähnlich ÄS 13,5–13; fehlt im JS) und bei der zunächst missglückten Rettungsaktion aus der Drachenhöhle (JS 189,3–10; auch ÄS 31,3–10). Kragl 2013, S. 232, sieht in dem übertriebenen Gestus von Dietrich (s. u.) und Hildebrant bei der Rettungsaktion hingegen eine «Ridikülisierung des Heroischen». Noch expressiver wird Hildebrants Klage in der ‹Virginal› modelliert, als man in Jeraspunt Dietrichs Verschwinden bemerkt und Hildebrant fürchtet, dass er von den Riesen auf Muter erschlagen wurde. Hildebrant erbleicht vor Schreck (V10 357,7 f.; auch V12 538,7 f.; fehlt in V11), er weint und mit ihm alle Frauen (V10 358,6–11; auch V12 539,6–11; fehlt in V11), er verflucht auch hier und sogar mehrfach seine Geburt (V10 357,11–13 und 361,11–13; auch V12  538,11–13 und 542,11–13; fehlt in  V11) und macht sich schwere Vorwürfe, dass er an Dietrichs Lage Schuld sei wegen der von ihm auferlegten «arbeit» (V10 362,4 sowie 362,2–8; auch V12 543,2–8; fehlt in V11). Hildebrant ist aber sogleich zur bedingungslosen Rettung Dietrichs bereit und will «dusent lant» (V10 363,4; auch V12 544,5; fehlt in V11) durchsuchen, auch wenn es ihn das Leben kosten sollte (V10 363,8 f.; auch V12 544,8–10; fehlt in V11). 81 Spektakulär wird im ‹Rosengarten› die Möglichkeit genutzt, Dietrich um seinen Freund trauern zu lassen, indem dort der Schmerz nicht etwa wie in den bisher untersuchten Texten in für einen Herrscher gefährliche Apathie mündet, sondern direkt in Kampfeszorn transformiert wird. Dietrich will nicht gegen Siegfried antreten, sodass Hildebrant nach längerer erfolgloser Diskussion und Handgreiflichkeiten auf die List verfällt, Dietrich über Wolfhart ausrichten zu lassen, er sei gestorben (RG A ÄF 393–395). Dietrich fragt verzweifelt «wu findt man in dem land yrgand sin [d. i. Hildebrant] glych?» (RG A ÄF 396,4) und beschuldigt Siegfried, er habe seinetwegen einen Mann verloren, «den ich bis ann mein ende nit verwinden kan.» (RG A ÄF 397,4)

194



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

Um die Nähe und Abhängigkeit der beiden Figuren voneinander zu illustrieren, greifen die Dietrichepen regelmäßig zu einem Mittel, das die bisher untersuchten Texte kaum zur Freundschaftsdarstellung genutzt haben: die interne Fokalisierung.82 Wollte man es als Gesetz der narrativen Darstellung formulieren, so ließe es sich näherungsweise wie folgt bestimmen: Interne Fokalisierung auf die Gedanken, Wahrnehmungen, Wünsche etc. des einen Freundes wird immer genau dann genutzt, wenn der jeweils andere Freund abwesend ist, wobei sich die Inhalte der internen Fokalisierungen ausschließlich um den abwesenden Freund zentrieren. Man kann das durchaus als Intimität der Gedankenwelt bezeichnen, insofern Dritte als Gegenstände der internen Fokalisierungen systematisch ausgeschlossen sind und durch ihre gleichgewichtige Verteilung auf Dietrich und Hildebrant ein Grad an Reziprozität des Denkens, Fühlens und Wünschens erreicht wird, die ihr Äquivalent in einer Minnebeziehung haben könnte. Die internen Fokalisierungen werden – mit einer einzigen Ausnahme –83 als Mittel positiver diskursiver Beziehungsdarstellung genutzt, die sich inhaltlich um deren Intensität und Reziprozität zentrieren. Dietrich bereut in den intern auf ihn fokalisierten Stellen, dass er nicht auf Hildebrants Rat gehört hat; er artikuliert seine Sorge um den abwesenden Freund, sein uneingeschränktes Vertrauen sowie bedingungslose Folgebereitschaft ihm gegenüber. Dabei imaginiert er Hildebrant bisweilen als Gesprächspartner.84 Sorge um und Lob des Freundes bestimmen auch eine ganze Reihe interner Fokalisierungen auf Hildebrant.85 Auch der Wunsch, der abwesende Freund möge beim eigenen Kampf dabei sein, wird in der überwiegenden Mehrheit mittels interner Fokalisierungen dargestellt. Damit wird deutlich, dass die oben skizzierten gemeinsamen Kämpfe als Basis der Beziehung in der Wahrnehmung der Figuren Hildebrant und Dietrich den anzustrebenden Idealfall dar-

Dietrichs Heldenzorn samt Feueratem entbrennt, sodass Siegfried binnen Kurzem in Kriemhilds Schoß flüchten muss, um nicht im Kampf zu fallen (RG  A  ÄF  399–401). Aber damit nicht genug: Nicht nur ist Dietrich nicht bereit, von Siegfried abzulassen, er will auch noch alle Anwesenden wegen Hildebrants Tod töten (RG  A  ÄF  403,4–404,2). Erst als Hildebrant sich Dietrich lebend zeigt, weicht sein Zorn schlagartig (RG A ÄF 405). 82 Vgl. Genette ³2010 [1972], S. 120–124. 83 Diese Ausnahme betrifft die interne Fokalisierung auf Dietrich in der ‹Virginal› während seines ersten Kampfes gegen vier Heiden, in welcher er Hildebrant Erbschleicherei und mangelnde Ausbildung vorwirft, um dann trotzig ohne ihn Burg und Land verteidigen zu wollen, weil er ihn ohnehin stets nur strafe (V10 74–76; auch V12 187 f.; V11 30 f.). In der Wiener Version ist die Szene jedoch nachträglich abgemildert, wenn Dietrich in der größten Kampfesnot ohne Groll an Hildebrant (V12 193,8; fehlt in V10 und V11) denkt. 84 Im ‹Jüngeren  Sigenot› wird während Dietrichs Kampf mit dem Riesen zwei Mal im Modus der internen Fokalisierung dargestellt, dass Dietrich bereut, nicht auf Hildebrant gehört zu haben: JS  87,12–88,1 (fehlt im  ÄS) und JS  89,10–90,3 (fehlt im  ÄS). In der Heidelberger  ‹Virginal› klagt der auf Muter gefangene Dietrich ebenfalls, nicht auf Hildebrants Rat gehört zu haben (V10  367; auch V12  548; fehlt in  V11). Die Sorge, den Freund nie wieder zu sehen, gipfelt in der Folgestrophe in einer direkten gedanklichen Ansprache des abwesenden Hildebrant, in welcher uneingeschränktes Vertrauen und bedingungslose Folgebereitschaft als Basis ihrer Beziehung und damit als Hoffnung auf Dietrichs Befreiung herausgestellt werden (V10  368; auch V12 549; fehlt in V11). Die Kerngedanken dieser beiden Strophen werden von Dietrich in einer weiteren internen Fokalisierung vor dem Kampf gegen den Riesen Hülle wiederholt, in welcher er den abwesenden Hildebrant als Gesprächspartner imaginiert (V10 521,5–13; fehlt in V12 und V11). Auch im ‹Älteren Sigenot› wird Dietrichs Gewissheit, Hildebrant würde ihn aus der Not befreien, wenn er davon wüsste, mittels interner Fokalisierung auf den in der Drachenhöhle festsitzenden Dietrich herausgestellt (ÄS 10,11–13; fehlt im JS). 85 Die internen Fokalisierungen auf Hildebrant im ‹Sigenot› sind geprägt von der Angst um den Verlust Dietrichs (JS  135; fehlt im  ÄS und JS  150,9–13; fehlt im  ÄS). Voll des Lobes für Dietrichs Kampfkraft und Herrscherqualitäten ist Hildebrant in der Heidelberger ‹Virginal›, als er Dietrich bei seinem ersten Kampf gegen Heiden erblickt (V10 105 f.; auch V12 221 f.; ähnlich V11 37,9–13).

195

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

stellen, wenngleich die Kämpfe, in denen interne Fokalisierungen platziert sind, jeweils getrennt erfolgreich bestanden werden.86 Die Stellen, in denen sich Hildebrant Dietrich im Kampf gegen seine(n) Gegner herbeiwünscht, sind eben jene, in denen sich Dietrich dies umgekehrt auch gewünscht hat. Durch diese Parallelisierung der Wünsche werden Dietrich und Hildebrant im Kontext des Kampfes dergestalt als Kriegerfreunde modelliert. Davon abstrahierend wird allerdings auch noch einmal deutlich unterstrichen, dass von der narrativen Anlage wie in der Figurenwahrnehmung Dietrich nicht ohne Hildebrant, Hildebrant nicht ohne Dietrich zu denken ist. Wenn der jeweils andere nicht da ist, wird er gedanklich präsent gehalten. Des Weiteren finden sich explizite Bekenntnisse von Dietrich und Hildebrant hinsichtlich des gegenseitigen Vertrauens und der Folgebereitschaft. Dazu nur ein Beispiel: Indem im ‹Sigenot› durch den übergangenen Rat Hildebrants durch Dietrich dessen Folgebereitschaft problematisiert wird, bietet sich für Dietrich mehrfach die Gelegenheit, sich zu dieser zu bekennen. Im ‹Älteren  Sigenot› verbindet Dietrich dies mit einem Lob auf die Verlässlichkeit Hildebrants im Vorfeld des Kampfes gegen Sigenot: «Swas er [d. i. Hildebrant] ie gelobt, das laist er. / Dem wolg ich, so ich beste kan.» (ÄS 8,6 f.; fehlt im JS) Unter der Versicherung Dietrichs gegenüber Hildebrant «Ich wil zu˙˙ allen zyten / nach dinem raut so gerne stavn.» (JS 5,10 f.; fehlt im ÄS) kann dieser jenem die Geschichte über Sigenot entlocken. Als Hildebrant Dietrich später rettet, gesteht Dietrich im ‹Älteren› wie im ‹Jüngeren Sigenot› seinen Fehler, Hildebrants Rat, nicht gegen Sigenot anzutreten, übergangen zu haben, ein und bekräftigt: «Ich volge / dir an das ende min.» (ÄS 28,12 f.; fast wortwörtlich JS  186,12 f.) Demgegenüber kann Dietrich, als er Hildebrant an seinen Schwertschlägen im Kampf gegen Sigenot in der Höhle erkennt, Hildebrants triuwe und Verlässlichkeit uneingeschränkt loben: «Er [d. i. Hildebrant] wil mir der getrúwe sin an mir ellenden hie nit brechen. Er gelobt mir vor, er wo ˙˙ lt mich rechen. Das havt er schoun gewert. Darumb ist er ein biderman, wol dick ich das enpfunden ha ˙˙ n: Wa ich ie ward beschwert, do kam er erlich hernach und erfroet mich also schóne.»  (JS 170,13–171,8; fehlt im ÄS)87 86

Als Dietrich in der ‹Virginal› gegen zwölf Heiden antreten muss, während Hildebrant an anderer Stelle mit der Rettung einer Jungfrau aus den Fängen des Heiden Orkise beschäftigt ist, wünscht sich Dietrich Hildebrant herbei (V10 93,5–13; auch V12 206,5–13; ähnlich V11 35,2 f.). Dem Kampf Dietrichs gegen den Riesen Hülle auf Muter ist ein eben solcher Wunsch nach Hildebrant vorgelagert (V10 521,5–13; fehlt in V12 und V11). 87 Explizite Formulierungen des triuwe‑Verhältnisses zwischen den beiden finden sich in der ‹Virginal› mehrfach: V12 51,13, darüber hinaus V12 51 f. (kürzer V11 10,11–13; fehlt in V10); V12 53,5–13 (ähnlich, aber ohne Hinweis, mit Hildebrant in den Tod gehen zu wollen V11 11,2–5; fehlt in V10); V10 400,5 f. (fehlt in V12 und V11) und V10 712 (auch V12 638; fehlt in V11). Dass Hildebrant sein Leben einzusetzen bereit ist, kann man daran ablesen, dass er sich Dietrich im Drachenkampf des ersten Teils der Heidelberger ‹Virginal› als lebendes Schild anbietet (V10 175,5; auch V12 291,5; fehlt in der entsprechenden Strophe V11 57), und freilich am Kampf gegen Sigenot, dessen Lebensbedrohlichkeit im ‹Jüngeren  Sigenot› ununterbrochen betont wird. Schließlich will Dietrich, der nicht weiß, dass Hildebrant Sigenot bereits getötet hat, dass sich dieser in Sicherheit vor dem Riesen bringt, nachdem der erste Rettungsversuch aus der Drachenhöhle gescheitert ist. Die Sorge um den Freund wird hier verbunden mit einem kaum überbietbaren triuwe‑Beweis, wenn Dietrich Hildebrant aufträgt: «Du solt nit lenger bitten, / und ker wider gen Bern hin. / Ich enpfilch dir land und lúte / und Diether, den

196



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

An Dietrich und Hildebrant wird an mehreren Textstellen und damit in noch weit stärkerem Maße als bei der Willehalm‑Vivianz‑Freundschaft in Wolframs ‹Willehalm› expliziert, was sich in der Terminologie von Popitz als Autorität auf Gegenseitigkeit fassen lässt. Die Figurenidentität von Dietrich und Hildebrant ist abhängig von ihrer Zugehörigkeit zueinander in Form einer Freundschaft, wobei beide gleichermaßen am Gewähren oder Entzug der Zugehörigkeitsanerkennung beteiligt sind. Die Einschätzung und Meinung des einen Freundes hat autoritativen Wert für den anderen Freund. Das ist im Falle Hildebrants aufgrund des Statusgefälles zwischen Herrschendem und Beherrschtem zu erwarten.88 Das aber auch das Selbstbild des ranghöheren Dietrich von der Einschätzung Hildebrants abhängt,89 bezeugt, dass zwischen den beiden eine Freundschaft besteht, in der ungeachtet äußerer Asymmetrie eine interne Symmetrie regiert. Konnte sich nach den bisherigen Ausführungen der Eindruck einer stabilen und harmonischen Freundschaft zwischen Dietrich und Hildebrant einstellen, so will ich mich nun in einer ersten Annäherung den Streitereien der beiden zuwenden, die den Eindruck der Beziehung angesichts des quantitativen Umfangs, den die verbalen Attacken einnehmen, massiv dominieren. Dies entkräftet meine These einer Freundschaft zwischen Dietrich und Hildebrant nicht, sondern zementiert sie im Gegenteil. Entkräften würde es sie nur dann, wenn man annähme, dass Streit in einer Freundschaftsdarstellung nicht überwiegen dürfe. In den Texten des Roland‑Stoffs findet sich aber mit der Roland‑Oliver‑Beziehung ein Beispiel für eine solchermaßen konfliktuös ausgetragene Freundschaft. Dass dies bei Dietrich und Hildebrant noch extensiver gestaltet wird, unterstreicht dann auch eher die prinzipiell vorhandene Möglichkeit dieses Beziehungsmodus, wenngleich die Gründe für die Konflikte, wie ich später zeigen werde, zwischen beiden Freundespaaren differieren. Was vielmehr dazu drängt, die Beziehung von Dietrich und Hildebrant nicht trotz, sondern gerade wegen der Streitereien als Freundschaft zu betrachten, ist deren absolute Folgenlosigkeit für die Beziehung. Läge bei den beiden eine ‹schlichte› Gefolgschaftsbeziehung vor, müssten sich zumindest aus den Beleidigungen Hildebrants gegenüber Dietrich irgendwelche Konsequenzen ergeben –  das ist nicht der Fall. Was in den Konflikten vielmehr vorgeführt wird, ist das Aufeinanderprallen der herrscherlichen Asymmetrie von Herrscher und Gefolgsmann mit der wissenstechnischen Asymmetrie,90 die brůder min.» (JS 190,10–13; ähnlich im ÄS 32,11–13) Dietrich ist wie Hildebrant ohne Zögern dazu bereit, sein Leben herzugeben, um den Freund zu schützen. Obendrein weiß er seine Herrschaft und – da Diether der einzige Verwandte Dietrichs ist – den Fortbestand seiner Genealogie bei Hildebrant in guten Händen. 88 In der Heidelberger ‹Virginal› beispielsweise dominiert die mögliche Einschätzung Dietrichs die Gedankenwelt Hildebrants, wenn er gegen Orkise kämpft. Er fürchtet Dietrichs Spott, weil er es nicht schafft, sich gegen einen Heiden durchzusetzen (V10  61,2–9; auch V12  162,2–13; ähnlich V11  26,9–13). Im ‹Rosengarten›  P will Hildebrant erst aufhören, gegen König Gibich zu kämpfen, wenn Dietrich ihm (nach der List um Hildebrants fingierten Tod) wieder wohlgesonnen ist (RG P v. 837–840). 89 Das ist beispielsweise an Dietrichs Scham und sofortigem Meinungswechsel (RG  A  ÄF  64,1–3) im ‹Rosengarten› A ablesbar, wenn Dietrich die ‹Einladung› Kriemhilds zum Kampf ablehnt, während Hildebrant einen Kuss als Lohn erringen will und meint, Dietrich könne ja zu Hause bleiben (RG A ÄF 62,4–63,4). Während Dietrichs Kampf gegen Siegfried im ‹Rosengarten› D stachelt Hildebrant Dietrich an (RG D v. 2002–2008), indem er fingiert, die anwesenden Damen würden über ihn spotten und ihn einen «olf» (RG D v. 2008), also einen ‘«Narren»’ bzw. ‘«Toren»’ schimpfen. Dietrich beginnt zu rauchen und kann damit Siegfrieds Hornhaut erweichen, was der Erzähler nicht etwa mit dem Urteil der Damen begründet, sondern damit, dass Dietrich v vorcht sines meisters tro. (RG D v. 2014) 90 Ich adaptiere hier einen Gedanken Malchers 2009, S. 288 f., und führe ihn weiter: Dietrich und Hildebrant vertreten zwei Prinzipien eigenen Rechts, die von den Figuren nicht aufgegeben werden (können). Malcher hat hierfür die von Luhmann eingeführte Unterscheidung in funktionale und stratifikatorische soziale

197

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

den konstitutiven Bezug beider Figuren aufeinander anzeigen. Das gegenseitige Gefrotzel wird in den Texten geradezu auf die Spitze getrieben und so illustriert – auf zugegeben sehr unterhaltsame Weise  –, dass die Beziehung Dietrich‑Hildebrant im Sinne einer Freundschaft als Schutzraum aufgefasst wird, innerhalb dessen die Konfrontation der beiden Prinzipien Gewalt und Wissen ungestraft ausagiert werden kann. Die Auseinandersetzungen haben keinen rein unterhaltenden Charakter, sondern sind von essentiellem funktionalem Wert für die Dietrich‑Hildebrant‑Freundschaft. Sie sind es auch insofern, als vor der negativen Folie dessen, was sich die beiden gegenseitig vorwerfen, der positiv geteilte Wertehorizont ausgeleuchtet und beständig aktualisiert wird. Auf diesen letzten Punkt komme ich genauer im dritten Unterkapitel mittels der Terminologie Bourdieus zu sprechen. Während die gegenseitigen Vorwürfe und Schuldzuweisungen in der ‹Virginal› über mehrere Szenen verteilt sind,91 verdichten sie sich im ‹Rosengarten› im Streit Dietrichs und Hildebrants im Vorfeld von Dietrichs Kampf gegen Siegfried. Die Szene ist im ‹Rosengarten›  D am breitesten auserzählt, weswegen ich mich für deren Darstellung auf diese Version stützen werde. Hildebrant will Dietrich zum Kampf animieren, den Dietrich wegen Siegfrieds Überlegenheit (in RG A ÄF 364 und 369,1 werden explizit undurchdringliche Hornhaut und Schwert Balmung benannt) rundheraus ablehnt. Dietrich meint, Hildebrant solle doch selber gegen Siegfried antreten (RG  D  v. 1770) oder ihm einen anderen Gegner «von fleisch und ouch von beine» (RG D v. 1781) bringen. Nachdem der zornige Hildebrant Dietrich bereits einmal «verzagt[]» genannt hat (RG  D  v. 1775), wiederholt er diesen Vorwurf und benennt Dietrichs Kampfunwillen als Schande: «Nu sint noch strit geritten  dick in einen wald, do bestůndent ir mit strite  risen, tier und do bi man, und getúrent ir vor den frovwen  ein einigen nút beston. Des hant ir iemer schande,  wo man es von úch saget: Her Dieterich von Berne  ist an strit gar verzaget.» Vor zorn begunt fliessen  Hiltebrant daz wasser ueber den bart.  (RG D v. 1786–1791)

Dietrich verweigert sich aber der hier geforderten Kampfbereitschaft weiterhin. Als er Hildebrant fragt, ob er nun einen anderen Gegner für ihn habe, führt ihn Hildebrant von den anderen Männern weg (RG D v. 1814) und ersinnt den Vorwand, er solle sich krank Differenzierung auf die beiden Figuren übertragen. Dietrich verkörpert als adliger Herrscher den Höchstwert –  Gewalt  – hinsichtlich stratifikatorischer Differenzierung, Hildebrant hingegen den Höchstwert –  Wissen (was Kampferfahrung mit einschließt) – funktionaler Differenzierung. Diese Prinzipien kooperieren nicht im Sinne eines dialogischen Ausgleichs miteinander, sondern stehen ohne Vermittlung zunächst nebeneinander. Sie sind nicht homogenisierbar, wenngleich der Handlungserfolg Dietrichs und Hildebrants als Paar sie final als vermittelt behauptet. 91 Dietrichs gedankliche Verwünschung in der ‹Virginal› gegenüber dem abwesenden Hildebrant, als ihn vier Heiden angreifen, transportiert Zweisamkeit als Ideal in Form gemeinsamen Kampfes und der gegenseitigen Unterstützung in einer Situation, in der er der Hilfe Hildebrants entbehrt (V10 76,4–13; auch V12 207,4–13; fehlt in V11). Die Überlegungen zur Problematik des abwesenden Freundes werden unmittelbar im Nachgang der Kämpfe gegen die ersten vier von insgesamt 80 Heiden der Gefolgschaft Orkises fortgesetzt, zugespitzt und gebrochen. Nachdem Dietrich von dem letzten, sterbenden Heiden aus dem ersten Angriff gehört hat, dass dessen Herr Orkise getötet wurde, tadelt Dietrich ihn, seinen Herren allein gelassen zu haben und damit mitverantwortlich für dessen Tod zu sein (V10 82,6–8; fehlt in V12 und V11). Dietrich formuliert hier wiederum Kritik an Hildebrant in Form einer mise en abyme. So wie der Heide habe auch Hildebrant seinen Herren allein und damit dem Tod überlassen. Was diese wie jener hätten tun sollen und damit Dietrichs Ideal entspricht, formuliert er so: «Ir hettent in billich bewart / in stúrmen und in striten.» (V10 82,8 f.; fehlt in V12 und V11)

198



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

stellen (RG D v. 1810). Dort erhöht Hildebrant den Verhandlungsdruck, indem er mehrfach Dietrichs Identität in Frage stellt: «Sagent uf úwer trúwe: Sint ir her Dieterich, / dem her Dietmar sin erbe lies?» (RG  D  v. 1825) Nachdem Dietrich bejaht, bezichtigt ihn Hildebrant der Lüge, weil ein zage vor ihm stehe (RG D v. 1826–1831). Der zageheits‑Vorwurf im Zuge der Zweifel an Dietrichs Identität wiederholt sich wenig später erneut (RG D v. 1843–1845), woraufhin ihn Dietrich als «alte[n] laster balg» (RG D v. 1846) verunglimpft. Vorher allerdings meint Hildebrant, er werde Dietrich eher selber angreifen als ihn, den «erlose[n] man» (RG D v. 1833), kampflos ziehen zu lassen (RG D v. 1833 f.). Dietrich kontert: […]  «So trug dich liht din sin. Soeldest du mit mir striten,  wie gar ich ein zage bin, das wissesst sicherlichen,  es mues gerúwen dich, wie dicke du mich heissest  verzagte Dieterich.»  (RG D v. 1835–1838)

Er wirft Hildebrant implizit vor, ihn umbringen zu wollen: «Wes hetten ir dest mere, wurde min lip verlorn?» (RG D v. 1841) Im ‹Rosengarten› A wird der Akzent von Dietrichs Gesprächsanteil im Streit v. a. auf den Vorwurf der Untreue, der Mordabsicht und der Erbschleicherei durch Hildebrant gelegt (RG  A  ÄF  359,3–360,4 und 370,3). Schließlich versetzt Hildebrant Dietrich in allen Versionen einen Schlag mit der Faust, Dietrich wiederum streckt Hildebrant mit einem Schwertschlag nieder (RG  D  v. 1849–1851). Nachdem Dietrich und Hildebrant ihre Kämpfe gegen Siegfried und Gibich erfolgreich bestanden haben, wird diese Handgreiflichkeit nicht weiter thematisiert, Folgen hat sie schon gar nicht.92 Die Szene ist in mehrfacher Hinsicht paradigmatisch für die Auseinandersetzungen zwischen Dietrich und Hildebrant: Die Streitereien zeitigen keine Konsequenzen auf der Beziehungsebene. Sie werden (selbst wo es an einigen Stellen eine Versöhnungsszene gibt, s. u.) in permanenter Latenz gehalten, können jederzeit aus quasi‑standardisierten u.) aktualisiert werden und partizipieren damit nicht unwesentlich Vorwürfen (s.  an der (Weiter‑)Erzählbarkeit der Hildebrant‑Dietrich‑Geschichten. Was sich in der ‹Rosengarten›‑Szene weiterhin kondensiert, sind die Vorwürfe Dietrichs und Hildebrants, deren Spektrum, das sich auch in anderen Texten der aventiurehaften Dietrichepik findet und damit einen mehr oder weniger festen Motiv‑Pool bildet, hier aufgefächert wird. Regelmäßig wirft Dietrich Hildebrant nicht nur schlechte Ratgeberschaft und bisweilen auch mangelnde Kampfkraft, sondern auch Untreue, Mordabsichten und obendrein Erbschleicherei vor. Hildebrant hält Dietrich im Gegenzug vor, ein Feigling und Müßiggänger sowie ein miserabler Frauendiener zu sein, der sich zum Gespött mache. Das sei an dieser Stelle nur noch mit einigen Beispielen aus der ‹Virginal› illustriert, um den Befund zu untermauern: Als Dietrich in seinen ersten Kampf gegen vier Heiden verwickelt wird, verfällt er in den Vorwurf der Untreue und Erbschleicherei: 92

Lediglich in Version D und gegen alle anderen Versionen geht das Wortgefecht in die zweite Runde, wenn Dietrich Hildebrants Kampf gegen Gibich bissig kommentiert. Höhnisch fordert er Hildebrant, den er einen «alte[n] balter grin» (RG D v. 2095) nennt, zum Kampf gegen Gibich auf. Die Beschimpfung, die wohl ‘«Landstreicher»’ bedeuten soll (BMZ Bd. 1, Sp. 82b), ist ein Hapax legomenon. Als Hildebrant während des Kampfes Schutz hinter seinem Schild sucht, setzt ihm Dietrich, der ihm das implizit als mangelnde manheit ankreidet, mit seinem Vorhaben zu, Hildebrants Frau Ute im Falle seines Ablebens einem jüngeren Mann verheiraten zu wollen (RG  D  v. 2116 f.). Mit Dietrichs verbalem Gegenangriff wird die Auseinandersetzung aber lediglich verlängert, geklärt ist damit nichts.

199

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen «Getruwer Hiltebrant, wie hastu mich verderbet! Nůn wurt dir doch mins erbes niht, wie man mich hie verderben sieht. Min brůder vúr dich erbet: […] Der wrt dir niht, wie vil din lip untruwen erzoeiget hie.»  (V10 74,2–13; auch V12 187,2–13; ähnlich V11 30,12–31,11)93

Als Dietrich Hildebrant auffordert, ihn zukünftig in Bern zu lassen, malt er die daraus folgenden Konsequenzen aus und wirft damit Dietrich implizit Müßiggang vor: «Do zoch ich aber schachzabel spiel», sprach Hiltebrant, «by frouwen und gie vor manigen schonen dantz und sach do manigen schoenen roten munt. Do von ist mir min brúnie gantz.»  (V10 113,9–13; auch V12 229,9–13; fehlt in V11)94

In Arone angekommen zeigt sich Dietrich so ängstlich gegenüber einem Wächterautomaten, dass ihn Portalaphe, die Herrin von Arone, über die Brücke geleiten muss, woraufhin ihn Hildebrant bloßstellt, «[e]r wenet do zů Berne sin / mit kinde spielen der docken» (V10 203,9 f.; auch V12 321,9 f.; fehlt in V11).95 Dietrich wirft Hildebrant Maßlosigkeit bei seiner Wortwahl vor (V10 204,4–7; auch V12 322,4–7; V11 65,6 f.) und droht ihm mit Landesverweis (V10 204,10; auch V12 322,10; V11 65,8 f.).96 Als Dietrich sich allerdings bei Portalaphe über Hildebrants Untreue (V10  205,6; auch V12  323,6; V11  66,3) und das von ihm verursachte «ungemach» (V10  205,11; auch V12  323,11; fehlt in  V11) beschwert, lachetent ritter megede, wip. (V10 206,1; auch V12 324,1; ähnlich V11 66,6) Als alle im Saal von Arone angekommen sind, leitet Hildebrant eine im Rahmen aventiurehafter Dietrichepik eher selten dargestellte Versöhnung mit Dietrich ein.97 Diese 93

94

95

96

97

In der Dresdner ‹Virginal› steigert sich Dietrichs Empörung an dieser Stelle bis zur Behauptung: «Wen man dich thet bestaten / zu der erd, des acht ich nit.» (V11 31,10 f.) Vgl. zu Dietrichs Vorwurf, Hildebrant wolle ihm ans Leben V10 113,6 f. (auch V12 229,6 f.; ähnlich V11 41,1–3). Als Dietrich sich dann aufregt, ihre Kampfaktivitäten seien ungleich zu Lasten Dietrichs verteilt (V10 114,1–6; auch V12  230,1–6; fehlt in  V11), versucht Hildebrant erstmals Dietrich vom Streit ab- und zu den Frauen hinzubringen, damit er seinen Lohn sehe (V10 114,7–13; auch V12 230,7–13; fehlt in V11). Aber Dietrich lässt nicht locker und meint, er wolle ihm nicht mehr folgen und wiederholt den Vorwurf, Hildebrant hege ihm gegenüber Mordabsichten (V10 115; auch V12 231; V11 41,1–3). Hildebrant geht darauf abermals gar nicht ein und wechselt erneut das Thema hin zu der von ihm befreiten Frau (V10 116; auch V12 232; V11 41,4–13), zu der er Dietrich sodann ohne weitere Probleme führen kann (V10 117; auch V12 235; V11 42). So fundamental der Streit an den Beziehungsfesten Dietrichs und Hildebrants rührt, so schnell ist er auch wieder vergessen. In der Dresdner Version zieht Hildebrant Dietrich nicht mit dem Kinderspielvergleich auf, sondern verhöhnt ihn dadurch, dass er Portalaphe rät, Dietrich festzuhalten und ihm die Augen zu verbinden, damit er nicht in Ohnmacht falle (V11 65,1–5). In V10 weist die Handschrift bei diesem Vers zwar «ich mache ein lant úch zů eigen» aus und Lienert/​ Pontini/​Schumacher 2017 halten das im Stellenkommentar für eine nicht auszuschließende Variante, aber sie passt weder zum Reim noch ergibt es meinem Dafürhalten nach Sinn, dass Hildebrant auf eine öffentliche Bloßstellung eine Belohnung in Aussicht gestellt wird. Plausibler ist die Lesart der Wiener ‹Virginal›, die einen Landesverweis androht: «mach euch daz lant czu enge.» (V12 322,10) Sie stimmt überdies mit der Dresdner Version überein, die neben dem Landesverweis Dietrich noch gegenüber Hildebrant drohen lässt: «e ich dir mach zu enge / das lant und schlag dir nach deym lebn» (V11 65,8 f.). Lediglich in der ‹Virginal› finden sich zwei weitere Beispiele für eine ausdrückliche Versöhnung Dietrichs und Hildebrants nach einem Streit. Nach der oben besprochenen Szene folgt die nächste Versöhnung auf Muter: Während sich Hildebrant freut, Dietrich zu sehen (V10  757,7–13; V12  684,1–8; fehlt in  V11), spricht

200



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

hier ist nicht nur aufgrund ihrer Länge besonders bemerkenswert, sondern auch, weil sie alle beidseitigen Vorwürfe aufgreift und positiv wendet, wodurch diejenige Funktion der Werteversicherung der Streitereien explizit gemacht wird, die sonst implizit bleibt. Hildebrant registriert anerkennend Dietrichs Ehre und seinen Frauendienst: «Here ich bin uwer eren fro, das úch so stoltze megde mit dienste undertenig sint, ritters, frouwen und ire kint. Sagent an, hat uwer geclegede an úch ein ende noch genumen by disen stoltzen megeden? Daz súllent ir mich bescheiden. Hat sich vollendet uwer můt, der mit rede zoegelich dicke mir vil leides tůt?»  (V10 209,2–13; auch V12 327,2–13; fehlt in V11)

Nachdem Dietrich sich bei Hildebrant entschuldigt hat  – «Habe ich úch leides icht geton, / des lont von hertzen sigen.» (V10  210,2 f.; auch V12 328,2 f.; V11  67,5 f.) und versichert, der «alte has» (V10  210,5; V12 328,4; fehlt in  V11) zwischen ihnen sei vorüber, gesteht Hildebrant ja zu, dass Frauendienst gefährlich und Landesherrenpflichten wenig Raum für Muße lassen, dass also Dietrichs Klagen durchaus ‹realitätshaltig› sind: «Ich sagen úch, […] wellent ir durch frouwen riten, úch werdent wunden dieff erkant in stúrmen und in striten. Wellent ir búrge, lande pflegen und sehent ir iergent hus gemach, des muestent ir úch gar verwegen.»  (V10 210,7–13; V12 328,7–13; ähnlich V11 67,8–10)

Danach holt Hildebrant zu einer Lehre ritterlichen Lebens und ritterlicher Tugenden aus, die Dietrich nun nicht mehr allein adressiert, sondern beide in der Gemeinschaft der dort vorgetragenen Werte zusammenschließt. «Alsus der ritter orden stot, daz er gemach vil selten hat, dem er beginet lieben, der sol getruwe, stete wesen, zucht durch frouwen in sich lesen, in hertze sol er schiben: Manheit bedarff ein ritter wol, milte in rechter mosse. Got er vor ougen haben sol. Est billich, daz er niht losse kúsch und die bescheidenheit. Er ist czů der welte ein selig man, der die mit einander treit.»  (V10 211; V12 329; ähnlich V11 67,11–13) dieser jenem die Schuld an seiner Situation zu und unterstellt ihm wieder Mordabsichten (V10  758,9–11; auch V12  684,9–11; fehlt in  V11). Auf dem Fest nach den Riesenkämpfen bahnt wiederum Hildebrant die Versöhnung an (V10 772,11–13; fehlt in V12 und V11), die diesmal glückt.

201

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Erstaunlich ist hierbei, wie genau die Punkte aus dem Pool der regelmäßig genutzten Vorwürfe aufgegriffen und invertiert werden: Dem Vorwurf des Müßiggangs wird ungemach entgegengehalten, dem der Untreue die Treue und Verlässlichkeit, dem mangelnden der vorbildliche Frauendienst, dem Vorwurf der zageheit wird «manheit» gegenübergestellt und schließlich dem des schlechten Ratschlusses die «bescheidenheit». Dietrichs Antwort bestätigt diesen Eindruck noch einmal, wenn er Hildebrants «manheit» (V10 212,4; fehlt in V12 und V11) und seinen weisen Ratschluss (V10 212,12 f.; fehlt in V12 und V11) lobt. Da die Konfrontation konstitutiv für die Freundschaft von Dietrich und Hildebrant ist, kann diese Versöhnung weiteren Streit höchstens aufschieben, verhindern kann sie ihn nicht. Auch wenn man den Eindruck gewinnen könnte, die Problematiken um Aventiure bzw. Frauendienst und Landesherrenpflichten seien einvernehmlich geklärt, so hält das Dietrich nicht davon ab, Hildebrant bei der nächstbesten Gelegenheit auf Muter die Schuld an seiner Gefangenschaft und Mordabsichten zu unterstellen (V10 758,9–11; auch V12 684,9–11), die jeder objektiven Grundlage entbehren,98 statt ihm dankbar für seine Rettungsaktion zu sein.99 Die bisherige Textpraxis in den aventiurehaften Dietrichepen konnte davon überzeugen, dass die Streitereien zwischen Dietrich und Hildebrant wesenhaft unabschließbar sind, weil sie sich über das Vehikel der Auseinandersetzung der gemeinsamen Wertebasis wie ihrer Beziehung versichern. Was mit dem Durchgang durch die Freundschaftskonstituenten der Dietrich‑Hildebrant‑Beziehung deutlich geworden sein dürfte, ist eine hinsichtlich Quantität und Drastik der Konfliktanfälligkeit ihresgleichen suchende, aber nichtsdestoweniger stabile Freundschaft auf der Basis geteilter Kampferfahrungen und den damit in Zusammenhang stehenden Werten. Um es zuzuspitzen: Der Antagonismus bedingt die Beständigkeit der Beziehung dergestalt, dass die Kontroversen nicht nur innerhalb eines Textes beliebig oft im Sinne narrativer Selbsterhaltung aktualisiert werden können, sondern auch die Textgrenzen transzendieren und eine textübergreifend relativ kongruente Freundschaftsdarstellung sichern. Dietrich und Hildebrant stehen sich einerseits hinsichtlich ihrer triuwe und andererseits hinsichtlich ihrer Drohungen und Vorwürfe in nichts nach, sodass ihre Asymmetrien im Hinblick auf die von ihnen vertretenen Prinzipien subjektiv für die beiden Figuren, aber auch für die anderen Figuren der epischen Welt nivelliert werden. Das hat entscheidenden Einfluss auf die übereinander ausgeübten Machtformen, insbesondere jedoch für jene Hildebrants gegenüber Dietrich.

2.2. Zur Machtfülle Hildebrants gegenüber Dietrich in ihrer status‑asymmetrischen Freundschaft Anhand der oben bereits dargelegten gemeinsam bestrittenen Kämpfe zeigt sich die körperliche Aktionsmacht von Dietrich und Hildebrant füreinander und gegen ihre Gegner. 98

Dietrich war auf eigenen Entschluss hin zu Virginal vorausgeritten und hatte sich dabei verirrt (V10 314; auch V12 496; fehlt in V11). 99 Im Vorfeld der anschließenden Drachenkämpfe im Wald aktualisiert Hildebrant gegenüber Dietrich wieder den Vorwurf der zageheit (V10  852; fehlt in V12 und  V11) und der damit verbundenen Schande für ihn wie für seine Männer (V10 854; fehlt in V12 und V11), weil Dietrich nicht kämpfen will. Zwar kann Ute Dietrich beruhigen (V10  858; fehlt in V12 und  V11), aber kurze Zeit später perpetuiert Dietrich den Streit, indem er Hildebrant im Kampf gegen die Drachen nun seinerseits alles überragende zageheit und Schande vorwirft (V10 915,5–9; auch V12 758,4–8; fehlt in V11). Hildebrant führt verteidigend sein hohes Alter an (V10 916; fehlt in V12 und V11) und Dietrich bietet diesmal die Versöhnung an (V10 917; fehlt in V12 und V11).

202



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

Mehrfach retten sie einander kämpfend das Leben oder riskieren ihr eigenes, um den anderen aus Bedrängnis oder Gefangenschaft zu retten. Lediglich im ‹Rosengarten› üben die beiden ihre Verletzungsmacht über- bzw. vielmehr gegeneinander aus, wenn Hildebrant Dietrich im Vorfeld des Kampfes gegen Siegfried mit der Faust schlägt und Dietrich mit seinem Schwert zurückschlägt. Zum einen wird aber selbst damit noch Hildebrants (nicht nur kämpferische) Vorrangstellung innerhalb von Dietrichs Gefolgschaft unterstrichen, weil lediglich er Dietrich tätlich angreifen kann, ohne dessen Verbundenheit zu verlieren. Das weist Parallelen zum Fall des erblindet in die Schlacht zurückkehrenden Oliver in den Texten des Roland‑Stoffs auf, der es als einziger in der Schlacht vermag, Roland mit seinem Schwert auf den Helm zu treffen. Zum anderen setzt Hildebrant seine körperliche Aktionsmacht aber auch in diesem Fall im Sinne Dietrichs ein, denn Hildebrant schlägt Dietrich nur, um seinen Kampfeszorn zu wecken, damit dieser gegen Siegfried antritt und seine Reputation behält.100 Neben Hildebrants Kampfkraft ist sein herausragendes Machtmittel sein Wissen, worauf bereits sein Epitheton wise bzw. seine durchgehende Darstellung als alt oder grise, wobei sein hohes Alter gleichbedeutend mit Weisheit ist, hindeuten. Entsprechend kann Hildebrant dieses Wissen im Sinne instrumenteller Macht in den zahlreichen Situationen nutzen, in denen er Dietrich seinen Rat erteilt bzw. in welchen Dietrich jenen zu konkreten Problemen erbittet, um dessen Verhalten zu steuern. Die Ratschläge zentrieren sich um das Thema Ehrerhalt im Rahmen von Kampf und Aventiure sowie um pragmatisch‑‹verwaltungstechnische› Sachverhalte wie Statthalterschaften und Botendienste.101 Hildebrants Wissen und mit ihm seine instrumentelle Macht helfen zudem, das Verhalten anderer im Sinne Dietrichs zu steuern.102 Hildebrants instrumentelle Macht gegenüber den Berner Kriegern und Verbündeten entfaltet sich v. a. in Form der Drohung des Ehrverlusts, die die Kämpfer regelmäßig in ihren Kampfbemühungen anstachelt und zum Sieg führt.103 Auf die Spitze treibt Hildebrant diesen Mechanismus im Vorfeld und während des Kampfes zwischen Dietrich und Siegfried im ‹Rosengarten› (s. o.). 100 In

Version D wird dieser Kausalnexus sogar explizit benannt (RG  D  v. 1847). Auch die anderen Versionen deuten darauf hin, dass der Faustschlag gezielt funktional eingesetzt ist, wenn Hildebrant Dietrich listig von der Öffentlichkeit separiert (RG A ÄF 372,3; D 1814; C 433,4), um ihn nicht sozial zu diskreditieren und seine Herrschaft nicht zu untergraben. 101 Dietrich ersucht Hildebrant beispielsweise um seinen Rat, wie man im ‹Rosengarten› ehrenvoll nach Worms komme (RG  A  ÄF  64,2 f.); welche Kämpfer gegen die Wormser Helden antreten sollen, weil Hildebrant deren Kämpfer kennt (RG  A  ÄF  108); wie er in der ‹Virginal› seine Aventiureunwissenheit abstellen kann (V10 8,5–13; V12 30,5–13; fehlt in V11); wer in ihrer Abwesenheit Bern verwalten (V10 11,7–13; V12 36,7–13; fehlt in V11); welche Nachricht man Virginal von Arone zukommen lassen (V10 242 f.; fehlt in V12 und V11) oder wie man auf die drohende Belagerung Berns reagieren soll (V10 1061 f.; fehlt in V12 und V11). 102 So führt er im ‹Rosengarten› das Gespräch mit dem Krieger‑Mönch Ilsan und kann ihn unter dem Versprechen des Ehrzuwachses davon überzeugen, an Dietrichs Seite in den Rosengarten‑Kampf zu ziehen (RG A ÄF 164–177). Später weiß Hildebrant um den Fährmann, der Hand und Fuß als Lohn für die Überfahrt über den Rhein haben will, und kann so eine List einleiten helfen (RG A JF 208–211). In der ‹Virginal› kennt sich Hildebrant wie selbstverständlich auch in Nitgers Land aus und ordnet darin Raub und Brand an (V10  663 f.; fehlt in V12 und  V11), wodurch der Druck auf Nitger erhöht wird. Später leitet er Dietrich allerdings zu einer würdevollen Behandlung des unterlegenen Nitger an (V10 783; fehlt in V12 und V11), sodass eine friedliche Beziehung zu dem neuen Lehensmann Dietrichs gesichert ist. 103 Vgl. RG A ÄF 232 bzw. RG C 302 gegenüber Sigestap, RG A ÄF 242 bzw. RG C 311–313 gegenüber Heime, RG D v. 1211 f. gegenüber Witege; RG D v. 1678–1685 gegenüber Ilsan; V10 726 bzw. V12 652 gegenüber Heime; V10 742 bzw. V12 668 gegenüber Blödelin; V10 898 bzw. V12 740 gegenüber Wolfhart; fehlt jeweils in V11.

203

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Die größte Reichweite erreicht Hildebrants instrumentelle gepaart mit körperlicher Aktionsmacht im ‹Rosengarten› D, wenn er die Bitte um Beendigung des Kampfes zwischen ihm und Gibich von der Übergabe der Herrschaft Gibichs an Dietrich abhängig macht (RG D v. 2149 f.). Hildebrant droht andernfalls wenig verdeckt mit dem Tod Gibichs und kann so eine wesentliche Herrschaftserweiterung Dietrichs erwirken. Dietrich macht gelegentlich von seiner instrumentellen Gewalt gegenüber Hildebrant Gebrauch. So etwa, wenn er Hildebrants Rat, nicht gegen Sigenot anzutreten oder zumindest nicht allein loszuziehen, übertritt und ihm anordnet, seine triuwe ihm gegenüber lieber dadurch zu erweisen, dass er Land und Leute beschützt und im Ernstfall nach acht Tagen ausreitet und seinen Leichnam birgt. Von instrumenteller Macht sind diese Anweisungen insofern geprägt, als Dietrich in deren Zusammenhang mit êre und triuwe als verstecktem Drohpotenzial argumentiert (JS 10,12 f.; fehlt im ÄS, und JS 17,11–18,5; fehlt im ÄS). In den oben ausführlicher dargestellten Konfrontationen zwischen den beiden Freunden, droht Dietrich Hildebrant mitunter, ihm die Folgebereitschaft aufzukündigen oder ihn des Landes zu verweisen. Auch wenn diese Drohungen folgenlos bleiben, so illustrieren sie dennoch Dietrichs Macht, weil er glaubwürdig über das Potenzial, derartige Gratifikationen zu gewähren oder zu entziehen, verfügt. Gleiches gilt umgekehrt für die etwaige Drohung der Dienstaufkündigung durch Hildebrant. Die bereits dargestellten Indizien für eine Autoritätsbeziehung auf Gegenseitigkeit konnten die Wahrnehmung Dietrichs wie Hildebrants hinsichtlich der wechselseitigen autoritativen Macht, welche Einstellungen, Meinungen, Urteile und Perspektiven zu steuern vermag, erweisen. Dasselbe indizieren die ebenfalls schon verhandelten Äußerungen zur gegenseitigen Folgebereitschaft der beiden Figuren. Hier soll nun genauer betrachtet werden, worin sich diese autoritative Macht performativ wie diskursiv äußert. Wiederum ist hier v. a. Hildebrants Machtvolumen bemerkenswert und soll daher intensiver beleuchtet werden. In einer ganzen Reihe von Zeugnissen der autoritativen Macht Hildebrants über Dietrich besitzen diese unmittelbar handlungswirksame Effekte auf Dietrich.104 In der ‹Virginal› sucht Dietrich nach der Blamage vor den Damen, keine Aventiure berichten zu können, Hildebrant auf und vertraut dabei nicht nur ganz auf dessen Rat zur Aventiurefahrt, sondern übernimmt dessen Perspektive und macht umstandslos Hildebrants zu seiner Meinung.105 In der Wiener ‹Virginal› ist diese Szene noch dergestalt ausgebaut, dass Dietrich vor dieser uneingeschränkten Zusage zur Aventiureteilnahme (V12 35 entspricht V10  10) seine Bedenken äußert, weil ihm Kämpfen noch gänzlich unbekannt sei. Das bildet dann die Vorlage für Hildebrants längere Ausführung zu adäquatem Helden- und Herrschaftsverhalten:

104

Im ‹Rosengarten› A ist Dietrich beispielsweise zunächst nicht bereit, Kriemhilds Einladung zu folgen, was sich aber schlagartig ändert, als Hildebrant seine Kampfbereitschaft mit dem Kommentar äußert, Dietrich könne ja zu Hause bleiben, er aber wolle für Ute einen Kuss gewinnen (RG A ÄF 62–64). 105 Hildebrant fragt, «wie lange wellent ir hie heime sin?» (V  9,5; auch V  31,5; fehlt in V ), berichtet von der 10 12 11 Bedrohung des Landes sowie der damit verbundenen Schande (V10 9,6–11; auch V12 31,6–11; fehlt in V11) und ermutigt Dietrich zur Ausfahrt (V10 9,12 f.; auch V12 31,12 f.; fehlt in V11). Dietrich entgegnet, «Ich enwil kein stúrmen fliehen.» (V10 10,6; auch V12 35,6; fehlt in V11), und scheut dabei vor keiner «arbeit» (V10 10,11; fehlt in V12 und V11) zurück.

204



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs «Her, ir mußt tun recht alls ein helt, der streittes múß begynnen. […] Ach got, was sol czur wellte der, und dem sein schillt und auch sein sper doch nymmer bruch gewuenne, der doch tregt eines herren nam! Des mugen sich die sein wol scham. Ist er von kuniges kuenne und ist er czu dem schild geporn, die turney muß er reitten. Han in die frawen auß erkorn, so sol er durch si streitten. Waz sol im hab, was sol im gut, was sol im ritterliche wat, wenn er nit adellichen tut?»  (V12 32,7–33,13)

Dass Dietrich in dieser Version erst nach Hildebrants Erläuterungen der Aventiurefahrt zustimmt und sie damit ausschlaggebendes Gewicht erhalten, suggeriert, dass er dessen Einstellung argumentativ anerkennt und teilt. Die Heidelberger Version kennt einen ähnlichen Gesprächsverlauf im Wald im Vorfeld der ersten Kämpfe (V10  21,1–10; auch V11 9,6–10; fehlt in V12).106 Hildebrants autoritative Macht über Dietrich ist so stabil und gewiss, dass Hildebrant diese gegenüber Dritten verbalisieren kann. Diese Darstellungsform scheint zwar auf die ‹Virginal› begrenzt, tritt dort aber so häufig auf, dass sie dennoch signifikant ist. Dazu nur ein Beispiel: In Arone, als Hildebrant in Anwesenheit Dietrichs zu Helferich meint, er solle Dietrichs «manheit» (V10 235,3; fehlt in V12 und V11) nicht so loben, weil er noch viel lernen müsse, bis er «heildes můt» (V10 235,4; fehlt in V12 und V11) gewinne, beklagt Dietrich zwei Mal in Folge, dass Hildebrant ihn stets kämpfen lasse (V10  236 und 238; fehlt in V12 und V11). Hildebrant entfaltet daraufhin jeweils unbeirrt einen Katalog von

106 Während

in der Aventiure- und Frauendienstdiskussion zwischen Dietrich und Hildebrant in der Heidelberger ‹Virginal› zumindest auf diskursiver Ebene keine Einigung erzielt wird (V10 110–116), wenngleich sie performativ freilich in der Befreiung von Virginals Land umgesetzt ist, so glückt dies in der Wiener ‹Virginal›. Im Nachgang der Ortneck‑Episode wirft Dietrich Hildebrant vor, ihn beim Kampf gegen den Riesen allein gelassen zu haben (V12  480; fehlt in der entsprechenden Strophe V11  114; fehlt in  V10). Dietrich liefert mit seiner Frauendienstkritik (V12 481; fehlt in V10 und V11) die Vorlage für Hildebrants Replik, in der er Herrschaft und das Lob von Frauen an kämpferischen Einsatz rückbindet (V12 482; fehlt in V10 und V11). Dietrich beklagt sich zwar noch, dass ihm Frauenküsse als Toter nichts nützten, teilt dann aber Hildebrants Ansicht und will Leid für Frauen in Kauf nehmen (V12 483,1–9; ähnlich, aber ohne Absicht, vorbildlichen Frauendienst zu üben V11 115,4 f.; fehlt in V10). Hieran kann man gut nachvollziehen, wie Hildebrant autoritative Macht über Dietrich ausübt, der – wenn auch widerstrebend – dessen Ansichten übernimmt. Ein weiteres Beispiel für die autoritative Macht Hildebrants über Dietrich stellt die Schlusspartie der Dresdner  ‹Virginal› dar, in der Hildebrant durch Ratsituationen (V11  120–122) die Hochzeit Dietrichs mit Virginal entscheidend anbahnt, an deren Vollzug es allerdings hapert (V11 125–130). Lässt man die komisierend überspitzte Darstellung beiseite, so zeigt sich doch Hildebrants enormer Einfluss- und Machtbereich in Bezug auf Dietrich, wenn er in den ersten beiden Hochzeitsnächten unter dem Bett lauscht, um sicherzustellen, dass der Vollzug geglückt ist, und Dietrich an den darauffolgenden Tagen obendrein in provozierender Art zur Rede stellt. Das zeigt, wie weit Hildebrant unbeschadet gehen kann. Das Antwortverhalten wie das Zeichen der Scham bei Dietrich illustrieren hingegen, wie wichtig ihm Hildebrants Meinung ist.

205

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Heldentugenden. Da diese inhaltlich nahezu identisch sind (V10 237 und 239; fehlt in V12 und V11), sei hier nur der zweite angeführt: «Wenent ir daz», sprach her Hiltebrant, «daz úch got búrge und lant gebe durch úch alters eine, starcken lip und heildes můt, golt, silber, hort, eren und gůt? Daz solt ir lon gemeinen, sit ir durch mynecliche wip – den súllent ir komen zů troste, ob kein sorge hab ir lip, do sú nieman von loste. Daz solt ir keiner slahte man gewinnen, wolt ir, daz sú úch mit spielenden ougen lachen an.»  (V10 239; entfernt V11 78,3–6; fehlt in V12)

Einerseits kann Hildebrant Dietrich als einzige Figur – noch dazu im Rahmen höfischer Öffentlichkeit – in seiner Einstellung zum Kampf Paroli bieten und andererseits erweist Dietrichs Performanz in den Kämpfen die Übereinstimmung mit Hildebrant. Hildebrants autoritative Machtfülle erstreckt sich aber nicht nur auf Dietrich,107 sondern folgerichtig auch auf dessen gesamtes Gefolge. Am eindrucksvollsten wird dies in Hildebrants mobilisierender Kraft im Kampffalle deutlich. Im ‹Rosengarten› wie in der ‹Virginal› übernimmt Hildebrant im Alleingang die gesamte Kampforganisation und -kommunikation im Vorfeld sowie während der Kampfhandlungen. Hatte Hildebrant im ‹Rosengarten› A bereits in Bern die Kampfpaare für die Reihenkämpfe in Worms festgelegt (RG A ÄF 112–129), wird seine tragende Rolle bei der Durchführung der Reihenkämpfe noch umso deutlicher (RG A ÄF ab 222). Hildebrants Anweisungen zum K ­ ampfablauf bleiben seitens der Dietrich‑Männer völlig unhinterfragt, was die internalisierte F ­ olgebereitschaft der Gefolgschaft nicht nur gegenüber Dietrich, sondern auch gegenüber dessen Freund Hildebrant illustriert. Gerade die Tatsache, dass Hildebrants weitreichenden Befugnisse nirgends gesondert begründet werden, deutet ebenfalls in diese Richtung. Dieses Phänomen der gewissermaßen von Dietrich auf dessen gesamtes Gefolge ausgedehnten autoritativen Macht Hildebrants wird in der ‹Virginal› an analogen Kampfsituationen vorgeführt. Hildebrant organisiert die gesamte Rettungsaktion um den auf Muter gefangenen Dietrich. Vor allem die Heidelberger Version legt großen Wert auf die breit ausgeführte Zusammenstellung des Heeres. Dass dieses große Heer dann gar nicht handlungsrelevant wird, weil auf Muter ein Reihenkampf stattfindet, zeigt, dass die Dar-

107 Die

Einschätzung von Hildebrants autoritativer Macht über Dietrich wird von Dietrich selbst geteilt. Dies zeigt sich in der ‹Virginal› beim Bericht Dietrichs gegenüber Ibelin auf Muter, wie es zu seiner Gefangenschaft kam. Im Zuge dessen räumt Dietrich ein, Hildebrant inadäquat behandelt zu haben, als er dessen Hilfe gegen die Drachen abgelehnt habe (V10 418; fehlt in V12 und V11). Es hat für Dietrich durchaus einen Wert, angemessen im Sinne der Vorstellungen Hildebrants zu handeln. Das eigene unfaire und das weise Handeln Hildebrants erkennen zu können, setzt einen Wechsel im Beobachtungsstandpunkt Dietrichs voraus. Dieser Perspektivwechsel wird durch die Wiedergabe der Hildebrant‑Rede innerhalb der Dietrich‑Rede sogar ausgeführt, denn die von Dietrich benutzten Worte Hildebrants sind während des Kampfes gegen den Drachen so gar nicht gefallen. Dietrich macht sich Hildebrants Sicht zu eigen und gesteht gegenüber einer Dritten sein Fehlverhalten.

206



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

stellung einer anderen als der Kausallogik folgt. Es geht um die Machtextension Dietrichs, die sich auch im Mobilisierungspotenzial Hildebrants niederschlägt.108 Interessant ist, dass Dietrichs autoritative Macht gegenüber Hildebrant kaum je handlungsleitend ausgespielt wird. Ich meine, dies hängt mit dem Statusgefälle zusammen, das sich in autoritativen Akten Dietrichs gegenüber Hildebrant zeigen würde, das in den Texten aber im Gegenteil zu camouflieren versucht wird. Es besteht die Gefahr, dass die Freundschaftsbeziehung auf die grundierende Gefolgschaftsbeziehung durchsichtig wird.109 Die Wiener  ‹Virginal› liefert ein Beispiel, wie die autoritative Macht Dietrichs und Hildebrants übereinander reibungslos in einer Aktion von hoher Relevanz für Dietrichs Herrschaft ineinandergreift. Auf die Bitte von Nitgers Schwester und Frau um Gnade und Hulde für sie und ihr Land, das Nitger Dietrich untertan machen will, antwortet Dietrich mit äußerster Knappheit: «Was Hilprant wil, der meister mein.» (V12 700,11; Landesübergabe in V10 783–785, aber keine genaue Entsprechung dieses Verses; fehlt in V11) – zu ergänzen wäre wohl, ‹das will auch ich.› Dieser Ausdruck gemeinsamen Wollens wird im nächsten Vers weiter zugespitzt: Si sprachen: «Fraw, ir seit gewert.» (V12 700,12; fehlt in V10 und V11) Mit dem Si können nur Dietrich und Hildebrant gemeint sein, die ihren gemeinsamen Willen im gemeinsamen Sprechen äußern. Deutlicher – und knapper – kann man den Zusammenklang autoritativer Macht kaum darstellen. Die Positionen Dietrichs und Hildebrants sind hier so weit angenähert, dass sie in eins fallen. 108 So

auch Harms 2013, S. 136: «Dass diese [die Kämpfer des Heers] in den anschließenden Einzelkämpfen gegen die Riesen überhaupt nicht benötigt werden, erhärtet den Eindruck, dass es hierbei vor allem um die Demonstration der Vollkommenheit des Herrschers geht, die sich eben auch darin widerspiegelt, dass er die richtigen Leute um sich scharrt [sic].» Hildebrant leitet das Heeresaufgebot mit 500 Männern aus Bern (V10 609; fehlt in V12 und V11), lässt König Imian aus Ungarn holen (V10 472; fehlt in V12 und V11), der wiederum Dietleib holen lässt (V10 545; fehlt in V12 und V11), Hildebrants Neffe Wolfhart kann Witege und Heime aus Raben (V10 610; fehlt in V12 und V11) für die Befreiung gewinnen. Die Riesen auf Muter wenden sich zielsicher an Hildebrant, um mit ihm die Kampfmodalitäten zu besprechen, die er ihnen dann diktiert (V10 717 f.; auch V12 643 f.; fehlt in V11). Ganz wie im ‹Rosengarten› organisiert Hildebrant auch die Durchführung des Kampfes, wenn er die Kampfpaare bestimmt. Nach der Muter‑Episode erfolgt ein zweiter Reihenkampf gegen Riesen und anschließend gegen Drachen im Wald. Hildebrant ‹moderiert› diese Kämpfe zwar nicht mehr in derselben Weise wie auf Muter, aber er führt das Heer und appelliert in einer kurzen Heeresansprache an die «manheit» (V10  861,5; auch V12 703,5; fehlt in V11) der Kämpfer. 109 Eindrücklich führt das die Eingangsszene des ‹Jüngeren Sigenot› vor Augen, die im ‹Älteren Sigenot› gänzlich fehlt. Dietrich übergeht Hildebrants Warnungen vor dem Kampf und demonstriert seine Entscheidungsgewalt als Herrscher (JS 7–17; fehlt im ÄS). Gleichzeitig federt die Szene diese für eine Freundschaft problematische Situation ab, indem Dietrich Hildebrant nicht nur Land und Leute, sondern auch seinen Bruder Diether anvertraut (JS 10,11–13 und 19,12 f.; fehlt im ÄS) und damit weitreichende herrschaftliche Befugnisse überträgt. Im Text wird dieser Komplex am Ende noch einmal aufgegriffen, wodurch ein thematischer Rahmen abgesteckt wird. Das Statusgefälle ist dabei über das Vehikel der Topologie probeweise invertiert: Dietrich ist tief unten in der Drachenhöhle gefangen und Hildebrant steht oben. Qua Topologie in die Herrschaftsposition versetzt, knüpft Hildebrant deutlich an die Problematik der Eingangsszene an, kritisiert Dietrichs Übergehen seines Rates und will –  quasi Dietrichs Handlungen wiederholend  – diesen allein lassen (JS  185,7–186,3; ÄS  27,6–28,3). Dietrich, nun symbolisch in der Situation des Beherrschten, gesteht seine Fehler und gelobt lebenslange Folgebereitschaft (JS  186,7–13; ÄS  28,7–13), die durch den thematischen Rahmen als Ideal wieder in Kraft gesetzt wird. Beim ersten, gescheiterten Rettungsversuch ist Dietrich abermals bereit und zwar in derselben Formulierung wie in der Eingangsszene, Hildebrant weitreichende herrschaftliche Befugnisse einzuräumen: «Ich enpfilch úch land und lu˙˙te / und Diether, den bru˙˙der mîn.» (JS 19,12 f. und 190,12 f.; ÄS 32,11–13) Die sonst handlungsleitende Symmetrie der beiden Figuren ist mit der schließlich glückenden Rettung Dietrichs wiederhergestellt.

207

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Zum Abschluss der Betrachtungen zu den Machtformen insbesondere Hildebrants möchte ich noch auf seine datensetzende Macht zu sprechen kommen, mittels derer er die Kontext- und Handlungsbedingungen von Dietrich beeinflusst. Da hierzu an verschiedenen Stellen schon Einiges ausgeführt wurde, genügt hier eine zusammenfassende Darstellung. Dietrich selbst nimmt Ansichten Hildebrants zunächst sehr kritisch auf, sobald sie Ratschläge zu konkreten Problemen wie etwa der Statthalterschaft in Bern o. Ä. überschreiten und auf den Kern des Heldseins und damit Dietrichs soziale Identität zielen. Auf das Textganze betrachtet, setzt sich Hildebrant allerdings durch: Dietrich wird jeweils Bern verlassen, zu Zwecken der Landessicherung oder des Frauendienstes gegen übermächtige Gegner kämpfen und dadurch Ruhm und Ehre erringen. Hildebrant bringt Dietrich zu Beginn des ‹Rosengarten› dazu, die Herausforderung Kriemhilds anzunehmen und im Verbund mit Wolfhart Kriemhilds Boten nicht zu töten. Im weiteren Verlauf akquiriert er Ilsan als Verstärkung für Dietrichs Kämpferpool und übernimmt die Kampforganisation. Schließlich kann er Dietrich unter noch größeren Anstrengungen zum Kampf gegen Siegfried reizen und ihn durch die Todeslist gleichsam zum Sieg führen. Im ‹Älteren  Sigenot› befreit Hildebrant Dietrich nicht nur aus den Fängen Sigenots und der Drachenhöhle wie auch im ‹Jüngeren Sigenot›, sondern er hat Dietrich auch im Kampf gegen Hilte «erlost» (ÄS 8,3; JS 3 f., aber hier tötet Dietrich Hilte und hilft damit Hildebrant). Im ‹Jüngeren  Sigenot› sind die Rettung des anderen und damit die datensetzende Macht über den Freund spiegelbildlich angelegt. Hildebrant rettet auch hier Dietrich vor Sigenot, das erscheint nun aber, wenn man so will, als Gegenleistung für die (im Vergleich zum ‹Älteren Sigenot› nun umgekehrte) Rettung Hildebrants durch Dietrich gegen Hilte. Auch wenn Hildebrant im ‹Jüngeren Sigenot› dezidiert, jedoch erfolglos zu verhindern sucht, dass Dietrich gegen Sigenot antritt, so ist im Sinne seiner datensetzenden Macht doch entscheidender, dass er überhaupt um die Bedrohung von Dietrichs Land weiß und ihm berichtet, wodurch er ihn allererst handlungsfähig und wehrhaft macht. Bei der Heimkehr der beiden nach Bern wird Hildebrants Einsatz vom Erzähler nicht nur als konstitutiv für die Aventiureerzählung von Dietrich und Hildebrant am Hof dargestellt, sondern sein Verdienst noch einmal gesondert herausgehoben (ÄS 44,7–12; ähnlich, aber weniger prononciert zu Hildebrants Beitrag JS 201,7–12). In der ‹Virginal› ist es wiederum Hildebrant, der um die Bedrohung von Virginals Land weiß, Dietrich zur Aventiure anleitet und ihm mehrfach im Kampf gegen Heiden und Drachen hilft. Rentwins Rettung aus dem Drachenmaul durch Hildebrant bewirkt die Aufnahme Dietrichs und Hildebrants in Arone und die Teilnahme Rentwins und Helferichs an der Befreiung Dietrichs aus Muter, deren Organisation und Führung Hildebrant ebenfalls übernimmt. In deren Folge kann Dietrich sich am Riesen Wickram rächen, der ihm während seiner Haft das Essen vorenthalten und zwei Mordanschläge auf ihn verübt hat, und sich darüber hinaus in den Drachenkämpfen im Wald beweisen. Nicht zuletzt hat Hildebrant Dietrich in die Lage versetzt, von Aventiure erzählen zu können (Aventiureerzählung gegenüber Virginal V10 1014–1024; fehlt in V12 und V11), womit sein eingangs aufgeworfener Mangel behoben ist. Insgesamt werden in der Figur Hildebrants die Möglichkeiten der Existenzsicherung Dietrichs, seiner Stellvertretung in wichtigen Herrschaftsangelegenheiten wie der Heeresorganisation, seines Ehr- und Herrschaftserhalts vereint. 208



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

2.3. Zur Dialektik von Orthodoxie und Heterodoxie in der Dietrich‑Hildebrant‑Freundschaft: Ein feld- und habitustheoretischer Annäherungsversuch Ich will an dieser Stelle zunächst einen Vergleich zu den anderen behandelten Texten dieser Arbeit anstellen, um darzulegen, dass mit Dietrich und Hildebrant eine komplexe, damit aber auch sehr wirkmächtige Freundschaft vorliegt. Danach will ich versuchen, das Profil dieser Freundschaft mittels der Denkfigur der Einheit näher zu bestimmen und dies durch den Rückgriff auf einige Aspekte aus der Theorie Bourdieus zu unterfüttern. Im Zusammenhang damit werde ich auch die bislang unberücksichtigte Wolfhart‑Figur im nächsten Unterkapitel in den Fokus rücken. Vom äußeren Zuschnitt der statusbedingten Asymmetrie der Freundschaft her betrach­ tet, ergeben sich Parallelen zu den Freundschaften Karls in ‹Karl  und  Galie›. Während dort David als Ratgeber und Dederich als herausragender Kämpfer agieren, vereint die Hildebrant‑Figur diese funktionale Aufteilung in sich. Die Kombination der in ‹Karl und Galie› auf zwei getrennte Freunde verteilten Machtmittel Wissen und Kampferfahrung und den damit einhergehenden Machtformen der instrumentellen wie v. a. der autoritativen Macht in der Figur Hildebrants macht ihn zu einem überaus (wirkungs‑)mächtigen Freund Dietrichs. Zugleich lassen sich Züge der symmetrischen Roland‑Oliver‑Freundschaft aus den Texten des Roland‑Stoffs bei Dietrich und Hildebrant wiedererkennen. Dies hängt wesentlich damit zusammen, dass Dietrich und Hildebrant eine ähnliche Kriegerfreundschaft verbindet wie Roland und Oliver und darüber hinaus die Unterschiede der Statusasymmetrie weitgehend nivelliert werden. Bei inhaltlichen Differenzen wird – wenn überhaupt – der Altersgegensatz,110 nie jedoch explizit das Statusgefälle in Anschlag gebracht. Der Vorteil einer intern symmetrischen Kriegerfreundschaft bei gleichzeitigen Asymmetrien hinsichtlich Status und Wissen ist im Vergleich zu den Texten des Roland‑Stoffs unübersehbar: Anders als Roland und Oliver bedrohen Dietrich und Hildebrant einander in ihrem Heldenstatus nicht. Beide können als Krieger nach Ehre streben, ohne einander Konkurrenz zu machen, weil der eine Herr und der andere Gefolgsmann ist und weil damit die Ehre des einen von der Ehre des anderen abhängt.111 Die bisherigen Textbeispiele unterscheiden sich zudem dadurch signifikant von der Dietrich‑Hildebrant‑Freundschaft, als der Tod des Freundes (David, Roland, Oliver, Vivianz, Rennewart) ein zentrales Motiv in den Männerfreundschaften bildete. Natürlich kann man sich darauf zurückziehen, dass das stofflich bedingt sei. Das will ich auch gar nicht in Abrede stellen, wenngleich die aventiurehafte gegenüber der historischen Dietrichepik –  was die historische Anbindung betrifft  – größere Spielräume hätte. Zu überlegen ist aber, ob die Anlage und Funktionalität der Freundschaft hier nicht mit dem Stoff, der höchstens eine Entrückung,112 nie jedoch den Tod Dietrichs vorsieht, interagiert. 110

Vgl. für die Verweise auf Hildebrants hohes Alter V10 113 (auch V12 229; Verweis auf das Alter fehlt in der ähnlichen Strophe V11  40); V10  649,12 f. (auch V12  634,12 f.; fehlt in  V11); V10  857,7 (fehlt in V12 und  V11) und V10  916 (fehlt in V12 und  V11). Verweise auf Dietrichs Jugend finden sich in V10  70 (auch V12  179 und V11 29); V10 161 (auch V12 260; Verweis auf Jugendlichkeit Dietrichs fehlt in der ähnlichen Strophe V11 53) oder V10 328,4 f. (auch V12 511,5; fehlt in V11). 111 So auch Malcher 2009, S. 282. 112 So die Darstellung im ‹Wunderer› und in der ‹Heldenbuchprosa›. In der Druckversion des ‹Eckenliedes› wird Dietrichs Tod zwar im Text, aber jenseits der histoire verzeichnet (e1 284,12 f.).

209

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Auch hierfür ist der Vergleich mit den anderen Männerfreundschaften der bisher untersuchten Texte aufschlussreich. Während David an dem Punkt, an dem die Herrschaftskrise Karls überstanden ist und damit seine Erzieher- und Ratgeberschaft ihre Funktion erfüllt hat, stirbt, wird Hildebrant aufgrund seiner Personalunion als Ratgeber‑Krieger und der perennierenden Gefährdung von Dietrichs Herrschaft nie funktionslos. Zugleich schlägt diese Gefährdung zu keiner Zeit in einen Gewaltexzess wie im ‹Willehalm› um, in dessen Folge der Freund stürbe. Aufgrund des distinkten Gepräges der Dietrich-Hildebrant-Freundschaft will ich mich ihr von einer vom Strukturalismus inspirierten Annahme nähern, dass Dietrich und Hildebrant gewissermaßen als Figurenset entworfen sind.113 Thesenartig zuspitzen ließe sich das dergestalt, dass Dietrich und Hildebrant nicht als voneinander unabhängige Figuren mit diversen Bezüglichkeiten aufeinander, sondern als einander ergänzende Einheit im Wortsinne konzipiert sind. Sie sind konstitutiv als Paar angelegt, in der die eine nicht ohne die andere Figur funktioniert. Hierbei ist der Freund allerdings keine schlichte Dopplung des jeweils anderen, sondern sowohl seine Dopplung als auch seine Spiegelung. Damit lässt sich einerseits ihre inhaltliche Übereinstimmung in vielen Punkten bei andererseits gleichzeitiger gegensätzlicher Figurenanlage und permanent konfliktanfälliger Beziehung beschreiben, die man gemeinhin eher nicht mit einer emphatisch verstandenen Freundschaft assoziieren würde. Die Übereinstimmungen zwischen Dietrich und Hildebrant wurden bereits verhandelt, sodass der Fokus im Folgenden dezidiert auf der Deutung ihrer erklärungsbedürftigen Auseinandersetzungen liegen soll. Ihr Antagonismus zeugt, anders als bei Roland und Oliver, nicht von Konkurrenz, sondern im Gegenteil von ihrer Kongruenz in der Komplementarität ihrer Freundschaft. Diese Denkfigur der Dopplung und Komplementarität der beiden Freunde in der Einheit Dietrichs und Hildebrants wie auch die später noch zu besprechende optionale Rolle Wolfharts darin lässt sich mit theoretischen Anleihen von Pierre Bourdieu reformulieren. So lässt sich die Funktion dieses Figurensettings für die Aussage der Gesamttexte und deren Sinn für die Frage der Herrschaftssicherung Dietrichs präzisieren.114 Ich werde dafür im Speziellen auf Bourdieus Konstrukte des Habitus, des Feldes, des Kapitals und zur Darstellung des Feldes auf die Begriffe der doxa, der Hetero- und Orthodoxie zurückgreifen. Bourdieu hat seine Habitus‑Theorie erstmals umfassend im «Entwurf einer Theorie der Praxis» anhand der kabylischen Gesellschaft dargelegt und damit an einer Gesell113

Im weiteren Verlauf wird sich zeigen, dass das Figurenset auch Wolfhart involviert. Da der Strukturalismus zwar Figurenkonstellationen beobachtbar macht, dies allerdings um den Preis, die Figuren bzw. deren besonderes Gepräge auszublenden, soll das hier nicht weiter verfolgt werden. Sowohl Propps Reformulierung der Figur als Handlungsfunktion als auch Greimas’ Aktantenmodell legen mittels eines hohen Abstraktionsgrades die Tiefenstruktur der Texte frei, geben aber kein Analysewerkzeug an die Hand, um die spezifische Textoberfläche beschreiben zu können. Vgl. Propp 1975 [1928] und Greimas 1970. 114 Für die Anwendung der Theorie Bourdieus im Kontext der Untersuchung von Freundschaftskonfigurationen spricht sich auch Münkler 2017, S. 58, aus: «Gerade weil für Freundschaft sowohl eine Ethik als auch ein Ethos entworfen worden ist, kann sie soziales und symbolisches Kapital im Sinne Pierre Bourdieus generieren. Hinsichtlich der Relevanz von Freundschaft für die Begründung, Stabilisierung und Differenzierung sozialer Ordnung ist es deshalb sinnvoll, neben Niklas Luhmanns Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien Pierre Bourdieus Begriff des sozialen Kapitals […] sowie die ihm zugrunde liegende Habitustheorie zu berücksichtigen. […] Freundschaftsbeziehungen können neben Verwandtschaft als solche Netze begriffen werden, mittels derer Individuen nicht nur in die Gesellschaft insgesamt, sondern in spezifische Teilsysteme integriert werden, die ihnen den Zugang zu sozialer oder politischer Macht ermöglichen.»

