The Alps—a place for utopias over time In the eighteenth century the Alps became the subject of a new view of nature,
311 63 21MB
German Pages 224 Year 2018
Table of contents :
Inhaltsverzeichnis/ Zum Geleit
Die Alpen als Verstärker Städtischen Lebens
Einleitung
Das Sublime als Prinzip der Selbstüberschreitung: Können wir es erzeugen, ohne es zu verraten?
1. Die Entstehung des alpinen Erhabenen
2. Kristall, Kristallisation
3. Therapeutische Landschaft
4. Kampf um das Kind
5. Bewegung, Rausch und Schwindel
6. ‹Sublimieren› von 30.000 Betten
Resümee
Nachwort: Sublime Maschinen
Bildnachweis
Bibliografie
Personen- und Ortsregister
Dank
Sublime Visionen
Edition Angewandte Buchreihe der Universität für angewandte Kunst Wien Herausgegeben von Gerald Bast, Rektor
Susanne Stacher
Sublime Visionen
Architektur in den Alpen
Birkhäuser Basel
Impressum Autorin: Dr. phil. Mag. arch. Susanne Stacher
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten
Lektorat: Anna Mirfattahi, Esther Pirchner
Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des
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Umschlag Hauptbild: Monica Studer/Christoph van den Berg, Geröll, 2005.
Dieses Buch ist auch als E-Book (ISBN PDF 978-3-0356-1500-5) sowie
Alle anderen Abbildungen: siehe Umschlagklappe
in englischer Sprache (Sublime Visions, Architecture in the Alps, ISBN print 978-3-0356-1499-2, ISBN E-Book 978-3-0356-1506-7) und in
Die Autorin hat sich bemüht, alle Bildrechte einzuholen; falls trotz
französischer Sprache (Sublimes Visions, Architectures dans les Alpes,
intensiver Recherche nicht alle Inhaber von Bildrechten ausfindig
ISBN print 978-3-0356-1529-6, ISBN E-Book 978-3-0356-1504-3)
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ISBN 978-3-0356-1498-5 9 8 7 6 5 4 3 2 1 www.birkhauser.com
Inhaltsverzeichnis
10 Paul Scheerbart,
66
Glasarchitektur, 1914 6
Matthias Boeckl – Zum Geleit
8
Philippe Potié – Die Alpen als Verstärker städtischen Lebens
9
Einleitung
13
Baldine Saint Girons – Das Sublime als Prinzip der
11 Bruno Taut,
68
Alpine Architektur, 1919 12 Rudolf von Laban,
70
Der Tänzer im Kristall
Selbstüberschreitung
13 Kristallmystik im Bergfilm – Arnold Fanck,
19
1 Die Entstehung des alpinen Erhabenen
14 Leni Riefenstahl,
23
• Das Aufkommen des Naturerhabenen
28
• Berge als Freiheitssymbol
29
• Wilde Berge als Szenerie, wilde Berge zur Erforschung
36
• Künstliche Berge. Vom Sublimen zum Pittoresken
37
• Die Städter erobern die Alpen. Das Erhabene als
40
• Die körperliche Dimension des ‹Sublimen›
42
1
43
2
44
3
72
Der Heilige Berg, 1926
Leitmotiv der Alpenrezeption
46 47
4 5 6
49
7
50
8
als kosmischer Weltbegriff, 1949–1981 16 Gerhard Garstenauer, kristalline Kugeln als
76
Skiliftstation in Sportgastein, 1972 17 Andrea Deplazes mit Studio Monte Rosa ETH Zürich,
77
Monte-Rosa-Hütte, 2009 3 Therapeutische Landschaft
Künstliche Berge
• ‹Der neue Mensch› und die heil(s)bringende Natur
als ‹temples de la Raison›, 1793
• Lebensphilosophie, Freikörperkultur und Wandervereine
84
Wolfgang Hagenauer, Badeschloss in Wildbad Gastein,
• Monte Verità, eine widersprüchliche Gegenwelt
87
1791–1794
• Sonne im Dienst der Gesundheit
90
Robert Barkers Panorama, Architekt Robert Mitchell,
• Die Architektur der Gesundheit
91
London, 1793(–1864)
18 Reformkolonie Monte Verità, Lufthütten und Flachdach,
94
Louis Daguerre, Diorama, 1822 ‹Schweizer Dorf›, Exposition Nationale Suisse, Genf 1896; Giovanni Segantini, Entwurf eines Engadin-Panoramas, Pariser Weltausstellung 1900 Dreamland, Coney Island, New York, 1904–1911
9
75
Revolution, 1794
Pariser Weltausstellung 1900
51
Das blaue Licht, 1932 15 Richard Buckminster Fuller, Geodätische Kugeln
‹La Montagne› als Freiheitskult der Französischen
Weltausstellungen 48
74
Valerio Olgiati mit Bonzi Verme Peterli, Entwurf Panorama Gornergrat, 2011
81
1900–1924 19 Rudolf von Laban,
96
Sonnentanz auf dem Monte Verità, 1917 20 Emil Fahrenkamp, Hotel Monte Verità –
98
Untergang und Neubeginn, 1927–1928 21 Juraj Neidhardt,
99
Entwürfe für ein Sanatorium in Davos, 1930 22 Die künstlichen Sonnen des Alpenstrandbads, Panhans
100
und Südbahnhotel, 1932–1933 23 Rudolf Gaberel, Umbau von Sanatorien in Davos, 1929,
102
1928–1939 55
2 Kristall, Kristallisation • Der Kristall in der Kulturgeschichte
57
• Der Kristall in der Kunsttheorie
59
• Das Kristalline in der Architektur – der Architekt als
62
• Die ‹Beseelung› der ‹lebendigen› Kristalle in Architektur,
utopischer Schöpfer Tanz und Film 64
• Kristallarchitektur in den Alpen, von den 1950er Jahren bis heute
24 Pol Abraham und Henry Jacques Le Même: Entwurf
104
Sanatorium Plaine-Joux, Plateau d’Assy, 1927–1929 25 Pol Abraham und Henry Jacques Le Même:
106
Kindersanatorium Roc des Fiz, Plateau d’Assy, 1932 26 Villaggio Sanatoriale di Sondalo,
108
1932–1940 27 A.Farde, P. Souzy, drehendes Solarium von Jean Saidman, 110 Aix-les-Bains 1930, Jamnagar 1934, Vallauris 1945 28 Peter Zumthor, Therme in Vals, 1990–1996
112
Matthias Boeckl – Zum Geleit
Leistungen. Die moderne Architektur hat diese Herausforderung angenommen, viele ihrer größten Geister befassen sich bis
Das vorliegende Buch entstand auf Basis einer Dissertation
heute mit dem Bauen in den Bergen. So entstanden wirk-
an der Universität für angewandte Kunst Wien und an der
mächtige Strukturen und kraftvolle Symbole.
École nationale supérieure d’architecture de Versailles. Mit
Susanne Stacher erschließt die Geschichte dieser Debatte auf
der Bergwelt widmet es sich einem ebenso zentralen wie
den folgenden Seiten mit dem immer noch effizienten Werk-
facettenreichen Schauplatz der Debatten moderner Architektur
zeug des Sublimen quer durch die unterschiedlichsten Diszipli-
und dokumentiert sie aus den Perspektiven verschiedener
nen, von der Philosophie über die Medizin bis zu den Künsten,
Disziplinen. Erstmals wurde der Themenkomplex damit –
unter denen die Architektur im Zentrum des Interesses steht.
angelehnt an die enzyklopädische Tradition der Aufklärung –
Das Buch ist aber auch ein Standardwerk zur Selbstbefragung
umfassend, in vielseitig verwendbarem Lehrbuchcharakter
und prekären Legitimation der Moderne vor dem Hintergrund
und mit der Expertise einer ausgebildeten Architektin an-
einer heute gefährdeten Umwelt, die unsere DNA seit Jahr-
schaulich aufbereitet.
tausenden wesentlich mitgeprägt hat.
Wie kam die Auseinandersetzung mit der alpinen Natur zu ihrer wichtigen Rolle in den Diskussionen der Moderne? Die
Matthias Boeckl, Professor an der Universität für angewandte
Antwort liegt in deren fundamental ambivalentem Charakter.
Kunst Wien
Einerseits waren die ungebändigten Naturgewalten mitten im Herzen des Kontinents, der die Moderne erfunden hat, für deren rationale Seite eine ungeheure Herausforderung: Wie die urbane Zivilisation sollte auch dieser potenziell gefährliche Naturraum erschlossen und großtechnisch kontrolliert werden. Andererseits löst aber das Erlebnis eben dieser Naturgewalten in uns schon seit je archaische, intensiv emotionale Reaktionen aus. Auch heute kann sich niemand, der aus dem Tal in wenigen Minuten mit der Seilbahn auf einen tausende Meter hohen, schneebedeckten Gipfel mit schroffen Abstürzen inmitten einer bis zum Horizont ausgedehnten Bergwelt fährt, diesen elementar anrührenden und zutiefst aufwühlenden Gefühlen entziehen. Deren Spuren finden sich in der gesamten europäischen Geistesgeschichte und wurden in der Aufklärung im komplexen Begriff des Sublimen gebündelt. Danach konnten die europäischen Alpen trotz fortschreitender Industrialisierung bis heute Reste ihrer Ursprünglichkeit erhalten. Die Bergwelt wandelte sich vom Angstszenario immer mehr zur kostbaren, magischen, heilkräftigen Ressource. So zeigte sie der Moderne bald ihre Grenzen auf: Technoide Zivilisation kann StammhirnFunktionen weder ersetzen noch künstlich generieren. Diese Spannung wirkte intensiv auf die künstlerische Produktion der Moderne, die ja stets ganze Lebenswelten entwerfen wollte. Im Gebirge steht sie auf dem Prüfstand: Sie muss die gewaltige, aber zugleich höchst verletzliche Ressource mit intelligenten Strategien auf eine Weise nutzbar machen, die sie nicht zerstört. Das erfordert höchste kreative und technische
6
115
4 Kampf um das Kind
117
• Frankreich. Unter direktem Blick des Être suprême
121
• Schweiz. Ihr Schüler der Natur, ihr kennt noch güldne Zeiten!