210



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

schaft im vormodernen Zustand. Ihre universelle Anwendbarkeit auf vormoderne wie (post‑)moderne Gesellschaftsformen hat Bourdieu zwar nie explizit postuliert, aber in seinen Untersuchungen unter Beweis gestellt,115 sodass eine Übertragung auf Texte, die die mittelalterliche Gesellschaft verhandeln, gestattet ist. Der Habitus ist ein wissenschaftliches Konstrukt, um die Vermittlung von Strukturen und Praxis zu analysieren und deren systematische Zusammenhänge aufzuzeigen. Es ist ein System dauerhafter Dispositionen einer Person und funktioniert als Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmatrix, die das praktische Tun leitet und gemäß den objektiven Strukturen eines spezifischen Standes die Weltsicht organisiert. Der Habitus greift auf eher passiv vorhandene Dispositionen zurück und lässt sie durch die Praxis sichtbar werden. Diese Dispositionen werden über verschiedene Mechanismen erworben oder vielmehr inkorporiert.116 Der Habitus erzeugt als ein generatives Prinzip Motive, Bedürfnisse, Geschmack etc. Die Erzeugungsprinzipien der Praxis beherrscht der Akteur dabei intuitiv: Er ‹kann› sie, aber er weiß nicht um sie. Stimmen Erwerbs- und Anwendungsbedingungen des Habitus relativ überein, so kann das Handlungssubjekt sinnhaft, vernünftig und in Übereinstimmung mit den objektiven Strukturen agieren. Für meine Überlegungen ist die Erwerbsgeschichte des Habitus, also die Sozialisation des Subjekts, ganz nachrangig gegenüber den Habitus‑Effekten beim praktischen Handeln. Der Habitus kann mittels weniger Schemata eine unendliche Vielzahl an –  auch strukturell unerwarteten – Praxisformen erzeugen.117 Bourdieu geht nämlich von einem dialektischen Verhältnis von objektiven Strukturen der Umwelt und den subjektiven Strukturen des Handelnden aus und erteilt damit sowohl deterministischen Handlungstheorien als auch solchen des freien Willens eine Absage und erklärt Handeln auf nicht‑kausale Weise.118 Der Habitus wirkt einerseits nicht mechanisch, weil sich seine Prinzipien weder aus der Summe der Stimuli der Praxis noch aus den Produktionsbedingungen des Habitus deduzieren lassen.119 Andererseits unterstellt Bourdieu keinen bewussten, zielgerichteten oder gar strategischen Einsatz des Habitus, dieser wirkt vielmehr unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des Handelnden.120 Dass Bourdieu keine starke Subjekt- und Bewusstseinsposition voraussetzt, macht die Habitus‑Theorie für eine Analyse heldenepischer Texte kompatibel, deren Figuren – zumindest dem Grade nach – über keine dem höfischen Roman vergleichbare Innerlichkeit und Individualität verfügen und über deren 115 Vgl.

Bourdieu 1979 [1972], wo er die Theorie auf die Kabylei, und Bourdieu 1982 [1979], wo er sie auf die französische Gegenwartsgesellschaft anwendet. Wie anschlussfähig Bourdieus Überlegungen für die Analyse mittelhochdeutscher Literatur sind, zeigen aber die Beiträge von Gebert 2012, Lagier 2006 und Wolf 2001, die sehr offensiv mit ihnen operieren. Vgl. dort auch die Hinweise zu den wenigen weiteren Beispielen der insgesamt zurückhaltenden Bourdieu-Rezeption (nicht nur) innerhalb der germanistischen Mediävistik, deren Ursachen insbesondere Wolf nachspürt und die Potenziale Bourdieus deutlich aufzeigt. 116 Um diesen körperlichen Aspekt der Dispositionen –  gegenüber dem vorrangig intellektuellen Bereich des Habitus (Denken, Wahrnehmen) – zu betonen, greift Bourdieu gelegentlich auf den Begriff der Hexis zurück, während er die beiden Begriffe andernorts synonym oder überlappend verwendet. Vgl. Bourdieu 1979 [1972], S. 195; Bourdieu 1993 [1980], S. 127. 117 Vgl. Bourdieu 1979 [1972], S.  170; 204; Bourdieu 92015 [1980], S. 102–104; Bourdieu in Bourdieu/​ Wacquant 2006 [1992], S. 155. 118 Vgl. Bourdieu 1979 [1972], S.  169; Bourdieu in Bourdieu/​Wacquant 2006 [1992], S. 154; Bourdieu 2001 [1997], S. 177. 119 Vgl. Bourdieu 1979 [1972], S. 170. 120 Bourdieu ebd., S. 165, führt aus, dass die vom Habitus hervorgebrachten Praxisformen «objektiv ihrem Zweck angepaßt sein können, ohne das bewußte Anvisieren der Ziele und Zwecke und die explizite Beherrschung der zu ihrem Erreichen notwendigen Operationen vorauszusetzen […].»

211

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Intentionen sich die Texte oftmals ausschweigen. Zugleich trägt Bourdieu durch die dialektische Anlage des Habitus‑Gebrauchs den Widersprüchen praktischen Handelns Rechnung.121 Indem er das Leitbild eines rationalen Akteurs überwindet, können auch solche Handlungen als vernünftig gelten, die nicht (zweck‑)rational sind oder gar irrational erscheinen.122 Auch das kommt der Anwendung auf Heldenepen entgegen, denen inhaltliche Inkohärenzen wiederum im Vergleich zum höfischen Roman wesentlich zukommen.123 Ich möchte für Dietrich und Hildebrant als Freundespaar sowie darüber hinaus für die gesamte Gruppe der Berner Helden die Homogenität bzw. Homologie der Habitus postulieren, die Bourdieu immer dann gegeben sieht, wenn relativ gleiche Existenzbedingungen ähnliche Dispositionen innerhalb einer Gruppe oder Klasse schaffen, sodass deren Praxisformen objektiv kongruent sind und für die Mitglieder der Gruppe als unmittelbar evident, selbstverständlich und vorhersagbar erscheinen, ohne dass es dazu einer expliziten Abstimmung bedürfte.124 Dies ist prinzipiell möglich, weil der individuelle Habitus ein zwar subjektives, aber eben nicht‑individuelles System verinnerlichter Strukturen, sondern Ausdruck und Widerspiegelung der Klasse bzw. Gruppe ist.125 Diese Verschiedenheit der Habitus in ihrer Gleichartigkeit zeitigt dann Universalisierungs- wie Partikularisierungseffekte: Die Mitglieder einer Gruppe werden zu einer Einheit, indem sie sich von allen anderen unterscheiden. Das trifft auf die Gruppe der Berner Helden zu, bei denen die Übereinstimmung der Habitus ihre unproblematische kollektive Mobilisierbarkeit etwa bei der Herausforderung im ‹Rosengarten› oder dem großen Heeresaufgebot in der ‹Virginal› zur Befreiung Dietrichs aus Muter ermöglicht.126 Wo ein ähnlich gelagerter Habitus zu finden ist, werden in den Texten auch explizit Optionen der Assoziierung weiterer Helden außerhalb des Bernerkreises ausgestellt.127 Schließung nach innen und Abgrenzung nach außen durch homologe Habitus treffen aber im Speziellen auf die Freundschaft zwischen Dietrich und Hildebrant zu. Bourdieus 121

Bourdieu ebd., S. 211, konstatiert, dass die Praxis offene Strukturen, Unbestimmtheiten, Ungenauigkeiten und Inkohärenzen aufweise, weil sie praktischen Funktionen unterworfen ist. «Der Praxis muß demzufolge eine Logik zugeschrieben werden, die keine der Logik ist, um damit zu vermeiden, ihr mehr Logik abzuverlangen, als sie zu geben in der Lage ist, und sich auf dieses Weise dazu zu verurteilen, entweder Inkohärenzen in ihr aufzudecken oder ihr eine Kohärenz aufzwingen zu wollen.» (S. 248) So auch Bourdieu 92015 [1980], S. 167. 122 Vgl. Saalmann 2009, S. 274, wo er die oben genannten Vorzüge der Theorie gegenüber klassischen Handlungstheorien um weitere Punkte vermehrt. 123 Diese Inkohärenzen werden in der Forschung mittlerweile aber nicht mehr als Argument für die minderwertige Ästhetik der Texte in Anschlag gebracht. Vgl. dazu zuletzt die Beiträge im Sammelband von Federow/​ Malcher/​Münkler 2017. 124 Vgl. Bourdieu 1979 [1972], S. 172–189; auch Bourdieu 92015 [1980], S. 98, 108–112. 125 Vgl. Bourdieu 92015 [1980], S. 112. 126 Vgl. Bourdieu 1979 [1972], S. 177 f., verweist darauf, dass «Unternehmen kollektiver Mobilisierung erfolglos bleiben ohne ein Minimum an Übereinstimmung zwischen dem Habitus der Agenten, die die Mobilisierung antreiben (etwa Propheten, Parteiführer usw.), und den Dispositionen derjenigen, deren Aspirationen zum Ausdruck zu bringen jene sich bemühen.» Dies wiederholt er 20159 [1980], S. 111. 127 Das lässt sich mit Bourdieus 1979 [1972], S. 216, Überlegungen unterfüttern, wonach die Konvergenz von Interessen zwischen konfligierenden Gruppen durch die Übereinstimmung der Dispositionen gestiftet wird. Das lässt sich in der Dietrichepik beobachten, wenn Walther von dem Wasenstein und Dietleib von Stire im Rosengartenkampf getrennt werden, um sich nicht zu töten, und anschließend eytgesellen (RG A ÄF 307,2) werden. Auch Wolfhart und Hagen schließen am Schluss des ‹Rosengarten› D frúntschaft (RG D v. 2296 und 2299). In der Wiener und Dresdner ‹Virginal› werden Dietrich und der ihn in Arone zum Zweikampf herausfordernde Ritter Libertin nach dem Kampf zu czwen gesellen gut (V12 393,1; auch V11 85,5 f.; fehlt V10).

212



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

Ansicht nach fußen nämlich selbst intimste Beziehungen wie Liebesbeziehungen und Freundschaften auf der Gleichheit der Habitus, weil der Habitus des einen besonders affin für den des anderen ist und weil sich der Habitus gewissermaßen diejenigen Bedingungen ‹sucht›, innerhalb derer er sich quasi‑natürlich entfalten kann. Bis hin zu den Formen, die sich mehr in der Sprache der ‹intentionalen Einfühlung in den anderen› gehaltenen Beschreibungen anzubieten scheinen, wie Sympathie, Freundschaft oder Liebe, findet sich keine einzige Interaktionsform, die nicht immer noch […] durch die Übereinstimmung der Habitusformen hindurch […] durch die objektive Struktur der Beziehungen zwischen den Bedingungen und den Positionen beherrscht wäre: Die Illusion über die gegenseitige Auslese oder Prädestination entspringt der Unkenntnis über die gesellschaftlichen Bedingungen der Übereinstimmung ästhetischer Geschmäcker oder ethischer Neigungen, die auf diese Weise als Bestätigung der unaussprechlichen Affinitäten, die sich begründet, wahrgenommen wird.128

Die Homologie der Habitus von Dietrich und Hildebrant konnte oben bereits daran abgelesen werden, dass sie als die beiden herausragenden Helden der epischen Welt wahrgenommen werden, dass sie gemeinsam kämpfen und davon erzählen, dass sie gegenseitig der Inhalt der internen Fokalisierungen sind etc. Mittels der Homogenität der Habitus lassen sich jene Aspekte der Übereinstimmung und Harmonisierung der Dietrich‑Hildebrant‑Freundschaft theoretisch fassen, die wiederum stellvertretend für die Identität des gesamten Berner Heldenverbandes steht. Mit den bisher herangezogenen Bestandteilen der Habitus-Theorie kann man die Geschlossenheit der Berner Helden beschreiben, man kann damit aber auch an Dietrich selbst sehen, wie der Habitus Situationen benötigt, die ihm entsprechen, um sich quasi‑natürlich zu entfalten. Man erfährt in den Texten der Dietrichepik zwar retrospektiv etwas dazu, wie Dietrich seinen Habitus erworben hat, wenn an verschiedenen Stellen an die Erziehung durch Hildebrant erinnert wird. Was man aber in actu nicht vorgeführt bekommt, ist dessen Inkorporation. Dietrich durchläuft in der Tat keine Entwicklung, er ist – typisch für die Heldenepik – immer schon ein Held. Die Erwartung an einen Lernund Erfahrungszuwachs wird zwar durch die omnipräsente Bezeichnung Hildebrants als meister geweckt, aber durch die weiter unten noch genauer zu betrachtenden wechselnden Positionen zwischen Dietrich und Hildebrant sowie durch Dietrichs bereits bei Eintritt in die jeweilige Geschichte weit verbreiteten Ruf als herausragender Kämpfer ungeachtet seines textinternen ‹Lernstandes› unterlaufen.129 Wer dessen ungeachtet eine Entwicklung erwartet, kann am Ende nur konstatieren, dass Dietrich bis zum Schluss nichts dazugelernt hat und dies in auffälliger Weise seinem Ruf widerspricht. Dietrich begehrt in der ‹Virginal› ja selbst noch vor Beginn der letzten Kämpfe gegen Riesen und Drachen im Wald auf dem Weg zu Virginal gegen Hildebrants Appell, sich für die anstehenden Kämpfe zu rüsten, auf, will nicht kämpfen, sondern 128

Bourdieu 1979 [1972], S. 181 f. Bourdieu 1993 [1980], S. 154, formuliert in Bezug auf den Gütererwerb als Ausdruck des Habitus: «Auch alle Wahlobjekte –  Wahlverwandtschaften  – wie etwa Sympathie-, Freundschafts- und Liebesbeziehungen muß man sich, will man nicht schockieren, passend zu diesen Gütern suchen.» Vgl. auch Bourdieu 2001 [1997], S. 192 und Bourdieu 52016 [2001], S. 29 und 35. 129 Die Frage der Figurenentwicklung in Heldenepen problematisiert grundlegend Lienert 2015b. Belege für Dietrichs omnipräsenten Ruf als kampferfahrener und tüchtiger Helden wären etwa: V10 71,2 (auch V12 180,2; fehlt in V11); V10 81,10 und 82,2 (fehlt in V12 und V11); V10 162,10 f. (auch V12 281,10 f. und V11 53,13); V10 236; 431,11; 852,7 f.; 854,4–7; 858,6–8 (fehlt jeweils in V12 und V11) und V12 371,6–13 (ähnlich V11 78,12 f.; fehlt in V10).

213

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

stattdessen ins sichere Lager zurückkehren (V10 851; fehlt in V12 und V11). Von Erkenntniszuwachs kann da in der Tat keine Rede sein. Das Lehrer‑Schüler‑Modell ist insofern gänzlich ungeeignet, um die Beziehung zwischen Dietrich und Hildebrant sowie Dietrichs Handlungen zu fassen: Weder ist Dietrich ein (schlechter) Schüler noch Hildebrant ein (guter oder schlechter) Lehrer.130 Was man mit den Überlegungen Bourdieus hingegen sehen kann, ist der Zusammenhang, dass der Habitus Situationen ‹aufsucht›, die zu ihm passen, wie also Dietrichs Heldenhabitus Kampfsituationen benötigt, um mit der größtmöglichen Selbstverständlichkeit agieren zu können. Dass es in den Texten nicht um das Inkorporieren, sondern das Zeigen des Heldenhabitus in einer besonderen Situation geht, verbalisiert Hildebrant, wenn er Dietrich in der ‹Virginal› aus einiger Entfernung beim Kampf beobachtet: «Min here in zorne brinnet. Er důt recht als ein edel hunt, dem das wasser in den munt get, und er danne swimet. Er wil sich fristen vir den dot, der edel Bernner, im selber helffen usser not mit starcken slegen swere. Die krafft ich an dem herren spúr, das ich sin cleine sorge han vor sinen figenden hinan fúr.»  (V10 105,3–13; auch V12 221,3–3; ähnlich V11 37,11–13)

Was Hildebrant mittels des Hundevergleichs anspricht, ist nicht so sehr der Sachverhalt, dass Dietrich ein kämpferisches Naturtalent ist, sondern dass es seinem Habitus 130 Ohne

das hier im Detail ausführen zu wollen, sei nur auf die zahlreichen Arbeiten zum pädagogischen Problemfall Dietrich verwiesen: Zips 1979, S. 148–151; Gillespie 1987, S. 76; Peschel-Rentsch 1998, S. 197; Breyer 2000, S. 71; Goller 2009, S. 503; Harms 2013, S. 132 und 134; Lienert 2015a, S. 129; Knäpper 2016, S. 46. Das Spektrum der Einschätzungen zum Glücken oder Scheitern von Dietrichs Lernweg und der diskutierten Gelingensfaktoren in diesem Zusammenhang zeigt m. E., dass die erzieherische Optik der bisherigen Forschung fehlgeht. Welche Auswüchse das Entwicklungsmodell annehmen kann und welche Glättungen es in Kauf zu nehmen bereit ist, sieht man bei Kragl 2013, S. 346: «Am Ende sieht alles danach aus, als wären die vielen ‹alten› Streitereien zwischen Dietrich und Hildebrand nur Stationen von Dietrichs Sozialisation zum tapferen Helden. Dietrich mutiert zu Hildebrand. Auch wenn man sich fragen mag, wie denn das nun genau funktioniert mit Dietrichs Heldenwerdung, wenn Dietrich immer schon perfekt scheint, immer schon seinen Ruhm mit sich herumschleppt; das Erwachsen‑Werden wirkt wie eine aufgesetzte Motivation […]. Fast scheint es, als wäre der Ausgang der Debatte nebenrangig.» Mhamood 2012, S. 54, deutet die ‹Virginal› dahingehend, dass Dietrichs Erziehungsprozess als Aventiureweg umgedeutet werde in einen Lehrpfad mit regelmäßigen Motivationseinbrüchen und Streitigkeiten über die Erziehungsmethoden, wobei gerade die Streitereien der Erziehungsthematik größere Präsenz verschaffe: «Indem sich Dietrich auf der Parodieebene damit seiner Arthurisierung widersetzt, droht die höfische Überformung dieser Heldenfigur zu scheitern, was Hildebrand in seiner Funktion als Erzieher zu verhindern sucht. So gesehen steht auch der Lehrer‑Schüler‑Konflikt im Zeichen der bereits auf der Strukturebene festgestellten, dynamisch angelegten Konzeption der Heidelberger ‹Virginal› als parodistische Travestie.» Schon Heinzle 1978, S. 242, setzt für die ‹Virginal› hingegen die statische Idealität Dietrichs voraus und setzt dessen Entwicklung daher in Anführungszeichen, die er als Anpassung an den höfischen Roman deutet. Kropik 2004, S. 166, macht die Tatsache, dass Dietrich in der ‹Virginal› unbelehrbar scheint, stark und deutet die Streitereien vor dem Hintergrund eines literarischen Metadiskurses, der auf andere Texte der aventiurehaften Dietrichepik Bezug nehme. Malcher 2009, S. 146, Fn. 26, erklärt den Widerspruch zwischen dem Wissen um Dietrich als stärkstem Helden und seiner Aventiureunwissenheit treffend mit den verschiedenen Wissensniveaus zwischen der Welt des Erzählens und der aktuell erzählten Welt, die nicht scharf getrennt werden.

214



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

entspricht, in Notsituationen so zu kämpfen, wie ein Hund im Wasser anfängt zu schwimmen. Die entsprechende Stelle in der Dresdner Version macht das ganz deutlich: «Ich [d. i. Hildebrant] sich wol, wen dich [d. i. Dietrich] treibt die not / und auch nit anders mag gesein, / so schlechstu manchen heiden dot.» (V11 37,11–13) Dieses ‹Aufsuchen› Habitus‑konformer Situationen ist fest an die Figur Hildebrants gekoppelt. Dietrich muss, um seinen Heldenhabitus quasi‑natürlich entfalten zu können, jeweils Bern verlassen und in eine Kampf- bzw. Ausnahmesituation gebracht werden – dafür sorgt regelmäßig Hildebrant.131 Mit der Not- bzw. Kampfsituation, in die Dietrich versetzt werden muss, ist das Stichwort für eine weitere Öffnung der Perspektive hin zur Theorie des Feldes Bourdieus gegeben, welches das externalisierte Komplement zum internalisierten Habitus darstellt. Habitus und Feld sind relational, insofern sie nur zusammen funktionieren – ein Habitus ohne eine entsprechende Struktur wäre unvollständig. Habitus und Feld stehen zum einen im Verhältnis der Konditionierung, da das Feld den Habitus strukturiert, der wiederum das Produkt der Inkorporierung der immanenten Notwendigkeit dieses Feldes oder eines Ensembles von mehr oder weniger konkordanten Feldern ist. Feld und Habitus stehen zum anderen auch im Verhältnis der Erkenntnis bzw. kognitiven Konstruktion, da der Habitus dazu beiträgt, das Feld als eine signifikante, sinn- und werthaltige Welt zu schaffen, in die Investition von Energie lohnt.132 Ein Feld ist ein relativ autonomer Bereich innerhalb der sozialen Wirklichkeit, der eigenen Gesetzen und Notwendigkeiten folgt und eine eigene Struktur der von Bourdieu unterteilten Kapitalsorten aufweist, um deren Erwerb permanent gespielt bzw. gekämpft wird.133 Analytisch gesprochen wäre ein Feld als ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen zu definieren. Diese Positionen sind in ihrer Existenz und auch in den Determinierungen, denen die auf ihnen befindlichen Akteure oder Institutionen unterliegen, objektiv definiert, und zwar durch ihre aktuelle und potenzielle Situation (situs) in der Struktur der Distribution der verschiedenen Arten von Macht (oder Kapital), deren Besitz über den Zugang zu den in diesem Feld auf dem Spiel stehenden spezifischen Profiten entscheidet, und damit auch durch ihre objektiven Relationen zu anderen Positionen (herrschend, abhängig, homolog usw.).134

Was ich bisher als das Aufsuchen einer Habitus‑konformen Situation durch Dietrich beschrieben habe, nennt Bourdieu wahlweise den praktischen Sinn bzw. den Sinn für das Spiel des Feldes. Er beschreibt damit eben jene vorweggenommene Anpassung an die Erfordernisse des Feldes durch den entsprechenden Habitus. Wegen der Zugehörigkeit zum Feld erscheint innerhalb des Feldes alles sinnvoll und selbstverständlich, erhält Bedeutung, 131 Wozu

Hildebrant Dietrich bringen muss, ist nicht die Inkorporation eines heldischen Habitus – den besitzt Dietrich immer schon  –, sondern die Konfrontation mit Habitus‑konformen Situationen. Ich werde weiter unten noch mit Bourdieus Überlegungen zum Feld und dessen doxa operieren. In dieser Perspektive ließe sich reformulieren, dass Hildebrant Dietrich in die Lage versetzt, doxische Erfahrungen zu machen. Vgl. Bourdieu 92015 [1980], S. 51, wo er die doxischen Erfahrungen als praktische epoché umreißt. 132 Vgl. Bourdieu in Bourdieu/​Wacquant 2006 [1992], S. 160 f. 133 Wacquant beschreibt das Feld in Bourdieu/​Wacquant 2006 [1992], S. 36, als Ensemble objektiver historischer Relationen, die auf bestimmten Formen von Macht bzw. Kapital beruhen. Bourdieu gibt nie eine definitive Kodifikation von Anzahl und Art der Felder. Es wird allerdings deutlich, dass die Anzahl der Felder zunimmt und diese umso autonomer werden, je größer, komplexer und arbeitsteiliger eine Gesellschaft wird. Vgl. Müller ²2016, S. 72, 81. 134 Bourdieu in Bourdieu/​Wacquant 2006 [1992], S. 127.

215

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Richtung und gibt Orientierung.135 Diesen Zusammenhang umreißt Bourdieu als feldspezifische illusio bzw. doxa,136 die all das umfasst, was stillschweigend als selbstverständlich hingenommen wird.137 Eine bedeutsame Eigenschaft eines Feldes besteht darin, daß es Undenkbares enthält, das heißt Dinge, die überhaupt nicht diskutiert werden. […] [D]ie Doxa [ist] […] die Gesamtheit dessen, was als Selbstverständliches hingenommen wird […]. Das Verborgenste ist das, worüber alle Welt sich einig ist, so einig, daß nicht einmal darüber gesprochen wird, ist das, was außer Frage steht, was selbstverständlich ist.138

Die spezifische Logik eines Feldes nimmt in einer spezifischen doxa Gestalt an und wird praktisch nicht explizit artikuliert oder vorgeschrieben.139 Die eigenen Dispositionen finden dabei Verstärkung in den Handlungen anderer Mitglieder oder Institutionen im Feld: «Die Evidenz der Welt wird durch die Evidenz der Diskurse gleichsam verdoppelt, und damit erfährt zugleich die Zustimmung der Gruppe zu dieser Evidenz ihre Bekräftigung.»140 Mit Blick auf die Texte scheint es mir zulässig, von einem Feld der Gewalt zu sprechen,141 denn Bourdieu erläutert, dass die Grenzen des Feldes mit den Grenzen ihrer Effekte bzw. Regulierungsprinzipien zusammenfallen: Ein Akteur oder eine Institution gehören zu einem Feld, wenn sie dessen Effekten unterliegen und Effekte in ihm produzieren.142 Insofern die doxa eines Feldes Handelnden außerhalb des Feldes unverständlich bleibt, sind die Feldgrenzen genau genommen Verstehensgrenzen.143 Da den Frauen in den Dietrichepen, aber beispielsweise auch den Zwergen oder den Berner 135 Vgl.

Bourdieu 92015 [1980], S. 122–124. Bourdieu in Bourdieu/​Wacquant 2006 [1992], S. 161, umschreibt es so: «Und wenn der Habitus ein Verhältnis zu der sozialen Welt eingeht, deren Produkt er ist, dann bewegt er sich wie ein Fisch im Wasser und die Welt erscheint ihm selbstverständlich.» 136 Die feldspezifische illusio ist eine besondere Form der doxa. Sie ist der Glaube an den Sinn und den Wert der Aktivitäten im Feld, während die doxa die inhaltlichen Überzeugungen im Allgemeinen umfasst. Vgl.  Bourdieu 92015 [1980], S. 122 und Bourdieu 2001 [1997], S. 19 f. Für den hier vorliegenden Fragenkomplex kann es hintangestellt bleiben, ob die illusio erst mit Eintritt in ein Feld erworben oder bereits vorausgesetzt wird. Das bleibt bei Bourdieu offen. 137 Vgl. Bourdieu 1979 [1972], S. 327. Der Umfang der doxa ist dabei umso größer, je stabiler die objektiven Strukturen der Gesellschaftsformation und je vollständiger sich deren Reproduktion in den Dispositionen der Handelnden vollzieht. 138 Bourdieu 1993 [1980], S. 80 f. So schon Bourdieu 1979 [1972], S. 331: «Die Doxa bildet jenes Ensemble von Thesen, die stillschweigend und jenseits des Fragens postuliert werden […].» 139 Bourdieu 2001 [1997], S. 20. Die Voraussetzungen des Feldes und seiner doxa können auch deswegen implizit bleiben, weil die Teilnahme am Spiel des Feldes nicht zu verwechseln ist mit einem bewussten, überlegten Engagement oder einer ausdrücklichen Verpflichtung. 140 Bourdieu 1979 [1972], S. 329. 141 Es wurde Bourdieu vorgehalten, dass man für moderne und postmoderne Gesellschaften nicht davon ausgehen könne, dass man nur für ein einziges Feld die passenden Dispositionen ausweise, weil man täglich zwischen verschiedenen Feldern wechselt, ohne daran zu leiden. Vgl. Fröhlich 2009, S. 89. Das ist mit Blick auf die vormoderne Gesellschaft der untersuchten Texte eine vernachlässigbare Kritik, da diese auf eine adlige Kriegergesellschaft fokussieren. 142 Vgl. Bourdieu in Bourdieu/​Wacquant 2006 [1992], S. 128–130 und 266. Die Grenzen des Feldes fallen zusammen mit der Wirksamkeit der Kapitalsorten in ihnen. Die Bestimmung der Grenzen des Feldes erfolgt immer im Feld und kann nicht a priori geschehen. 143 Bourdieu 2001 [1997], S. 20, erläutert, dass die Unabhängigkeit der Felder mit einer gewissen Unkommunizierbarkeit einhergeht: Die Einsätze des Spiels im Feld sind Akteuren anderer Felder oder Laien unverständlich, uninteressant oder erscheinen zwecklos. Die Logik des einen Feldes kann für eine andere unsichtbar, unbedeutend oder illusorisch sein. Die rückhaltlose Selbstaufopferung eines Künstlers ist einem Bankier beispielsweise gänzlich unverständlich. Vgl. ebd., S. 123.

216



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

Bürgern die Erfordernisse des Kampf- und Aventiurewesens unverständlich bleiben, während sie unter den Helden selbstverständliche Praxis bilden, kann man von einem Feld der Gewalt sprechen. Daneben scheinen die Texte noch ein Feld der Sublimierung von Gewalt zu kennen, das im höfischen und monastischen Bereich sowie in Teilen der Anderwelt (vorrangig bei den Zwergen) regiert. Beide können bis zu einem gewissen Grad noch miteinander kommunizieren, etwa wenn der Konnex, Frauendienst mittels Gewalt zu leisten, in beiden Feldern angenommen wird, aber sie folgen en gros einer je eigenen Logik und sind einander inkommensurabel.144 Durch die gegenseitige Bezüglichkeit beider Felder bei gleichzeitiger Eigenständigkeit möchte ich im Hinblick auf Dietrich von den beiden als Subfeldern des Feldes der Macht sprechen.145 Das Feld der Macht liegt dabei nicht auf derselben Ebene, sondern umfasst die beiden Subfelder teilweise und bildet eine Art Metafeld.146 Zu den doxischen Beständen des Feldes der Gewalt gehört unter anderem, dass symbolisches Kapital,147 also Ehre, Ansehen, Charisma und damit der Heldenstatus, nur 144 Es

seien nur wenige Beispiele angeführt, an denen sich die Spannungen und Grenzen zwischen den beiden Subfeldern ablesen lassen: Der von Dietrich im ‹Jüngeren Sigenot› gerettete Zwerg Baldung will Dietrich aktiv vom Kampf abbringen und ihm dafür Schätze und seinen Berg übereignen (JS  50 f.; fehlt im  ÄS). Baldung versteht vom Feld der Sublimierung der Gewalt aus gesehen Dietrichs Kampfeswillen nicht und bietet eine Kompensation an, die auf dem Feld der Gewalt allerdings wertlos ist. Während es für Sigestap (JS  121; gesamte Szene fehlt im  ÄS), Wolfhart (JS  122; fehlt im  ÄS) und Hildebrant (JS  128 f.; fehlt im  ÄS) unhinterfragt klar ist, dass Dietrich befreit bzw. gerächt werden muss, sucht Ute zu verhindern, dass Hildebrant auszieht (JS 125; 127; fehlt im ÄS). Wolfhart spöttelt, sie solle nicht um so einen alten Mann trauern, sondern sich lieber einen jungen zum Trösten suchen (JS 126; fehlt im ÄS). Das Lachen der Ritter und Knechte über Utes Einmischung (JS  128,6–8; fehlt im  ÄS) zieht die Grenze zwischen den beiden Feldern nochmals nach. In dieselbe Richtung stößt Wolfharts unmittelbar folgender, selbstironischer Kommentar über die Wirkung von Frauenküssen im Kampf in Bezug auf den Kuss Utes für Hildebrant (JS 130–132; fehlt im ÄS). Auch im Dialog in der Heidelberger ‹Virginal› zwischen Dietrich und Ibelin in der Gefangenschaft auf Muter wird die Nicht‑Zugehörigkeit der Frauen bzw. die Zugehörigkeit der Helden zum Feld der Gewalt nachgezeichnet und Ibelin in den Mund gelegt, wenn Dietrich fragt, ob jede Gefangenschaft so schlimm sei (V10 497,1–11; fehlt in V12 und V11). Angekommen in Nitgers Land ordnet Hildebrant dessen Brandschatzung an, worüber sich Wolfhart, Witege und Heime freuen (V10 663; fehlt in V12 und V11) und es gemeinsam ausführen (V10 664; fehlt in V12 und V11). Ute stellt Wolfhart allerdings zur Rede und behauptet, er verhalte sich wie ein Heide (V10 665; fehlt in V12 und V11). 145 Hier von Feldern zu sprechen, hat den nicht zu unterschätzenden Vorteil, sich nicht mit der von der Forschung oft (und z. T. unreflektiert) betriebenen Auslese höfischer Elemente in der aventiurehaften Dietrichepik abmühen zu müssen. Gattungen werden dabei ontologisiert, obwohl deren zeitliche Variabilität nicht von der Hand zu weisen ist. Zudem scheinen mir solche Versuche hinter den konstitutiven Zustand der Hybridität der Heldenepen zurückzuwollen. Zur Betrachtung von Gattungsinterferenzen in der aventiurehaften Dietrichepik allgemein vgl. Heinzle 1978, S. 233–236; Heinzle 1999; Knapp 2005; in der ‹Virginal› Kerth 2004 und Knäpper 2016; im ‹Eckenlied› Haustein 1998; im ‹Rosengarten› Bennewitz 2000. 146 Vgl. Wacquant in Bourdieu/​Wacquant 2006 [1992], S. 38. Müller ²2016, S. 81, beschreibt es so: «Eine Art Metastatus hat das Feld der Macht (das ‹Machtfeld›) inne, in dem sich Macht und Herrschaft so konzentrieren, dass hier nicht nur die wichtigsten Entscheidungen für eine Gesellschaft fallen, sondern auch über den Wert der Währungen und Kapitalsorten, die Durchsetzung und Anerkennung versprechen, befunden wird. […] Insofern ist das Machtfeld auch der Hort von symbolischem Kapital, symbolischer Herrschaft und symbolischer Gewalt. […] Es ist das Zentrum einer Gesellschaft, in dem um die Prinzipien der legitimen Sichtweise (Vision) und der Teilungen (Division) und damit um das Meta‑Kapital gerungen wird.» In modernen Gesellschaften sind, so Bourdieu, Markt, Staat und Medien, danach die Kirche die wichtigsten Komplexe und machen unter sich das Feld der Macht aus. 147 Bourdieu unterscheidet in seiner Kapitaltheorie in Erweiterung des Marx’schen Kapitalbegriffs drei Kapitalarten: ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital. Vgl. dazu die dichteste Zusammenfassung bei Bourdieu 1983. Daneben existiert als eine Art Metakapital das symbolische Kapital. Es lässt sich als Prestige, Autorität oder guten Ruf wiedergeben und kann daher in vormodernen Gesellschaften das kostbarste Kapital sein. Es ist zugleich sehr labil. Vgl. Bourdieu 1979 [1972], S. 349 und 375. Bourdieu 2001 [1997], S. 310. Das

217

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

mittels Gewalt errungen werden kann. Für Dietrich wiederum ist die Akkumulation symbolischen Kapitals unmittelbar herrschaftsrelevant im Feld der Macht – dies umso mehr, da in den Texten dem Subfeld der Gewalt mehr Relevanz zugeschrieben wird als jenem der Sublimierung der Gewalt (s. u.). Befindet sich Dietrich einmal im Kampf, handelt er auch wie selbstverständlich nach diesem Prinzip, also gemäß der doxa bzw. des praktischen Sinns.148 Sein Habitus als Held reagiert damit weitgehend kohärent und systematisch auf die Anforderungen des Feldes der Gewalt, eben weil sein Habitus zum Feld passt. Wozu dienen dann aber die um diese Kämpfe gruppierten Streitereien mit Hildebrant? Ich hatte bereits erläutert, dass sie die Zugehörigkeit der beiden Freunde gerade nicht in Frage stellen, sondern weiter zementieren. Sie haben aber, meine ich, noch eine weitere Funktion für das Textganze, mit der sich auch die Relevanz für die Freundschaft noch einmal präziser fassen lässt. Ich lese die Auseinandersetzungen so, dass sich in Hildebrant und Dietrich, je nachdem in welchem Feld gerade agiert wird, die Pole der Orthodoxie und der Heterodoxie gegenüberstehen. Hildebrant hebt dabei beispielsweise regelmäßig (aber nicht durchweg) die sonst implizit bleibenden Inhalte der doxa des Feldes der Gewalt auf die Diskursebene und vertritt damit die Position der Orthodoxie. Dietrich stellt sich dem regelmäßig entgegen, versucht, die Regeln der doxa zu unterwandern, und positioniert sich am heterodoxen Pol. Die radikale Kritik der Heterodoxie, aber auch objektive Krisen bringen «das Undiskutierte zur Diskussion, das Unformulierte zur Formulierung», indem die Evidenz der Strukturen hinterfragt wird, die durch Angepasstheit der subjektiven an objektiven Strukturen gegeben ist bzw. war.149 Sie impliziert die Vorstellung einer Wahl und versucht, die Handlungsspielräume zu öffnen. Der orthodoxe Diskurs gibt demgegenüber gewissermaßen die offizielle Weise, von der Welt zu denken und zu sprechen, vor und verschleiert damit zugleich den Bereich des Undiskutierten und der Evidenzen.150 Indem die Orthodoxie die Ordnung trotz konkurrierender Erfahrungs- und Deutungsmöglichkeiten aufrechtzuerhalten versucht, reduziert sie Handlungsmöglichkeiten. Die inhaltliche Divergenz zwischen Dietrich und Hildebrant ist dabei stets als maximaler Gegensatz und nie nur als graduelles Abweichen von der Position des anderen gestaltet. Der Antagonismus konvergiert hierbei mit den äußeren Parametern ihrer Asymmetrie als Herr und Gefolgsmann, aber auch als junger Held und alter Kämpfer.151 Beide befragen symbolische Kapital, so Müller ²2016, S. 54, erlaubt es, Rolle, Gewicht, Bedeutsamkeit eines Akteurs oder einer Gruppe anhand des Gesamtumfanges der Kapitalsorten zu taxieren. Es erteilt damit eine verbindliche Auskunft über Status und Stellung eines Akteurs in der Gesellschaft. 148 Bourdieu 92015 [1980], S. 191, erläutert, dass der praktische Sinn als Meisterschaft mit der automatischen Sicherheit eines Instinkts funktioniert und so ermöglicht, auf alle denkbaren Situationen und Mehrdeutigkeiten der Praxis zu reagieren. 149 Direktes Zitat und Paraphrase aus Bourdieu 1979 [1972], S. 331. 150 Vgl. ebd., S. 332. Bourdieu 1993 [1980] ordnet die Orthodoxie den Herrschenden und die Heterodoxie bzw. Häresie den Beherrschten eines jeweiligen Feldes zu. Das scheint zunächst nicht auf Dietrich und Hildebrant zu passen, aber einerseits sind die Positionierungen von Dietrich und Hildebrant am hetero- oder orthodoxen Pol nicht fest (s. u.) und andererseits stellt Hildebrant im übergeordneten Feld der Macht die beherrschte Fraktion innerhalb der Herrschenden (s. u.), also ist auch diese Bestimmung eher relativ. 151 Die Momente der Übereinstimmung oder der Antagonie Dietrichs und Hildebrants lassen sich daneben, so scheint es, nicht weiter nach bestimmten Variablen systematisieren. Die beiden Pole der Beziehung sind nicht räumlich etwa dergestalt distribuiert, dass in Bern oder überhaupt in höfischer Umgebung Diskordanz und im Wald bzw. in Kampfsituationen Einklang herrschte. Auch die Anwesenheit beider Freunde oder ihre Trennung lassen keine Rückschlüsse auf Konsens oder Dissens zu. Dass sich die Situationen von Ein- und Zwietracht zwischen Dietrich und Hildebrant nicht weiter rastern lassen, deutet darauf hin, dass frei mit beiden Polen sowie mit der jeweiligen Positionsverteilung bei Uneinigkeiten gespielt werden kann.

218



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

in den Streitereien die unhinterfragt vorausgesetzte doxa, bleiben aber jeweils innerhalb ihrer Grenzen. Das bedeutet, dass sie an allem, was die Existenz des Feldes betrifft, ein gemeinsames Grundinteresse haben und das macht ihre objektive Übereinkunft darüber, was Kampf überhaupt wert ist, was also das Feld ausmacht und sonst undiskutiert als doxa vorliegt, trotz aller Antagonismen aus.152 Diese Voraussetzung akzeptiert bereits derjenige, der sich ins Spiel des Feldes begibt: «Wer sich am Kampf beteiligt, trägt zur Reproduktion des Spiels bei, indem er dazu beiträgt, den Glauben an den Wert dessen, was in dem Feld auf dem Spiel steht, je nach Feld mehr oder weniger vollständig zu reproduzieren.»153 Allein die Tatsache, dass Dietrich auf die Feldgegebenheiten und im Extremfall auf Hildebrants orthodoxe Ausführungen reagiert, zeigt, dass sein Habitus ihn dazu disponiert und ihn aus der Indifferenz reißt.154 Die feldspezifische illusio führt auch bei Dietrich dazu, ins ‹Spiel› involviert zu werden, ihm Sinn zu unterstellen und den ‹Spieleinsätzen› Relevanz zuzuweisen. Der homologe Habitus von Dietrich und Hildebrant ermöglicht eine «Übereinstimmung in der Nichtübereinstimmung zwischen Akteuren […], die entgegengesetzte Positionen einnehmen»155 und er bewirkt, dass sich beide auf dieselben Gegensätze beziehen können, um die (Text‑)Welt zu ordnen: Was die Opponenten eint, sind paradoxerweise die obligaten Hauptgegensätze, denn um sich über sie oder vermittels ihrer zu streiten und damit auch jene, denen sie widersprechen oder die ihnen widersprechen, unmittelbar als relevant und sinnvoll anerkannte Stellungnahmen produzieren können, muß ihre Gültigkeit bei den Beteiligten feststehen. Diese spezifischen […] Gegensatzpaare, die zugleich soziale Gegensätze zwischen innerhalb desselben Feldes durch ein geheimes Einverständnis verbundenen Gegnern sind, begrenzen […] den Raum der legitimen Debatte und schließen jeden Versuch, eine nicht vorgesehene Position herzustellen, von vornherein als absurd, eklektisch oder einfach undenkbar aus […].156

Die Dialektik von Orthodoxie und Heterodoxie gibt ein Modell spezifischer Subversion ab –  sie arbeitet an der Struktur des Feldes, stellt aber das Spiel als solches nicht zur Disposition, da es einen Konsens über die umkämpften Objekte gibt, also auf den Fortbestand des Feldes abgezielt wird.157 Da die doxa des Feldes der Gewalt, dass Kampf symbolisches Kapital erringt, im Falle Dietrichs und Hildebrants die Basis der Freundschaft bildet, vergewissern sich beide dieser Basis, ohne sie zu sprengen. «Ein Kapital oder eine Kapitalsorte ist das, was in einem bestimmten Feld zugleich als Waffe und als umkämpftes Objekt wirksam ist, das, was es seinem Besitzer erlaubt, Macht oder Einfluß auszuüben 152 Vgl.

Bourdieu 1993 [1980], S. 90 und 109. S. 109. Später fasst er den Zusammenhang so: «[D]ie Bedingung für den Eintritt in das Feld ist die Anerkennung dessen, was umkämpft ist, und damit zugleich die Anerkennung der Grenzen – die bei Strafe des Platzverweises  – nicht überschritten werden dürfen.» (S. 190) Vgl. auch Bourdieu 92015  [1980], S. 124, wo er die Grundvoraussetzung der Zugehörigkeit zum Feld als Glauben bezeichnet, also eine unbestrittene, unreflektierte, naive, eingeborene Anerkennung von Einsatz und Spielregeln des Feldes. 154 Vgl. Wacquant in Bourdieu/​Wacquant 2006 [1992], S. 48. Bourdieu erläutert ebd., S. 148, dass die illusio nicht nur das Gegenteil von Interessefreiheit oder Willkür, sondern auch von Indifferenz bedeutet, bei dem man nicht zum feldspezifischen Spiel motiviert wird. 155 Bourdieu 2001 [1997], S. 124. 156 Ebd., S. 127. 157 Vgl. Bourdieu 1993 [1980], S. 159 und 191 f. Bourdieu 2001 [1997], S. 129, erläutert: «Allen in einem Feld Eingebundenen, den Parteigängern der Orthodoxie wie denen der Heterodoxie, ist die stillschweigende Zustimmung zu derselben doxa gemeinsam, die ihre Konkurrenz ermöglicht und deren Grenzen festlegt […]: Sie verbietet faktisch die Infragestellung der Grundsätze des Glaubens, die das Feld selbst in seiner Existenz bedrohen würde.» 153 Ebd.,

219

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

[…].»158 Die Streitereien um das (Nicht‑)Kämpfen‑Müssen zwischen den beiden Figuren haben ihre Grenzen dabei stets im Respekt vor dem Kampf an sich. Die epische Welt vergewissert sich so zugleich der Basis des Heldseins, dessen außerordentliche Vertreter Dietrich und Hildebrant sind. Die Kohärenz des Feldes der Gewalt ist damit nicht eigenstrukturell gegeben, sondern Produkt von Konflikten und Konkurrenz.159 Die Auseinandersetzungen zwischen Dietrich und Hildebrant loten durch den maximalen Kontrast der inhaltlichen Positionen die Grenzen der doxa aus. Die Positionen in diesem komplementären Verhältnis sind aber durchaus nicht fest und das passt zu Bourdieus Feststellung, dass der gleiche Habitus je nach Stimulus und Feldstruktur ganz unterschiedliche, z. T. auch gegensätzliche Praktiken hervorbringen kann.160 Es ist keineswegs so, dass bei Meinungsverschiedenheiten Dietrich stets vor dem Kampf zurückschrecken, den Frauendienst ablehnen und am liebsten in Bern bleiben, wohingegen Hildebrant zu ständig neuen Aventiuren antreiben würde. Diese hier unpräzise Positionswechsel genannten Schwankungen lassen sich im Grunde auf die Alternativen ‹Kämpfen oder nicht Kämpfen› zurückführen und fallen somit in das Feld der Gewalt, in dem Dietrich die Stelle des Herrschenden innehat. Als solcher steht er rein analytisch (nicht figurenintentional) betrachtet vor folgendem Problem: Wer bereits Inhaber des Höchstwerts ist, kann im Kampf nicht noch mehr gewinnen. Das erklärt die Kampfverweigerung Dietrichs. Sein Nichtstun kann aber als Unvermögen oder – darin dem Artus der Artusepen nicht unähnlich  – als höchstes Vermögen ausgelegt werden.161 Um diese Ambiguität aus dem Weg zu räumen, muss Dietrich dann aber eben doch wieder in den Kampf eintreten, ist als Herrschender auch (von der doxa des Feldes der Gewalt) beherrscht. Sein Zögern und Zaudern vor Kämpfen ist in der Forschung insofern in großen Teilen als –  zugegeben irritierende – Schwäche missverstanden worden, die aber im Gegenteil seine Stärke ist.162 Dietrich muss seinen erhöhten Rang durch erhöhte Anpassung an die Normen und Werte der Gruppe immer wieder bestätigen.163 Aus diesem Problem des (Nicht‑)Kämpfen‑Müssens resultieren Dietrichs verschiedene Positionen in den Auseinandersetzungen mit Hildebrant.164 Das hängt wiederum mit der 158

Bourdieu in Bourdieu/​Wacquant 2006 [1992], S. 128. Bourdieu in Bourdieu/​Wacquant 2006 [1992], S. 135. Man kann einwenden, dass bei der Ausdeutung des Feldes als Kampf andere Formen des Miteinanders unberücksichtigt bleiben oder im Lichte des Kampfes als Strategie der Erhaltung oder Verbesserung der eigenen Position interpretiert werden. Im speziellen Falle von Dietrich und Hildebrant kann das allerdings vernachlässigt werden, weil Kampf und Kooperation konvergieren. 160 Vgl. Bourdieu in Bourdieu/​Wacquant 2006 [1992], S. 168. 161 Auch die Dietrichepik kennt einen vergleichbaren Fall: Im ‹Wunderer› will Etzel nicht gegen die titelgebende Figur antreten. Als die bedrängte Jungfrau ihm «zegelleiche[n] mut» (WUD 39,2) unterstellt, entgegnet Etzel «ich wil nit fur dich fechten, wan ich der hochste pin.» (WUD 40,2) Die Jungfrau, die dank einer göttlichen Gabe die Charaktereigenschaften eines Menschen mit einem Blick erkennen kann, stellt Etzel zwar als echten Feigling heraus, aber dass Etzel überhaupt die Argumentation, er müsse aufgrund seines Höchstwertes nicht kämpfen, anführt, zeigt, dass diese Denkfigur durchaus in Geltung steht. Dass er sich dann jedoch wirklich als feige entpuppt, unterstreicht aber ebenso deutlich deren Ambivalenz. 162 Es existiert eine Fülle an Forschungspositionen und Erklärungsversuchen zu Dietrichs zageheit. Vgl. Haustein 1998, S. 58–60; Breyer 2000, S. 71; Füllgrabe 2006, S. 384 f. und 390; Malcher 2009, S. 148 f.; Lienert 2015a, S. 118. Zum Motiv der zageheit im ‹Eckenlied› vgl. etwa Keller 2004; Greulich 2004 und Kropik 2008. 163 Vgl. Bourdieu 92015 [1980], S. 236. 164 Breyer 2000, S. 71, sieht das in Bezug auf die Beratungsdialoge im ‹Rosengarten› von hinten motiviert: Der Inhalt der jeweiligen Position und die Frage, wer von beiden Recht habe, sei zunächst irrelevant. Es geht nur um Meinungsverschiedenheit, damit die Beratungsdialoge nicht sinnlos und langweilig werden. 159 Vgl.

220



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

Struktur des Feldes zusammen, das vom Stand der Machtverhältnisse zwischen den im Feld Handelnden bestimmt ist.165 Hildebrant besetzt innerhalb der Gruppe der Herrschenden in einem Feld die Stelle des Beherrschten und macht so als Dietrichs komplementäres Attribut dessen Höchstrang im Feld der Gewalt sichtbar. Die Positionen Dietrichs und Hildebrants von beherrschtem Herrschenden und herrschendem Beherrschten finden sich nicht nur im Feld der Gewalt, sondern auch im Feld der Sublimierung der Gewalt.166 Durch diese komplexe Gemengelage kann in den Texten die doxa beider Subfelder in den Streitereien befragt, die Konkurrenz beider Felder bei gleichzeitigen Schnittmengen ausgespielt und die situationsspezifische Dominanz des einen Feldes eruiert werden.167 Die ambivalente Zugehörigkeit des Frauendienstes zu beiden Subfeldern erzeugt regelmäßig zunächst eine Unentschiedenheit, welche Feld-doxa zu befolgen ist.168 Nach den ersten Heidenkämpfen in der ‹Virginal› kommt es zu einer heftigen Konfrontation, in der Dietrich auf Hildebrants Erläuterung, dass diese Entbehrungen für Frauen und Ehrgewinn Aventiure bedeute, mit Frauendienstkritik und der Unterstellung von Mordabsichten Hildebrants reagiert und zukünftig in Bern bleiben sowie einen anderen Begleiter haben will (V10 110–115; auch V12 226–230; V11 39–41). Selbst nach der zwischenzeitlichen Versöhnung nach dem Streit in Arone (s. u.; V10 209–212; auch V12 327–329; V11 67) bricht der Konflikt am Lob Helferichs für Dietrich wieder auf, wenn Hildebrant meint, dass Dietrich noch viel lernen müsse und der Status als Landesherr zur Verteidigung des Landes sowie zum Schutz von Frauen verpflichte, wohingegen Dietrich ihm vorhält, ihm mit seinen beständigen Kämpfen unmäßiges Leid zuzufügen (V10  235–239; fehlt in  V12; entfernt V11 78). Eine ganze Reihe von Konflikten verhandeln allein die doxa im Feld der Gewalt: Die Auseinandersetzung Dietrichs und Hildebrants um Dietrichs Kampf gegen Siegfried im ‹Rosengarten› oder der Streit im Kontext von Dietrichs Furcht vor dem Wächterautomaten in der ‹Virginal› –  um nur zwei Beispiele zu nennen. Die heterodoxe Position Dietrichs steht jeweils der orthodoxen Hildebrants gegenüber. War es im Siegfried‑Kampf des ‹Rosengarten› noch Hildebrant, der Dietrich Ehrverlust attestierte, so gibt ihm Dietrich, 165 Vgl.

Bourdieu in Bourdieu/​Wacquant 2006 [1992], S. 128. geht es hierbei um relative Bestimmungen der von Dietrich und Hildebrant besetzten Feldstellen. Ich übertrage damit eine Beobachtung Bourdieus auf die hier interessierenden Felder: Intellektuelle (hohes kulturelles, aber geringes ökonomisches Kapital) stellen die beherrschte Fraktion innerhalb der herrschenden Klasse dar und stehen den Inhabern hohen ökonomischen Kapitals als Herrschende gegenüber. Sie verfolgen je eigene feldspezifische Interessen. Vgl. Bourdieu 1991 [1980], S. 68; Bourdieu in Bourdieu/​Wacquant 2006 [1992], S. 228, Fn. 86. 167 Kropik 2004, S. 162–171, zielt mit dem von ihr ‹Fürstenerziehung› benannten Komplex in der ‹Virginal› in eine ähnliche Richtung: Dietrichs und Hildebrants Streits und die Aventiuren dienen als Repräsentation von Herrschertugenden und tragen zur Legitimation von Herrschaft bei, die auf das Wohl der Gemeinschaft und der Schutzbedürftigen ziele. 168 Im ‹Rosengarten› A will Dietrich unter heftiger Frauendienstkritik die Einladung Kriemhilds nicht annehmen und in Bern bleiben, Hildebrant jedoch unter Bejahung des Frauendienstes ausfahren (RG A ÄF 59,4–64,1). Je nachdem, welches Feld man hier als handlungsrelevant in Anschlag bringt, vertreten Dietrich und Hildebrant wahlweise den orthodoxen oder den heterodoxen Pol. Die ambivalente Zugehörigkeit des Frauendienstes zu beiden Subfeldern erzeugt zunächst eine Unentschiedenheit, nach welcher Feld‑doxa zu handeln ist. Erst die erneute und verschärfte briefliche trutz‑Ansage verschiebt das Gewicht auf das Feld der Gewalt, dem dann auch Dietrich folgt: «drutz und widerdrutz, das ir es getorrent lon. / ‹Und kommend ir nit an den Rin, ir recken lobesam, / so getorrend ir nymer an keynes fursten stat nit beston.›» (RG  A  ÄF  65,2–4) Dietrich übergeneralisiert die doxa des Feldes der Gewalt sodann allerdings ins andere Extrem. Während nämlich die trutz‑Ansage nach Mitteln des Feldes der Gewalt verlangt, müssen die Boten nach dem Feld der Sublimierung der Gewalt behandelt werden. 166 Mir

221

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

nun selbst in der orthodoxen Position, in Hildebrants Kampf gegen Gibich in Version D diesen Vorwurf zurück (RG D v. 2095–2137). Ähnlich tadelt Dietrich ihn in der ‹Virginal› in den Drachenkämpfen des zweiten Teils der zageheit und der Schmach (V10 915 f.; auch V12 758 ohne Entgegnung Hildebrants; fehlt V11). Hier argumentiert Dietrich nun aus der orthodoxen Perspektive auf dem Feld der Gewalt, die sonst Hildebrant besetzt. Das deutlichste Indiz für je nach Felddominanz wechselnde, aber stets komplementäre Positionen liefert der ‹Jüngere Sigenot›: Hildebrant will mit Verweis auf die Gefährlichkeit des Unternehmens den Kampf gegen Sigenot meiden, den Dietrich ungeachtet dessen anstrebt (JS  6–9). Explizit will er anfangs gemeinsam mit Hildebrant gegen Sigenot ziehen: «So lovnd uns zu ˙˙ im ritten.» (JS 7,3) Diese Ausgangslage kann man nun entweder als Kampf um die doxa des Feldes der Gewalt deuten, in der Dietrich den orthodoxen und Hildebrant den heterodoxen Standpunkt verträte, oder man geht wiederum von einer Kollision der doxa der beiden Subfelder aus. Für mich spricht die Tatsache, dass Hildebrant ohne Zögern auszieht, nachdem Dietrich nach acht Tagen nicht zurückgekehrt ist, für letzteres. Hildebrant, der die Bedrohung durch Sigenot für latent hält, schätzt die Ausgangslage offenbar anders ein als Dietrich und rät nach Maximen des Feldes der Sublimierung von Gewalt vom Kampf ab.169 Dietrich hingegen sieht eine akute Bedrohung und operiert nach der doxa des Feldes der Gewalt. Nimmt man dies an, dann ist es auch gar nicht mehr so verblüffend, dass es hier ausgerechnet Dietrich ist, der Hildebrant tadelt, dass die Kampfweigerung Schande bedeutet, er sich hingegen aus Ehrerwägungen heraus zum Kampf verpflichtet fühlt, für den er auch den Tod in Kauf nehmen will (JS 8 f. und 11,3). Der ‹Jüngere Sigenot› lässt angesichts der spärlichen Informationen zur Lage allerdings offen, nach welchen Feldmaximen zu handeln adäquat sei. Als Hildebrant sich –  darin der Haltungsänderung Dietrichs zu Beginn des ‹Rosengarten› A strukturanalog (RG A ÄF 62,4–64,1) – von Dietrichs Aussagen hat überzeugen lassen und gemäß der Logik des Feldes der Gewalt mitkommen will (JS  10,4), lehnt Dietrich dies allerdings ab (JS  10,11–11,3). Dietrichs Agieren im Sinne des Feldes der Gewalt wird schließlich im Nachgang legitimiert, wenn Wolfhart bei Dietrichs Auszug aus Bern vor den klagenden Frauen erklärt, dass ein Fürst nun einmal Aventiuren bestehen muss (JS  21). Durch Wolfhart entsteht ein argumentatives Übergewicht zugunsten des Feldes der Gewalt.170 Die Positionierungen wandeln sich weiter im Verlauf des Textes: Dietrich, dem vorher so viel an seiner Ehre gelegen war, verleugnet gegenüber Sigenot seine Identität (JS  64) – darin der Auffassung Hildebrants vor dem Siegfried‑Kampf im ‹Rosengarten› D strukturanalog (RG D v. 1825–1830) –, will den Kampf am liebsten meiden und bereut, nicht auf Hildebrant gehört zu haben (JS 66; 87,10–88,1; 89,10–90,8). Dietrich hat unvermittelt und zum falschen Zeitpunkt das Feld gewechselt: Durch sein Handeln, immerhin tritt er den schlafenden Sigenot wach (JS 61,11 f.), hat er eine Lage geschaffen, die der Logik des Feldes der Gewalt gehorcht und Kampf verlangt. Im Kampf selbst handelt er dann auch nach dieser Logik und lehnt mehrfach die Kampfaufgabe wegen der drohenden Schande ab (JS 78,7–12; 80; 81,7 f.). Dass Dietrich gegen den Riesen verliert, scheint mir weniger 169 Das

ist insgesamt stärker von hinten als kausal motiviert: Dietrich muss in der Logik der aventiurehaften Dietrichepik Bern verlassen, um sich als Herrscher zu beweisen. 170 Diesem Mechanismus des ausschlaggebenden Hinzugruppierens der Wolfhart‑Figur zu Dietrich und Hildebrant werde ich weiter unten detaillierter nachgehen.

222



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

für die Schwäche der Figur als vielmehr dafür zu sprechen, dass es ihm an seinem komplementären Attribut Hildebrant mangelt, der seinen Höchstrang im Feld der Gewalt sichtbar macht. Die Frage, ob Hildebrant ihn begleiten solle, war ja zu Beginn des Textes Gegenstand der Diskussion. Im ‹Jüngeren Sigenot› liegt keine grundsätzlich andere Konstellation als in den weiter oben beschriebenen, gemeinsam bestandenen Kämpfen vor. Allerdings ermöglicht das Konstrukt eines phasenverschobenen, gemeinsamen Kampfes (erst kämpft Dietrich gegen Sigenot, dann Hildebrant, sodass beide den Sieg nur gemeinsam erringen können), die Problematik der Felddominanz und der Auslegung der doxa sehr viel deutlicher zu lancieren.171 Das Ausloten der doxa des jeweiligen Feldes und der Kollision der beiden Subfelder bleibt in den Auseinandersetzungen zwischen Dietrich und Hildebrant meist implizit, die Figuren repräsentieren sie und agieren ‹einfach› nach ihnen. An einigen Stellen wird diese Gleichwertigkeit bei Ungleichartigkeit der beiden Freunde jedoch explizit. Geradezu auf die Metaebene wird dieser Komplex gehoben, wenn insbesondere die Heidelberger ‹Virginal›, aber auch der ‹Rosengarten›  C die Beziehung Dietrich‑Hildebrant als unglich oder als art‑Verschiedenheit beschreibt.172 Die doxa‑Kollision kondensiert in der ‹Virginal› begrifflich zudem zum alten has, der mehrfach beschworen wird. Dietrich erklärt innerhalb der Versöhnung auf Arone gegenüber Hildebrant den Streit mit der Formel «Von uns sú der alte has» (V10  210,5; V12 328,4; fehlt in  V11) für beendet. Das wiederholt sich auf dem Fest auf Muter nach dem Reihenkampf, wenn Dietrich wünscht: «Von uns sige der alte has» (V10 773,4; fehlt in V12 und V11). Dieselben Worte werden Dietrich nochmals nach den Drachenkämpfen des zweiten Teils (V10  917,5; fehlt in V12 und  V11) in den Mund gelegt. Auf den Begriff gebracht ist damit zugleich, dass Freundschaft die Unvereinbarkeit von orthodoxer und heterodoxer Position kittet. Anders ausgedrückt: Die zentrifugalen Kräfte des alten has, also des Widerstreits der von Dietrich und Hildebrant repräsentierten doxa‑Pole, werden von der zentripetalen Kraft der Homogenität der Habitus in Form der Freundschaft eingedämmt, insofern die Freundschaft die beiden Pole symbolisch vermittelt, die sonst unvermittelt blieben.173

171

Breyer 2000, S. 72, deutet den ‹Sigenot› ebenfalls im Rahmen des von ihm am ‹Rosengarten› herausgearbeiteten Polarisierungsmechanismus zwischen Dietrich und Hildebrant und zwar als ihm entgegengesetzte Variante. Allerdings vernachlässigt er die Positionswechsel im Verlauf des Textes. In Bezug auf Dietrichs Niederlage gegen Sigenot vermerkt er aber treffend: «Kein Grund zur Trauer, keine Niederlage, keine Peinlichkeit: auch wenn Dietrich selbst nicht den Preis gewann, als Team haben sie gesiegt, und dabei ist es dann egal, wer den Ausschlag gab, denn sie gehören zusammen. Hildebrand ist Dietrichs klügeres und manchmal auch besseres Ich.» Wie wenig hilfreich ein Denken in festen Rollenbildern ist, zeigt die Analyse von Kragl 2013, S. 219–236, zum ‹Älteren Sigenot›. Dort kann er je aufs Neue nur konstatieren, dass Dietrich und Hildebrant ihren scheinbar angestammten Rollen nicht entsprechen, aber damit ist für die Textausdeutung noch nichts gewonnen. Auch für seine spätere ‹Virginal›‑Analyse kann er seine Rollenerwartungen nur durch Figuren der Rolleninversion retten (etwa S. 345), statt die Flexibilität der Positionen ernst zu nehmen. Auch Harms 2013, S. 128, kann von diesen Voraussetzungen her für eine Szene der Heidelberger  ‹Virginal› nur Rollentausch konstatieren. Grafetstätter 2012, S. 137, leitet die Komik des ‹Rosengarten› aus der Verweigerung der klassischen Rollenerwartungen ab. 172 Vgl. V  114,2 (auch V  230,2; fehlt in V ); V  175,9 (auch V 291,9; fehlt in V ); V  212,2 und 857,7 (fehlt 10 12 11 10 12 11 10 jeweils in V12 und V11); RG C 428,1. 173 Diese Unvereinbarkeit der beiden doxa‑Pole wird auch im vielfach geäußerten Vorwurf der Tötungsabsicht und der damit verbundenen Erbschleicherei durchsichtig gemacht, der auf den ersten Blick jeder Logik entbehrt: Selbst wenn Hildebrant Dietrich töten wollte, wäre er ja gar nicht in der Position, das Herrscheramt zu

223

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Meine Lesart von Dietrich und Hildebrant als Paar, das mittels orthodoxen oder heterodoxen Positionen die doxa des Feldes der Gewalt und des Feldes der Sublimierung der Gewalt befragt, hilft nicht nur, die in der Forschung perpetuierten Rollenklischees vom zagen Dietrich und seinem allwissenden Erzieher Hildebrant zu überwinden, die vielleicht die grobe Tendenz der Texte greifen, aber Ausnahmen wie den ‹Sigenot› oder verschiedene Einzelszenen in den anderen Texten nicht erklären können.174 Die vorgeschlagene Betrachtungsweise ermöglicht darüber hinaus auch, die von der Forschung konstatierte Unbelehrbarkeit Dietrichs hinter sich zu lassen, die wahlweise gern auch mit der miserablen Pädagogik Hildebrants erklärt wird. Es geht nicht darum, dass Dietrich etwas dazulernt, sondern um die vielgestaltigen Aushandlungsprozesse zwischen den Feldern und der doxischen Bestände innerhalb eines Feldes.

2.4. Wolfharts Vermittlungsfunktion zwischen den von Dietrich und Hildebrant besetzten doxischen Polen Wie gehen die Texte nun aber mit der Patt‑Situation bei Streitgesprächen zwischen Dietrich und Hildebrant um? Dass die beiden verschiedene Positionen einnehmen, ist vor dem Hintergrund, dass sie die zwei Pole der doxa besetzen, quasi unvermeidlich. Wie transformieren die Texte aber jene unentschiedenen verbalen Scharmützel in eine gemeinsame Handlung Dietrichs und Hildebrants? Hier kommt nun, so meine These, neben der symbolischen Vermittlung der beiden Prinzipien qua Freundschaft die Wolfhart‑Figur ins Spiel. Wolfhart kann – als Neffe Hildebrants und Gefolgsmann Dietrichs mit beiden verbunden – optional zum Paar Dietrich‑Hildebrant hinzutreten und die Möglichkeit aufzeigen, sich von den in beiden Figuren repräsentierten doxischen Polen zu distanzieren. Während die Hildebrant‑Dietrich‑Freundschaft die Vermittlung symbolisch leistet, wird an der Wolfhart‑Figur der Modus einer diskursiven, bisweilen sogar reflexiven Vermittlung vorgeführt. Noch weiter zugespitzt, ließe sich formulieren: Wolfhart erfüllt eine Kommentarfunktion auf die Unvermittelbarkeit der ortho- bzw. heterodoxen Positionen Dietrichs und Hildebrants in den Streitgesprächen. Dieser Kommentar Wolfharts überführt die Auseinandersetzungen jeweils in Handlungen, die das in den Konflikten beinhaltete Gewaltpotenzial nach außen ablenkt, damit es nach innen nicht destruktiv wirkt. Durch die Art und Weise des Hinzugruppierens von Wolfhart zum Dietrich‑Hildebrant‑Paar wird der Ausschlag dafür gegeben, welche Position handlungsrelevant in der epischen Welt der Helden ist. Diese Kommentarfunktion Wolfharts muss nicht durchgängig in jedem Text genutzt werden, sodass man nicht behaupten könnte, die Figuren seien als feste Trias entworfen oder Wolfhart wäre ein weiterer Freund Dietrichs.175 Die Analyse seiner Funktionalität für die Freundschaft von Dietrich und Hildebrant kann und muss dabei das in der Forschung so lieb gewonnene Rollenmuster vom draufgängerischen übernehmen – und zwar nicht nur, weil Dietrichs Bruder, wie Dietrich argumentiert, die Nachfolge antreten würde, sondern v. a. weil Hildebrant eine andere Feldstelle, nämlich jene der Beherrschten innerhalb der Herrschenden im Feld der Gewalt, besetzt. Die von Dietrich vertretene Position des beherrschten Herrschenden und die von Hildebrant vertretene Position des herrschenden Beherrschten sind zwar strukturanalog, austauschbar oder simpel ineinander konvertierbar sind sie aber nicht – und das ist es, was Dietrich hier verkennt. 174 Das dürfte ein Grund für die eklatante Vernachlässigung des ‹Sigenot› in der Forschung sein. 175 In der Dresdner  ‹Virginal› kann Wolfhart etwa gänzlich fehlen und trotzdem funktionieren Dietrich und Hildebrant als Freundespaar.

224



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

Haudegentum Wolfharts suspendieren –176  nicht zuletzt deshalb, weil die Annahme in Erklärungsnot gerät, wenn sich die Figur konträr zu diesen Erwartungen verhält, also beispielsweise diplomatisches Geschick im höfischen Kontext entfaltet oder vor dem Kampf zaudert, statt sich waghalsig hineinzustürzen.177 Tritt Wolfhart zur Dyade Dietrich und Hildebrant hinzu, so ergeben sich, was seine behauptete Kommentarfunktion betrifft, zwei in den Texten genutzte Gestaltungsoptionen: Zum einen kann sich Wolfhart mit seiner Position entweder auf die Seite Dietrichs oder Hildebrants schlagen, entscheidet mittels des so entstandenen argumentativen Übergewichts den Streit zwischen Dietrich und Hildebrant und klärt dadurch die Frage der handlungsleitenden Werte in der Heldenwelt bzw. innerhalb des jeweiligen Feldes. Zum anderen kann Wolfhart auch eine Position besetzen, die derjenigen sowohl Dietrichs als auch Hildebrants entgegensteht, wodurch sich in der Einheit Dietrichs und Hildebrants die relevanten Handlungswerte bekunden. Für diese zweite Option wird in den Texten in hohem Maße auf die Wolfhart‑Figur zurückgegriffen, diese Position kann aber durchaus auch von anderen Figuren gefüllt werden. Das stellt den grundsätzlichen Befund zur kommentierenden Funktionalität der Wolfhart‑Figur in Bezug auf Dietrich und Hildebrant jedoch nicht in Frage.178 Zunächst zur ersten Option des Wolfhart‑Einsatzes, in welcher er das handlungsentscheidende Übergewicht bei Konfrontationen zwischen Dietrich und Hildebrant bildet. Die Szene der Verhinderung der Botentötung in Bern im ‹Rosengarten›  A ist besonders interessant, vermittelt sie die beiden durch Dietrich und Hildebrant repräsentierten doxischen Prinzipien nicht nur diskursiv, sondern macht sie reflexiv. Dietrich will den Boten Kriemhilds eigentlich schon bei deren Eintreffen gewalttätig begegnen, lässt aber wegen des Einschreitens einer adligen Geisel, die das Feld der Sublimierung der Gewalt repräsentiert, zunächst davon ab (RG A ÄF 44–49). Nachdem der erste Teil von Kriemhilds Brief verlesen ist, folgt die Szene, in der Dietrichs Frauenkritik auf Hildebrants Willen zur Ausfahrt trifft und ersteren schamvoll einlenken lässt (RG  A  ÄF  59–64). Als aber die trutz‑Ansage im Brief verlesen wird, will Dietrich die Boten erschlagen und lässt seine Männer rüsten (RG  A  ÄF  68). Die Geisel wendet sich daraufhin Hilfe suchend an Wolfhart (RG  A  ÄF  71–77), der den Ort des Geschehens verlassen haben muss, als Dietrich zum ersten Mal den Boten Gewalt antun will und Wolfhart der einzige war, der sich gegen Gewalt ausgesprochen hatte. Hier kündigt sich bereits an, dass sich Wolfhart im Folgenden nochmals gegen Dietrich stellen wird. Wolfharts Argumentation gegenüber Dietrich ist nun einigermaßen bemerkenswert, weil sie die Konkurrenz der beiden Subfelder am Fall der Boten transparent macht. Wolfhart verweist auf den Ehrverlust 176

Vgl. zuletzt Mhamood 2012, S. 63–69, und Kragl 2013, S. 392. Mhamood deutet jede Abweichung von der hypostasierten Rolle Wolfharts als Parodie (z. B. S. 144 f.). 177 Dieses Rollenbild mag für die historische Dietrichepik, an der es die Forschung wohl v. a. gewinnt und auf die aventiurehafte Dietrichepik überträgt, große Berechtigung haben. Dort hat Wolfhart tatsächlich die Rolle des stets am eigenen (Nach‑)Ruhm orientierten Draufgängers inne. Auch in der aventiurehaften Dietrichepik finden sich diese Verhaltensweisen durchaus, aber es treten doch weitere Facetten hinzu, welche für die Bestimmung der Funktionalität der Figur nicht ausgeblendet werden dürfen. 178 Dass die Figur durch diskursive wie performative Übertretungen daneben noch einen hohen Unterhaltungswert auf sich zieht, wurde von der Forschung längst registriert, soll an dieser Stelle aber nicht eigens, sondern nur im Zusammenhang mit der hier interessierenden Frage behandelt werden. Ebenfalls nicht gesondert nachgehen kann ich meiner Vermutung, dass Wolfhart neben seiner kommentierenden und unterhaltenden Funktion auch die Handlung beschleunigt.