123
• Österreich. Baut Schulen auf dem Land, neben dem Stall, neben dem Misthaufen
124
• Gefügige Körper
125
• Italien. Eine ‹erhabene Politik des Friedens›
128
• Deutschland. Bruch in der ‹deutschen Kunst›
129
• Macht und Furcht, Kriterien des Erhabenen?
132
29 Adolf Loos, Schwarzwaldschule auf dem Semmering, 1911–1912
133
30 Henry Jacques Le Même, Kinderpension Chez Nous, Megève, Haute Savoie, 1935
134
31 Henry Jacques Le Même, Höhenschule und Internat Le Hameau, Megève 1933
135
32 Alfons Rocco und Jakob Licht, Jugendkurhaus Prasura,
136
33 Hannes Meyer, Kinderheim Mümliswil,
138
34 Vittorio Bonadé Bottino, Colonia montana Tina Nasi
Arosa, 1928 Jura, 1938–1939 Agnelli, Fiat, Sauze d’Oulx, 1937 140
35 Gino Levi-Montalcini, Colonia montana IX Maggio, Bardonecchia, 1937
142
36 Lois Welzenbacher, Kinderheim Ehlert, 1931–1933
42 Alfons Walde, Nacktheit und Erotik im Schnee 43 Charlotte Perriands entblößter Körper
5 Bewegung, Rausch und Schwindel
149
• Alpen als Versuchsgelände
150
• Bewegung
152
• Wintersporttourismus und die technische Erschließung
167
in der Berglandschaft 44 Charlotte Perriand und Pierre Jeanneret,
168
Biwak, 1938 45 Werner Tscholl,
170
Timmelsjoch – die Erfahrung, 2009 46 Zaha Hadid,
172
Sprungschanze auf dem Bergisel, 2002 6 ‹Sublimieren› von 30.000 Betten
175
• Die Konsumgesellschaft erobert die Alpen
178
• Bergstädte ex nihilo
180
• Schaudern durch Menschenhand
183
• Das Ende der Massentourismus-Euphorie • Intensität
184
47 Clemens Holzmeister, Hotel Drei Zinnen, Sexten,
186
Südtirol (1926), 1929–1934 48 Le Corbusier, Skistadt in Vars,
188
Hautes-Alpes, 1939 49 Marcel Breuer, Flaine,
190
Haute-Savoie, 1960–1977 50 Candilis, Prouvé, Perriand, Woods, Josic, Piot, Suzuki,
193
Skistadt Belleville, Savoie, 1962 51 Charlotte Perriand: La Cascade, Versant Sud, La Nova,
147
166
194
Les Arcs 1600 und 1800, 1968–1981 52 Jean Prouvé, Reiko Hayama, Serge Binotto, Hotel
197
Les Arcs 2000, 1970 53 Ross Lovegrove, Alpine Capsule, Dolomiten, 2008
198
der Alpen 153
• Bewegung und Dynamik in der Architektur
Resümee
201
154
• Rausch
Paolo Amaldi – Nachwort: Sublime Maschinen
203
Bildnachweis
205
Bibliografie
211
Personen- und Ortsregister
221
Dank
223
• Schwindel 157
37 Arnold Fanck, Der weiße Rausch, 1920–1931
158
38 Franz Baumann,
160
39 Maurice Braillard, Seilbahn auf den Mont Salève,
162
40 Gio Ponti, Albergo Sportivo Paradiso del Cevedale, 1935;
Nordkettenbahn, Tirol, 1928 1932 Seilbahnnetz in den Dolomiten, 1941–1942 165
41 Carlo Mollino, Seilbahn Plan Maison–Furggen, Val d’Aosta, 1950
Philippe Potié – Die Alpen als Verstärker städtischen Lebens
der Kinderkolonien, der Benthams Panoptikum wie eine blasse Skizze von zentralisierten Körpern und Seelen
Die Alpen, die Susanne Stacher uns entdecken lässt, sind ein
erscheinen lässt.Es liegt etwas Impulsives im Ausdruck dieser
‹sublimer Verstärker› des urbanen Lebens. Das Echo der tiefen
Bauten mit ihren triumphierenden Linien, die die Möglichkeit
Täler, das den Lärm und die Hektik der Stadt bei Weitem
einer gesteigerten ästhetischen Erfahrung eröffnen. Susanne
nicht dämpft, sondern vielmehr den Effekt verdoppelt, gibt
Stacher lädt uns ein, die Theorie des Erhabenen zu überden-
diesen – wie durch die Reflexion eines Vergrößerungsspiegels –
ken, um diese Kunst der Akzentuierung und kraftvollen
hallend wieder. Die Landschaft spielt hier keine beruhigende
Tonalitäten, die auf bewusst gewählten Gegensätzen beruhen,
Rolle; im Gegenteil, ihre ‹Übernatur› scheint einen ‹Überurba-
neu zu entfalten. Weil Natur und Kultur hier in starkem
nismus› zu stimulieren. Im Gegensatz zum Hameau de la Reine
Kontrast zueinander stehen, bieten die Alpen die Möglichkeit
(Marie Antoinettes pittoreskem Bauernhof in Versailles), der
der Entwicklung einer solchen Ausdruckskraft, indem hier die
den ländlichen Frieden – fern von der städtischen Aufregung –
Emanzipation von einem allzu zivilisierten Über-Ich frei statt-
nachahmt, überzeichnen die aus dem Nichts heraus entstan-
finden kann. Somit entsprechen die verschärften, radikalen
denen ‹Alpenstädte› die urbanen Leidenschaften bis ins Extrem.
Architekturen den in der Sonne frohlockenden bzw. gnaden-
Seltsamerweise wirken die Alpen hier als Projektbeschleuniger,
los exponierten Körpern.
als emotionale Verstärker. Es scheint, als ob diese außeror-
Das Durchqueren der Berge, zu dem uns die folgenden Seiten
dentliche Geografie ein Arbeiten an den Grenzen ermögliche,
einladen, fängt die Vitalität dieser Architekturen ein, die
ja sogar außerhalb der Grenzen. Das Erhabene, das bisher
das Projekt der Zivilisation neu verfassen, indem sie sich von
kulturell und philosophisch viel zu stark besetzt war, um als
jeglichem Zwang mit einer großen Geste der Emanzipation
Deutungsmöglichkeit herangezogen zu werden, findet auf
befreien, die gewaltig und libertär ist – sublim.
diesen Seiten eine originelle Aktualität, durch die sich seine Relevanz neu entdecken lässt.
Philippe Potié, Professor an der École nationale supérieure
Wie die Etymologie bereits erkennen lässt, bezieht sich dieser
d’architecture de Versailles
Begriff auf einen Kampf mit den Grenzen, was auch eine radikale Infragestellung jeglicher Nutzung und Form impliziert. Diese grundsätzliche Gefährdung deckt die Brutalität der Sehnsüchte, Gesellschaftsformen und architektonischen Formen auf – und es ist dabei bemerkenswert, dass die analysierten Objekte die Obsessionen eines Jahrhunderts als ‹Super-Architekturen› zu vergrößern scheinen: Von der ÜberMondänität des Grand Hotels des 19. Jahrhunderts und der Über-Hygiene der Sanatorien bis zur libertären Kooperative Monte Verità stimulieren die Alpen die Ausbreitung städtischer Leidenschaften, die hier völlig ungestört ausgelebt werden können. Auf die emotionalen und spirituellen Offenbarungen, die die Menschen mittels ihres Körpers entdecken, antworten die Architekturen verstärkend, im Superlativ: Die Auskragung von Breuers Hotel Le Flaine scheint den ruhenden Monolith der Kirche La Tourette ins Ungleichgewicht zu versetzen, während Gustav Gräser, nackt im Garten des Monte Verità, Thoreau in die Enge des Naturismus zu drängen scheint, tief hinein in den Wald von Walden (dem Ort des neuen Robinson Crusoe) … und ein paar Seiten weiter: Fiats Turm
Einleitung
8
Einleitung Als Architektin und begeisterte Alpenreisende stellte ich mir
Bewegung, wie er im Film ‹Der weiße Rausch – neue Wunder
oft die Frage, was es eigentlich genau sei, das uns immer
des Schneeschuhs› zum Ausdruck kommt; in den Skistädten
wieder in die Alpen zieht. Man sucht die Berge auf, um die
der 1960er Jahre machten sie als Massentouristen die Erfah-
teilweise intakten Dörfer und die verbleibende unberührte
rung einer perfekten Naturdomination; als abgekapselte Indivi-
Natur zu genießen, und zerstört eben diese allein schon
duen (oder als Paare) liegen sie in einer transparenten
durch die eigene Präsenz bzw. durch Bauten, die uns das
Glasblase, wie in Ross Lovegroves ‹Alpine Capsule› (2008).
Genießen dieser Welt überhaupt erst ermöglichen.