225

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

durch die Botentötung (RG A ÄF 79,4). Viel wichtiger aber ist, dass er Dietrich mittels eines Gedankenexperiments verdeutlicht, dass die Boten hier Vertreter des Feldes der Sublimierung von Gewalt und damit keine Gefahr für seine Stellung im Feld der Gewalt sind. «Vil edeler furst,  nu´´ gedenckent dar an, ob ir zu botten uß sendent  einen biderman, und getoerst er nit werben,  als ir in hettent uß gesant, under allen recken  mu´´st er umer sin geschant.»  (RG A ÄF 78,3–79,2)

Während Wolfhart beim Eintreffen der Boten mit seiner Positionierung gegen Dietrich allein steht179 und sein Opponieren daher ungehört verhallt, kann es beim zweiten potenziellen Gewaltausbruch gegen die Boten seine Wirkung voll entfalten, weil Hildebrant seine Haltung teilt und ihr damit in Bezug auf Dietrich Relevanz verleiht. Hildebrant lobt Wolfharts weisen Rat: «Nun lon dir got, Wolffhart, ein stolczer wygant! / Ich hon selten gesehen so vil dyner wysheyt.» (RG A ÄF 80,2 f.) In dieser Antwort ist Wolfharts Vermittlerposition zwischen den beiden Subfeldern der Macht konzentriert. Durch die Bezeichnung als «wygant» wird herausgestellt, dass Wolfhart am Feld der Gewalt, in der adlige Gewaltfähigkeit ausschlaggebend ist, partizipiert; durch den Verweis auf seine «wysheyt» wird herausgestellt, dass in diesem Fall aber das Prinzip des Feldes der Sublimierung der Gewalt handlungsrelevant ist. Das bekräftigt Hildebrant nun weiter, wenn er Dietrich unter nochmaligem Verweis auf wyßheit als Handlungsregel zur Botenschonung rät und damit die Position Wolfharts teilt: «Du solt sie diner wyßheit geniessen lon / und tu in das beste, das stet dir wol an.» (RG  A  ÄF  81,3 f.) Mit Hildebrants Rat, der sich mit dem Wolfharts deckt, scheint das Boten‑Thema für Dietrich erledigt, weil er als nächstes sogleich Hildebrant fragt, wie man ehrenvoll nach Worms kommen könne, um die trutz‑Ansage Kriemhilds zu rächen (RG  A  ÄF  82 f.). Nachdem das Gewaltpotenzial nach außen und zudem in die richtigen Bahnen durch die Übereinstimmung von Wolfhart und Hildebrant gegen Dietrich gelenkt wurde, wird die Einmütigkeit der drei Figuren für den Kampf in Worms betont. Hildebrant und Wolfhart kommunizieren nach Dietrichs Kommentar noch eimal die Notwendigkeit der und ihre Teilnahmebereitschaft zur Fahrt (RG A ÄF 84).180

179 Dietrich

fragt die anwesenden Männer um Rat, die einhellig zum Kampf bereit sind (RG A ÄF 33,4–35,4). Hildebrant scheint nicht anwesend zu sein. Das ist vor dem Hintergrund seiner sonstigen Omnipräsenz zunächst merkwürdig, aber funktional im Hinblick auf die Illustrierung der Mechanismen zwischen den drei Figuren Dietrich, Hildebrant und Wolfhart. Dass Wolfhart hier allein mit seiner Meinung steht, wird auch räumlich überdeutlich markiert: Er steht abseits vom Rest der Männer am Fenster (RG  A  ÄF  36,3). Seine Position hat ihn offenbar soweit exkludiert, dass er, als die Geisel ihn um Unterstützung bittet, durch ein finsteren tan (RG A JF 83,1; Angabe fehlt in RG A ÄF) zurück an den Hof reiten muss. 180 Wie man die Szene auch deuten kann, wenn man das oben benannte Rollenklischee vom Haudegen Wolfhart vehement vertritt, kann man bei Kragl 2013, S. 392, nachlesen, wo er die von Wolfhart ausgeschlagene Jungfräulichkeit der Geisel, die ihn um Hilfe bittet, als performativen Selbstwiderspruch herausstellt: «Wenn man dies nicht als völligen Unsinn abstempeln möchte, ließe sich das auch so erklären, dass Wolfhart tatsächlich unehrenhaft gegenüber Damen ist, dass er unweise, untugendhaft (unzüchtig?), kampfbegierig ist – und doch ihre Jungfernschaft gerne als Lohn kassiert. Denn dies zu tun, steht zu seiner Inkompetenz in Sachen Frauendienst in keinerlei Konflikt. Auf den Punkt gebracht: Wolfhart ironisiert ihr Angebot, das man wohl doch zunächst metonymisch für Frauendienst lesen kann oder – in einem höfischen Kontext – lesen würde, indem er die Metonymie kappt und ihre Rede in den planen Wortsinn drückt. […] Vernunft und Courtoisie nehmen durch ihre kausale Subjunktion unter sexuelle Begierde schweren Schaden.» Wolfharts Verhalten könne als «zotige Sottise» (S. 393) gelesen werden. Die Interpretation Malchers 2009, S. 157, trifft hingegen den Kern:

226



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

Das nächste Beispiel, die Auseinandersetzung Dietrichs und Hildebrants im Vorfeld des Kampfes gegen Siegfried im ‹Rosengarten›, wurde bereits besprochen, die Rolle Wolfharts darin aber noch nicht beleuchtet. Auch hier wird Wolfhart an die Seite Hildebrants und in Kontrast zu Dietrich gestellt. Das kündigt sich bereits in Dietrichs Vorwurf im ‹Rosengarten›  A an, Hildebrant und Wolfhart würden ihm stets nur zum Kampf raten und wollten ihn damit töten (RG  A  ÄF  360,1–361,2), worauf Hildebrant kontert, er und Wolfhart würden ihm ausschließlich zu «wirdigkeyt» (RG  A  ÄF  362,1) raten, damit Dietrichs «ere […] michel und breyt» (RG A ÄF 362,2) werde. Der Verweis auf Wolfhart als Ratgeber wirkt zunächst deplatziert, da Dietrich sich bislang nur im Gespräch mit Hildebrant befindet, nimmt aber die folgende Figurenkonstellation vorweg. Tatsächlich ist es – je nach Version – Hildebrant, der Wolfhart um Mithilfe zur Kampfesmotivation Dietrichs bittet. Wolfhart sieht, dass Dietrich Hildebrant schlägt, und wiederholt Hildebrants Position: Wo es niemand sehe, kämpfe Dietrich; vor Frauen, wo man Ansehen erwerben könne, aber traue er sich nicht zu kämpfen (RG A ÄF 379,3 f.). Wolfhart expliziert damit die doxa des Feldes der Gewalt. Das hatte Hildebrant vorher ähnlich formuliert (RG  A  ÄF  374,4–375,3). Wolfhart setzt hinzu, dass Dietrich kein «recke[ ]» (RG A ÄF 380,1) sei, weil er gegen die eigenen Leute, aber nicht gegen Siegfried kämpfe (RG A ÄF 380,3 f.; ähnlich schon 378,4). Er erhebt damit, anders als im ersten Beispiel, Gewalt zur Handlungsnorm. Diese Gewalt, das macht Wolfhart explizit, dürfe sich aber nicht nach innen, sondern muss sich nach außen richten. Wolfhart und Hildebrant agieren hier gemeinsam, insofern Hildebrant Dietrichs Gewalt weckt und Wolfhart sie in die richtigen Bahnen lenkt. Als Dietrich nämlich nach Wolfharts Kommentar zum Kampf gegen Siegfried bereit ist, lobt ihn Wolfhart, er höre sich nun wieder «als ein degen» (RG A ÄF 382,2) an.181 An den beiden Beispielen aus dem ‹Rosengarten› A lässt sich ablesen, wie die Freundschaft zu Hildebrant und das optionale Wirken Wolfharts den entscheidenden Unterschied für das Funktionieren des Berner Herrschaftsverbandes gegenüber dem Wormser ausmachen: Dietrichs Gewalt wird ein adäquates Ziel gegeben, während sich Kriemhilds Herausforderung in Version A nicht nur gegen die Berner richtet, sondern auch gegen den eigenen Verband.182 Worms verliert nicht nur Helden, sondern auch seine Souveränität. Die Beispiele verdeutlichen,183 dass Wolfhart ergänzend zur unmittelbaren autoritativen

Wenn sich Wolfhart im Folgenden gegen seinen Herrn und seinen Verband stellt, dann darf das in der Logik des Textes offenbar nicht mit einer Frau begründet werden, sondern, wie Wolfhart im Dialog mit Dietrich anführt, mit dem Ehrstatus der Boten, also mit der Differenzierung von Bote und Botschaft. 181 Das Zusammenwirken Hildebrants und Wolfharts setzt sich im Kampf selbst fort, wenn Hildebrant sich bei Wolfhart nach Dietrichs Kampfleistung erkundigt und dann über ihn Dietrich die Todeslist überbringen lässt, die Dietrich in Rage versetzt (RG A ÄF 393–396). 182 Vgl. Malcher 2009, S. 137, der dies dort an den verschiedenen Wormser Kritikern an Kriemhilds Plan aufzeigt. Er interpretiert die beiden Beispiele als abgewiesene Alternativen ohne Bezug auf die Hildebrant- und Wolfhart‑Figur: Dietrichs Zuwenig und Zuviel an Gewalt werden als Handlungsoptionen aus der Erzählwelt ausgeschlossen (S. 147–150). 183 Wolfhart und Hildebrant opponieren abermals gemeinsam gegen Dietrich in der ‹Virginal›, als das Heer nach dem Reihenkampf auf Muter Richtung Jeraspunt aufbricht, Hildebrant weitere Riesen- und Drachenkämpfe ankündigt und Dietrich am liebsten umkehren will. Hildebrant und Wolfhart äußern gegenüber Dietrich den zageheits‑Vorwurf (V10 852,4 und 852,11; 853,12; 854,3; fehlt in V12 und V11) und verweisen in ihren weiteren Redeanteilen auf Gewalt als handlungsrelevanter Maxime in dieser Situation (Hildebrant: V10  852,9; fehlt in V12 und V11; Wolfhart: V10 853; fehlt in V12 und V11). Als Dietrich immer noch nicht zum Kampf bereit

227

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Macht Hildebrants über eine mittelbare autoritative Macht über Dietrich verfügt, die ebenfalls und parallelisierend zu derjenigen Hildebrants handlungswirksame Effekte zeitigt. Im ‹Jüngeren Sigenot› schließlich schlägt sich Wolfhart auf die Seite des kampfbereiten Dietrich, stellt sich gegen Hildebrants kampfvermeidenden Rat und artikuliert gegenüber den klagenden Frauen so, dass das Feld der Gewalt handlungsleitend ist: Do wainten die schónen frowen zart. Do sprach der starke Wolffhart: «Lovnd sólich clagen ligen. Sechent, wie gehabent sich die wib! Was sol eins edlen fúrsten lib, des lob ist gantz verschwigen, das man in aller cristenhait kain aventu ˙˙ r von im saget? Edler fu˙˙rst, nu˙˙ sind gemait, ir sind och nit verzagen ann dem ungefugen man. Wend ir es nit geren tu ˙˙ n, so wil ich in bestovn.»  (JS 21; fehlt im ÄS)

Was sich in den letzten beiden Versen des Zitats ablesen lässt, ist die in den Texten öfter genutzte Möglichkeit, dass Wolfhart Dietrichs Position bzw. vielmehr ihn selbst in Auseinandersetzungen mit Hildebrant vertritt, wenn Dietrich abwesend ist. Diese Möglichkeit ist durch die Homogenität der Habitus unter den Helden allererst gegeben. Sehr deutlich wird das etwa, wenn in der Heidelberger ‹Virginal› Wolfhart Dietrichs Angst vor dem Wächterautomaten vor Arone wiederholt und doppelt.184 Nimmt man die Stellvertretung Dietrichs durch Wolfhart in Streitgesprächen mit Hildebrant an, dann erscheint auch die Szene, in der Wolfhart Hildebrant in Bern zum Verschwinden Dietrichs in der ‹Virginal› befragt, weniger merkwürdig. Wolfhart unterstellt Hildebrant nämlich sogleich, Dietrich getötet zu haben und sich seine Länder aneignen zu wollen (V10 596; auch V12 599; fehlt in V11). Das sind ja bekanntlich die Vorwürfe, die Dietrich gegenüber Hildebrant perpetuiert. Wenig später fragt Wolfhart, ob Dietrich tot oder im Kloster sei (V10 598; auch V12 598; fehlt in V11). Die erste Option zielt auf den biologischen, die zweite auf den sozialen Tod und impliziert damit wiederum den Mordvorwurf gegenüber Hildebrant. Hildebrant hatte bereits beim Aufbruch von Virginal die

ist (V10 855), schwören sie ihm die Treue (V10 856; fehlt in V12 und V11). Dietrich wettert zwar noch weiter gegen Hildebrant, wendet sich dann aber an Ute (V10 857; fehlt in V12 und V11), die ihn zu beruhigen versucht (V10 858; fehlt in V12 und V11). Das Thema ist damit erledigt, dass man bereits in der nächsten Strophe auf die angekündigten Gegner trifft (V10 859; auch V12 701; fehlt in V11). Wenn man die performative Dynamik des Hinzugruppierens der Wolfhart‑Figur nicht systematisch erschließt, dann kann man zu dieser Szene, in der erst gestritten und dann unvermittelt gelobt wird, nur wie Kragl 2013, S. 344, konstatieren: «Dem ist kein Sinn, kein argumentativer Duktus mehr abzutrotzen, die Argumente und Meinungen stehen nur für sich, zusammen aber in heillosem Durcheinander.» 184 Hatte sich Dietrich vor dem Wächter bei der Ankunft in Arone gefürchtet (V  201–206; auch V  319–324; 10 12 V11 63–66), so tut dies später im Text auch Wolfhart (V10 690–695; fehlt in V12 und V11). In beiden Situationen schließt sich ein Streitgespräch mit Hildebrant um den Ehrverlust an, in beiden Fällen wird der Ängstliche von den Anwesenden ausgelacht und jeweils von einer Dame am Wächter vorbei in die Burg geleitet.

228



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

Vorwürfe der Berner, insbesondere aber Wolfharts gefürchtet (V10  584,1–8; fehlt in V12 und V11).185 Wolfhart sichert Dietrichs Präsenz in dessen Absenz.186 Bei der zweiten Option des Hinzugruppierens von Wolfhart zu Dietrich und Hildebrant sind die beiden Freunde einer Meinung über die zu verfolgenden Handlungswerte, während sich Wolfhart dem entgegensetzt. Extensiv dargestellt wird diese Option zu Beginn des ‹Rosengarten› D. In dieser Version sind sich Dietrich und Hildebrant einig, dass man Etzel unterstützen und nach Worms fahren müsse, um Rosenkränze und Küsse zu erringen, aber v. a. um die trutz‑Ansage der Wormser zu rächen. Diese Einigkeit im Feld der Gewalt wird ebenso oft betont (RG  D  v. 155–165; 212–214; 251–253) wie Wolfharts Unwille, mitzukommen (RG  D  v. 143–154; 191–194; 215–218). Dass aber auf dessen Teilnahme an der Fahrt insistiert wird (RG  D  v. 189 f.; 195; 219), zeigt deutlich, dass die intern mobilisierbare Gewalt, die nach außen gerichtet wird, die handlungsleitende Maxime darstellt. Folgerichtig entschließt sich Wolfhart doch zum Kampf (RG D v. 220–222), wiederholt diesen Entschluss (RG D v. 225–230), will nun sogar, dass alle Männer mitkommen (RG  D  v. 233 f.), und gibt praktische Tipps zur Vorbereitung (RG D v. 239–242).187 Im ‹Rosengarten›  A will Kriemhild mit prächtig geschmückten Jungfrauen den vor Worms lagernden Dietrich begrüßen. Bereits der Erzähler wertet diesen Auftritt als hoffart (RG A ÄF 202,1), impliziert er doch abermals eine Statusminderung der Berner. Wolfharts Kommentar greift diese Einschätzung auf, spitzt sie aber bis zur Androhung körperlicher Gewalt zu: «Durch ir hoffart willen  werd ich ir nymer holt. Sie wendt, wir gesehen nie  kein gestein oder edele golt. Kom ich ir so nahe,  ich geb ir eynen backen schlag, das sie myn biß an ir ende  wol gedencken mag.»  (RG A ÄF 205,1–4)

Hildebrant fordert Wolfhart auf, seinen Zorn zu zügeln, den Ehrverlust bei Zuwiderhandlung zu bedenken und sich lieber an Kriemhilds Helden für die Provokation zu rächen (RG  A  ÄF  206). Dietrich kommentiert die konkrete Situation gar nicht erst, sondern wendet sich mit einem Appell an alle seine Männer, sich gegenüber Frauen angemessen zu verhalten (RG A ÄF 207), was sie ihm auch geloben (RG A ÄF 208,1). In der Konkurrenz der beiden Subfelder formulieren Dietrich und Hildebrant mit ihrem gemeinsamen 185

Vielleicht erklärt diese Furcht auch die abenteuerliche Behauptung in der Heidelberger ‹Virginal› gegenüber Ute, dass Dietrich von einem Greifen entführt worden sei (V10 595,12 f.; auch V12 598,12 f.; fehlt in V11). Die Parallelstelle in der Wiener Version bleibt hingegen bei den Fakten, dass er von einem Riesen gefangen wurde (V12 598,12). 186 Das liegt im Prinzip auch im ‹Jüngeren Sigenot› vor, wenn das weitere Vorgehen besprochen wird, nachdem Dietrich nicht binnen der Acht‑Tages‑Frist zurückgekehrt ist. Wolfhart will dort nicht nur wie Dietrich sofort in den Kampf ziehen (JS  122 f.), sondern entgegnet der sich um das Überleben Hildebrants ängstigenden Ute, dass sie sich um den Alten nicht solche Sorgen machen und im Falle seines Ablebens einen jüngeren Mann nehmen solle (JS  126). Diese Überlegung hatte auch Dietrich schon einmal gegenüber Hildebrant geäußert, allerdings während des Gibich‑Kampfes im ‹Rosengarten›  D (RG  D  v. 2116 f.). Hildebrant ist im ‹Jüngeren Sigenot› durch seinen Eid daran gebunden, selbst nach Dietrich zu sehen (JS 124), stimmt also in diesem speziellen Fall mit Wolfharts Position überein. 187 Version C des ‹Rosengarten› schließt die beiden Optionen des Hinzugruppierens von Wolfhart zu Dietrich und Hildebrant eng zusammen, weil sie sowohl Wolfharts Übereinstimmung mit Hildebrant und gegen Dietrich in der Frage der Botentötung als auch die eben betrachtete längere Verhandlung über Wolfharts Kampfbeteiligung aus D kennt und nacheinander schaltet.

229

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Standpunkt den Handlungsstandard gegenüber Frauen im Subfeld der Sublimierung der Gewalt, der vor dem Hintergrund des angedrohten, devianten Verhaltens Wolfharts, der wie auf dem Feld der Gewalt zu handeln gedenkt, umso deutlicher hervortritt. Hildebrants Kommentar, sich an Kriemhilds Männern im Reihenkampf zu rächen, lenkt Wolfhart auf das legitime Handlungsfeld.188 Betrachtet man die beiden Optionen des Hinzugruppierens Wolfharts zu Dietrich und Hildebrant, so wiederholen sich darin die beiden Figuren der Dopplung und Spiegelung, wie ich sie für die Einheit der Freundschaft von Dietrich und Hildebrant als Kongruenz in der Komplementarität weiter oben festgestellt habe. Vertritt Wolfhart einmal eine mit Dietrich oder Hildebrant konvergierende Position, so ein anderes Mal einen zu beiden Figuren diskordanten Standpunkt. Jeweils lässt das nachfolgende Handeln Dietrich und Hildebrant als übereinstimmende Einheit und die je nach Feld adäquate Handlungsweise sichtbar werden. Die Flexibilität des Hinzugruppierens der Wolfhart‑Figur und ihre damit verbundene (z. T. sogar reflexiv gemachte) Kommentarfunktion auf den Widerstreit der in Dietrich und Hildebrant aufeinanderprallenden Pole der Feld‑doxa stellt damit einen zweiten zentripetalen Mechanismus neben der symbolischen Vermittlung in der Freundschaft Dietrich‑Hildebrant dar, um die zentrifugalen Kräfte des alten has, also der beiden entgegengesetzten doxa‑Pole, wirksam einzudämmen, sodass die Gewalt nicht destruktiv nach innen, sondern konstruktiv nach außen gelenkt wird. Die beiden Optionen, die die Dietrichepen zentral als Vermittlungsressource der beiden nicht homogenisierbaren Pole der Feld‑doxa nutzen, sind –  so lässt sich zusammenfassen – die Freundschaft Dietrich‑Hildebrant und deren optionale Erweiterung zur Trias durch Wolfhart. Die Wolfhart‑Figur stellt damit ein funktionales Äquivalent zur Freundschaft dar, ohne selbst als Freundesfigur aufgefasst werden zu müssen. Die Inkohärenzen im Figurenhandeln Dietrichs, Hildebrants und Wolfharts sind damit kein Ausdruck ästhetischer Minderwertigkeit der Dietrichepik, sondern höchst funktional für die Darstellung der Beziehung Dietrich‑Hildebrant wie für die Gesamtaussage der Texte.189

188

Ein weiterer Fall entzündet sich in der ‹Virginal› an der Frage des Begräbnisses der Riesen im Wald. Hildebrant weist Wolfhart an, das zu übernehmen (V10  893,4; auch V12  735,4; fehlt in  V11), aber dieser weigert sich (V10 893,5; auch V12 735,5; fehlt in V11). Im weiteren Verlauf von Wolfharts Entgegnung verschiebt sich der Streitpunkt vom Begräbnis auf die doxa des Feldes der Gewalt, nämlich auf die Mühen des Kampfes, die Wolfhart beklagt (V10  893,6–13 und 894,4–10; auch V12  735,7–13 und 736,4–10; fehlt in  V11), Hildebrant allerdings verteidigt (V10 894,1–3; auch V12 736,1–3; fehlt in V11). Dietrich schaltet sich ein: «Wolffhart, lo din zurnen sin. / Du bist der risen selber fro. / Liessest du die rede ligen!» (V10 894,12–895,1) Die Wiener ‹Virginal› lässt Dietrich an der entsprechenden Stelle noch prononcierter die doxa des Feldes der Gewalt aussprechen: «Dein hercz, das ficht doch allczeit gern.» (V12 736,13) Dietrich ist offensichtlich Hildebrants Meinung und verbietet Wolfhart mehr oder weniger den Mund. Damit scheint das Problem zugunsten der Position Dietrichs und Hildebrants entschieden: Die herren alle sament swigen. (V10  895,2; fehlt in V12 und  V11) Die darin sich bekundende Handlungsrelevanz von entbehrungsreichem Kampf wird sodann im sich unmittelbar anschließenden Kampf gegen Drachen manifest. 189 Mit Bourdieu ließen sie sich darüber hinaus als Normalfall praktischer Logik des Habitus – hier der Helden – lesen, die nicht nach den Standards ‹logischer Logik› gemessen werden darf. Auch in dieser Hinsicht hilft die Theorie, sich von der immer noch nicht aus der Mode geratenen Forschungsposition, den Texten mangelnde Ästhetik zu attestieren, zu distanzieren.

230



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

2.5. Charismatisierung von Dietrichs Herrschaft: Zum Verhältnis von Gefolgschafts- und Lehensfeudalismus Mir soll es zum Abschluss des Kapitels um den Zusammenhang von Freundschaft und Herrschaft mittels der analytischen Unterscheidungen von Popitz und Weber gehen. Dass die Verhandlung der doxa des Feldes der Gewalt wesentlich über das Freundespaar eingespielt wird, wie die weiter oben besprochenen Beispiele herausstellen sollten, zeugt von der immensen Herrschaftsrelevanz Hildebrants für Dietrich. Gesichert wird damit auf der Metaebene gewissermaßen der Wechselkurs der Kapitalsorten im Feld zugunsten Dietrichs. Diskursiv bestätigt wird, dass im Feld der Gewalt im Kampf symbolisches Kapital errungen wird, das unmittelbar effektiv im Feld der Macht wirkt. Performativ deutlich wird das im Diskurs Verhandelte etwa im Vergleich von Dietrichs Herrschaft mit derjenigen von Nitger in der ‹Virginal›. Betrachtet man die Ausgangspunkte der jeweiligen Dietrichepen, so ist zu konstatieren, dass Dietrichs Herrschaft bereits bei Eintritt in die Handlung über feste Positionsgefüge verfügt, also die Bindung an den Herrn auf Dauer gestellt ist und von einer unverbrüchlichen Gefolgschaft ausgegangen werden kann. Nicht zuletzt das spricht gegen die These der Erziehung und Entwicklung Dietrichs. Im ‹Rosengarten› heißt es, Dietrich hat stets 1000 dienstbereite Ritter am Hof (RG  A  ÄF  32,1 f.). Dietrich schafft es mit Dietleib von Stire auch, einen weiteren eigenständigen Herrscher für sein Unternehmen zu gewinnen, wodurch der Komplexionsgrad seiner Herrschaft verdeutlicht wird.190 Dietrich kann für die Fahrt nach Worms nicht nur zwölf herausragende Einzelkämpfer, sondern auch ein 60 000 Mann starkes Heer unter sich sammeln (RG  A  ÄF  155,1). In der ‹Virginal› ist für die Rettung Dietrichs nicht nur auf sein Berner Gefolge Verlass, wie Hildebrant eigens gegenüber Virginal betont, sondern auch die Aufstellung eines «paneuropäische[n] Heer[s] mit berühmten Helden aus Österreich, Italien und Ungarn»191 ist für Dietrichs Herrschaft keine Bewährungsprobe.192 Für Dietrich sammeln sich hier nicht nur weitere eigenständige Fürsten wie Dietleib oder Helferich, sondern sogar der König von Ungarn.193 All das spricht für eine ungebrochene, stabile Herrschaft Dietrichs schon zu Beginn der Texte. Dietrich ist, wenngleich ‹nur› Fürst, die höchste weltliche Instanz der epischen Welt und gleicht damit einer Königsfigur:194

190

Malcher 2009, S. 167, weist zudem darauf hin, dass mit der Einbindung Dietleibs herausgestellt wird, dass Kriemhilds Herausforderung alle Fürsten herabgesetzt hat. 191 Mhamood 2012, S. 59. Sie sieht das Heer in seiner Hyperbolik hingegen als parodistischen Bezug auf heldenepische Konstituenten. 192 Auch das ließe sich mit Bourdieu als sehr hohes soziales Kapital Dietrichs reformulieren, wobei Bourdieu 1983, S. 191, mit dem sozialen Kapital nicht nur die Ausdehnung des mobilisierbaren Beziehungsnetzes meint, sondern auch den Umfang des (ökonomischen, kulturellen oder symbolischen) Kapitals derjenigen, mit denen man in Beziehung steht. Vgl. auch Bourdieu in Bourdieu/​Wacquant 2006 [1992], S. 151 f. Insofern zählt nicht nur die Quantität des Heeres, sondern auch dessen qualitative Zusammensetzung, das mit Imian gar über einen König verfügt. 193 Selbst der ‹Sigenot›, der nur wenig zur unmittelbaren Gefolgschaft außerhalb der Freundesfigur Hildebrant berichtet, weiß über den Zwerg Eggerich, der die rettende Leiter verschafft, zu berichten, dass er ein Herzog mit Burg, Stadt und eigenen Untertanen ist (JS  197; ÄS  40,9–13), der Dietrich als seinen Herren ansieht (JS 192,12; ÄS 34,12). Zudem folgen Dietrich 3000 Mann zum Tor, als er aus Bern auszieht, um gegen Sigenot zu kämpfen (JS 19; fehlt im ÄS). 194 Vgl. Malcher 2009, S. 220.

231

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen Dietrich wird als eine Figur inszeniert, die Bedingung der Möglichkeit von friedlicher Vergemeinschaftung ist. Er ist letztlich Hüter und Verteidiger der Norm in den entfalteten epischen Welten als König kraft seiner außerordentlichen Gewaltfähigkeit. Zugleich ist mögliche Willkür durch die Einbindung in den Berner Herrschaftsverband begrenzt.195

Das Funktionieren des herausgebildeten Herrschaftsapparates und mit ihm die Übertragbarkeit von Macht im Sinne der Positionalisierung der Herrschaft hängt regelmäßig und damit formalisiert von Hildebrant ab. Er organisiert die Heerfahrten im ‹Rosengarten› und in der ‹Virginal› wesentlich allein bzw. in Stellvertretung Dietrichs und setzt die Kampforganisation um, wobei ihm die Folgebereitschaft der Männer so gewiss ist, als ob er Dietrich wäre. Hildebrant setzt Statthalter in Bern ein oder fungiert selbst als solcher. Er entscheidet in der Wiener ‹Virginal› sogar über die Aufnahme Nitgers als Lehensmann (V12 700,11–13) und erzwingt im ‹Rosengarten› D die Übergabe der Herrschaft Gibichs an Dietrich (RG  D  v. 2149 f.). Die Höchstrelevanz Hildebrants für Dietrichs Herrschaft wird beim Auszug der beiden aus Bern vom Erzähler der Virginal formuliert: Durch in [d. i. Dietrich] so slůg er [d. i. Hildebrant] manigen dot / und vil der landes heren twang. (V10 14,12 f.; auch V12 45,12 f.; fehlt in V11) Da Dietrichs Herrschaft bereits hochgradig gesichert und institutionalisiert ist, geht es in den Texten nicht um einen weiteren Verfestigungsprozess. Es liegt bei Eintritt in die Handlung ein ausgeprägter Gefolgschaftsfeudalismus vor. Die Heeresaufgebote im ‹Rosengarten› und in der ‹Virginal› rekrutieren sich allein aufgrund der besonderen Pietätsbeziehung der Gefolgschaft zu Dietrich und nicht aufgrund von Hilfeverpflichtungen als dessen Lehensmänner. Bei den Helden der Reihenkämpfe in beiden Texten handelt es sich, soweit das benannt wird oder aus den anderen Texten des Stoffkreises um Dietrich bekannt ist, selbst um hochrangige Landesherren. Nicht zuletzt Hildebrant und Wolfhart repräsentieren stellvertretend diese konstante persönliche Treuebeziehung und Interessensolidarität. Signifikant ist in diesem Kontext auch das Fehlen einer inneren Bedrohung der Dietrich‑Herrschaft. Im Gegensatz zu ‹Karl  und  Galie›, ‹Morant  und  Galie› und den Texten des Roland‑Stoffs muss Dietrich sich nicht gegen Verräter‑Figuren erwehren. Dietrichs Herrschaft wird jeweils von außen bedroht bzw. herausgefordert: die trutz‑Ansage Kriemhilds; das Racheverlangen Sigenots, der innerhalb von Dietrichs Land sein Unwesen treibt; die Bedrohungen durch Heiden, Riesen und Drachen in Dietrichs Land oder den angrenzenden Gebieten von Virginal, Helferich und Nitger. Die Konfrontation mit und Überwindung dieser äußeren Bedrohungen akzentuiert Dietrichs Herrschaft in zwei Richtungen: Zum einen wird im Durchgang durch die krisenhaften Momente, die mit den Bedrohungen einhergehen, die charismatische Grundlage des Gefolgschaftsfeudalismus aktualisiert, zum anderen werden die nach erfolgreichem Bestehen der Herrschaftsproben hinzugewonnenen Gebiete bzw. Männer lehensmäßig gebunden. Was Weber etwas missverständlich als charismatische Erziehung bezeichnet, bedeutet weniger einen Lernweg, sondern vielmehr eine Erweckung der latenten charismatischen Eigenschaften durch die Isolierung aus gewohnter Umgebung und die radikale Änderung der Lebensumstände. Dies wird in den Texten der Dietrichepik jeweils durch den Auszug Dietrichs aus Bern markiert, den Hildebrant veranlasst.196 Um sich der Bedrohung zu 195 196

Ebd., Fn. 57 [Herv. im Orig.]. Selbst im ‹Jüngeren Sigenot› ist Hildebrant der Vermittler der Aventiure, wenngleich eben in der Variante der

232



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

stellen, muss Dietrich sein Herrschaftszentrum verlassen und außeralltägliche und damit charismatische Proben bestehen. Das sind nun genau jene Habitus‑konformen Situationen, die Dietrich aufsuchen muss, um seinen Helden‑Habitus zu entfalten. Im ‹Rosengarten› überwindet er mit Siegfried den besten Helden des Nibelungenkreises, nachdem ihm mit Hildebrant seine wichtigste Herrschaftsstütze gestorben zu sein scheint. Im ‹Sigenot› scheitert Dietrich zwar augenscheinlich gegen den Riesen, aber das wird zum einen als sehr knappe Niederlage dargestellt (JS  113; fehlt im  ÄS). Zum anderen liegen die Proben Dietrichs hier weniger im Kampferfolg, sondern darin, Bern auch um den Preis des eigenen Lebens zu schützen. Die Lebensbedrohlichkeit der Krise wird durch den Aufenthalt in der Drachenhöhle präsent gehalten. Sie fungiert als Tief- und Wendepunkt der charismatischen Probe. In der ‹Virginal› schließlich kulminiert die Krise, nachdem Dietrich bereits erfolgreich gegen Heiden und Drachen gekämpft hat, in der Gefangenschaft auf Muter.197 Diese kann durch gemeinsame Anstrengungen sowohl Dietrichs wie seiner Männer überwunden werden. Dietrich tötet noch in der Gefangenschaft die Riesen Grandengruz und Hülle, während seine Männer in den Reihenkämpfen Dietrich befreien können. Insbesondere über Hülle weiß der Text Grauenerregendes zu berichten: Er ist so gefährlich, dass er allein und selbst getrennt von den anderen Riesen im Wald lebt, der unter seinem Gebrüll erzittert (V10 510 und 824; fehlt in V12 und V11). Durch diese Beschreibung wird der Hülle‑Kampf zur entscheidenden Probe dieses Textes stilisiert. Das bezeugen auch die späteren Schilderungen des Kampfes durch Dietrich gegenüber dem Botenzwerg Virginals (V10 810–826; fehlt in V12 und V11) und an Virginals Hof (V10 1019 f.; fehlt in V12 und V11).198 Die von Dietrich in allen drei Versionen bekämpften Riesen, Drachen und Heiden fungieren als das zu bekämpfende Böse, wodurch Dietrich als Held, wie Lienert anmerkt, funktional zum Erlöser und Heilsbringer wird.199 Daneben schildern die Texte, wie Dietrich seine Herrschaft durch lehensmäßige Bindung neuer Gebiete infolge der charismatischen Proben ausbaut. Besonders spektakulär ist das im ‹Rosengarten› umgesetzt, wenn Gibich (RG A ÄF 413,4–414,4) und – je nach Version – auch Siegfried (RG D v. 2176–2190) zu Lehensmännern Dietrichs werden. Nachdem sich im ‹Rosengarten› die beiden größten Helden der deutschprachigen Heldenepik gegenüberstehen, ist Dietrich am Ende Herrscher über die besten und prominentesten Herrschaftsverbände der mittelhochdeutschen Heldenepik, seine Herrschaft wuchert sozusagen in den benachbarten Sagenkreis hinein.200 Warnung und nicht der Reizung. So schon Heinzle 1978, S. 192. Mit Blick auf den ‹Laurin› bestätigt sich das: Auch hier weiß nur Hildebrant von der Aventiure Laurins (bspw. L3 27–38). 197 Malcher 2009, S. 233, deutet Muter als das topologische Außen Berns, dessen Grenze Dietrich als Held queren muss. 198 Umso blasser muss vor diesem Hintergrund die Dresdner ‹Virginal› wirken, die die gesamte Muter‑Episode und damit auch die Probe des Hülle‑Kampfes nicht kennt. Die Wiener Version beinhaltet zwar die Gefangenschaft auf Muter, aber sie entbehrt des Hülle‑Kampfes. 199 Vgl. Lienert 2015a, S. 117. Auch Malcher 2009, S. 247, verweist auf die messianischen Züge Dietrichs beim Abschlussfest auf Jeraspunt in der ‹Virginal›. 200 Kragl 2013, S. 385, spricht durch die Amalgamierung mehrerer Sagenkreise treffend vom ‹Rosengarten› als «summa heroica». Die Gebietseroberungen betreffen im ‹Rosengarten› D nicht nur Dietrich, sondern erstrecken sich auch auf seine Gefolgschaft: Frute will den Kampf gegen Gunther nur beenden, wenn dieser ihm sein Erbland Dänemark zurückgibt, aus dem er ihn vertrieben habe (RG D v. 1331 f.; 1385–1410). Gunther gibt das Land zurück und ihre Feindschaft ist damit beendet (RG D v. 1405). Auch diese Ordnungsstörung seitens der Wormser auf einem Nebenschauplatz wird eliminiert.

233

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Kriemhild hatte in A  mit ihrer Provokation, dass das Fernbleiben vom Kampf zum Verlust des adligen Status führt (RG  A  ÄF  65,2–4), implizit eine Hierarchie der Herrschaftsverbände behauptet, die nur im Kampf überprüft werden konnte. Im ‹Rosengarten› steht, auch wenn sich das Geschehen auf den Dietrich‑Siegfried‑Kampf zuspitzt, nicht nur Dietrichs Superiorität und Souveränität auf dem Spiel, sondern auch die seines gesamten Herrschaftsverbandes und wird zu dessen Gunsten entschieden. Auch in der ‹Virginal› erhält Dietrich in kleinerem Rahmen die Gebiete Nitgers, den er lehensmäßig bindet. In beiden Texten obsiegt der geordnete Personenverband über den defizitären und restituiert dabei dessen Ordnung. Für den ‹Rosengarten› hat Malcher bereits umfassend herausgestellt, wie nicht nur Kriemhild, sondern auch Gibich und damit der gesamte Wormser Verband die Ordnung stören.201 Ich habe an anderer Stelle die Konfrontation von Dietrichs und Nitgers Herrschaftsverband in der Muter-Episode der ‹Virginal› fokussiert, wo die Legitimität und Charismatisierung von Dietrichs Herrschaft im Vergleich zu derjenigen Nitgers auch und gerade in der Gefangenschaftssituation bei Riesen besonders pointiert wird.202 In den Texten wird damit deutlich zwischen der charismatischen Gefolgschaft, die sich im Durchgang durch ähnliche Proben wie der charismatische Herrscher Dietrich bewährt und auf die somit loyal gezählt werden kann, und der lehensmäßigen Bindung der vormaligen Aggressoren differenziert. Deren Loyalität kann nicht vorausgesetzt werden, weswegen deren Abhängigkeit von Dietrichs Herrschaft stärkerer Institutionalisierung als Lehensnehmer bedarf.203 Wie stark diese Differenzierung den Texten eingeschrieben ist, exemplifiziert der Dialog im Nachgang des Libertin‑Kampfes in der Wiener  ‹Virginal›. Der Fürst Libertin von Palerne fordert Dietrich zum Zweikampf und will ihm nach der Niederlage «mit dinst […] wesen undertan.» (V12  391,13; fehlt in V10 und  V11) Aber Dietrich will den im Kampf als Helden apostrophierten Libertin (V12 390,1; 390,12; fehlt in V10 und V11) nicht als Dienst-, sondern als Gefolgsmann gewinnen: Der Perner sprach: «Nit, werder helt! Eur manheit, die ist außerwelt. Got las euch wol genesen! Der eren, der wer mir czu vil. Ich wil pis an meins endes czil ewr ait geselle wesen, und han ich wider euch getan, des wil ich euch ergeczen, wil euch in nóten bei gestan, mein leben fúr euch seczen. Des nemet hie mein trew czu pfant.»  (V12 392,1–11; fehlt in V11 und V10)

Im Vergleich zu ‹Karl und Galie› fällt auf, dass in der Dietrichepik die freie Gefolgschaft gerade nicht in Lehensverhältnisse überführt und damit abseits der Krise veralltäglicht 201 Vgl.

Malcher 2009, S. 151–154. Am deutlichsten wird das im ‹Rosengarten›  A darin, dass Gibich nicht handelt: Er verhindert die Herausforderung durch Kriemhild nicht und versagt damit als Oberhaupt der Sippe wie des Herrschaftsverbandes. Er setzt dabei nicht zuletzt auch das Leben seiner Männer aufs Spiel. 202 Vgl. Federow [erscheint 2020]. 203 Das kann man mit Bourdieus 1983, S. 192 f., Überlegungen zum sozialen Kapital noch präzisieren. Weil eine Gruppe – hier der Helden – sich durch die gegenseitige Anerkennung und die damit implizierte Anerkennung der Gruppenzugehörigkeit reproduziert und ihre Grenzen bestätigt, kann jeder Neuzugang zur Gruppe die Definition der Zugangskriterien gefährden und die Gruppe verändern. Dem wird in den Texten vorgebeugt.

234



2.  Zum Sinn doxischer Wissensbestände für die Herrschaft Dietrichs

wird. Die besondere Pietätsbeziehung zwischen Herr und Gefolge ist und bleibt Dietrichs Herrschaftsbasis, die in gemeinsam bestandenen charismatischen Proben aktualisiert und präsent gehalten wird. Die Freundschaft zwischen Dietrich und Hildebrant lebt das geradezu modellhaft vor. Dietrichs Eignung für das Herrscheramt muss sich immer wieder aufs Neue erweisen. Das Ende der Heidelberger  ‹Virginal› macht das besonders eindrücklich, wenn Dietrich Virginals Fest wegen der Bedrohung Berns verlassen muss. Die Darstellung Dietrichs als rex idoneus scheint wichtiger als die Expansion von Dietrichs Herrschaftsgebiet, die je nur auf den Einzeltext begrenzt ist.204 Entsprechend stellen die Texte auch jeweils auf die Ordnungsstiftung in Bern und Bern assoziierten Gebieten ab: Im ‹Rosengarten› wird die Hierarchie der Herrschaftsverbände geklärt. Im ‹Sigenot› wird mit dem Riesen nicht nur die Bedrohung Berns getilgt, sondern auch die des Reichs der vormals von ihm geknechteten Zwerge (JS 163,11; 164,1) und offenbar der Zwergenherzog Eggerich als Herrscher restituiert.205 In der ‹Virginal› werden die Reiche Dietrichs, Helferichs, Virginals und Nitgers von Riesen, Drachen und Heiden befreit und in Bern die Bindung zu den Untertanen erneuert (V10 1088,10). Die Hybridisierung Dietrichs als herausragender Herrscher und Held wird von den Texten diskursiv durch die Befragung der feldspezifischen doxa begleitet, die Gewalt im Inneren durch austarierte Einigkeit des Handelns verhindern und nach außen richten kann. Diese diskursive Praxis, die für die Legitimität von Dietrichs Herrschaft nicht minder wichtig als die performative Praxis ist, bestreitet Dietrich gemeinsam mit seinem Freund Hildebrant. In kommentierender und damit der Freundschaft äquivalenter Funktion tritt in den Dietrichepen optional auch Wolfhart hinzu. Das unterscheidet den Wolfhart der aventiurehaften von dem der historischen Dietrichepik, es unterscheidet ihn aber auch von dem des ‹Nibelungenliedes›. Im ‹Nibelungenlied› versagt Wolfharts Kommentarfunktion, die den Ausschlag für richtiges Folgehandeln gibt, nicht nur, sie ist dergestalt pervertiert, dass sie Gewalt auch im Inneren, also gegen den Verband der Dietrichmänner eskalieren lässt.206 Am ‹Nibelungenlied› kann man auch in aller Drastik ablesen, was passiert, wenn die Einigkeit im Herrschaftsverband nicht stellvertretend in der Freundschaft ausgehandelt, exemplifiziert und kommentiert wird: Dietrich verliert alle seine Männer bis auf Hildebrant. Die den Streitigkeiten enthobene Einigkeit der Dietrich‑Hildebrant‑Freundschaft und der durch sie repräsentierten Geschlossenheit des Verbandshandelns in der aventiurehaften Dietrichepik kann vor diesem Hintergrund für die Sicherung von Dietrichs Herrschaft kaum überschätzt werden. Zugleich zeichnet sich hier schon ab, was für das ‹Nibelungenlied›, das darum den Abschluss der zu untersuchenden Texte bilden soll, symptomatisch ist: Freundschaft vermag kaum noch positive Herrschaftspotenziale zu generieren, vielmehr wirkt sie sozial destruktiv.

204

Malcher 2009, S. 245 f. und 279, stellt in seiner Interpretation auf eben jene Transformation der epischen Welt zu höherer Ordnung durch Dietrichs Transgressionen ab. 205 Handschrift S des ‹Jüngeren Sigenot› schildert in Zusatzstrophe 163* ausführlicher die Unterdrückung der 6 Zwerge durch Sigenot, von der Dietrich sie befreit. Schon vorher hat Dietrich den Zwergen Baldung wieder als rechtmäßigen Herrscher eingesetzt, als er den Wilden besiegte, der seine Höhle besetzt hatte (JS 45,1–4; fehlt im ÄS). 206 Ich habe vor, dem an anderer Stelle genauer nachzugehen.

235

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

3. Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement: Die Spielregeln der Freundschaft(-sdarstellung) im ‹Nibelungenlied› Der Forschungslandschaft zum ‹Nibelungenlied›207 einen weiteren Beitrag hinzuzufügen, erscheint sowohl in allgemeiner Hinsicht als auch mit Blick auf die Freundschaftsthematik wenig reizvoll. Dass die Forschung zum ‹Nibelungenlied› stetig ins Uferlose wächst, nicht mehr überblickbar ist und der Neuigkeitswert von Publikationen zu schwinden droht, ist evident. Mir kommt es hier allerdings – hinsichtlich der adressierten allgemeinen Ebene – auf einen anderen Punkt an: Müllers «Spielregeln für den Untergang» war – so kann man in der Rückschau von mittlerweile 20 Jahren Abstand seit ihrem Erscheinen konstatieren – Segen und Fluch für die Forschung zugleich.208 Sein kulturanthropologischer Blick eröffnete völlig neue Lesarten des Textes und förderte einen Wandel im theoretischen Design im Umgang mit dem ‹Nibelungenlied›, an dem sich neue Publikationen messen lassen mussten. Gleichzeitig atomisierte die Forschung und bearbeitete fortan das, was Müller noch ‹übrig gelassen› hatte: Nischenfragen und Spezialthemen entsprechendem dem aktuellen Forschungs‑turn. Der ‹große Entwurf› schien mit Müller gegeben und in der Tat unterblieben Untersuchungen monografischen Zuschnitts, die über einen einführenden Charakter hinausragen, in der Folge weitestgehend, was bei einem Forschungsgegenstand ersten Rangs, wie es das ‹Nibelungenlied› darstellt, doch einigermaßen verwundern darf. Hinsichtlich der Freundschaftsthematik ist die Forschungslage doppelt belastet: Einerseits stellt sich auch hier das Bild des Überangebots an Interpretationen ein, andererseits kann die Fixierung der Untersuchungen zur Freundschaft im ‹Nibelungenlied› auf die Konstellation Rüdiger‑Hagen und damit selbstredend auf die berühmte Schildbitte in der 37. Aventiure fast pathologisch genannt werden. Die Schildgabe wurde in extrem vielen Beiträgen minutiös untersucht, gabentheoretisch verortet und diversen konkurrierenden Deutungen unterzogen.209 Diesem Zerrbild auf der allgemeinen wie der Freundschaftsebene der ‹Nibelungenlied›‑Forschung will dieses Kapitel entgegenwirken: Hinsichtlich der Freundschaftsthematik soll der Blick entsprechend der vertretenen Basisbestimmung von Freundschaft als geschlossene soziale Vergemeinschaftung im Sinne Webers geweitet werden. Dabei wird 207

‹Nibelungenlied› und ‹Klage› werden mit den Siglen NL und KL zitiert nach der Ausgabe Heinzles 2015, der das ‹Nibelungenlied› in der Fassung B* ediert. 208 Die ungebrochene Popularität von Müllers Monographie lässt sich exemplarisch an Bleumer 2014, S. 128, ablesen, der von Müllers «furiosem Nibelungenliedbuch» sprechen kann, ohne dessen Titel nennen zu müssen. Es ist so zentral, dass ohnehin alle wissen, was gemeint ist. Die Forschung hat die Arbeit Müllers überaus lobend aufgenommen und an seinen Ideen weitergearbeitet. Kritik wurde nur vereinzelt laut. Vgl. Dinkelacker 2006. 209 Eine umfassendere Analyse der Freundschaftsthematik im ‹Nibelungenlied› hatte zuletzt Gentry 1975  (!) vorgelegt. Er operiert allerdings mit einem restriktiven Freundschaftsbegriff: «It is a band among equals in which the parties are not related by blood.» (S. 29) Und weiter: «The foundation of friendship is found in the heart and the relationship is defined and governed by the emotions.» (S. 69) Aber selbst mit diesem engen Begriff fällt die Fülle an Freundschaftsbeziehungen, die er herausarbeitet, auf: Siegfried‑Gunther, Rüdiger‑Burgunden, Hagen‑Volker, Kriemhild‑Brünhild (S. 29–38, 69–79). Da Gentry die Figuren arg psychologisiert und einen Freundschaftsbegriff anlegt, der unreflektiert einer wesentlich modernen Auslegung dieses Beziehungstyps (Emotionalität, Nicht‑Verwandtschaft) folgt, ist es an der Zeit für eine neue kritische Gesamtschau des Freundschaftsthemas im ‹Nibelungenlied›. Müller 1998 beschäftigt sich zwar verstreut (S. 156–164) mit Freundschaft, aber es fehlt an einer Zusammenschau. Zudem schätzt er selbst Bindungen wie diejenige von Volker und Hagen, deren Provokationskurs geradewegs in den Kampfbeginn am Etzelhof führt, als positiv aufgrund ihrer internen Harmonie ein. Meine Lektüre wird wesentlich kritischer ausfallen.

236



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

sich zeigen, dass das ‹Nibelungenlied› eine ganze Reihe von Freundschaftskonstellationen als Möglichkeit suggeriert (Brünhild‑Kriemhild), auf der symmetrischen Ebene der Königsherrschaft (Gunther‑Siegfried), innerhalb der Vasallität (Hagen‑Ortwin, Hagen‑Dankwart, Hagen‑Volker, Hagen‑Rüdiger) oder der asymmetrischen Ebene der Gefolgschaft (Dietrich‑Hildebrant) vorführt oder retrospektiv einsichtig macht (Dietrich‑Rüdiger). Thesenhaft lässt sich diese noch zu illustrierende Beobachtung dergestalt zuspitzen, dass Freundschaft regelrecht in den Text – v. a. des zweiten Teils – hineinwuchert. Wenn dies stimmt, dann ist weiter zu fragen, warum dieses myzelartige Freundschaftsnetzwerk nicht funktioniert und gemessen an den anderen Heldenepen Herrschaft nicht nur nicht stützt und den Untergang der nibelungischen Gesellschaft nicht verhüten kann, sondern warum es die Krise katalysiert oder gar mitverursacht. Um Gründe für das Scheitern von Freundschaft bzw. vielmehr ihrer sozial konstruktiven Potenz auszumachen, möchte ich an Müllers innerliterarischer Konstruktion des Spielregelbegriffs anschließen und ihn in Form einer abstrahierenden (Re‑)Lektüre auf die Freundschaftsthematik applizieren. Müller sucht über den Spielregelbegriff den Anschluss sowohl zu sozialen, kulturellen, also außerliterarischen wie auch zu literarischen Regeln anderer Texte. So ist nicht eine sog. ‹immanente› Interpretation des ‹Nibelungenliedes› das Ziel, sondern die Rekonstruktion von (fiktiven) Bedingungen, nach denen das Geschehen abläuft, Bedingungen, die über den Text hinausreichen. Damit die Argumentation nicht zirkulär wird (aus dem Text wird extrapoliert, was dann zur Erklärung eben desselben Textes dienen soll), muß zur Kontrolle immer wieder auf andere zeitgenössische Texte zurückgegriffen werden. Was dabei rekonstruiert wird, ist eine textvermittelte, insofern ‹virtuelle› Welt, deren Regeln wir hypothetisch unterstellen müssen, um die Abläufe, von denen erzählt wird, nachvollziehen zu können.210

Schon der ‹Willehalm› stellte eine Abweichung der funktionalen Bestimmung von Freundschaft als Krisenbewältigungsmodus dar und lieferte daher den vorläufigen Schluss der Interpretationen der Chanson  de  geste‑Adaptationen. Auch das ‹Nibelungenlied› soll wegen der dysfunktionalen Anlage der Freundschaften den Abschluss dieser zweiten ­Analysereihe mit Heldenepen germanischer Provenienz bilden. Zugleich bietet es sich als letzter Text der Gesamtuntersuchung an, um im Anschluss an Müllers Vorgehen ‹Spielregeln der Freundschaft(‑sdarstellung)› in Heldenepen des 13. Jahrhunderts im Vergleich zu den bisher betrachteten Texten herauszuarbeiten. Dabei gelten die Erläuterungen Müllers zum Spielregelbegriff auch für seine, von mir angestrebte Engführung auf Freundschaften: ‹Spielregeln› meinen kein für alle Male festgelegtes Inventar, sondern einen Rahmen der Ermöglichung, der Bestimmtes zuläßt und Bestimmtes ausschließt, eben Regeln für ein Geschehen, das ein weites, gleichwohl begrenztes Repertoire von Optionen offenläßt.211

Hierfür bietet es sich an, auf weitere kulturtheoretische Perspektivierungen wie bei den anderen Teiluntersuchungen zu verzichten und im Sinne des close reading nah am Text zu bleiben. Das schlägt zum einen den Bogen zum Anfang der Untersuchung, bei der anhand von ‹Karl  und  Galie› und ‹Morant  und  Galie› ebenso textimmanent das Tableau der Möglichkeiten der Bearbeitung des Freundschaftsthemas aufgezeigt werden 210 211

Müller 1998, S. 45. Ebd., S. 48.

237

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

konnte. Zum anderen können so vom Ende der Untersuchung her Mechanismen der Freundschaft(-sdarstellung) über den Einzeltext hinaus abstrahiert werden. Die strukturellen und inhaltlichen Differenzen des ‹Nibelungenliedes› bei der Behandlung der Freundschaftsthematik im Vergleich zur Praxis der anderen Texte sind dabei so signifikant, dass man durchaus davon sprechen kann, dass das ‹Nibelungenlied› die Spielregeln der Freundschaft zerspielt. Die Forschung hat ungemein von Müllers Beobachtungen zu Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit im Zusammenhang mit dem Untergang der Nibelungen profitiert.212 Seine Überlegungen zur Destruktion der politisch‑hierarchischen Ordnung des zweiten Teils, in welchem sich die vasallitisch und verwandtschaftlich strukturierten Herrschaftsverbände zu einer gewaltsamen Masse auflösen und die er mit Gilles Deleuzes Begriff der ‹Meute› einzufassen versucht, wurden – so weit ich sehe – nicht rezipiert.213 Dass der Verlust von Differenzierung und insbesondere derjenigen, die Freundschaft setzt oder setzen sollte, ein massives Problem darstellt, hatte bereits der ‹Willehalm› vor Augen geführt, für den ich die epidemische Ausbreitung mimetischer Gewalt mittels der Opfertheorie Girards gezeigt zu haben meine. Dass Müller – wenngleich nicht mit Fokus auf Freundschaft – mit dem Meute‑Konzept von Deleuze zu ganz analogen Ergebnissen (Auflösung der [hier: hierarchisch] differenzierten Gesellschaft zur Masse, Dehumanisierung [konkreter: Tierwerdung], Ansteckung im Blutrausch und allgemeiner Vernichtung in deren Folge) für das ‹Nibelungenlied› kommt, liefert ein starkes Indiz dafür, dass in beiden Texten ein heikler Punkt im Zusammenhang mit Freundschaft adressiert ist. Die Freundesfiguren im ‹Nibelungenlied› werden in einer Weise eng geführt, dass sie (nahezu) in eins fallen. Diese Verähnlichung der Freunde mag nun auch Attribute wie Kleidung, Aussehen und Stand betreffen. Ausschlaggebend scheint mir aber die Angleichung der Freunde hinsichtlich der von ihnen beherrschten Machtformen, die –  das haben sie bisherigen Textanalysen gezeigt  – die Interaktion der Freunde wesentlich grundiert. Die in den anderen Textkapiteln separat verhandelte Analyse der Machtformen nach Popitz wird demnach hier direkt in die Darstellung der Freundschaftskomponenten eingebunden. Ich will mit den Konstellationen Gunther‑Siegfried und Brünhild‑Kriemhild beginnen, weil sie eine analoge Strukturierung aufweisen und damit das dominierende Freundschaftsmodell des ersten Teils des ‹Nibelungenliedes› darstellen. Da das ‹Nibelungenlied› im Zentrum der Fachdiskussion steht, können und sollen im Folgenden an vielen Stellen Schlaglichter und die Fokussierung auf einige Zentralstellen genügen.

212

Ebd., S. 249–296, zur «Trübung der Sichtbarkeit». Vgl. Wenzel 2001. Müller 1998, S. 444–450, zum Meute‑Begriff. Die Aufhebung der politischen Ordnung und die Auflösung der Burgunden zu einem Verband der Gleichen mit zunehmender Entfernung von Worms konstatiert Müller erstmals weit vorher (S. 182 f.). Auch die anderen Herrschaftsverbände klammern ständische Unterschiede in den Kämpfen am Etzelhof systematisch ein (S. 183). Lediglich Falch 2013, S. 158, formuliert unter ritualtheoretischem Ansatz ein ähnliches Ergebnis wie Müller, auf den er zwar verweist, dessen Verwendung des Meute‑Begriffs er aber nicht registriert. Falch fasst den Kampf in Etzelburg als Übergangsritus auf, der im Sinne der Turner’schen communitas alle Heroen gleich mache.

213 Vgl.

238



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

3.1. Falsche Freunde im ersten Teil: Gunther‑Siegfried, Brünhild‑Kriemhild und ihre Freundschaftsfalle 3.1.1. Das Ende der Freundschaft durch Similarität: Zur Gleichheit der Machtformen bei Gunther und Siegfried Schaut man sich das Verhältnis von Gunther und Siegfried an, so steht zunächst in Frage, ob man dieses als Freundschaft im Sinne der hier vertretenen Bestimmung als geschlossene soziale Beziehung bzw. Vergemeinschaftung nach Weber auffassen kann. Eine ganze Reihe von Indizien spricht für diese Auffassung, doch – so wird sich auch zeigen – fallen sinntragende Abweichungen im Vergleich zu den bisher betrachteten Freundschaften auf.214 Die Beziehung von Gunther und Siegfried wird mehrfach als Freundschaft gelabelt (Bezeichnungen als vriunt, geselle, hergeselle NL 155 f.; 383,3; 390,1; 453,3; 545,2; 758,2; 910,1; s. u. genauer). Diese Benennungspraxis allein ist jedoch wenig aussagekräftig angesichts der Ambiguität der entsprechenden mittelhochdeutschen Begrifflichkeiten. Allerdings zeigen Siegfried und Gunther ein gegenseitig aufeinander eingestelltes Handeln unter der Vorstellung der Geltung von Freundschaft. Die Zuordnung der Freunde zueinander ist bei dieser Beziehung –  und das unterscheidet sie wesentlich von jenen des zweiten Teils – exklusiv und nach außen abgeschlossen. Dass Siegfried und Gunther in der Textwelt als Paar aufgefasst werden, zeigen verschiedene Reaktionen dritter Figuren.215 Ihre Zuordnung zueinander erfolgt in Isenstein auch im vestimentären Code über die weiße Kleidung von Siegfried und Gunther (im Gegensatz zur schwarzen Kleidung von Hagen und Dankwart), unterwandert damit aber die noch zu erläuternde Installation von Asymmetrie, um die latente Konkurrenz durch die Symmetrie der beiden Figuren temporär ruhig zu stellen. Im Gegensatz zu den bisher betrachteten Texten ist es allerdings höchst signifikant, dass die angesprochene Schließung nach außen nun aber durch einen zweckrationalen Interessenausgleich und anhand traditionaler Motive erfolgt statt wertrationaler und bisweilen affektiver Momente, auf die in den bisher untersuchten Texten großes Gewicht gelegt wurde.216 Spätestens ab dem Werbungsrat zur Werbung Brünhilds werden die 214

Gentry 1975, S. 31–35 und 69–73, idealisiert die Freundschaftsbeziehung, während McConnell 2009 sie problematisiert und zu dem Schluss kommt, dass Siegfried ohne Freund bleibt, wofür er die Gründe in Siegfrieds übermuot und Anderweltlichkeit sieht. Müller 1998, S. 157, betrachtet die von ihm als Waffenbruderschaft bezeichnete Freundschaft Gunthers und Siegfrieds als labil, weil sie mit herrschaftlichen Abhängigkeiten verwechselt werde. Diesen Punkt werde ich unten genauer weiterverfolgen und als Strategie der Freundschaft herauszustellen versuchen. Michaelis 2008, S. 134–145, unterstellt in ihrer queeren Lesart der Freundschaft gar ein (dis‑)artikuliertes erotisches Begehren zwischen Siegfried und Gunther. Das eindeutig homosoziale Begehren kann Michaelis allerdings nur um den Preis der höchst fragwürdigen Prämisse der (Dis‑)Artikulation als homoerotisch identifizieren. Sie muss so mit interpolierenden und psychologisierenden Lesarten operieren, weil sich gerade im Schweigen homosexuelles Begehren Bahn breche. 215 Hagen kann in den Ratsituationen, die den Sachsenkrieg (NL 151) und die Werbung um Brünhild (NL 331) betreffen, Gunther ganz selbstverständlich raten, sich Hilfe bei Siegfried zu suchen. Das geht so weit, dass Hagen nach der geglückten Werbung gar vorschlagen kann, Gunther solle an seiner statt Siegfried bitten, als Bote nach Worms zu fahren (NL  532). Als Siegfried dort ohne Gunther ankommt, wird in mehreren Stationen geschildert, welche Verwirrung Siegfrieds ‹Vereinzelung› hervorruft. Nacheinander fürchten der Hof im Allgemeinen (NL 542) und Gernot (NL 543 f.) sowie Kriemhild (NL 552) im Speziellen, dass Gunther tot sei – nur so lässt sich ein Auftritt Siegfrieds ohne Gunther offenbar erklären. 216 McConnell 2009, S. 9, sieht in Siegfried und Gunther keine echte Freundschaft (was auch immer das sein soll) verwirklicht, weil ihre Beziehung sich nicht durch Tiefe und emotionale Verbundenheit auszeichne. Hier

239

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

beiden Figuren offensiv zweckrational aneinander gekoppelt durch den vereinbarten ‹Frauentausch› – Siegfried erhält Kriemhild zur Frau, wenn er für Gunther Brünhild als Braut erringt (NL  332–334). Bezeichnenderweise muss Siegfried Gunther gar an diese Abmachung nach der Isenstein‑Episode erinnern (NL 607–609). Die Bindung aneinander dauert etwa bei der Hilfe Siegfrieds in der zweiten Brautnacht Gunthers im Sinne traditionaler Motive an, weil sie das Wissen um den Werbungsbetrug an Brünhild auf Isenstein exklusiv teilen und in begründetem Eigeninteresse an der offiziellen Version des Geschehens festhalten müssen.217 Diese Vertraulichkeit miteinander bedeutet aber eben gerade nicht zugleich belastbares Vertrauen auf- und ineinander. So lässt sich Gunther von Siegfried mit Blick auf die Überwältigung Brünhilds in der Brautnacht versichern, nicht auch mit ihr zu schlafen (NL 655 f.). Es mangelt hier am für Freundschaften nötigen Vertrauen. Wo einmal das für Heldenepen maßgebliche wertrationale Motiv der triuwe bedeutsam wird, so wird es sehr einseitig durch Siegfried erfüllt, während Gunther dies weder kommunikativ noch sonst handelnd verkörpert.218 Im Gegenteil spricht Gunther seine Treue und sein Vertrauen erst genau dann explizit aus, als Hagens Plan zur Ermordung Siegfrieds in die Tat umgesetzt werden soll (NL 910; s. u.). Reziprozität und Solidarität können für diese Beziehung nur eingeschränkt im Sinne des angesprochenen Interessensausgleichs gelten, sie grundieren sie aber nicht. Die Freundschaft von Gunther und Siegfried hat –  auch das ist im Textvergleich signifikant  – keinen autoritativen Wert, von dem die jeweilige Figurenidentität abhängt. Um Held und Herrscher zu sein, sind sie der Existenz und Anerkennung des jeweils anderen nicht bedürftig. Die Freundschaft von Gunther und Siegfried entfaltet ihre Effekte v. a. performativ,219 wie das auch bei den anderen Texten festgestellt werden konnte, allerdings wird ein vergleichsweise hoher Aufwand auf diskursiver Ebene betrieben, um die angerissenen Probleme dieser Freundschaftskonstruktion zumindest oberflächlich zu ‹heilen›. Hierunter fällt die permanente Betonung und gegenseitige Versicherung der vriuntschaft, auf die die anderen Texten weitestgehend verzichten können, weil ihre triuwe‑Basis, ihre Autoritätsbeziehung auf Gegenseitigkeit, ihre Solidarität etc. als fraglose Voraussetzung gegeben ist und demzufolge keiner weiteren Etikettierung bedarf.220 Die Quantität solcher offensiven sind zwar unreflektiert moderne Ansprüche in das Freundschaftskonzept hineingeraten, aber McConnell sieht richtig, dass die Beziehung Gunther‑Siegfried v. a. auf den je eigenen Vorteil bedacht ist. Diesen Punkt hatte schon Witthöft 2006, S. 404–406, stark gemacht im Rahmen ihrer Überlegungen zur Substitution Gunthers durch Siegfried, die v. a. deswegen problematisch ist, weil kein Vertrauen basierend auf Uneigennützigkeit zwischen den beiden existiert. 217 Hagen und Dankwart, die mit nach Isenstein zur Werbung Brünhilds fahren, wissen zwar von der Dienstmannenlüge, im Text wird aber nirgends nahegelegt, dass die beiden auch von der Tarnkappenlist wüssten. Natürlich könnte man damit argumentieren, dass das Wissensmodell heldenepischer Texte oftmals dahin tendiert, dass das, was einmal in der epischen Welt gesagt oder getan wurde, zum Wissen aller Figuren wird. Allerdings wird nun gerade im ‹Nibelungenlied› die unterschiedliche Verteilung von Figurenwissen betont, woraus sich erst seine katastrophale Sogwirkung bezieht. 218 Vgl. McConnell 2009, S. 10 f. 219 Schon Gentry 1975, S. 73, spricht von einer «friendship of action and deed». 220 Das beginnt mit Hagens Rat vor der Begrüßung Siegfrieds in Worms, «man sol in holden hân» (NL 101,3) wegen seiner herausragenden Stärke. Ehrismann 1999, der die Ankunft Siegfrieds am Wormser Hof genauer beleuchtet, argumentiert S. 64 dafür, dies als ‘«zum Freund haben»’ und nicht nur abgeschwächt als ‘«freundlich stimmen»’ oder ‘«sich gewogen machen»’ aufzufassen. Auf das noch näher zu verhandelnde Konkurrenz‑Problem von Siegfried und Gunther reagiert auch Gernots Intervention bei der Begrüßung, die zu eskalieren droht. Hier wird die Agonalität durch den Einsatz der Freundschaftssemantik abgewehrt:

240



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

Freundschaftsbekundungen steht damit indirekt proportional zur Belastbarkeit der Beziehung. Vor dem Hintergrund dieses Zusammenhangs verwundert es dann auch nicht mehr, dass die erste von mehreren Freundschaftssentenzen des ‹Nibelungenliedes› im Kontext der Siegfried‑Gunther‑Freundschaft eingespeist wird. Ausgerechnet auf die zwielichtige Einladung der Wormser an die Xantner sichert der nichts ahnende Siegfried den Boten sein Vertrauen in die Burgunden zu: «ich getruwe in [d. s. die Burgunden] harte wol / triuwen unde guotes, alsô man vriunden sol.» (NL 748,1 f.) Freundschaft wird dergestalt diskursiv mehr insinuiert als performativ eingelöst. So kann Gunther Siegfried noch einmal überschwänglich und unter mehrfacher Verwendung der – hier schon pervertierten – Freundschaftssemantik für seine Einsatzbereitschaft danken, nachdem der Mordplan längst gefasst ist: «Nû lôn iu got des willen,  vriunt Sîvrit! daz ir sô willeclîche  tuot, des ich iuch bit, daz sol ich immer dienen,  als ich von rehte sol. vor allen mînen vriunden  sô getriuwe ich iu wol.»  (NL 910)

Von der äußeren Anlage der Freundschaft her muss auffallen, dass mit Gunther und Siegfried die einzige symmetrische Freundschaft unter Herrschern im gesamten Textkorpus vorliegt. In allen anderen Texten unterhalten die Herrschenden entweder asymmetrisch konstruierte Freundschaften zu Figuren aus der Gefolgschaft oder Vasallität (Karl‑David, Karl‑Dederich, Karl‑Morant in ‹Karl  und  Galie› und ‹Morant  und  Galie›, Willehalm‑Rennewart, Dietrich‑Hildebrant) oder zu Figuren, deren Statusdifferenz (zusätzlich) verwandtschaftlich begründet ist (Karl‑Roland, Willehalm‑Vivianz). Statusmäßig symmetrisch angelegte Freundschaften finden sich lediglich unterhalb der Herrschaftsebene bei den Kriegerfreundschaften der Nebenfiguren Morant‑Everhart und auf der Protagonistenebene von Roland‑Oliver. Wo diese symmetrischen Freundschaften wie bei Roland‑Oliver unmittelbare Handlungsrelevanz beanspruchen, tut sich aufgrund der Ähnlichkeit der Figuren sofort das Problem der Konkurrenz um knappes symbolisches Kapital auf.



Gernot rät, man solle «haben in ze vriunde» (NL 120,4) und Gunther setzt hinzu, alles mit Siegfried teilen zu wollen: «allez, daz wir hân, / geruochet ir’s nâch êren, daz sî iu undertân, / und sî mit iu geteilet lîp unde guot.» (NL 127,1–3) Der Einsatz der Freundschaftssemantik scheint auch zu fruchten: dô wart der herre Sîvrit ein lützel sanfter gemuot. (NL 127,4) Nach der Kriegserklärung durch die Sachsen versichern sich Gunther und Siegfried, sich gegenseitig als Freunde aufzufassen. Siegfried erkundigt sich nach Gunthers offensichtlicher Betrübnis und dieser entgegnet, er könne seinen Kummer nur «staeten vriunden klagen» (NL  155,3), zu denen Siegfried wohl (noch) nicht selbstverständlich zählt. Siegfried scheint davon einigermaßen überrascht, jedenfalls wird er bleich und rot (NL  155,4) und beeilt sich, neben der uneingeschränkten Hilfezusage seine Bereitschaft zu lebenslanger Freundschaft zu unterstreichen: «welt ir vriunde suochen, der sol ich einer sîn / und trûw ez wol volbringen mit êren an daz ende mîn.» (NL 156,3 f.) Zur Figurenintentionalität des Einsatzes der Freundschaftssemantik gibt der Text in Ermangelung von internen Fokalisierungen keine Auskunft. Es ist keine Sicherheit darüber zu gewinnen, ob Gunther sie nur wegen zweckrationaler Motive nutzt, um Siegfried für den Krieg zu akquirieren. Nach dem Sachsenkrieg erläutert der Erzähler, dass Siegfried zu reich für eine Bezahlung seines Kriegsdienstes sei und stattdessen mit der freundschaftlichen Zuneigung Gunthers entlohnt werde (NL  259,1 f.). Bei den Werbungsspielen auf Isenstein wundert sich Gunther über die Berührung des durch die Tarnkappe unsichtbaren Siegfried, der in seiner Erklärung seine Identität an seinen Status als Freund koppelt: «ich bin’z, Sîvrit, der liebe vriunt dîn.» (NL 453,3) Als Siegfried sich angesichts von Gunthers schlechter Stimmung nach der ersten Hochzeitsnacht erkundigt, klagt ihm Gunther sein Leid «vriuntlîche» (NL 650,3), also als Freund.

241

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Ich werde im Folgenden argumentieren, dass sich das mit Ähnlichkeit verbundene Konkurrenzproblem symmetrischer Freundschaften bei Gunther und Siegfried aufgrund ihrer königlichen Herrschaftsfunktion besonders gravierend auswirkt. Bevor dies aber für Siegfried letale Effekte zeitigt, wird versucht, dieses Problem dadurch zu bearbeiten und zumindest zeitweise in der Schwebe zu halten, dass eine virtuelle Asymmetrie in der Freundschaft installiert wird. Während in allen anderen Texten des Korpus bei äußerlich asymmetrisch angelegten Freundschaften versucht wird, dieses Abhängigkeitsverhältnis zu camouflieren und Symmetrie herzustellen, geht das ‹Nibelungenlied› bei Gunther‑Siegfried den umgekehrten Weg und überführt Symmetrie in Asymmetrie. Bevor ich diese Hypothese weiter verfolgen kann, muss zunächst gezeigt werden, wie Ähnlichkeit zwischen Siegfried und Gunther suggeriert und damit die äußerliche Statussymmetrie als Königssöhne bzw. Könige forciert wird. Man kann bei den beiden durchaus auch das Trennende betonen und auf Siegfrieds Zugang zur Anderwelt der Nibelungen und seine magischen Requisiten verweisen. Allerdings bleibt der Hort für die Beziehung Siegfrieds zu Gunther völlig irrelevant. Die Tarnkappe wird zwar handlungsentscheidend eingesetzt, jedoch stellt sie – wie sich zeigen wird – nur eine unter mehreren Optionen dar, einen der beiden Herrscher zeitweise oder mit Siegfrieds Ermordung endgültig aus dem Blickfeld zu nehmen, gerade weil Siegfried und Gunther qua Ähnlichkeit in herrschaftsrelevanten Situationen nicht zusammen auftreten können. Dies würde unweigerlich zum Aufbruch der in der Latenz gehaltenen Konkurrenz führen. Die Indizien des Textes sprechen insgesamt für eine Gleichheit von Siegfried und Gunther.221 Programmatisch reklamiert dies Siegfried zugespitzt schon bei seinem ersten Auftritt in Worms: «Ich bin ouch ein recke und solde krône tragen.» (NL  109,1) und «Dîn erbe und ouch daz mîne sulen gelîche ligen.» (NL  114,1) Auch Gunther versucht gegenüber Brünhild angesichts der vermeintlichen Mésalliance von Kriemhild und Siegfried ihre Äquivalenz zu betonen: «er hât als wol bürge als ich und wîtiu lant. / daz wizzet sicherlîche! er ist ein künic rîch.» (NL  623,2 f.) Auf engstem narrativem Raum wird das Problem von Symmetrie und Asymmetrie Gunthers und Siegfrieds bekanntlich im Königinnenstreit verhandelt. Kriemhild beharrt auf der Gleichheit der beiden Männer: «er [d. i. Siegfried] ist wol Gunthêrs genôz.» (NL  819,4) Gunther und Siegfried werden jedoch nicht etwa in quasi‑beliebiger Weise einander angeglichen, worunter etwa Indizien der Engführung hinsichtlich des Helden- und Herrscherstatus fallen würden.222 Das 221 Das

ist von Ehrismann 2011, der Gunther gleichauf mit Siegfried sieht, umfänglicher gezeigt worden. Ich beschränke mich auf die wesentlichen Punkte und verweise für Details und weitere Belege auf Müller 1998, S. 170 f. und 303–309, wo er mit Luhmann von segmentärer Differenzierung der Sozialeinheiten spricht. Die nibelungenische Welt zerfällt in viele gleich strukturierte Einheiten, die sich aufgrund ihrer Gleichheit ‹intuitiv› verstehen und/oder sich konkurrierend gegenüberstehen. In weiten Teilen der Forschung gilt Gunther hingegen nicht als gleichrangiger, sondern als schwacher König, was aber die feudaladligen Handlungszwänge zu wenig berücksichtigt. Vgl. exemplarisch Hutter 2009, S. 206–208. Lediglich im Nibelungenland herrscht ein sowohl Xanten als auch Worms entgegengesetzter Herrschaftstypus, dieser ist allerdings räumlich exkludiert und tritt zu Siegfrieds Herrschaft nur punktuell hinzu. 222 Beide sind hochadelig, beanspruchen Königsherrschaft bzw. haben sie inne und sie haben sie jeweils vom Vater ererbt (zu Gunther NL 4–7; zu Siegfried NL 20; 713–715). Beide übernehmen ihre Herrschaft offiziell nach der Hochzeit. Ihre Söhne werden zum gleichen Zeitpunkt geboren und ihre Benennung nach dem Namen des jeweils anderen spricht auch für eine Engführung von Siegfried und Gunther (NL 716; 718). Am Hof dient beiden der Rat als wesentliches Herrschaftsgremium (zu  Gunther NL  147–151; 330 f.; zu Siegfried NL  48; 758 f. u. ö.). Beide beherrschen selbstredend die Herrschertugend der milte (zu Gunther NL  5,1; 310; 687;

242



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

trifft freilich zu, die Verähnlichung greift aber hauptsächlich auf die Machtstrukturen der beiden Freunde übereinander zurück und diese Form der Engführung ist v. a. für das Freundschaftskonzept höchstrelevant. Gunther und Siegfried verfügen im Hinblick auf den jeweils anderen über Aktionsmacht und zwar speziell in ihrer sozialen Ausprägung, die über gesellschaftliche Integration und Desintegration obwaltet. Das außergewöhnliche Ereignis der Kriegserklärung der Sachsen und Dänen bietet die Gelegenheit, Gunthers soziale Macht über Siegfried auszuspielen.223 Signifikant ist, dass Gunther Siegfried nicht direkt um Hilfe bittet, sondern meint, er könne nur Freunden seinen Schmerz klagen, nachdem Siegfried seine Betrübnis registriert hat (NL  153–155). Der Rückgriff auf die Freundschaftsterminologie fruchtet, womit allerdings nicht unterstellt werden soll, dass ich dies der Figur intentional zurechne. Ich will vielmehr auf den Mechanismus abheben, mit dem im Text Freundschaft und Macht vertäut werden. Siegfried sagt jedenfalls sofort uneingeschränkte Hilfe zu und bietet sich als Freund an (NL 156). Damit ist er sogleich von der Peripherie im Zentrum des Hofgeschehens gelandet. Explizit verweist der Erzähler nach dem Sachsenkrieg darauf, dass Siegfried zu reich und mächtig sei, um in materieller Hinsicht bezahlt zu werden, sodass sein Lohn in Gunthers Gunst besteht (NL 259).224 Siegfried wird fortan als konstitutives Mitglied von Gunthers Rat und auch im Zwiegespräch ratend zur Seite stehen.225 Siegfried vermag nun seinerseits als außergewöhnlicher Brautwerbungshelfer Gunther Brünhild zu verschaffen. Das wäre soweit – sähe man von der folgenschweren Standeslüge ab  – noch einigermaßen konform mit dem Brautwerbungsschema. Zentral wird Siegfrieds soziale Aktionsmacht als Freund erst nach der missglückten ersten Hochzeitsnacht Gunthers. Abermals erkennt Siegfried Gunthers bereits vom Hof registrierte Betrübnis (NL  647) und erkundigt sich (NL  648). Abermals weiht ihn Gunther unter Nutzung der Freundschaftsterminologie ein. Er verweist darauf, dass er ihm das als Freund berichte, damit er ihm hilft (NL 649 f.). Siegfried sagt wiederum seine Hilfe zu (NL 651 f.), präsentiert seinen Plan (NL 652–656) und stellt das Problem in der zweiten Hochzeitsnacht ab (NL  663–682). Infolge der sich nun einstellenden Hochstimmung Gunthers befinden sich sodann auch sein gesamtes Reich und alle seine Männer in ungetrübter Freude (NL  685 f.). Gunthers und Siegfrieds soziale Aktionsmacht wirkt auch datensetzend, zu Siegfried NL  688; 764 u. ö.) und dafür spielt nun der Hort interessanterweise keine Rolle. Gunther und Siegfried verfügen jeweils über eine große Ritterschaft (zu Gunther NL 8; 60,3; 78; 107; zu Siegfried NL 54; 57 u. ö.), aber sie werden auch als Helden qua eigener körperlicher Stärke und Einsatzbereitschaft gezeichnet (zu Gunther NL 51,3; 108; 142,4; zu Siegfried NL 55, 109 f.; 113 f.; 159–161; 236–239 u. ö.). Siegfried wird von Gunther nur dergestalt differenziert, dass er als ‹Abenteurer› (NL 21; 86–100) und zudem als Frauenliebling (NL 22) individuiert ist. Interessant ist, dass im Text weit vor der ersten Begegnung von Gunther und Siegfried durch die Darstellung ihrer Höfe eine Gleichheit und damit Austauschbarkeit der Helden wahrscheinlich gemacht wird. So funktioniert (bzw. eben auch nicht) ihre Freundschaft dann über Rollentausch und Substitution (s. u.). 223 Siegfried bleibt im ersten Jahr seines Aufenthaltes in Worms unterhalb der erzählerischen Wahrnehmungsgrenze. Es wird lediglich berichtet, dass er bei Hofspielen stets der Beste war (NL 130 f.) und die Könige auf Ausritte begleitete (NL 137), wodurch ein Potenzial der Annäherung suggeriert wird. 224 Dass Siegfried seine körperliche Aktionsmacht im Sinne Gunthers beim Sieg über die Sachsen eingesetzt hat (vgl. den vom Erzähler herausgehobenen Kampfeinsatz Siegfrieds im Sachsenkrieg ab NL 182 sowie das ausgiebige Lob der Boten für Siegfried NL 236–239), erscheint gegenüber der Integration Siegfrieds an den Hof Gunthers nachrangig bzw. als dessen Vehikel. 225 Siegfried rät auf Nachfrage Gunthers, beim Friedensschluss mit den Sachsen auf die Annahme von Gold zu verzichten (NL 313–315), von der Werbung um Brünhild (NL 330) und von der Aufbietung eines Heeres für die Fahrt nach Isenstein ab (NL 339–342) und zur Annahme der Werbungsspiele (NL 426 f.).

243

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

indem die Lebensumstände des jeweils anderen beeinflusst und geändert werden: Gunther integriert Siegfried als unverzichtbares Mitglied des Hofs, was Siegfried seinem Ziel der Werbung Kriemhilds näher bringt; Siegfried erzeugt durch die Hilfe in der zweiten Brautnacht hoves freude und verhilft damit Gunthers Herrschaft –  zumindest dem Anschein nach – zu uneingeschränkter Idealität. Gunther und Siegfried üben auch instrumentelle Macht übereinander aus, durch die das Verhalten des anderen durch Versprechen oder Drohen beeinflusst wird. Beide machen sich damit vom Verhalten des jeweils anderen abhängig, weil die aufgestellten Handlungsalternativen den ‹Alternativensteller› mit involvieren. Im ‹Nibelungenlied› wird mit Blick auf Gunther und Siegfried ausschließlich die Option des Versprechens genutzt, allerdings in spezieller Weise. Eigentlich sind Versprechen für einen Machthaber weniger ‹rentabel› als Drohungen, weil der Versprechende im Falle konformen Verhaltens positive Sanktionen folgen lassen, während der Drohende negative Sanktionen unterlässt, also schlicht nichts tun muss. Im ‹Nibelungenlied› wird nun der Rentabilitätsverlust dadurch ausgeglichen, dass die instrumentelle Macht übereinander im ‹Frauentausch› miteinander verschaltet wird, sodass beide profitieren. Gleichzeitig ist die beidseitig zweckrationale Motivierung dieses Freundschaftsdienstes, wie oben angesprochen wurde, problematisch: Siegfried, der sich eigentlich gegen die Werbung Brünhilds ausgesprochen hat (NL 330), will diese nur für Gunther erwerben, weil Gunther ihm einen Gegendienst in Aussicht stellt (NL 332).226 Dies nutzt Siegfried, um Kriemhild als Lohn zu fordern (NL 333 f.). Später, nach erfolgreicher Werbung Brünhilds, muss Siegfried Gunther gar an das gegebene Versprechen, ihm Kriemhild als Frau zu geben, erinnern (NL 607–609). All das deutet darauf hin, dass die Versprechen eben nicht ausschließlich dem Wohl des Freundes dienen, wie man das in den anderen Heldenepen beobachten konnte. Der ‹Frauentausch› ist zugleich wiederum Ausweis der datensetzenden Macht der beiden Freunde übereinander, wird dadurch doch die Herrschaft des jeweils anderen komplettiert und durch die Option der genealogischen Sicherung verstetigt. Deutete sich schon beim Zuschnitt der instrumentellen Macht übereinander ein Problem an, so ist eine weitere Eigenwilligkeit der Freundschaftsdarstellung im ‹Nibelungenlied› im Vergleich zu den anderen Heldenepen noch gravierender: Siegfried und Gunther haben keine autoritative Macht übereinander, bei der die Perspektiven, Urteile und Haltungen des jeweils anderen übernommen und so die Einstellungen des Gegenüber gesteuert werden. Diese Steuerung wird allerdings nur dadurch möglich, dass man vom Freund anerkannt werden will, wodurch eine internalisierte Folgebereitschaft erzeugt wird. Das ist bei Gunther und Siegfried schlicht nicht der Fall. Siegfried vermag Gunther nicht von seinem Werbungsvorhaben abzubringen, obwohl er auf Brünhilds vreislîche sît (NL 330,2) verweist.227 Siegfried lässt es umgekehrt an Autoritätsanerkennung gegenüber 226

Falch 2013, S. 150–157, fasst die Freundschaft zwischen Gunther und Siegfried gemäß seines liminalitätstheoretischen Ansatzes als communitas im Sinne Turners, die durch die Brautwerbungen als gemeinsamer Transitionsritus begründet wird. Diese Allianz hätte, so Falch, das Potenzial, lebenslang zu halten. Dies werde allerdings durch das Sprechen der Frauen im Königinnenstreit vereitelt. Ich argumentiere hier grundsätzlicher von der strukturell problematischen Anlage der Freundschaft her, die an solchen Punkten wie der Verquickung der Werbungsvorhaben deutlich wird. 227 Das Problem mangelnder Anerkennung wird auch bei der Botenbestellung von Isenstein nach Worms virulent, wenn Gunther auf Anraten Hagens Siegfried bittet, den Botendienst auszuführen (NL 532 f.). Siegfried muss das als König, als der er hier seitens Gunther eben nicht anerkannt wird, selbstredend ablehnen (NL 534). Erst

244



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

Gunther vermissen, wenn er Brünhilds Ring und Gürtel aus der zweiten Hochzeitsnacht entwendet (NL 679 f.).228 Der Mangel an autoritativer Macht übereinander macht diese als Freundschaft gelabelte Beziehung zwischen Gunther und Siegfried zu einem langfristig sehr labilen Gebilde. Aktionsmacht kann jeweils nur situativ wirken, weil die Interaktionspartner anwesend sein müssen. Instrumentelle Macht ist räumlich und zeitlich schon entgrenzt und erlaubt potenziell eine langfristige Verhaltenssteuerung. Diese Potenz wird im ‹Nibelungenlied› allerdings durch die Verquickung der gegenseitigen Versprechen zur Frauenübergabe nur mittelfristig wirksam und endet auch, sobald die Frauen einander übergeben wurden. Nur autoritative Macht ermöglichte dauerhafte Folgebereitschaft ohne den Einsatz weiterer Mittel zu ihrer Durchsetzung. Dass es Gunther und Siegfried nun gerade hieran gebricht, macht das Verhalten des jeweils anderen unkalkulierbar. Gunther muss Siegfried explizit bitten, in der zweiten Hochzeitsnacht, nicht mit Brünhild zu schlafen (NL  655 f.), weil das für ihn unberechenbar zu sein scheint. Siegfried nimmt Ring und Gürtel von Brünhild mit und übergibt sie später Kriemhild (NL  679 f.), was eine massive Gefährdung Gunthers bedeutet, die für ihn unvorhersehbar ist. Gunther stimmt – zwar nach anfänglichem Zögern (NL 868; 870; 872), dann aber doch – in Hagens Mordplan gegen Siegfried ein (NL 873–876), was für Siegfried wiederum außerhalb des Denkbaren liegt.229 Die Verähnlichung Siegfrieds und Gunthers basiert wesentlich auf der gleichen Ausprägung von Machtformen: Aktionsmacht, v. a. in ihrer sozialen Form; im Frauentausch voneinander abhängige instrumentelle Macht und datensetzende Macht. Solch eine Ähnlichkeit muss –  da das symbolische Kapital, der beste Herrscher und Held zu sein, bei räumlicher Nähe auf nur einen limitiert sein kann  – zwangsläufig zu Konkurrenz führen. Blickt man auf die anderen symmetrischen Freundschaften des Textkorpus zurück, so scheint dieser Mechanismus der Ähnlichkeit bei Roland und Oliver in der Tat zu greifen. Bei dem anderen symmetrischen Freundespaar, Morant und Everhart, wird das Problem nicht akut, weil die beiden im Sinne der Darstellungsökonomie als Nebenfiguren zu einer auf zwei Figuren verteilten Einheit harmonisiert sind. Bei Roland und Oliver handelt es sich allerdings um relevante Handlungsträger, sodass deren Ähnlichkeit durchaus spannungsreich ausgetragen wird. Das Konfliktpotenzial wird dort einerseits dadurch entschärft, dass es sich nicht um Königsfiguren handelt, und andererseits massiv begrenzt durch die autoritative Macht der beiden Freunde übereinander, die Gunther und Siegfried in geradezu signifikanter Weise fehlt. Da Konkurrenz zwischen Helden, deren Macht auf körperlicher Potenz basiert, notwendig gewaltförmig ausgetragen wird, wirkt autoritative Macht deeskalierend: Wenn man die Anerkennung des anderen benötigt, um selbst anerkannt zu werden, kann man den anderen nicht leichtfertig beseitigen. Wo das aber wie bei Gunther und Siegfried nicht der Fall ist, muss eine solche Konstellation über kurz oder lang tödlich enden – hier: für Siegfried. Die Beziehung startet bereits beim ersten Zusammentreffen von Gunther und Siegfried unter dem Vorzeichen der Konkurrenz, wenn Siegfried bei seiner Ankunft in Worms als Gunther mit der Liebe Siegfrieds zu Kriemhilds argumentiert (NL 535) und damit wiederum die Ebene instrumenteller Macht bedient, lenkt Siegfried ein. 228 Selbst der Erzähler steht dem bekanntermaßen ratlos gegenüber: ine weiz, ob er daz taete durch sînen hôhen muot. (NL 680,2) 229 Als Kriemhild ihn vor dem «vîentlîchen haz» (NL  922,3) warnen will, wähnt er sich nur von ihm Wohlgesinnten umgeben (NL 923).

245

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Gunthers Herrschaft im Zweikampf herausfordert (NL 109 f.; 113 f.). Hier gelingt es zwar schließlich durch Vermittlung Gernots, Siegfried als vriunt (NL  120,4) in der basalen Bedeutung als ‹Nicht-Feind› zu gewinnen, aber die Konkurrenz kann in der Folgehandlung jeweils nur bemäntelt werden. Aufgehoben werden kann sie erst mit Siegfrieds Tod. Dies zeigt Hagens Reaktion auf Gunthers Klage (NL 992) um den soeben verstorbenen Siegfried. Hagen kann Gunthers Klage nicht verstehen, da er Siegfried als Konkurrenten ausgeschaltet habe: […]  «jâne weiz ich, waz er kleit. allez hât nû ende,  unser sorge und unser leit. wir vinden ir vil wênic,  die getürren uns bestân. wol mich, deich sîner hêrschaft  ze râte hân getân.» (NL 993)

Um die Konkurrenz, die durch die große Ähnlichkeit hervorgerufen wird, zumindest zeitweise in der Latenz zu halten, greift das ‹Nibelungenlied› nun anders als das ‹Rolandslied› nicht auf langfristig stabilisierende autoritative Macht zurück, sondern wendet zwei Strategien an: Zum einen wird Ähnlichkeit und Symmetrie in virtuelle Asymmetrie überführt und suspendiert, wenn Gunther und Siegfried zusammentreffen.230 Hierbei ist die Bestimmung, wer sich wem unterordnet und dient, durchaus eine Frage des Blickwinkels. Strohschneider hat im Zuge seiner strukturalistischen Analyse der Brautwerbungshandlungen im ‹Nibelungenlied› diese widersprüchlichen Hierarchisierungen herausgearbeitet: In der Gunther‑Brünhild‑Handlung erscheint Gunther als Bester und Siegfried ihm als Helfer untergeordnet. In der Relation Siegfried‑Brünhild ist Siegfried als Drachentöter mit magischen Requisiten Gunther übergeordnet. Aus Sicht der Kriemhild‑Siegfried‑Geschichte ist Siegfried Gunther schließlich gleichrangig. Diese Verhältnisse schließen sich aus, sind aber gleichzeitig gegeben und ineinander verschränkt.231 Zum anderen wird im Text eine zweite Strategie deutlich, mit der die Konkurrenz in der Schwebe gehalten wird: Gunther und Siegfried dürfen in entscheidenden Herrschaftssituationen nicht zusammen auftreten und dafür finden sich wiederum verschiedene Realisierungsoptionen. Bei den Werbungsspielen und der zweiten Hochzeitsnacht wird Siegfried mittels des Tarnmantels invisibilisiert; vom Schiff Gunthers und Brünhilds von Isenstein nach Worms kann er durch den vorgelagerten Botendienst ferngehalten werden; im Sachsenkrieg bleibt Gunther in Worms zurück. Gerade innerhalb der Isenstein‑Epi230

Ehrismann 1989, S. 101 f., argumentiert gar, dass Hagen im Sinne der Herrschaft Gunthers diese Scheinkommendation Siegfrieds aktiv betreibt. 231 Vgl. Strohschneider 1997, S.  56. In Isenstein ordnet sich Siegfried nominell durch Steigbügeldienst (NL 396–398) und die verbalisierte Standeslüge gegenüber Brünhild als Vasall unter Gunther (NL 420), aber er tut es aus einer Position der Überlegenheit heraus: Nur Siegfried weiß um die Verhältnisse auf Isenstein (NL 382–384; 390; 406 f.). Während man Siegfried in Isenstein kennt (NL 411), kann man bei Gunther nur vermuten, dass es sich um einen König über weite Länder handeln müsse (NL 412). Brünhild glaubt denn auch, Siegfried werbe um sie (NL 416) und begrüßt ihn vor Gunther (NL 419). Nur Siegfried vermag, 1000 Mann Verstärkung aus dem Nibelungenland zu holen (NL 485–509). Nicht zuletzt wird von der 12‑Mannen‑Stärke, die der Tarnmantel Siegfried verleiht, erst berichtet, als es an die Werbungsfahrt geht (NL 337). Unterordnung aus einer Position der Superiorität heraus gilt analog für Siegfrieds Dienste im Sachsenkrieg, als Bote von Isenstein nach Worms und in der zweiten Hochzeitsnacht bei der Bezwingung Brünhilds. Ist sich die Forschung zwar uneins darüber, ob die Vasallenfiktion auf Isenstein notwendig für den Erfolg der Brautwerbung um Brünhild ist, so kann man unter dem hier eingenommenen Blickwinkel sagen, dass sie notwendig für das Gelingen einer Freundschaft ist, deren Ausgangsbedingungen bestenfalls suboptimal sind. Vgl. den Überblick über mögliche Auslegungen der Vasallenfiktion bei Campbell 1997.

246



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

sode ist es offenbar von größter Wichtigkeit, Siegfried so oft als möglich aus dem Blickfeld Brünhilds zu nehmen, was neben Tarnmantel‑List und Botendienst noch zusätzlich durch Siegfrieds Reise ins Nibelungenland unterstrichen wird, wo er Verstärkung gegen eine etwaige Bedrohung durch Brünhilds Verwandte holt (NL 485–509). Siegfrieds Tod reiht sich als sozusagen letzte exit‑Strategie in diese Reihe der systematischen Trennung beider Figuren in herrschaftsrelevanten Situationen ein und selbst dieser wird noch durch die von Hagen vorgeschlagene Trennung Gunthers und Siegfrieds bei der Jagd vorbereitet (NL 930).232 Folgerichtig führen Situationen, die gegen dieses Prinzip der Separation verstoßen, zur Eskalation: Nach der Hochzeit der beiden Paare kommt es zum Eklat, den Brünhilds Tränen (NL 618–620) und ihre Nachforschungen anzeigen (NL 621–623), wenn Gunther mit Brünhild und Siegfried mit Kriemhild gemeinsam am Tisch sitzen (NL 617) und zwar in einer Ordnung, die Gleichheit symbolisiert. Die Krönung der beiden Paare am Folgetag verlängert die Problematik noch zusätzlich (NL 645). Hier liegt einer der Ausgangspunkte für den Weg in die Katastrophe am Ende des Textes. Trotz der herausgearbeiteten Strategie des Einbaus von Statusasymmetrien und der darin wechselnden Positionen von Gunther und Siegfried bleibt es in Summe doch bei einer Symmetrie. Diese wird mit einer Ähnlichkeit beider Figuren in verschiedenen Punkten unterlegt, von denen die Machtformen von besonderer Aussagekraft für die Freundschaft sind. Wenn der andere –  wie hier bei Gunther und Siegfried im Hinblick auf ihre Machtformen – tatsächlich aber gar kein anderer ist als ich selbst, dann braucht man erstens dessen Freundschaft nicht und zweitens braucht man sich von einem so konstruierten Freund auch keinen Herrschaftszuwachs oder stabilisierende Effekte erwarten. Das Korrektiv, dass der Freund in den bisher betrachteten Texten verkörperte, gibt es hier nicht. Wenn der andere so ist wie ich, dann kann die Freundschaftsbindung jederzeit ohne Einbußen gelöst werden. So gesehen ist es auch gar nicht verwunderlich, dass Siegfried im Mordplan zügig isoliert werden kann, weil er in Worms keine andere Stütze als sich selbst hat, während Gunther demgegenüber noch durch das Machtpotenzial der (echten) Vasallenbindungen abgesichert ist. Aus denselben Gründen ist es auch gar nicht überraschend, dass es ausgerechnet für den großen Helden Siegfried keinen langen Klagemonolog nach seinem Tod gibt. Zwar verfallen Kriemhild, Siegfrieds Vater und seine Männer in Trauer, aber diese schafft es nie auf die Ebene klagender Verbalisierung. Der Klagemonolog, so hatten es die bisherigen Textinterpretationen zeigen können, ist ein exponierter Ort der retrospektiven Bekundungen gelungener Freundschaft. Gunthers Schweigen ist insofern beredt. Wenn alter in der Freundschaftsbeziehung in der Regel für die Klage zuständig ist, alter aber wegen seiner Ähnlichkeit zu ego in dieser Funktion ausfällt, dann muss ego diese Aufgabe selbst ausfüllen. Genau das scheint neben anderen Deutungen bei Siegfrieds Sterbemonolog mit hineinzuspielen, wenn er mit der Betonung von Dienst und Treue gegenüber Gunther (NL 989) topische Elemente der Freundesklage referiert. Siegfried muss in Ermangelung eines verlässlichen Freundes um sich selbst trauern. 232

Müller 1998, S. 261, fasst das so: «Bei Gunthers Werbung ist Sivrit ein Fremd‑Körper, der aufwendig zum Verschwinden gebracht werden muß, zuerst nur visuell, später, als der Betrug nicht länger verborgen werden kann, wirklich. Im Kern der Intrige steht der Kampf um das, was sichtbar ist und daher Geltung beansprucht.» Auch Strohschneider 1997, S. 67, betrachtet Tarnmantel und Tod Siegfrieds als im Grunde funktionsäquivalente Elemente.

247

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

3.1.2. Die Beziehung von Brünhild und Kriemhild als Freundschaft im potentialis: Vom Fehlen weiblicher Begleitfiguren Bei Brünhild und Kriemhild kann man von einer Freundschaft im potentialis sprechen. Sie ist nicht ausgeführt, wird aber vom Erzähler als Möglichkeit insinuiert. Kriemhild und Brünhild –  sieht man von der Begrüßungsfloskel bei der Ankunft Brünhilds in Worms einmal ab (NL 588) – reden bis zum Königinnenstreit nicht einmal miteinander. Die Freundschaftsoption wird aber vom Erzähler neben den üblichen Küssen (NL 587,4) und Umarmungen (NL  589) bei der Begrüßung durch Szenen des Aufeinandertreffens bebildert und mit entsprechenden Erzählerkommentaren versehen, die eine Nähe und Zusammengehörigkeit beider Figuren zu suggerieren vermögen.233 Auch Kriemhild und Brünhild selbst artikulieren in wenigen Stellen ihre Zugehörigkeit zueinander.234 Diese Zuordnungen binden Brünhild und Kriemhild allerdings sehr lose zusammen und schließen sie nach außen nur im Mindestmaß ab. Es fehlen hingegen Szenen, an denen man ein gegenseitig aufeinander eingestelltes Handeln oder gar Solidarität erkennen könnte, eine belastbare Basis für wertrationale oder affektuelle Bindungsmotive. Von einer dauerhaften Beziehung kann man angesichts der mangelnden narrativen Präsenz beider Figuren in gemeinsamen Auftritten auch nicht sprechen. Die ohnehin labile Basis der Möglichkeit einer Freundschaft wird von der Ankunft der Xantner in Worms bis zum Königinnenstreit sukzessive unterhöhlt, bevor es dann dort und vor dem Münster zum Eklat kommt.235 Wenngleich die textuelle Basis nur das Potenzial einer Freundschaft nahelegt, so kann man doch schon von der äußeren Anlage der Beziehung im Vergleich zu anderen Freundschaften unter Frauen in den untersuchten Heldenepen Abweichungen und damit verbundene Probleme ablesen. Vor dem Hintergrund der Gelingensbedingungen weiblicher 233 Bei

der Begrüßung Brünhilds durch Kriemhild bei deren Eintreffen in Worms erklärt der Erzähler, sô minneclîch enpfâhen gehôrte man noch nie (NL 589,2), und entwirft das Bild der nebeneinander stehenden Königinnen während der langen Begrüßungszeremonie. Nach dem gemeinsamen Essen treffen Kriemhild und Brünhild an der Treppe zum Saal aufeinander und der Erzähler kommentiert: noch was ez ân ir beider nît. (NL  626,4) Hier wird durch den Verweis auf noch nicht vorhandenen Hass die Möglichkeit der Freundschaft offengehalten. Als die Xantner nach Worms eingeladen worden und angekommen sind, reiten die beiden Königinnen gemeinsam zum Münster (NL 811 f.) und der Erzähler begleitet das mit dem Kommentar: diu liebe wart sît gescheiden. daz vrumte groezlîcher nît. (NL 812,4) Die Formulierung diu liebe unterstellt damit eine innige Verbundenheit, die performativ nie aktualisiert wird. Die Szene kontrastiert aber durch die Betonung ihrer Zugehörigkeit umso mehr mit der nachfolgenden Szene des Königinnenstreits und dem anschließenden getrennten Gang vor eben jenes Münster, zu dem der Erzähler wiedergibt: Die liute nam des wunder, wâ von daz geschach, / daz man die küneginne alsô gescheiden sach, / daz si bî ein ander niht giengen alsam ê. (NL 834,1–3) Die Irritation des Hofs und die beständigen Erzählerkommentare legen insgesamt eine vorausgesetzte Zuordnung der beiden Figuren zueinander nahe. 234 So kann Brünhild Gunther von der Einladung der Xantner erst dann überzeugen, als sie mit ihrer Verbundenheit zu Kriemhild argumentiert: «Dîner swester zühte und ir wol gezogener muot - / swenne ich dar an gedenke, wie samfte mir daz tuot, / wie wir ensamt sâzen, dô ich êrste wart dîn wîp!» (NL 730,1–3) Beim Botenbericht in Xanten wird der gegenseitigen Freude von Brünhild und Kriemhild auf ein Wiedersehen Ausdruck verliehen (NL  753) und bei der Ankunft der Gäste versichert Brünhild Gunther mit Blick auf Kriemhild: «gerne holt ist ir mîn lîp!» (NL 783,4) 235 Die Fassade beginnt zu bröckeln, wenn Gunther Brünhild explizit dazu auffordern muss, sie solle Kriemhild so empfangen wie seinerzeit Kriemhild Brünhild (NL  783,1–3). Soll das heißen, dass dies nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann? Eine negative Lesart wird durch einen unmittelbar anschließenden Erzählerkommentar nahegelegt: si [d. i. der Hof] dûhte, daz vrou Kriemhilt vroun Brünhilde nie / sô rehte wol enpfienge in Burgunde lant. (NL 787,2 f.) Die Begrüßung Brünhilds durch Kriemhild bei deren Ankunft von Isenstein in Worms erscheint in der Rückschau des Erzählers nun doch nicht mehr ungetrübt. Nach dem gemeinsamen Ritt vor das Münster in Worms leitet der Erzähler mit dem schon zitierten Kommentar diu liebe wart sît gescheiden. daz vrumte groezlîcher nît (NL 812,4) über zum Königinnenstreit.

248



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

Freundschaften in den anderen untersuchten Heldenepen lässt sich ablesen, warum dieses Freundschaftspotenzial im ‹Nibelungenlied› nicht aktualisiert wird. So wie Gunther und Siegfried die einzige symmetrisch angelegte Freundschaft unter männlichen Herrschern im gesamten Textkorpus unterhalten, so wären Kriemhild und Brünhild die einzigen weiblichen Herrscherinnen der Heldenepik, die miteinander befreundet sind. Blickt man auf die anderen Frauenfreundschaften im untersuchten Textfeld in ‹Karl und Galie› und in der ‹Kudrun›,236 so pflegen die dortigen Königinnen jeweils zwei differenzierte, phasenversetzt wirkende Freundschaften zu weiblichen Figuren niederen Herrschafts- bzw. Gefolgschaftsrangs. Kudruns und Galies Begleiterinnen geben alles für ihre Freundin auf, gehen erhebliche Risiken ein und durchschreiten mit ihnen gemeinsam den Leidensweg des Herrschaftsvakuums, wobei sich die beiden Freundinnen narrativ abwechseln, sodass die Zentralfigur stets durch eine Freundin unterstützt wird. Die beiden Begleitfiguren sind dabei jeweils nur mit Kudrun bzw. Galie befreundet, nicht aber untereinander. Das (ständische) Gefälle scheint nun aber von größter Wichtigkeit, insofern der Beistand im Leid der Königin wiederum von jener mit der späteren Verheiratung der Freundin beantwortet wird. Dieser spezifische Mechanismus der Reziprozität unter Freundinnen ist im ‹Nibelungenlied› von vornherein durch die ständische Äquivalenz verunmöglicht. Da Kriemhild und Brünhild keine Freundin aus ihrem Gefolge, sondern nur einander –  und später nicht einmal mehr das – haben, bleibt ihnen sowohl die identitätssichernde Kraft durch die Freundin als auch ihr Rat in der jeweiligen Situation des ellende (für Brünhild in Worms, für Kriemhild später in Etzelburg)237 verwehrt, weil eine dauerhafte Begleitung durch die weit entfernt liegenden Herrschaftsgebiete ausgeschlossen ist. Zudem sind die beiden Herrschaften der Wormser und Xantner beim Aufeinandertreffen Kriemhilds und Brünhilds bereits durch Verheiratungen gesichert, sodass sich durch eine etwaige Frauenfreundschaft kein zusätzlicher Machtgewinn durch eine entsprechende Heiratspolitik ein236

Hildeburg in der ‹Kudrun› ist zwar eine Prinzessin, aber keine aktuell regierende Herrscherin, sie wird es erst am Ende des Textes durch die von Kudrun eingefädelten Verheiratungen. Bis dahin allerdings ist sie Mitglied der Gefolgschaft Kudruns. 237 Es soll hier keinen Spekulationen Vorschub geleistet werden, aber es ist durchaus auffällig, dass im zweiten Teil potenzielle Freundinnen Kriemhilds narrativ herausgehoben und gleichzeitig als Option nicht weiter verfolgt werden. Dadurch bleibt Kriemhild im zweiten Teil isoliert ohne Freundin. Hätte Kriemhild eine Freundin nach dem Muster der weiblichen Begleitfiguren aus ‹Karl und Galie› und ‹Kudrun› erhalten, wäre ihre Identität stabilisiert, ihre Trauer um Siegfried im Sinne der Korrektiv‑Funktion womöglich reguliert worden. Der Erzähler lässt diese Option mit Rüdigers Tochter und Herrat am narrativen Horizont jedoch nur kurz und folgenlos aufscheinen: Auf dem Weg von Worms nach Etzelburg begrüßen (NL 1319 f.) und verabschieden sich (NL 1325–1327) Kriemhild und Rüdigers Tochter voller Zuneigung. Kriemhild schenkt ihr 12 Armreifen und das beste Gewand (NL 1322). Beim Abschied verbalisiert Rüdigers Tochter selbst die Option, ihr als Begleiterin zu dienen: «swenne iuch nû dunket guot, / ich weiz wol, daz ez gerne mîn lieber vater tuot, / daz er mich zuo z’iu sendet in der Hiunen lant.» (NL 1326,1–3) Der Erzähler beschließt dieses Angebot zwar zunächst mit dem Kommentar, daz si ir getriuwe waere, vil wol daz Kriemhilt ervant. (NL  1326,4), erteilt der Freundschaftsoption aber sogleich eine Absage: Ein ander si vil selten gesâhen nâch den tagen. (NL 1328,1) Bei der zweiten Option einer Freundin, Herrat, stellt sich zwar das Problem der Entfernung und des Statusgefälles nicht, denn immerhin steht Herrat dem weiblichen Gefolge am Etzelhof, dem wiederum sieben Königstöchter angehören, vor und ist als Tochter von Helches Schwester und Nentwin selbst eine Königstochter (NL  1379–1381). Auch die Tatsache, dass Herrat wie Kriemhild im ellende ist (NL  1389,3), hätte eine Basis für Freundschaft bilden können. Die Option einer Freundschaft zu Kriemhild, die sie bei der Hofhaltung berät (NL  1389,3), wird im Text aber nach dem Hinweis darauf, dass Herrat hête tougenlîche nâch Helchen grôziu leit (NL 1389,4) nicht weiter forciert. Herrats anhaltende Trauer um Helche blockiert eine mögliche Freundschaft.

249

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

stellen würde, der das Potenzial der Männerfreundschaft zwischen Gunther und Siegfried ergänzen könnte. Dieser Machtgewinn wird bei den anderen Frauenfreundschaften des Textkorpus nun aber durch Verheiratungen auf Dauer gestellt, während diese Option im ‹Nibelungenlied› schon besetzt ist. Wiederholt die Freundschaftsoption Brünhild‑Kriemhild die problematische äußere Anlage der statussymmetrischen Freundschaft unter Herrscherfiguren von Gunther und Siegfried, so kehrt auch das Phänomen der Verähnlichung der beiden Freundesfiguren wieder. Hinsichtlich ihres Hochadels sind sie gleich, hinsichtlich ihrer Schönheit unterscheiden sie sich höchstens graduell.238 Fokussiert man nun weiterhin wie bei Gunther und Siegfried wieder die für Freundschaft relevanten Machtformen, so ergibt sich auch hier ein klares Bild der Ähnlichkeit. Im Königinnenstreit entfalten Brünhild wie Kriemhild ihre soziale Aktionsmacht, allerdings eine der gesellschaftlichen Desintegration der jeweils anderen.239 Die Machtstrukturen mögen bei den Frauen anders gefüllt oder eben auch nicht gefüllt sein, aber die Ähnlichkeit der Machtformen der Freundinnen funktioniert analog zu derjenigen zwischen Gunther und Siegfried. Abermals fehlt nun auch hier autoritative Macht übereinander, die die Beziehung verlässlich und beständig machen könnte. Dies resultiert in der Wirkungslosigkeit dieser Freundschaft in ihrer Dimensionierung auf Herrschaft. Wiederum stabilisiert die Freundschaft Herrschaft nicht, sondern lässt ihr Konfliktpotenzial qua Ähnlichkeit bis hin zur Ununterscheidbarkeit im Königinnenstreit eruptiv hervorbrechen und bildet damit eine der vielen Ursachen auf dem Weg zum katastrophalen Untergangsszenario des Textes. Der Königinnenstreit ist der Flucht- und Endpunkt der (potenziellen) Freundschaften im ersten Teil des ‹Nibelungenliedes›: War die Konkurrenz qua Ähnlichkeit zwischen Siegfried und Gunther durch die Installation einer virtuellen Asymmetrie und den strategischen Einsatz von Abwesenheit des einen Freundes in herrschaftsrelevanten Situationen in der Schwebe gehalten worden, so wird diese Asymmetrie bedingt durch die Standeslüge auf Isenstein und den Betrug in der Brautnacht als factum brutum, also als aktuale Asymmetrie zwischen Brünhild und Kriemhild zum Streitpunkt im Königinnenstreit. Dieser verlängert die Strategie der virtuellen Asymmetrie im Verhältnis ihrer beiden Männer zueinander durch die Frauenfiguren.240 238

Beide Figuren werden zunächst jeweils separat als überaus schön eingeführt (zu Kriemhild NL 2; 45; 300–302; zu Brünhild NL 326; 392 f. u. ö.) und bei ihrem ersten Zusammentreffen in Worms auch direkt miteinander vergleichen (NL  593). Brünhild wird zwar v. a. in den Werbungsspielen und den beiden Hochzeitsnächten durch ihre Kraft individuiert, aber diese wird durch die Bezwingung durch Siegfried getilgt: Dône was ouch si [d. i. Brünhild] niht sterker dann ein ander wîp. (NL 682,1) 239 Brünhild setzt Kriemhild durch die Bezeichnung Siegfrieds als «eigen» Gunthers (NL 821,3) zurück und veranlasst die Trennung der sonst scheinbar durchmischten Gefolgschaften beider Damen (NL 830). Dem steht Kriemhilds «kebse»‑Vorwurf (NL  839,4), ihr Vortritt ins Münster (NL  843) und das Vorzeigen von Ring (NL  847) und Gürtel (NL  849 f.) entgegen. Ansonsten verfügen aber weder Kriemhild noch Brünhild über weitere Machtmittel übereinander. Während man, wovon in Isenstein noch die Rede war, ständisch nicht festgelegt ist, bezeichnet der von Brünhild im Königinnenstreit genutzt Begriff eigen den unfreien Ministerialen, der nicht einmal mehr lehensfähig ist. Vgl. Gephart [Rüsenberg] 1994, S. 39 f.; Schulze 1997, S. 40–45; Müller 1998, S. 92. 240 Der Königinnenstreit ist vielfach besprochen. Vgl. Göhler 2001; Dogaru 2008; Freche 1999, S. 175–188; Ehrismann 2002², S. 92–99; Haustein 1993, S. 378 f.; Miedema 2011, S. 78–88; Ohlenroth 2007. Hier seien nur die für meine Untersuchung relevanten Eckpunkte angeführt: Kriemhild startet das Gespräch in bewunderndem Tonfall, der mithin als Gestus der Überlegenheit ihres Mannes seitens Brünhild gedeutet werden kann (NL 815). Brünhild deutet diese Differenz jedoch hierarchisch zugunsten der Überlegenheit Gun-

250



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

Im Königinnenstreit kulminiert auf engstem narrativem Raum das Problem der durch ihre Symmetrie und Ähnlichkeit bedingten Konkurrenz der Männer, auf die Kriemhilds Kommentar eingangs des Gesprächs hinweist: «ich hân einen man, / daz elliu disiu rîche ze sînen handen solden stân.» (NL  815,3 f.) Es handelt sich dabei um dieselbe Herausforderungslogik, die Siegfried bei seiner Ankunft in Worms bereits verbalisiert hatte. Anders als da ist es hier nun nicht mehr möglich, die Konkurrenz durch die Freundschaftssemantik und die Installation einer virtuellen Asymmetrie aufzufangen, weil sich die Realität für die Frauen anders darstellen muss. Von ihren je eigenen Voraussetzungen ausgehend greift das Gespräch die Bedingungen der Männerfreundschaft zwischen Gunther und Siegfried auf und überschreitet die dort gesetzten strategischen Grenzen. Kriemhild argumentiert einmal explizit mit der Gleichheit der beiden Männer (NL 819,4) und illustriert zu Beginn des Streits die Problematik der Konkurrenz. Die Ähnlichkeit der beiden Männer ist, das hatte die Analyse des vorherigen Teilkapitels ergeben, solange kein Problem, wie sie nicht gemeinsam in herrschaftsrelevanten Situationen auftreten. Im Königinnenstreit sind die Männer aber durch die Rede der Frauen bzw. stellvertretend durch die Frauen und vor dem Münster dann persönlich anwesend. Kriemhilds Gesprächsauftakt macht den Dialog obendrein explizit und in höchstem Maße herrschaftsrelevant. Anwesenheit der Kontrahenten und herrschaftsrelevante Thematik des Königinnenstreits unterwandern die erste Freundschaftsstrategie der Männer. Die ähnlichkeitsbedingte Konkurrenz von Siegfried und Gunther wird, das hatte die vorherige Analyse als zweite Strategie identifiziert, systematisch verschleiert durch die Installation virtueller Asymmetrien mit zwischen den Männern wechselnden Positionen. Auch diese Strategie wird im Königinnenstreit unterminiert, weil die Latenz der Asymmetrie für Brünhild nur als manifeste erscheinen und von ihr als solche argumentativ verteidigt werden kann. Kriemhild erkennt nun zwar die Virtualität der Asymmetrie an der entscheidenden Stelle des Gesprächs (NL 839) an, wendet sie aber durch den Vorwurf, «mannes kebse» (NL 839,4) zu sein, gegen Brünhild. An diesem Punkt zerbrechen die beiden bisher geltenden ‹Vorsichtsmaßnahmen› angesichts der Ähnlichkeit von Gunther und Siegfried: Die Ausgestaltung der Männerfreundschaft durch eine Balance aus An- und Abwesenheit, Symmetrie und Asymmetrie wird im Königinnenstreit imitiert und zugleich verkehrt. Konsequenterweise bedeutet dies das Ende beider Freundschaften. Das Umkippen von Freundschaft in Feindschaft bzw. die der Freundschaft inhärente Konkurrenz wurden vom Erzähler immer wieder proleptisch angekündigt (NL  6,4; 626,4; 812,4) und dann im Königinnenstreit eingelöst: Kriemhild kündigt die Freundschaft mit den Worten «getriuwer heinlîche sol ich dir wesen umbe‑ reit.» (NL 842,4) auf und wechselt in der Folge vom vertraulichen ‹Du› zum distanzierten ‹Ihr› (NL  847,1). Der Erzähler bestätigt: dâ huop sich grôzer haz (NL  843,4) und die vrouwen wâren beide in grôz ungemüete komen. (NL 848,4) Aufgrund der Stellvertretung der Männer durch die Frauen ist damit auch das Ende der Freundschaft zwischen Gunther und Siegfried besiegelt. thers (NL 816–818). Kriemhild kontert und besteht auf der Standesgleichheit von Gunther und Siegfried – «er ist wol Gunthêrs genôz» (NL 819,4) – wie Brünhild auf der Superiorität Gunthers insistiert (NL 820–823). Kriemhild behauptet nun explizit die Höherrangigkeit Siegfrieds (NL 824). Bei der Fortsetzung des Streits vor dem Münster beginnt Brünhild konsequent das Gespräch mit der ständischen Unterlegenheit Siegfrieds, die sie zum Vortritt berechtige. Kriemhild wiederum erkennt nun virtuell (!) die Inferiorität Siegfrieds an, nutzt diese aber, um Brünhild als Siegfrieds, also «mannes kebse» (NL 839,4) zu diskreditieren.

251

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Konnte man bei der Männerfreundschaft zwischen Gunther und Siegfried bereits sehen, dass Freundschaft mit dem jeweiligen Minnebestreben konkurriert (Freundschaftsdienste erfolgen nur auf Grundlage des versprochenen ‹Frauentausches›; Siegfried handelt in der Werbungshandlung um Brünhild gegen den eigenen Rat), so kann man nun, wenn man die Frauenfreundschaft Brünhild‑Kriemhild hinzuzieht, Folgendes sehen: Beide Freundschaften sind strukturell gleich angelegt hinsichtlich Symmetrie und Ähnlichkeit auf Ebene der Machtformen, beide stehen dadurch vor dem Problem latenter Agonalität. Diese ließe sich durch die begrenzte und nur mittelbare Machtfülle von Frauenfiguren durch die Herrschaft von Männern im Falle Brünhilds und Kriemhilds vielleicht noch eindämmen. Durch die Verquickung der Frauen- mit der Männerfreundschaft durch die Verheiratungen führt dies aber nun im Gegenteil nicht nur einen Schritt weiter Richtung Katastrophe, sondern auch zu einer Konkurrenz von Freundschaft (der Männer) gegen Freundschaft (der Frauen) und zwar in der Frage der Deutungshoheit über die Geschehnisse auf Isenstein und in der zweiten Brautnacht. Während die Frauen von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehend an der Aufklärung von Wahrheit interessiert sind, verfolgen Gunther und Siegfried eine Geheimhaltungsstrategie. Freundschaft gerät so auch in Konkurrenz zu Herrschaft, die sie in den anderen Texten sonst regelmäßig zu stützen vermag. In der Konsequenz wird je ein Freund aus Herrschaftserwägungen heraus ‹getilgt›: Siegfried muss sterben; Brünhild kommt als handelnde Figur nach dem Königinnenstreit einfach nicht mehr vor. Nach dem Tod Siegfrieds weiß der Erzähler nur noch zu berichten: Brünhilt, diu schoene,  mit übermüete saz. swaz geweinte Kriemhilt,  unmaere was ir daz. sine wart ir guoter triuwe  nimmer mêr bereit. sît getet ir ouch vrou Kriemhilt  diu vil herzenlîchen leit.  (NL 1100)241

3.2.  Zu viele Freunde: Wucherung von Freundschaft im zweiten Teil Nachdem nun für den ersten Teil des ‹Nibelungenliedes› gezeigt werden konnte, wie bei Gunther‑Siegfried und Brünhild‑Kriemhild Freundschaft dysfunktional in Bezug auf Herrschaftsstabilisierung wird, weil gegen die in den anderen Texten etablierten Spielregeln der Freundschaft verstoßen und eine höchst problematische Konfiguration vorzufinden ist, so setzt sich die so bedingte Freundschaftsproblematik im zweiten Teil fort: Auch hier ergeben sich gleich mehrere, sich gravierend auswirkende Abweichungen von den bisherigen Freundschaftsdarstellungen, wenngleich diese nun anders gelagert sind als im ersten Teil. Die Problemkomplexe lassen sich grob so umreißen, dass Ähnlichkeit die Exklusivität von Freundschaft erodiert und dass Gaben sich als gänzlich ungeeignetes Mittel erweisen, um Freundschaften zwischen Mitgliedern verschiedener Herrschaftsverbände zu stiften. Im Grundsatz führen die nun darzustellenden Probleme zu einer regelrechten inhaltlichen Wucherung von Freundschaften insbesondere im zweiten Teil des Textes bei 241 Wie

weit diese narrative Eliminierung Brünhilds als agierender Figur geht, kann man beim Auftritt der Boten Etzels in Worms sehen, wenn sie die Einladung nach Etzelburg überbringen. Gunther erlaubt Wärbel und Swemmel, Brünhild aufzusuchen, aber Volker verhindert das – Brünhild sei nicht in der Verfassung für Besuch  – und vertröstet sie auf den morgigen Tag, an dem das Treffen freilich auch ausfällt (NL  1485 f.). Das heißt, dass ab dem Zeitpunkt des Königinnenstreits Kriemhild noch nicht einmal mehr über Dritte in Verbindung mit Brünhild gebracht wird.

252



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

gleichzeitiger funktionaler Aushöhlung der Freundschaften im Sinne der Herrschaftssicherung: Freundschaften stützen dabei Herrschaft nicht nur nicht, sie destruieren sie. 3.2.1. Ähnlichkeit und mangelnde Exklusivität: Zur Potenzierung destruktiver Züge durch das Freundschaftsnetzwerk um Hagen als Knotenpunkt Die Forschung hat sich hinsichtlich der von Hagen242 unterhaltenen Freundschaften zwar fast ausschließlich auf seine Beziehung zu Rüdiger gestützt, es wurde aber schon mehrfach registriert, dass Hagen und Volker geradezu symbiotisch agieren. Ich möchte an diese Befunde anschließen und den Blick zugleich weiten: Mir scheint, dass nicht nur Hagen und Volker einander angeglichen werden, sondern dass Hagen über Ähnlichkeiten auch mit Ortwin und Dankwart in einer Weise eng geführt wird, die an symmetrische Kriegerfreundschaften erinnert.243 Das ‹Nibelungenlied› weist eine Verähnlichung von Hagen, Dankwart, Ortwin und Volker im Bereich körperlicher Aktionsmacht auf, die nun aber nicht etwa in Konkurrenz wie bei Roland und Oliver mündet,244 sondern wie bei den beiden Waffenbrüdern Morant und Everhart aus ‹Karl  und  Galie› zu einer Darstellung führt, die Konkurrenz nicht aktualisiert, sondern in einer Einheit der Freunde auflöst. Da es sich aber bei Hagen und seinen Freunden nicht um Hintergrund-, sondern handlungstragende Figuren handelt, wird das vermeintliche Freundesideal der Einheit prekär: Zum einen führt die Vereinheitlichung mehrerer Freundesfiguren zum Verlust der differenzierenden Qualität von Freundschaft. Wenn Exklusivität dergestalt abhandenkommt, können einerseits Freundesfiguren beliebig getauscht (so etwa beim ‹Wegfall› Ortwins und der ‹Neueinführung› Volkers, s. u.) und neu angelagert werden, sodass Freundschaft regelrecht wuchert. Da es sich bei den hier zunächst zu betrachtenden Freunden um die wichtigsten Vasallen Gunthers handelt, zeitigt deren freundschaftlicher Zusammenschluss untereinander den erheblichen negativen Effekt, dass Gunther der Standardfreundesfigur, wie sie wiederholt in den anderen Heldenepen anzutreffen ist, entbehrt, nämlich des Vasallen oder Gefolgsmanns als Freund. Wo Hagen mehrfach freundschaftlich gebunden ist, sind offenbar keine Freundschaftsvalenzen mehr zu Gunther möglich. Das ist nur so lange unproblematisch, wie Gunther sich in seiner Herrschaftsausübung auf Siegfried stützen kann. Mit Siegfrieds Tod allerdings kann Gunther, können aber auch Gernot und Giselher mehrfach nichts gegen die Macht der Freundesgruppe um Hagen ausrichten.

242 Die

Forschung zu Hagen ist ausladend und soll hier nicht referiert werden. Die Interpretationen zu dieser Figur reichen vom Inbegriff der Treue bis hin zum Schurken. Diese Beurteilung hängt mit dem, meine Frage tangierenden Problem zusammen, das oft und bis in jüngste Publikationen hinein traktiert wurde: Bleibt Hagen sich über den Gesamttext ‹gleich› oder wandelt er sich und man hat es dann gewissermaßen mit zwei Hagen zu tun? Für die Einheit Hagens sprechen sich beispielsweise Müller 1998, S. 201, und Brinker-von der Heyde 1999, S. 114, aus, während Heinzle 1991 entschieden für zwei Hagen‑Figuren plädiert. So auch Wapnewski 1993, S. 64; Thelen 1997, S. 387 f. Ich gehe hier von einer sich nicht wandelnden Figur aus, weil ich für Heldenepen die Rede von der Entwicklung einer Figur aus grundsätzlichen Erwägungen heraus, die zuletzt Lienert 2015b pointiert vorgetragen hat, ablehne. 243 Die Auffassung Brinker-von der Heydes 1999, S. 111 f., wonach Hagen ein herausgehobener Einzelgänger und Außenseiter sei, deckt sich mit meiner Lektüre des ‹Nibelungenliedes› nicht. 244 Wolfs 1980, S.  239, Parallelisierung von Hagen‑Volker und Roland‑Oliver stimmt daher nur bei oberflächlichem Blick. Er sieht das Thema der Kriegerfreundschaft im ‹Nibelungenlied› durch Chansons de geste vorgeprägt. Vgl. auch Wolf 2012.

253

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Was hieran bereits ablesbar wird, ist die Tatsache, dass die Brüder Gunthers fehlende Freunde nicht kompensieren können. Hatte die Analyse der anderen Texte zeigen können, dass Freundschaft ein Supplement für Verwandtschaft sein kann,245 so zeigt sich im ‹Nibelungenlied›, dass der umgekehrte Fall nicht gilt: Verwandte ersetzen keine Freunde. Das bedeutet, dass die von Freundschaft getragenen gesellschaftlichen Strukturlasten höher einzuschätzen sind. Im positiven Fall der anderen Texte kann die sozusagen ‹regelkonforme› Freundschaft Herrschaft befördern, die davon – jeweils verschieden – abweichenden Freundschaften des ‹Nibelungenliedes› leisten demgegenüber Beiträge zur Unterhöhlung von Herrschaft und damit zum kollektiven Untergang. 3.2.1.1.  Ortwin und Hagen: Zur Austauschbarkeit des Freundes Ich werde die in der Handlung ineinander verwobenen Freundschaften in der Analyse trennen, damit man die strukturgleichen Mechanismen der Verdopplung und Vervielfachung der Freunde besser sichtbar machen kann. Ich beginne mit Ortwin, der als Neffe verwandtschaftlich an Hagen gebunden ist (NL  11,1; 119,2)246 und als Truchsess (NL  11,2) wie jener zu den wichtigsten Vasallen Gunthers gehört (NL  9). Als Freundschaft kann diese Beziehung bezeichnet werden, weil sich ihr Handeln einerseits sinnhaft am anderen orientiert und weil ihr Verhältnis –  löst man es aus der Gemengelage der Freunde um Hagen – den Anschein relativer Schließung besitzt. Hagen und Ortwin werden regelmäßig in kämpferischen bzw. kampfnahen Kontexten sowie in Szenen der Begrüßung und Versorgung von Gästen gezeigt und damit vom Erzähler und anderen Figuren als Paar wahrgenommen. Gleich der erste gemeinsame Auftritt der beiden Figuren verquickt diese zwei Handlungsfelder und macht die strukturelle Unterlegenheit von Verwandtschaft gegenüber Freundschaft klar: Ortwin schlägt bei der Ankunft Siegfrieds am Wormser Hof erfolgreich vor, Hagen zu konsultieren, um die Identität des Ankömmlings zu klären (NL 81 f.). Nachdem diese eruiert und die angemessene Begrüßung Siegfrieds durch Hagen ausgemacht ist (NL 102 f.), folgt die Herausforderung der Herrschaft Gunthers durch Siegfried, gegen die nach Auskunft des Erzählers Hagen (NL  114,4) und in direkter Rede Gernot (NL 115) widersprechen. Ohne die Reaktion Siegfrieds auf Gernots Kommentar abzuwarten, schaltet sich Ortwin ein und fordert Siegfried unter Verweis auf die mangelnde Gegenwehr der königlichen Brüder heraus: […] «disiu suone  diu ist mir harte leit. iu hât der starke Sîvrit  unverdienet widerseit.

245 Karl

und Galie werden auf ihrer Flucht jeweils nur von Freunden begleitet und in ihrer Identität gestützt, Verwandtschaft tritt –  wie im Falle Ories  – nur optional hinzu. Das Muster der Herrschafts- und Identitätssicherung durch Freunde statt Verwandte findet sich auch in der ‹Kudrun› sowie der Dietrichepik. Im ‹Willehalm› und ‹Rolandslied› werden die verwandtschaftlichen Beziehungen Willhalms zu Vivianz und Karls zu Roland v. a. als Freundschaften konzeptualisiert, bei der Beziehung Willehalms zu Rennewart wird die bestehende Verwandtschaft durch das Unwissen um Rennewarts Identität nicht thematisch. 246 Ortwin steht demnach wie Hagen in einem nicht näher bezeichneten Verwandtschaftsverhältnis zu den burgundischen Königen: In NL 539,1 bezeichnet Gunther Ortwin als «neve[] mîn», was allerdings nicht weiter spezifiziert werden kann angesichts des weiten Bedeutungsspektrums dieser mittelhochdeutschen Verwandtschaftsbezeichnung. Die Verwandtschaft zu Hagen und Dankwart hingegen wird NL 119,2 konkretisiert: Er ist der Sohn einer nicht benannten Schwester von Hagen und Dankwart, Ortwin ist also deren Neffe im engen Sinne der neuhochdeutschen Relationierung.

254



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement Ob ir [d. i. Gunther] und iuwer bruoder [d. i. Gernot]  hêtet niht die wer und ob er danne vuorte  ein ganzez küneges her, ich trûte wol erstrîten,  daz der küene man diz starkez übermüeten  von wâren schulden müese lân.»  (NL 116,3–117,4)

Siegfried lehnt die Herausforderung Ortwins brüskiert ab: Könige kämpfen nicht gegen Vasallen (NL  118). Davon gänzlich unbeeindruckt ruft Ortwin nach Schwertern (NL 119,1), was der Erzähler so kommentiert, dass er qua Verwandtschaft die Gleichheit mit Hagen betont: er mohte Hagenen swester sun von Tronege vil wol sîn. (NL  119,2) Als Gernot einschreitet und Ortwin zu beruhigen versucht (NL 119,4–120,4), schaltet sich nun Hagen in das Gespräch ein und wiegelt es, wie vorher schon Ortwin, mit einem Kommentar zum unrechtmäßigen Verhalten Siegfrieds (NL  121) wieder auf. Wieder kontert Siegfried und warnt Hagen, ihn weiter zu provozieren (NL 122). Abermals und diesmal erfolgreich bemüht sich Gernot um Schlichtung und erteilt allen Männern Redeverbot. Dass dieses v. a. auf Ortwin und Hagen gemünzt ist, zeigt die abschließende Provokation Siegfrieds gegenüber beiden, namentlich erwähnten Freunden: «War umbe bîtet Hagene  und ouch Ortwîn, daz er niht gâhet strîten  mit den vriunden sîn, der er hie sô manegen  zen Burgonden hât?» si muosen rede vermîden.  daz was Gêrnôtes rât.  (NL 125)247

Interessant ist auch die Parallelisierung der beiden Helden im Mordrat, die ihre Parallelisierung in der Herausforderung Siegfrieds bei dessen Begrüßung in Worms wiederholt. Giselher (NL 866) und Gunther (NL 868) sind ausdrücklich gegen ein weiteres Vorgehen gegen Siegfried, Gernot ist zwar anwesend (NL 865,1), sagt aber nichts. Lediglich Ortwin (NL 869) und Hagen (NL 867, 870) sprechen sich für eine Ermordung Siegfrieds aus und bieten sich beide gleichermaßen an, dies zu übernehmen. Letztlich kann Hagen im Nachgang des Rats Gunther zwar allein von seinem Plan überzeugen (NL 873–876), aber die Unterstützung Ortwins während des Rates ist – vergleicht man es mit anderen Ratsituationen – ausschlaggebend.248 Die nähere Ausgestaltung der Beziehung Ortwins zu Hagen bleibt vage. Ob sich ihr gemeinsames Handeln an zweck- oder wertrationalen, affektuellen oder traditionalen Motiven ausrichtet, bleibt im Text offen. Auch zu den Machtformen, die die beiden Figuren übereinander haben, schweigt sich der Erzähler aus. Diese beiden Aspekte unterstreichen die strukturelle Nähe der beiden Freunde zu den Waffenbrüdern Morant und Everhart, deren Beziehung weitgehend ‹unterbelichtet› bleibt. Klar wird lediglich die Zuordnung von Hagen und Ortwin zueinander durch die beschriebenen Szenen. Das wird noch einmal deutlich unterstrichen, wenn Kriemhild – ohne weitere Begründung – sowohl 247 Im

weiteren Verlauf der Handlung werden Ortwin und Hagen gemeinsam bei der Gästebetreuung auf dem Fest nach dem Sachsenkrieg (NL 306,4) und beim Fest zum Besuch der Xantner erwähnt bzw. gezeigt (NL 796). Ortwin agiert gelegentlich auch unabhängig von Hagen bei der Gästebetreuung, aber das ist seiner Position als Truchsess geschuldet: Er rät etwa auf dem Fest nach dem Sachsenkrieg dazu, den Helden die Frauen des Hofes zu zeigen (NL  273 f.). Die Einladungen für das Hochzeitsfest verantworten Ortwin und Gere (NL 564), Ortwin geleitet auch Ute zur Begrüßung Brünhilds (NL 583). Er bereitet das Fest zum Besuch der Xantner gemeinsam mit Sindolt und Hunolt vor (NL 776). 248 In anderen Ratsituationen gelingt es Hagen nämlich in auffälliger Weise nicht, seine Position durchzusetzen, wenn er sie allein und ohne Unterstützung seiner Freunde vertritt: Er kann die Verheiratung Kriemhilds mit Etzel und den Zug der Burgunden ins Hunnenland nicht verhindern.

255

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Hagen als auch Ortwin als Teil der ihr zustehenden Ritterschaft mit nach Xanten nehmen will (NL 697), während sonst keine weiteren Namen angeführt werden. Die Verähnlichung von Hagen und Ortwin und im weiter zu betrachtenden Kontext auch von Volker und Dankwart erfolgt wesentlich auf militärischem Terrain. Dies wird schon zu Beginn sehr deutlich, wenn sich neben Siegfried v. a. diese vier im Sachsenkrieg hervortun: Volker ist Fahnenträger (NL  162,4; 172,2; 196), Hagen der Kommandeur des kleinen Heeresaufgebots (NL  172,4), Dankwart übernimmt die Aufsicht über die Knappen (NL 178,1 f.) und gemeinsam mit Ortwin die Nachhut (NL 178,4). Der Erzähler hebt selbstredend die Kampfkraft jeder einzelnen Figur hervor, schließt sie aber an einer Stelle in seinem Lob auch als Einheit zusammen: Volkêr unde Hagene  und ouch Ortwîn die laschten ime strîte  vil maneges helmes schîn mit vliezendem bluote,  die sturmküene man. dâ wart von Dancwarte  vil michel wunder getân. (NL 201)

Ich werde weiter unten die Beispiele mit Blick auf Dankwart und Volker mehren. Es zeichnet sich aber hier schon eine deutliche Tendenz ab: Zwar mögen die Freunde um Hagen hinsichtlich ihrer Hofämter bzw. Aufgabenfelder am Hof nominell differenziert sein, so werden sie hinsichtlich ihrer körperlichen Aktionsmacht jedoch enggeführt. Dass dies keineswegs zusammengehen muss, zeigt der vergleichende Blick auf ‹Karl und Galie›, wo David und Dederich funktional und hinsichtlich der von ihnen für den Herrscher ausgeübten Machtformen geschieden sind. Gegenüber den anderen, zu Beginn des Textes eingeführten Vasallen des Königshauses (NL 9–12), also Sindolt, Hunolt, Rumolt, Eckewart und Gere, werden die vier im Laufe des Textes sukzessive abgegrenzt und dadurch verschränkt.249 Hagen, Ortwin, Volker und Dankwart werden systematisch gegen die anderen Vasallen am Wormser Hof ausdifferenziert und als Freunde zusammengeschlossen. Die Abgrenzung erfolgt dabei – neben geringerer narrativer Präsenz – einerseits durch die Zuordnung der anderen Vasallen zu weiteren Figuren (Sindolt und Hunolt zu Gernot,250 Eckewart und Gere zu Kriemhild251), zu anderen Aufgaben (Rumolts Statthalterschaft)252 und anderer249

Zu den Hofämtern im ‹Nibelungenlied› vgl. Hucker 2006. der Mundschenk (NL  11,3), und Hunolt, der Kämmerer (NL  11,4), verfügen zwar auch über körperliche Aktionsmacht und sie nehmen daher auch am Sachsenkrieg teil (NL 162,2; 173,1; 200), ihre Sonderstellung gegenüber den vier Freunden scheint allerdings einerseits darauf zu basieren, dass sie explizit Vasallen Gernots sind (NL  235,1). Sie werden im Sachsenkrieg deshalb auch in der Strophe, die dem Lob Ortwins, Hagens, Volkers und Dankwarts (s. o.) vorangeht, mit ihrer Kampfkraft Gernot an die Seite gestellt und damit von den vier anderen getrennt (NL  200). Im Sachsenkrieg werden die beiden nochmals NL  211,3 genannt. Andererseits erwähnt der Erzähler die ohnehin kaum relevanten und damit narrativ kaum präsenten Figuren Sindolt und Hunolt letztmalig bei den Festvorbereitungen zum Besuch von Siegfried und Kriemhild in Worms (NL 776,1 f.). Sie werden neben den genannten Textstellen lediglich noch ein weiteres Mal genannt bei den Festvorbereitungen zur Ankunft Brünhilds in Worms (NL 563). 251 Gere und Eckewart werden gegenüber Hagen, Volker, Ortwin und Dankwart v. a. dadurch abgesetzt, dass diese Figuren Kriemhild assoziiert werden. Das ist bei Eckewart noch stärker als bei Gere augenfällig. Die beiden Figuren rücken aber schon darüber zusammen, dass sie als Markgrafen vorgestellt werden (NL 9,3). Gere begleitet Kriemhild zur Begrüßung Brünhilds (NL 582), ist Teil des Komitees zur Versöhnung Kriemhilds mit Gunther (NL 1109,2), er überbringt ihr nach dem Rat die Werbungsbotschaft Rüdigers (NL 1215 f.) und begleitet Kriemhild auf dem Weg zu Etzel bis zur Donau (NL 1288,1). Es gibt darüber hinaus nur noch zwei weitere Textstellen, die Gere erwähnen, diese sind allerdings ohne Bezug zu Kriemhild (NL 1188,1; 1488,1). Nachdem Hagen und Ortwin es abgelehnt hatten, Kriemhilds nach Xanten zu begleiten, wird Eckewart Teil von Kriemhilds und Siegfrieds Gefolge und reist mit ihr nach Xanten (NL 700,4). Er kümmert sich um die 250 Sindolt,

256



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

seits durch ihre wenig bis gar nicht ausgeprägte Gewaltfähigkeit. Im Gegensatz zu Hagen, Ortwin, Volker und Dankwart treten die anderen Vasallen kaum durch ihre körperliche Aktionsmacht hervor. Gere und Eckewart kämpfen gar nicht. Bezeichnenderweise schläft Eckewart sogar als Grenzwächter, als Hagen auf ihn trifft (NL 1631 f.). Sindolt, Hunolt und Rumolt beteiligen sich zwar am Sachsenkrieg, treten dort aber im Gegensatz zu den Freunden kaum durch Erzählerkommentare in Erscheinung. Im Bericht des Boten in Worms kommen sie nicht einmal namentlich vor, während die Freunde ausgiebig für ihre Kampfkraft im Sachsenkrieg gelobt werden (NL  228–234).253 Abgrenzung gegen andere Vasallen und massive Betonung der Gewaltbereitschaft und -fähigkeit, also körperlicher Aktionsmacht, lassen aus Hagen, Ortwin, Volker und Dankwart eine Einheit werden. Dieser bereits bei Gunther‑Siegfried und über die Männer vermittelt auch bei Brünhild‑Kriemhild beobachtete Komplex der Verähnlichung wird nun allerdings anders als dort bearbeitet. Zum einen kann der eine Freund durch den anderen vollumfänglich vertreten werden. Das lässt sich weiter unten bei Volker und Hagen beobachten. Zum anderen führt die Gleichartigkeit zur Austauschbarkeit der Freunde. Da die Freundschaften jeweils auf Hagen zentriert sind, wie sich in der Gesamtschau noch zeigen wird, ist er nicht austauschbar, sehr wohl aber die anderen Freunde. Unmittelbar sinnfällig wird das bei der Entkopplung der Figur Ortwin von Hagen bei der Versöhnung und Neuverheiratung Kriemhilds. Ortwin scheint im Plot sodann gegen Volker, der zwischenzeitlich aus der histoire regelrecht getilgt wurde, getauscht zu werden. Der Erzähler führt zunächst alle vier Freunde ein (NL 9). Volker wird nach dieser initialen Nennung, bei der ihm zudem kein eigenes Hofamt zugewiesen, dafür aber auf seine Auswahl der Damenkleider (!) im Vorfeld des Besuchs der Xantner in Worms. Nach der Ermordung Siegfrieds bleibt Eckewart mit seinen Männern bei Kriemhild in Worms (NL 1101,1–3): der dienet ir z’allen tagen. / der half ouch sîner vrouwen sînen herren dicke klagen. (NL  1101,3 f.) Gere und Eckewart sind in nicht näher spezifizierter Funktion bei Kriemhild, als Rüdiger die Werbung Etzels mit ihr bespricht (NL 1227,2 f.). Das suggeriert zumindest Vertrautheit von Gere und Eckewart mit Kriemhild. Eckewart bleibt auch in Kriemhilds Diensten, als sie an den hunnischen Hof wechselt. Er schwört ihr in seinem kurzen Redebeitrag Treue bis in den Tod (NL 1283) und nimmt sogar 500 seiner Männer mit (NL 1284). Zum Schluss bekräftigt er noch einmal: «wir sîn vil ungescheiden, ezen tuo dan der tôt.» (NL 1284,3) Auf dem Weg zu Etzel übernimmt er Verantwortung für den reibungslosen Ablauf der Reise (NL 1299; 1312,2). In Etzelburg erfüllt Eckewart zunächst die Aufgabe als Kriemhilds Kämmerer (NL 1398,3). Später bewacht er in Rüdigers Diensten (NL 1633,4) die Grenzmark zu Etzels Land und vermittelt den Burgunden die Unterkunft bei Rüdiger (NL 1631–1642). 252 Rumolt wird zunächst den Figuren Sindolt und Hunolt näher zugeordnet, wenn er mit ihnen in einer Strophe eingeführt (NL  10), als Kämpfer an der Seite der beiden im Sachsenkrieg hervorgehoben (NL  235) und ebenfalls gemeinsam mit ihnen bei den Festvorbereitungen zur Ankunft Brünhilds in Worms erwähnt wird (NL 563). Danach allerdings gewinnt er im begrenzten Rahmen seiner narrativen Präsenz ein eigenes Profil, wenn er Kriemhild auf dem Weg zu Etzel unabhängig von den beiden bis zur Donau geleitet (NL 1288,2), v. a. aber wenn er seinen berühmten Rat zum Verzicht der Burgunden auf die Fahrt nach Worms formuliert (NL 1465–1469). Seine Desintegration gegenüber Hagen, Volker, Ortwin und Dankwart ist final aber auch dadurch motiviert, dass Rumolt als Statthalter in Worms bleibt und Gunther ihm die Aufsicht über Brünhild und seinen Sohn überträgt (NL 1518 f.). Damit scheidet auch Rumolt aus dem Text aus. Vgl. zu Rumolts Rat Murray 1997. 253 Man könnte einwenden, dass Ortwin sich auch nur am Sachsenkrieg beteilige und noch vor weiteren Kämpfen aus dem Text getilgt werde. Allerdings ist er im Sachsenkrieg und dem nachgängigen Bericht stärker präsent (NL 173,3; 178,4; 201, 211,3; 231,1–3). Außerdem signalisiert Ortwin seine Gewalt- und Risikobereitschaft zweimal und zwar jeweils in Parallelisierung mit Hagen: Bei der Ankunft Siegfrieds ist er nach dessen Herausforderung zum Kampf bereit (NL  116 f.) und er bietet sich im Mordrat an, die Ermordung Siegfrieds zu übernehmen (NL 869). Volker kommt im Bericht der Boten aus dem Sachsenkrieg zwar nicht vor, seine körperliche Aktionsmacht wird dafür im zweiten Teil des ‹Nibelungenliedes› überdeutlich konturiert.

257

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

für die Freundschaft bestimmende Stärke abgehoben (NL 9,4) wird, noch im Sachsenkrieg gezeigt (NL 162; 172; 196; 201; 211) und verschwindet danach im gesamten ersten Teil bis zur 20. Aventiure aus dem Text, wo er – gemessen an modernen Maßstäben der Figurenbehandlung  – geradezu plötzlich wieder bei der Begrüßung Rüdigers in Worms auftaucht (NL 1188,2). Aktiv in die Handlung greift er allerdings erst in der 24. Aventiure wieder ein, wenn er sich gemeinsam mit 30 seiner Männer am Zug der Burgunden nach Etzelburg beteiligt (NL 1476). Dort wird er auch direkt im Anschluss vom Erzähler ein zweites Mal als Figur eingeführt (NL 1477). In der Folge wird Volker als handlungsbestimmende Figur und v. a. als Freund Hagens massiv profiliert.254 Bei Ortwin wird umgekehrt verfahren: Nach seiner Einführung und starken Präsenz an der Seite Hagens bei der Begrüßung Siegfrieds, im Sachsenkrieg sowie im Mordrat im ersten Teil, verliert sich seine Spur im zweiten Teil. Allein diese wechselnde Besetzung der Freundesfigur Hagens im ersten gegenüber dem zweiten Teil lässt auf einen Austausch Ortwins gegen Volker schließen. Noch deutlicher wird diese nacheinander geschaltete Phasierung der beiden Freunde Hagens, wenn man sich die letzten Auftritte Ortwins anschaut. Dieser wird dergestalt von Hagen entkoppelt, dass er nicht mehr – wie bisher  – als Dublette Hagens taugt und entsprechend kommentarlos aus dem Text verschwindet. Ortwin, der noch im Mordrat mit Hagen in seinem Willen zur Ermordung Siegfrieds zusammenklang, wird von Gunther für die Anbahnung der Versöhnung mit Kriemhild gemeinsam mit Gernot, Giselher und Gere zu dieser geschickt (NL  1109). Danach begleitet er Kriemhild –  abermals gemeinsam mit Gernot, Giselher, Gere und obendrein Rumolt – auf dem Weg zu Etzel bis zur Donau (NL 1288) und verteilt – fast schon erwartbar – wiederum gemeinsam mit Gernot, Giselher und Gere Geschenke an die Boten Etzels (NL 1488). Die Neuausrichtung Ortwins auf die Figuren Gernot, Giselher und Gere sowie die damit einhergehende Abkopplung von Hagen nach dem Mordrat sind überaus auffällig. Danach interessiert sich der Erzähler nicht mehr für Ortwin. Version *C plausibilisiert das Fehlen Ortwins zwar noch in einer Zusatzstrophe, aber auch so, dass die Distanz gegenüber Hagen weiter forciert wird. Ortwin folgt nämlich explizit Rumolts Rat und bleibt in Worms (NL *C 1502).255 3.2.1.2. Dankwarts Verstärkereffekt auf Hagen: Zu eigenmächtigem Handeln und Stellvertretung unter Freunden Bevor ich mich weiter Volker zuwende, möchte ich zunächst noch die Beziehung Hagen‑Dankwart näher beleuchten. Diese scheint mir keine rein verwandtschaftliche bzw. konkreter rein brüderliche Beziehung zu sein, wenngleich im Text auf die Bezeichnung als brüeder mehrfach abgehoben wird (NL 443,1; 446,2; 515,4; 1599,4; 1613,2; 1933,4; 1947,4). Die Tatsache des Bruderverhältnisses allein rechtfertigt keineswegs die Relevanzsetzung Dankwarts, wie ein Blick auf die Dietrichepik zeigt, in der Dietrichs Bruder Diether höchstens gelegentlich namentlich auftaucht und dort, wo er wie in der ‹Rabenschlacht› eine handelnde Rolle erhält, ist diese von Dietrich relativ unabhängig. Das ‹Nibelungenlied› selbst liefert mit Gunther, Gernot und Giselher sowie mit Etzel und Blödelin 254

Seine – im Vergleich zur Parallelisierung mit Hagen – auf diesen Punkt begrenzte Individuierung als Spielmann (NL  1477 u. ö.) ist hingegen weniger überraschend, als dies einige Interpretationen nahelegen. Volker wird bereits im Sachsenkrieg als der starke spileman (NL 196,2) apostrophiert. 255 Die Zitation der C‑Zusatzstrophen erfolgt nach der Ausgabe Batts’ 2010 [1971].