All diese Ansätze, vom Beginn des Tourismus an bis heute,
Trotz des Massentourismus und seiner imposanten Bauten,
können als grundlegend unterschiedlich angesehen werden –
die seit dem 19. Jahrhundert in den Alpen errichtet worden
aber verbindet sie nicht doch etwas? Haben sie nicht einen
sind, strömen die Menschen weiterhin in die Berge: ‹Mit circa
‹gemeinsamen Nenner›, eine Art DNA, die sie miteinander
fünf Millionen Ferienbetten, 500 Millionen Übernachtungen
teilen?
und 120 Millionen Feriengästen stellen die Alpen eine der
Bei näherer Betrachtung erscheinen mir diese Bauten und
größten Tourismusregionen der Welt dar. Hier spielt sich ein
Projekte nicht so sehr ‹neutral›: Das zugrunde liegende, meist
Viertel des Welttourismus ab.› (BauNetzWoche, 19. März 2015,
‹starke Konzept› ist mit einer genauen Vorstellung verknüpft,
in Bezug auf unsere Ausstellung ‹Dreamland Alps›. ) Was
wie unser Leben mit und in der ‹wilden Natur› auszusehen
suchen sie, was treibt sie an?
hat. Im Zuge dieser bewusst wachsenden Beziehung zu unserer
Wenn wir die unterschiedlichen Beweggründe untersuchen,
natürlichen Umgebung kristallisierte sich das Gebirge als
1
die Städter im Laufe der Geschichte motivierten, die Alpen
idealer Ort für die Projektion von Visionen heraus, die eine
aufzusuchen, ergibt sich ein auffallend heterogenes Bild, das
andere Daseinsform implizieren. Dazu kommt, dass diese in
in der Architektur unmittelbar zum Ausdruck kommt. In diesem
ihrer Abgeschlossenheit oft ‹insularen› Charakter haben und,
Buch werden Architekturen präsentiert, die von Städtern für
ähnlich wie geografische Inseln, als Territorium für Utopien
Städter in den Bergen konzipiert wurden: Im 19. Jahrhundert
prädestiniert scheinen. Auffallenderweise spielt dabei meist
wollten sie im Grandhotel die ersehnte Erfahrung des Erha-
eine gewisse Art von Grenzerfahrung mit, die Geist und Körper
benen machen; in der Reformkolonie Monte Verità strebten
gleichzeitig einbezieht. Allein schon durch die räumliche Tren-
sie die Utopie eines radikalen Neubeginns inmitten der ‹wilden
nung von Mensch und Natur stellt sich bereits auf essenzielle
Natur› an; mit den Sanatorien und Solarien suchten sie ein
Weise die Frage des Umgangs mit der Grenze.
ideales klimatisches Umfeld für die Heilung des Körpers auf;
Diese Frage führt uns zurück ins 18. und 19. Jahrhundert, als
in den 1920er und 1930er Jahren genossen sie den Rausch der
das Erhabene (lat., engl., franz. sublime) der ausschlaggebende
2
9
Einleitung
Faktor der Alpenrezeption war, wie sämtliche Bilder, Reise-
Gegenteil: Die Beispiele werden ergänzend nebeneinander-
berichte und philosophische Schriften belegen. Ihm liegt eine
gestellt und vergleichend betrachtet.
Mischung aus Faszination und Schrecken zugrunde – ein
Angesichts der großen Heterogenität der errichteten oder
transzendentaler, ja sogar ekstatischer Gefühlszustand, der
geplanten Architekturen, die seit den Anfängen des Tourismus
die Überschreitung der eigenen Grenzen impliziert. Dies ist
bis heute erdacht wurden, interessierte mich, welche Visionen
bereits in der etymologischen Wurzel des lateinischen Worts
den jeweiligen Projekten zugrunde liegen und inwieweit sie
‹sub limen› enthalten: ‹unter der Schwelle/dem Limit, bis an
mit dem Erhabenen zusammenhängen. Nachdem dieser Begriff
die Grenze, in Schwebe›.
die kulturhistorische Entwicklung der Alpen nachhaltig geprägt
Wird dieser Begriff nicht vergangenen Zeiten zugeordnet,
hat, müsste er sich in der spezifischen Architektur widerspie-
sondern als wesentlicher Bestandteil unseres Daseins ange-
geln. Doch auf welche Weise, und wie hat sich dieser Prozess
sehen, dann kann das Erhabene als Deutungsmöglichkeit der
im Laufe der Jahrhunderte gewandelt? Inwiefern hat das
Architektur in den Alpen herangezogen werden, die von
Erhabene unseren Bezug zu den Bergen verändert, und inwie-
Städtern für Städter entworfen wurde. Da diese Definition keine
weit haben philosophische Betrachtungsweisen der Natur ein
starre ist, sondern sich im Laufe der Geschichte zusehends
ideales Terrain für visionäre Bauten geschaffen, seit Bestehen
wandelte und stets neu interpretiert wurde, sind auch die unter-
des Tourismus bis in die Gegenwart?
schiedlichen Architekturen in den Alpen als Ausdruck dieses Wandels zu verstehen. Sie geben uns Aufschluss über die jewei-
Eine Architektur des Sublimen?
lige Geisteshaltung der verschiedenen Epochen und gesell-
Um die Beweggründe zu erklären, aus denen Städter in den
schaftlichen Phänomene.
Alpen diverse Architekturen errichtet haben, müssen wir zuerst das Phänomen der ‹Erfahrung des Erhabenen› näher unter-
Der spezifische Bezug zwischen dem Erhabenen
suchen. Im Zentrum der Betrachtung stehen die Natur, ihre
und den Alpen
kulturbedingte symbolische Bedeutung und die menschliche
Das Erhabene ist ein allgemeiner Begriff, der auf Ozeane,
Vorstellungskraft wie auch der Körper, der dabei eine nicht
Vulkane, Naturkatastrophen oder generell auf alle Berge
unwesentliche Rolle spielt.
angewandt werden kann; dennoch ist er in diversen philoso-
Zu begreifen, wie diese Faktoren miteinander verbunden
phischen Schriften meist mit den Alpen in Verbindung gebracht
sind, hilft die Theorie des französischen Psychoanalytikers
worden. Dies hat historische, geografische und politische
Jacques Lacan, der die Beziehung zwischen dem Realen,
Gründe: Historisch gesehen waren die Alpen wesentlich be-
dem Symbolischen und dem Imaginären als untrennbare
reister als etwa die Pyrenäen, die Karpaten oder der Apennin,
Einheit verstand.3 Ihm zufolge spielt das Imaginäre eine
denn sie lagen auf der Route der Grand Tour eines englischen
Schlüsselrolle für den Körper,4 denn es sei der erste Schritt
Aristokraten nach Italien.
zum körperlichen Genuss.5 Lacan veranschaulichte seine
Im Zuge der immer intensiveren Auseinandersetzung mit der
These mithilfe des Borromäischen Knotens, der mit seinen
‹wilden Natur› vollzog sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts
komplexen Verschlingungen die Struktur des Subjekts reprä-
ein Perspektivenwandel, aus den ‹schrecklichen› wurden
sentiere: Dieses ist aus drei einander durchaus beeinflussen-
‹erhabene› Berge. Kulturgeschichtlich standen die Alpen im
den und im jeweils anderen verankerten Einheiten zusammen-
Zentrum dieses Wandels und übernahmen ebenso in der
gesetzt, das Symbolische6 etwa ist sowohl im Imaginären als
Entwicklung des Tourismus eine gewisse Vorreiterrolle. Da ich
auch im Realen zu finden.
mich in erster Linie auf den primär phänomenologischen
Ausgehend von der Einheit des Realen, Symbolischen und
Charakter konzentriere – sowohl die Wahl des untersuchten
Imaginären stellt sich die Frage, ob neben der rein geistigen
Territoriums als auch die Auswahl der Projekte betreffend –,
Erfahrung des Erhabenen nicht auch eine ‹Physiologie des
sind andere Berggegenden Europas in dieser Untersuchung
Erhabenen› anzunehmen ist. Alles hier ist gleichermaßen
ausgeklammert. Das Stadium der Projekte – ob Bau oder
moralisch und körperlich: Im Erhabenen kommuniziert das
Plan oder Vision – ist in diesem Zusammenhang irrelevant, im
Reale mit dem Imaginären. Das Objekt an sich, etwa der
Einleitung
10
Ozean, ist nicht als erhaben qualifiziert, wie bereits Immanuel
unterscheidet sich die Architektur entsprechend. Sie passt
Kant feststellte: ‹Sein Anblick ist gräßlich›, und man müsse das
sich an die diversen Bedürfnisse an und generiert stets neue
‹Gemüt schon mit mancherlei Ideen angefüllt haben›, um
Typologien, die sich aus der körperlichen Nutzung heraus
solch ein Gefühl zu empfinden (wie in Kapitel 1 näher erläutert
ergeben. Die Wechselwirkung zwischen dem Realen, dem
wird). Das Erhabene setzt eine bestimmte Gemütslage, eine
Symbolischen und dem Imaginären (zwischen der Architektur
gedankliche Verfassung und eine gewisse Stimmung voraus,
und der Natur [das Reale], deren Symbolgehalt und unseren
und ist stets mit einer symbolischen Bedeutung verbunden
Sehnsüchten oder Visionen [das Imaginäre]) artikuliert sich in
(das ‹Höhere›, das ‹Absolute›, das ‹Nichterfassbare› …).
einer permanenten Interaktion mit dem Körper.
Mit der Vorstellungskraft (dem Imaginären) wirkt die materielle
Somit können wir unsere Fragestellung folgendermaßen aus-
Natur (der Körper) auf uns niederschmetternd und erhebend
richten: In welcher Weise verlagerte sich die geistige Dimension
zugleich ein, analog ausgedrückt nehmen wir eine Grenze
des Erhabenen sukzessive auf eine körperliche Grenzerfahrung,
und gleichzeitig die Möglichkeit wahr, diese zu überwinden
und wie kommt dieser Wandel in der Architektur zum Ausdruck?