258



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

Beispiele für rein brüderliche Beziehungen, die gerade nicht das Freundschaftspotenzial nutzen.256 Dass es ein durchaus gängiges Verfahren ist, die Beziehung der Freundschaft gegenüber der verwandtschaftlichen Bindung prioritär zu setzen, hatten die Analysen der als Neffe und Onkel qualifizierten Roland‑Karl- und Vivianz‑Willehalm‑Freundschaften zeigen können. Hier reiht sich auch die Ortwin‑Hagen‑Beziehung ein. Auch bei Dankwart‑Hagen lässt sich nun, meine ich, eine Freundschaft im Sinne gegenseitig aufeinander eingestellten Handelns, relativer Schließung nach außen und Zuordnung der beiden Figuren zueinander durch Erzähler wie dritte Figuren konstatieren. Da es sich bei Dankwart, im Gegensatz zu Ortwin und Volker, um eine mal mehr, mal weniger, aber doch durchgängig präsente Figur handelt, wird eine Freundschaft zusätzlich durch die Marker Stabilität und Dauer, also eher traditionale Motive der Schließung, nahegelegt. Dankwart bekleidet wie Ortwin auch eines der wichtigen Hofämter, sein Aufgabenbereich als Marschall (NL  11,1) orientiert ihn aber sachgemäß stark auf den kämpferischen Bereich.257 Diese Affinität der Figur für das Kämpferisch‑Kriegerische ist es auch, die Dankwart und Hagen zusammenschließt. Das wird relativ zu Beginn des Textes bei der gemeinsamen Fahrt Dankwarts und Hagens (NL 342; 359) als Begleitung des Werbungsaufgebots von Siegfried und Gunther nach Isenstein exemplarisch illustriert. Die Zuordnung und Vergleichbarkeit von Dankwart und Hagen ist an ihrer schwarzen Kleidung (NL  402) gegenüber der weißen von Gunther und Siegfried (NL  399) ablesbar.258 Beide werden zudem in dieser Episode ihrer Funktionen – Hagen seiner Planungsaufgaben, Dankwart als Marschall des Stratorendienstes – durch Siegfried enthoben: Dancwart könnte prinzipiell durch eine andere Figur ersetzt werden. Hagen und Dancwart sind jedoch dadurch verklammert, dass beide ihre andernorts übliche Funktion nicht realisieren: Hagen […] bleibt ebenso wie Dancwart im Hintergrund; beide delegieren ihre Funktionen an Sivrit.259

Gleichermaßen treibt Hagen und Dankwart aber v. a. mehrfach die Sorge wegen der abgegebenen Waffen um.260 Der Erzähler lässt ihre Überlegungen verschmelzen: si dâhten: 256 Blödelin

handelt mit Kriemhilds Plan des Überfalls auf die burgundischen Knappen gegen das Interesse seines Bruders Etzel und selbst bei den burgundischen Königen mangelt es an den entscheidenden Stellen am Zusammenhalt, wie man ihn hingegen bei Freundschaftsbeziehungen ablesen kann. Wenn Gernot und Giselher während der inszenierten Jagd um Siegfrieds Mord dâ heime (NL 926,4) bleiben, dann kann man das freilich mit der finalen Motivation, die Figuren von Schuld zu entlasten, begründen. Es zeigt allerdings auch symptomatisch, dass es mitunter an Vertrauen und Solidarität zwischen den Brüdern mangelt. 257 Er kümmert sich regelmäßig um die Versorgung und Einquartierung der eigenen Knappen beim Sachsenkrieg (NL 178), des Gefolges der Xantner beim Besuch in Worms (NL 800), beim Zug der Wormser ins Hunnenland (mehrfache Betonung NL 1524,4; 1645,3 f.; 1647; 1689) und der Knappen in Etzelburg selbst (NL 1736; 1870). 258 Brinker-von der Heyde 1999, S. 112, liest die schwarze Kleidung gemäß ihrer These vom Einzelgängertum Hagens als Markierung des hierarchischen Unterschiedes zu Gunther, aber v. a. des Kontrasts zu Siegfried. Dass Dankwart ebenfalls schwarz trägt, registriert sie zwar, muss es aber für ihre Interpretation Hagens beiseiteschieben. 259 Dimpel 2016, S. 326 f. 260 Zuerst lehnt es Hagen erfolglos ab, seine Waffen abzugeben (NL  406). Als drei Männer Brünhilds Ger herbeitragen (NL  440 f.), entspinnt sich ein kurzer Dialog zwischen Dankwart und Hagen, indem ihre Redebeiträge bis in den syntaktischen Aufbau wie lexikalischen Bestand hinein parallelisiert werden. Hagen greift Dankwarts Bedenken (NL  444) wegen der gefährdeten Rückkehr, das Gedankenspiel um die Waffen sowie den «übermuot» der Gegenpartei in seiner Replik (NL  446) Punkt für Punkt auf. Hagen präzisiert zwar, dass aus seiner Sicht v. a. der «übermuot» Brünhilds «gesenftet» werden müsse (NL  446,4), wiederholt damit aber nur die feindliche Einstellung gegenüber Brünhild, die schon Dankwart zum Schluss seiner

259

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

«unser reise diu ist uns recken niht ze guot.» (NL 430,4) Hagen und Dankwart werden zudem in der Beschreibung der Gäste durch einen von Brünhilds Männern bis zur Ununterscheidbarkeit verähnlicht: Nachdem dieser Siegfried (NL 411) und Gunther (NL 412) erläuternd für Brünhild vorgestellt hat, heißt es über Hagen und Dankwart: «Der dritte der gesellen  der ist sô griulîch (und doch mit schoenem lîbe,  küneginne rîch) von swinden sînen blicken,  der er sô vil getuot. er ist in sînen sinnen,  ich waene, grimme gemuot. Der jungeste dar under  der ist sô lobelîch: magtlîcher zühte  sihe ich den degen rîch mit guotem gelaeze  sô minneclîche stân. wir möhten’z alle vürhten,  hête im hie iemen iht getân. Swie blîde er pflege der zühte  und swie schoene sî sîn lîp, er möhte wol erweinen  vil waetlîchiu wîp, swenn er begunde zürnen.  sîn lîp ist sô gestalt, er ist in allen tugenden  ein degen küene und balt.»  (NL 413–415)

Dass die namentliche Zuordnung nicht nur aufgrund mangelnder Kenntnisse des Isensteiners unterbleibt, sondern dergestalt auch eine Identifikation Hagens mit Dankwart erfolgt, legt der Inhalt der beiden Beschreibungen nahe. In beiden wird der Gedanke einer Ambivalenz schöner äußerer (NL 413,2 und 415,1) Erscheinung bei gleichzeitiger Wehrhaftigkeit und Furcht einflößendem, heldenhaftem Mut (NL 413,1 und 414,4; 413,4 und 415,4) formuliert. Die Forschung meint, in Strophe 413 eindeutig Hagen erkennen zu können aufgrund der Beschreibung als griulîch, grimme gemuot und wegen der scharfen Blicke.261 Mir scheint das hingegen alles andere als eindeutig zu sein.262 Die Verunklarung der ZuordRede formuliert hatte. Bevor Gunther sterben müsse, «müese den lîp verliesen daz vil schoene magedîn.» (NL 445,4) Zuvor hatten sich beide gleichermaßen Sorgen um Gunther gemacht (NL 430,2 f.). Als Brünhild besiegt und die Behandlung der Gäste merklich besser geworden ist (NL  469,3), betrachtet der Erzähler Hagen und Dankwart abermals als Einheit und referiert: Dancwart und Hagene die muosen’z lâzen âne haz. (NL  469,4) Sie wirken auch zusammen bei der Depotenzierung von Brünhilds Macht, wenn Dankwart als Kämmerer ihre Schätze ‹verschleudert› (NL 514–516) und Hagen auf Brünhilds Bestürzung darüber mit dem Kommentar abwiegelt, Gunther habe genügend Gold und Kleider (NL 519). 261 Vgl. den Kommentar bei Heinzle 2015, S. 1146, mit Verweis auf Panzer 1955, S. 237 f., und Backenköhler 1961, S. 41. 262 Der Verweis von Heinzle im Kommentar zu der Stelle in seiner Edition auf Strophe 1734, wo Hagen am Hunnenhof vom Erzähler beschrieben wird, stellt keinen zwingenden Bezug her. Hagen hat dort ein eislîch […] gesihene (NL  1734,4) und scheint damit zur Beschreibung von 413 zu passen, die dann Hagen zugeschrieben wird. Zwingend ist das aber nicht, da auch die Strophen 414 und 415 einen Furcht erregenden Zug der Figur, welche es auch immer sei, referieren. Man könnte als weitere ‹Beschreibung› von Hagens Äußerem noch auf das Zögern von Rüdigers Tochter, Hagen zu küssen, weil er ihr sô vorhtlîch (NL 1665,4) vorkommt, verweisen. Aber auch dann würde mit Blick auf die hier interessierenden Strophen 413–415 nochmals gelten: Beide Figuren werden gleichermaßen als grausam und Furcht einflößend beschrieben. Also ist auch von Strophe 1665 keine Sicherheit über die Zuordnung von 413–514 zu gewinnen. Heinzle 2015, S. 1393, muss im Kommentar zu Strophe 1734 schon die «sagennotorische[]» Einäugigkeit Hagens bemühen, um einen Rückschluss auf die in Strophe 413 erwähnten «swinden […] blîcke[]» (NL 413,3) und damit eben auf Hagen herstellen zu können. Von dieser Einäugigkeit Hagens weiß das ‹Nibelungenlied› nun aber gerade nichts. Höchstens NL 84,2, wo Hagen Siegfried betrachtet, könnte darauf verweisen, aber dort heißt es ganz unspezifisch: sîn ouge er dô wenken zuo den gesten lie. Das muss man nicht nummerisch, sondern kann es

260



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

nung im Text selbst und die daraus resultierende Verwirrung der Forschung sprechen für mich insgesamt eher dafür, dass die Ununterscheidbarkeit der beiden Figuren hier durchaus kein Zufall ist, sondern dem Programm der Engführung von Dankwart und Hagen Vorschub leistet, deren Basis in der Isenstein‑Episode gelegt wird.263 So stellen Hagen und Dankwart gemeinsam 80 ihrer Männer für den Zug der Burgunden nach Etzelburg bereit (NL 1475). Auf der Reise werden die beiden nochmals deutlich einander zugeordnet, wenn sie die gemeinsame Nachhut übernehmen (NL 1599), nachdem Hagen den Fährmann getötet hat (NL  1562) und dadurch der Racheakt der Beiern und damit seiner Herren, der Brüder Gelfrat und Else, absehbar ist. Die Zuordnung ist hier schon allein deshalb recht exklusiv, weil lediglich Hagen mit Dankwart und den gemeinsamen Männern vom bevorstehenden Kampf zu wissen scheinen. Jedenfalls legt dies Hagens Versuch nahe, den Kampf (NL  1620) und die Rückkehr des kleinen Trupps zum Hauptheer (NL  1621) gegenüber Gunther zu verschweigen. Auch beim sogleich einsetzenden Angriff der Beiern greifen Dankwarts und Hagens Handlungen perfekt ineinander.264 Dass Dankwart hinsichtlich seiner körperlichen Aktionsmacht ein Äquivalent zu Hagen ist, unterstreicht nicht zuletzt sein unermüdlicher Kampf beim Überfall der Knappen durch Blödelin in Etzelburg (NL  1921–1950). Dankwart wird so eine erzählerische Aufmerksamkeit für seine Kampfkraft zuteil, die derjenigen für Hagen und auch Volker in nichts nachsteht. Er tötet Blödelin (NL 1927), überlebt als einziger den Überfall (NL  1936), während 9000 Knappen getötet worden sind, und bahnt sich kämpfend in heroischem Gestus gegen die Übermacht der Hunnen den Weg aus dem Quartier und zum Saal. Sein Ziel ist dabei nicht primär der Saal, sondern vielmehr Hagen (NL 1941), von dem er wünscht, dass er um seine Lage wüsste, denn: «der hulfe mir von hinnen oder er gelaege bî mir tôt.» (NL 1941,4)265 Im Saal angekommen informiert Dankwart dann auch nicht etwa die burgundischen Könige, sondern ausschließlich Hagen (NL  1951–1956). auch im Sinne von ‘sein Blick richtete sich auf’ auffassen. Die Lösung scheint Heinzle 2015, S. 1146 f., selbst nicht ganz zu befriedigen: «Irritierend bleibt, daß dann ausgerechnet dem im Handlungszusammenhang unbedeutendsten der vier Helden zwei Strophen eingeräumt würden […].» 263 Dann ist auch das Übergewicht von zwei Strophen für die zweite Figur gegenüber einer Strophe für die erste Figur weniger irritierend, weil damit im Grundsatz sowohl Hagen als auch Dankwart gemeint sind. 264 Dankwart entdeckt die Verfolger (NL 1601), Hagen stellt sie zur Rede und provoziert (NL 1602–1606). Auch im Kampf selbst wird die Parallelisierung fortgesetzt: Gelfrât unde Hagene. in was z’ein ander ger. / Else unde Dancwart vil hêrlîche riten. (NL 1608,2 f.) Hagen gerät allerdings durch Gelfrat in arge Bedrängnis (NL 1612) und ruft Dankwart zu Hilfe (NL 1613), der ihm das Leben rettet und Gelfrat tötet (NL 1614). Else kann zwar entkommen, aber Dankwart plädiert für eine zügige Rückkehr zum Heer (NL 1617), wo Hagen klären lässt, wer im Kampf umgekommen ist (NL 1618). 265 Die Parallelisierung mit Hagen scheint sich auch auf Dankwarts instrumentelle Interpretation der Wahrheit zu erstrecken: Als Blödelin ankündigt, dass Dankwart für Hagens Mord an Siegfried büßen werde (NL 1923), redet sich Dankwart damit heraus, dass er zum Zeitpunkt der Ermordung Siegfrieds «ein wênic kindelîn» (NL 1924,3) gewesen sei. Das ist eine glatte Lüge, denn Dankwart hatte bereits als ‹ausgewachsener› Held an der Isenstein‑Fahrt teilgenommen und zwischen jener und der Ermordung Siegfrieds liegen auch wiederum mindestens zehn Jahre, worauf die Angabe des Geburtszeitpunkts der beiden Königssöhne verweist (NL 715). Auch Hagen handhabt die Wahrheit durchaus strategisch und versucht Gunther hinsichtlich der Ermordung des Fährmanns (NL 1567 f.) und des Kampfes gegen die Beiern zu belügen (NL 1620). Auch hinsichtlich der Furcht der Hunnen vor ihnen sind Dankwart und Hagen (sowie im weiteren Sinne auch Volker, dazu s. u.) ununterscheidbar: Gegen Dankwart wagt auf seinem Weg vom Knappenquartier zum Saal aus Furcht keiner der Hunnen direkt anzugreifen (NL 1944; stattdessen wird er mit Geren beschossen). Auch gegen Hagen und Volker wagen die vorher fest entschlossenen Hunnen aus Furcht nicht anzutreten, als sie vor Kriemhild sitzen bleiben (NL 1793).

261

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Dieser lässt Dankwart die Tür zum Saal bewachen (NL 1957), köpft Ortliep (NL 1961) und setzt damit die anschließende Saalschlacht in Gang. Dankwart und Hagen stellen damit gewissermaßen im Alleingang die Weichen für das Folgegeschehen. Dass Dankwart und Hagen ihr Leben für einander einzusetzen bereit sind, unterstreicht Dankwart nochmals, als Kriemhild die Herausgabe Hagens für einen Friedensschluss fordert (NL 2104). Die Forschung registriert hier meist nur den Widerspruch durch Gernot und Giselher (NL 2105 f.), aber auch Dankwart trägt energisch seine Loyalität zu Hagen vor, wobei er mit seiner körperlichen Potenz droht: Dô sprach der küene Dancwart  (im zaeme niht ze dagene): «jâne stêt niht eine  mîn bruoder Hagene. die hie den vride versprechent,  ez mac in werden leit. des bringe ich iuch wol innen.  daz sî iu waerlîch geseit.»  (NL 2107)

Zumindest von Seiten Dankwarts stellt der Text in Ansätzen eine wertrationale triuwe‑Basis für die Geschlossenheit seiner Beziehung zu Hagen her, ansonsten bleiben die Motive für die Freundschaft wie schon bei Ortwin unbelichtet. Der globale Eindruck der Gleichheit wird zuungunsten detaillierter Zeichnung der Beziehung präferiert. Dankwarts Ähnlichkeit mit Hagen bewirkt zweierlei: Zum einen lassen sich keine relevanten Impulse der Herrschaftssicherung oder gar -erweiterung von einer so konstruierten Freundschaft erwarten. Nun können statussymmetrische Freunde, das hatten die Analysen der anderen Heldenepen ergeben, Herrschaft ohnehin nicht unmittelbar (wie etwa bei einer Freundschaft zwischen Herr und Gefolgsmann), sondern nur mittelbar stützen. Das wird nun aber obendrein noch ins Gegenteil verkehrt: Dankwart entpuppt sich als Dopplung, als Double Hagens, sodass sich die beiden Figuren noch gegenseitig bestätigen können, aber solcherart eben auch nach außen abgesondert und auf Distanz zur nominellen Herrschaftsinstanz, nämlich Gunther, gesetzt sind. Dieser interne ‹Verstärkereffekt› der Freundschaft führt zu eigenmächtigem Handeln –  teilweise in offener Opposition zum Königshaus. Das hatte der Kampf Dankwarts und Hagens gegen die Beiern, das hatte aber auch das von den beiden bestimmte Setting der Saalschlacht deutlich herausgestellt. In der Rückschau lassen sich ähnliche Tendenzen auch für Ortwin und Hagen ausmachen. Die zweifache Herausforderung Siegfrieds bei dessen Ankunft in Worms und die wiederum von beiden Figuren vorgetragene Tötungsabsicht im Mordrat lassen die Figuren als Echo füreinander erscheinen. Da die Freunde nun jeweils über körperliche Aktionsmacht verähnlicht sind, ist so schnell ein kritisches Level akkumuliert, dessen Effekte unberechenbar sind: mal kann die Eskalation mit einiger Mühe abgewendet werden (Begrüßung Siegfrieds), mal ist der Verlust überschaubar (Kampf gegen die Beiern), mal sind sie dramatisch (Mord an Siegfried, Saalschlacht). Freundschaft erweist sich so auch unterhalb der Herrschaftsebene als überaus destruktiv. Dieser Eindruck wird sich bei der Betrachtung von Volker und Hagen sowie der weiteren angebahnten Freundschaften des Textes noch entschieden erhärten. Die Verähnlichung nicht nur Dankwarts mit Hagen, sondern auch Ortwins (s. o.) und Volkers (s. u.) mit Hagen führt zum anderen dazu, dass die doch eher auf Hagen zentrierten Freundschaftsdyaden tendenziell als Freundschaftsnetz genutzt werden können. Dass die Figuren neben den dyadischen Konstellationen durchaus auch als größere Einheit wahrgenommen werden, zeigt sich etwa daran, dass regelmäßig neben den burgundischen 262



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

Königen namentlich und gewissermaßen als Dreiklang Dankwart, Hagen und Volker begrüßt werden.266 Die Freunde können durch ihre netzwerkartige Struktur in wechselnden Kombinationen Aufgaben bewältigen.267 Ihre Verähnlichung ermöglicht zugespitzt ihre vollumfängliche Stellvertretung, sodass sie flexibel für einander einstehen können. Daneben potenziert sich die körperliche Aktionsmacht und damit auch ihre destruktiven Züge noch mehr, wenn die Freunde nicht nur in dyadischen Konstellationen, sondern als Netz auftreten. Das wird unmittelbar sinnfällig beim Auftakt der Saalschlacht, in der die Freundschaftsdyaden ineinandergreifen und einen destruktiven Sog erzeugen: Dankwart informiert ausschließlich Hagen über den Überfall der Knappen, Hagen lässt ihn die Tür bewachen, köpft Ortliep und schlägt Wärbel die Hand ab. Die weitere Darstellung legt hingegen nahe, dass die Saalschlacht erst dadurch wirklich in Gang kommt, dass sogleich Volker auf- und Hagen im Kampf beispringt (NL 1966). Gegen diese Übermacht der Freunde sind die Könige zu Statisten ‹verkommen›.268 Der Erzähler erwähnt sie erst, als Dankwart, Hagen und Volker das Geschehen schon unumkehrbar bestimmt haben und zudem in einer Weise, die die Könige machtlos zeigt: Ouch sprungen von den tischen  die drîe künege hêr. si wolden’z gerne scheiden,  ê daz schaden geschaehe mêr. sine mohten’z mit ir sinnen  dô niht understân, dô Volkêr unde Hagene  sô sêre wüeten began. (NL 1967)

Die Potenzierung der destruktiven Züge durch den Einsatz des Freundschaftsnetzes zeigt sich auch in der Versiegelung des Saals: Dankwart gerät bei der Bewachung der Tür in Bedrängnis (NL 1974), Hagen bittet Volker um Hilfe und Rettung Dankwarts (NL 1975 f.) und die beiden halten sodann gemeinsam die Tür (NL  1977–1979), womit –  nach dem Abzug Dietrichs und Rüdigers  – das Schicksal der noch im Saal befindlichen Hunnen besiegelt ist. Das Problem mangelnder autoritativer Macht der Freunde übereinander, das bereits auf der Herrschaftsebene zwischen Gunther und Siegfried festgestellt wurde, kehrt nun zunächst bei Dankwart und Hagen wieder. In der Beziehung Hagen‑Ortwin wurde das noch nicht virulent, weil deren Aktionen jeweils harmonisiert wurden. Bei Dankwart gibt es erstmals potenziellen Widerspruch gegen Hagens Vorgehen, wenn er hinterfragt, warum Hagen das Fährschiff über die Donau zerstört habe (NL 1582,1–3). Hagen belügt Dankwart, er wolle Feiglinge so mit dem Tod bestrafen (NL 1583), während der Erzähler mitteilt, Hagen habe später (sît; NL  1582,4) erklärt, dass es sich um eine Reise ohne Rückkehr handele. Bei Volker zeigt sich das Problem noch deutlicher, weil hier zwei Ratschläge Volkers an Hagen aufeinanderfolgen, mit denen Hagen verschieden umgeht: Den Rat Volkers, vor Kriemhild aufzustehen (NL 1780), wehrt Hagen unter Verweis auf einen angeblichen Ehrverlust ab (NL 1781 f.), während er seinem Rat, zurück zu den drei 266

So verhält es sich bei der Begrüßung durch Dietrich (NL 1724), durch Rüdiger (NL 1657 f.), seine Frau Gotelind (NL 1651 f.) und seine Tochter (NL 1665 f.) und so hatte schon Eckewart Rüdiger neben den Königen von den drei Freunden grüßen lassen (NL 1645). 267 Mal übernehmen Dankwart und Ortwin die Nachhut (im Sachsenkrieg NL 178), mal Dankwart und Hagen (vor dem Angriff der Beiern NL 1599), mal beraten Dankwart und Volker über das Nachtlager (NL 1622 f.), mal halten Volker und Hagen Nachtwache (NL 1828–1847; 2120 f.). 268 Müller ³2009, S. 119, sieht Volker, Hagen und Dankwart seit dem Aufbruch aus Worms als Anführer, die die Königsbrüder zu Statisten werden lassen.

263

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Königen zu gehen, um sie vor Angriffen zu schützen (NL  1800), umstandslos folgt und betont: «Nû [‘«jetzt, in diesem Fall»’] wil ich iu volgen» (NL 1802,1). Hagen entscheidet fallweise nach eigenem Ermessen, welcher Rat zu seinen Plänen passt –  Verlässlichkeit zwischen den Freunden scheint so selbst zwischen Volker und Hagen, deren Freundschaft am breitesten ausgestellt wird, nicht gegeben. Das lässt sich als Folge der Gleichheit der Freunde ableiten: Wo alter so ist wie ego, kann keine korrektive Kraft von alter ausgehen bzw. kann ego bei Widerspruch von alter stets und gewissermaßen ohne Verluste auf sich selbst ‹zurückfallen›. 3.2.1.3.  Volker als Hagens Duplikat: Zum destruktiven Sog von Freundschaft Zum Schluss dieser ersten Reihe von Freundschaften Hagens im eigenen Herrschaftsverband soll nun noch seine Beziehung zu Volker näher beleuchtet werden.269 Die Anbahnung Volkers als Freundesfigur im ersten Teil des ‹Nibelungenliedes› habe ich bereits referiert, hier soll es nun um deren volle Entfaltung im zweiten Teil gehen. Die Freundschaft von Volker und Hagen ist im Vergleich zu derjenigen Hagens mit Ortwin und Dankwart wesentlich intensiviert und z. T. abweichend konstruiert. Das für das ‹Nibelungenlied› grundierende Freundschaftsmuster der Verähnlichung und Engführung findet sich aber auch hier nicht nur wieder, sondern zugleich seinen Kulminationspunkt. Entsprechend wird die Freundschaft als stärker geschlossen im Sinne der Weber’schen Vergemeinschaftung und damit ihre Zuordnung als Freunde durch einander, den Erzähler und weitere Figuren fester dar269

Classen 2010, S. 432, sieht in der Freundschaft Hagen‑Volker ein Gegenbild zu den sonst negativ gezeichneten Freundschaften im ‹Nibelungenlied›. Ich werde hier im Gegenteil behaupten, dass von Volker und Hagen massive destruktive Potenziale aufgrund ihrer Ununterscheidbarkeit ausgehen. Dewhurst 2004, S. 27, charakterisiert die Beziehung Volker‑Hagen als «parable of loyalty to one’s comrade‑in‑arms over which only death has dominion». Auch die literarische Rezeption der Volker‑Figur, auf die Dewhurst 2004, S. 31, zu sprechen kommt, fasst ihn und Hagen als Freunde auf, zeigt sie Volker doch als Hagens Waffenbruder und Ergänzung. Schon Gentry 1975, S. 30, charakterisiert die Hagen‑Volker‑Beziehung als «deep and touching relationship», die vergleichbar intensiv wie diejenige Hagens zu Rüdiger sei. Lenschen 1996, S. 392, versteigt sich sogar dazu, die Hagen‑Volker‑Freundschaft «eine Insel der Ethik» zu nennen, weil er behauptet, dass Volker lange Zeit den Konflikt zu vermeiden suche. Müller 1998, S. 157, sieht in ihr ebenfalls einen «idealisierte[n] Gegenentwurf zur Perversion verwandtschaftlicher und zur Katastrophe herrschaftlicher Bindungen», weil ihre Waffenbrüderschaft keinen Belastungen ausgesetzt sei und konfliktfrei funktioniere. Beziehungsintern stimmt das, das ändert aber nichts am destruktiven Potenzial dieser Freundschaft. Müller kontrastiert zudem Volker‑Hagen mit Gunther‑Siegfried: «Am höchsten steht eine freiwillige Bindung von Gleichen wie die zwischen Hagen und Volker, die weder auf gentilizischer noch vasallitischer noch ökonomischer Grundlage basiert. Sie vertritt das Prinzip persönlicher Bindung in emphatischer Reinheit […]. Da also, wo die Haltbarkeit tatsächlich am stärksten gefährdet ist, weil sie durch kein dingliches Substrat gewährleistet wird, ist sie umso ruhmwürdiger. Emotionale Orchestrierung ersetzt hier, was an institutioneller Absicherung fehlt. Ihr Zerrbild ist das Bündnis auf Zeit zwischen Gunther und Sivrit, das zerfällt, wenn der gemeinsame Zweck erreicht ist.» An späterer Stelle problematisiert er deren Freundschaft durchaus: «Die Sonderrolle, die beide von da an spielen, zeigt sich in ihrer Nähe, die sie von den anderen distanziert.» Und: «Am Zusammenspiel von Hagen und Volker zerschellen andere Nahverhältnisse.» (beide Zitate S. 319) Weydt 2007, S. 234, macht die Ähnlichkeit Volkers und Hagens stark, akzentuiert das aber in eigenwilliger Weise, für die ich im Text keine Anhaltspunkte sehe: «Hagen gewinnt Volker, mit dem er, obgleich (weil?) er in fast allen Merkmalen komplementär ist, eine feste freundschaftliche Bindung mit einer latent homoerotischen Komponente eingeht, eine ‹Männerfreundschaft› […].» Dimpel 2016, S. 347, Fn. 95, betont die Schicksalskopplung und Stellvertretung von Volker und Hagen: «Das Schicksal von Volker wird an das Schicksal von Hagen gekoppelt; die Rezeptionssteuerung für Volker kann auf Hagen übertragen werden.» Indem Volker als positive Figur erscheint, wird auch Hagen im zweiten Teil zum positiven Helden durch die Übertragung der Bewertungsmaßstäbe von Freund zu Freund (S. 347 f.). Vgl. weiterhin zur Freundschaft Volker‑Hagen Hödlmoser 2011.

264



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

gestellt. Bezeichnenderweise wird das erstmals durch den Erzähler an der Stelle expliziert, an der Dankwart die Zerstörung des Schiffs durch Hagen hinterfragt (NL 1582). Hagen belügt Dankwart (NL  1583). Es folgt in der nächsten Strophe ein für moderne Begriffe völlig zusammenhangsloser Kommentar des Erzählers zur Beziehung Volkers zu Hagen, wobei Volker vorher seit mehr als 80 Strophen keine Erwähnung im Text gefunden hat:270 Si vuorten mit in einen  ûz Burgonden lant, einen helt ze sînen handen,  der was Volkêr genant. der redete spaehelîche  allen sînen muot. swaz ie begie her Hagene,  daz dûht den videlaere guot.  (NL 1584)

Der zunächst unmotiviert erscheinende Erzählerkommentar gewinnt seine Funktion aber gerade durch seine unmittelbare Nähe zu Dankwarts Frage nach der Zerstörung des Schiffs. Wo sich durch sie nicht sogleich Kritik, aber doch potenzielle Distanznahme gegenüber Hagen abzeichnet, kontert der Erzähler hier und im Folgenden der Handlung mit einer Nähebeziehung, die Distanz rundheraus negiert: swaz ie begie her Hagene, daz dûht den videlaere guot. (NL 1584,4) Nachdem der Erzähler Volker und Hagen bereits zu einer Einheit zusammengeschlossen hat, erfolgt ein expliziter Zuordnungsakt seitens Hagen. Dieser ist bei der Ankunft der Burgunden am Etzelhof in ein Wortgefecht mit Kriemhild wegen des Horts geraten, in dessen weiterer Folge sich Dietrich dazu bekennt, die Burgunden gewarnt zu haben. Dietrich und Hagen fassen sich demonstrativ bei der Hand (NL  1750) und als sie sich wieder trennen (NL 1758,1 f.), dô blihte über ahsel  der Gunthêres man [d. i. Hagen] nâch einem hergesellen,  den er vil schiere gewan. Dô sach er Volkêr  bî Gîselhêre stên. den spaehen videlaere  bat er mit im gên, wand er vil wol erkande  sînen grimmen muot. er was an allen dingen  ein ritter küene unde guot. (NL 1758,3–1759,4)

Hagen sucht einen hergesellen und findet ihn ohne Umschweife in Volker. In dieser pointierten ‹Erwählung› Volkers durch Hagen zum hergesellen wird auch das folgende Gepräge der Beziehung als Kriegerfreundschaft, die auf ununterscheidbarer körperlicher Aktionsmacht beider beruht, eingeleitet. Die performative Seite ihre Freundschaft erstreckt sich – das war durch die ‹Erwählungsszene› eingeführt worden  – in überragender Dominanz auf Kämpfe und kampfnahe Szenen.271 Die Warnung Dietrichs vor Kriemhild bei der Ankunft der Burgunden im 270

Zuletzt war NL 1502,2 von ihm die Rede, als Kriemhild zum Boten, der u. a. das Kommen Volkers ankündigt (NL 1501,4), meint, sie könne gut auf Volkers Anwesenheit am Hunnenhof verzichten (NL 1502,1 f.). 271 Nur in Bechelarn greift das Handeln der beiden Figuren dergestalt ineinander, dass Giselher mit Rüdigers Tochter verlobt wird. Volker leitet dies ein, indem er meint, er wünschte sich Rüdigers Tochter zur Frau, wenn er ein Fürst wäre, da sie so hoher Abkunft sei (NL 1675). Markgraf (!) Rüdiger wehrt die Aussage, seine Tochter könne einen König heiraten, zunächst ab (NL 1676), aber Gernot bekräftigt mit seinem Kommentar, dass er mit Rüdigers Tochter glücklich wäre, wenn er eine Frau suchen würde (NL  1677,1–3). Hier nun schaltet sich Hagen unvermittelt ins Gespräch ein und schlägt die Heirat von Giselher mit Rüdigers Tochter vor (NL  1678). Diese maßgeblich von Volker und Hagen betriebene Verheiratung wird sich im Rahmen der Analyse der Gaben zwischen den Freunden verschiedener Herrschaftsverbände noch als problematisch erweisen. Sie reiht sich also durchaus ein in die Folge destruktiv wirkender Freundschaftshandlungen zwischen

265

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Hunnenland reden Hagen (NL  1725) und Volker (NL  1731) unabhängig voneinander ‹klein› und forcieren damit die bevorstehende bewaffnete Auseinandersetzung. Für die weitere Angleichung Volkers und Hagens aneinander wird sogar Volkers vermeintliches Individuationsmerkmal,272 Spielmann bzw. Fiedler zu sein, derart metaphorisch anverwandelt, dass es zum Ausweis seiner körperlichen Aktionsmacht gerinnt, die ihn wiederum von Hagen ununterscheidbar macht. Das beginnt in der ersten gemeinsamen Szene nach der Einkehr in Bechelarn und setzt sich systematisch fort. Nachdem Hagen Volker zum hergesellen ‹erwählt› hat, gehen beide vor das Haus, in dem sich Kriemhilds Gemächer befinden. Hagen bittet Volker zu Zwecken der Provokation mit ihm vor Kriemhild sitzen zu bleiben und legt sein Schwert auf die Knie (NL  1783). Volker tut es ihm mit seinen eigenen Mitteln nach: Volkêr, der snelle,  zôch nâher ûf der banc einen videlbogen starken,  vil michel unde lanc, gelîch einem swerte,  vil scharf unde breit. dô sâzen unervorhte  die zwêne degene gemeit. (NL 1785)

Die Dopplung Hagens durch die Figur Volkers wird hier sinnfällig ins Bild der nebeneinander platzierten Helden in Richterpose273 gesetzt und zusätzlich metaphorisch abgesichert. Da die Metapher selbst auf dem Prinzip der Similarität aufruht, um hier Volkers Fiedelbogen und Hagens Schwert in Relation zu setzen, wiederholt sie auf stilistischer Ebene damit die Gleichheit Volkers und Hagens, wie sie sich auf inhaltlicher Ebene gemeinsamer bzw. ineinander verquickter Handlungen abzeichnet. In dieser Szene der Machtdemonstration Hagens gegenüber Kriemhild verdichtet sich die Verähnlichung Volkers und Hagens zur Ununterscheidbarkeit.274 Auch in den weiteren Szenen werden Volker und Hagen als Einheit des Wollens und Handelns in kämpferischen Kontexten inszeniert. Als sich nach der beschriebenen Szene Paare auf dem Weg zu Etzel bilden, kommentiert der Erzähler eben jene Einheit, die erst der Tod im Kampf auseinander zu reißen vermag: Swie iemen sich gesellete und ouch ze hove gie, / Volkêr unde Hagene die geschieden sich nie, / niuwan in einem sturme an ir endes zît. (NL 1805,1–3)275

Volker und Hagen. An der Verheiratung zeigt sich zudem, welchen Machtzuwachs Freundschaft prinzipiell ermöglichen könnte. Allerdings scheint v. a. der rangniedere Markgraf von der Verheiratung zu profitieren. 272 Hödlmoser 2011, S. 51, argumentiert wegen der Darstellung als Spielmann hingegen dafür, dass Volker nicht nur eine Dopplung Hagens sei. Vgl. zur Fiedelmetaphorik bei Volker ausführlich Schwab 1991; auch Wenzel 2003. 273 Vgl. zur Richterpose, die zumeist nur auf Hagen bezogen wird, Haug 1989, S. 335; Brinker-von der Heyde 2007, S. 127. 274 Beide Figuren werden gleichermaßen von Kriemhild gehasst (NL 1768), von den Hunnen zunächst angestarrt (NL 1762), dann zum Ziel ihrer Tötungsabsicht (NL 1766) und schließlich gefürchtet (NL 1793; 1795–1799). Beide fühlen sich gemeinsam überlegen bis zur Unantastbarkeit (NL 1786). 275 Schon im Vorfeld der berühmten Nachtwache Volkers und Hagens wird ihr gleichermaßen unnachgiebiges Auftreten betont. Als sich die Burgunden am Ende des ersten Tages am Etzelhof zur Nachtruhe begeben wollen, werden sie von Hunnen bedrängt, denen Volker mit seinem «swaeren gîgen slac» (NL 1821,1) droht, falls sie den Helden nicht mit gebührendem Abstand begegneten (NL 1820 f.). Hagen bekräftigt den Rat Volkers und meint herausfordernd, sie sollten, wenn sie etwas von ihnen wollten, morgen wiederkehren (NL 1822 f.). Bei der Nachtwache selbst sind sich die beiden zwar uneins, wie sie mit dem geplanten hunnischen Überfall umgehen sollen (NL 1842–1847), klar wird allerdings, dass die Hunnen den Rückzug antreten, weil sie Volker und Hagen (NL 1840 f.) gemeinsam Wache halten sehen: «des sint die geste wol behuot.» (NL 1841,4)

266



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

Nach der berühmten gemeinsamen Nachtwache kündigt der Erzähler am nächsten Tag an, dass Volker und Hagen gemeinsam vor das Münster gehen, weil sie beide wollen, dass Kriemhild mit ihnen zusammenstößt (NL 1859). Dort agieren sie gemäß eines geteilten Willens und erzeugen das offensiv gesuchte Gedränge mit Kriemhild und den Hunnen.276 Den nächsten Provokationsversuch startet Volker,277 wenn er –  nach Ankunft Dankwarts und der 9000 Knappen vor dem Münster (NL 1870) –278 einen Buhurt vorschlägt (NL 1871). Volker will – offenbar enttäuscht, dass die Hunnen nicht ‹wirklich› gegen sie zu kämpfen wagen – die Burgunden vom Buhurt abziehen (NL 1883 f.), als ein hunnischer ‹Schönling› vorbeireitet (NL 1885) und damit zum Ziel des nächsten Provokationsversuchs wird: «jener trût der vrouwen muoz ein gebiuze hân.» (NL 1886,2)279 Gunther verbietet das Volker zwar sofort (NL 1887), aber wiederum setzt sich Freundschaft unterhalb der Herrschaftsebene über den nominellen Herrscher hinweg, wenn Hagen unmittelbar nach Gunthers Verbot Volker in den Buhurt folgt (NL 1888; 1890), wo jener den hunnischen Frauenliebling tötet (NL  1889).280 Volker und Hagen haben gegen den erklärten Willen Gunthers Fakten geschaffen.281 Wie Volker und Hagen gemeinsam mit Dankwart die Saalschlacht wiederum gegen den Willen der burgundischen Könige in Gang bringen, habe ich bereits dargelegt. Während der Saalschlacht wird Volkers kämpferisches Profil mittels der Fiedelmetaphorik weiter geschärft, wenn er voller Ehrfurcht von Etzel (NL 2000–2002), voller Anerkennung vom Erzähler (NL 1966; 1976; 2003), Gunther (NL 2004) und Hagen (NL 2005–2007) für seinen Kampfeinsatz gelobt wird. Da unmittelbar nach dieser längeren Passage der Darstellung des Wütens Volkers durch andere Figuren (NL 2000–2007) seitens des Erzählers verkündet wird, dass alle Hunnen im Saal tot sind (NL 2008), hinterlässt das den Eindruck, dass der Teilsieg wesentlich Volkers Verdienst ist. Nach der Saalschlacht gegen die Hunnen wiederholt sich der an Volker und Hagen gekoppelte Mechanismus aus gezielter Provokation und anschließendem Kampfgeschehen. Die Freundschaft entfaltet ihren destruktiven Sog gewissermaßen schubweise. Volker und Hagen gehen vor den Saal und der Erzähler kündigt ihren gemeinsamen Spott 276

Als Volker und Hagen mit dem Gefolge Kriemhilds zusammenstoßen, weichen dise zwêne (NL 1866,2) kein Stück zurück und erzeugen so ein Gedränge vor dem Münster (NL  1866), das umso explosiver ist, als die Burgunden auf Anraten Hagens bewaffnet zur Messe gegangen sind (NL 1853–1858). Dass die Situation hier noch nicht eskaliert, führt der Erzähler darauf zurück, dass die Hunnen vor Etzel kein weiteres Vorgehen wagen (NL 1867). 277 Als Provokation kann man das freilich nur retrospektiv lesen, nachdem er den hunnischen Frauenliebling getötet hat. 278 Ein kausaler Zusammenhang wird im Text wie so oft nicht explizit hergestellt, aber man kann die Erwähnung der Ankunft der Knappen final auf den Buhurt hin motiviert lesen, sodass Volker die Gelegenheit nutzen und diesen vorschlagen kann. Der ‹Plan› scheint zunächst nicht recht aufzugehen, da Dietrich und Rüdiger ihren Männern die Teilnahme untersagen (NL 1873–1876) und es bei den übrigen Teilnehmern lediglich beim Lärmen bleibt: Swes iemen dâ pflaege, sô waz ez niuwan schal. (NL 1881,1) 279 Heinzle 2015, S. 595, übersetzt das in seiner Ausgabe mit ‘«Der Frauenliebling dort muß einen Dämpfer kriegen.»’ 280 Die Darstellung ist nicht ganz eindeutig: Volker scheint nach Gunthers Verbot schon losgeritten zu sein und den Hunnen getötet zu haben (NL  1889), als Hagen nach seiner verbalen Ankündigung (NL  1888) dann tatsächlich nachfolgt (NL 1890). 281 Den burgundischen Königen bleibt nur noch, Volker nicht schutzlos gegen die Feinde allein zu lassen und so reiten sie ebenfalls mit 1000 Mann in den Buhurt (NL 1891). Abermals ist es Etzel – nun durch eigenes Eingreifen –, der die Eskalation verhindert. Als die Verwandten des Erschlagenen auf Volker losgehen wollen, schreitet Etzel ein und deklariert das Vorgefallene als Unfall (NL 1893–1897).

267

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

an (NL 2009). Nach mehrfachen verbalen Herabsetzungen gegenüber den Hunnen sowie Etzel selbst282 stellt sich Iring, Markgraf von Dänemark und Vasall des dänischen Königs Hawart, zunächst allein dem Kampf, in den hernach alle Dänen und Thüringer gezogen werden. Hagen und Volker haben – zumindest der Darstellung des Erzählers nach – die Dänen und Thüringer im Alleingang durch gezielte Provokationen sukzessive in den Kampf hineingezogen und getötet.283 Im Kampf gegen Rüdiger wird der destruktive Sog, der von der Volker‑Hagen‑Freundschaft ausgeht, nur scheinbar unterbrochen. Zwar verzichtet Hagen in der vielfach besprochenen Szene der Schildübergabe auf einen Kampf gegen Rüdiger (NL  2201) und Volker wiederholt als Hagens Dublette diesen Kampfverzicht. Volker begründet seine Kampfenthaltung gegenüber Rüdiger explizit damit, dass er es Hagen gleichtue und bekräftigt so ihre Einheit des Handelns: «sît mîn geselle Hagene den vride hât getân, / den sult ouch ir staete haben von mîner hant. / daz habt ir wol verdienet, dô wir kômen in daz lant.» (NL 2203,2–4) Beide ziehen sich dann auch tatsächlich vom Kampf zurück (NL  2207,1 f.), allerdings lassen Volker und Hagen die Burgunden keineswegs im Stich, wie das in der Forschung zur Schildgabe immer wieder konstatiert wird. Der Erzähler stellt klar, dass sich der Kampfverzicht nur auf Rüdiger erstreckt, gegen seine Männer treten Hagen und Volker mit der gewohnten Unerbittlichkeit ihres Kampfes auf (NL 2211).284 In der Auseinandersetzung mit den Amelungen wiederholt sich der vielfach erprobte Nexus aus gezielter Provokation durch Volker und Hagen und anschließendem Kampf.285 282 Während

Volker die Hunnen vor dem Gebäude verhöhnt, sie klagten wie die Weiber (NL  2015), den Rettungsversuch für einen verletzten Hunnen gewaltsam vereitelt (NL  2016) und die Hunnen durch Gerwürfe auf Abstand hält (NL 2017 f.), provoziert Hagen Etzel als schwächlichen Anführer (NL 2020) und ebensolchen Ehemann (NL 2023), der allerdings seinerseits von Kriemhild zurückgehalten wird (NL 2021). Als sich kein ‹Erfolg› einstellen und keiner der Hunnen angreifen will, meint Hagen, dass den Hunnen diese Schande ewig anhaften werde und sie bei Etzel in Ungnade fallen (NL 2026 f.). Da greift Iring ein. 283 In seinem ersten Kampf stellt sich Iring in schneller Folge verschiedenen Gegnern, bezeichnenderweise kämpft er aber noch vor den drei burgundischen Königen (NL 2041–2048) gegen Hagen (NL 2037–2039) und Volker (NL 2040). Damit zeichnet sich die Bedeutung der beiden Freunde auch bei diesem Teilkampf ab. Iring kämpft auf dem Weg zurück zu seinen Leuten nochmals gegen Hagen und verwundet ihn am Kopf (NL 2051–2053). Dies resultiert in einen weiteren Kampf Hagens gegen Iring, zu dem ihn Hagen unter Hinweis auf mangelnde degenheit (NL 2056,2) reizt. In diesem Einzelkampf (NL 2061–2064) tötet Hagen Iring, was das Eingreifen Hawarts sowie Landgraf Irnfrieds von Thüringen provoziert, die gegen Hagen und Volker antreten und durch sie sterben (NL 2071–2073). Danach folgen ihnen alle Dänen und Thüringer in den Kampf und Tod. Dieser Kampf findet keine detaillierte Darstellung, nach drei Strophen sind bereits alle Dänen und Thüringer tot (NL 2076–2078). Umso bemerkenswerter ist, dass dieser Kampf durch zwei Strophen gerahmt wird, in denen Volker als Kampfstratege auftritt, als der er sich in der Folge auch immer wieder erweisen wird. Zunächst befiehlt er einen Rückzug in den Saal, damit die Angreifer ihnen dorthin folgen und dann zügig besiegt werden können (NL 2075). Nach dem Kampf stellt sich Volker vor das Gebäude, um Ausschau nach weiteren Angreifern zu halten, während sich die Burgunden drinnen ausruhen (NL 2079). 284 Da der Kampf gegen Rüdigers Männer insgesamt recht formelhaft und knapp beschrieben wird (NL 2209 f.; 2212) und sich v. a. auf den Kampf Rüdigers gegen Gernot konzentriert (NL 2216–2221), sticht die sonst eher unauffällige Erwähnung des Kampfeinsatzes von Volker und Hagen heraus. Gunthers Einsatz wird mit gerade einmal zwei Versen bedacht (NL 2214,1.). Giselher zieht sich bekanntlich auch aus dem Kampf zurück, um nicht gegen den Schwiegervater antreten zu müssen (NL 2208,3 f.). So lässt sich der Eindruck gewinnen, dass neben dem Gernot‑Rüdiger‑Kampf insbesondere Volker und Hagen das Kampfgeschehen bestimmen. 285 Volker und Hagen werden im Kampf gegen die Amelungen vom Erzähler hervorgehoben, wenngleich nicht mit der prononcierten Ausschließlichkeit der vorherigen Kämpfe. Dies scheint aber v. a. final motiviert, da den Amelungen‑Kampf nur Gunther, Hagen und Hildebrant überleben werden, sodass auch den anderen handlungsbestimmenden Figuren wie Giselher und Dankwart bei den Burgunden oder Wolfhart bei den Amelungen Kampf- und Sterbeszenen zugedacht werden.

268



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

Volker reizt Wolfhart beim Gesuch der Herausgabe von Rüdigers Leichnam durch diverse Provokationen,286 bis Wolfhart losstürmt und und ihm der Rest der Amelungen in den Kampf folgt (NL  2273). Die Zustimmung Hagens ist Volker im Sinne der entworfenen Einheit des Wollens und Handelns der beiden Freunde gewiss: diu rede dûhte Hagenen von sînem hergesellen guot. (NL 2268,4) Auch in diesem letzten großen Kampf vor dem Schlusstableau bestimmen Volker und Hagen das Geschehen, Volker ja sogar über seinen Tod hinaus, wenn Hagen selbst nach Kampfende noch Rache an Hildebrant zu nehmen versucht (NL 2304,1 f.).287 Während das Motiv der Zuordnung der Freunde und der Schließung ihrer Beziehung nach außen bei Ortwin und Dankwart nicht expliziert wird bzw. sich höchstens bei Dankwart Ansätze einer wertrationalen Motivierung zeigen, so wird die wertrationale triuwe‑Basis der Freundschaft Volker‑Hagen nicht nur in typisch heldenepischer Manier auf performativer Ebene deutlich, sondern auch diskursiv wiederholt eingespielt und zugespitzt: In der Szene, in der Volker und Hagen vor dem Haus der Gemächer Kriemhilds sitzen, vergewissert sich Hagen der triuwe Volkers in einem kurzen Dialog: «Nû saget mir, vriunt Volkêr,  ob ir mir welt gestân, ob wellent mit mir strîten  die Kriemhilde man! daz lâzet ir mich hoeren,  als liep als ich iu sî! ich won iu immer mêre  mit triuwen dienstlîchen bî.» «Ich hilf iu sicherlîchen»,  sprach der spilman, «ob ich uns engegene saehe  den künec selbe gân mit allen sînen recken.  die wîle ich leben muoz, sô entwîch ich iu durch vorhte  nimmer einen vuoz.» «Nû lôn iu got von himele,  vil edel Volkêr! ob si mit mir strîten,  wes bedarf ich danne mêr? sît ir mir helfen wellet,  als ich hân vernomen, sô suln dise recken  vil gewerlîchen komen.»  (NL 1777–1779)

Zu Beginn der Nachtwache wiederholt Hagen als Antwort auf Volkers Angebot, diese gemeinsam zu bestreiten, den Gedanken der letzten zitierten Strophe und generalisiert ihn. Was auch immer geschehen solle, er wünsche sich stets nur Volker an seiner Seite:

286 Nachdem

Wolfhart nachdrücklich auf der Herausgabe von Rüdigers Leichnam bestanden hat (NL  2265), schaltet sich Volker ins Gespräch ein, das bisher von Hildebrant, Hagen und Gunther geführt wurde (NL  2254–2264). Volker meint in herausforderndem Gestus, dass sie Rüdiger nicht herausgeben werden, sondern die Amelungen sich ihn aus dem Haus holen sollen (NL  2266). Wolfhart erkennt das richtig als «reizen» (NL  2267,2) und verweist auf das Kampfverbot durch Dietrich (NL  2267), woraufhin Volker ihm in einem erneuten Provokationsversuch den «rehten heldes muot» (NL 2268,3) abspricht. Es folgen weitere beidseitige Provokationen von Wolfhart und Volker, in denen die Fiedelmetaphorik ein letztes Mal auf den Kampfeinsatz bezogen wird: Wolfhart will Volkers «seiten» der Fiedel «entrihte[n]» (NL 2269,2), also durcheinanderbringen und verstimmen; Volker will Wolfharts Helmglanz zerstören (NL 2270). Als Wolfhart losstürmen will, kann er noch einmal von Hildebrant zurückgehalten werden (NL 2271), aber dann braucht es nur noch eine weitere höhnische Drohung Volkers (NL 2272), damit sich Wolfhart losreißt. 287 Als Volker im Kampf gegen die Amelungen von Hildebrants Hand stirbt, beschreibt dies der Erzähler als Hagens aller meistiu nôt (NL 2289,2), als größten Verlust des ganzen ‹Festes›. Auch Hagens kurze Klagerede hebt retrospektiv die Nähe und Verbundenheit zu Volker, aber zudem das Gepräge der Beziehung als Kriegerfreundschaft hervor: «mîn helfe lît erslagen von des heldes hant [d. i. Hildebrant], / der beste hergeselle, den ich ie gewan.» (NL 2290,2 f.)

269

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen «Nû lôn iu got von himele,  vil lieber Volkêr! z’allen mînen sorgen  sôn gert ich niemens mêr niuwan iuch aleine,  swâ ich hête nôt. ich sol ez wol verdienen,  mich enwend es der tôt.»  (NL 1831)

Während der Saalschlacht stellt Hagen im Zuge des Lobs für Volkers Kampferfolge die Reziprozität und Unverbrüchlichkeit ihrer Freundschaft nochmals deutlich heraus: «ich was sîn geselle unde ouch er der mîn, / und kome wir immer wider heim, daz suln wir noch mit triuwen sîn. (NL 2005,3 f.) Aufgrund der breiteren, intensivierten Freundschaftsdarstellung bei Volker und Hagen spitzen sich die Tendenzen, die bereits in den vorherigen Freundschaftskonstellationen Hagens herausgearbeitet wurden, deutlich zu. Ihre Ähnlichkeit wird besonders eindrücklich hinsichtlich ihrer körperlichen Aktionsmacht und folglich im Kampf und kampfnahen Situationen dargestellt, aber auch hinsichtlich ihres strategischen Wissens stehen sie sich in nichts nach, wie die gemeinsamen Provokationen zeigen. Ihre Gleichrangigkeit als weiterer Ausdruck ihrer generellen Gleichheit verbalisiert Hagen gegenüber Gunther in der Saalschlacht, wenn er meint: «Mich riuwet âne mâze» […] / «daz ich ie gesâz in dem hûse vor dem degene [d. i. Volker].» (NL 2005,1 f.) Ihr gemeinsames Wollen und Handeln wird mehrfach betont, sodass Volker und Hagen bei gemeinsamen Auftritten als auf zwei Figuren aufgeteilte Einheit erscheinen.288 Wo allerdings keine Differenz mehr gegeben ist, wird Freundschaft mit Blick auf Herrschaft dysfunktional. Durch ihre Gleichheit verstärken sie sich lediglich gegenseitig, wie man das an ihren Provokationen implizit ablesen kann. Der Erzähler formuliert es daneben auch unmissverständlich: swaz ie begie her Hagene, daz dûht den videlaere guot (NL  1584,4) und umgekehrt diu rede dûhte Hagenen von sînem hergesellen guot. (NL  2268,4) Volker kann weder Hagens Einstellungen noch kurzfristig sein Verhalten korrigieren, er besitzt – auch das hatte sich in Ansätzen schon bei Ortwin und Dankwart gezeigt – keine autoritative, noch nicht einmal instrumentelle Macht über Hagen.289 Gerade die Unzertrennlichkeit und gegenüber den anderen Freundschaften Hagens geradezu emphatisch herausgehobene triuwe zwischen Volker und Hagen lässt die destruktiven Folgen ihrer Gleichheit gemäß des beschriebenen Dopplungs- und Verstärkereffekts umso katastrophaler ausfallen. Die Bilanz dieser Freundschaft ist verheerend: Durch ihre Machtdemonstration des Sitzenbleibens vor Kriemhild, ihr gezielt erzeugtes Gedränge mit den Hunnen bei der Messe und die Provokationen beim Buhurt legen sie Spannungen an, die sich in den Folgekämpfen schubweise entladen. Dass es in diesen Szenen noch nicht zum Kampf kommt, wird mit der Furcht der Hunnen, der Autorität 288

So kann Volker Hagen auch vollumfänglich vertreten. Zum ersten Mal wird das auf dem Weg der Burgunden ins Hunnenland klar, wenn Hagen die Burgunden auf dem ersten Teilstück bis zur Donau anführt wegen seiner Ortskenntnis (NL 1524,3), nach der Donauüberquerung aber umstandslos Volker die Führung übernimmt (NL  1586) und zwar ebenfalls unter Verweis auf seine Ortskenntnis (NL  1594). Diese Rollenübernahme wird zudem im Vorfeld flankiert durch den oben zitierten Erzählerkommentar, der erstmals explizit die Nähe und Unterstützung der beiden Freunde herausstellt (NL  1584), und im Nachgang durch Hagens sentenzartigen Kommentar «man sol vriunden volgen. jâ dunket es mich reht.» (NL  1587,2) Der Erzähler konstruiert bereits hier sowie dann systematisch in der Folge eine Freundschaft, die Gleichheit und Übereinstimmung bis zur Ununterscheidbarkeit Volkers und Hagens forciert. 289 Das wird erstmals deutlich, wenn Volker vor Kriemhild aufstehen möchte, Hagen ihn aber zum Sitzenbleiben bewegt (s. o.). Das wiederholt sich bei der gemeinsamen Nachtwache, wenn Volker den hunnischen Trupp sofort angreifen will (NL 1842), Hagen aber auf sicherer Bewachung der Burgunden besteht (NL 1843).

270



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

Etzels, dem Abzug von Dietrichs und Rüdigers Männern vom Buhurt und Etzels direktem Eingreifen bei diesem begründet. Als Etzel aber mit der Tötung Ortlieps nicht mehr als Schlichter agieren kann, bahnt sich das allgemeine Kampfgeschehen, das maßgeblich von Volker und Hagen diktiert wird, seinen Weg. Zwar wirken mehrere Faktoren außerhalb der Freundschaft Volker‑Hagen zusammen, die zur Tötung Ortlieps führen, aber danach entfaltet sich das destruktive Potenzial der Freundschaft mit der Tötung aller Hunnen in der Saalschlacht, aller Dänen und Thüringer, aller Männer Rüdigers, aller Amelungen290 und Burgunden in den nachgängigen Kämpfen in rascher Folge. Die Freundschaft ist im Untergang der Burgunden und nicht zuletzt auch im Tod Volkers selbstzerstörerisch. Sie kostet Etzel, Gunther und Dietrich ihre Herrschaft. Die drei Herrscher verlieren alle ihre Männer und Etzel zudem die Machtressourcen, die durch die an seinem Hof exilierten Herrscher (Rüdiger, Dietrich, Hawart, Irnfried) gegeben waren. Dass Hagens Freundschaften zu Ortwin, Dankwart und Volker lediglich einen sich entlang der Reihe der Freunde steigernden destruktiven Verstärkereffekt bewirken, liegt nun zwar zum einen wesentlich in ihrer forcierten Ähnlichkeit begründet. Der sich steigernde Effekt lässt sich neben der Betonung der triuwe bei Hagen und Volker auch an der schrittweisen Einebnung individuierender Merkmale der Freunde Hagens ablesen und damit begründen: War Ortwin als Truchsess durchaus auch noch unabhängig von Hagen darstellbar, so legte Dankwarts Amt als Marschall eine festere Zuordnung zu Hagen und eine noch deutlichere Engführung ihrer körperlichen Aktionsmacht nahe. Volkers vermeintliche Individuation als Spielmann ist von Anfang an metaphorisch auf Kampf ausgerichtet und die Ähnlichkeit mit Hagen bis zur Deckungsgleichheit forciert, sodass Volker unabhängig von Hagen gar nicht mehr dargestellt wird. Der sich steigernde Verstärkereffekt lässt sich zum anderen und gewissermaßen als Folge der forcierten Verähnlichung auf die auf Hagen zentrierte Anlage der Freundschaften zurückführen. Zwar werden die Dyaden an entscheidenden Punkten zu einem weiteren Freundschaftsnetz geöffnet, zwar können sich die Freunde Hagens untereinander bis zur Austauschbarkeit substituieren, untereinander befreundet sind die Freunde Hagens aber keineswegs. Diese auf ihn zentrierte Anlage der Freundschaften ist nun im Vergleich zu den bisher untersuchten Texten außergewöhnlich, scheint doch in ihnen das Freund290 Beim

Untergang der Amelungen spielen m. E. noch weitere Faktoren im Zusammenhang mit der Freundschaft Dietrichs zu Hildebrant eine Rolle, die ich an anderer Stelle breiter ausführen möchte, worauf ich hier im Sinne der Darstellungsökonomie leider verzichten muss. Auch bei Dietrich wirken sich die beiden Aspekte der Verähnlichung und mangelnden Exklusivität bei der Freundschaftsthematik problematisch aus, allerdings mit anderen Akzentsetzungen als bei Hagen. Das ‹Nibelungenlied› weicht in der Darstellung der Beziehung Dietrich-Wolfhart-Hildebrant gegenüber der Dietrichepik signifikant ab. Gründete sich die Freundschaft Dietrich-Hildebrant in der Dietrichepik auf ihrer Einheit in der Differenz, zu der Wolfhart im Sinne einer Kommentarfunktion optional hinzutreten konnte, so verliert Dietrich im ‹Nibelungenlied› durch die Angleichung Hildebrants an Wolfhart seinen Freund Hildebrant und mit ihm auch seine sonst verlässliche Herrschaftsstütze. Hier wird – zieht man vergleichsweise die anderen Heldenepen heran – die einigermaßen standardisierte Funktion der Freundschaft als Krisenbewältigungsmodus für Herrschaft im Hintergrund eingespielt und zugleich ins Negative gewendet. Die Freundschaftsmarker zwischen Dietrich und Hildebrant, die ich im vorangegangenen Dietrichepik‑Kapitel herausgearbeitet habe, werden im ‹Nibelungenlied› ausgehöhlt. Durch die Orientierung Hildebrants stärker auf Wolfhart hin ist die Beziehung zu Dietrich weniger stark nach außen geschlossen und Hildebrants Handeln erfolgt daher in entscheidenden Momenten auch nicht unter der Vorstellung der Geltung der Freundschaft. Die affektuelle und insbesondere die wertrationale triuwe‑Bindung scheint empfindlich gelockert. Wo der Freund nominell noch vorhanden, aber eben nicht verlässlich ist, kann er Herrschaft nicht stützen, sondern er kann sie im Gegenteil in rasantem Tempo zertrümmern, wie dies der Untergang der Amelungen eindrücklich vor Augen stellt.

271

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

schaftsmodell verwirklicht zu sein, dass andernorts dem Herrscher zugedacht ist. In den anderen Heldenepen wird, wenn überhaupt, nur dem Herrscher zugestanden, mehrere Freundschaften zu unterhalten, wobei auch dort die Freunde untereinander keine Freundschaftsbeziehung pflegen, sondern jeweils auf den Herrscher hin zentriert sind und ihn so in seiner Herrschaftssicherung stützen. Dort sind die Freundschaften, die der Herrscher führt, funktional differenziert, sodass ihre herrschaftsrelevante Leistung gesteigert ist. Hagens Freundschaften sind strukturanalog aufgebaut, insofern seine Freunde jeweils nur mit ihm, aber nicht untereinander befreundet sind. Jedoch erscheint das Modell bei Hagen an der ‹falschen› Systemstelle der hierarchisch stratifizierten Gesellschaft. Ihm als Vasall wird ein Modell attribuiert, das in anderen Heldenepen Herrschern zuerkannt wird. Daher rührt Hagens große Machtfülle v. a. des zweiten Teils, die die nominellen Herrscher zu Statisten deklassiert. Mehrfach handeln er und seine Freunde gegen den erklärten Willen Gunthers. Anders als im Freundschaftsmodell von Herrschern sind Hagens Freunde aber gerade nicht funktional differenziert, sondern gleichförmig. Sie sind vereint in ihrer je überragenden körperlichen Macht bei gleichzeitigem Mangel an autoritativer Macht gegenüber Hagen. Waren die Freunde der Herrscher konstruktiv in ihrer Differenzierung, so sind Hagens Freunde destruktiv in ihrer Übereinstimmung. Das führt zusammengenommen geradewegs und in rasantem Tempo in den eigenen Untergang wie jenen der Burgunden. Gegenüber den Freundschaften des ersten Teils des ‹Nibelungenliedes› kristallisiert sich an Hagen als Zentrum mehrerer Freundschaftsbeziehungen ein weiterer problematischer Zug der Freundschaftsdarstellung im ‹Nibelungenlied› heraus: mangelnde Exklusivität. Hagen ist im zweiten Teil nicht nur mit Dankwart und Volker befreundet, sondern auch mit Rüdiger und selbst Dietrich wird dem Freundschaftsnetz lose assoziiert (s. u.).291 Das ist nicht etwa deshalb heikel, weil die jeweilige Bindung der Freunde dadurch lockerer und situativ austauschbar wäre, sondern weil Hagen das Ziel von Kriemhilds Rachefeldzug ist. Er ist aber aufgrund seiner Vielzahl an Freundschaften und freundschaftlichen Allianzen viel schwieriger zu isolieren als Siegfried im ersten Teil.292 Im Falle Siegfrieds musste nur Gunther in Distanz zu ihm gebracht werden, womit Hagen –  wenn auch in mehreren Anläufen (NL 870; 873–876) – zügig erfolgreich ist, und schon steht der Ermordung Siegfrieds nichts mehr im Weg. Im Falle Hagens stehen aber – um im Bild zu bleiben – mehrere Freunde im Weg, die sukzessive und unter gewaltigen Verlusten beseitigt werden müssen. In dieser Optik müssen im zweiten Teil nicht etwa aufgrund von Kriemhilds Rachebegehren so viele Männer sterben, man könnte ebenso gut behaupten, dass sie aufgrund von Hagens wenig exklusiven Freundschaftsbeziehungen umkommen. Bis Hagens Freunde gefallen sind und er im Schlusstableau isoliert ist, müssen nämlich ganze Herrschaftsverbände ausradiert werden, sodass Ordnung, wie die ‹Klage› unterstreicht, von Grund auf neu aufgebaut werden muss. Demgegenüber ging man nach Siegfrieds Tod relativ umstandslos zum ‹Alltagsgeschehen› über. Das Problem, Hagen gegen den Rest abzusondern, wird im ‹Nibelungenlied› *C in zwei Zusatzstrophen deutlich. Als Kriemhild im Vorfeld der Saalschlacht versucht, Dietrich für ihre Pläne zu gewinnen, setzt sie 291

Ehrismann 1989, S. 106, betrachtet es sogar als Strategie Hagens, neue Freunde zu gewinnen und alte Freundschaften zu pflegen und verweist dafür auf Volker, Rüdiger, Eckewart und Dietrich. 292 Ehrismann 1989, S. 105, skizziert, wie Hagen durch seine Freunde aus der Isolation nach der Hortversenkung zum Movens der Handlung des zweiten Teils wird: «In Bruder Dankwart nämlich und eben Volker wird dieser eine zuverlässige Stütze haben, eine Trias, die vasallitisch die Königstrias spiegelt.»

272



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

gegenüber *B erläuternd hinzu: «der in [d. i. Hagen] vz den andern schiede, dem wær min golt bereit. / engvltes ander iemen, daz wær mir inneklichen leit.» (NL *C 1947,3 f.) Hildebrants Antwort zeigt, wie aussichtslos eine Isolation Hagens ist und welche Kosten sein Tod verursachen würde: […]  «wie kunde daz geschehn, daz man in [d. i. Hagen] bi in [d. s. die anderen] slvge?  ich lieze ivch daz gesehn, ob man den helt bestvnde,  sich hvbe liht ein not, daz arme vnd riche  dar vmbe mvsen ligen tot.»  (NL *C 1948b)293

Dass dieser letzte Punkt der mangelnden Exklusivität von nicht zu unterschätzendem Gewicht für die immense destruktive Kraft von Hagens Freundschaften ist, illustriert ein Blick auf die Walthersage, auf die hin das ‹Nibelungenlied› immer wieder durchsichtig gemacht wird (NL 1205; 1419; 1754–1757; 1796 f.; 2344).294 Interessant sind diese intertextuellen Bezüge auf die Walthersage deshalb, weil Hagen und Walther dort eine Freundschaftsbeziehung unterhalten, die analog zu den Freundschaften Hagens im ‹Nibelungenlied› auf Ähnlichkeit fußt.295 An der Vergleichsfolie der Walthersage kann man ablesen, dass die Ähnlichkeit der Freunde Hagen und Walther zwar problematisch ist, weil sie nicht gegeneinander kämpfen wollen, obwohl sie verschiedenen Herrschaftsverbänden angehören. Der ‹Waltharius› macht dabei deutlich, dass nur Hagen Walther Einhalt gebieten könnte, weil ihre Stärke gleich groß ist. Bevor die beiden gegeneinander kämpfen, müssen zunächst mehrere der besten Männer Gunthers sterben. Gleichzeitig zeigt sich 293 Wie

Recht Hildebrant mit seiner Einschätzung hat, zeigt das Ende des Textes. Auch die ‹Klage› stellt es als Unmöglichkeit dar, Hagen vom restlichen Verband abzutrennen (KL v. 238–240). Dies unterstreicht nochmals deutlich das negative Potenzial von Freundschaft, das entlang der Hagen‑Figur im ‹Nibelungenlied› entfaltet wird. 294 Der Bezug zur Walthersage wird auch weiter unten im Zusammenhang mit der Freundschaft Hagens zu Rüdiger noch einmal interessant. Mit dem intertextuellen Bezug zur Walthersage beschäftigen sich Gentry 1975, S. 79, und Zimmermann 2006. Der ‹Waltharius› wird mit der Sigle WA zitiert nach der Ausgabe von Vogt‑Spira 1994. Da vom mittelhochdeutschen ‹Walther und Hildegund› nur Bruchstücke erhalten sind, ist man auf die Darstellung im mittellateinischen ‹Waltharius› rückverwiesen. 295 Davon zeugen selbst die wenigen Andeutungen auf die Walthersage im ‹Nibelungenlied›, man darf aber wohl insgesamt eine gewisse Grundkenntnis der Sage beim zeitgenössischen Rezipienten voraussetzen, sonst hätten die Allusionen im ‹Nibelungenlied› nicht verfangen. Der Erzähler spielt die gemeinsame Kindheit von Hagen und Walther als Geiseln am Etzelhof in einer Erinnerung Etzels ein (NL 1756; so auch WA v. 98). Darüber hinaus weiß das ‹Nibelungenlied› in der Erinnerung eines Hunnen von vielen gemeinsam geschlagenen Schlachten Walthers und Hagens an der Seite Etzels zu berichten (NL  1797; so auch WA  v. 106–109). Für den weiteren Verlauf ist man auf den ‹Waltharius› angewiesen: Hagen ist geflohen bzw. wurde von Etzel freigelassen. Walther und Hildegunde fliehen vom Etzelhof zusammen mit Etzels Schätzen und Hagen versucht mit Blick auf den früheren Gefährten vergebens, Gunthers Überfallsplan zur Erbeutung der Schätze abzuwenden (WA v. 477–479; 487 f.; 572–580), der von der Flucht der beiden gehört hat. Mehrfach wird die exklusive Verbundenheit, Treue und Eintracht Hagens und Walthers betont (WA v. 464–467; 558; 1090; 1240; 1254–1263; 1275; 1439; 1443) und ihre beiderseits große körperliche Aktionsmacht (WA v. 519–529; 567–569; 620 u. ö.; explizit ist die Rede von viribus aequi; WA v. 1399). Walther tötet einige der besten Männer Gunthers in mehreren Einzelkämpfen, aus denen sich Hagen zunächst heraushält, um nicht gegen den Freund kämpfen zu müssen. Hierauf spielt Hildebrant im ‹Nibelungenlied› höhnisch an, wenn er im Schlusstableau meint, Hagen habe die eigenen Männer am Waskenstein im Stich gelassen (NL 2344). Im ‹Waltharius› treten schließlich Walther und Hagen (gemeinsam mit Gunther) gegeneinander an und fügen sich empfindliche Wunden zu, über die sie hernach aber herzlich scherzen können. Im ‹Waltharius› wird von der Flucht Hagens berichtet (WA v. 120), das ‹Nibelungenlied› scheint sich hingegen an eine Version der Sage zu halten, die bruchstückhaft in ‹Walther und Hildegund› überliefert ist und in der Hagen freigelassen wird (NL 1756,4; WuH 1 f., d. i. die erste Seite, erste Spalte vom Grazer Fragment FG2). ‹Walther und Hildegund› wird mit der Sigle WuH zitiert nach der Ausgabe Streckers 1907.

273

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

aber auch, dass aufgrund der Exklusivität der Freundschaft der Schaden im Vergleich zur Katastrophe, die die nicht exklusiven Freundschaften des ‹Nibelungenliedes› anrichten, eingedämmt ist. Dadurch werden keine weiteren Herrschaftsverbände in den Kampf hineingezogen, wie man das im Gegensatz dazu im ‹Nibelungenlied› beobachten kann.296 3.2.2. Geschenke erhalten die Freundschaft? Zur Symbolisierung von Freundschaft durch Gaben Anhand der Rüdiger‑Figur möchte ich nun noch einem weiteren Problemfeld in der Freundschaftsdarstellung des ‹Nibelungenliedes› nachgehen: der Gabe. Es soll hier nicht darum gehen, die allein schon in der germanistischen Mediävistik reichhaltige neuere Forschung zur Gabenthematik aufzuarbeiten oder die bekannten Grundpfeiler der klassischen Theorie von Marcel Mauss zu repetieren. Ich möchte den Einsatz von Gaben ganz konkret im Zusammenhang mit Freundschaft in den Blick nehmen und mehrere Thesen in der nachfolgenden Textanalyse erhärten: Zum einen ist Rüdiger nachgerade das Gegenteil eines exklusiven Freundes. Dass Rüdiger ein weit aufgespanntes Freundschafts- und Bündnisnetz unterhält, liegt nun im Gegensatz etwa zu Hagen nicht so sehr an der Angleichung an die Freunde, sondern an seiner Gabenökonomie, die nach dem ‹Gießkannenprinzip› unterschiedslos alle relevanten Figuren der epischen Welt des zweiten Teils bedenkt. Auf diese Weise ist die intendierte Schließung einer Beziehung gerade nicht zu erzielen. Erschwerend kommt hinzu, dass Rüdiger durch die Gaben Freundschaften und freundschaftliche Bündnisse selbst über die Grenzen seines eigenen Herrschaftsverbandes hinweg installiert. Das wirkt sich nicht nur mit Blick auf Rüdigers triuwe‑Konflikt in der 37. Aventiure negativ aus, auch die mit ihm verbundenen Figuren sehen sich so einer Beziehung gegenüber, die die sonst von Freundschaft getragenen Strukturlasten nicht bewältigen kann. Zum anderen scheint mir mit Blick auf die übrigen Heldenepen nicht nur Rüdigers extensiver Gabeneinsatz heikel, sondern der Gabeneinsatz an sich. 3.2.2.1.  Rüdiger als Gegenbild eines exklusiven Freundes Im ‹Nibelungenlied› werden, wie die flankierenden Figurengespräche und Erzählerkommentare zeigen, beim Gabentausch positive Effekte für die Beziehung behauptet,297 aber das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Ludger Lieb konstatiert, dass Gabentausch in Minnebeziehungen vielmehr anzeige, dass etwas mit der Beziehung im Argen liegt. Dieser regelhafte Zusammenhang scheint mir nun auch für die Freundschaftsgaben im ‹Nibelungenlied› zu gelten, der nicht nur, aber wesentlich über die Figur Rüdigers entfaltet wird. Der hier unterstellte problematische Grundzug von Freundschaftsgaben im ‹Nibelungenlied› wird noch stärker dadurch konturiert, wenn man bedenkt, dass in keinem anderen Heldenepos des 13. Jahrhunderts Gaben – im engen Sinne von dinglichen oder verdinglichten Entitäten  – zwischen Freunden getauscht werden. Damit ist ein weiterer Bruch in den Regeln der Freundschaft(‑sdarstellung) in der Heldenepik umrissen.

296 Dass

Attila/​Etzel im ‹Waltharius› Walther nicht verfolgt, obwohl er ihm Schätze entwendet hat, ist insofern signifikant. 297 So erliegt auch Classen 2010, S. 440, der Suggestion, dass Geschenke Freundschaften stiften können, wie er mit Blick auf Rüdiger‑Hagen formuliert.

274



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

Schaut man sich die Bilanz von Rüdigers Gabenhandlung an, so erstreckt sich sein dergestalt installiertes Freundschaftsnetzwerk über so ziemlich alle wesentlichen Handlungsträger des zweiten Teils: Freilich denkt man angesichts des immensen Forschungsaufkommens dazu zuerst an die Schildgabe an Hagen in der 37. Aventiure und an den groß angelegten Gabentausch mit den Burgunden in Bechelarn, wo nicht nur Gunther, Gernot und Giselher, sondern auch Volker, Hagen und Dankwart Geschenke erhalten. Diese Szenen sind hinlänglich bekannt und bedürfen daher keiner genaueren Darstellung. Aber auch Dietrich hat offenbar bereits mehrfach Gaben von Rüdiger empfangen. Im ‹Nibelungenlied› bleibt es noch bei Andeutungen etwa durch Wolfhart (NL 2246) und Sigestap (NL 2258) im Rahmen der Klage um Rüdiger vor den Burgunden.298 Auch Dietrich betont, wie schon zuvor Wolfhart («unser trôst der beste»; NL 2265,2), dass Rüdiger für ihn ein «getriuwer helfe» (NL  2315,3) war. Die ‹Klage› lässt dann keinen Zweifel mehr daran, dass Rüdiger als Gebender gegenüber Dietrich aufgetreten sein muss: Im Rahmen der umfänglichen Klage Dietrichs um Rüdiger (KL  v. 1958–2042) erinnert er nicht nur daran, wie Rüdiger ihn wieder in die Gnade Etzels versetzt habe, sondern auch an seine umfängliche finanzielle Unterstützung. Dietrich meint, wer ihm Rüdiger genommen habe, «der hât mir allen mînen rât / ûz mîner kamere genomen.» (KL v. 2032 f.) Deutet dies an, dass Rüdigers dergestalt geknüpften freundschaftlichen Bande zu den Burgunden wie Dietrich und auch die Freundschaft zu Hagen wenig exklusiv sind, so erhärtet sich dieses Bild in Kommentaren von Figuren und Erzähler zur allgemeinen Gabenpraxis Rüdigers. Schon bei der Zwischeneinkehr in Bechelarn in der 27. Aventiure kommentiert der Erzähler, dass sich die Burgunden nicht vor Rüdigers Freigiebigkeit retten konnten.299 Bei der Konfrontation mit den Burgunden in der 37. Aventiure reagiert Rüdiger auf Gunthers Hinweis auf die Bindungskraft der von ihm erteilten Gabe, dass er sie gern mit Gaben überhäufen würde: «daz ich iu mîne gâbe mit vollen solde geben / alsô willeclîchen, als ich des hête wân! / sône würde mir dar umbe nimmer schelten getân.» (NL 2181,2–4) Dieser Punkt wird in der ‹Klage› wiederum stärker als im ‹Nibelungenlied› forciert: Als Hildebrant das von Rüdiger geschenkte Schwert in Gernots Hand findet und keine Scharten daran entdecken kann, kommentiert der Erzähler: want diu Rüedegêres hant / kunde wunschlîche geben. (KL v. 1884 f.) Das klang aus Gernots Mund im ‹Nibelungenlied› ähnlich: «ich waene, sô rîcher gâbe ein recke nimmer mêr getuot.» (NL 2185,4) Neben dieser qualitativen Perfektion der Gabenpraxis Rüdigers betont die ‹Klage› aber auch ihre quantitative Unmäßigkeit, wenn Etzel im Rahmen seiner Klage um Rüdiger äußert, «swaz tûsent künege möhten hân, / daz hêt er eine wol vertân.» (KL  v. 2063 f.) Monika Schausten formuliert das mit Blick auf das ‹Nibelungenlied› so: Rüdigers Geschenkepolitik ist dem fragwürdigen Prinzip einer totalen Verausgabung verpflichtet […]. […] Rüdiger gibt im wahrsten Sinne des Wortes stets alles (auch sich selbst) und produziert so eigenmächtig im öffentlichen Raum die Exzeptionalität seines gesellschaftlichen Status.300 298

Heinzles 2015, S. 707, Übersetzung nimmt dabei diese sich insgesamt abzeichnende Tendenz auf und übersetzt Wolfharts Äußerung, Rüdiger habe den Amelungen «vil gedienet» mit ‘«reich beschenkt»’ (NL 2246,4). Sigestaps Redebeitrag kann man entnehmen, dass Rüdiger ihnen im Exil «gemach» (NL 2258,2) «gevuoget[]» (NL 2258,3) hat. 299 Dort heißt es: Rüedegêr, der küene, vil wênic iht gesparn / kund vor sîner milte. swes iemen gerte nemen, / daz versagete er niemen. (NL  1692,2–4) Und weiter: Der wirt dô sîn gâbe bôt über al, / ê daz die edeln geste koemen vür den sal. / er kunde milteclîche mit grôzen êren leben. (NL 1694,1–3) 300 Schausten 2016, S. 97. Und weiter: «Rüdigers Geschenkepolitik ist also mitnichten, wie die Forschung

275

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Das Problematische an dieser Gabenpraxis Rüdigers besteht aber nicht nur darin, dass er zu ganz verschiedenen Parteien und v. a. über den eigenen Herrschaftsverband hinausgehend freundschaftliche Bande unterhält oder installiert, die diese oberflächlich miteinander vernetzen und harmonisieren, die allerdings im Krisenmodus, in dem sich die epische Welt des ‹Nibelungenliedes› des zweiten Teils befindet, früher oder später zu konfligierenden triuwe‑Verpflichtungen führen müssen. Das wurde von der Forschung extensiv für die 37. Aventiure, in der Rüdiger zwischen den Ansprüchen Etzels und den Verpflichtungen gegenüber den Burgunden zerrieben wird, erarbeitet und bedarf daher keiner Wiederholung. Ob man den Text nun so liest, dass er Freundschaft oder Vasallität höher als das jeweils andere einschätzt,301 ist von nachrangiger Relevanz gegenüber dem prinzipiellen Fakt, dass Freundschaft überhaupt in Konflikt mit Vasallität gerät. Das ist gegenüber den anderen Heldenepen gleichermaßen einzigartig wie fatal. Ich möchte vielmehr einen anderen Punkt betonen, den man in der Forschung aufgrund der geradezu traditionellen Idealisierung Rüdigers und seiner Schildgabe an Hagen nicht gesehen hat: Indem Rüdiger gewissermaßen an alle und jeden Gaben verteilt, wird er trotz zahlreicher Sympathiebekundungen für die Figur zum Gegenbild eines exklusiven Freundes gemacht. Markiert wird entsprechend nicht nur, dass Rüdiger der Freund vieler, sondern auch, dass er v. a. der Freund ellender ist, also Fremder, Exilierter (wie den Amelungen) und von Gästen (wie den Burgunden), wodurch zugleich das Konfliktpotenzial von Freundschaften über den eigenen Herrschaftsverband hinaus implizit referiert wird.302 Auch die Fülle der Belege, in denen Rüdiger von anderen Figuren als vriunt bezeichnet oder er selbst Dritte vriunt nennt, deutet darauf hin, dass Rüdiger mehrere und damit wenig exklusive Freundschaften unterhält.303 Wie bei Gunther und Siegfried so gilt auch bei Rüdiger, dass sich die Bezeichnungspraxis indirekt proportional zur Belastbarkeit der Beziehungen verhält. vielfach suggeriert, ausschließlich im Kontext einer jedwedes Verhalten normierenden milte entfaltet, die ihn als in der Erzählung exponierten Vertreter dieser christlichen Herrschertugend hervorzuheben sucht.» (S. 108) 301 Grundlegend zum triuwe‑Konflikt der 37. Aventiure Hasebrink 2003. Ehrismann 1989, S. 108 f., sieht das Übergewicht in der Vasallität, was angesichts der hohen Einschätzung der Freundschaft Hagens und Rüdigers besonders gravierend sei. So auch Gephart [Rüsenberg] 1994, S. 62–66. Für Gentry 1975, S. 42 und S. 79; Krönke 1997, S. 158, wiegt Freundschaft schwerer. 302 Hagen betont im Zuge der Schildübergabe: «ez wirt iuwer gelîchen deheiner nimmer mêr, / der ellenden recken sô hêrlîche gebe.» (NL  2199,2 f.) Dietrich bekräftigt: «jâ ist mir daz wol künde, er ist den ellenden holt.» (NL 2245,4) In den Kommentaren Sigestaps und Wolfharts wiederholt sich das. Sigestap klagt: «vreude ellender diete lît an Rüedegêr erslagen.» (NL 2258,4) Wolfhart will ihm auch über den Tod hinaus dienen, indem die Amelungen die Leiche Rüdigers von den Burgunden holen, weil «er ie hât begân / an uns vil grôze triuwe und an manegem andern man!» (NL 2262,4) 303 Rüdiger erkennt Hagen als vriunt bei seiner Botenfahrt nach Worms (NL  1201,3), Gunther fasst ihn als ebensolchen auf (NL  1640,3), durch seinen Appell an die Burgunden als vriunde kann Rüdiger den Saal vor der Schlacht verlassen (NL  1996,4), in der 37. Aventiure reut ihn die zu den Burgunden eingegangene vriuntschaft (NL 2160,4; 2138,4), er will nicht gegen die burgundischen vriunde kämpfen (NL 2166,4), wie umgekehrt auch Hagen nicht gegen Freunde kämpfen möchte (NL 2200,3), Rüdiger kündigt die Freundschaft zu den Burgunden auf (NL 2174,4; 2175,4), Gunther schätzt die Beziehung Rüdigers zu den Amelungen als Freundschaft ein (NL 2264). Heinzle 2015, S. 681, muss sich in der Übersetzung von NL  2160,4 auf eine Bedeutung des weiten Feldes dieses Begriffs festlegen und wählt ‘Verwandtschaft’ – wohl wegen der in der Folgestrophe angesprochenen Verheiratung seiner Tochter mit Giselher. Man kann die Abfolge aber auch additiv verstehen: Rüdiger rechtfertigt sein Bestreben, nicht gegen die Burgunden kämpfen zu wollen, mit dem Gastrecht (NL  2159,2 f.), seinen Gaben (NL 2159,4), der Freundschaft (NL 2160,4) und obendrein der Verwandtschaft (NL 2161). Auch in NL 2175,4 changiert die Bedeutung zwischen ‹Freundschaft› und ‹Verwandtschaft›.