(bei Burke durch das Gefühl, bei Kant durch die Vernunft,
Architektur interessiert uns sowohl als baulicher ‹Rahmen› einer
siehe Kapitel 1). Die ‹Sublimierung› ist somit ein Akt der
Naturbetrachtung als auch als ‹Umhüllung› eines schutzsu-
Selbstüberschreitung und besteht aus zwei Etappen: zuerst
chenden Körpers und nicht zuletzt als ‹dynamisches Dispositiv›
niedergeschmettert zu sein und dann sich darüber hinweg-
(Mittel), das den Körper mit der Natur konfrontiert. Architektur
zuheben (nicht im psychologischen, sondern im transzenden-
soll nicht nur als ‹Resultat› einer denkenden, sehnenden,
talen Sinn).
projektierenden Gesellschaft betrachtet werden, sondern auch
Das Erhabene ist schwer dingfest zu machen; ‹dieser Berg
als ‹Medium›, das auf uns Einfluss hat. Insofern ist Architektur
(oder diese Architektur) ist erhaben›, lässt sich nicht einfach
nicht nur Spiegel einer sich stets verändernden Gesellschaft,
behaupten, weil bei der Betrachtung eines Objekts immer
der uns Aufschluss über ihren Wandel gibt, sondern trägt auch
zwei Komponenten mitspielen, die subjektive Wahrnehmung
aktiv zu diesem Wandel bei.
7
(wie ich es sehe) und die objektive Symbolhaftigkeit (wofür es kulturgeschichtlich steht, mit welchen Inhalten es beladen ist).
Gliederung
Das Erhabene ist zugleich die Kondition und ihre Erfahrung,
Sechs übergreifende Themen zeigen auf, inwiefern das Erha-
das Prinzip und sein Effekt (nur durch seine Wirkung ist es er-
bene ‹deklinierbar› ist: ‹Die Entstehung des Erhabenen›, das
fahrbar, und nicht durch das Ding an sich). Es ist der Berg
einleitende Kapitel, stellt dar, wie das Erhabene unseren Blick
(mitsamt seinem kulturbedingten Symbolgehalt) und seine
auf die Alpen prägte und welchen Beitrag dazu die Architektur
Erfahrung (das Empfinden eines erregenden Schauderns, sofern
leistete.
man rezeptiv dafür ist). Um über das Erhabene sprechen zu
Im Kapitel ‹Kristall, Kristallisation› wird untersucht, wie sich
können, bedienen sich Philosophen (inklusive Kant) so manchen
das Prinzip des ‹Kristallinen› von der Kultur- und Kunstge-
Beispiels, und das zeigt, die dingliche Veranschaulichung des
schichte auf die Architektur übertrug und welche Rolle dabei
Erhabenen kann nicht vermieden werden.
das Naturerhabene als Basis für die transzendentalen Aspekte
Will man untersuchen, inwiefern Architektur dazu beiträgt,
des Kristallinen spielte.
die Erfahrung des Erhabenen auszulösen, muss man sich
Das darauf folgende Kapitel ‹Therapeutische Landschaft›
näher damit auseinandersetzen, auf welche Weise sie auf den
beleuchtet die Alpen als ideales Terrain der Genesung und die
Menschen einwirkt und Grenzerfahrungen generieren kann.
Entwicklung neuer architektonischer Typologien, die dem
Dabei spielen nicht nur der Geist und das Gemüt eine zentrale
Körper dienten. Welchen Bezug stellten die diversen Heilme-
Rolle, sondern auch der Körper: Schließlich ist er es, der die
thoden zur Sonne her, dem mythischen Symbol des Sublimen,
Berge durchreist, durchwandert oder erklimmt, er ist es, der
und wie kommt dies in der Architektur zum Ausdruck?
uns in Grenzsituationen bringt – und für ihn wird auch Archi-
Das Kapitel ‹Kampf um das Kind› ist den Kinderkolonien
tektur gebaut. Je nachdem, ob der Körper ein sitzend-betrach-
gewidmet, die unter verschiedenen politischen Vorzeichen in
tender, ein krank-liegender oder ein frenetisch-sportlicher ist,
den Alpen errichtet wurden. Mittels vergleichender Analyse
11
Einleitung
untersuche ich, inwiefern sich ideologische Programme
1 Die Ausstellung Dreamland Alps wurde von Susanne Stacher im
zwischen Reform und Diktatur in der Architektur ausdrücken.
Rahmen der Lehre an der École supérieure nationale d’architecture de
In diesem Kontext wird die Bedeutung des ‹Erhabenen›
Versailles (ENSA-V) zusammen mit ihren Studenten entwickelt.
hinterfragt, das sich der Faschismus für politische Zwecke
Seit 2013 ist sie in verschiedenen Orten der Alpen gezeigt worden
einverleibte.
(Innsbruck, Meran, München, Chambéry, Salzburg, Saalfelden, Bellinzona,
Das Kapitel ‹Bewegung, Rausch und Schwindel› thematisiert
St. Jean-de-la-Maurienne, Modane, Annecy).
eine andere ‹Erfahrung des Sublimen›, die durch den Körper
2 Im Zuge dieser Arbeit wird der leichteren Lesbarkeit wegen immer
vorzugsweise in den Alpen ausgelöst wird. Im Vordergrund
die männliche Form verwendet.
steht hier die rauschartige Grenzerfahrung, die durch diverse
3 Jacques Lacan, Konferenz RSI, 18. März 1975, 3f.
Architekturen ermöglicht und in Szene gesetzt wird.
4 Ibid.
Zuletzt geht ‹Sublimieren von 30.000 Betten› auf den Massen-
5 Ibid.
tourismus ab den 1960er Jahren näher ein. Im Zentrum steht
6 Das Symbolische steht bei Lacan für Sprache, Diskurs, aber auch für
die Frage, wie die Konsumgesellschaft, die eine makellose
Macht.
Domination der Natur ermöglicht, unser Verhältnis zu den
7 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), Reclam Nr. 1026,
Bergen verändert hat, und was in diesen ‹städtischen Trans-
Stuttgart 1963 [=Kant (1790) 1963], zweites Buch, ‹Analytik des
plantaten› noch vom ‹Sublimen› übriggeblieben ist.
Erhabenen›, § 23, ‹Übergang von dem Beurteilungsvermögen des Schönen zu dem des Erhabenen›, 136.
Dieses Buch soll bewusst machen, worin unsere heutigen Visionen in Bezug auf die Natur bestehen und wie sich diese konkret artikulieren. Anhand der alpinen Architektur wird aufgezeigt, wie sich das Verhältnis zwischen Mensch und Natur im Laufe der Geschichte gewandelt hat, um zum Nachdenken über Gegenwart und Zukunft anzuregen – denn schließlich sind die Ressourcen der Natur beschränkt und vom unentwegt zunehmenden Tourismus bedroht.
Einleitung
12
Baldine Saint Girons – Das Sublime als Prinzip der
Sprichwort deutet auf das Verschwinden dessen hin, was mit
Selbstüberschreitung: Können wir es erzeugen, ohne es zu
maximaler Intensität auftritt, oder auf den formellen Zusammen-
verraten?
bruch dessen, was aus einer Dynamik heraus entsteht, die jegliche Aneignung unmöglich macht: jian shan bu shi shan;
Über das ergreifende Brausen zu schreiben, in das uns das
jian shui bu shi shui, was folgendermaßen übersetzt werden
Erhabene versetzt, und darüber berichten zu wollen, bedeutet
kann: ‹Man sieht die Berge nicht mehr als Berge; man sieht
das nicht bereits, es zu verraten, es künstlich zu entkräften, es
das Wasser nicht mehr als Wasser.› Was ist geschehen? Das
seiner ursprünglichen Macht und gewaltigen Autonomie zu
Erhabene verweigert jegliche Verdinglichung von Transzen-
berauben? Wie kann man sich das Erhabene aneignen oder
denz; zugleich verlangt es eine Aufhebung, eine Auslöschung,
es in einem Werk erfassen? Wenn das Erhabene das ist, was
eine Überwindung des Egos. Es gibt keine Substanz mehr,
mich und die Dinge durchdringt und dabei meine Fassungs-
es gibt Ströme. So behauptet Rousseau, nur das wirklich zu
kraft übersteigt und mich überwältigt, dann bringt es mich
‹sehen›, woran er sich erinnern kann, und keinen anderen
auch dazu, meine inneren Grenzen nicht mehr als Limitierung
‹Geist› mehr zu haben, im sozialen und abstrakten Sinne des
zu erfahren, sondern im Gegenteil als etwas, was mein Sein
Wortes, ‹als in seinen Erinnerungen›.3
herausfordert und zu Beginn und Neubeginn drängt.
Das Schreiben sei dann nur eine Hilfslösung, eine dem Objekt
Die Problematik des Erhabenen liegt darin, dass es uns in ein
unwürdige Vermittlung. Auch wenn es dazu diene, ein Bild
Anderswo wirft, das sich – obwohl wir es manchmal wie eine
seines Autors zu präsentieren, das ihm noch mehr gleicht
Art Hölle empfinden – schließlich doch als ein ‹neues Para-
([man hätte] nie meinen Werth erkannt, ja nicht einmal geahnt4),
dies› erweist, das alpine Paradies, das Rousseau unvergess-
gibt es im Grunde etwas Serviles in diesem Prozess, worauf
lich beschreibt. Die unbelebten Dinge nehmen dann einen
Senancour als würdiger Nachfolger Rousseaus hinweist:
bislang unbekannten Raum in unserer Seele ein, die Eindrücke
‹Es wäre notwendig gewesen, zu schreiben, was ich fühlte;
werden stärker und Ideen ‹kommen nach ihrem, nicht nach
aber dann hätte ich bald aufgehört, auf eine außergewöhnliche
meinem Gefallen› . Einerseits ist das Selbst aufgehoben;
Art und Weise zu denken. In der Sorge, seine eigenen
andererseits wird der Ort ‹übernatürlich›, atopisch, nicht klas-
Gedanken zu behüten, um sie anderswo wiederzufinden,
sifizierbar. Es ist unmöglich, alles zu erfassen – im Moment
liegt etwas Unterwürfiges, und das ist die Sorge eines ab-
oder danach. Das Verlangen nach Erneuerung überwiegt die
hängigen Lebens. Es ist nicht im Augenblick der Energie, in
simple Lust am Bewahren.
dem wir uns um andere Zeiten und Menschen kümmern.›5
‹[Die Gedanken] überwältigen mich durch ihre Zahl und
‹Außergewöhnlich denken›, Zugang finden zum ‹Augenblick
Stärke. […] Woher Zeit nehmen, um sie zu schreiben? Sobald
der Energie›, was bedeutet das also? Es heißt nicht etwa,
ich ankam, dachte ich an ein gutes Essen, wenn ich wieder
ohne Bilder und Worte zu denken, sondern vielmehr mit Bildern
aufbrach, dachte ich nur an eine angenehme Wanderung.
und Worten zu denken, die mitreißend sind. Es heißt nicht,
Ich fühlte, daß ein neues Paradies meiner am Thore wartete;
sich mit konstanter Energie aufzufüllen, sondern eine höhere
ich dachte nur daran, so schnell als möglich hinein zu gehen.›
Energie zu verspüren, die uns durchströmt. Rousseau und
Es ist unmöglich, sich all dessen bewusst zu werden, was
Senancour haben unsere Sensibilität geprägt. So wie sie stellen
plötzlich zu sehen – ja, mehr noch als sehen, was als gewaltig
auch wir den Anspruch auf eine unmittelbare Beziehung zu
vorauszuahnen ist:
einer alpinen Landschaft, die nicht überbaut und der Sensi-
‹Der Horizont offenbart den Augen mehr Dinge, als er zu
bilität zugänglich ist, die uns die Offenheit verleiht, größer zu
enthalten scheint; [...] das Schauspiel hat etwas Magisches,
sein als wir selbst, und die eine außergewöhnliche Form des
Übernatürliches, das den Verstand und die Sinne erfreut; wir
Denkens ermöglicht.
vergessen alles, wir vergessen uns selbst, wir wissen nicht
Dennoch ist nichts weniger einsam und weniger mediatisiert
mehr, wo wir sind.›2
als unser heutiger Zugang zum Hochgebirge: Was ist von dieser
Existieren wir intensiver oder existieren wir gar nicht mehr?
wunderbaren ‹alpinen Freiheit› übriggeblieben, die in der
Sehen wir noch oder sehen wir nicht mehr? Ein chinesisches
zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts
1
13
Einleitung
so hervorgehoben wurde, als Alternative zu einem allzu
Mensch anstrebt›.6 Der Gipfel der sublimen Rede sei gemäß
sozialisierten, regulierten und standardisierten Leben? Ist das
Longinus das Echo eines großen Geistes: Das Sublime liege
Erhabene von Rousseau und Senancour schon veraltet, ja
zugleich in der natürlichen Fähigkeit des Rhetorikers und im
sogar vergangen?
Prinzip der Selbstentäußerung.
Vom poetischen und rhetorischen Erhabenen zum
Das Naturerhabene als Resultat der kosmologischen
Naturerhabenen
Demütigung
Um diese Frage zu beantworten, muss auf ein sehr altes
Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass die Frage des
Erhabenes zurückgegriffen werden: das poetisch und rhetorisch
Naturerhabenen tatsächlich erst gegen Ende des 17. Jahr-
Erhabene der griechisch-lateinischen Antike. Diese Referenz
hunderts entsteht, bei Burnet, Dennis oder Shaftesbury, im
hat einen doppelten Vorteil: Sie erlaubt uns zu verstehen,
Zusammenhang mit der galileisch-kopernikanischen Revolu-
dass das, was wir als ‹das Naturerhabene› bezeichnen, keine
tion. Der euklidische und ptolemäische Raum schien damals
neue Erscheinung ist, sondern sich vielmehr kulturgeschichtlich
ungenügend, falsch und zu eng zu sein; wir müssen ihn
entwickelt hat; sie zwingt uns, zwischen uns und dem Erhabenen
verlassen, um Räume zu öffnen, die den neuen Wissenschaften
‹Maschinen des Erhabenen› einzuführen, Prothesen jeglicher
entsprechen.
Art, wobei die ‹Natur› (im Sinne von allen Wesen und Dingen,
Dieses Bedürfnis wird unter anderem von Wissenschaftlern
die nicht vom Menschen geschaffen wurden) erst spät als
getragen, die, wie Horace-Bénédict de Saussure, aus der
wesentlich betrachtet wurde.
aktuellen Ansicht des Mont Blanc eine morphogenetische
Das Erhabene, das Longinus im 1. Jahrhundert nach Christus
Vorstellung machen (‹Ich betrachtete diese primitive, aus
suchte, ist bereits als Gipfel und höchster Punkt zu begreifen,
Einzelschichten zusammengesetzte Bergkette [...]. Ich sah,
aber als Gipfel und höchster Punkt der rhetorischen Rede.
wie sich diese Materien horizontal in konzentrischen Schichten
Die Idee der Höhe als physikalische Dimension, als Gegen-
strukturieren›7): Eine neue Raumzeitlichkeit offenbart sich der
satz zu Breite und Länge ist bereits im griechischen hupsos
Intuition, wie die Materialisierung eines wissenschaftlichen
vorhanden. Es kommt auch im lateinischen Adjektiv sublimis
Traums, der plötzlich aufkeimt.
zum Ausdruck, das abgeleitet ist von sub, das eine Aufwärts-
Aber dieses Bedürfnis ist auch dasjenige des einfachen
bewegung andeutet, und limis: ‹schräg› (schräg nach oben),
Mannes, der bestrebt ist, wenn schon nicht eine Illustration,
oder auch limen: ‹Grenze, Schwelle›. In beiden Fällen domi-
so doch zumindest eine Vision der Welt zu finden, die besser
nieren die Vertikale und die Idee der Höhe, die mit der Tiefe
mit der neuen Kosmologie übereinstimmt. Dies ist tatsächlich
assoziiert ist. Wir befinden uns aber im Register der Metapher;
nicht selbstverständlich, wie Theophile Gautier nachdrücklich
daher müssen wir aufpassen, dass wir das alte Erhabene nicht
betont:
ungebührlich naturalisieren, und dies aus zwei Gründen.
‹Wenn man in den Städten oder in der Ebene wohnt, vergisst
Einerseits kommt die Symbolik des Naturerhabenen bereits
man leicht, dass man sich durch einen nicht erfassbaren
bei Longinus zum Vorschein, aber nur in einem Nebensatz im
Raum bewegt, mitgerissen von einem Planeten, der mit einer
XXXV. Kapitel seines Brieftraktats: Nicht einfache Flüsse,
unheimlichen Geschwindigkeit um die Sonne kreist. [...] Die
sondern riesige Flüsse, wie der Nil oder die Donau, können
Daten der Astronomie, so präzise sie auch sein mögen,
das Erstaunen des Erhabenen auslösen; nicht einfache Berge,
scheinen dennoch beinahe schimärisch, und man wünscht
sondern Vulkane. Die endlose Weite, das Unvorhersehbare
sich fast, zum ptolemäischen System zurückzukehren, das
und das Schreckliche sind Grundprinzipien, deren Illustration
unseren kümmerlichen Innenraum zum Kern des Universums
durch die Naturelemente zweitrangig ist.
machte.›8
Obwohl Longinus ‹die unbesiegbare Liebe› lobt, ‹welche die
Kränkung oder kosmologische Demütigung – dieser erste
Natur uns für das Große und Göttliche eingeflößt hat›, stellt
und grundlegende Neubeginn des Subjekts, die Kränkung, die
er gleich darauf fest, dass ‹sogar die ganze Welt nicht aus-
Freud in Verbindung mit dem Fortschritt der Kultur erwähnt –
reicht für die Kontemplation und das Sinnieren, so wie es der
ist ein Schlag gegen die Eigenliebe, oder besser gesagt,
Einleitung
14
gegen den ‹sekundären Narzissmus›.9 Die Illusion von der
Warum ist die Frage des Erhabenen so schwierig zu beant-
Allmacht der Gedanken wird erschüttert. Es ist dieses Trauma,
worten? Ich denke, es ist darauf zurückzuführen, dass das
zu dem man zurückkehren muss, um die Tiefenwirkung der
Erhabene zugleich ein Prinzip und ein Mittel ist: Es ist das
erlittenen Revolution zu verstehen: Der Mensch hat in der Tat
Prinzip seiner selbst und seiner eigenen Hilfsmittel: der
nicht nur ‹seinen Platz in der Welt› verloren, sondern ‹er hat
Sprache, der Malerei, der Architektur, der Natur … Auf der
die Welt selbst verloren und musste nicht nur seine grund-
einen Seite steht das ursprüngliche Erhabene, das – mehr
legenden Konzepte, sondern den gesamten Rahmen seines
oder weniger mythische – Prinzip; auf der anderen Seite
Denkens verändern und ersetzen›, wie Alexandre Koyré
stehen die Mittel, alle ‹Maschinen›, die es ‹verwendet›, um
tiefsinnig schrieb.
einzutreten: die verschiedenen Diskurse (die poetischen,
Was bedeutet unter dieser Voraussetzung der ‹Rausch der
rhetorischen, historischen, philosophischen), die verschiedenen
Alpen›? Wenn Rousseau und Senancour, jeder auf seine
Künste (die Malerei, die Skulptur, die Architektur, die Musik)
Weise, das Erhabene der Schrift, ja sogar des Wortes infrage
und die verschiedenen Landschaften.
stellen, dann tun sie dies zugunsten eines neuen Erhabenen,
Die methodologische Schwierigkeit, die sich bei meinen
das man allzu schnell mit einer unsagbaren Hypostase ver-
Forschungen über das Erhabene ergeben hat, liegt in der
wechselt, indem man es mit einer autonomen Existenz gleich-
Tatsache, dass wir uns im Kreis bewegen: Das Erhabene
setzt. Dieses Erhabene ist jenes der Einsamkeit, auf die man
entsteht aus dem bereits Erhabenen heraus; es hat die
sich willig einlässt; es offenbart uns die Kraft unseres Körpers,
Eigenschaft, sich selbst anzuwenden. Das Erhabene produ-
der – mit Steilhängen konfrontiert – seine Müdigkeit überwindet,
ziert die Erfahrung und die Bedeutungen, die es aufkommen
ein starker Reiz, der vom Einatmen der frischen, kalten Luft
lassen. Wir müssen daher unterscheiden zwischen dem Erha-
ausgelöst wird; eine geistige Erregung, hervorgerufen durch
benen als Prinzip, das eine Erfahrung auslöst, und dem
die prachtvollen, stets wechselnden Anblicke und Aussichten.