276



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

Das Prekäre an dieser Vielzahl an Freundschaften, die Rüdiger unterhält, offenbart sich nun darin, dass diese Beziehungen der in den anderen Heldenepen typischen Freundschaftskomponenten entbehren. Es fehlt an gegenseitig aufeinander eingestelltem Handeln, belastbarer Solidarität, Loyalität, Stabilität und Dauer der Beziehungen und entsprechender narrativer Präsenz. Besonders gravierend scheint mir allerdings zu sein, dass die von Rüdiger unterhaltenen Freundschaften zu keinem Zeitpunkt performativ werden – es mangelt im Vergleich zu allen anderen untersuchten Heldenepen in eklatanter Weise an gemeinsamen Taten und Freundschaftsdiensten. Dieser Mangel an Performativität scheint dadurch behoben zu werden, die Freundschaften auf diskursiver Ebene umso deutlicher herauszustellen – auch das weicht von der Praxis der anderen Texte signifikant ab. In der Folge können Rüdigers Freundschaften die sonst gestemmten Strukturlasten nicht tragen. So ist etwa auf Rüdigers Verhalten kein Verlass bzw. ist dieses für seine Freunde und umgekehrt kaum einschätzbar.304 Schon gar nicht darf man von einer Freundschaft zu Rüdiger herrschaftsstützende Effekte erwarten. Ein weiteres Problem der Freundschaften Rüdigers ergibt sich nicht etwa aus der Vielzahl der von ihm verteilten Gaben, sondern überhaupt aus dem Umstand, dass sich Freundschaften auf Gaben stützen. Lieb hat für die deutsche höfische Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts festgestellt, dass Gaben im Kontext von Minnebeziehungen erstaunlicherweise kaum erwähnt werden, während sie realhistorisch eine große Rolle bei Eheanbahnungen spielten. In dauerhaften, idealisierten Minneverhältnissen kommen Gaben nicht vor. Sie werden fast ausschließlich dort eingebunden, wo die Beziehungen problematisch sind oder werden:305 «Störungen, Probleme und Konflikte werden –  meist unfreiwillig  – von Liebesgaben verursacht, mit Liebesgaben ausgedrückt oder durch Liebesgaben überspielt.»306 An anderer Stelle spitzt Lieb noch weiter zu: «Wenn von Gaben in einer Liebesbeziehung erzählt wird, hat die Liebe keine Chance.»307 Lieb begründet die Problematik der Liebesgaben damit, dass Minnebeziehungen so ein ökonomischer Mechanismus unterlegt werde, der die Reinheit und Absolutheit der Beziehung gefährde.308 Mir scheint nun, dass der von Lieb herausgearbeitete Zusammenhang der Beziehungsstörung durch Gaben auch auf Freundschaften zutrifft. Die Gründe dafür sehe ich aber nicht in der Ökonomisierung der Beziehung, sondern ganz grundsätzlich darin, dass Gaben nicht symbolisch-konventionalisiert309 für die in der histoire entfaltete konkrete Freund304 Dietrich

ist über das Kommen der Burgunden betrübt, weil er davon ausgegangen war, dass Rüdiger sie gewarnt habe: er wând, ez wiste Rüedegêr, daz er’z in hête geseit. (NL 1723,4) Rüdiger lässt in der Hoffnung auf eine Friedenschance bei Dietrich nachfragen, der ihm aber eine abschlägige Antwort erteilt (NL 2137). Giselher glaubt, Rüdiger, der dem Kampf mit den Burgunden entgegengeht, komme als Freund zu ihnen (NL 2171 f.). Auch die Bestürzung der Burgunden über Rüdigers Aufkündigung der Freundschaft macht klar, dass man meinte, man hätte auf die Freundschaft zu ihm bauen können (so explizit Gunther NL 2177). Mit ihr argumentieren sie auch vornehmlich, wenn sie versuchen, Rüdiger doch noch vom Kampf abzubringen (NL 2179 f.; 2188). 305 Vgl. Lieb 2012, S. 35 f. 306 Lieb 2009, S. 186. 307 Lieb 2012, S. 36. So auch Lieb 2009, S. 198: «Ich behaupte sogar, dass Liebesgaben im höfischen Roman eine Störung der zwischengeschlechtlichen Beziehungen indizieren.» 308 Vgl. ebd., S. 186. Auch die didaktische Literatur des Mittelalters sieht Liebesgaben aus diesem Grund kritisch (S. 196). Mit Blumenkranz, dem Motiv des Herzenstauschs und der Textgabe zeigt Lieb die ‹Standardlösungen› für das Minnegabenproblem in höfischen Texten auf. 309 Zwischen Zeichenmittel und Objekt herrscht beim Symbol ein völlig frei gewählter, also arbiträrer Bezug.

277

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

schaftsdyade stehen. Anders ausgedrückt: Gaben weisen keinen symbolischen Bezug auf Freundschaftsdyaden auf. Sie können schon deswegen nicht als Symbole für konkret in Texten umgesetzte Freundschaften fungieren, weil es – zumindest für das Korpus der hier untersuchten Heldenepen  – keinen regelhaften, konventionalisierten Verweiszusammenhang von Gabe und Freundschaft gibt.310 In allen anderen Heldenepen sind Gaben gerade kein Mittel zur Installation, Besiegelung oder Verdauerung von Freundschaft.311 Die anderen Heldenepen stiften einen konventionalisierten Verweis durch narrative Mittel wie Aufmerksamkeitslenkung, Zuordnung zweier Figuren zueinander durch andere Figuren und Erzähler, gemeinsames Handeln, bisweilen interne Fokalisierung etc. und gerade nicht mittels Gaben.312 Die Gaben im Kontext der Freundschaften im ‹Nibelungenlied› werden dann auch systematisch ambiguisiert. Sie sind mindestens zweideutig: Aus textinterner Sicht der Symbole im Sinne von Charles S. Peirce funktionieren konventionell nach einer Regel, sind also situationsabstrakt und wiederholt verwendbar. Vgl. Schönrich 1990, S. 148–150. 310 Für diese Einschätzung hängt freilich alles von der Weite des jeweiligen Gabenbegriffs ab. Ich möchte hier einen engen, auf dingliche bzw. verdinglichte Entitäten begrenzten Gabenbegriff anlegen, weil mir der Gabenbegriff durch seine Ausweitung auf Handlungen und Gesten aller Art in der jüngeren, florierenden Gabenforschung (nicht nur zum ‹Nibelungenlied›) an analytischer Schärfe einzubüßen scheint. Zur Gabenthematik im ‹Nibelungenlied› vgl. Gephart [Rüsenberg] 1994 und Ehrismann 1998, die durch die Gaben Freundschaften gestiftet sehen. Sahm 2014 überträgt die Gabenlogik auch auf Raubhandlungen im ‹Nibelungenlied› als Spielart der Gabe. Schausten 2016 hat hingegen jüngst den antagonistischen Zug beim Gabentausch am ‹Nibelungenlied› herausgearbeitet, wovon die folgenden Überlegungen stark profitieren. 311 Die signifikante Abweichung des ‹Nibelungenliedes› von der restriktiven Handhabung von Freundschaftsgaben in den anderen Heldenepen zeigen die wenigen Beispiele, in denen dort Dinge im Zusammenhang mit Freundschaft getauscht werden: Karl übergibt etwa Schwert und Horn an Roland, aber das funktioniert gerade nicht nach einer freundschaftlich unterfütterten Gabenlogik, ist die Übergabe doch gottgewollt (ChdR v. 2318–2321; RL v. 6862–6869; K v. 8047–8059). Im Zuge der Verheiratung von Hildeburg mit Hartmut meint Kudrun zu Hilde, dass man Hildeburg für ihre Freundschaft Gold und Edelsteine des gesamten Reiches geben sollte (KU  1585,2–4). Hier zeigt die Hyperbolik dieser Aussage an, dass Hildeburgs Freundschaftsdienste im Grunde durch gar nichts und erst recht nicht durch Materielles aufzuwiegen sind. Darüber hinaus ist auch nie von einer tatsächlichen Übergabe solcher Dinge die Rede. Galie gibt Morant zum Abschied ein Maultier und Gold mit, aber der Erzähler fügt sogleich verdeutlichend hinzu, dass Morant wegen Galie und nicht wegen ihrer Gaben, derer es demnach nicht bedurft hätte, zurückkehre (MG  v. 396–406). Karl schenkt Dederich sein Schwert Gosobele (KG 103,28–31), dies allerdings erst, nachdem dieser in der Schlacht gegen Bremunt schwer verletzt wurde und damit als Dank für geleistete Freundschaftsdienste, während die Gaben im ‹Nibelungenlied› umgekehrt als Vorschuss für noch zu leistende Dienste eingesetzt werden, die dann aber nie folgen. Außerdem zeigt sich die Verbundenheit Karls mit Dederich daneben noch dadurch, dass er erst weiterzieht, nachdem Dederich genesen ist, womit Karl die Rückeroberung seiner Herrschaft solange suspendiert. So lässt sich auch die Übergabe von Gold und Silber an Florette durch Galie einordnen (MG v. 5513–5518): Sie erfolgt zum einen nachträglich für geleistete triuwe und zum anderen zusätzlich zur Verheiratung mit Morant, die hier hauptsächlich Reziprozität herstellt. Im ‹Willehalm› kann man an der Einkleidung Rennewarts nachvollziehen, wie Gaben in den Texten gerade zu umgehen versucht werden: Es wird hier Wert darauf gelegt, dass diese Einkleidung gerade nicht als Gabe aufgefasst werden soll. Willehalm lässt Rennewart freie Hand bei der Ausrüstung, zwingt ihm nicht qua Gabe eine ritterliche Ausrüstung auf und akzeptiert seine Wahl der Stange als Kampfmittel (W 195,21–196,7). 312 Dass auch das ‹Nibelungenlied› um die potenziellen Probleme von Gaben für andere Beziehungstypen weiß, zeigen zwei Beispiele, in denen Gaben offensiv abgewehrt werden. Lieb 2012 zeigt, wie Siegfried gegenüber Kriemhild eine gestörte Gabenliebe abwehrt, wenn er die von Kriemhild als Botenlohn gegebenen 24 Armreifen mit Edelsteinbesatz sofort weiterschenkt (NL 556–558). Diese Gefahrenabwehr gelingt zunächst, wird allerdings später durch die Gabe von Ring und Gürtel Brünhilds an Kriemhild eingeholt. Vgl. Lieb 2012, S. 38 f. Auch Rüdiger verwahrt sich dagegen, sich von Etzel für seine Botenfahrt nach Worms einkleiden zu lassen (NL 1152 f.) und kennzeichnet die Annahme einer solchen Gabe explizit als «unlobelîch» (NL 1153,2). Beide Beispiele zeigen, dass Gaben in solchen Nahbeziehungen zum einen keine Rolle spielen und zum anderen auch keine Rolle spielen dürfen.

278



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

Figuren bzw. des Erzählers werden Gaben offensiv als Symbole für die jeweilige Freundschaftsdyade gedeutet.313 Vor dem Hintergrund eines von allen Heldenepen abstrahierten Freundschaftsmusters symbolisieren Gaben nicht Freundschaft, sondern im Gegenteil eine Störung der Freundschaft. Ich kann hier an die Ergebnisse Schaustens anknüpfen und sie für Freundschaft engführen. Schausten zeigt, dass der Gabentausch im ‹Nibelungenlied› die positiven Effekte der Gemeinschaftsstiftung unterwandert.314 Gaben haben «soziale[] Sprengkraft»315: «Die konsequente Dekonstruktion gabenökonomischer Prinzipien ist im Lied als Bedingung einer sukzessiven Zersetzung gesellschaftlicher Verbindlichkeiten entwickelt.»316 Sie führt daher Rüdigers tragisches Ende nicht auf einen Loyalitätskonflikt zurück, sondern auf seine grundsätzliche Verstrickung in die Gabenpraxis.317 Schon bei der Verheiratung von Giselher mit Rüdigers Tochter wird ein problematischer Kausalzusammenhang von Gabe und Freundschaft gestiftet: Rüdiger sichert den Burgunden Freundschaft zu (NL 1682,1), «sît ich der bürge niene hân.» (NL 1681,4) Dass Gunther die Rüstung als Gabe Rüdigers annimmt, wird im Text als große Ausnahme hervorgehoben: swie selten [d. h. ‘niemals’] er gâbe enpfienge (NL 1695,3).318 Regelmäßig streut der Erzähler in unmittelbarer Folge zu den als Freundschaftssymbolen präsentierten Gaben Momente ein, die diese Darstellung unterminieren: Wenn Rüdiger Gernot das Schwert übergibt, betont der Erzähler zugleich, dass Rüdiger durch diese Gabe sterben wird (NL 1696,4). Das Resümee des Erzählers zur Zwischeneinkehr in Bechelarn enthält zuletzt auch einen irritierenden Schlussvers. Die komplette Strophe lautet: Allez, daz der gâbe  von in wart genomen, in ir deheines hende  waer ir niht bekomen, wan durch des wirtes liebe,  der’z in sô schône bôt. sît wurden’s im sô vîent,  daz si in muosen slâhen tôt. (NL 1704)

Auch in Rüdigers Versuch, sich seiner Verpflichtung gegenüber Etzel zu entledigen, argumentiert er mit der Gabe und diese ist wiederum auf das Engste mit Tod und Ver313

Bei der Verlobung von Giselher mit Rüdigers Tochter sichern Gunther und Gernot den beiden bürge unde lant (NL 1681,1) zu. Rüdiger seinerseits will den Burgunden «mit triuwen immer wesen holt» (NL 1682,1) und gibt ihnen obendrein 100 Saumtierladungen Gold und Silber. Die Gaben Rüdigers bzw. Gotelinds an Gernot, Hagen und Volker schildert der Erzähler als von Herzen gegönnt (NL 1696,3), minnelîche[] gâbe (NL 1697,2) bzw. vriuntlîche[] gâbe (NL 1706,2). Bilanzierend kommentiert der Erzähler zu den Gaben Rüdigers an die Burgunden: Allez, daz der gâbe von in wart genomen, / in ir deheines hende waer ir niht bekomen, / wan durch des wirtes liebe, der’z in sô schône bôt. (NL 1704,1–3) Die Belege, die Gaben Rüdigers und Freundschaft zu den Amelungen verklammern, habe ich oben bereits angeführt. 314 Vgl. Schausten 2016, S. 87. In der älteren Forschung galt hingegen noch als Grundsatz, was Wapnewski 1994 [1960], S. 161 f., kürzestmöglich so formuliert: «Gabe und Freundschaft sind identisch.» Wapnewski 1993, S. 72, konkretisiert es so, dass die Schildgabe der 37. Aventiure kein Zeichen der Freundschaft, sondern die Freundschaft selbst sei. 315 Schausten 2016, S. 103. 316 Ebd., S. 102. 317 Vgl. ebd., S. 87. Im Fazit bringt Schausten wiederum beide Punkte zusammen: «Rüdigers Scheitern indes begründet der Autor letztlich im Hinweis auf seinen unüberlegten und unreflektierten Umgang mit den Gaben. […] Seine Strategie, die eigene Loyalität immer da als Gabe zu bemühen, wo er ansonsten nichts mehr oder nicht angemessen geben kann, schlägt schließlich gegen ihn selbst zurück.» (S. 109) 318 Ehrismann 1998, S. 371, liest die als Ausnahme markierte Annahme der Gaben durch Gunther so, dass jener die Ranggleichheit Rüdigers akzeptiere. Gephart [Rüsenberg] 1994, S. 60, mag im Schenken vom Rangniederen an den -höheren keine soziale Anmaßung erkennen. Man kann ebenso gut argumentieren, dass der Erzählerkommentar die Statusdifferenz von König und Markgraf herausstelle und damit auf die Problematik der Annahme einer Gabe von einem Rangniederen aufmerksam mache. Irritierend ist der Kommentar so oder so.

279

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

derben zusammengeschlossen: «[…] / und gap in mîne gâbe. wie sol ich râten in den tôt?» (NL  2159,4) Ähnlich klingt das später im Gespräch mit Gunther, wenn jener meint, er solle sie am Leben lassen eingedenk «der hêrlîchen gâbe» (NL 2180,3). Gernot meint sogar gegenüber dem noch lebenden Rüdiger mit Blick auf sein von ihm erhaltenes Schwert, dass ihn Rüdigers Tod «riuwet» (NL 2184,2). In der Folge droht er konkret: «mit iuwer selbes swerte nim ich iu den lîp.» (NL 2186,3) Das wiederholt sich im Kampf: «Nû mac iu iuwer gâbe wol ze schaden komen» (NL 2217,1). Und höhnisch verkündet Gernot weiter: «iuwer gâbe wirt verdienet, sô ich aller beste kan.» (NL  2217,4) Nachdem sich Gernot und Rüdiger gegenseitig getötet haben, heißt es durch den Erzähler in lakonischem Ton: Jâne wart nie wirs gelônet sô rîcher gâbe mêr. (NL 2221,1) Die Gaben stellen vordergründig einen Versuch dar, Auflösungserscheinungen und Krisenphänomene der sozialen Gemeinschaft von vornherein abzuwehren. Im Bestreben, Intimität durch Gaben herzustellen, wird das exakte Gegenteil erreicht. Freundschaft kann jederzeit in Feindschaft kippen.319 Die irritierend zweideutige Textstrategie im Zusammenhang von Freundschaft und Gaben sowie nicht zuletzt der restriktive Umgang mit Gaben in den anderen untersuchten Heldenepen zeigen insgesamt an, dass Gaben keine adäquaten Symbole für Freundschaft sein können: Die im Modus der Freundschaft gegebenen Gaben im ‹Nibelungenlied› enden samt und sonders im Tod sowohl des Gebenden wie Nehmenden. Im Falle der Gaben Rüdigers an die Burgunden bleiben deren Effekte zeitlich begrenzt.320 Die Freundschaften schlagen in Feindschaft um, gerade weil sie nur auf Gaben begründet sind. 319

In nuce kann man beim Zusammentreffen von Hagen und Eckewart nachvollziehen, wie eine Beziehung zwischen potenziellen Konkurrenten bzw. Feinden durch Gaben in ein Näheverhältnis verkehrt wird. Hagen findet beim Zug der Burgunden ins Hunnenland den Grenzwächter Eckewart schlafend vor und nimmt ihm sein Schwert ab (NL  1631). Eckewart gehörte ursprünglich zum Herrschaftsverband Gunthers, hatte sich aber beim ‹Umzug› Kriemhilds nach Xanten dem Gefolge Siegfrieds angeschlossen und war auch nach dessen Tod im Dienst Kriemhilds verblieben, hatte sogar mit ihr stets um Siegfried getrauert (s. o.). Daran erinnert Eckewart angesichts des entwendeten Schwertes auch: «sît ich Sîvride vlôs, sît was mîn vreude zergân.» (NL 1633,3) Er weiß auch sehr genau, dass er mit Hagen den Mörder Siegfrieds vor sich hat (NL  1635,3). Als ihm Hagen sein Schwert und noch dazu 12 Armreifen aus Rotgold gibt, verbindet Hagen dies mit dem Anspruch: «die habe dir, helt, ze minnen, daz dû mîn vriunt sîst!» (NL  1634,3) In der Tat ändert sich die Beziehung schlagartig, verbindet sich mit der Gabe ein regelrechter ‹Seitenwechsel›. Eckewart meint nun explizit unter Bezug auf die Gaben Hagens (NL 1635,1), dass ihn die Fahrt der Burgunden bekümmert und sie sich wegen der Feinde im Hunnenland in Acht nehmen sollen (NL  1635,2–4). Anschließend rät er den Burgunden, bei Rüdiger unterzukommen (NL 1638 f.) und fungiert gar als burgundischer Bote (NL 1641). Das Beispiel Eckewarts zeigt, wie Gaben das Kippen von Beziehungen von Feindschaft in Freundschaft bewirken. Ehrismann 1989, S. 106, meint gar, dass Hagen Eckewart durch die Schwertrückgabe zum Freund gewonnen habe. Ich würde nicht so weit gehen, auf Grundlage einer so kurzen gemeinsamen Szene von Freundschaft zu sprechen, aber das Umschlagsmoment in der Beziehung durch die Gabe ist deutlich im Text markiert. Ehrismann ²2002, S. 117, deutet Raub und Rückgabe des Schwertes so, dass Eckewart die alte, auf Kriemhild bezogene Identität Eckewarts entwendet und eine neue, nibelungische verliehen werde. Auch Müller 1998, S. 142 f., zeichnet deutlich die Störungen dieser Szene und den ‹Sinneswandel› Eckewarts nach, bringt ihn aber nicht in Verbindung mit den Gaben. 320 Auch dass Rüdigers Gaben allesamt den eigenen Herrschaftsverband übersteigen, gewinnt von hierher noch eine andere Optik. Dass die Gaben Rüdigers an die Burgunden und Amelungen potenziell konfliktträchtige Beziehungen – wenn auch nur temporär – prästabilisieren und so Freundschaft suggerieren, zeigen ex negativo jene Fälle, in denen das Zusammentreffen von Helden verschiedener Herrschaftsverbände, die keine Gaben getauscht haben, von vornherein als Konkurrenz dargestellt wird. Es sei hier nur auf die konfliktreiche Konstellation Wolfhart‑Volker (NL 1993; 2265–2273; 2277 f.) oder Hildebrant‑Hagen, die fast ausschließlich im Kampf gezeigt werden (NL 2275 f.; 2290; 2304–2307; 2311; 2343 f.), verwiesen. Dass Hildebrant trotz dieser Rivalität Hagen an Kriemhild rächt, ist dadurch bedingt, dass mit Kriemhild eine Frau einen Helden getötet hat (NL 2375, die entsprechende Argumentation bei Etzel NL 2374).

280



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

3.2.2.2. Rüdiger und Hagen: Zum Problem der Umstellung von traditionalen auf zweckrationale Motive der Freundschaft Lediglich Rüdigers Freundschaft zu Hagen scheint einigermaßen geschlossen, weil sie nicht nur auf Gaben basiert, sondern noch auf einer gemeinsamen Vergangenheit, also auf traditionalen Motiven im Sinne Webers. Schon beim Eintreffen Rüdigers als Etzels Bote in Worms meint Hagen, er habe ihn zwar lange nicht gesehen (NL 1180,2), erkennt ihn aber als Rüdiger.321 Danach mehren sich die Hinweise auf einen früheren Aufenthalt Hagens am Etzelhof (NL 1205; 1419; 1754–1757; 1796 f.; 2344), der in Grundzügen der Walthersage entspricht. Im Zuge dessen gibt es auch einen deutlichen Hinweis auf eine schon früher gegebene freundschaftliche Beziehung zwischen Rüdiger und Hagen, die auf Reziprozität abzustellen scheint: Hagen im [d. i. Rüdiger] diente gerne, er hêt im ê alsam getân. (NL  1201,4) Auch die herausgehobene Begrüßung Hagens durch Rüdiger in Bechelarn wird mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit begründet: den [d. i. Hagen] hêt er [d. i.  Rüdiger] ê bekant. (NL  1657,3) Bei dieser geschlossenen und dauerhaften Freundschaft Rüdigers und Hagens wird die durch die Gaben eingespeiste Irritation der Beziehung dadurch kenntlich, dass Hagen als Nehmender die Gabe bestimmt, wodurch nun gerade die Umstellung der Beziehung von traditionalen auf zweckrationale Motive der Schließung markiert wird. In Bechelarn lehnt Hagen das nicht näher benannte Geschenk Gotelinds ab (NL  1697,4) und bittet sich den Schild Nuduncs, des gefallenen Sohnes Rüdigers und Gotelinds, als Gabe aus (NL 1698). Hierbei werden zweckrationale Motive betont. Damit ist nicht der Hinweis des Erzählers auf den hohen Sachwert des Schildes gemeint (NL  1702,4), sondern Hagens begründender Nachsatz für seine Bitte: «den [d. i. der Schild] wolde ich gerne vüeren in das Etzelen lant.» (NL 1698,4) Wie Lieb für die gestörte Gabenliebe zeigt, so gehen –  wie man an Hagen sehen kann  – auch im Falle der Freundschaft Gaben «mit kommunikativen, semiotischen und performativen Spannungen, Brüchen und Umcodierungen»322 einher. Ganz unabhängig davon, wie man Hagens ‹Begründung›, ausgerechnet diesen Schild haben zu wollen, versteht,323 so zeigt die Szene in eindrücklicher Weise, welche Irritationen Gaben in Nahbeziehungen begleiten: Hagen lehnt die ursprüngliche Gabe ab324 und bringt sich mit seiner Schildbitte von einer passiv empfangenden in eine aktiv bestimmende Position. Seine Bitte um Nuduncs Schild wird in seiner Außergewöhnlichkeit, ja Unerhörtheit durch Gotelinds Tränen markiert (NL  1699).325 Nicht zuletzt wird der Schild vom Memorialzeichen Nuduncs umcodiert zum vermeintlichen Symbol für Freundschaft aus 321

Zur Darstellung von Hagens Jugend am Etzelhof vgl. Zimmermann 2006. Lieb 2012, S. 37. 323 Der Erzähler lässt dies im Dunkeln und so müssen alle Überlegungen spekulativ bleiben: Neutral kann das zumindest in der Rückschau des Textes nicht gemeint sein. Vielleicht deutet sich hier schon an, wie sich die Gaben Rüdigers gegen ihn wenden. 324 Die Nichtannahme einer Gabe wäre mit Mauss 1990 [1923/1924], S. 37, 99 und 157, ein Affront gegen den/die Gebende/n. Er stellt S. 35 und 91 heraus, dass mit der Gabe die Verpflichtung des Gebens, des (An‑)Nehmens und des Erwiderns einhergeht. Die Dialektik des Gabensystems bringt die Beteiligten in ein einerseits uneigennütziges, andererseits obligatorisches Abhängigkeitsverhältnis (S. 77). Campbell 1996, S. 24, deutet die Nachfrage nach dem Schild ohne weitere Begründung hingegen als ehrend für Rüdiger, womit Hagen die Freundschaft zu Rüdiger knüpfe. Ehrismann 1998, S. 372, liest es so, dass durch die Bitte um Nuduncs Schild Hagen zum Schutzschild der Burgunden erhoben werde. 325 Auch Müller 1998, S. 144, betrachtet das Weinen Gotelinds als eine der vielen Störungen des Textes. Schausten 2016, S. 107, deutet die Ablehnung der einen und Forderung der anderen Gabe so: «Er [d. i. Hagen] stellt so die Unbedingtheit von Rüdigers Bereitschaft zu geben auf die Probe.» Dass Gotelind den Schild 322

281

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Figurensicht, während es von der Freundschaftskonzeption der anderen Heldenepen aus betrachtet die (bevorstehende) Labilität der Beziehung von Rüdiger und Hagen illustriert. Noch deutlicher wird das in der zweiten Schildbitte in der 37. Aventiure.326 Im Laufe des Gesprächs zwischen Rüdiger und den Burgunden schaltet sich Hagen ein und bittet mehr oder weniger deutlich um Rüdigers Schild (NL 2195), wodurch er erneut als Nehmender zugleich in einer aktiv bestimmenden Position auftritt. Seine Begründung für die erneute Schildbitte irritiert.327 Die Hunnen hätten ihm den vorherigen Schild zerhauen und er setzt hinzu: «ich vuort in vriuntlîche in daz Etzelen lant.» (NL 2194,4) Das ist in der Rückschau der permanenten Provokationen Hagens am Etzelhof ganz offenbar nicht wahrheitsgemäß.328 In diese Richtung deutet die nachfolgende Begründung, die wiederum auf ein zweckrationales Motiv abhebt: «sô bedorft ich in den stürmen deheiner halsberge mêr.» (NL 2195,4) Die Beteuerung der freundlichen Absichten Hagens kann man so lesen, dass er zu bemänteln versucht, dass sich Rüdigers Gaben über den Kampf gegen Etzels und seiner Männer schon längst auch gegen ihn, Rüdiger, gewendet haben.329 Weiterhin wird mit Rüdigers Verweis, «torste ich dir’n bieten vor Kriemhilde» (NL 2196,2) angedeutet, dass die Schildbitte nicht ganz unproblematisch ist. Wiederum wird das Außerordentliche des Vorgangs durch Tränen, diesmal von Helden (NL 2202), sowie das trûren (NL 2198,4) Hagens angezeigt. Irritierend ist auch der Verzicht Hagens, gegen Rüdiger zu kämpfen, formuliert: Er werde nicht gegen ihn antreten, «ob ir [d. i. Nuduncs herausgeben muss, markiere nach Schausten wiederum Rüdigers inferiore Position im Rahmen der Gabenpraxis in Bechelarn. 326 Freilich handelt es sich um eine der großen Szenen des Textes, wobei man sie im Prinzip nicht mehr losgelöst vom umfänglichen Forschungsdiskurs lesen kann. Ich will dennoch versuchen, die Spannungen und Brüche dieser Gabe nüchtern zu registrieren, ohne dies einer weitergehenden Wertung zu unterwerfen. Hier reicht das Deutungsspektrum in der Forschung von einer Geste des Humanismus bis hin zum Kalkül Hagens, er wolle Rüdiger durch die Schildbitte im Kampf schwächen. Gegenüber diesen Extremen herrscht in der Forschung hingegen breiter Konsens, diese Szene als Geste der Freundschaft zu lesen. Vgl. Ehrismann 1989, 1998; Gephart [Rüsenberg] 1994, S. 66. Campbell 1996, S. 23, liest darin eine Möglichkeit, dass Rüdiger seinen Adel und seine Freundschaft zu Hagen demonstrieren und sich so vom Stigma des Verrats befreien könne. Classen 2010, S. 440, meint, die Schildgabe eröffne Rüdiger die Option, nochmals zu betonen, dass er nicht freiwillig kämpfe. Classen 2011, S. 134, liest sie als Beispiel für Freundschaft, Opferbereitschaft und Altruismus. Wapnewski 1994 [1960], S. 158 f., betont, dass Hagens Bitte Rüdiger ermögliche, noch einmal seine milte und Güte gegenüber den Burgunden unter Beweis zu stellen. Gleichzeitig verzeihe Hagen ihm den nachfolgenden Kampf. 327 Schon das der Schildbitte vorangehende Gespräch Rüdigers mit den Burgunden problematisierte die Gaben Rüdigers: Ich lese den Appell Gunthers an die gegebenen Gaben so (NL 1280), dass er sie als Unterpfand ihrer Freundschaft aufgefasst hatte und nun feststellen muss, dass dies keine belastbare Basis für eine Nahbeziehung ist. Wie schnell eine Beziehung, die lediglich auf Gaben baut, von Freundschaft in Feindschaft kippen kann, unterstreicht Gernots Drohung, er werde Rüdiger mit seiner Gabe töten (NL 2186), was sich ja auch bewahrheitet. 328 Man muss das zwar nicht wie Thelen 1997, S. 392, so deuten, dass Hagen Rüdiger so daran erinnert, dass er, Rüdiger, die Burgunden an den Etzelhof geführt habe und damit für ihre derzeitige Situation verantwortlich sei. Widerständig bleibt die Aussage dennoch, v. a. wenn man bedenkt, dass offensive Lügen im ‹Nibelungenlied› eher an Stellen angebracht werden, an denen der Lügner seine Mitschuld bemänteln will. Vgl. Dankwarts Lüge gegenüber Blödelin (NL 1924,3), Hagens Lügen gegenüber Gunther (NL 1567 f.; 1620) und Hildebrants Halbwahrheiten gegenüber Dietrich (NL 2310–2318). 329 Das wird ersichtlich, wenn man bedenkt, dass unmittelbar vorher Gernot über das gegebene Schwert sagt: «Daz ist mir nie geswichen in aller dirre nôt. / under sînen ecken lît manic ritter tôt.» (NL 2185,1 f.) Da Gernot das Schwert erst seit der Zwischeneinkehr in Bechelarn hat, kann sich dieses so allgemein anmutende Lob nur darauf beziehen, dass durch jene Gabe schon viele Hunnen umgekommen sind. Dadurch wird klar, dass Rüdiger mit seiner Gabe an den Verlusten Etzels mitgewirkt hat, auch wenn er sich bisher aus den Kampfhandlungen herausgehalten hat.

282



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

Rüdiger] si alle slüeget, die von Burgonden lant.» (NL  2201,4)330 Verstärkt wird dieser merkwürdige, aber vom Erzähler nicht weiter eingeordnete Kommentar noch durch Hagens «Double Volker»,331 der ebenfalls unter Verweis auf die Gaben von Bechelarn nicht gegen Rüdiger kämpfen will (NL 2203–2205). Dass die Gaben Rüdigers an Hagen narrativ durch die flankierenden Spannungsmomente gegenüber der restlichen Gabenpraxis deutlich herausgehoben sind, lässt sich im Vergleich zu anderen Heldenepen des 13. Jahrhunderts wie folgt einordnen. Die anderen Gaben an die Burgunden sind dadurch entwertet, dass sie die einzige Basis der Beziehung zur Rüdiger darstellen, die sich entsprechend zügig von präsupponierter Freundschaft in handfeste Feindschaft wandeln kann. Gaben können in diesem Fall schon allein deswegen keine Freundschaft symbolisieren, weil es für diese Beziehung gar keine andere Grundlage gibt. Das trifft auch auf die Beziehung Rüdigers zu Dietrich zu, nur dass die gescheiterte Symbolisierung mittels Gaben dort nur mittelbar, aber nicht minder gravierende Folgen zeitigt, weil Dietrich als ellender dem Etzelhof assoziiert ist und damit nicht in eine derartige Opposition zu Rüdiger geraten kann wie die Burgunden. Dadurch kommt es zu keiner direkten Konfrontation Dietrich-Rüdiger, aber mittelbar zu derjenigen der Amelungen, die Rüdiger rächen wollen, gegen die Burgunden und im Schlusstableau zu der Dietrichs gegen Gunther und Hagen. Bei Hagen und Rüdiger ist der Fall verwickelter. Ihre Freundschaft geht auf den früheren Aufenthalt Hagens am Etzelhof zurück und ist damit grundsätzlich symbolisierungsfähig. Dies wird in der Zuneigung der beiden Figuren füreinander eindrücklich vor Augen gestellt. Allerdings liegen die Verhältnisse in der aktualen Geschichte des ‹Nibelungenliedes› anders als in den analeptisch eingespeisten Erinnerungen an Hagens Zeit am Etzelhof. Damals war Hagen dem Hunnenhof assoziiert und Etzel selbst freundschaftlich verbunden, wie die Darstellung Etzels bei der Ankunft der Burgunden nahelegt. Für Hagens Vater Aldrian ist Etzel voll des Lobes: «Wol erkande ich Aldriânen.  der was mîn man. lop unde michel êre  er hie bî mir gewan. ich machete in ze ritter  und gap im mîn golt. Helche, diu getriuwe,  was im inneclîchen holt.»  (NL 1755)

Es folgt die Erinnerung an Hagen, der wie Walther von Spanien in seiner Kindheit Geisel an seinem Hof war. Während Etzel Hagen wieder freigelassen habe, seien Walther und Hildegund geflohen (NL  1756). Daran schließt sich ein Erzählerkommentar an, der die vielfach beobachtete Dialektik von Freund und Feind aufgreift: sînen [d. i. Etzels] vriunt von Tronege den hêt er reht ersehen, / der im in sîner jugende vil starkiu dienest bôt. / sît vrumt er im in alter vil manigen lieben vriunt tôt. (NL 1757,2–4) War damals die Möglichkeit der Freundschaft Hagen‑Rüdiger, ja selbst der freundschaftlichen Zuneigung von Hagen und Etzel gegeben,332 so liegen die Verhältnisse in der aktual geschilderten Geschichte anders, weil Hagen und Rüdiger nun verschiedenen Herrschaftsverbänden zugehören. Die 330 Diese

vasallitische Untreue Hagens wird zwar vom Erzähler nicht problematisiert, aber es wird auch an diesem Punkt noch einmal deutlich, dass die Schildbitte keine uneingeschränkt positive Geste ist. 331 Ehrismann 1989, S. 109. 332 Hierfür ist einigermaßen bedeutend, dass das ‹Nibelungenlied› die Walthersage in einer Version darstellt, wie sie die mittelhochdeutschen Bruchstücke von ‹Walther  und  Hildegund› bezeugen, wo Hagen von Etzel freigelassen wird, und eben nicht in der Version des mittellateinischen ‹Waltharius›, in dem Hagen flieht.

283

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Gaben Rüdigers an Hagen stellen im Kontext dieser Überlegungen einen Versuch dar, an diese alte, friktionslose Beziehung zu der Zeit von Hagens Aufenthalt am Etzelhof anzuknüpfen, worauf die im ‹Nibelungenlied› gesondert herausgehobenen Szenen und ihre affektive Inszenierung deuten. Ihre aktuale Zugehörigkeit zu verschiedenen Herrschaftsverbänden lassen die Gaben als Symbole für Freundschaft allerdings ins Leere laufen, weil Freundschaften über verschiedene Herrschaftsverbände hinweg im Freundschaftskonzept der Heldenepen des 13. Jahrhunderts nicht vorgesehen sind. Die Gaben symbolisieren damit letztlich diese Unmöglichkeit, sie stellen die Konkurrenz zwischen Herrschaftsverbänden lediglich zeitlich begrenzt auf Harmonie um. Das ist nun im Falle von Hagen und Rüdiger besonders gravierend vor dem Hintergrund ihrer vorherigen guten Freundschaft, entsprechend ‹dramatisch› fallen die Gabenszenen bei den beiden aus und entsprechend versuchen sie, ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Verbänden zumindest ansatzweise zu suspendieren.333 Letztlich zeigen sie aber nur, dass Gaben gerade nicht die ‹richtige› Form der Symbolisierung ihrer Beziehung sind. Zwar lässt die Dauer ihrer Freundschaft Konventionalisierungen im Sinne von Symbolen prinzipiell möglich erscheinen, aber die Gaben Rüdigers nehmen nun die Form einer Monumentalisierung der Freundschaft zu Lebzeiten an, die erst nach dem Tod adäquat ist.334 Mittels der Gaben wird die Beziehung Hagens und Rüdigers als Freundschaft zum Tod markiert, für die in den anderen Texten lediglich Waffenbrüder in Frage kamen.

3.3.  Sentenzen: Ein Loblied auf die Freundschaft? Die Bilanz der Freundschaften auf der histoire‑Ebene des ‹Nibelungenliedes› ist nun extrem verheerend, führen sie doch über kurz oder lang in den Tod der Freunde. Es gibt allerdings ein regelmäßig auftauchendes Textelement, das die positiven Potenzen von Freundschaften ungeachtet ihrer katastrophalen Wirkungen in der histoire zu behaupten scheint: die Sprichwörter bzw. Sentenzen.335 Diese sind bislang so gut wie kaum in den Blick der Forschung geraten.336 Die Regelmäßigkeit ihres Auftretens lässt allerdings auf eine funktionale Einbettung der Sentenzen schließen. 333 Darauf

deutet Rüdigers gescheiterter diffidatio‑Versuch (NL  2157). So lese ich auch Rüdigers Hinweis auf Kriemhild (NL 2196,2) bei der Schildübergabe der 37. Aventiure und Hagens Kampfverzicht, der auch den Tod aller Burgunden in Kauf nähme (NL 2201). 334 Erinnert sei nur an die umfangreichen Akte der Totenverehrung im ‹Karl›: Karl stiftet zum Gedenken an Roland nicht nur ein überaus kostspieliges Spital auf dem Feld von Ronceval, sondern auch eine Kirche über dem Stein, auf dem Roland verstarb, und darüber hinaus ein Kloster an der ersten Herberge auf dem Rückweg nach Frankreich (K v. 10934–10976). Dass Monumentalisierung erst nach dem Tod statthaft ist, scheint mir auch auf Minnebeziehungen zuzutreffen, wie man etwa am Grabmal von Tristan und Isolde ablesen könnte. 335 Zur Unterscheidung von Sprichwort und Sentenz vgl. Eikelmann/​Reuvekamp 2012, S. 58–66. Sie bestimmen sie als Ein‑Satz‑Wissen über Regeln und Werte der Gemeinschaft mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Sprichwörter tradieren konsensuelles Erfahrungswissen, das im Gegensatz zur Sentenz keiner Legitimation durch Autoritäten bedarf. Ich werde diese Unterscheidung hier nicht so streng handhaben, weil es mir nicht um eine Klassifikation geht, sondern um die Funktionalisierung dieses Textelements mit Blick auf die his‑ toire. Ich unterstelle damit einen ‹weiten Sentenzbegriff›, unter den als Oberkategorie verschiedene Spruchtypen wie Sprichworte, Sentenzen im engeren Sinne (s. o.) und andere gnomische Aussprüche etc. subsumiert werden können. Vgl. zur weiten und engen Begriffsverwendung in der literatur- wie forschungsgeschichtlichen Tradition Reuvekamp 2007, S. 7–17. 336 So weit ich sehe, hat sich nur Gentry 1975, S. 81–83, ausführlicher mit ihnen beschäftigt. Er sieht in ihnen das ungebrochen positive Freundschaftsideal verbalisiert und unterstellt, dass der Dichter ihre Erfüllung wünsche. «The tragedy of the ‹Nibelungenlied› arises from the inability or unwillingness of its characters to adhere

284



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

Die Sentenzen verweisen auf die Freundschaftshandlungen und modellieren so eine bestimmte Freundschaftskonzeption. Dass die Sentenzen als Alternativen zur Handlung fungieren sollen, zeigt auch das Fehlen solcher Textelemente in den anderen untersuchten Heldenepen.337 Der Bezug der Sentenzen auf die histoire ist dabei allerdings nicht schlicht abbildhaft‑doppelnd wie bei den Freundespaaren des ‹Nibelungenliedes›, sondern in einer qualifizierteren Weise, in der Übereinstimmungen und Differenzen gleichermaßen hineinspielen. Das entspricht damit im Kern dem Konzept der Heteroglossie Michail Bachtins. Dass das Freundschaftsthema im ‹Nibelungenlied› nicht nur narrativ, sondern auch diskursiv durch sprichwortartiges Wissen eingespielt wird, führt zur Dialogisierung der Perspektiven bzw. der Vorstellungen von Freundschaft.338 Betrachtet man die insgesamt acht sprichwortartigen Äußerungen zum Thema Freundschaft im ‹Nibelungenlied› isoliert, so verbalisieren sie im Kontrast zur narrativen Freundschaftshandlung eine Art Idealvorstellung davon, wie man mit einem Freund umgehen soll. Das triuwe‑Konzept wird als Basis von Freundschaft betont: «ich getrûwe in harte wol / triuwen unde guotes, alsô man vriunden sol.» (NL 748,1 f.) Zum Teil wird triuwe, aber auch Reziprozität mit einer Vorstellung vom Freundschaftsdienst über den Tod hinaus verkoppelt: […]  «nie dienest wart sô guot, sô den ein vriunt vriunde  nâch dem tôde tuot. daz heiz ich staete triuwe,  der die kan begân. ir lônet im nâch schulden.  er hât iu liebes vil getân.»  (NL 2264)

Überhaupt scheint die Sorge um den toten Freund einen zentralen Stellenwert einzunehmen: si dienten im nâch tôde, alsô man lieben vriunden sol. (NL  1062,4) Neben Folgebereitschaft –  «man sol vriunden volgen» (NL  1587,2)  – wird auch Beistand und Solidarität als elementar wichtig erachtet:

to these principles.» (S. 83) Dass die Forschung die Sprichwörter sonst nicht beachtet hat, darf angesichts des hohen Forschungsaufkommens zum Freundschaftsthema im ‹Nibelungenlied› verwundern. Gleichzeitig ist es wiederum auch nicht so überraschend, kommen doch im Zusammenhang mit der von der Forschung ausgiebig besprochenen Hagen‑Rüdiger‑Freundschaft keine Sentenzen vor. Ich beschränke mich hier auf das Nötigste, will die Sentenzen aber an anderer Stelle ausführlicher beleuchten. 337 Zieht man für die in dieser Arbeit untersuchten Heldenepen den «Thesaurus Proverbium Medii Aevii» zu Rate, so sind die beiden dort verzeichneten Sentenzen angesichts der Textfülle regelrecht Marginalien: In der ‹Kudrun› bekräftigt Herwig gegenüber Kudruns Familie, diese aus der Gefangenschaft Hartmuts zu retten «sît daz friunt friunde angestlîchen dienen sol.» (KU 1157,2) Im Rahmen einer internen Fokalisierung reflektiert Dietrich während seiner Gefangenschaft auf Muter in der Heidelberger ‹Virginal›, dass es ihm recht geschehe, denn: «Wer úberget der frunde rot, / es ist billich, ime missgot. / Sin lip wirrt drumbe gemeret, / es ist zu welt ein selig man, / seht, den do niht versmochet, / das er frunden volgen kan.» (V10 367,4–10) Vgl. TPMA Bd. 4, S. 34 und 58 f. Hinzufügen kann man noch einen sentenzartigen Ausspruch Kudruns mit Blick auf ihre Freundin Hildeburg: «möhte iht bezzers sîn / dan friuntlîchiu triuwe?» (KU  1585,2 f.) In diesen drei Fällen sind die Freundschaftssentenzen aber allesamt eindeutig affirmativ aufzufassen, insofern bejaht wird, dass der Freund (in der Not) mit Rat und Tat Beistand leistet. Diese affirmative Lesart wird im ‹Nibelungenlied› hingegen verunklart. 338 Bachtin 1979 [1934/1935], S. 162, geht von der «inneren Dialogizität des Wortes» aus, das immer schon Redevielfalt integriert, unterscheidet aber in seinem geschichtlichen Abriss in «Das Wort im Roman» zwei Stillinien des Romans: den monologisch, vereinheitlichenden und den dialogisch, pluralisierenden Roman. Er versteht unter der Mehrstimmigkeit des Romans zunächst verschiedene Register oder Soziolekte, diese stünden allerdings für verschiedene Sichtweisen auf bzw. Auffassungen oder Vorstellungen von Welt. Vgl. Bachtin 1979 [1934/1935], S. 165, 184 und 251–300.

285

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen Wie dicke ein man durch vorhte  manigiu dinc verlât, swâ sô vriunt bî vriunde  vriuntlîchen stât! und hât er guote sinne,  daz er’s niene tuot, schade vil maniges mannes  wirt von sinnen wol behuot.  (NL 1801)

Ebenso deutlich wird Eintracht mit dem Freund – «sô sol ouch vride staeter den guoten vriunden gezemen» (NL 1996,4; ähnlich auch 1716,2) – und Schutz durch den Freund – si warnt si als güetlîche, sô vriunde liebe vriunde tuont. (NL 1030,4) – als Freundschaftselement akzentuiert.339 Die aus dem Kontext gelösten Freundschaftssentenzen stellen (wenngleich über Erzähler und Figuren verteilt) als quasi‑autoritatives Wort monologische Einsinnigkeit im Sinne Bachtins her. Machen die Sentenzen zunächst den Eindruck, Freundschaft mit einem Hang zu expliziter Lehrhaftigkeit zu affirmieren und die Freundschaftshandlungen der Geschichte mit einem Verbindlichkeitsanspruch zu kontrastieren, so ändert sich das Bild, wenn man ihren narrativen Kontext einbezieht. Die als erstes zitierte Sentenz zur triuwe unter Freunden (NL  748,1 f.) wird von Siegfried geäußert, als ihm in Xanten die fatale Einladung der Wormser überbracht wird. Siegfried unterstellt damit eine idealisierte Freundschaftsbeziehung, die längst zu bröckeln begonnen hat. Das zweite Zitat (NL 2264) ist der einzige Redebeitrag Gunthers in der Szene, in welcher die Amelungen um die Herausgabe der Leiche Rüdigers von den Burgunden bitten. Bezeichnenderweise wird nun gerade aus der Sorge um den toten Freund ein erbitterter Kampf entbrennen, in dem alle Männer Dietrichs (außer Hildebrant) sterben und auf burgundischer Seite auch nur Hagen und Gunther überleben. Die dritte zitierte Sentenz bezieht sich zwar auf die aufrichtige Trauer um den toten Siegfried durch Kriemhild und Siegfrieds Parteigänger, aber die Trauer um ihn ist eben nicht allseitig in Worms, sondern sie isoliert Kriemhild und diejenigen, die zu ihr halten. Der Ausspruch, «man sol vriunden volgen» (NL 1587,2), wird von Hagen geäußert und zwar gegenüber dem Zug der Burgunden ins Hunnenland, nachdem Hagen die Vorhersage der Meerfrauen am Kaplan getestet und die Fähre zerstört hat. In der solcherart begonnenen Rede Hagens offenbart er den Burgunden, dass sie niemals in die Heimat zurückkehren werden. Wenn sich Rüdiger dauerhaften Frieden unter Freunden wünscht (NL  1996,4), dann tut er dies mitten in der Saalschlacht der Burgunden gegen die Hunnen und leitet so sein Gesuch nach freiem Abzug ein. Kriemhild hält in verräterischer Absicht Ausschau nach der Ankunft der Burgunden am Hunnenhof, was der Erzähler mit sô noch vriunde nâch vriunden tuont (NL  1716,2) kommentiert. Bei der letzten oben zitierten Sentenz warnt Kriemhild die Xantner davor, den Tod Siegfrieds an den Wormsern zu rächen. Betrachtet man die Sentenzen eingebettet in die Handlung, so treten sie in mehr oder weniger starke Spannung zu ihrem narrativen Kontext und werden dergestalt durch jenen 339 Vergleicht

man den Gebrauch von Freundschaftssentenzen im ‹Nibelungenlied› mit jenen im höfischen Roman, dessen Sentenzen und Sprichwörter im entsprechenden Handbuch Eikelmanns und Tomaseks 2012 aufgearbeitet sind, so ergibt sich ein je eigenes Profil. Zwar betonen auch die höfischen Romane gegenseitige triuwe als Freundschaftselement (etwa in Hartmanns ‹Erec› v. 4559 oder Wolframs ‹Parzival› 675,17), daneben stellen sie aber auf Gewinn und Verlust von Freunden, die Abgrenzung von Freunden gegenüber Gefolgleuten, ihr Verhältnis zu Feinden und der Ehefrau, den Umgang mit Wahrheit/​Lüge und Streit ab, während z. B. die Dimensionierung auf den toten Freund, die für das ‹Nibelungenlied› zentral ist, gänzlich fehlt. Vgl. die Paraphrase der Freundschaftssentenzen in höfischen Romanen des 12. und 13. Jahrhunderts bei Eikelmann/​ Tomasek 2012, Bd. 1, S. 602 und Bd. 2, S. 674.

286



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

ambiguisiert. Entweder man liest diesen Kontrast so, dass die Sentenzen nun gerade den Gegensatz zur problematischen Freundschaftshandlung nutzen, um daraus umso stärkeres argumentatives Gewicht für die in den Sentenzen idealisierte Freundschaftsvorstellung zu ziehen. Dann betonte man die Differenzen im Verweiszusammenhang von Handlung und Sentenzen hinsichtlich des Freundschaftsthemas. Oder man versteht diesen Kontrast von Sentenz und Handlung als ironische Distanz, sodass die Sentenzen selbst wieder an einer Verunsicherung und Aushöhlung des Freundschaftskonzeptes mitarbeiteten. Hier würde man die Gemeinsamkeiten von Handlung und Sentenz stark machen. Der Sinn der Sprichwörter bleibt damit stets in der Schwebe. In beiden Optionen wäre das gehäufte Auftreten der Sprichworte symptomatisch für das Scheitern der Freundschaften in der histoire –  auch und gerade vor dem Hintergrund, dass die anderen Heldenepen keine Freundschaftssentenzen kennen.340 Freundschaft wird im ‹Nibelungenlied› sowohl narrativ wie diskursiv als ambivalenter, als grundsätzlich labiler und brüchiger Beziehungsmodus vorgeführt. Damit steht das ‹Nibelungenlied› in krassem Gegensatz zu allen anderen Heldenepen des 13. Jahrhunderts, in denen Freundschaft positive Valenzen hat und Herrschaft rückerobern, stützen oder ausbauen hilft. Lediglich im ‹Willehalm› findet die destruktive Kraft von Freundschaft im ‹Nibelungenlied› eine Parallele. Allerdings kann im ‹Willehalm› Freundschaft ihre prinzipiell positiven Potenzen nicht entfalten, während im ‹Nibelungenlied› viel grundsätzlicher die positive Kraft von Freundschaft im Hinblick auf Herrschaft in Frage steht, insofern sie mehr oder weniger unmittelbar in den Untergang mehrerer Herrschaftsverbände steuert.

3.4.  Wie Freundschaft Herrschaft nicht stützt: Ein (Anti‑)Regelkatalog Stoffgeschichtlich betrachtet ist die Prominenz der Darstellung von Freundschaften im ‹Nibelungenlied› durchaus bemerkenswert. Der Nibelungenstoff verlangt als Untergangserzählung freilich nach einer prekären Modellierung der Figurenbeziehungen. Während altnordische Fassungen den Stoff um brüchige Verwandtschaft zentrieren, stellt das ‹Nibelungenlied› auf negative Freundschaft ab. Der Untergang wird hier in einer Weise an Freundschaft gekoppelt, wie er sich in den anderen Überlieferungssträngen gar nicht bzw. nicht in dieser Form zeigt. Insofern wäre es auch von stoffgeschichtlicher Warte aus mithin berechtigt, davon zu sprechen, dass Freundschaft im ‹Nibelungenlied› in den Untergang führt, ohne hier Monokausalität zu unterstellen und wenngleich dahin gestellt bleiben muss, ob den Rezipienten des 13. Jahrhunderts eine weit ausgreifende Stoffgeschichte präsent war.341 340 Einem

ähnlichen Einsatz von Freundschaftssentenzen im Zusammenspiel mit der narrativen, inbesondere paradigmatischen Präsentation von Freundschaften bin ich im ‹Loher  und  Maller›, einer Chanson  de  geste‑Adaptation aus dem 15. Jahrhundert aus dem Umkreis der Gräfin Elisabeth von Nassau‑Saarbrücken, nachgegangen. Vgl. Federow 2016b. Das ‹Nibelungenlied› schöpft die Option des Dialogisierens im Sinne Bachtins für die Freundschaftsdarstellung in der deutschsprachigen Heldenepik erstmals aus. Die Problematisierung von Freundschaft in heldenepischen Texten scheint mir allerdings ein Grundzug der späten Chanson  de  geste‑Adaptationen am Saarbrücker und Heidelberger Hof zu sein. Dem wäre genauer nachzugehen. 341 Ein solcher ‹Seitenblick› auf die nordischen Fassungen des Stoffs (‹Thidrekssaga›, ‹Sigurdlieder› und ‹Atlilied› der ‹Lieder-Edda›) bedürfte einer eigenen Untersuchung, daher soll hier nur ein Beispiel illustrieren, welches Gewicht in diesen Texten auf dysfunktionale Verwandtschaftsbeziehungen gelegt wird, während Freundschaft ‹unterbelichtet› bleibt: Hagen/​Högni der nordischen Fassungen ist Halbbruder bzw. Bruder der Niflungen

287

III.  Freundschaft und Herrschaft in mittelhochdeutschen ­Heldenepen

Es seien daher kurz die Abweichungen des ‹Nibelungenliedes› von den ‹Spielregeln der Freundschaft(‑sdarstellung)› in den mittelhochdeutschen Heldenepen des 13. Jahrhunderts zusammengefasst, auf die ich frei nach Jan‑Dirk Müller im jeweiligen Zusammenhang der Untersuchung hingewiesen habe. Diese Regelverletzungen stellen für mich den Kern des Scheiterns von Freundschaft im ‹Nibelungenlied› dar. Die weiblichen und männlichen Herrscherfiguren der anderen Heldenepen unterhalten durchweg statusmäßig asymmetrische Freundschaften. Im Gegensatz dazu fehlt es Gunther und Siegfried einerseits an der Standardfreundesfigur des Vasallen und Brünhild und Kriemhild an einer Freundin aus ihrem Gefolge, andererseits sind die miteinander befreundet, wodurch ihre Symmetrie allerdings zum Konkurrenzproblem wird. Damit ist das erste große Problemfeld der Freundschaften im ‹Nibelungenlied› angerissen: Ähnlichkeit. Bei den Frauenfreundschaften der anderen Heldenepen fiel zudem der narrative Ort ihres Auftretens jeweils in eine Krisensituation im Zusammenhang mit dem Wechsel des Herrschaftsverbandes durch Heirat, wodurch die statusniederen Freundinnen als Begleitfiguren die Identität der weiblichen Herrscherin absicherten und hernach durch eigene Verheiratung zur Vergrößerung des Bündnisnetzes beitrugen. Im ‹Nibelungenlied› treffen Kriemhild und Brünhild erst aufeinander, als die Hochzeiten informell längst durch ihre Männer geregelt sind. Bei Kriemhild fällt darüber hinaus auf, dass sie im ersten Teil die ‹falsche›, weil statussymmetrische Freundin hat, die statt Machtzuwachs zur Konkurrenz führt, und im zweiten Teil im Zusammenhang mit der Neuverheiratung mit Etzel gar keine Freundin hat, die ihr durch die Krise helfen könnte. Bei den Freundschaften unterhalb der Herrscherebene wird Ähnlichkeit in den anderen Heldenepen entproblematisiert durch mangelnde Handlungsrelevanz oder die resultierende Konkurrenz bei wichtigen Handlungsträgern wird durch eine Spannung von Einheit in der Differenz produktiv gemacht. Im ‹Nibelungenlied› sind sich die Freunde unterhalb der Herrschaftsebene einander hinsichtlich ihrer körperlichen Aktionsmacht so angenähert, dass sie sich doppeln und vervielfachen. Das kann man v. a. an Hagen als Knotenpunkt mehrerer Freundschaften nachvollziehen. Ein Machtzuwachs für den Herrscher ist aus dergestalt verähnlichten Freunden nicht abzuleiten, im Gegenteil steuern die Freunde durch den so verursachten Verstärkereffekt und selbst mit großer Machtfülle ausgestattet (Hagen) in die Katastrophe. An den auf Ähnlichkeit basierenden Freundschaften unterhalb der Herrschaftsebene kann man den zweiten Problemkreis der Freundschaftsthematik im ‹Nibelungenlied› bereits ablesen: mangelnde Exklusivität. Diese wird noch zusätzlich durch eine entdifferenzierende und ausladende Gabenpraxis insbesondere Rüdigers forciert, die das dritte Problemfeld ausmacht. Die beiden letztgenannten Punkte führen zu einer regelrechten Wucherung von Freundschaft im zweiten Teil des ‹Nibelungenliedes›, sodass sich auf der Ebene der Freundschaften jener Befund Müllers, den er mit dem Meute‑Begriff von Deleuze eingefasst hat, bestätigt. Belastbar sind solcherart gestiftete Freundschaften freilich nicht. Gaben im Sinne dinglicher bzw. verdinglichter Entitäten spielen in den anderen Heldenepen keine Rolle und sie erweisen sich dementsprechend im ‹Nibelunbzw. Gunnars, während Hagen im ‹Nibelungenlied› entfernt bzw. diffus verwandt ist mit den Burgunden. Durch seine verwandtschaftliche Entkopplung werden Valenzen für andere Beziehungen, in diesem Falle Freundschaften, frei. Nicht uninteressant ist in diesem Zusammenhang auch, dass es in den nordischen Fassungen keine Dankwart entsprechende Figur gibt und die Volker-Figur ohne Verbindung zu Hagen/​Högni bleibt.

288



3.  Scheitern von Freundschaft als Herrschaftselement

genlied› als äußerst problematischer Versuch der Symbolisierung von Freundschaft, überschreitet Freundschaft durch sie doch durchweg den eigenen Herrschaftsverband. Die anderen Heldenepen belassen die Freundschaften hingegen innerhalb des eigenen Herrschaftsverbandes und umgehen so die Loyalitätskonflikte, an denen sich das ‹Nibelungenlied› des zweiten Teils abarbeitet. Auch jene Konkurrenz von Freundschaft gegenüber anderen sozialen Beziehungstypen (Vasallität, Verwandtschaft, Minnebeziehungen) ist singulär im ‹Nibelungenlied›. Nimmt man diese Punkte zusammen, dann ist klar, dass Freundschaften im ‹Nibelungenlied› Krisen katalysieren und gar selbst bewirken, während sie in den anderen Texten Krisen souverän bewältigen; dass sie (neben weiteren Faktoren) in den Untergang statt zu prosperierender Herrschaft führen. Dieses ‹zwielichtige› Gepräge der Freundschaften im ‹Nibelungenlied› hatten zuletzt die Freundschaftssentenzen unterstrichen. Die hier zusammengetragenen Elemente des Zerspielens der Spielregeln der Freundschaftsdarstellungen in Heldenepen des 13. Jahrhunderts bestätigen damit auf breiter Materialbasis, was von Hintz knapp und thesenhaft im Friendship‑Eintrag der englischsprachigen Nibelungen‑Enzyklopädie so formulierte: «Both in its betrayal and in its observance, friendship leads to disaster. The basic Nibelungen concept of friendship is that it always turns out badly.»342 Herrschaft im ‹Nibelungenlied› geht nicht trotz, sondern wegen Freundschaft unter.

342

Hintz 2002, S. 151.

289

IV. Fazit Wie lassen sich die in der Einleitung aufgeworfenen Fragen nach dem Zusammenhang von Freundschaft und Herrschaft in Heldenepen der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, die bislang einzeltextspezifisch bearbeitet wurden, beantworten? Wie lässt sich die geleistete Gesamtschau weiter systematisieren? Ich beginne meine zusammenfassende Abstraktion mit dem Komplex ‹Freundschaft› und gehe dann zur Verbindung mit den Komplexen ‹Macht› und ‹Herrschaft› über. Der Ausgangspunkt der Arbeit bestand in einer Distanzierung von bzw. Erweiterung der bisherigen Forschung zum Freundschaftsthema sowohl hinsichtlich des gewählten Textkorpus als auch der Hypothesenbildung: Die Ausgestaltungsmöglichkeiten von Freundschaft in mittelhochdeutschen Heldenepen sollten systematisch auf möglichst breiter und damit belastbarer Basis ausgeleuchtet werden. Hierfür wurden neben Texten der germanischen auch solche der romanischen Tradition herangezogen und in komparatistischen Lektüren gegenseitig erhellt und geschärft. Grundiert wurden diese durch die Annahme, dass die innerliterarische Konstruktion von Freundschaft keiner emotionalen Kommunikation bedarf, sondern jene als funktionales Element im Zusammenhang mit Herrschaftskrisen implementiert wird. Das Ziel bestand nicht im Erweis der Genese des Freundschaftskonzepts, sondern seines erheblichen Ausdifferenzierungspotenzials. Gezeigt werden sollte die herausragende Rolle, die Freundschaft in mittelhochdeutschen Heldenepen der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts innehat: Erzählstrukturen und Herrschaftsdarstellungen richten sich über mehrere Episoden bis hin zum Textganzen an Freundschaft aus. Der Einbezug von Chanson  de  geste‑Adaptationen im Vergleich zu mittelhochdeutschen Heldenepen germanischer Provenienz hat sich für die Freundschaftsthematik in mehrfacher Hinsicht als überaus anregend erwiesen. Es konnten so Sehgewohnheiten der Forschung – v. a. was die Verabsolutierung des im ‹Nibelungenlied› Vorfindlichen betrifft – im positiven Sinne irritiert werden. Die Breite des Spektrums möglicher Freundschaftskonstellationen in mittelhochdeutscher Heldenepik lässt sich erst durch die Ausweitung des interpretatorischen Blicks von den ‹heimischen› auf die französischen Heldenepen und ihre mittelhochdeutschen Bearbeitungen abbilden und beugt so korpus- und forschungsgeschichtlich bedingten Verzerrungen und Vereinseitigungen vor. Die in der Einleitung eingeführten, von Krüger1 übernommenen Analyseparameter wie Gender, Homo‑/Heterosozialität, Statussymmetrie/‑symmetrie haben sich für eine erste Rasterung als nützlich erwiesen. Allerdings haben die Texte eine inhaltlich höchst variable Ausgestaltungspraxis von Freundschaften, die parametrisch gleich angelegt sind, gezeigt. Aus den Parametern lassen sich höchstens grobe Tendenzen ableiten, sie helfen aber die jeweilige Textspezifik besser zu erfassen. Hierfür erwies sich die Erweiterung des Korpus als zwingend. Anderen Kriterien hingegen, wie Heimlichkeit/​Öffentlichkeit, Überschneidung oder Trennung von Freundschaft gegenüber Verwandtschaft und Gefolgschaft, kam bei der Textanalyse kein Aussagewert zu.

1 Vgl.

Krüger 2011, S. 35.

291

IV. Fazit

So entpuppte sich die gemeinhin vom ‹Nibelungenlied› her gewonnene, angebliche Frontstellung männlich homosozialer Kriegerfreundschaften als eine unter mehreren Freundschaftskonstellationen. Mit dem Label ‹Kriegerfreundschaft› ist –  um zunächst einmal dabei zu bleiben – inhaltlich ohnehin noch nicht viel gewonnen, insofern sich in den Texten zeigte, dass diese spezielle Beziehung von den äußeren Parametern sowie ihrer inneren Ausgestaltung äußerst divers modelliert sein kann. Es findet sich eine ganze Palette an Optionen: Von statussymmetrischen, intern bis zur untrennbaren Einheit harmonisierten Hintergrundfiguren (Morant‑Everhart) oder statussymmetrischen Freunden mit prononcierterem Protagonistenstatus, deren Ähnlichkeit allerdings durchaus problematisch wird (Hagen‑Ortwin, Hagen‑Dankwart, Hagen‑Volker) über statussymmetrische, aber miteinander konkurrierende, konfligierende Freunde (Roland‑Oliver) bis hin zu statusasymmetrischen Kampfgenossen wiederum in konsensueller (Karl‑Dederich, Karl‑Roland) oder konfliktgeladener Variante mit offenen Handgreiflichkeiten (Dietrich‑Hildebrant). Weitet man den Blick, wie dies durch den Einbezug der Chanson de geste‑Adaptationen möglich wird, so zeigt sich deutlich, dass sich im Bereich männlich homosozialer Freundschaften auch weitere Möglichkeiten des freundschaftlichen Umgangs abzeichnen. Freunde können als Ratgeber, Erzieher und teilweise sogar Minnehelfer auftreten – entweder als integraler Bestandteil einer Kampfgemeinschaft (Dietrich‑Hildebrant) oder funktional davon abgesetzt (Karl‑David im Gegensatz zu Karl‑Dederich). Hinzutreten homosozial weibliche Freundschaften (Galie‑Florette, Galie‑Orie, Kudrun‑Hildeburg, Kudrun‑Ortrun; Freundschaft im potentialis von Kriemhild‑Brünhild), deren regelmäßiges Vorkommen in einer Gattung, in der der Sozialverband fast ausschließlich von männlichen Figuren getragen wird, durchaus überraschend ist. Singulär ist hingegen die Darstellung einer heterosozialen Freundschaft (Morant‑Galie), die zugleich Folie für eine Verleumdung, die beiden begingen Ehebruch, genutzt wird, um eine andere Freundschaft (Karl‑Morant) auf die Probe zu stellen. Insgesamt ist der Formenreichtum sowohl hinsichtlich der Parameter Symmetrie/​ Asymmetrie als auch hinsichtlich der inneren Ausgestaltung als harmonische oder konfliktgeladene Freundschaft bei den Männer- gegenüber den Frauenfreundschaften weitaus größer. Das passt zu den weiter reichenden und anderen Betätigungsfeldern der männlichen Figuren, während z. B. der ganze Komplex kriegerischer und kriegsnaher Handlungen für Frauenfreundschaften qua Geschlechtermodell schlicht wegfällt. Damit fällt die Variabilität weiblicher Freundschaften geringer aus (z. B. keine Konfliktaffinität, keine toten Freundinnen). Die narrativen Orte der Präsentation von Freundschaften sind entsprechend gegendert: Während der Leidensweg während Brautwerbungshandlungen spezifisch weiblich codiert ist, sind die Klagen um den toten Freund eine spezifisch männliche Form des Freundschaftsausdrucks. Eine Typologie in dem Sinne, dass man ausgehend von äußeren Parametern etwas über die innere Ausgestaltung und narrative Präsentation der Freundschaftskonstellation aussagen könnte, ist insgesamt jedoch nicht zu gewinnen.2 Das kann man bei den 2

Hier gelange ich zu anderen Ergebnissen als Krüger 2011, S. 306, die eine Typologie mit vier Grundformen von Freundschaft in der höfischen Epik um 1200 behauptet. Da Krüger sich in ihrem Korpus nicht auf den höfischen Roman im Speziellen stützt, sondern u. a. auch heldenepische Texte einbezieht, möchte ich daraus aber keine Differenzierung hinsichtlich der Freundschaftsdarstellung im höfischen Roman vs. in der Heldenepik ableiten. Ich würde vielmehr die Verabsolutierung der Parameter kritischer hinsichtlich ihres interpretatorischen Aussagegehaltes hinterfragen wollen.

292



IV. Fazit

Chanson de geste‑Adaptationen in besonderem Maße sehen, weil nicht nur der Vergleich zwischen verschiedenen Heldenepen, sondern auch der Bearbeitungsprozess von der jeweiligen französischen Vorlage zum mittelhochdeutschen Text in diese Richtung einer je individuellen Profilierung auch bei gleichen Ausgangsparametern deutet. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Roland‑Oliver‑Beziehung ist, obgleich ebenfalls eine statussymmetrische, homosozial männliche Kriegerfreundschaft ganz anders ausgestaltet als die Morant‑Everhart‑Freundschaft und auch innerhalb der Reihe von der ‹Chanson de Roland› über das ‹Rolandslied› zum ‹Karl› werden eigene Akzentsetzungen deutlich erkennbar, die ich anhand der Begehrensstrukturen abzubilden versucht habe. Um genau jene inhaltlichen wie auch narrativen Spezifiken der Einzeltexte bei gleichen Ausgangsparametern deutlich herausarbeiten zu können, hat es sich ausgezahlt, jeweils auf einen gegenstandsadäquaten literatur- bzw. kulturtheoretischen Ansatz zurückzugreifen, der die grundierende machtund herrschaftssoziologische Lesart weiter schärfte. Lediglich die Frauenfreundschaften Galies und Kudruns zeigen eine frappierende Formen- und Ausgestaltungskonstanz: Die weibliche Zentralfigur hat jeweils zwei Freundinnen, die nicht miteinander befreundet sind, abwechselnd oder phasenversetzt die Protagonistin durch die risikobehaftete Brautwerbung begleiten und anschließend durch diese verheiratet werden. Während die eine Freundin schon langjährig zum Gefolge Galies bzw. Kudruns gehört, wird die andere Freundin im Laufe der Handlung neu hinzugewonnen. Um aus diesen Ähnlichkeiten weiter reichende Schlussfolgerungen zu ziehen, sind allerdings zwei Texte einerseits eine zu schmale Basis. Andererseits ließe sich die Kriemhild‑Brünhild‑Freundschaft als Gegenbeispiel anführen, wobei man hier aber auch argumentieren könnte, dass gerade die abweichende Strukturierung dieser Beziehung und der anders gelagerte narrative Ort ihres Auftauchens signifikant für ihr Scheitern ist. Im ‹Nibelungenlied› werden zwei statussymmetrische Herrscherinnen mit je eigenen Handlungssträngen vom Erzähler und anderen Figuren an einem Punkt der Geschichte eng geführt, an dem die Brautwerbung längst abgeschlossen ist. Wichtig scheint mir insgesamt die Feststellung, dass mit den Frauenfreundschaften weder ein einfaches Gegenmodell zu Männerfreundschaften noch eine schlichte Angleichung weiblicher an männliche Nähe‑Beziehungen gegeben sind.3 Sie sind v. a. nicht nur sentimentales Beiwerk, sondern stellen eine Form der Intimität eigenen Rechts dar, die mit anderen Vergemeinschaftungsoptionen, vorrangig der Ehepraxis, interagiert. Zentral ist neben der narrativen Aufwertung der Frauenfreundschaft auch ihr nicht zu unterschätzendes herrschaftsrelevantes Vermögen qua Heirats- und Bündnispolitik in stabilisierender Hinsicht in ‹Karl und Galie› und ‹Kudrun›, aber auch in destabilisierender Hinsicht in der Negativfolie des ‹Nibelungenliedes›. Auch wenn eine ausgefeilte Typologie angesichts des unerwarteten Formenreichtums der Freundschaftskonfigurationen in der mittelhochdeutschen Heldenepik nicht möglich erscheint, so konnte doch v. a. die abweichende Praxis im ‹Nibelungenlied› einige Grundkonstanten der Freundschaften und Freundschaftsdarstellungen deutlicher sehen helfen. Angesichts dieser textübergreifenden Regelmäßigkeiten meine ich, dass es zulässig ist, 3

Ich kann damit eine These Münklers bestätigen, die sie im Fortsetzungsantrag für den Dresdner Sonderforschungsbereich 804: «Transzendenz und Gemeinsinn» im Rahmen der Vorstellung des Vorhabens des Teilprojekts S: «Das Ethos der Freundschaft. Diskurse und Narrationen von Gemeinsinn in der mittelalterlichen Literatur» (2013, S. 264) skizziert hat.