Erhabenen als Erfahrung, welche die Entdeckung des Prinzips
Der zu erreichende Gipfel ist nicht mehr derjenige des Dis-
ermöglicht. Aber beide überschneiden sich; und das zweite
kurses: Es geht vielmehr darum, in sich selbst ein intensives
nimmt notwendigerweise am Erhabenen teil, ist also bereits
körperliches und geistiges Leben zu erwecken, ihm Sinn zu
möglicherweise selbst erhaben.
verleihen, eine zunehmend komplexe und künstliche Welt
Es generiert die Erfahrung und die Bedeutungen (Signifi-
hinter sich zu lassen, um in unserem Selbst etwas von der ur-
kanten), die es erfahrbar machen. Dies ist ganz klar bei
sprünglichen Einheit zu finden. ‹Nie habe ich so viel gedacht,
Longinus: Die erste Quelle des Erhabenen liegt nicht im all-
nie bin ich mir meines Daseins, meines Lebens so bewußt,
gemeinen Denken, sondern in der Kraft der Konzeption, die
nie, wenn ich so sagen darf, so ganz Ich gewesen, wie auf
wirkungsvoll ihr Ziel erreicht (to peri tas noeseis adrepêbolon).
[den Reisen], die ich allein und zu Fuß gemacht habe›, erklärt
Seine zweite Quelle ist nicht die Leidenschaft im Allgemeinen,
Rousseau, daran erinnernd, wie sehr der Fußmarsch – der
sondern die vehemente Leidenschaft, die Begeisterung aus-
lange und einsame in den Bergen oder in der Ebene – den
löst (sphodron kai enthousiastikon pathos). Was seine techni-
Gedanken Melodie und Rhythmus verleiht.
schen Quellen betrifft, so handelt es sich nicht um einfache
10
11
rhetorische Figuren, sondern um solche, die an sich bereits Das Erhabene als Prinzip und Wirkung
geglückt sind; nicht um den Ausdruck als solchen, sondern
Der Verweis auf die griechisch-lateinische Antike macht nicht
um den bereits edlen Ausdruck; nicht um die bloße Synthese
nur die Auswirkungen der kosmologischen Revolution auf die
oder Orchestrierung (synthesis), sondern um eine bereits
Erneuerung des Konzepts des Erhabenen verständlicher; er
würdevolle und hochstehende.
zwingt uns auch dazu, über das Verhältnis des Erhabenen zu
Wir müssen uns daher – der jeweiligen Art der Aktualisierung
seinen bevorzugten Mitteln und Vehikeln nachzudenken (die
entsprechend – ein ewiges Hin und Her zwischen einem prinzi-
beide nicht unfehlbar sind, sondern relativ belanglos) – kurzum,
piellen Gebrauch und einem differenzierteren und spezifischen
eine Reflexion über das Prinzip und die Wirkung des Erhabenen.
Gebrauch des Erhabenen vorstellen – hier und jetzt.
15
Einleitung
Das alpine architektonische Erhabene: plastische Erfindung |
Ein zweites Diptychon entsteht zwischen Friedrichs Wanderer
verbale Erfindung
und der überraschenden ‹Alpine Capsule› von Lovegrove,
In Susanne Stachers Buch gibt es drei Hauptdarsteller: das
die am Ende des Buches näher erläutert wird. Zwei Typen
Erhabene, die Alpen und ... die Architektur. Nicht die Literatur
eines ‹neuen Menschen› scheinen zu Beginn des 20. und
und die Philosophie, sondern die Architektur und die alpinen
21. Jahrhunderts aufzutauchen: Der eine erscheint vor uns in
Projekte, die zwischen dem 19. und dem 21. Jahrhundert
einem Spiegeleffekt, so wie ihn die Natur erschaffen hat:
entstanden sind, stehen hier im Zentrum, hervorragend un-
nackt, gänzlich ohne Kleidung und ohne Werkzeug; der
terstützt durch Zeichnungen, Malerei, Tanz, Fotografie oder
andere zeigt sich hingegen ausgerüstet, um die Welt zu
Film. Es geht darum, die Architektur der sozusagen ‹natürlichen
beherrschen. Wenn es bei diesen beiden neueren Beispielen
Architektur der Alpen› gegenüberzustellen, die erstere zuerst
ein Erhabenes gibt, dann ist es sicherlich nicht dasselbe wie
zu überragen und zunichtezumachen scheint. Letztendlich
das der Romantik, welches in erster Linie einen Betrachter
vermag sie diese aber dennoch manchmal herauszufordern,
betrifft, und nicht einen Akteur, der entweder naiv oder ganz
zu stimulieren und zu inspirieren. Diese beiden Phasen sind
im Gegenteil äußerst gewappnet ist. Welche Beziehung be-
de facto charakteristisch für das Erhabene: auf der einen Seite
steht zwischen Hodlers Regression und dem architektonischen
das Erstaunen und die Hemmung, die daraus entsteht; auf der
Fortschritt von Kapseln im unendlichen Raum? Diese Frage
anderen Seite die Mobilisierung körperlicher und geistiger
wird unter anderem in diesem Buch behandelt.
Energien – oder dessen, was Susanne Stacher ‹die DNA des
Aber das Unterfangen, das sich am deutlichsten in diesem
Erhabenen› nennt, eine vergeistigte und spiritualisierte DNA.
Werk artikuliert, besteht darin, sechs grundlegende Aspekte
Stellen wir mit Susanne Stacher dem ‹Wanderer über dem
unserer Beziehung zu den Alpen miteinander zu verknüpfen,
Nebelmeer› von Friedrich den ‹Blick ins Unendliche› von
indem wir diese durch das ‹Prisma des Erhabenen› betrachten.
Hodler entgegen: Ersterer präsentiert sich von hinten, lot-
So zeigt Susanne Stacher seltsame Verwandtschaften auf
recht auf einer felsigen Anhöhe. Diese bildet einen Sockel
zwischen philosophischen Bestrebungen, dem Verlangen
wie in den Skulpturen großer Männer, hindert den Betrachter
nach Kristallisation oder dem Wachstum nach geometrischen
aber auch daran, einen großen Teil der Landschaft zu sehen.
Formeln, der Vervollkommnung therapeutischer Inszenierungen,
Der Wanderer bildet majestätisch eine Schwelle im wahrsten
der Entwicklung von Bildungsprogrammen (mehr oder weniger
Sinne des Wortes – einer Schwelle allerdings, die paradoxer-
faschistischer Gesinnung), der Aufwertung von Kletter- und
weise sowohl unüberschreitbar als auch beweglich ist. Der
Geschwindigkeitssportarten oder der Strukturierung von
Wanderer ‹architekturalisiert› die Landschaft und neigt dazu,
Hotellerie-Einrichtungen. Sämtliche konkrete Beschreibungen,
sich in ihr zu vergegenständlichen. Von hinten gesehen, und
wie die der Fiat-Türme in Sauze d’Oulx, der Reformkolonie
daher seiner wesentlichen Ausdruckselemente entledigt,
Monte Verità oder der behauenen Felsen und kristallinen
führt er uns in die Landschaft – oder bildet er vielmehr einen
Kuppeln von Bruno Taut, werden den Leser erfreuen, als ob
blinden Fleck? Ist er ein Initiator oder ein Hindernis? Zuerst
im Morgengrauen der Ausbeutung der Alpen die gesamte
schwanken wir zwischen beiden Positionen; das Erhabene
Geschichte der Menschheit neu skizziert würde.
entsteht aus einem Konflikt heraus, den wir überwinden müssen; schließlich siegt jedoch der Aspekt der Initiation.
Das Erhabene vergeht: Man lässt es zu und es entzieht sich
Dieser dunklen und sehr bekleideten ‹Rückenfigur›, die auf
Das Erhabene provoziert die Suche und die Erfindung von
einem schwarzen Felsen aufgepflanzt ist und sich auf einen
Figuren seiner selbst, die sich auf seine Höhe erheben können.
Wanderstock stützt, stellt Hodler die frontale Figur eines
Es erscheint somit strukturiert wie ein Risiko: das Risiko des
nackten Jünglings entgegen, der sich über einen fleischfar-
Ungeheuerlichen, des Grotesken, des Obskuren, des Rudimen-
benen Stein erhebt, die Arme vor der Brust. Diese Figur ist
tären usw. Zweifellos kann nichts außer dem hohen Bewusstsein,
nicht zentriert: Es ist diejenige eines noch fragilen ‹neuen
das wir aus ihm entwickeln, es vor dem Gebrauch für ab-
Menschen› im Zustand des Werdens, wie Susanne Stacher es
scheuliche Ziele bewahren. Dies hindert es jedoch nicht daran,
deutet. Was haben wir verloren? Was haben wir gewonnen?
uns als Prinzip ständig neu herauszufordern.