293

IV. Fazit

von einem heldenepischen Profil von Freundschaft und ihrer narrativen Präsentation zu sprechen. Herausheben möchte ich hier zunächst, dass die in der Einleitung aufgeworfene Frage nach der Angemessenheit der analytischen Trennung von Freundschaft gegenüber Verwandtschaft, Gefolgschaft und Vasallität klar verneint werden kann. Freundschaft koexistiert neben und inmitten von Verwandtschaft, Gefolgschaft etc. Diese Beziehungstypen gehen auseinander hervor und ineinander über – und zwar in aller Regel als völlig problemlose Überlagerung verschiedener Sozialitätsformen ohne jede Konkurrenz, ohne konfligierende Verpflichtungen. Das stellt einen wesentlichen Unterschied gegenüber der Freundschaftsdarstellung im höfischen Roman dar. Man denke nur an die Kollision der Tristan‑Marke- oder der Iwein‑Gawein‑Freundschaft mit ehelichen und anderen sozialen Pflichten.4 Die Freundinnen in der Heldenepik sind ebenfalls frei vom prekären Status der bei Dimpel unter dem Rollenmodell der Confidente untersuchten Freundinnen des höfischen Romans, die regelmäßig als Nebenbuhlerinnen oder von Missgunst bedrohte Mitwisserinnen wie etwa Lunete oder Brangäne installiert sind.5 Die unproblematische Überlagerung von Freundschaft und anderen Beziehungsmodellen ist in den heldenepischen Texten aber keine ‹naiv› harmonisierende Setzung. Die Heldenepen verhandeln durchaus die Möglichkeit eines potenziellen Umkippens von Freundschaft als Form der Be- und Absonderung gegen andere Beziehungen von einem Mit- in ein Gegeneinander, von sozialer Stabilisation zur Destabilisierung. Entscheidend ist allerdings, dass diese Option je nur als abgewiesene Alternative im Sinne Strohschneiders6 aufscheint und zugleich derartig marginalisiert wird, dass der Grundtenor des gesellschaftlichen Werts von Freundschaft ungetrübt bleibt. Dazu nur die augenfälligen Beispiele: Die angebliche Unterwanderung der Ehe Galies und Karls durch die Morant‑Galie‑Freundschaft ist völlig gegenstandslos. Nicht ihre Freundschaft stellt eine Bedrohung dar, sondern die Verleumder. Die Freundschaft ist letztlich Vehikel der Probe von Karls Herrschaft. Bei Ortrun wird ein Konflikt mit der Familie umgangen, indem ihre Freundschaftsdienste gegenüber Kudrun als Anweisung ihres Bruders initialisiert werden und es ansonsten im Dunkeln bleibt, ob Ortruns Eltern über ihre Freundschaft zu Kudrun in Kenntnis sind. Selbst dort, wo es zum offenen Bruch mit anderen Beziehungsformen kommt, wie etwa Ories mit ihrem Bruder oder Rennewarts mit seinen Verwandten, werden dafür in den Texten stets andere Gründe, nie jedoch Freundschaft an sich angeführt. Bei Orie spielt maßgeblich ihre Konversion eine Rolle, die tyrannische Zeichnung ihres Bruders trägt ihr Übriges bei. Bei Rennewart werden die Glaubensproblematik und seine Fehlinformation über die Untreue der Familie ins Feld geführt. Das Ausnahmebeispiel im ‹Nibelungenlied› bestätigt dabei die Regel: Nicht nur der berühmte triuwe‑Konflikt Rüdigers zwischen seiner Vasallenbindung zu Etzel und seiner Freundschaft zu Hagen und den Burgunden in der 37. Aventiure gehört hierhin. Auch die Konkurrenz der Männerfreundschaft Gunther‑Siegfried gegenüber der (potenziellen) Frauenfreundschaft Brünhild‑Kriemhild, die sich aus einem intrikaten Verhältnis der Verquickung der beiden Werbungshandlungen sowie dem Einbau virtueller Asymmetrien in die Männerfreundschaft ergibt, ist für den Sonderfall im ‹Nibelungenlied› bezeichnend. Wo in den anderen Texten das Verhältnis von Freundschaft zu Verwandtschaft und Ehe 4

Das ist mehrfach untersucht worden etwa bei Diem 1999, S. 89; Krüger 2011, S. 107–117; Eming 2015. Bleumer 2005; Dimpel 2011; Theẞeling 2015. 6 Vgl. Strohschneider 1997, S. 73, der dies für das ‹Nibelungenlied› als Poetologie herausstellt. 5 Vgl.

294



IV. Fazit

überhaupt thematisch wird, dann immer in einem komplementären, ergänzenden Sinne: Die Freundschaften ersetzen z. B. zeitweise die Familienbindung etwa bei den Freundschaften Galies und Kudruns, aber auch bei Rennewart. Freundschaften sind darüber hinaus mitunter notwendig, um Minne und Ehe der Hauptfiguren anzubahnen wie bei Galie und Karl oder um das Verwandtschafts- und Bündnissystem auszubauen wie bei den Hochzeiten der Freundinnen Galies und Kudruns. Auch wenn Freundschaft, Verwandtschaft und Gefolgschaft mehrere Beziehungsmerkmale miteinander teilen, so scheinen doch einige für Freundschaft als Bedingungen ihrer Möglichkeit textübergreifend für alle untersuchten Heldenepen konstitutiv zu sein. Auch hier zeichnet sich eine spezifische Freundschaftsdarstellung heldenepischer Prägung ab. Eine kleinteiligere interne Profilierung im Korpus der Heldenepen etwa dergestalt, dass die Chanson  de  geste‑Adaptationen ganz eigene Ausformungen von Freundschaft beinhalteten und sich so gegenüber den mittelhochdeutschen Heldenepen germanischer Provenienz absetzten, kann ich hingegen nicht erkennen.7 In beiden Teilkorpora finden sich, wie oben aufgeführt, harmonische sowie agonale, symmetrische und asymmetrische, sozial konstruktive wie auch dahingehend problematische Freundschaften. Neben den vielen anderen in der Einleitung genannten Punkten, mit denen Freundschaft in den Texten bestimmt werden sollte, wie Solidarität, gegenseitig aufeinander eingestelltem Handeln etc. haben sich in der Analyse durchweg wertrationale Motive der Schließung der Beziehung als wesentliche Grundierung der Freundschaft herausgestellt. Weber unterscheidet vier Motive sozialen Handelns bzw. der Schließung (nach innen und außen) einer sozialen Beziehung, sodass der Zugang zu ihr restringiert wird. Ich wiederhole das Zitat aus der Einleitung: Wie jedes Handeln kann auch das soziale Handeln bestimmt sein 1. zweckrational: durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von anderen Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als ‹Bedingung› oder als ‹Mittel› für rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigne Zwecke, ­– 2. wertrational: durch bewußten Glauben an den – ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden – unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg, – 3. affektuell, insbesondere emotional: durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen, – 4. traditional: durch eingelebte Gewohnheit.8

Gerade die wertrationale Orientierung erwies sich in der Interpretation als Prämisse des Freundschaftshandelns, das in den Texten oft genug auch explizit als triuwe adressiert wird, stets aber implizit das Handeln leitet. Freundschaft wird dabei (ganz im Sinne der obigen Definition) ein Eigenwert seitens der Figuren zugesprochen und damit ein Ethos der triuwe praktiziert. Zusätzlich kann die Beziehung noch durch affektive oder traditionale Motive flankiert und so nach außen abgeschlossen sein, was durch die häufig anzutreffende Überblendung von Verwandtschafts- oder Gefolgschaftsverhältnissen mit Freundschaft bedingt ist. Man kann im Text dann höchstens Dominanten der Motive der Schließung ausmachen, de facto hat man es aber stets mit Mischungsverhältnissen 7

Vielleicht kann man aber festhalten, dass das Motiv des sterbenden Freundes und der damit einhergehende Klagegestus als Freundschaftsausdruck in den Chanson de geste‑Adaptationen viel ausgeprägter ist als in den Heldenepen germanischer Provenienz. Dies dürfte mit dem Kontext und ideologischen Überbau der Religionskriege in den französischen Heldenepen zusammenhängen. 8 MWG I/23, S. 175 [Herv. im Orig.] (jüngere Herrschaftssoziologie, Kapitel I: «Soziologische Grundbegriffe», § 2: «Arten des sozialen Handelns»).

295

IV. Fazit

zu tun, die dann wiederum der Freundschaftsdarstellung eine bestimmte ‹Tönung› geben. Zum Beispiel sind die Frauenfreundschaften in ‹Karl und Galie› viel affektiver aufgeladen als diejenigen in der ‹Kudrun›. Überblickt man das Gesamtkorpus, so sind eigentlich nur zweckrationale Motive der Schließung für eine Freundschaft ausgeschlossen. Die Ausnahme, die hier die Regel bestätigt, stellt wiederum das ‹Nibelungenlied› mit den Interdependenzen der Brautwerbungen entlang der Gunther‑Siegfried‑Freundschaft dar. Auch die ausgedehnte Gabepraxis im ‹Nibelungenlied› in schroffem Kontrast zu allen anderen Heldenepen, in denen Gaben in auffälliger Weise gemieden werden, ließe sich hier verorten. In allen Freundschaften ist dieser offen instrumentelle und auf den eigenen Nutzen bedachte Charakter ausgeklammert. Explizit wird das in ‹Karl  und  Galie› thematisiert: David lehnt die von den Usurpatoren angebotenen Schätze für die Ermordung Karls ab. Auch Dederich wird vom Erzähler attestiert, dass er Karl nicht für Gold und Edelsteine Schaden zufügen, sondern lieber selbst Leid für ihn ertragen wolle. Nimmt man das bei Weber verhandelte Erfolgskriterium in den Motiven sozialen Handelns und der Schließung von Beziehungen ernst, dann zeigt sich, dass zweckrationale Motive in Freundschaften auch in den anderen Texten implizit abgelehnt werden. Bei den asymmetrischen, den Herrscherfiguren direkt zugeordneten Freundschaften kann man das deutlich ablesen: Die (männlichen und weiblichen) Freunde unterstützen den (männlichen oder weiblichen) Freund und Herrscher selbst in größten Krisenzeiten und damit ganz unabhängig vom Erfolg eines bestimmten Handelns. Das wäre unter Gesichtspunkten einer erfolgsorientierten Zweckrationalität nicht zu plausibilisieren. In den Texten wird damit in einer Art differenziert, die man mit den Begriffen Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung in der von Weber verwendeten Weise erfassen kann. Während Vergesellschaftungen auf zweckrationalen Interessenausgleich zielen, wird in Vergemeinschaftungen, als deren spezielle Form ich Freundschaft bestimmt habe, die Zugehörigkeit der Mitglieder der Gemeinschaft in den hier untersuchten Heldenepen vorrangig wertrational, darüber hinaus traditional und/oder affektuell und damit jenseits von Erfolgskriterien bestimmt. Gerade Lehensbeziehungen können (realhistorisch sowie literarisch) prekär werden, weil sie auf persönlichen Treueverpflichtungen aufbauen. Die literarische Idealisierung von triuwe in Vasallitätsverhältnissen wird demgegenüber im Lehensnehmer als Freund exemplifiziert.9 Das kann man mit der in der Einleitung vorgetragenen Überlegung von Popitz noch weiter zuspitzen: Popitz hatte die Frage danach, warum Machtunterworfene Macht ‹ertragen›, mit dem Bedürfnis nach Sicherheit und Kontingenz- sowie Komplexitätsreduktion beantwortet. Lägen bei den in den Textanalysen als Freundschaft adressierten Beziehungen z. B. ‹reine› Gefolgschafts-, Vasallitäts- oder Erziehungsverhältnisse vor, so wäre nicht einsichtig zu machen, warum die Figuren bei den Herrscherinnen und Herrschern auch in der Krise bleiben, die sich wesentlich durch unkalkulierbare Risiken, also Kontingenzexposition auszeichnen. Freundschaft erfüllt nicht nur eine stützende Funktion für die Herrscherfigur (dazu unten genauer), sondern überbrückt auch für die machtabhängigen Figuren eine eklatante ‹Sicherheitslücke›. Freundschaft bietet selbst jenseits stabiler Macht- und Herrschaftsverhältnisse Verbindlichkeit und Ordnungssicherheit im Sinne von Popitz. Die Verhaltenserwartungen in Freundschaften werden als mehr 9

Freundschaften dienen damit auch einer literarischen Darstellungsökonomie.

296



IV. Fazit

oder weniger gewiss präsentiert.10 Macht ist als Begrenzung der ‹Freiheit› des anderen erklärungsbedürftig. Dass sie dies innerhalb von Freundschaften in den Texten gerade nicht ist, spricht für deren wertrationale Grundierung. Neben der Wertrationalität innerhalb der Freundschaften kann dieses Phänomen zudem durch die gegenseitige autoritative Macht der Freundesfiguren übereinander erklärt werden, die sich als weiteres zentrales Konstituens der in den Heldenepen dargestellten Freundschaften herauskristallisiert hat. Gerade das von Popitz als Autorität auf Gegenseitigkeit genannte Phänomen in Kleingruppen verdeutlicht, dass sich die Freunde in wechselnden Besetzungen zu allererst gegenseitig narrativ ‹sichtbar› machen. Die Freundin bzw. der Freund erkennt die Herrscherin bzw. den Herrscher auch in der Krise an, in der ihr bzw. ihm die Anerkennung seitens der restlichen Gesellschaft abhandengekommen ist. Er bzw. sie bleibt so auch in desolatem Zustand als Herrscher/in sichtbar und qualifiziert. Wenn umgekehrt der eigene Wert von der Anerkennung durch die Herrscherin bzw. den Herrscher abhängt, dann kann man auf solche Freundesfiguren auch in der Krise zählen. Das ‹Nibelungenlied› an den Schluss der Interpretationsreihe zu stellen, hat sich insofern ausgezahlt, als in der Rückschau explizit wurde, was die anderen Analysen bis dahin nur subkutan umrissen hatten. Aufgedeckt werden konnte vom Ende dieser Untersuchung, vom ‹Nibelungenlied› her, dass eines der, wenn nicht sogar das Zentralproblem im Zusammenhang mit Freundschaft das Austarieren des Verhältnisses von Ähnlichkeit und Differenz der Freunde – auf ganz verschiedenen Ebenen – darstellt.11 Ungeachtet ihrer jeweils weit auseinanderliegenden Provenienz zeigte sich in der punktuellen Anwendung der verschiedenen Literatur- und Kulturtheorien, dass in den Texten eine hinreichende Differenzierung als wesentliche Voraussetzung funktionierender Freundschaft behauptet wird. Die Problematik von Einheit und Differenz zeigte sich bereits bei der Anwendung der Theorie mimetischen Begehrens von Girard auf die Texte des Roland‑Stoffs. Das intern über Ruhm und Ehre vermittelte Begehren von Roland und Oliver ließ ihre Ähnlichkeit als statussymmetrische Helden in einer Kriegergesellschaft und damit führenden Kämpfern im Heidenkrieg problematisch werden, was sich in der konfliktaffinen Anlage dieser Freundschaft zeigte. Umgekehrt überbrückte das extern über Gott vermittelte Begehren von Roland und Karl deren Differenzen (hinsichtlich Status, Herrschaft, Alter, Kampfeinsatz etc.). Die dergestalt installierte Einheit, die im Text mit der Metapher von Roland als rechter Hand Karls bis hin zur untrennbaren Körperlichkeit imaginiert wird, führt allerdings zu Friktionen mit dem restlichen Sozialverband: Sie ruft ‹Neider› (Genelun) auf den Plan, sie treibt Karl angesichts des Todes von Roland an die Grenze der Herrschaftsfähigkeit. 10 Vgl.

Popitz ²1992, S. 221–227 (im Rahmen des Essays «Prozesse der Machtbildung» [1968]). Werden in den Texten bereits lang andauernde Freundschaften suggeriert, dann spielen bei der Begleitung des Freundes in der Krise auch Punkte mit ein, die Popitz auf den Begriff des Investitionswertes gebracht hat. Gemeint ist damit das investierte Interesse in eine Ordnung, sodass die Bindung an diese Ordnung mit zunehmender Dauer enger wird. 11 Auf diesen Punkt geht Krüger 2011, S. 314–317, ein, vereindeutigt den Befund jedoch abermals im Sinne ihres Typologisierungsstrebens. Entweder die Freundschaften folgten einem Identitäts‑/Similaritätsprinzip oder einem Komplementaritätsprinzip, nach welchem sich die Freunde unterscheiden und ergänzen. Ich habe damit mehrere Probleme: Es stellt für mich eine unzulässige Vereinfachung der Verhältnisse dar, es wird nicht deutlich, worin sich die Freunde gleichen oder eben unterscheiden und Krüger beachtet auch nicht, welche Konsequenz die Anwendung des einen oder anderen Prinzips hat. Wenn sie etwa behauptet, die von ihr untersuchten Texte favorisierten das Identitätsprinzip nach dem Modell von ‹Amicus und Amelius›‑Erzählungen, so blendet sie zugleich aus, dass eben jene Ähnlichkeit einige, z. T. erhebliche Probleme mit sich führt.

297

IV. Fazit

Die Problematik von Differenzsetzung und Entdifferenzierung ist der Sündenbocktheorie Girards, die ich auf den ‹Willehalm› applizierte, inhärent. Hinsichtlich Freundschaft machte sie allerdings deutlich, wie die beiden Freunde Willehalms mit diesen gegenläufigen Tendenzen kurzgeschlossen sind. Während Vivianz’ Tod eine Rachespirale, eine sich steigernde Entdifferenzierung und eine sich epidemisch ausbreitende Gewalt auslöst, stiftet Rennewarts ‹Opfer› wieder Differenz, die für die Aufrechterhaltung der Ordnung im Sozialverband unerlässlich ist. Willehalm besteht in der Trauer um Rennewart jedoch auf dem abgesonderten Status ihrer Einheit als Freunde und stört damit die für die Wirksamkeit des Opfers notwendige Einmütigkeit. Was bei Karls Klage um Roland noch latent mit den Belangen von Karls Herrschaft kollidierte, scheint hier – wie man u. a. den zugespitzten Klageelementen ablesen kann – manifest zu werden. Der Text bricht allerdings ab, ohne dies auszuführen. Durch die Optik der Theorie Girards wird der Kontrast des ‹Willehalm› gegenüber der ‹Bataille d’Aliscans› hinsichtlich der Ausgestaltung der Freundschaft augenfällig. Das Verhandeln von Ähnlichkeit, Einheit und Differenz wird auch im ritualtheoretischen Ansatz, den ich für die ‹Kudrun› gewählt habe und der in der Rückschau auch auf die Frauenfreundschaften in ‹Karl und Galie› und ‹Morant und Galie› übertragbar wäre, sichtbar. Die Begleitung durch Freundinnen während der Krise der weiblichen Herrscherfigur in der Latenz der Brautwerbung ließ sich mit dem Turner’schen Begriff der communitas beschreiben, innerhalb der alle diejenigen, die durch die liminale Phase gehen, der sozialen Differenzen enthoben und sozusagen ‹gleich gemacht› werden. Die Differenzen werden hierbei zunächst eingeebnet, um sie im Nachgang umso stärker zu restituieren. In der ‹Kudrun› sowie in ‹Karl und Galie› und ‹Morant und Galie› geht dieses Wiedererstarken in einer neuen Herrschaftskonstellation in den Ehen der Herrscherinnen als auch der sie begleitenden Freudinnen auf. Das Problem von Einheit und Differenz von Dietrich und Hildebrant in der aventiurehaften Dietrichepik wird dort v. a. im Umspielen des Kontrastes von heterodoxen und orthodoxen Positionen in verschiedenen Feldern in der Anwendung der Habitus- und Feldtheorie Bourdieus offenbar, das in permanenten Streitigkeiten eruptiert. Die anderen Elemente der maximal gegensätzlichen Anlage der beiden Freunde (Alter, Kampferfahrung) stützen diesen Befund auf weiteren Ebenen zusätzlich. In Wolfhart ist diese Problematik einer Einheit in der Differenz gewissermaßen zur Figur geronnen. Durch die Flexibilität seines Hinzugruppierens zur Sonderdyade Dietrich‑Hildebrant (mal Konsens mit einem der Freunde, während der andere Freund in Opposition dazu steht; mal im Dissens mit beiden Freunden, die gleicher Meinung sind) vereint Wolfhart beide Optionen in sich und erfüllt damit eine Kommentarfunktion gegenüber der Freundschaftsdarstellung von Dietrich und Hildebrant. Was passiert nun aber, wenn in den Texten keine Differenzen zwischen den beiden Freunden installiert werden, wenn sie sich ähneln bis zum Duplikat? Im Gesamtkorpus zeigen sich zwei Optionen: Wo Freunde einander doppeln, bleiben sie entweder völlige Hintergrundakteure wie Morant und Everhart, die zeitlich nur sehr begrenzt auftreten und nur sehr mittelbar Machtpotenziale zur Herrschaftsstützung entfalten können. Oder die Ähnlichkeit wird beseitigt, indem eine der Figuren –  in welcher Form auch immer  – aus dem Text ‹getilgt› wird. Für das ‹Nibelungenlied› hatte ich das bereits im Tod Siegfrieds, dem Ausklammern Brünhilds aus der Geschichte im zweiten Teil, der Entkopplung Ortwins von Hagen und seinem kommentarlosen Verschwinden aus dem Text und schließlich im Tod Dankwarts und Volkers zeigen können. Dort kam es mir 298



IV. Fazit

insbesondere auf die Identität der von beiden Freunden bedienten Machtformen an. Das Phänomen trifft im Grund aber auch auf Rennewart, den ich als monströsen Doppelgänger Willehalms beschrieben habe, und sein Verschwinden zu. Prekär ist die Dopplung v. a. deswegen, weil sie qua Akkumulation von ähnlichen Machstrukturen (statt einander ergänzender Machtformen, wie sie in den anderen Freundschaftskonstellationen beobachtet werden konnten) unmittelbaren Einfluss auf das Geschehen und damit auch Herrschaft haben und dieser Einfluss wiederum bestenfalls desintegrierend (‹Willehalm›), schlimmstenfalls destruktiv bis zum Untergang des Gesamtverbandes wirkt (s. Freundschaftskonstellationen im ‹Nibelungenlied›). Indem Brünhild‑Kriemhild und Gunther‑Siegfried fiktive Asymmetrien in ihre Beziehungen installieren oder zu installieren versuchen, wird die Problematik ihrer Similarität hinsichtlich der Machtformen nur auf eine andere Ebene (der des Status) verschoben und zeitweise eingekapselt. Eine ‹Lösung› ist das freilich nicht, es betont vielmehr durch die Plötzlichkeit des Umschlags mit Siegfrieds Ermordung das zerstörerische Potenzial. Wenn in den Texten die Einheit von Freunden auf ganz verschiedenen Ebenen betont wird, so darf doch der Freund nicht zugleich eine Dopplung oder Vervielfachung des Helden und Herrschers sein, sollen die verschieden gelagerten herrschaftlichen Krisen überwunden und nicht verschärft werden. Aus dem Blickwinkel der Herrschaft kann man abstrahierend für das Gesamtkorpus der Texte sagen, dass ein konventionalisierter Zusammenhang vom Freundschaftskonzept und Herrscher als Freundesfigur in den Heldenepen der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts existiert. Dieser regelhafte Zusammenhang ist kontextuell jeweils abhängig von herrschaftlichen Krisensituationen. Gesetzesartig ließe sich das etwa so formulieren: Immer genau dann, wenn der Herrscher bzw. die Herrscherin (oder seine bzw. ihre Herrschaft) in eine Krise gerät, wird er oder sie als Freund modelliert und in eine Sonderdyade eingebunden, die diese Krise auffängt, bearbeitet und abwendet. Das trifft im Grunde auch die der Herrscherfigur beigeordneten Freunde bzw. untergeordneten Freundespaare zu. Diese Begleitfiguren treten stets erst aktiv als Freunde auf, wenn sich die Krise anbahnt bzw. eingetreten ist, wenngleich in den Texten unter Nutzung traditionaler Motive der Schließung der Beziehung eine bereits länger andauernde Freundschaft suggeriert wird. Besonders durchsichtig wird diese narrative Konstruktion allerdings bei der Hildeburg‑Figur, die bereits seit dem sog. Hagen‑Teil der ‹Kudrun› eingeführt ist, deren Potenzial als Freundesfigur allerdings erst im Kudrun‑Teil während der Gefangenschaft Kudruns entfaltet wird. Die Krisensituationen, die der narrative Auslöser der Freundschaftsdarstellung sind, stellen sich über das Gesamtkorpus verschieden dar: Beobachtet werden konnten Krisen der Herrschaft (ständisch inferiore Usurpatoren übernehmen den französischen Thron in ‹Karl und Galie›) ebenso wie Herrscher in der Krise (Karls und Willehalms Konfrontation mit Heidenkrieg und dem Tod der Freunde). Quer dazu liegen andere Differenzierungen nach der Mittelbarkeit (Dietrich wird sowohl in der Dietrichepik als auch im ‹Nibelungenlied› von anderen Herrschaftskrisen tangiert) bzw. Unmittelbarkeit (Karl sowohl in ‹Karl  und  Galie› als auch den Texten des Roland‑Stoffs, ‹Willehalm›, ‹Kudrun›) dieser Krisen und der Unterscheidung nach ihren internen oder externen Ursachen. Die Krisen brechen in aller Regel von außen herein in Form von Usurpation, Angriff durch Heiden und Riesen, Brautwerbungen, Herausforderung durch andere Herrschaftsverbände und sie führen zu Flucht, Exil, Gefangenschaft und Krieg. Lediglich im ‹Nibelungenlied› wird 299

IV. Fazit

die Krise klar intern modelliert und sogar an Freundschaft gekoppelt. Hier ist die Freundschaft selbst Krisenauslöser. Freundschaft ist im ‹Nibelungenlied› vorrangig deswegen krisenbehaftet, weil die Ähnlichkeit der Freunde hinsichtlich der von ihnen genutzten Machtformen Herrschaft erodieren lässt. Die funktionale Ausrichtung von Freundschaft auf Herrschaft gelingt nicht, weil die Freunde angesichts ihrer Ähnlichkeit einander keine neuen Herrschaftsimpulse geben können. In allen anderen Texten kann man hingegen beobachten, dass die Machtformen zwischen den Freunden entweder komplementär funktionieren, also einander ergänzen und aufeinander aufbauen, oder sich gleiche Machtformen in einem positiven Sinne verstärken, insofern ihr herrschaftsrelevantes Potenzial nach außen konsolidierend wirkt. Dass man dies genauer sehen kann, verdankt sich dem Einsatz der Machttaxonomie von Popitz. Zugleich wurde so die z. T. immense Machtfülle der Freundesfiguren der Herrscher transparent, was bislang keinerlei Beachtung in der Forschung gefunden hat. Betonen möchte ich, dass es gerade jene Machtfülle im Verbund mit unverbrüchlicher Loyalität der den Herrscher‑Figuren zugeordneten Freunde ist, die die formale Statusasymmetrie auszublenden erlaubt. Von jener Gewissheit der Unterstützung durch den Freund ausgehend, lässt sich womöglich auch verstehen, warum in den Heldenepen emphatische Anredefiguren für den Freund bzw. die Freundin gemieden bzw. höchst sparsam eingesetzt werden.12 Suspekt müssen vor jenem Hintergrund die Vielzahl und Offensivität der Freundes- und triuwe‑Appelle sowie der Freundschaftssentenzen im ‹Nibelungenlied› erscheinen. Der Einsatz der Freundschaftssemantik korreliert mit mangelnder Belastbarkeit solcher Beziehungen; die positiven Valenzen von Freundschaft werden insinuiert, während sie auf der histoire-Ebene kippt. Als Tendenz lässt sich weiter präzisieren, dass Reichweite, Geltungsgrad und Wirkungsintensität der den Herrscherfiguren direkt zugeordneten, statusmäßig aber niederen Freunden und der von ihnen genutzten Machtformen größer sind als jene der statussymmetrischen Freundespaarungen unterhalb der Herrschaftsebene. Bei den statusasymmetrischen Freundschaften, die die Herrscherfigur direkt unterhält, sind die der Freundschaft entspringenden Machteffekte unmittelbar(er), wobei eine geschlechterspezifische Abstufung zu beobachten ist. Die Frauenfreundschaften wirken – ähnlich zu den statussymmetrischen Freundschaften unterhalb der Herrschaftsebene – mittelbar auf die Herrschaftsebene, was innerhalb einer Gattung, die männliche Figuren zentral stellt, wenig überraschend ist. Wichtiger erscheint mir – wie gesagt –, dass Frauenfiguren hier überhaupt, dann aber regelmäßig über Freundschaften vermittelt durchaus weitreichende Machtpotenziale zugestanden werden. Allerdings ist der Einfluss der Freundinnen Kudruns größer als jener der Freudinnen Galies, weil Frauenfiguren in der ‹Kudrun› v. a. im letzten Teil des Textes eine viel prominentere Rolle spielen als in ‹Karl und Galie›, also einem wesentlich Karl‑zentrierten Text. Wiederum wird auch diese Tendenz in bezeichnender Weise im ‹Nibelungenlied› ausgehebelt: Der Bruch in der Frauenfreundschaft Kriemhild‑Brünhild hat unmittelbare und sogleich letale Effekte in der Ermordung Siegfrieds. Dort diktieren selbst jene statussymmetrischen Freundschaften unterhalb der Herrschaftsebene unmittel-

12

Diesem Punkt bin ich allerdings nicht intensiver nachgegangen. Semantische Analysen müssten hier systematischer vorgehen, aber das war nicht meine Zielsetzung.

300



IV. Fazit

bar den Gang der Ereignisse, wie man am Freundschaftsnetzwerk um Hagen ablesen konnte. Die Option, Freundschaften über den eigenen Herrschaftsverband hinaus zu unterhalten, ist geschlechtsspezifisch differenziert. Während weibliche Figuren qua Brautwerbung beweglicher zwischen Sozialverbänden wechseln und entsprechend auch Freundschaften pflegen können, die den eigenen Herrschaftsbereich überschreiten, scheinen männliche Freundschaften als innerliterarische Regel in den Heldenepen der ersten Hälfte des 13.  Jahrhunderts auf den eigenen Herrschaftsbereich limitiert. Wiederum bestätigt die Folie des ‹Nibelungenliedes› die Geltung dieser Spielregel ex negativo, wie das weitreichende, mehrere Herrschaftsverbände umspannende Freundschaftsnetz Rüdigers und die damit einhergehenden Probleme illustrieren. Von hier aus lässt sich auch die Zwischenstellung Rennewarts auf verschiedenen Ebenen mit Blick auf den Zusammenhang von Freundschaft und Herrschaft auf diesen Punkt engführen. Dieser Aspekt, dass Willehalm mit Rennewart einen dem eigenen Herrschaftsverband nicht ursprünglich zugehörigen Freund hat, ist nunmehr als eine unter mehreren Ursachen des Verlustes der sonst uneingeschränkt positiven Valenzen von Freundschaft in Bezug auf Herrschaft stärker zu betonen. Durch die Anwendung der Herrschaftstypologie von Weber zeigte sich einerseits, dass Freundschaft an kein bestimmtes Herrschaftsmodell gebunden ist, wenngleich bestimmte Herrschaftsmodelle einen erhöhten Bedarf an Freundschaftskonfigurationen haben. Andererseits wurde deutlich, dass Freundschaft alle Phasen der Herrschaftsgenese begleiten und unterstützen kann. Freundschaft wirkt in ‹Karl  und  Galie› wesentlich am Aufbau von Karls Herrschaft von sporadischer Macht bis hin zu festen Positionsgefügen der Herrschaft sowie an der Traditionalisierung einer zunächst charismatischen Herrschaft mittels Belehnungen mit. Die Freundschaften Karls in den Texten des Roland‑Stoffs arbeiten hingegen an einer Charismatisierung von bereits bei Eintritt in die Handlung verfestigten Positionsgefügen der Herrschaft mit, die wesentlich theokratisch untersetzt ist. Die Charismatisierung der Herrscherfigur in der ‹Kudrun› und in der aventiurehaften Dietrichepik ist ebenfalls in Freundschaftskontexte eingebettet. In der ‹Kudrun› wird Herrschaft nach der Entführung Kudruns wiederhergestellt und durch Hochzeiten, Krönungen und Bündnispolitik veralltäglicht im Sinne Webers. Auch Dietrich durchläuft charismatische Proben seiner Herrschaft gemeinsam mit Hildebrant. In den Texten der aventiurehaften Dietrichepik wird hingegen bei der Traditionalisierung durchaus stärker zwischen der gefolgschaftlichen Bindung der ‹eigenen› Männer und der lehensmäßigen Bindung vormaliger Gegner unterschieden. Die Ausnahmestellung von ‹Willehalm› und ‹Nibelungenlied› habe ich bereits mehrfach thematisiert. Hier wird deutlich, dass Freundschaft Herrschaft latent oder manifest bedrohen kann. Festzuhalten bleibt der zentrale Stellenwert –  im überwiegend positiven, aber potenziell auch negativen Sinne  –, den Freundschaft im Verbund mit Herrschaft in den mittelhochdeutschen Heldenepen der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts innehat.

301

Literaturverzeichnis Ausgaben   1. Aliscans. Das altfranzösische Heldenepos nach der venezianischen Fassung M. Eingeleitet und übers. von Fritz Peter Knapp. Berlin 2013.   2. Das altfranzösische Rolandslied. Zweisprachig. Übers. und komm. von Wolf Steinsieck, Nachwort von Egbert Kaiser. Stuttgart 1999 (RUB 2746).   3. Biterolf und Dietleib. In: Deutsches Heldenbuch. Bd. 1: Biterolf und Dietleib. Laurin und Walberan. Hg. von Oskar Jänicke. Berlin 1866, S. 1–197.   4. Dietrichs erste Ausfahrt. Hg. von Franz Stark. Stuttgart 1860 [d. i. die Wiener ‹Virginal›].   5. Dietrichs Flucht. Textgeschichtliche Ausgabe. Hg. von Elisabeth Lienert/​Gertrud Beck. Tübingen 2003 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 1).   6. Das Eckenlied. Sämtliche Fassungen. 3 Bände. Bd. 1: Einleitung. Die altbezeugten Versionen E1, E2 und Strophe 8–13 von E4. Anhang: Die Ecca‑Episode aus der Thidrekssaga. Bd. 2: Dresdener Heldenbuch und Ansbacher Fragment E7 und E3. Bd. 3: Die Druckversionen und verwandte Textzeugen e1, E4, E5, E6. Hg. von Francis B. Brévart. Tübingen 1999 (ATB 111).   7. Der Jüngere Sigenot. Nach sämtlichen Handschriften und Drucken hg. von A. Clemens Schoener. Heidelberg 1928.   8. Karl der Große von dem Stricker. Hg. von Karl Bartsch. Quedlinburg/​Leipzig 1857.   9. Karl Meinet. Zum ersten Mal hg. von Adelbert von Keller. Stuttgart 1858.  10. Karl und Galie. Eine rheinische Dichtung über Karl den Großen. Aus dem Mittelhochdeutschen übers. von Dagmar Helm. Göppingen 1999 (GAG 666).  11. Karl und Galie. Karlmeinet, Teil I. Abdruck der Handschrift A  (2290) der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt und der 8 Fragmente. Hg. und erläutert von Dagmar Helm. Berlin 1986 (Deutsche Texte des Mittelalters 74).  12. Kudrun. Aus dem Mittelhochdeutschen übers. und komm. von Bernhard Sowinski. Stuttgart 1995 (RUB 466).  13. Kudrun. Mittelhochdeutsch/​ Neuhochdeutsch. Hg., übers. und komm. von Uta Störmer‑Caysa. Stuttgart 2010 (RUB 18639).  14. Kudrun. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch hg. von Karl Stackmann. Tübingen 2000 (ATB 115).  15. La versione franco‑italiana della Bataille  d’Aliscans. Codex Marcianus fr. VIII [= 252]. Hg. von Günter Holtus. Tübingen 1985.  16. Laurin. 2 Bände. Teilbd. 1: Einleitung, Ältere Vulgatversion, Walberan. Teilbd. 2: Preßburger Laurin, Dresdner Laurin, Jüngere Vulgatversion, Verzeichnisse. Hg. von Elisabeth Lienert/​Sonja Kerth/​ Esther Vollmer‑Eicken. Berlin 2011 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 6/1–2).  17. Morant und Galie. Hg. von Theodor Frings/​Elisabeth Linke. Berlin 1976 (Deutsche Texte des Mittelalters 69).  18. Morant und Galie. Karlmeinet, Teil 2. Eine rheinische Dichtung über Karl den Großen. Aus dem Mittelhochdeutschen übers. von Dagmar Helm. Göppingen 2009 (GAG 751).  19. Das Nibelungenlied und die Klage. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung und Kommentar von Joachim Heinzle. Berlin 2015 (Bibliothek des Mittelalters 12).  20. Das Nibelungenlied. Paralleldruck der Handschriften A, B und C nebst Lesarten der übrigen Handschriften. 2 Bände. Hg. von Michal S. Batts. Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1971. Berlin 2010.  21. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch/​Neuhochdeutsch. Hg., übers. und komm. von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1993 (RUB 2745).

303

Literaturverzeichnis  22. Rosengarten. 3  Bände. Teilbd.  1: Einleitung, Rosengarten A. Teilbd.  2: Rosengarten DP. Teilbd.  3: Rosengarten C, Rosengarten F, Niederdeutscher Rosengarten. Hg. von Elisabeth Lienert/​Sonja Kerth/​Svenja Nierentz. Berlin 2015 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 8/1–3).  23. Sigenot. Hg. von Elisabeth Lienert/​Elisa Pontini/​Stephanie Baumgarten. Berlin 2020 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 12).  24. Strickers Karl der Große. Analyse der Überlieferungsgeschichte und Edition des Textes auf Grundlage von C durch Stefanie Weber. Hamburg 2010.  25. Strickers Karl der Große. Hg. von Johannes Singer. Berlin/​Boston 2016 (Deutsche Texte des Mittelalters 96).  26. Ulrich von Türheim: Rennewart. Aus der Berliner und Heidelberger Handschrift. Hg. von Alfred Hübner. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1938. Berlin/​Zürich 1966.  27. Ulrich von dem Türlin: Arabel. Die ursprüngliche Fassung und ihre Bearbeitung kritisch hg. von Werner Schröder. Stuttgart/​Leipzig 1999.  28. Virginal. Goldemar. 3 Bände. Teilbd. 1: Einleitung, Heidelberger Virginal. Teilbd. 2: Wiener Virginal. Teilbd.  3: Dresdner  Virginal, Goldemar, Verzeichnisse. Hg. von Elisabeth Lienert/​Elisa Pontini/​ Katrin Schumacher. Berlin/​ Boston 2017 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 10/1–3).  29. Waltharius. Lateinisch/​Deutsch. Hg. und übers. von Gregor Vogt‑Spira. Im Anhang: Waldere. Englisch/​Deutsch. Übers. von Ursula Schaefer. Stuttgart 1994 (RUB 4174).  30. Walther und Hildegund. In: Ekkehards Waltharius. Hg. von Karl Strecker. Berlin 1907, S. 100–109.  31. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Text und Kommentar. Hg. von Joachim Heinzle. Frankfurt am Main 2009 (DKV 39).  32. Der Wunderer. Hg. von Florian Kragl. Berlin 2015 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 9).

Forschungsliteratur  33. Abels, Heinz: Einführung in die Soziologie. 2 Bände. Bd. 1: Der Blick auf die Gesellschaft. Wiesbaden 42009.  34. Ailes, Marianne J.: The Medieval Male Couple and the Language of Homosociality. In: Dawn M. Hadley (Hg.), Masculinity in medieval Europe. London/​New York 1999, S. 214–237.  35. Althochdeutsches Wörterbuch. 5  Bände. Begr. von Elisabeth Karg‑Gasterstädt und Theodor Frings hg. von Siegfried Groẞe u. a. Berlin 1985.  36. Althoff, Gert: Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter. Darmstadt 1990.  37. Anter, Andreas: Theorien der Macht zur Einführung. Hamburg 2012.  38. Anter, Andreas: Anthropologische Grundlagen der Machttheorie. In: André Brodocz/​Stefanie Hammer (Hgg.), Variationen der Macht. Baden‑Baden 2013, S. 149–162.  39. van Anrooij, Wim: Maerlant, Boendale oder Velthem? Mögliche Quellen der ‹Karlmeinet›‑Kompilation. In: Volker Honemann u. a. (Hgg.), Sprache und Literatur des Mittelalters in den nideren landen. Gedenkschrift für Hartmut Beckers. Köln u. a. 1999 (Niederdeutsche Studien 44), S. 9–20.  40. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München ²1999.  41. Bachtin, Michail M.: Das Wort im Roman. In: Ders., Die Ästhetik des Wortes. Hg. von Rainer Grübel. Frankfurt am Main 1979, S. 154–300 [russ. Orig. 1934/1935].  42. Bachtin, Michail M.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hg. von Edward Kowalski und Michael Wagner, übers. von Michael Dewey. Frankfurt  am  Main 1989 [russ. Orig. 1937/1938].

304

Forschungsliteratur  43. Backenköhler, Gerd: Untersuchungen zur Gestalt Hagens von Tronje in den mittelalterlichen Nibelungendichtungen. Diss. Bonn 1961.  44. Bader, Veit‑Michael: Max Webers Begriff der Legitimität. Versuch einer systematisch‑kritischen Rekonstruktion. In: Johannes Weiẞ (Hg.), Max Weber heute. Erträge und Probleme der Forschung. Frankfurt am Main 1989, S. 296–334.  45. Bartsch, Karl: Über ‹Karlmeinet›. Ein Beitrag zur Karlssage. Nürnberg 1861.  46. Bastert, Bernd: Sequentielle und organische Zyklizität. Überlegungen zur deutschen Karlepik des 12. bis 15. Jahrhunderts. In: Danielle Buschinger/​Wolfgang Spiewok (Hgg.), ‹Chanson de Roland› und ‹Rolandslied›. Actes du Colloque du Centre d’Études Médiévales de l’Université de Picardie Jules Verne 11 et 12 Janvier 1996. Greifswald 1997 (Greifswalder Beiträge zum Mittelalter 57), S. 1–13.  47. Bastert, Bernd: Heros und Heiliger. Literarische Karlbilder im mittelalterlichen Frankreich und Deutschland. In: Franz‑Reiner Erkens (Hg.), Karl der Große und das Erbe der Kulturen. Berlin 2001, S. 197–220.  48. Bastert, Bernd: Konrads ‹Rolandslied› und Strickers ‹Karl der Große›. Unterschiede in Konzeption und Überlieferung. In: Christa Bertelsmeier‑Kierst/​Christopher Young (Hgg.), Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200‑1300. Cambridger Symposium 2001. Tübingen 2003a, S. 91–110.  49. Bastert, Bernd: Heiliger, Hochzeiter, Heidenschlächter. Die ‹Karlmeinet›‑Kompilation zwischen Oberdeutschland und den Nideren Landen. In: Angelika Lehmann‑Benz/​Ulrike Zellmann/​Urban Küsters (Hgg.), Schnittpunkte. Deutsch‑Niederländische Literaturbeziehungen im späten Mittelalter. Münster u. a. 2003b, S. 125–143.  50. Bastert, Bernd: Rewriting ‹Willehalm›? Zum Problem der Kontextualisierung des ‹Willehalm›. In: Ursula Peters (Hgg.), Retextualisierung in der mittelhochdeutschen Literatur. Joachim Bumke/​ Berlin 2005, S. 117–138.  51. Bastert, Bernd: Helden als Heilige. Chanson  de  geste‑Rezeption im deutschsprachigen Raum. Tübingen/​Basel 2010 (Bibliotheca Germanica 54).  52. Bastert, Bernd: Von der Hagiographisierung zur Literarisierung des Epischen. Adaptationsformen der französischen Heldenepik in Deutschland. In: Susanne Friede (Hg.), Das Potenzial des Epos. Die altfranzösische Chanson de geste im europäischen Kontext. Heidelberg 2012 (Beiheft zur GRM 44), S. 53–72.  53. Bastert, Bernd/​Danielle Buschinger/​Geert Claassens/​Fritz Peter Knapp: Karlsepen. In: Geert Claassens/​Nils Borgmann (Hgg.), Germania litteraria mediaevalis Francigena. Handbuch der deutschen und niederländischen literarischen Sprache, Formen, Motive, Stoffe und Werke französischer Herkunft (1100–1300). 7 Bände. Bd. 4: Historische und religiöse Erzählungen. Berlin 2014, S. 189–246.  54. Bastert, Bernd: ‹Karlmeinet›. In: Geert Claassens/​Nils Borgmann (Hgg.), Germania litteraria mediaevalis Francigena. Handbuch der deutschen und niederländischen literarischen Sprache, Formen, Motive, Stoffe und Werke französischer Herkunft (1100–1300). 7 Bände. Bd. 4: Historische und religiöse Erzählungen. Berlin 2014, S. 234–240.  55. Baumann, Peter: Die Motive des Gehorsams bei Max Weber. Zeitschrift für Soziologie 22  (1993), H. 5, S. 355–370.  56. Bauschke, Ricarda: ‹Chanson de Roland› und ‹Rolandslied›. Historiographische Schreibweise als Authentisierungsstrategie. In: Annegret Fiebig (Hg.), Deutsche Literatur und Sprache von 1050–1200. FS Ursula Hennig zum 65. Geburtstag. Berlin 1995, S. 1–18.  57. Beck, Adolf: Die Rache als Motiv und Problem in der ‹Kudrun›. Interpretation und sagengeschichtlicher Ausblick. In: GRM 37  (1956), S. 305–338.  Wiederabdruck in: Heinz Rupp (Hg.), ‹Nibelungenlied› und ‹Kudrun›. Darmstadt 1976 (Wege der Forschung 54), S. 454–501.  58. Beckers, Hartmut: Die Liebesduett‑Szene aus ‹Karl  und  Galie› im Lichte eines neuen Handschriftenfundes. PBB 100 (1979a), S. 323–337.  59. Beckers, Hartmut: Das Liebesduett aus ‹Karl und Galie›. Überlegungen zur Text- und Formkritik. Jahrbuch des Vereins für Niederdeutsche Sprachforschung 102 (1979b), S. 72–90.

305

Literaturverzeichnis  60. Beckers, Hartmut: ‹Karlmeinet›‑Kompilation. In: Burghart Wachinger u. a. (Hgg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 4. 2., völlig neu bearb. Aufl. Berlin 1983, Sp. 1012–1028.  61. Beckers, Hartmut: Paläographisch‑kodikologische und sprachgeschichtliche Beobachtungen zu den alten Pergamentbruchstücken von ‹Karl und Galie› und ‹Morant und Galie›. Ein Beitrag zur Klärung ihrer überlieferungsgeschichtlichen Stellung. In: Volker Honemann/​Nigel F.  Palmer (Hgg.), Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985. Tübingen 1988, S. 179–213.  62. Beckers, Hartmut: Der Aachener ‹Karl und Galie›‑Roman. Ein Beispiel für die Sonderstellung der rheinischen Karlepik des 13. und 14. Jahrhunderts. In: Joachim Heinzle/​L.  Peter Johnson/​Gisela Vollmann‑Profe (Hgg.), Chansons de geste in Deutschland. Schweinfurter Kolloquium 1988. Berlin 1989a (Wolfram‑Studien 11), S. 128–146.  63. Beckers, Hartmut: Karls erster Zweikampf  –  Literaturgeschichtliche Bemerkungen zu einer zentralen Episode des ‹Karl  und  Galie›‑Romans samt Textabdruck und textkritischem Kommentar. In: Walter Tauber (Hg.), Aspekte der Germanistik. FS Hans‑Friedrich Rosenfeld zum 90. Geburtstag. Göppingen 1989b (GAG 521), S. 185–206.  64. Beckers, Hartmut: Ein neues ‹Karl  und  Galie›‑Bruchstück und seine Bedeutung für die Überlieferungsgeschichte und Textkritik. ZfdPh 108 (1989c), Sonderheft, S. 131–155.  65. Beckers, Hartmut: Zwene grove gebure. Zum Handlungsbeginn des ‹Karl und Galie›‑Romans, insbesondere zur Charakterisierung der Thronusurpatoren Huderich und Hanfrait. In: Ulrich Ernst/​ Bernhard Sowinski (Hgg.), Architectura Poetica. FS Johannes Rathofer zum 65. Geburtstag. Köln 1990 (Kölner germanistische Studien 30), S. 207–221.  66. Beckers, Hartmut: Möglichkeiten und Grenzen einer kritischen Neuausgabe von ‹Karl und Galie›. In: Anton Schwob u. a. (Hgg.), Editionsberichte zur mittelalterlichen deutschen Literatur. Beiträge der Bamberger Tagung ‹Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte›, 26.–29. Juli 1991. Göppingen 1994 (Litterae 117), S. 3–14.  67. Benecke, Georg Friedrich/​Wilhelm Müller/​Friedrich Zarncke: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke. 4  Bände. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1854–1866 mit einem Vorwort und einem zusammengefassten Quellenverzeichnis von Eberhard Nellmann sowie einem alphabetischen Index von Erwin Koller, Werner Wegstein und Norbert Richard Wolf. Stuttgart 1990.  68. Bennewitz, Ingrid: Kriemhild im Rosengarten. Erzählstrukturen und Rollenkonstellationen im ‹Großen Rosengarten›. In: Klaus Zatloukal (Hg.), 5.  Pöchlarner Heldenliedgespräch. Aventiure – Märchenhafte Dietrichepik. Wien 2000 (Philologica Germanica 22), S. 39–59.  69. Bennewitz, Ingrid: Kriemhild und Kudrun. Heldinnen‑Epik statt Helden‑Epik (Öffentlicher Vortrag). In: Klaus Zatloukal (Hg.), 7. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Mittelhochdeutsche Heldendichtung außerhalb des Nibelungen- und Dietrichkreises (‹Kudrun›, ‹Ortnit›, ‹Waltharius›, ‹Wolfdietriche›). Wien 2003 (Philologica Germanica 25), S. 9–20.  70. Bleumer, Hartmut: Das Vertrauen und die Vertraute  –  Aspekte der Emotionalisierung von gesellschaftlichen Bindungen im höfischen Roman. Frühmittelalterliche Studien 39 (2005), S. 253–270.  71. Bleumer, Hartmut: Der Tod des Heros, die Geburt des Helden – und die Grenzen der Narratologie. In: Udo Friedrich u. a. (Hgg.), Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Berlin 2014 (Literatur – Theorie – Geschichte 3), S. 119–141.  72. Blunk, Paul: Studien zum Wortschatz des altfranzösischen ‹Rolandsliedes›. Diss. Kiel/​Wismar 1905.  73. Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Übers. von Cordula Pialoux/​Bernd Schwibs. Frankfurt am Main 1979 [frz. Orig. 1972].  74. Bourdieu, Pierre:  Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft.  Aus dem Französischen von Bernd Schwibs/​Achim Russer. Frankfurt am Main 1982 [frz. Orig. 1979].  75. Bourdieu, Pierre: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten. Göttingen 1983, S. 183–198.

306

Forschungsliteratur  76. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Übers. von Günter Seib. Frankfurt am Main 92015 [frz. Orig. 1980].  77. Bourdieu, Pierre: Soziologische Fragen. Aus dem Französischen von Hella Beister/​Bernd Schwibs. Frankfurt am Main 1993 [frz. Orig. 1980].  78. Bourdieu, Pierre/​Loïc J. D. Wacquant: Reflexive Anthropologie. Aus dem Französischen von Hella Beister. Frankfurt am Main 2006 [frz. Orig. 1992].  79. Bourdieu, Pierre: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Aus dem Französischen von Achim Russer. Unter Mitwirkung von Hélène Albagnac/​Bernd Schwibs. Frankfurt am Main 2001 [frz. Orig. 1997].  80. Bourdieu, Pierre: Ein soziologischer Selbstversuch. Aus dem Französischen von Stephan Egger. Mit einem Nachwort von Franz Schultheis. Frankfurt am Main 52016 [frz. Orig. 2001].  81. Brall, Helmut: Geschlechtlichkeit, Homosexualität, Freundesliebe. Über mann‑männliche Liebe in mittelalterlicher Literatur. Forum Homosexualität und Literatur 13 (1991), S. 6–27.  82. Braun, Manuel: Ehe, Liebe, Freundschaft. Semantik der Vergesellschaftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman. Tübingen 2001.  83. Braun, Manuel: Versuch über ein verworrenes Verhältnis. Freundschaft und Verwandtschaft in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Erzähltexten. In: Sibylle Appuhn‑Radtke (Hg.), Freundschaft. Motive und Bedeutungen. München 2006, S. 67–96.  84. Breuer, Stefan: Max Webers Herrschaftssoziologie. Zeitschrift für Soziologie 17  (1988), H. 5, S. 315–327.  85. Breuer, Stefan: Rationale Herrschaft. Zu einer Kategorie Max Webers. In: Wolfgang Seibel u. a. (Hgg.), Demokratische Politik – Analyse und Theorie. Opladen/​Wiesbaden 1997, S. 106–134.  86. Breuer, Stefan: Das Legitimitätskonzept Max Webers. In: Dietmar Willoweit (Hg.), Die Begründung des Rechts als historisches Problem. München 2000, S. 1–17.  87. Breuer, Stefan: ‹Herrschaft› in der Soziologie Max Webers. Wiesbaden 2011 [überarb. Neufassung von: Max Webers Herrschaftssoziologie. Frankfurt am Main 1991].  88. Breyer, Ralph: Dietrich cunctator. Zur Ausprägung eines literarischen Charakters. In: Klaus Zatloukal (Hg.), 5.  Pöchlarner Heldenliedgespräch. Aventiure  –  Märchenhafte Dietrichepik. Wien 2000 (Philologica Germanica 22), S. 61–74.  89. Brinker‑von  der  Heyde, Claudia: Hagen. Ein Held mit vielen Gesichtern! ABÄG 51  (1999), S. 105–124.  90. Brinker‑von der Heyde, Claudia: Redeschlachten – Schlachtreden. Verbale Kriegsführung im ‹Rolandslied›. In: Ulla Günther u. a. (Hgg.), ‹Krieg und Frieden›. Auseinandersetzung und Versöhnung in Diskursen. Tübingen 2005, S. 1–26.  91. Brinker‑von der Heyde, Claudia: Hagen – valant oder trost der Nibelungen? Zur Unerträglichkeit ambivalenter Gewalt im ‹Nibelungenlied› und ihrer Bewältigung in der ‹Klage›. In: Gerold Bönnen/​ Volker Gallé (Hgg.), Der Mord und die Klage. Das ‹Nibelungenlied› und die Kulturen der Gewalt. Dokumentation des 4. Symposiums der Nibelungengesellschaft Worms e. V. vom 11. bis 13. Oktober 2002. Worms 2007, S. 122–144.  92. Brodocz, André: Max Webers Spiegelkabinett der Macht. In: Ders./Stefanie Hammer (Hgg.), Variationen der Macht. Baden‑Baden 2013, S. 9–21.  93. Bulang, Tobias: Visualisierung als Strategie literarischer Problembehandlung. Beobachtungen zu ‹Nibelungenlied›, ‹Kudrun› und ‹Prosa‑Lancelot›. In: Horst Wenzel u. a. (Hgg.), Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 195), S. 188–212.  94. Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. 8., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart/​Weimar 2004.  95. von der Burg, Udo: Strickers ‹Karl› und die jüngere altfranzösische ‹Rolandslied›‑Tradition. Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 213 (1976), S. 241–250.

307

Literaturverzeichnis  96. Buschinger, Danielle: Roland et Olivier dans la ‹Chanson de Roland› et le ‹Rolandslied›. Quelques jalons. In: Dies./ Wolfgang Spiewok (Hgg.), Das ‹Rolandslied› des Pfaffen Konrad. Greifswald 1996, S. 65–72.  97. Buschinger, Danielle: Rolands Tod in der ‹Chanson  de  Roland› und in der deutschen Tradition. Études médiévales 11/12 (2010), S. 224–232.  98. Campbell, Ian R.: Hagen’s Shield Request. Das ‹Nibelungenlied›, 37th Aventiure. The Germanic Review 71 (1996), S. 23–34.  99. Campbell, Ian R.: Siegfried’s Vassalage Deception Re‑examined. Neophilologus 81 (1997), S. 563–576. 100. Christ, Michaela: Auf Entdeckungsreise. Heinrich Popitz «Phänomene der Macht». In: Soziale Passagen. Journal für Empirie und Theorie Sozialer Arbeit 2 (2010), H. 2, S. 251–255. 101. Clark, Susan L.: Genelun erbleichte harte. The dark figure and the responsibility for Carnage in ‹Das Rolandslied›. In: Edward R. Haymes (Hg.), The Dark Figure in Medieval German and Germanic Literature. Göppingen 1986 (GAG 448), S. 1–26. 102. Classen, Albrecht: Friendship in the middle ages. A Ciceronian concept in Konrad von Würzburg’s ‹Engelhard› (ca. 1280). Mittellateinisches Jahrbuch 41 (2006), S. 227–246. 103. Classen, Albrecht: Friendship in the Heroic Epic. Ruedegêr in the ‹Nibelungenlied›. In: Ders./ Marilyn Sandidge (Hgg.), Friendship in the Middle Ages and Early Modern Age. Explorations of a Fundamental Ethical Discourse. Berlin/​New York 2010 (Fundamentals of Medieval and Early Modern Culture 6), S. 429–443. 104. Classen, Albrecht: Friends and friendship in heroic epics. With a focus on ‹Beowulf›, ‹Chanson de Roland›, the ‹Nibelungenlied›, and ‹Njal’s Saga›. Neohelicon 38 (2011), H. 1, S. 121–139. 105. Cordes, Teresa: Das Motiv des Wiedererkennens an der Stimme in Heldenepen und höfischen Romanen des französischen und deutschen Mittelalters. In: Monika Unzeitig/​Angela Schrott/​ Nine Miedema (Hgg.), Stimme und Performanz in der mittelalterlichen Literatur. Berlin/​Boston 2017a (Historische Dialogforschung 3), S. 309–329. 106. Cordes, Teresa: Narratologie und Sprachpragmatik. Die Erprobung eines Ansatzes zur Beschreibung von Figuren am Beispiel der ‹Kudrun›. In: Anne‑Katrin Federow/​Kay Malcher/​Marina Münkler (Hgg.), Brüchige Helden – Brüchiges Erzählen. Mittelhochdeutsche Heldenepik aus narratologischer Sicht. Berlin 2017b (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 11), S. 149–162. 107. Curschmann, Michael: Dichtung über Heldendichtung. Bemerkungen zur Dietrichepik des 13. Jahrhunderts. In: Leonard Forster/​Hans‑Gert Roloff (Hgg.), Akten des V. Internationalen Germanisten‑Kongresses (Cambridge 1975). Bern 1976, S. 17–21. 108. Dewhurst, Jane: Volker the Spilman. The ‹Nibelungenlied’s› minstrel in nineteenth- and twentieth‑century poetic adaptations. Forum for Modern Language Studies 40 (2004), H. 1, S. 27–40. 109. Diem, Albrecht: nu suln ouch wir gesellen sîn –  Über Schönheit, Freundschaft und mann-männliche Liebe im ‹Tristan› Gottfrieds von Straßburg. Tristania 19 (1999), S. 45–96. 110. Dimpel, Friedrich Michael: Die Zofe im Fokus. Perspektivierung und Sympathiesteuerung durch Nebenfiguren vom Typus der Confidente in der höfischen Epik des hohen Mittelalters. Berlin 2011 (Philologische Studien und Quellen 232). 111. Dimpel, Friedrich Michael: Hartmut – Liebling des Dichters? Sympathiesteuerung in der ‹Kudrun›. ZfdA 141 (2012), S. 335–353. 112. Dimpel, Friedrich Michael: Anerzählen gegen das, was erzählt wird. Zur Arbeit an der Wertungsstruktur im ‹Nibelungenlied›. Euphorion 110 (2016), H. 3, S. 319–354. 113. Dinkelacker, Wolfgang: Spielregeln, Gattungsregeln. Zur literarischen Gestaltung des Nibelungenstoffes. In: Alfred Ebenbauer (Hg.), 8. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Das ‹Nibelungenlied› und die europäische Heldendichtung. Wien 2006 (Philologica Germanica 26), S. 57–71. 114. Dogaru, Dana Janetta: Der Streit der Königinnen im ‹Nibelungenlied›. Germanistische Beiträge 24 (2008), S. 67–90. 115. Dörrich, Corinna: Poetik des Rituals. Konstruktion und Funktion politischen Handelns in mittelalterlicher Literatur. Darmstadt 2002.

308

Forschungsliteratur 116. Dörrich, Corinna: Die Schönste dem Nachbarn: Die Verabschiedung des Brautwerbungsschemas in der ‹Kudrun›. PBB 133 (2011), S. 32–55. 117. Ehrismann, Otfrid: Strategie und Schicksal – Hagen. In: Werner Wunderlich (Hg.), Literarische Symbolfiguren. Von Prometheus bis Svejk. Beiträge zu Tradition und Wandel. Bern u. a. 1989 (Facetten deutscher Literatur 1), S. 89–115. 118. Ehrismann, Otfrid: Überlegungen zur Gabe im ‹Nibelungenlied›. Rüedeger und die Burgonden. In: Dietz‑Rüdiger Moser/​Marianne Sammer (Hgg.), ‹Nibelungenlied› und ‹Klage›. Ursprung – Funktion  –  Bedeutung. Symposium Kloster Andechs 1995 mit Nachträgen bis 1998. München 1998, S. 361–382. 119. Ehrismann, Otfrid: «Ich bin ouch ein recke und solde krône tragen». Siegfried, Gunther und die Spielregeln der Politik im Mittelalter. In: Jürgen Erich Schmidt/​Karin Cieslik/​Gisela Ros (Hgg.), Ethische und ästhetische Komponenten des sprachlichen Kunstwerkes. FS Rolf Bräuer zum 65. Geburtstag. Göppingen 1999 (GAG 672), S. 61–80. 120. Ehrismann, Otfrid: ‹Nibelungenlied›. Epoche – Werk – Wirkung. 2., neu bearb. Aufl. München 2002. 121. Ehrismann, Otfrid: von Burgonden der edel künec. Die Ehre Gunthers im ‹Nibelungenlied›. In: Gary C. Shockey (Hg.), Ain güt geboren edel man. FS Winder McConnell on the occasion of his sixty‑fifth birthday. Göppingen 2011 (GAG 757), S. 249–294. 122. van Eickels, Klaus: ‹Tender Comrades›. Gesten männlicher Freundschaft und die Sprache der Liebe im Mittelalter. Invertito 6 (2004), S. 9–48. 123. van Eickels, Klaus: Freundschaft im (spät)mittelalterlichen Europa: Traditionen, Befunde und Perspektiven. In: Klaus Oschema (Hg.), Freundschaft oder amitié? Ein politisch‑soziales Konzept der Vormoderne im zwischensprachlichen Vergleich (15.– 17. Jahrhundert). Berlin 2007a, S. 23–34. 124. van  Eickels, Klaus: Verwandtschaftliche Bindungen, Liebe zwischen Mann und Frau, Lehenstreue und Kriegerfreundschaft: Unterschiedliche Erscheinungsformen ein und desselben Begriffs? In: Johannes F. K. Schmidt u. a. (Hgg.), Freundschaft und Verwandtschaft. Zur Unterscheidung und Verflechtung zweier Beziehungssysteme. Konstanz 2007b, S. 157–164. 125. van Eickels, Klaus: Der Bruder als Freund und Gefährte. Fraternitas als Konzept personaler Bindung im Mittelalter. In: Karl‑Heinz Spieẞ (Hg.), Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters. Ostfildern 2009, S. 195–222. 126. van  Eickels, Klaus: Verwandtschaft, Freundschaft und Vasallität. Der Wandel von Konzepten personaler Bindung im 12. Jahrhundert. In: Jürgen Dendorfer/​Roman Deutinger (Hg.), Das Lehnswesen im Hochmittelalter. Forschungskonstrukte  – Quellenbefunde  – Deutungsrelevanz. Ostfildern 2010, S. 401–412. 127. Eikelmann, Manfred/​Tomas Tomasek: Handbuch der Sentenzen und Sprichwörter im höfischen Roman des 12. und 13. Jahrhunderts. 2  Bände. Manfred Eikelmann/​Silvia Reuvekamp (Hgg.), Bd. 1: Einleitung und Artusromane bis 1230. Berlin 2012. Tomas Tomasek (Hg.), Bd. 2: Artusromane nach 1230, Gralromane, Tristanromane. Berlin 2009. 128. Eikelmann, Manfred/​Silvia Reuvekamp: Einleitung. In: Manfred Eikelmann/​Tomas Tomasek (Hgg.), Handbuch der Sentenzen und Sprichwörter im höfischen Roman des 12. und 13. Jahrhunderts. Manfred Eikelmann/​Silvia Reuvekamp (Hgg.), Bd. 1: Einleitung und Artusromane bis 1230. Berlin 2012, S. 1–83. 129. Eming, Jutta: unsippiu geselleschaft. Paradigmen von Freundschaft und Konkurrenz in Hartmanns ‹Iwein›. In: Marina Münkler/​Antje Sablotny/​Matthias Standke (Hgg.), Freundschaftszeichen. Gesten, Gaben und Symbole von Freundschaft im Mittelalter. Heidelberg 2015 (Beihefte zum Euphorion 86), S. 103–124. 130. Epp, Verena: Amicitia. Zur Geschichte personaler, sozialer, politischer und geistlicher Beziehungen im frühen Mittelalter. Stuttgart 1999. 131. Ernst, Ulrich: ‹Kollektive Aggression› in der ‹Chanson de Roland› und im ‹Rolandslied› des Pfaffen Konrad. Die Idee des Gottesfriedens als Legitimationsmodell für Reconquista und welfische Expansionspolitik. Euphorion 82 (1988), S. 211–225.

309

Literaturverzeichnis 132. von  Ertzdorff, Xenja: Höfische Freundschaft. Der Deutschunterricht 14  (1962), H. 6, S. 35–51. Wiederabdruck in: Dies.: Spiel der Interpretation. Gesammelte Aufsätze zur Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Rudolf Schulz/​Armin-Thomas Bühler. Göppingen 1996 (GAG 597), S. 35–51. 133. Falch, Simon: ‹Rites de passage› im ‹Nibelungenlied›. ZfdA 142 (2013), S. 141–161. 134. Federow, Anne‑Katrin: Male bonding in der ‹Rolandslied›‑Bearbeitung des ‹Karlmeinet›. Heldenepische Konstruktionen von Männerfreundschaft im Kontext von Konflikt und Klage. ZfdPh 134 (2015a), H. 1, S. 3–28. 135. Federow, Anne‑Katrin: möhte iht bezzers sîn dan friuntlîchiu triuwe? Freundschaft als Liminalitätsphänomen in der ‹Kudrun›. In: Marina Münkler/​Antje Sablotny/​Matthias Standke (Hgg.), Freundschaftszeichen. Gesten, Gaben und Symbole von Freundschaft im Mittelalter. Heidelberg 2015b (Beihefte zum Euphorion 86), S. 153–177. 136. Federow, Anne‑Katrin: Narrator ludens. Erzählen von Spielen und verspieltes Erzählen in ‹Karl und Galie›. ZfdA 145 (2016a), S. 459–483. 137. Federow, Anne-Katrin: Freundschaft zwischen narrativer Ausformung und sprichwörtlicher Rede. Der Zusammenhang von paradigmatischer und dialogischer Struktur im ‹Loher und Maller›. Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Germanistik und Literatur 20 (2016b), S. 47–50. 138. Federow, Anne‑Katrin/​Kay Malcher/​Marina Münkler (Hgg.): Brüchige Helden  –  Brüchiges Erzählen. Mittelhochdeutsche Heldenepik aus narratologischer Sicht. Berlin 2017 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 11). 139. Federow, Anne‑Katrin: Riesenhafte Gefolgschaft als Herrschaftsfaktor im ‹König Rother› und in der Heidelberger ‹Virginal›. In: Ronny F. Schulz/​Silke Winst (Hgg.), Riesen. Entwürfe und Deutungen des Außer/​Menschlichen in mittelalterlicher Literatur [erscheint 2020 in der Reihe ‹Studia Medievalia Septentrionalia›, Wien]. 140. Feistner, Edith: Die Freundschaftserzählungen vom Typ ‹Amicus und Amelius›. In: Klaus Matzel (Hg.), FS Herbert Kolb zu seinem 65. Geburtstag. Berlin 1989, S. 97–130. 141. Fischer, Hubertus: Tod unter Helden. Gahmuret und Vivianz. In: Susanne Knaeble (Hg.), Gott und Tod. Tod und Sterben in der höfischen Kultur des Mittelalters. Berlin 2011, S. 135–147. 142. Francke, Walter K.: The Characterization of Rennewart. The German Quarterly 45  (1972), H. 3, S. 417–428. 143. Freche, Katharina: Von zweier vrouwen bâgen wart vil manic helt verlorn. Untersuchungen zur Geschlechterkonstruktion in der mittelalterlichen Nibelungendichtung. Trier 1999 (Literatur, Imagination, Realität 21). 144. Freienhofer, Evamaria: Verkörperungen von Herrschaft. Zorn und Macht in Texten des 12. Jahrhunderts. Berlin/​Boston 2016 (Trends in Medieval Philology 32). 145. Friedrich, Udo: Held und Narrativ. Zur narrativen Funktion des Heros in der mittelalterlichen Literatur. In: Victor Millet (Hg.), Narration and hero. Recounting the deeds of heroes in literature and art of the early medieval period. Berlin 2014, S. 175–194. 146. Frings, Theodor: Der Eingang von ‹Morant  und  Galie›. Teuthonista. Zeitschrift für Mundartforschung 3 (1926/1927), S. 97–119. 147. Frings, Theodor/​Linke, Elisabeth: Der Rechtsgang in ‹Morant  und  Galie›. Kritischer Text der Beratungsszene und Urteilsfindung. PBB 75 (1953), S. 1–130. 148. Fröhlich, Gerhard: Einverleibung (incorporation). In: Ders. (Hg.), Bourdieu‑Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/​Weimar 2009, S. 81–89. 149. Füllgrabe, Jörg: Dietrich von Bern  –  Ein alternativer germanisch‑deutscher Helden‑Entwurf? Überlegungen zur Möglichkeit differierender Heldenbilder in der Überlieferung des Mittelalters. In: Gudrun Marci‑Boehncke/​Jörg Riecke (Hgg.), ‹Von Mythen und Mären›. Mittelalterliche Kulturgeschichte im Spiegel einer Wissenschaftler‑Biographie. FS Otfrid Ehrismann zum 65. Geburtstag. Hildesheim 2006, S. 373–394.

310

Forschungsliteratur 150. Garnier, Claudia: Amicus amicis – inimicus inimicis. Politische Freundschaft und fürstliche Netzwerke im 13. Jahrhundert. Stuttgart 2000. 151. Garnier, Claudia: Freundschaft und Vertrauen in der politischen Kommunikation des Spätmittelalters. In: Sibylle Appuhn‑Radtke/​Esther Pia Wipfler (Hgg.), Freundschaft. Motive und Bedeutungen. München 2006, S. 117–136. 152. Gaunt, Simon: Gender und Genre in Medieval French Literature. Cambridge 1995. 153. Gebert, Bent: Poetik der Tugend. Zur Semantik und Anthropologie des Habitus in höfischer Epik. In: Elke Brüggen u. a. (Hgg.), Text und Normativität im deutschen Mittelalter. XX. Anglo-German Colloquium. Berlin 2012, S. 143–168. 154. Geith, Karl‑Ernst: Rolands Tod. Zum Verhältnis von ‹Chanson  de  Roland› und deutschem ‹Rolandslied›. ABÄG 10 (1976), S. 1–14. 155. Geith, Karl‑Ernst: Die Träume im ‹Rolandslied› des Pfaffen Konrad und in Strickers ‹Karl›. In: Agostino Paravicini Bagliani/​Giorgio Stabile (Hgg.), Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Stuttgart 1989, S. 227–241. 156. Geith, Karl‑Ernst/​Elke Ukena‑Best/​Hans‑Joachim Ziegeler: Art. ‹Der Stricker›. In: Burghart Wachinger u. a. (Hgg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 9. 2., völlig neu bearb. Aufl. Berlin 1995, Sp. 417–449. 157. Geith, Karl‑Ernst: Karl als Minneritter. Beobachtungen zu ‹Karl  und  Galie›. In: Trude Ehlert (Hg.), Chevaliers errants, demoiselles et l’autre. Höfische und nachhöfische Literatur im europäischen Mittelalter. FS Xenja von Ertzdorff zum 65. Geburtstag. Göppingen 1998 (GAG 544), S. 63–82. 158. Geith, Karl‑Ernst: Der lîp wandelt sich nach dem muot. Zur nonverbalen Kommunikation im ‹Rolandslied›. In: Kirsten Adamzik/​Helen Christen (Hgg.), Sprachkontakt, Sprachvergleich, Sprachvariation. FS Gottfried Kolde zum 65. Geburtstag. Tübingen 2001, S. 171–183. 159. Genette, Gérard: Die Erzählung. 3., durchgesehene und korrigierte Aufl., übers. von Andreas Knop. Paderborn 2010 [frz. Orig. 1972/1983]. 160. van  Gennep, Arnold: Übergangsriten (Les rites des passage). Aus dem Französischen von Klaus Schomburg/​Sylvia M.  Schomburg‑Scherff. 3., erw. Aufl. Frankfurt am Main/​ New  York 2005 [frz. Orig. 1909]. 161. Gentry, Francis G.: Triuwe and vriunt in the ‹Nibelungenlied›. Amsterdam 1975. 162. Gephart [Rüsenberg], Irmgard: Geben und Nehmen im ‹Nibelungenlied› und in Wolframs von Eschenbach ‹Parzival›. Bonn 1994. 163. Gerhardt, Christoph: Die Handschriften des ‹Willehalm› und seiner Fortsetzungen und die Entwicklung der Texte. In: Joachim Heinzle (Hg.), Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch. 2 Bände. Bd. 1: Autor, Werk, Wirkung. Berlin/​Boston 2011, S. 591–636. 164. Gerok‑Reiter, Annette: Figur und Figuration Kaiser Karls: Geschichtsbewußtsein in ‹Rolandslied› und ‹Willehalm›. In: Cora Dietl/​Dörte Helschinger (Hgg.), Ars und Scientia im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Ergebnisse interdisziplinärer Forschung. FS Georg Wieland zum 65. Geburtstag. Tübingen u. a. Tübingen/​Basel 2002, S. 173–191. 165. Gerok‑Reiter, Annette: Die Angst des Helden und die Angst des Hörers. Stationen einer Umbewertung in mittelhochdeutscher Epik. In: Dies. (Hg.), Angst und Schrecken im Mittelalter. Ursachen, Funktionen, Bewältigungsstrategien. Berlin 2007, S. 127–143. 166. Gillespie, George T.: Hildebrands Minnelehre. Zur ‹Virginal› h. In: Jeffrey Ashcroft/​Dietrich Huschenbett/​William Henry Jackson (Hgg.), Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübingen 1987, S. 61–79. 167. Girard, René: Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger‑Ruh. Münster u. a. 1999 [frz. Orig. 1961]. 168. Girard, René: Das Heilige und die Gewalt. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger‑Ruh. Ostfildern 2006 [frz. Orig. 1972]. 169. Girard, Réne: Der Sündenbock. Aus dem Französischen von Elisabeth Mainberger‑Ruh. Zürich/​ Düsseldorf 1998 [frz. Orig. 1982].

311

Literaturverzeichnis 170. Girard, René: Mimetische Theorie und Theologie. In: Józef Niewiandomski/​Wolfgang Palaver (Hgg.), Vom Fluch und Segen der Sündenböcke. FS Raymund Schwager zum 60. Geburtstag. Thaur 1995. S. 15–29 171. Göhler, Peter: Von zweier vrouwen bagen wart vil manic helt verlorn. Der Streit der Königinnen im ‹Nibelungenlied›. In: Klaus Zatloukal (Hg.), 6. Pöchlarner Heldenliedgespräch. 800 Jahre ‹Nibelungenlied›. Rückblick – Einblick – Ausblick. Wien 2001 (Philologica Germanica 23), S. 75–96. 172. Goller, Detlef: Her Dietrîch und sîn Hildebrant – die Unzertrennlichen? Aspekte von Herrschaft und Erziehung in einer langen literaturhistorischen Beziehung. PBB 131 (2009), H. 3, S. 493–509. 173. Grafetstätter, Andrea: Der Held als Witzfigur. Artus und Dietrich im Spätmittelalter. In: Christian Kuhn/​Stefan Bieẞenecker (Hgg.), Valenzen des Lachens in der Vormoderne (1250–1750). Bamberg 2012 (Bamberger historische Studien 8), S. 117–142. 174. Greenfield, John: Vivien und Vivianz. Wolfram‑Studien 11 (1989a), S. 47–64. 175. Greenfield, John: Willehalm’s fall from grace. Neophilologus 73 (1989b), S. 243–253. 176. Greenfield, John/​Lydia Miklautsch: Der ‹Willehalm› Wolframs von Eschenbach. Eine Einführung. Berlin/​New York 1998. 177. Greenfield, John: Die Dialogstruktur in ‹Aliscans› und in Wolframs ‹Willehalm›. Beobachtungen zu Aérofle/​Arofel‑Szene. In: Monika Unzeitig (Hg.), Redeszenen in der mittelalterlichen Großepik. Komparatistische Perspektiven. Berlin 2011 (Historische Dialogforschung 1), S. 105–115. 178. Greimas, Algirdas Julien: Eléments d’une grammaire narrative. In: Ders., Du sens. Essais sémiotiques. Paris 1970, S. 157–183. 179. Grenzler, Thomas: Erotisierte Politik  –  politisierte Erotik? Die politisch‑ständische Begründung der Ehe‑Minne in Wolframs ‹Willehalm›, im ‹Nibelungenlied› und in der ‹Kudrun›. Göppingen 1992 (GAG 552). 180. Greulich, Markus: zaghait dich fliehen leret. Zur Konstruktion und Funktion von Dietrichs zagheit im ‹Eckenlied› (E2). Études médiévales 6 (2004), S. 66–75. 181. Grimm, Ghislaine: Heldendichtung im Spätmittelalter. Überlieferungsgeschichtliche Studien zu den skriptographischen, typographischen und ikonographischen Erscheinungsformen des ‹Rosengarten zu Worms›. Wiesbaden 2009 (Imagines medii aevi 22). 182. Grimm, Gunter: Die Eheschließungen in der ‹Kudrun›. Zur Frage der Verlobten- oder Gattentreue Kudruns. ZfdPh 90 (1971), S. 48–70. 183. Grosse, Carmen L.: Counsel Scenes in Precourtly Epics, the ‹Nibelungenlied›, and ‹Kudrun›. Their Structure and Dramatic Function. Diss. Univ. of Massachusetts 1982. 184. Grosse, Siegfried: Rüdiger von Bechelaren. Beobachtungen zur dramatischen Rezeption und Konzeption einer Gestalt des ‹Nibelungenliedes›. In: Dorothee Lindemann u. a. (Hgg.), bickelwort und wildiu maere. FS Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag. Göppingen 1995 (GAG 618), S. 237–259. 185. Grubmüller, Klaus: Gattungskonstitution im Mittelalter. In: Nigel F. Palmer/​Hans‑Jochen Schiewer (Hgg.), Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Tübingen 1999, S. 193–210. 186. Haas, Alois M.: Gottesfreundschaft. In: Ferdinand van Ingen (Hg.), Ars et amicitia. Beiträge zum Thema Freundschaft in Geschichte, Kunst und Literatur. FS Martin Bircher zum 60. Geburtstag am 3. Juni 1998. Amsterdam u. a. 1998, S. 75–86. 187. Habermas, Jürgen: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt am Main 1973. 188. Hammer, Andreas: Erinnerung und memoria in der ‹Chanson de Roland› und im ‹Karl der Große› von dem Stricker. In: Susanne Friede (Hg.), Das Potenzial des Epos. Die altfranzösische Chanson de geste im europäischen Kontext. Heidelberg 2012 (Beiheft zur GRM 44), S. 237–260. 189. Hanke, Edith: Max Webers «Herrschaftssoziologie». Eine werkgeschichtliche Studie. In: Ders./ Wolfgang Justus Mommsen (Hgg.), Max Webers Herrschaftssoziologie. Studien zu Entstehung und Wirkung. Tübingen 2001, S. 19–46. 190. Harms, Björn Michael: Narrative ‹Motivation von unten›. Zur Versionenkonstitution von ‹Virginal› und ‹Laurin›. Berlin 2013 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 7).

312

Forschungsliteratur 191. Hasebrink, Burkhard: Aporie, Dialog, Destruktion. Eine textanalytische Studie zur 37. Aventiure des ‹Nibelungenliedes›. In: Nikolaus Henkel/​Nigel F.  Palmer (Hgg.), Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999. Tübingen 2003, S. 7–20. 192. Hasebrink, Burkhard: Erecs Wunde. Zur Performativität der Freundschaft im höfischen Roman. Oxford German Studies 38 (2009), H. 1, S. 1–11. 193. Haseldine, Julian P.: The monastic culture of friendship. In: James G. Clark (Hg.), The culture of medieval English monasticism. Woodbridge 2007, S. 177–202. 194. Haseldine, Julian P.: Monastic Friendship in Theory and in Action in the Twelfth Century. In: Albrecht Classen/​Marilyn Sandidge (Hgg.), Friendship in the Middle Ages an Early Modern Age. Explorations of a fundamental ethical discourse. Berlin u. a. 2010, S. 349–393. 195. Haug, Walter: Montage und Individualität im ‹Nibelungenlied›. In: Ders. (Hg.), Strukturen und Schlüssel zur Welt. Tübingen 1989, S. 326–338. 196. Haustein, Jens: Siegfrieds Schuld. ZfdA 122 (1993), S. 373–387. 197. Haustein, Jens: Die zagheit Dietrichs von Bern. In: Gerhard R. Kaiser (Hg.), Der unzeitgemäße Held in der Weltliteratur. Heidelberg 1998 (Jenaer germanistische Forschungen N. F. 1), S. 47–62. 198. Heinzle, Joachim: Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchung zur Tradierungsweise, Überlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung. Zürich 1978 (MTU 62). 199. Heinzle, Joachim: Zweimal Hagen oder: Rezeption als Sinnunterstellung. In: Ders. (Hg.), Die Nibelungen. Ein deutscher Wahn, ein deutscher Alptraum. Studien und Dokumente zur Rezeption des Nibelungenstoffs im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1991, S. 21–40. 200. Heinzle, Joachim: Das ‹Nibelungenlied›. Eine Einführung. Frankfurt am Main 1994. 201. Heinzle, Joachim: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik. Berlin/​New York 1999. 202. Heinzle, Joachim: Heldendichtung. In: Harald Fricke/​Georg Braungart (Hgg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. 3 Bände. Bd. 2: H‑O. 3., neu bearb. Aufl. Berlin 2000, S. 21–25. 203. Heinzle, Joachim: Was ist Heldensage? JOWG 14 (2004), S. 1–23. 204. Heinzle, Joachim (Hg.): Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch. 2  Bände. Bd. 1: Autor, Werk, Wirkung. Bd. 2: Figuren‑Lexikon, Beschreibendes Verzeichnis der Handschriften, Bibliographien, Register, Abbildungen. Berlin/​Boston 2011. 205. Heinzle, Joachim: Themen und Motive. In: Ders. (Hg.), Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch. 2 Bände. Bd. 1: Autor, Werk, Wirkung. Berlin/​Boston 2011, S. 653–675. 206. Heisler [Freienhofer], Evamaria: Christusähnlicher Karl. Die Darstellung von Zorn und Trauer des Herrschers in der ‹Chanson de Roland› und im ‹Rolandslied›. In: Bele Freundenberg (Hg.), Furor, zorn, irance. Interdisziplinäre Sichtweisen auf mittelalterliche Emotionen. Berlin 2009, 67–79. 207. Hennings, Thordis: Französische Chansons de geste in der Germania vor 1300. Übersetzungen, Johannes Keller (Hgg.), 8.  Pöchlarner Bearbeitungen, Neudichtungen. In: Alfred Ebenbauer/​ Heldenliedgespräch. Das ‹Nibelungenlied› und die europäische Heldendichtung. Wien 2006 (Philologica Germanica 26), S. 163–179. 208. Hennings, Thordis: Französische Heldenepik im deutschen Sprachraum. Die Rezeption der Chanson de geste im 12. und 13. Jahrhundert. Überblick und Fallstudien. Heidelberg 2008. 209. Hennings, Thordis: Der Stoff. Vorgaben und Fortschreibungen. In: Joachim Heinzle (Hg.), Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch. 2 Bände. Bd. 1: Autor, Werk, Wirkung. Berlin/​Boston 2011, S. 544–590. 210. Herzog, Markwart: Religionstheorie und Theologie René Girards. Kerygma und Dogma 38 (1992), S. 105–137. 211. Hintz, Ernst: Friendship. In: Francis G. Gentry u. a. (Hgg.), The Nibelungen tradition. An encyclopedia. New York 2002, S. 151 f. 212. Hirhager, Ulrike: Einem mit Gras das Maul stopfen. Zu ‹Karl  und  Galie› 184,45/11833 ff. In: Christa Agnes Tuczay/​Ulrike Hirhager/​Karin Lichtblau (Hgg.), Ir sult sprechen willekomen. Grenzenlose Mediävistik. FS Helmut Birkhan zum 60. Geburtstag. Bern u. a. 1998, S. 437–453.

313

Literaturverzeichnis 213. Hödlmoser, Alexander: Frawe Grimhilde und ‹Der Grimme Hagen›. Semantische Symbiosen im ‹Nibelungenlied›. In: Johannes Keller (Hg.), 11.  Pöchlarner Heldenliedgespräch. Mittelalterliche Heldenepik – Literatur der Leidenschaften. Wien 2011 (Philologica Germanica 33), S. 39–59. 214. Hucker, Bernd Ulrich: drîer künege man – königliche Hofämter im ‹Nibelungenlied›. In: Jürgen Breuer (Hg.), Ze Lorse bi dem münster. Das ‹Nibelungenlied› (Handschrift  C). Literarische Innovation und politische Zeitgeschichte. München 2006, S. 103–122. 215. Hutter, Verena: Der schöne Schein. Kriemhild und Blanscheflur. In: Karen McConnell (Hg.), Er ist ein wol gevriunder man. Essays in honor of Ernst S. Dick on the occasion of his eightieth birthday. Hildesheim 2009, S. 203–212. 216. Imbusch, Peter: Macht und Herrschaft. In: Hermann Korte (Hg.), Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie. 8., durchgesehene Aufl. Wiesbaden 2010, S. 163–184. 217. Imbusch, Peter: Macht und Herrschaft in der wissenschaftlichen Kontroverse. In: Ders. (Hg.), Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaftliche Theorien und Konzeptionen. 2., aktual. und erw. Aufl. Wiesbaden 2012, S. 9–35. 218. Ingold, Ingmar/​ Axel T. Paul: Multiple Legitimitäten. Zur Systematik des Legitimitätsbegriffs. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 100 (2014), H. 2, S. 243–262. 219. Jaeger, C. Stephen: Ennobling Love. In Search of a Lost Sensibility. Philadelphia 1999. 220. Jauẞ, Hans‑Robert: Theorie der Gattungen der Literatur des Mittelalters. In: Maurice Delbouille (Hg.), Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. 11 Bände. Bd. 1: Generalités. Heidelberg 1972, S. 103–138. Wiederabdruck in: Jauẞ, Hans‑Robert: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. München 1977, S. 327–358. 221. Jones, Martin H.: Vivianz, der reuige Schächer und das gute Sterben im ‹Willehalm› Wolframs von Eschenbach. In: Ralf Plate (Hg.), Mittelhochdeutsch. Beiträge zur Überlieferung, Sprache und Literatur. FS Kurt Gärtner zum 75. Geburtstag. Berlin u. a. 2011, S. 118–131. 222. Kaiser, Gert: Deutsche Heldenepik. In: Henning Krauss (Hg.), Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. 25 Bände. Bd. 7: Europäisches Hochmittelalter. Wiesbaden 1981, S. 181–216. 223. Kasten, Ingrid: Rennewarts Stange. ZfdA 96 (1977), S. 394–410. 224. Keller, Hildegard Elisabeth: Dietrich und sein Zagen im ‹Eckenlied› (E2). Figurenkonsistenz, Textkohärenz und Perspektive. JOWG 14 (2004), S. 55–75. 225. Kellner, Beate: Schwanenkinder  –  Schwanritter  –  Lohengrin. Wege mythischer Erzählungen. In: Udo Friedrich/​Bruno Quast (Hgg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/​New York 2004 (Trends in Medieval Philology 2), S. 131–154. 226. Kern, Manfred: Das Erzählen findet immer einen Weg. ‹Degeneration› als Überlebensstrategie der x‑haften Dietrichepik. In: Klaus Zatloukal (Hg.), 5.  Pöchlarner Heldenliedgespräch. Aventiure – Märchenhafte Dietrichepik. Wien 2000 (Philologica Germanica 22), S. 89–113. 227. Kerth, Sonja: Den armen Iudas er gebildot. Feindbilder im ‹Rolandslied› des Pfaffen Konrad und im ‹Willehalm› Wolframs von Eschenbach. Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 42 (1995), S. 32–37. 228. Kerth, Sonja/​Elisabeth Lienert: Nachnibelungische Heldenepik. Forschungsstand und Forschungsaufgaben. JOWG 12 (2000), S. 107–122. 229. Kerth, Sonja: Helden en mouvance. Zur Fassungsproblematik der ‹Virginal›. JOWG 14  (2004), S. 140–157. 230. Kerth, Sonja: «Auf Wiedersehen, Helden»? Überlegungen zum Heldentypus in der späten Heldendichtung. In: Ansgar Köb (Hg.), Emotion, Gewalt und Widerstand. Spannungsfelder zwischen geistlichem und weltlichem Leben in Mittelalter und Früher Neuzeit. Paderborn u. a. 2007, S. 31–45. 231. Kielpinski, Andrea: Der Heide Rennewart als Heilswerkzeug Gottes. Die laientheologischen Implikationen im ‹Willehalm› Wolframs von Eschenbach. Berlin 1991. 232. Kiening, Christian: Reflexion‑Narration. Wege zum ‹Willehalm› Wolframs von Eschenbach. Tübingen 1991 (Hermaea N. F. 63).

314

Forschungsliteratur 233. Kiening, Christian: Gewalt und Heiligkeit. In: Ders., Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt am Main 2003, S. 35–55. 234. Kiening, Christian: Arbeit am Absolutismus des Mythos. Mittelalterliche Supplemente zur biblischen Heilsgeschichte. In: Udo Friedrich/​Bruno Quast (Hgg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/​New York 2004 (Trends in Medieval Philology 2), S. 35–57. 235. Kiening, Christian: Unheilige Familien. Sinnmuster mittelalterlichen Erzählens. Würzburg 2009. 236. Klein, Dorothea: Strickers ‹Karl der Große› oder die Rückkehr zur geistlichen Verbindlichkeit. In: Joachim Heinzle (Hg.), Neue Wege der Mittelalter‑Philologie. Landshuter Kolloquium 1996. Berlin 1998 (Wolfram‑Studien 15), S. 299–323. 237. Klein, Hans‑Wilhelm: Motive der Totenklage Karls um Roland in altfranzösischer und mittelhochdeutscher Epik. In: Rudolf Schützeichel (Hg.), Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. FS Gerhart Lohse zum 65. Geburtstag. Bonn 1979, S. 108–120. 238. Kleppel, Christoph Alexander: vremder bluomen underscheit. Erzählen vom Fremden in Wolframs ‹Willehalm›. Frankfurt am Main 1996 (Mikrokosmos 45). 239. Klinger, Judith: Ohn‑Mächtiges Begehren. Zur emotionalen Dimension exzessiver manheit. In: Ingrid Kasten (Hg.), Machtvolle Gefühle. Berlin/​New York 2010 (Trends in Medieval Philology 24), S. 189–217. 240. Knaeble, Susanne: Im Zustand der Liminalität. Die Braut als Zentrum narrativer Verhandlungen von Gewalt, Sippenbindung und Herrschaft in der ‹Kudrun›. In: Hartwin Brandt (Hg.), Genus und Generatio. Rollenerwartungen und Rollenerfüllungen im Spannungsfeld der Geschlechter und Generationen in Antike und Mittelalter. Bamberg 2011 (Bamberger historische Studien 6), S. 295–314. 241. Knaeble, Susanne: Narrative Reflexionen des ‹Heidnischen› – perspektivisches Erzählen vom heiden Rennewart in Wolframs ‹Willehalm›. In: Dies./Silvan Wagner (Hgg.), Gott und die Heiden. Mittelalterliche Funktionen und Semantiken der Heiden. Berlin 2015, S. 41–62. 242. Knapp, Fritz Peter: Rennewart. Studien zu Gehalt und Gestalt des ‹Willehalm› Wolframs von Eschenbach. Wien 1970. 243. Knapp, Fritz Peter: Heilsgewißheit oder Resignation? Rennewarts Schicksal und der Schluß des ‹Willehalm›. DVjs 57 (1983), H. 4, S. 593–612. 244. Knapp, Fritz Peter: Gattungstheoretische Überlegungen zur sogenannten märchenhaften Dietrichepik. In: Ders., Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik 2. Zehn neue Studien und ein Vorwort. Heidelberg 2005 (Schriften der Philosophisch‑Historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 35), S. 39–60. 245. Knäpper, Titus: Arthurische Erzähltradition in den Fassungen der ‹Virginal›. Zur Intergenerik aventürehafter Dietrichepik. In: Cora Dietl/​Christoph Schanze/​Friedrich Wolfzettel (Hgg.), Gattungsinterferenzen. Der Artusroman im Dialog. Berlin 2016 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft 11), S. 33–56. 246. Koch, Elke: Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin/​New York 2006 (Trends in Medieval Philology 8). 247. Koch, Sebastian: Der Kampf des Helden gegen den egeslîchen trachen. Zur narrativen Funktion des Topos vom Drachenkampf in vergleichender Perspektive. Göppingen 2016 (GAG 783). 248. Kohnen, Rabea: uber des wilden meres fluot. Thalassographie und Meereslandschaft in den mittelhochdeutschen Brautwerbungserzählungen. In: Jens Pfeiffer (Hg.), ‹Landschaft› im Mittelalter? Augenschein und Literatur. Berlin 2011, S. 85–103. 249. Kon, Igor S.: Freundschaft. Geschichte und Sozialpsychologie der Freundschaft als soziale Institution und individuelle Beziehung. Reinbek bei Hamburg 1979. 250. Koselleck, Reinhart: Zur historisch‑politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: Harald Weinreich (Hg.), Positionen der Negativität. München 1975, S. 65–104. 251. Kragl, Florian: Als Schrift verbucht. Von Möglichkeit und Unmöglichkeit des deutschen Buchepos am Beispiel des ‹Jüngeren Sigenot›. In: Eckart Conrad Lutz (Hg.), Finden – gestalten – vermitteln.

315

Literaturverzeichnis Schreibprozesse und ihre Brechungen in der mittelalterlichen Überlieferung. Freiburger Colloquium 2010. Berlin 2012 (Wolfram‑Studien 22), S. 513–540. 252. Kragl, Florian: Heldenzeit. Interpretationen zur Dietrichepik des 13. bis 16. Jahrhunderts. Heidelberg 2013 (Studien zur historischen Poetik 12). 253. Kraẞ, Andreas: Achill und Patroclus. Freundschaft und Tod in den Trojanerromanen Benoîts de Sainte‑Maure, Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg. In: Wolfgang Haubrichs (Hg.), Traurige Helden. Stuttgart 1999, S. 66–97. 254. Kraẞ, Andreas: Männerfreundschaft. Bündnis und Begehren in Michel de Montaignes Essay ‹De l’amitié›. In: Ders./Alexandra Tischel (Hgg.), Bündnis und Begehren. Ein Symposium über die Liebe. Berlin 2002, S. 127–141. 255. Kraẞ, Andreas: Das erotische Dreieck. Homosoziales Begehren in einer mittelalterlichen Novelle. In: Ders. (Hg.), Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies). Frankfurt am Main 2003, S. 277–297. 256. Kraẞ, Andreas: Queer lesen. Literaturgeschichte und Queer Theory. In: Therese Frey Steffen (Hg.), Gender Studies. Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik. Würzburg 2004, S. 233–248. 257. Kraẞ, Andreas: Neidische Narren. Diskurse der Mißgunst im ‹Iwein› Hartmanns von Aue und im ‹Narrenschiff› Sebastian Brants. LiLi 138 (2005), S. 92–109. 258. Kraẞ, Andreas: Freundschaft als Passion. Zur Codierung von Intimität in mittelalterlichen Erzählungen. In: Sibylle Appuhn‑Radtke/​ Esther Pia Wipfler (Hgg.), Freundschaft. Motive und Bedeutungen. München 2006, S. 97–116. 259. Kraẞ, Andreas/​ Thomas Frank: Sündenbock und Opferlamm. Der Märtyrer in kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Dies. (Hgg.), Tinte und Blut. Politik, Erotik und Poetik des Martyriums. Frankfurt am Main 2008, S. 7–21. 260. Kraẞ, Andreas: Der Rivale. In: Eva Eẞlinger u. a. (Hgg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma. Berlin 2010, S. 225–237. 261. Kraẞ, Andreas: Die Farben der Trauer. Freundschaft als Passion im ‹Trojanerkrieg› Konrads von Würzburg. In: Monika Schausten (Hg.), Die Farben imaginierter Welten. Zur Kulturgeschichte ihrer Codierung in Literatur und Kunst vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Berlin 2012 (Literatur – Theorie – Geschichte 1), S. 227–240. 262. Kraẞ, Andreas: Ebenbildlichkeit. Symbolik der Freundschaft im ‹Engelhard› Konrads von Würzburg. In: Marina Münkler/​Antje Sablotny/​Matthias Standke (Hgg.), Freundschaftszeichen. Gesten, Gaben und Symbole von Freundschaft im Mittelalter. Heidelberg 2015 (Beihefte zum Euphorion 86), S. 251–269. 263. Kreft, Annelie: Perspektivenwechsel. ‹Willehalm›-Rezeption in historischem Konzept. Ulrichs von dem Türlin ‹Arabel› und Ulrichs von Türheim ‹Rennewart›. Heidelberg 2014 (Studien zur historischen Poetik 16). 264. Kroll, Thomas: Herrschaft und Glaube. Max Weber und die Rolle irrationaler Elemente in einer Soziologie der Herrschaft. Erwägen, Wissen, Ethik 17 (2006), H. 1, S. 124–126. 265. Krolla, Nadine: Erzählen in der Bewährungsprobe. Studien zur Interpretation und Kontextualisierung der Karlsdichtung ‹Morant und Galie›. Berlin 2012 (Philologische Studien und Quellen 239). 266. Kropik, Cordula: Dietrich von Bern zwischen Minnelehre und Fürstenerziehung. Zur Interpretation der ‹Virginal› h. JOWG 14 (2004), S. 159–173. 267. Kropik, Cordula: Reflexionen des Geschichtlichen. Zur literarischen Konstituierung mittelhochdeutscher Heldenepik. Heidelberg 2008. 268. Krüger, Carolin: Freundschaft in der höfischen Epik um 1200. Diskurse von Nahbeziehungen. Berlin/​New York 2011. 269. Küsters, Urban: Klagefiguren. Vom höfischen Umgang mit der Trauer. In: Gert Kaiser (Hg.), An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung des hohen Mittelalters. München 1991 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 12), S. 9–75.

316

Forschungsliteratur 270. Lagier, Niklaus: Liebe als Medium der Transgression. Überlegungen zu Affektgemeinschaft und Habitusformung in Gottfrieds ‹Tristan› (mit einer Anm. zur ‹Hohelied›-Mystik). In: Alois Hahn/​ Gert Melville/​Werner Röcke (Hgg.), Norm und Krise von Kommunikation. Inszenierungen literarischer und sozialer Interaktion im Mittelalter. Münster 2006 (Geschichte, Forschung und Wissenschaft 24), S. 209–224. 271. Lange, Gunda S.: Nibelungische Intertextualität. Generationenbeziehungen und genealogische Strukturen in der Heldenepik des Spätmittelalters. Berlin/​New York 2009 (Trends in Medieval Philology 17). 272. Lenschen, Walter: Volker von Alzey. Musik als Überlebenskunst? In: Ulrich Müller (Hg.), Herrscher, Helden, Heilige. St. Gallen 1996 (Mittelalter‑Mythen 1), S. 389–401. 273. Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bände. Leipzig 1872–1878. 274. Lieb, Ludger: Kann denn Schenken Sünde sein? Liebesgaben in Literatur und Kunst von Ovid bis zum Gothaer Liebespaar (um 1480). In: Annette Kehnel (Hg.), Geist und Geld. Frankfurt am Main 2009 (Wirtschaft und Kultur im Gespräch 1), S. 185–218. 275. Lieb, Ludger: Gestörte Gabenliebe. Exemplarische Vorbemerkungen zu Teil I. In: Margreth Egidi u. a. (Hgg.), Liebesgaben: Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Berlin 2012 (Philologische Studien und Quellen 240), S. 35–39. 276. Liebertz‑Grün, Ursula: Das trauernde Geschlecht. Kriegerische Männlichkeit und Weiblichkeit im ‹Willehalm› Wolframs von Eschenbach. GRM 46 (1996), S. 383–405. 277. Lienert, Elisabeth: Geschichte und Erzählen. Studien zu Konrads von Würzburg ‹Trojanerkrieg›. Wiesbaden 1996 (Wissensliteratur im Mittelalter 22). 278. Lienert, Elisabeth: Heldenepik heute. Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 153 (2001), H. 2, S. 241–259. 279. Lienert, Elisabeth: Das ‹Rolandslied› des Pfaffen Konrad. In: Bremisches Jahrbuch 84 (2005) S. 78–96. 280. Lienert, Elisabeth: sô getriuwe und sô geminne. Über Helferfiguren in Gottfrieds ‹Tristan›. Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 243 (2006), S. 259–275. 281. Lienert, Elisabeth: Die historische Dietrichepik. Untersuchungen zu ‹Dietrichs  Flucht›, ‹Rabenschlacht›, ‹Alpharts Tod›. Berlin 2010 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 5). 282. Lienert, Elisabeth: Mittelhochdeutsche Heldenepik. Eine Einführung. Berlin 2015a. 283. Lienert, Elisabeth: Können Helden sich ändern? Starre Muster und flexibles Handeln im ‹Nibelungenlied›. ZfdA 144 (2015b), H. 4, S. 477–491. 284. Lofmark, Carl: Rennewart in Wolfram’s ‹Willehalm›. A Study of Wolfram von Eschenbach and his Sources. Cambridge 1972. 285. Loleit, Simone: Grenzgängerisch? Roland und Morolf in gefährlicher Mission. In: Ina Karg (Hg.), Europäisches Erbe des Mittelalters. Kulturelle Integration und Sinnvermittlung einst und jetzt. Ausgewählte Beiträge der Sektion II Europäisches Erbe des Deutschen Germanistentages 2010 in Freiburg. Göttingen 2011, S. 51–65. 286. Lugowski, Clemens: Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer. Frankfurt am Main ²1994 [Orig. 1932]. 287. Lukes, Steven: Macht und Herrschaft bei Weber, Marx, Foucault. In: Deutsche Gesellschaft für Soziologie (Hg.), Deutscher Soziologentag. Verhandlungen des Deutschen Soziologentages. Vorträge u. Diskussionen. Frankfurt am Main 1983, S. 106–119. 288. Malcher, Kay: Faszination von Gewalt. Rezeptionsästhetische Untersuchungen zu aventiurehafter Dietrichepik. Berlin 2009 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 60). 289. Maurer, Andrea: Herrschaft. Theoretische Perspektiven, Analysen und Forschungsfelder. Erwägen, Wissen, Ethik 17 (2006), S. 93–104. 290. Maurer, Andrea: Herrschaftsordnungen – Die Idee der rationalen Selbstorganisation freier Akteure von Hobbes über Weber zu Coleman. In: Peter Imbusch (Hg.), Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaftliche Theorien und Konzeptionen. 2., aktual. und erw. Aufl. Wiesbaden 2012, S. 357–378.

317

Literaturverzeichnis 291. Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Mit einem Vorwort von E. E. Evans‑Pritchard, übers. von Eva Moldenhauer. Frankfurt am Main 1990 [frz. Orig. 1923/1924]. 292. McConnell, Winder: Friendship, Self‑Delusion, and Friendlessness in the ‹Nibelungenlied›. Germanic Notes and Reviews 40 (2009), S. 5–21. 293. McGuire, Brian Patrick: Friendship and faith. Cistercian men, women, and their stories. 1100–1250. Aldershot Ashgate 2002. 294. Meisig, Konrad: Heldenepik – ein vergleichender Überblick. In: Ders. (Hg.), Ruhm und Unsterblichkeit. Heldenepik im Kulturvergleich. Wiesbaden 2010, S. 167–183. 295. Mergell, Bodo: Wolfram von Eschenbach und seine französischen Quellen. Tl. 1: Wolframs Willehalm. München 1936 (Forschungen zur deutschen Sprache und Dichtung 6). 296. Meyer, Matthias: Monologische und dialogische Männlichkeit in Rolandsliedversionen. In: Martin Baisch u. a. (Hgg.), Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts. Göttingen 2003 (Aventiuren 1), S. 25–50. 297. Mhamood, Ariane: Komik als Alternative. Parodistisches Erzählen zwischen Travestie und Kontrafaktur in den ‹Virginal›- und ‹Rosengarten›-Versionen sowie in ‹Biterolf und Dietleib›. Trier 2012 (Literatur, Imagination, Realität 47). 298. Michaelis, Beatrice: Von tarnkappe, nagele und gêr. Das ‹Nibelungenlied› oder: Was hat Sex mit Nation und Kanon zu tun? In: Anna Babka/​Susanne Hochreiter (Hgg.), Queer Reading in den Philologien. Modelle und Anwendungen. Göttingen 2008, S. 129–149. 299. Michaelis, Beatrice: ‹Die Sorge um sich› und die Sorge um den Freund  –  Zur Inszenierung von Freundschaft im ‹Prosalancelot›. In: Gerhard Krieger (Hg.), Verwandtschaft, Freundschaft, Bruderschaft. Soziale Lebens- und Kommunikationsformen im Mittelalter. Berlin 2009, S. 363–384. 300. Miedema, Nine R.: Einführung in das ‹Nibelungenlied›. Darmstadt 2011. 301. Mierke, Gesine: Der Sündenbock und andere Stellvertreter. Überlegungen zum Theorem der Interpassivität am Beispiel der ‹Crescentia›‑Erzählung, der ‹Sionpilger› und der Fabel ‹Vom Wolffe, Fuchß und Esel›. In: Silvan Wagner (Hg.), Interpassives Mittelalter? Interpassivität in mediävistischer Diskussion. Frankfurt am Main 2015 (Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft 34), S. 113–136. 302. Miklautsch, Lydia: Montierte Texte  –  hybride Helden. Zur Poetik der ‹Wolfdietrich›‑Dichtungen. Berlin 2005 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 36). 303. Millet, Victor: Zur Gattungskonstitution der deutschen ‹Heldenepik› im europäischen Kontext. In: Christa Bertelsmeier‑Kirst/​Christopher Young (Hgg.), Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200–1300. Cambridger Symposium 2001. Tübingen 2003, S. 139–153. 304. Mindnich, Ann: male bonding – Männerfreundschaft und ritterlicher Zweikampf in Bertholds von Holle ‹Demantin›. In: Martin Baisch u. a. (Hgg.), Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts. Göttingen 2003 (Aventiuren 1), S. 233–258. 305. Minis, Cola: Zur Sprache des Prozesses in ‹Morant inde Galie›. In: John Ole Askedal/​Cathrine Fabricius‑Hansen/​Kurt Erich Schöndorf (Hgg.), Gedenkschrift für Ingerid Dal. Tübingen 1988, S. 75–85. 306. Moessner, Victoria Joan: Rennewart. Wolfram von Eschenbach’s most controversial character. Studies in Medieval Culture 8/9 (1976), S. 75–83. 307. Mühlherr, Anna: Helden und Schwerter. Durchschlagkraft und agency in heldenepischem Zusammenhang. In: Victor Millet (Hg.), Narration and hero. Recounting the deeds of heroes in literature and art of the early medieval period. Berlin 2014, S. 259–275. 308. Müller, Hans‑Peter: Pierre Bourdieu. Eine systematische Einführung. Frankfurt am Main 2016². 309. Müller, Jan‑Dirk: Ratgeber und Wissende in heroischer Epik. Frühmittelalterliche Studien 27 (1993), S. 124–146. 310. Müller, Jan‑Dirk: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des ‹Nibelungenliedes›. Tübingen 1998. 311. Müller, Jan‑Dirk: Visualität, Geste, Schrift. Zu einem neuen Untersuchungsfeld der Mediävistik. ZfdPh 122 (2003), S. 118–132.

318

Forschungsliteratur 312. Müller, Jan‑Dirk: Verabschiedung des Mythos. Zur Hagen‑Episode der ‹Kudrun›. In: Udo Friedrich/​Bruno Quast (Hgg.), Die Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/​New York 2004 (Trends in Medieval Philology 2), S. 197–217. 313. Müller, Jan‑Dirk: Das ‹Nibelungenlied›. 3., neu bearb. und erw. Aufl. Berlin 2009 (Klassiker‑Lektüren 5). 314. Müller‑Funk, Wolfgang: Kulturtheorie. Einführung in Schlüsseltexte der Kulturwissenschaften. 2., erw. und bearb. Aufl. Tübingen/​Basel 2010. 315. Münkler, Marina: Nachantrag des Sonderforschungsbereichs 804: «Transzendenz und Gemeinsinn» für das Teilprojekt S: «Das Ethos der Freundschaft. Diskurse und Narrationen von Gemeinsinn in der mittelalterlichen Literatur». Dresden 2011 [unveröffentlicht]. 316. Münkler, Marina: Fortsetzungsantrag des Sonderforschungsbereichs 804: «Transzendenz und Gemeinsinn» für das Teilprojekt  S: «Das Ethos der Freundschaft. Diskurse und Narrationen von Gemeinsinn in der mittelalterlichen Literatur». Dresden 2013, S. 259–272 [unveröffentlicht]. 317. Münkler, Marina: Freundschaft als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium. In: Daniel Tyradellis (Hg.), Freundschaft. Das Buch. Berlin 2015, S. 78–87. 318. Münkler, Marina/​Matthias Standke: Freundschaftszeichen. Einige systematische Überlegungen zu Gesten, Gaben und Symbolen von Freundschaft. In: Marina Münkler/​Antje Sablotny/​Matthias Standke (Hgg.), Freundschaftszeichen. Gesten, Gaben und Symbole von Freundschaft im Mittelalter. Heidelberg 2015 (Beihefte zum Euphorion 86), S. 9–32. 319. Münkler, Marina: Transformationen der Freundschaftssemantik in Diskursen und literarischen Gattungen seit dem Mittelalter. In: Anne Betten/​Ulla Fix/​Berbeli Wanning (Hgg.), Handbuch Sprache in der Literatur. Berlin/​Boston 2017, S. 55–93. 320. Murray, Alan V.: Rumolt’s counsel and the concept of royal responsibility in the ‹Nibelungenlied› and the ‹Klage›. Forum for modern language studies 33 (1997), S. 142–155. 321. Nellmann, Eberhard: Pfaffe Konrad. Dichter des ‹Rolandslieds›. In: Kurt Ruh u. a. (Hgg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 5: Kochberger, Johannes  –  ‹Marien ABC›. 2., völlig neu bearb. Aufl. Berlin/​New York 1985, Sp. 115–131. 322. Neumann, Hans: Rennewart. Paradoxe Schnittstelle zwischen Christen und Heiden. Rennewarts Verschwinden als Versuch einer Publikumsmanipulation? Transcarpathica 10 (2011), S. 131–146. 323. Nolte, Theodor: Das ‹Kudrunepos›  –  ein Frauenroman? Tübingen 1985 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 38). 324. Nolte, Theodor: Der Begriff und das Motiv des Freundes in der Geschichte der deutschen Sprache und älteren Literatur. Frühmittelalterliche Studien 24 (1990), S. 126–144. 325. Nowakowski, Nina: Alternativen der Vergeltung. Rache, Revanche und die Logik des Wiedererzählens in schwankhaften mittelhochdeutschen Kurzerzählungen. In: Martin Baisch/​Evamaria Freienhofer/​Eva Lieberich (Hgg.), Rache – Zorn – Neid. Zur Faszination negativer Emotionen in der Kultur und Literatur des Mittelalters. Göttingen 2014 (Aventiuren 8), S. 73–100. 326. Ohlenroth, Derk: Zum Streit der Königinnen (‹Nibelungenlied› 14. Aventiure). Die Strophenfolge von 824–831. In: Gisela Vollmann‑Profe (Hg.), Impulse und Resonanzen. Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug. Tübingen 2007, S. 71–87. 327. Ohly, Friedrich: Die Legende von Karl und Roland. In: Ders., Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung. Hg. von Uwe Ruberg. Stuttgart 1995, S. 35–76. 328. Oschema, Klaus: Freundschaft und Nähe im spätmittelalterlichen Burgund. Studien zum Spannungsfeld von Emotion und Institution. Köln/​Weimar/​Wien 2006. 329. Oschema, Klaus: Riskantes Vertrauen. Zur Unterscheidung von Freund und Schmeichler im späten Mittelalter. In: Gerhard Krieger (Hg.), Verwandtschaft, Freundschaft, Bruderschaft. Soziale Lebensund Kommunikationsformen im Mittelalter. Berlin 2009, S. 510–532. 330. Oswald, Marion: Gabe und Gewalt. Studien zur Logik und Poetik der Gabe in der frühhöfischen Erzählliteratur. Göttingen 2004 (Historische Semantik 7). 331. Palaver, Wolfgang: René Girards mimetische Theorie im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen. 2., korrigierte Aufl. Wien 2004.

319

Literaturverzeichnis 332. Panzer, Friedrich: Das ‹Nibelungenlied›. Entstehung und Gestalt. Stuttgart 1955. 333. Peperkamp, Ben: Nv hort van Roharde, dem fellen Reynarde. Over Morant und Galie en ‹Reinaert I›. Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde 107 (1991), S. 208–234. 334. Peschel‑Rentsch, Dietmar: Schwarze Pädagogik – oder Dietrichs Lernfahrt: er weste umb âventiure niht. Hildebrants Erziehungsprogramm und seine Wirkung in der ‹Virginal›. In: Ders., Pferdemänner. Sieben Essays über Sozialisation und ihre Wirkungen in mittelalterlicher Literatur. Erlangen u. a. 1998 (Erlanger Studien 117), S. 176–202. 335. Pohlmann, Friedrich: Heinrich Popitz – Konturen seines Denkens und Werks. Berliner Journal für Soziologie 15 (2005), H. 1, S. 5–25. 336. Popitz, Heinrich: Phänomene der Macht. 2., stark erw. Aufl. Tübingen 1992. 337. Popitz, Heinrich: Realitätsverlust in Gruppen. In: Wolfgang Jäger/​Hans‑Otto Mühleisen/​ Hans‑Joachim Veen (Hgg.), Republik und Dritte Welt. FS Dieter Oberndörfer zum 65. Geburtstag. Paderborn u. a. 1994, S. 313–321. 338. Propp, Vladimir: Morphologie des Märchens. Hg. von Karl Eimermacher. Frankfurt  am  Main 1975 [russ. Orig. 1928]. 339. Przybilski, Martin: sippe und geslehte. Verwandtschaft als Deutungsmuster im ‹Willehalm› Wolframs von Eschenbach. Wiesbaden 2000 (Imagines medii aevi 4). 340. Przybilski, Martin: Die Selbstvergessenheit des Kriegers. Rennewart in Wolframs ‹Willehalm›. In: Ulrich Ernst/​Klaus Ridder (Hgg.), Kunst und Erinnerung. Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters. Köln u. a. 2003 (Ordo 8), S. 201–222. 341. Przybilski, Martin: Ein Leib wie ein Fels oder: Von der Schönheit des Blutvergießens. Gewalt und Ästhetik im ‹Rolandslied› des Pfaffen Konrad. Euphorion 101 (2007), S. 255–272. 342. Quast, Bruno: Anthropologie des Opfers. Beobachtungen zur Konstitution frühneuzeitlicher ‹Verfolgungstexte› am Beispiel des ‹Endinger Judenspiels›. ZfG 7 (1998), S. 349–360. 343. Rehbein, Boike/​Gernot Saalmann: Feld (champ). In: Gerhard Fröhlich (Hg.), Bourdieu‑Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/​Weimar 2009, S. 99–103. 344. Reuvekamp, Silvia: Sprichwort und Sentenz im narrativen Kontext. Ein Beitrag zur Poetik des höfischen Romans. Berlin/​New York 2007. 345. Rexroth, Frank/​Johannes F. K. Schmidt: Freundschaft und Verwandtschaft. Zur Theorie zweier Beziehungssysteme. In: Johannes F. K. Schmidt u. a. (Hgg.), Freundschaft und Verwandtschaft. Zur Unterscheidung und Verflechtung zweier Beziehungssysteme. Konstanz 2007, S. 7–13. 346. Röcke, Werner: Provokation und Ritual. Das Spiel mit der Gewalt und die soziale Funktion des Seneschall Keie im arthurischen Roman. In: Peter von Moos (Hg.), Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne. Köln u. a. 2001 (Norm und Struktur 15), S. 343–361. 347. Röcke, Werner: Spielräume der Interpretation. Sündenbockrituale und Inszenierungen der Gewaltvermeidung in Literatur und Kultur des Mittelalters. In: Adalbert Erhart (Hg.), Grenzen der Germanistik: Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart 2004, S. 287–307. 348. Rohr, Günther W.: Willehalms maßlose Trauer. LiLi 114 (1999), S. 42–65. 349. Rollnik‑Manke, Tatjana: Personenkonstellationen in mittelhochdeutschen Heldenepen. Untersuchungen zum ‹Nibelungenlied›, zur ‹Kudrun› und zu den historischen Dietrich‑Epen. Frankfurt am Main u. a. 2000 (Europäische Hochschulschriften I,1764). 350. Ruh, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. 2. Tl.: Reinhart Fuchs, Lanzelet, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg. Berlin 1980 (Grundlagen der Germanistik 25). 351. Rushing, James A.: Arofel’s Death and the Question of Willehalm’s Guilt. Journal of English and Germanic Philology 94 (1995), H. 4, S. 469–482. 352. Saalmann, Gernot: «Entwurf einer Theorie der Praxis». In: Gerhard Fröhlich (Hg.), Bourdieu‑Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/​Weimar 2009, S. 272–279. 353. Sahm, Heike: Gabe und Gegengabe, Raub und Vergeltung. Reziprozität in der mittelhochdeutschen Epik. ZfdPh 133 (2014), H. 3, S. 419–438.

320

Forschungsliteratur 354. Schausten, Monika: Agonales Schenken. Rüdigers Gaben im ‹Nibelungenlied›. In: Anna Mühlherr u. a. (Hgg.), Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne. Berlin/​ Boston 2016 (Literatur – Theorie – Geschichte 9), S. 83–109. 355. Schlechtweg‑Jahn, Ralf: Zwischen Todesangst und Gottvertrauen. Angst als ‹dritter Raum› im ‹Rolandslied›. In: Susanne Knaeble (Hg.), Gott und Tod. Tod und Sterben in der höfischen Kultur des Mittelalters. Berlin 2011, 193–211. 356. Schmid‑Cadalbert, Christian: Der ‹Ortnit AW› als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur. Bern 1985 (Bibliotheca Germanica 28). 357. Schmitt, Kerstin: Kriemhild und Kudrun. Zur intertextuellen Beziehung von ‹Nibelungenlied› und ‹Kudrun›. In: Klaus Zatloukal (Hg.), 6. Pöchlarner Heldenliedgespräch. 800 Jahre ‹Nibelungenlied›. Rückblick – Einblick – Ausblick. Wien 2001 (Philologica Germanica 23), S. 155–178. 358. Schmitt, Kerstin: Poetik der Montage. Figurenkonzeption und Intertextualität in der ‹Kudrun›. Berlin 2002 (Philologische Studien und Quellen 174). 359. Schmitt, Kerstin: ‹Men’s Studies› in der Mediävistik. Legitimationsstrategien von Männlichkeit und Herrschaft in der ‹Kudrun›. In: Margaret Littler u. a. (Hgg.), Geschlechterforschung und Literaturwissenschaft. Akten des X.  Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000 ‹Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21.  Jahrhundert›. Bern u. a. 2003a, S. 131–138. 360. Schmitt, Kerstin: Alte Kämpen, junge Ritter. Heroische Männlichkeitsentwürfe in der ‹Kudrun›. In: Klaus Zatloukal (Hg.), 7. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Mittelhochdeutsche Heldendichtung außerhalb des Nibelungen- und Dietrichkreises (‹Kudrun›, ‹Ortnit›, ‹Waltharius›, ‹Wolfdietriche›). Wien 2003b (Philologica Germanica 25), S. 191–212. 361. Schönrich, Gerhard: Zeichenhandeln, Untersuchungen zum Begriff einer semiotischen Vernunft im Ausgang von Ch. S. Peirce. Frankfurt am Main 1990. 362. Schröder, Werner: Ahnungsvolle Nähe. Gyburg und Rennewart in Wolframs ‹Willehalm›. In: Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. 1949–1989. Stuttgart 1989, S. 269–281. Wiederabdruck in: Ders., Kleinere Schriften. Bd. 7: 1958–1994. Klassisch, nachklassisch, unklassisch: Deutsche Dichtung im 13. Jahrhundert und danach. Stuttgart 1995, S. 224–236. 363. Schulz, Monika: «Was bedürfen wir nu rede mêre?» Bemerkungen zur Gerichtsszene im ‹Rolandslied›. ABÄG 50 (1998), S. 47–72. 364. Schulze, Ursula: Gunther sî mîn herre, und ich sî sîn man. Bedeutung und Deutung der Standeslüge und die Interpretierbarkeit des ‹Nibelungenliedes›. ZfdA 126 (1997), S. 32–52. 365. Schützeichel, Rudolf: Althochdeutsches Wörterbuch. 7., durchges. und verbesserte Aufl. Berlin 2012. 366. Schwab, Ute: Tötende Töne. Zur Fiedelmetaphorik im ‹Nibelungenlied›. In: Carola Gottzmann/​ Herbert Kolb (Hgg.), Geist und Zeit. Wirkungen des Mittelalters in Literatur und Sprache. FS Roswitha Wisniewski. Frankfurt am Main 1991, S. 77–122. 367. Sedgwick, Eve Kosofsky: Between Men. English literature and male homosocial desire. New York 1985. 368. von  See, Klaus: Was ist Heldendichtung? In: Ders., Edda, Saga, Skaldendichtung. Aufsätze zur skandinavischen Literatur des Mittelalters. Heidelberg 1981, S. 154–193 [zuerst 1978]. 369. Seeber, Stefan: Ein vriuntlîchez zornelîn. Zur Freundschaftsdarstellung in den deutschen Tristanbearbeitungen des 12. und 13. Jahrhunderts. Oxford German Studies 36 (2007), H. 2, S. 268–283. 370. Seeber, Stefan: Totlachen. Komik und Ironie im ‹Nibelungenlied› und in der ‹Kudrun›. PBB 136 (2014), H. 2, S. 230–253. 371. Seidel, Kerstin/​Peter Schuster: Freundschaft und Verwandtschaft in historischer Perspektive. In: Johannes F. K. Schmidt u. a. (Hgg.), Freundschaft und Verwandtschaft. Zur Unterscheidung und Verflechtung zweier Beziehungssysteme. Konstanz 2007, S. 145–156. 372. Seidl, Stephanie: Narrative Ungleichheiten. Heiden und Christen, Helden und Heilige in der ‹Chanson de Roland› und im ‹Rolandslied› des Pfaffen Konrad. In: Uta Goerlitz (Hg.), Integration oder Desintegration? Heiden und Christen im Mittelalter. Stuttgart 2009, S. 46–64.

321

Literaturverzeichnis 373. Siebert, Barbara: Rezeption und Produktion. Bezugssysteme in der ‹Kudrun›. Göppingen 1988 (GAG 491). 374. Siebert, Barbara: Hildeburg im ‹Kudrun›‑Epos. Die bedrohte Existenz der ledigen Frau. In: Ingrid Bennewitz (Hg.), Der Frauwen Buoch. Versuche zu einer feministischen Mediävistik. Göppingen 1989 (GAG 517), S. 213–226. 375. Sievert, Heike: Karl und Galie im Wechsel. In: Thomas Cramer u. a. (Hgg.), Frauenlieder. Cantigas de amigo. Stuttgart 2000, S. 151–161. 376. Sievert, Heike: Der fröhliche Text. Zur Erzählkonzeption von ‹Karl  und  Galie›. In: Angelika Lehmann‑Benz/​Ulrike Zellmann/​Urban Küsters (Hgg.), Schnittpunkte. Deutsch‑Niederländische Literaturbeziehungen im späten Mittelalter. Münster u. a. 2003 (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 5), S. 109–123. 377. Signori, Gabriela: Über Liebe, Ehe und Freundschaft. Bemerkungen zur Aristoteles‑Rezeption im ausgehenden 13. und 14. Jahrhundert. Mittellateinisches Jahrbuch 38 (2003), H. 2, S. 249–266. 378. Speckenbach, Klaus: Freundesliebe und Frauenliebe im ‹Prosa‑Lancelot›. In: Wolfgang Haubrichs u. a. (Hgg.), Vox Sermo Res. Beiträge zur Sprachreflexion, Literatur- und Sprachgeschichte vom Mittelalter bis zur Neuzeit. FS Uwe Ruberg. Stuttgart 2001, S. 131–142. 379. Standke, Matthias: Freundschaft in Ordensgründerlegenden. Funktionen legendarischen Erzählens Boston 2017 (Quellen und in lateinischen und volkssprachlichen Texten des Mittelalters. Berlin/​ Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 91). 380. Starkey, Kathryn: Die Androhung der Unordnung. Inszenierung, Macht und Verhandlung in Wolframs ‹Willehalm›. ZfdPh 121 (2002), H. 3, S. 321–341. 381. Stevens, Sylvia: Family in Wolfram von Eschenbach’s ‹Willehalm›. mîner mâge triwe ist mir wol kuont. New York u. a. 1997 (Studies on themes and motif in literature 18). 382. Stierle, Karlheinz: Die Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit. In: Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.), Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters. Heidelberg 1980, S. 253–313. 383. Strohschneider, Peter: Kreuzzugslegitimität  –  Schonungsgebot  –  Selbstreflexivität. Über die Begegnung mit den fremden Heiden im ‹Willehalm› Wolframs von Eschenbach. In: Stefan Krimm/​ Dieter Zerlin (Hgg.), Die Begegnung mit dem Islamischen Kulturraum in Geschichte und Gegenwart. Acta Hohenschwangau 1991. München 1992, S. 23–42. 384. Strohschneider, Peter: Einfache Regeln  –  Komplexe Strukturen. Ein strukturanalytisches Experiment zum ‹Nibelungenlied›. In: Wolfgang Harms/​Jan‑Dirk Müller (Hgg.), Mediävistische Komparatistik. FS Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag. Stuttgart u. a. 1997, S. 43–75. 385. Strohschneider, Peter: Inzest‑Heiligkeit. Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns ‹Gregorius›. In: Christoph Huber/​Burghart Wachinger/​Hans‑Joachim Ziegeler (Hgg.), Geistliches in weltlicher, Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Tübingen 2000, S. 105–133. 386. Strohschneider, Peter: Opfergewalt und Königsheil. Historische Anthropologie monarchischer Herrschaft in der ‹Ecbasis captivi›. In: Jahn Bernhard (Hg.), Tierepik und Tierallegorese. Studien zur Poetologie und historischen Anthropologie vormoderner Literatur. Frankfurt am Main u. a. 2004 (Mikrokosmos 71), S. 15–52. 387. Strohschneider, Peter: Fremde in der Vormoderne. Über Negierbarkeitsverluste und Unbekanntheitsgewinne. In: Anja Becker (Hg.), Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8), S. 387–416. 388. Suard, François: La Chanson de Geste. Paris ²2003. 389. Thelen, Lynn: Hagen’s shield. The 37th Âventiure revisited. Journal of English and Germanic philology 96 (1997), H. 3, S. 385–402. 390. Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch‑germanischen Mittelalters. 14  Bände. Bd. 4: Freund  –  gewöhnen. Begründet von Samuel Singer, hg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin/​New York 1997. 391. Theẞeling, Denise: Freundschaft als Problemlösungsstrategie? Sozial hierarchisierte Nahbeziehungen in Gottfrieds von Straßburg ‹Tristan›. In: Marina Münkler/​Antje Sablotny/​Matthias Standke

322

Forschungsliteratur (Hgg.), Freundschaftszeichen. Gesten, Gaben und Symbole von Freundschaft im Mittelalter. Heidelberg 2015 (Beihefte zum Euphorion 86), S. 125–152. 392. Theẞeling, Denise: Idealer Gefährte  – Prekäre Gemeinschaft. Pluralisation von Freundschaftssemantiken in höfischen Narrationen des hohen Mittelalters [Druck in Vorbereitung]. 393. Treiber, Hubert: Macht  –  ein soziologischer Grundbegriff. In: Peter Gostmann/​Peter‑Ulrich Merz‑Benz (Hgg.), Macht und Herrschaft. Zur Revision zweier soziologischer Grundbegriffe. Wiesbaden 2007, S. 49–62. 394. Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti‑Struktur. Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Sylvia M. Schomburg‑Scherff. Frankfurt am Main/​New York 2005 [engl. Orig. 1969]. 395. Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Aus dem Englischen von Sylvia M. Schomburg‑Scherff. Frankfurt am Main/​New York 1989 [engl. Orig. 1982]. 396. Tyrell, Hartmann: Gewalt, Zwang und die Institutionalisierung von Herrschaft. Versuch einer Neuinterpretation von Max Webers Herrschaftsbegriff. In: Rosemarie Pohlmann (Hg.), Person und Institution. Helmut Schelsky gewidmet. Würzburg 1980, S. 59–92. 397. Ukena‑Best, Elke: Du solt ouch hin ze Spanje varn: got wil dich dâ mit êren. Providentia Dei, Herrschertum und poetische Konzeption im ‹Karl› des Stricker mit Blick auf das althochdeutsche ‹Ludwigslied›. Leuvense bijdragen 89 (2000), H. 3/4, S. 327–362. 398. Vetter, Angila: Textgeschichte(n). Retextualisierungsstrategien und Sinnproduktion in Sammelverbünden. Der ‹Willehalm› in kontextueller Lektüre. Berlin 2018 (Philologische Studien und Quellen 268). 399. Virchow, Corinna: Der Freund, der rehte erkennet wer ich bin. Zu Konrads von Würzburg ‹Engelhard› und einer Freundschaft in gespiegelter Vorbildlichkeit. Oxford German Studies 36 (2007), H. 2, S. 284–305. 400. Wagner, Gerhard: Herrschaft und soziales Handeln  –  eine Notiz zur Systematisierung zweier soziologischer Grundbegriffe. In: Peter Gostmann/Peter‑Ulrich Merz‑Benz (Hgg.), Macht und Herrschaft. Zur Revision zweier soziologischer Grundbegriffe. Wiesbaden 2007, S. 19–26. 401. Wapnewski, Peter: Rüdigers Schild. Zur 37. Aventiure des ‹Nibelungenliedes›. Euphorion 54 (1960), S. 380–400. Wiederabdruck in: Heinz Rupp (Hg.), ‹Nibelungenlied› und ‹Kudrun›. Darmstadt 1976 (Wege der Forschung  54), S. 134–178 und in: Fritz Wagner (Hg.), Zuschreibungen. Gesammelte Schriften. Hildesheim 1994, S. 41–71. 402. Wapnewski, Peter: Hagen. Ein Gegenspieler? In: Thomas Cramer (Hg.), Gegenspieler. München 1993, S. 62–73. 403. Warning, Rainer: Formen narrativer Identitätskonstruktion im höfischen Roman. In: Jean Frappier/​ Reinhold R. Grimm (Hgg.), Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. 25  Bände. Bd. 4,1: Le roman jusqu’à la fin du XIIIe siècle. Heidelberg 1978, S. 25–59. 404. Weber, Max: Gesamtausgabe. Hg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Tübingen 1984 ff. 405. Weber, Max: Gesamtausgabe. Abteilung 1: Schriften und Reden. Bd. 12: Verstehende Soziologie und Werturteilsfreiheit. Schriften und Reden 1908–1917. Hg. von Johannes Weiẞ in Zusammenarbeit mit Sabine Frommer. Tübingen 2018. 406. Weber, Max: Gesamtausgabe. Abteilung 1: Schriften und Reden. Bd. 17: Wissenschaft als Beruf 1917/1919, Politik als Beruf 1919. Hg. von Wolfgang J. Mommsen/​Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Birgitt Morgenbrod. Tübingen 1992. 407. Weber, Max: Gesamtausgabe. Abteilung 1: Schriften und Reden. Bd. 22: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass. Teilband 4: Herrschaft. Hg. von Edith Hanke in Zusammenarbeit mit Thomas Kroll. Tübingen 2005. 408. Weber, Max: Gesamtausgabe. Abteilung 1: Schriften und Reden. Bd. 23: Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Unvollendet 1919–1920. Hg. von Knut Borchardt/​Edith Hanke/​Wolfgang Schluchter. Tübingen 2013. 409. Wenzel, Franziska: Die Geschichte des gefährlichen Brautvaters. Ein strukturalistisch‑anthropologisches Experiment zur ‹Kudrun›. Euphorion 99 (2005), H. 3, S. 395–423.

323

Literaturverzeichnis 410. Wenzel, Horst: Augenzeugenschaft und episches Erzählen. Visualisierungsstrategien im ‹Nibelungenlied›. In: Klaus Zatloukal (Hg.), 6. Pöchlarner Heldenliedgespräch. 800 Jahre ‹Nibelungenlied›. Rückblick – Einblick – Ausblick. Wien 2001 (Philologica Germanica 23), S. 215–234. 411. Wenzel, Horst: Waffen, Saitenspiel und Schrift. Musicologica Austriaca 22 (2003), S. 53–70. 412. Weydt, Harald: Falken und Tauben im ‹Nibelungenlied›. Wie lässt man es zum Kampf kommen, wenn man keine Macht hat? In: Nine Miedema/​Franz Hundsnurscher (Hgg.), Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik. Tübingen 2007 (Beiträge zur Dialogforschung 36), S. 223–245. 413. Winst, Silke: Amicus  und  Amelius. Kriegerfreundschaft und Gewalt in mittelalterlicher Erzähltradition. Berlin 2009a (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 57). 414. Winst, Silke: Freundespaar und Bruderpaar. Verflechtungen von Freundschaft und Verwandtschaft in spätmittelalterlichen Bearbeitungen von ‹Valentin  und  Namelos› und ‹Amicus  und  Amelius›. In: Gerhard Krieger (Hg.), Verwandtschaft, Freundschaft, Bruderschaft. Soziale Lebens- und Kommunikationsformen im Mittelalter. Berlin 2009b, S. 427–439. 415. Witthöft, Christiane: Selbst‑loses Vertrauen? Probleme der Stellvertretung im ‹Engelhard› Konrads von Würzburg und im ‹Nibelungenlied›. Frühmittelalterliche Studien 39 (2006), S. 387–409. 416. Wolf, Alois: Die Verschriftlichung der Nibelungensage und die französisch‑deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter. Montfort 32 (1980), H. 3/4, S. 227/53–245/71. 417. Wolf, Alois: Heldensage und Epos. Zur Konstituierung einer mittelalterlichen volkssprachlichen Gattung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tübingen 1995 (ScriptOralia 5). 418. Wolf, Alois: Zur Frage nach dem mittelalterlich‑volkssprachlichen Epos. Chansons de geste und ‹Nibelungenlied›. In: Susanne Friede/​Dorothea Kullmann (Hgg.), Das Potenzial des Epos. Die altfranzösische Chanson de geste im europäischen Kontext. Heidelberg 2012 (Beiheft zur GRM 44), S. 75–96. 419. Wolf, Gerhard: Verborgene Kalküle. Pierre Bourdieus «Reflexive Anthropologie», Erecs und Iweins Habitus und die Conditio humana des Interpreten. In: Ursula Peters (Hg.), Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur, 1150–1450. Stuttgart 2001, S. 215–244. 420. Wyss, Ulrich: Heldentat und Abenteuer. In: Klaus Zatloukal (Hg.), 5.  Pöchlarner Heldenliedgespräch. Aventiure – Märchenhafte Dietrichepik. Wien 2000 (Philologica Germanica 22), S. 9–21. 421. Yeandle, David N.: Rennewart’s Shame. An Aspect of the Characterization of Wolfram’s Ambivalent Hero. In: Martin H. Jones/​Timothy MacFarland (Hgg.), Fifteen essays. Rochester/​NY u. a. 2002, S. 167–190. 422. Young, Christopher: Narrativische Perspektiven in Wolframs ‹Willehalm›. Figuren, Erzähler, Sinngebungsprozeß. Tübingen 2000 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 104). 423. Zandt, Gertrud: Zu ‹Karl und Galie› 1–39 und 35–18. ABÄG 11 (1976), S. 173–176. 424. Zatloukal, Klaus: Zwischen Kaiser und Fürst. Zur Erzählstrategie des ‹Rolandslied›‑Dichters. In: Christa Agnes Tuczay/​Ulrike Hirhager/​Karin Lichtblau (Hgg.), Ir sult sprechen willekomen. Grenzenlose Mediävistik. FS Helmut Birkhan zum 60. Geburtstag. Bern u. a. 1998, S. 714–733. 425. Ziegler, Vickie L.: Trial by Fire and Battle in Medieval German Literature. Rochester/​NY 2004. 426. Zimmermann, Julia: Überlegungen zur buchepischen Komposition der Jugendgeschichten von Siegfried und Hagen im ‹Nibelungenlied›. In: Christine Pfau (Hg.), Deutsche Literatur und Sprache im Donauraum. Internationale Mediävistische Konferenz, Olmütz 5.5.–7.5.2005. Olomouc 2006, S. 63–85. 427. Zimmermann, Julia: Eifersucht. Konfigurationen triangulären Begehrens im ‹Trojanerkrieg› Konrads von Würzburg. Poetica 49 (2017/2018), S. 64–91. 428. Zips, Manfred: Dietrichs Aventiure‑Fahrten als Grenzbereich spätheroischer mittelhochdeutscher Heldendarstellung. In: Egon Kühebacher (Hg.), Deutsche Heldenepik in Tirol. Bozen 1979 (Schriftenreihe des Südtiroler Kulturinstitutes 7), S. 135–171.

324

Register Autoren- und Werkregister Aelred von Rievaulx 16 ‹Alpharts Tod› 188 f. ‹Amicus und Amelius› 16, 297 Aristoteles 16 – ‹Nikomachische Ethik› 22 ‹Bataille d’Aliscans› 13, 51, 118–‍159, 298 Berthold von Holle – ‹Demantin› 92 Bertrand de Bar-sur-Aube – ‹Girart de Vienne› 7 ‹Biterolf und Dietleib› 3, 9, 14, 192 ‹Buch vom heiligen Wilhelm› 139 ‹Chanson de Roland› 13, 51, 82–‍‍121, 135, 158, 197, 203, 209 f., 232, 241, 245, 253, 259, 278, 292 f., 297–‍299, 301 Cicero 16 – ‹Laelius de amicitia› 22 ‹Darmstädter Gedicht über das Weltende› 53 ‹Dietrichs Flucht› 188, 192 ‹Dietrich und Wenezlan› 188 ‹Dukus Horant› 3 ‹Eckenlied› 3, 6, 9, 14, 186, 188, 192, 209, 217, 220 Felix Fabri – ‹Sionpilger› 120 ‹Geste de Guillaume› 139 ‹Goldemar› 188, 192 Gottfried von Straßburg – ‹Tristan› 16 f., 19, 23, 79, 86, 163, 284, 294 Hartmann von Aue – ‹Erec› 4, 16 f., 92, 161, 286 – ‹Iwein› 16 f., 19, 79, 163, 294 – ‹Gregorius› 148 Heinrich von München – ‹Weltchronik› 139 Heinrich von Veldeke – ‹Eneas› 16 f., 163 ‹Herzog Ernst› 17

‹Hildebrandslied› 3 Jacob van Maerlant – ‹Spieghel historiael› 53 Jörg Wickram – ‹Galmy› 159 ‹Karel ende Elegast› 53 ‹Karlmeinet› 13, 53 f., 84, 99 ‹Karl und Galie› 9, 11, 13, 50 f., 53–‍82, 84 f., 89, 98, 114 f., 119, 158 f., 163 f., 168, 178, 182–‍184, 187, 209 f., 232, 234, 237, 241, 245, 249, 253–‍256, 278, 292–‍294, 296, 298–‍301 ‹König Rother› 66, 178 Konrad von Würzburg – ‹Engelhard› 16 – ‹Trojanerkrieg› 16, 19, 139 ‹Kudrun› 3, 5, 9 f., 12 f., 51, 66, 129, 161–‍186, 249, 254, 278, 285, 292–‍296, 298–‍301 ‹Laurin› 177, 188, 192, 233 ‹Lieder-Edda› 287 ‹Loher und Maller› 287 ‹Mainet› 9, 54, 63, 66, 76, 78, 80 Miguel de Cervantes – ‹Don Quijote› 100 ‹Morant und Galie› 9, 11, 13, 50 f., 53–‍82, 84 f., 115, 119, 158, 163 f., 232, 237, 278, 292, 294, 298 ‹Münchner Oswald› 66, 178 ‹Nibelungenlied› 1, 3–‍7, 9–15, 17–‍19, 24, 26, 30, 51, 53, 161–‍163, 170, 172, 178, 183 f., 186, 192, 235–‍289, 291–‍294, 296–‍301 ‹Orendel› 66, 178 ‹Ortnit/Wolfdietrich› 3, 6, 9, 14, 66, 178 ‹Ospinel› 53 Pfaffe Konrad – ‹Rolandslied› 7, 9, 11–‍14, 17, 51, 53, 81–‍121, 123, 128, 134–‍136, 139, 145, 155, 158, 186, 197, 203, 209 f., 232, 241, 245 f., 253 f., 259, 278, 292 f., 297–‍299, 301

325

Register ‹Prosa-Lancelot› 16, 87, 157 ‹Rabenschlacht› 188, 258 ‹Rosengarten› 14, 186–‍238, 241, 271, 292, 298, 301 ‹Salman und Morolf› 9, 66, 178 Sebastian Brant – ‹Narrenschiff› 91 ‹Sigenot› 6, 9, 12, 14, 186–‍238, 241, 271, 292, 298, 301 Der Stricker – ‹Karl der Große› 9, 11–‍13, 17, 51, 81–‍121, 135, 138, 158, 197, 203, 209 f., 232, 241, 245, 253, 259, 278, 284, 292 f., 297–‍299, 301 ‹Thidrekssaga› 287 Thomas von Aquin 16 Ulrich von dem Türlin – ‹Arabel› 123 f., 138 – ‹Diu Crône› 157

Ulrich von Türheim – ‹Rennewart› 14, 126, 130, 132 f., 138–‍140 Vinzenz von Beauvais – ‹Speculum historiale› 53 ‹Virginal› 14, 186–‍238, 241, 271, 285, 292, 298, 301 ‹Waltharius› 273 f., 283, ‹Walther und Hildegund› 273, 283 ‹Wiener Oswald› 66, 178 Wirnt von Grafenberg – ‹Wigalois› 19 ‹Wolfdietrich› → ‹Ortnit/Wolfdietrich› Wolfram von Eschenbach – ‹Parzival› 17, 87, 286 – ‹Willehalm› 7, 9, 11–‍14, 17, 51, 82, 113, 117–‍159, 186, 197, 209 f., 237 f., 241, 254, 259, 278, 287, 298 f., 301 ‹Wunderer› 188, 192, 209, 220

Personenregister Aufgenommen sind Autoren der Forschungsliteratur, die für die Theoriebildung im Rahmen der Untersuchung besondere Bedeutung haben.

Deleuze, Gilles 238, 288

Popitz, Heinrich 3, 25, 29, 31–‍39, 49 f., 55, 59–‍65, 69–‍73, 78–‍80, 85, 89 f., 99, 108–‍110, 115, 119, 124–‍126, 132–‍137, 164 f., 168 f., 172, 197, 202–‍209, 231 f., 238, 243–‍247, 250, 253, 255–‍257, 261–‍263, 265–‍271, 296 f., 300

Elias, Norbert 31, 33

Sedgwick, Eve Kosofsky 86 f., 92, 100, 143

Foucault, Michel 31

Tönnies, Ferdinand 28 Turner, Victor 51, 164, 180–‍185, 238, 244, 298

Bachtin, Michail M. 87, 177, 285–‍287 Bourdieu, Pierre 31, 35, 51, 70, 191, 198, 209–‍234, 241, 245, 298

van Gennep, Arnold 51, 164, 180–‍185 Girard, René 51, 85–‍88, 91–‍101, 113, 119 f., 127, 129, 140–‍157, 238, 297 f., Habermas, Jürgen 2 Koselleck, Reinhart 84, 143 Lugowski, Clemens 158 f., 177, 179, 220, 222, 257, 267, 259, 268 Luhmann, Niklas 23 f., 197, 210, 242

326

Weber, Max 1–‍3, 26–‍29, 31–‍34, 38–‍50, 55, 57–‍59, 75 f., 80–‍82, 87, 101–‍104, 115–‍119, 121–‍124, 127–‍132, 137, 164, 170, 174, 184 f., 191, 194, 196, 231–‍236, 238–‍240, 248, 255, 259, 262, 264–‍266, 268, 295–‍297



Sach- und Begriffsregister

Sach- und Begriffsregister Nicht verzeichnet sind durch den Fokus der Studie bedingt allgegenwärtige Themen, Konzepte und Begriffe wie Macht, Herrschaft, Freundschaft, Heldenepik, Chanson de geste(-Adaptation), Erzähler und Erzählen, Figur, Held, Kampf, (Heiden-)Krieg etc. Agonalität 14, 17, 26–‍28, 51, 83, 85–‍101, 137, 186–‍235, 239–‍242, 245 f., 250–‍253, 276, 278, 280, 288, 292, 294 f., 297 Ambiguität → Inkohärenz Ambivalenz → Inkohärenz Antagonismus → Agonalität Brautwerbung(-sschema) 6, 8, 24, 54, 66, 161 f., 170, 174 f., 177–‍179, 239–‍241, 243 f., 246 f., 250, 252, 256, 259, 292–‍294, 296, 298 f., 301 Brautwerbungsepik → Spielmannsdichtung close reading 2, 50 f., 191, 237 Confidente → Zofe Dietrichepik – aventiurehafte 3–‍5, 7, 9–‍11, 14, 17, 51, 186–‍235, 298, 301 – historische 3, 6, 9, 186, 188 f., 192, 209, 225, 235 discours 25, 109, 124, 131, 134, 136, 139, 146, 163, 171–‍173, 175 f., 188, 192, 195 f., 213, 241, 278, 285 Dynastie → Genealogie Erzieher 17, 22, 25 f., 46, 49, 56 f., 67, 124, 186–‍188, 192, 210, 213 f., 221, 224, 231 f., 292, 296 exile and return 54 Formelhaftigkeit 4–‍6, 21, 25, 54 f., 71, 76, 84, 161, 177, 189 → Brautwerbung(-sschema), exile and return Frauendienst → Minne Gabe 23, 60, 102, 236, 265, 268, 274–‍284, 288 Gefolgschaft 1, 5 f., 8, 16 f., 21, 24 f., 28, 39, 45–‍49, 56 f., 65, 68, 71, 79–‍82, 112, 116, 133, 137, 163–‍165, 184–‍188, 191, 194, 197 f., 203, 206 f., 209, 218, 224, 231–‍235, 237, 241, 249 f., 253, 256, 259, 262, 267, 280, 286, 288 f., 291, 293–‍296, 301 Genealogie 7 f., 80, 101, 175, 179, 184, 197, 244 Geschlecht → Genealogie Hagiografie 8–‍10, 17, 23, 43, 45 f., 80, 84, 93, 98–‍102, 106 f., 110–‍113, 115–‍117, 121, 125, 131, 153, 166, 184

Heiligkeit → Hagiografie histoire 24 f., 50, 67, 76, 78, 99, 114, 120, 122, 134, 136, 139, 146, 163, 170 f., 173–‍175, 178, 209, 257, 277, 284 f., 287, 300 Höfischer Roman 1, 3 f., 6, 8, 10–‍12, 17, 19, 21, 23 f., 54, 79, 86, 92, 157, 161, 163 f., 211 f., 214, 220, 277, 286, 292, 294 Hybridität 3 f., 6, 10 f., 54, 217 Inkohärenz 1, 11 f., 18, 20, 78, 84, 87, 91 f., 100, 127, 142, 147–‍149, 152, 157, 161, 177, 181, 212, 220 f., 230, 239, 260, 278, 287 Intertextualität 5, 9, 11–‍13, 117, 123, 128, 134–‍136, 155, 273 Kampfgenosse → Waffenbruder Klage 13, 28, 56, 58 f., 64, 67, 83 f., 88–‍91, 101–‍107, 109, 112  f., 116, 119, 121–‍123, 126, 130  f., 134–‍136, 141–‍143, 145, 153–‍158, 165, 173, 189, 194, 246 f., 249, 269, 275, 286, 292, 295, 298 Kriegerfreundschaft → Waffenbruder Krise 2, 11, 29–‍31, 45, 53, 55, 62 f., 66, 74 f., 77–‍79, 81 f., 114, 116 f., 119, 138, 140, 146, 148, 150, 154, 178, 183–‍185, 188, 210, 218, 232–‍234, 237, 271, 276, 280, 288 f., 291, 296–‍300 Konflikt → Agonalität Konfrontation → Agonalität Konkurrenz → Agonalität Legendarisches Erzählen → Hagiografie Lehensbindung → Vasallität Lehensfeudalismus → Vasallität Liebe → Minne Martyrium 9, 83, 90, 95 f., 98, 109, 111–‍113, 121, 131, 137, 141, 184 Minne 1, 8 f., 17 f., 20 f., 24–‍29, 54–‍56, 61–‍63, 65–‍81, 121, 137, 142, 148, 156 f., 170, 178 f., 187 f., 191, 195, 201 f., 205, 208, 213, 217, 220 f., 226, 245, 252, 274, 277 f., 281, 284, 288 f., 292, 295 Minnesang 10, 12, 18, 54 f., 68 Montage → Hybridität Netzwerk 16, 19, 22, 26, 162, 210, 231, 237, 253–‍276, 288, 301

327

Register Plot → histoire Ratgeber 22, 25 f., 33, 37, 56, 59, 67 f., 71–‍73, 78 f., 85, 97, 106, 124, 133, 139, 167–‍170, 177, 186–‍188, 192, 195 f., 199, 203 f., 209 f., 214, 222, 226–‍228, 240, 243, 249, 252, 263 f., 266, 285, 292 Redewendungen → Sentenzen Schematismus → Formelhaftigkeit Sentenzen 23, 241, 284–‍287 Sippe → Verwandtschaft Spielmannsepik 10, 66, 162 f., 177 f. Sprichwörter → Sentenzen Stereotypie → Formelhaftigkeit Trauer → Klage Vasallität 1, 8, 18–‍21, 25, 29–‍31, 46–‍49, 54, 67, 74, 79, 81 f., 98, 100 f., 103, 108, 110, 114 f., 124,

328

130, 136 f., 145, 163, 170, 178, 184, 194, 203, 231–‍234, 237 f., 241, 246 f., 250, 253–‍257, 259, 264, 272, 276, 283, 288 f., 291, 294, 296, 301 Verwandtschaft 1, 8, 17–‍22, 24–‍26, 28, 48, 67 f., 70 f., 73 f., 79, 81, 87, 101, 118, 120–‍124, 127, 131, 133, 135, 137, 142, 144, 146–‍148, 150, 152, 154, 156 f., 162 f., 174 f., 178 f., 181, 184–‍186, 188, 197, 210, 236, 238, 241, 247, 254 f., 258 f., 264, 272, 276, 287–‍289, 291, 294 f. Waffenbruder 13–‍15, 21, 26, 30 f., 55 f., 63–‍65, 85–‍101, 108, 163, 192 f., 195 f., 202 f., 209 f., 213, 239, 241, 252–‍274, 284, 292 f. Wunder → Hagiografie Zofe 17, 21 f., 25, 46, 67, 79, 294 Zyklizität 5, 7–‍9, 118, 139, 142