Einleitung
16
Die Stärke von Susanne Stachers Buch liegt darin aufzuzeigen,
1 Jean-Jacques Rousseau, Rousseau’s Bekenntnisse (1769/publié
dass das Erhabene ein wahrhaftiges Prinzip ist, das völlig unter-
posth. 1782), Erster Theil, Kap. 8, Übers. H. Denhardt, Verl. Philipp
schiedliche Bestrebungen hervorruft, die allerdings unweigerlich
Reclam jun., zit. n.: http://gutenberg.spiegel.de/buch/rousseaus-
von ihrem Ziel abkommen durch Profitsucht, Größenwahn,
bekenntnisse-erster-theil-3813/8 (19.7.2018) [=Rousseau (1732) 2018].
Überanpassung, Gefallsucht usw. Wenn die Alpen heute noch
2 Rousseau, La nouvelle Héloïse (1761), in: Œuvres complètes, éd. B.
fast ein Viertel des Welttourismus anziehen, geschieht das
Gagnebin et M. Raymond, Bibliothèque de la Pléiade, Gallimard, Paris,
nicht letztendlich deshalb, weil der Ruf der Gipfel – so
Buch II, Brief 23, I, 79. éd. B. Gagnebin et M. Raymond, Paris, Gallimard,
gedämpft und deformiert er auch sein mag – immer noch in
Bibliothèque de la Pléiade, I, 23, Œuvres complètes, livre II, 79:
uns widerhallt, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne?
‹L’horizon présente aux yeux plus d’objets qu’il semble n’en pouvoir contenir: [...] le spectacle a je ne sais quoi de magique, de surnaturel,
Baldine Saint Girons, Professorin an der Université Paris
qui ravit l’esprit et les sens ; on oublie tout, on s’oublie soi-même, on
Nanterre
ne sait plus où on est.› 3 Rousseau (1732) 2018. 4 Ibid. 5 Étienne Pivert de Senancour, Oberman (1804), présentation, notes, dossier, par Fabienne Bercegol, Paris, GF Flammarion, 2003, 95: ‹Il eût fallu écrire ce que j’éprouvais ; mais alors j’eusse bientôt cessé de penser de façon extraordinaire. Il y a dans le soin de conserver sa pensée pour la retrouver ailleurs, quelque chose de servile, et qui tient aux soins d’une vie dépendante. Ce n’est pas dans les moments d’énergie que l’on s’occupe des autres temps et des autres hommes.› 6 Longinus, Du sublime, Übersetzung Jackie Pigeaud (Hg.), Petite Bibliothèque Rivages, Paris 1991, Kap. XXXV, 3. 7 Horace-Bénédict de Saussure, Premières ascensions au mont Blanc, François Maspero/La Découverte, Paris 1979, 151f: ‹Je voyais cette chaîne primitive composée de feuillets [...]. Je vis ces matières s’arranger horizontalement par couches concentriques›. 8 Théophile Gautier, ‹Vue de Savoie et de Suisse›, in: Le Moniteur universel (16. Juni 1882), abgedruckt in: Impressions de voyage en Suisse, L’age d’Homme Verl., Lausanne 1985. 9 Siehe: Siegmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 1916, Kap. 18; und: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, 1917. 10 Alexandre Koyré, From the closed World to the infinite Universe, John Hopkins Press, Baltimore 1957: ‹Yet, in my opinion they are concomitants and expressions of a deeper and more fundamental process as the result of which man—as it is sometimes said—lost his place in the world, or, more correctly perhaps, lost the very world in which he was living and about which he was thinking, and had to transform and replace not only his fundamental concepts and attributes, but even the very framework of his thought.› 11 Rousseau (1732) 2018.
17
Einleitung
John Closterman, ‹Maurice Ashley-Cooper und Anthony Ashley-Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury›, 1702
1
Die Entstehung des alpinen Erhabenen Qu’on se figure d’énormes prismes de glace, blancs, verts, violets, azurés [...]. On dirait une ville d’obélisques, de cippes, de colonnes et de pyramides, une cité de temples et de sépulcres, un palais bâti par des fées pour des âmes. 1 Victor Hugo, Fragment d’un voyage aux Alpes, 1825 Man stelle sich riesige Prismen aus Eis vor, weiße, grüne, violette, blaue […]. Man vermeint, eine Stadt aus Obelisken zu sehen, aus Stelen, Säulen und Pyramiden, eine Stadt der Tempel und Grabmäler, ein Palast gebaut von Feen, für die Seelen.
Die Alpen entwickelten sich ab dem frühen 18. Jahrhundert
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts entwickelten sich drei
zu einem idealen Ort für die Projektion philosophischer, uto-
Kategorien des Naturerhabenen: das Riesige, das Hohe und
pischer oder visionärer Gedanken. Die durch die galileisch-
das Demiurgische, denn die Natur schien wie mit einer unge-
kopernikanische Revolution ausgelöste Veränderung der
heuren Energie versehen zu sein, wovon ihre kosmische
Betrachtungsweise der Welt hatte auch einen Paradigmen-
Aktivität und Mobilität zeugt. Durch die positive Neubewertung
wechsel in Bezug auf die Natur eingeleitet: von den ‹schreck-
der Berge rückten die Alpen in den Vordergrund der Ästhetik,
lichen› zu den ‹erhabenen Bergen›. Die Naturerhabenheit
einhergehend mit der aufkommenden Leidenschaft für ihre
war das Resultat der Infragestellung des Geozentrismus, des
wissenschaftliche Erforschung und physischen Eroberung, zu
Übergangs ‹von der geschlossenen Welt zum unendlichen
der sich später auch das Gefallen an sportlicher Betätigung
Universum›, wie es Alexandre Koyré (1892–1964) formulierte;
gesellte.
denn der Mensch habe ‹seinen Platz in der Welt verloren,
Die wilde Natur – insbesondere diejenige, die durch Unend-
oder, genauer gesagt, er hat die Welt selbst verloren, die
lichkeit beeindruckt, wie die Weite des Ozeans oder die
den Rahmen seiner Existenz bildete und Gegenstand seines
Größe der Berge – wurde zum Ausdruck eines intensivierten
Wissens war›. Das Erhabene ermöglichte, die neue Welt zu
Empfindens zwischen Schrecken und Faszination. Diese gegen-
denken, die aus den Trümmern des antiken Kosmos heraus
sätzlichen Gefühle, die durch die Konfrontation von Extremen
entstanden ist. Dass dabei die Berge eine wichtige Rolle
eine Grenzerfahrung auslösen, stellen die Grundlage des
spielten, können wir einem Zitat von Théophile Gautier
Erhabenen dar, wie bereits der Herkunft des Worts vom
(1811–1872) entnehmen: ‹Wenn man in den Städten oder in
lateinischen sub limen: unter der Schwelle, bis an die Schwelle,
der Ebene wohnt, vergisst man leicht, dass man sich durch
in Schwebe zu entnehmen ist. Der Begriff impliziert somit die
einen nicht erfassbaren Raum bewegt, mitgerissen von einem
Konfrontation mit den eigenen Schwellen und deren Über-
Planeten, der mit einer unheimlichen Geschwindigkeit um die
schreitung. Diese artikulierte sich im Laufe der Jahrhunderte
Sonne kreist.›3 Dies sei aber nicht der Fall im Gebirge, denn
in allen möglichen Formen und ist bis heute noch aktuell.
2
‹die großen Berge helfen uns zu verstehen, dass die Erde tatsächlich ein im Äther schwebender Himmelskörper ist›.
19
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
Pseudo-Longinus, das Sublime schlägt ein wie ein Blitz
‹In Wahrheit erlangt Kunst nur dann den höchsten Grad der
Der philosophische Begriff des ‹Sublimen›, der in die deutsche
Vollkommenheit, wenn sie so sehr der Natur gleicht, dass
Sprache als das ‹Erhabene› eingegangen ist, kam ursprünglich
man sie für die Natur selbst hält; und umgekehrt gelingt
aus der altgriechischen Rhetorik, bevor er für die Bezeichnung
Natur nie besser, als wenn die Kunst verborgen ist.›9
einer bestimmten Art von Naturbetrachtung verwendet wurde.
Trotz früherer Übersetzungen von Pseudo-Longinus’ Traktat
Das Sublime wurde erstmals in De sublimitate (griechisch
erwies sich erst die von Nicolas Boileau ins Französische
Perì hýpsous) theoretisiert, signiert von Dionysius-Longinus,
übertragene Fassung (1674) als bahnbrechend, möglicher-
einem bislang unbekannten altgriechischen Autor bzw. Rheto-
weise weil dieser im selben Jahr L’Art poétique veröffent-
riker, der als Pseudo-Longinus4 in die Geschichte einging. Er
lichte, wodurch die Eigenschaften des Erhabenen erst so
war fasziniert von jenen Reden oder Dichtungen, welche die
richtig erfassbar waren (in dieser Anleitung zur Dichtkunst hat
Regeln der Rhetorik sprengen und die Zuhörer mitreißen: Das
das Sublime einen besonderen Stellenwert, weil es, in Longinus’
Sublime ‹verleiht der Rede eine gewisse noble Anwendung,
Sinne, den Leser begeistert und emotional berührt).10 In seinem
eine unbesiegbare Kraft, die die Seele erhebt, wer auch immer
Vorwort von Pseudo-Longinus’ Traktat wies er darauf hin,
zuhören mag.›5 Es handelt sich um eine Art der Redenskraft,
dass ‹Longinus unter dem Term «sublim» nicht das verstand,
die über rationale Grenzen hinweg erschüttert und sich den
was die Rhetoriker den «sublimen Stil» nannten, sondern das
Kriterien der Kritik entzieht, weil sich diese nur auf konventio-
Außergewöhnliche und Herrliche einer Rede, die es schließlich
nelle Regeln der Ästhetik beziehen können. Dabei sei nicht die
ausmachen, dass ein Werk erhebt, begeistert und bewegt.›11
erlernte Technik des Redners ausschlaggebend, sondern viel-
So kam Pseudo-Longinus’ Begriff des Sublimen gegen Ende
mehr sein natürliches Talent. Pseudo-Longinus war fasziniert
des 17. Jahrhunderts zum Tragen, wie auch sein Naturbegriff,
von der Kraft und Wirkung derjenigen Diskurse, Erzählungen
der vor allem im aufklärerischen England zur positiv besetzten
und Gedichte, die ‹wie ein Blitz› einschlagen:
Idee einer ‹wilden Natur› führte. Bei dieser neuen Betrach-
‹Das Sublime überzeugt nicht im eigentlichen Sinn, aber es
tungsweise sollten auch die Alpen eine Rolle spielen – aller-
begeistert, es bewegt und löst in uns eine gewisse Bewunde-
dings musste der Weg dahin erst geebnet werden.
rung aus, überschattet von Erstaunen und Überraschung, was
Das Vorfeld für die Entstehung des Naturerhabenen wird
etwas ganz anderes ist, als einfaches Gefallen oder Überzeu-
zunächst durch Bergerfahrungen von Francesco Petrarca und
gen […]. Wenn aber das Sublime im richtigen Moment
Conrad Gessner, um nur zwei zu nennen,12 illustriert. In ihren
auftritt, dann schlägt es ein wie ein Blitz und zeigt mit einem-
Beschreibungen ist das Zusammenspiel von Körper, Geist
male die gesamte Gewalt des Redners.›
und Seele besonders interessant, weil das Gefühl des
6
Das Sublime löst extreme Emotionen aus zwischen Schrecken
Erhabenen nicht als eine rein geistige Erfahrung zutage tritt,
und Faszination, wobei das Gefühl der ‹Suspension›, des
sondern in unbedingter Verbindung mit dem Körper.
Schwebezustands im Vordergrund steht. Pseudo-Longinus identifizierte ‹Fünf Quellen des Großen›7 und wies neben der
Francesco Petrarca,
Erhebung des Geistes auf das Pathos und den Enthusiasmus
Aufstieg mit Körper, Geist und Seele, 1336
als essenzielle Faktoren hin, die den Reden Feuer verleihen:
Einen der ersten Berichte, der Gedanken über die Erfahrung
‹Die zweite [Quelle des Großen] liegt im Pathos: Darunter
einer Bergbesteigung enthält, schrieb Francesco Petrarca.
verstehe ich die Begeisterung und natürliche Vehemenz, die
Er ist uns in Form eines Briefes überliefert. Petrarca schilderte
uns berührt und bewegt. […] Es ist diese Art von Enthusiasmus
darin einem Freund seinen Aufstieg auf den Mont Ventoux im
und noblen Durchdringens, die die Diskurse anregt und ihnen
Jahre 1336, seine geistige Erfahrung ebenso wie sein körper-
Feuer sowie göttliche Kraft verleiht.›8
liches Erleben. Um sich einen Überblick zu verschaffen, hatte
Er vertrat die Ansicht, dass die Natürlichkeit ein wichtiger
er beschlossen, gemeinsam mit seinem Bruder den steilen,
Faktor des Sublimen sei (in Bezug auf die Anwendung der
pyramidalen Berg zu besteigen. Auf mühseligen Pfaden
rhetorischen Figur des Hyperbatons). Kunst müsse hinter
überkamen ihn Zweifel, die er mit der Metapher der Tugend zu
der Natur zurücktreten:
überwinden suchte, indem er die körperliche mit der seelischen
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
20
Altichiero da Zevio, ‹Francesco Petrarca und Lombardo della Seta›, um 1376
Anstrengung verglich, ‹auf dem steinernen Weg zur Tugend›:
die Bekenntnisse des
‹Was du heute so oft bei der Besteigung dieses Berges hast
heiligen Augustinus an-
erfahren müssen, wisse, daß dies dir und vielen widerfährt,
schauen.›16 Das Buch war ein
die das selige Leben zu gewinnen suchen. Aber es wird des-
Geschenk seines Freundes,
wegen nicht leicht von den Menschen richtig gewogen, weil
für den er diesen Brief (post-
die Bewegungen des Körpers offensichtlich sind, die der
hum)17 verfasste. Petrarca
Seele jedoch unsichtbar und verborgen. In der Tat liegt das
beschrieb, wie er zufällig die
Leben, das man das selige nennt, auf hohem Gipfel, und ein
berühmte Stelle aufschlug,
schmaler Pfad, so heißt es, führt zu ihm hin. Auch viele Hügel
an der Augustinus zur Intro-
ragen dazwischen auf, und von Tugend zu Tugend muss man
spektion aufruft, anstatt sich
mit erhabenen Schritten wandeln; auf dem Gipfel ist das Ende
der Bewunderung der Natur
aller Dinge und des Weges Ziel, auf das hin unsere Pilgerreise
hinzugeben: ‹Und es gehen
ausgerichtet ist.›
die Menschen, zu bestaunen
13
Interessant ist Petrarcas Vergleich zwischen dem körperlichen
die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres
und seelischen Leidensweg: Genauso, wie der Körper beim
und die weit dahinfließenden Ströme und den Saum des
Aufstieg leide, würde auch die Seele auf dem Weg zur Tugend
Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne, und haben nicht
leiden. Nach dem beschwerlichen Erklimmen des Berges
acht ihrer selbst.›18
fragte er sich jedoch, ob es letztlich nicht schwerer sei, den
Petrarca bezog dies auf seine eigene Erfahrung: ‹Ich war vor
Körper zu erheben als die beflügelte Seele:
Überraschung wie vom Donner gerührt›,19 schrieb er und ließ
‹Ach könnte ich doch mit meiner Seele die Wanderung
sich daraufhin nicht mehr vom überwältigenden Blick auf die
bewältigen, die ich Tag und Nacht ersehne, und mich endlich
Landschaft verführen: ‹Da beschied ich mich, genug von dem
über alle Schwierigkeiten emporheben, ganz so wie ich es
Berge gesehen zu haben, und wandte das innere Auge auf
heute bei meinem Fußmarsch getan. Aber bei weitem leichter
mich selbst, und von Stund an hat niemand mich reden hören,
müßte doch wohl jene Wanderung sein, die durch die beweg-
bis wir unten ankamen.›20 Die Lektüre von Augustinus hatte
liche unsterbliche Seele selbst ohne jede Fortbewegung im
seine Wahrnehmung des Berges verändert, der ihm beim
Nu des Augenblicks geschehen kann, als diese, die im zeitlichen
Hinuntergehen plötzlich klein vorkam: Jedes Mal wenn er
Verlauf durch den Dienst des sterblichen und hinfälligen
sich umsah, um den Gipfel anzusehen, erschien ihm der Berg
Körpers und unter der schweren Glieder Last ausgeführt
kaum größer als eine Elle. Daraufhin verglich er die Kleinheit
werden muß.›14
des Berges mit der Größe der menschlichen Natur, ‹solange
Es gelang ihm dennoch, da er sich ‹in geflügelten Gedanken
diese nicht in den Schmutz der irdischen Abscheulichkeit›
vom Körperlichen zum Unkörperlichen› schwang, seine be-
versinkt – wie er schnell hinzufügte. Augustinus hatte die
schwerliche Besteigung zu vollenden. Als er auf dem Gipfel
verführerische Anziehungskraft der unendlich großen Natur
ankam, war er beeindruckt: ‹Zuerst blieb ich, vom ungewöhn-
angesprochen und zur moralisch-religiösen Introspektion auf-
lichen Wind und der Weite des Schauspiels [des Rundblicks]
gerufen (gegen die vana curiositas [eitle Neugier] und die
beeindruckt, vor Staunen unbeweglich stehen. Ich schaute;
concupiscentia oculorum [visuelle Lust]21), Petrarca war zu
die Wolken lagen unter meinen Füßen […].›15 Daraufhin
seiner Zeit noch bereit, das zu befolgen, denn das Naturer-
beschrieb er die Wolken und schneebedeckten Bergspitzen
habene kam erst mit dem heliozentrischen Weltbild auf.
in der Ferne wie auch die Landschaft auf italienischer Seite, seines Vaterlandes, das er vor zehn Jahren verlassen hatte
Conrad Gessner,
und nach dem er sich nun sehnte. In Gedanken versunken,
vier Jahreszeiten in einem Tag, 1541
dachte er nostalgisch über seine bewegte, fröhliche Vergan-
200 Jahre später schrieb der Zürcher Humanist Conrad Gessner
genheit nach und schrieb: ‹Während ich das alles bewunderte,
(1516–1565, auch Gesner oder Geßner geschrieben) in einem
einerseits mit irdischem Gemüt, andererseits die Seele erhe-
Brief aus dem Jahre 1541 vom ‹großen Schauspiel des Welt-
bend, ganz nach dem Beispiel meines Körpers, wollte ich mir
alls›, aus dessen Wundern der Mensch ‹etwas Höheres, ja das
21
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
Tobias Stimmer, ‹Portrait von Conrad Gessner›, 1564
höchste Wesen selbst begreife›.22 Auf ähnliche Weise be-
Vollkommenheit übertreffen, denn im Gegensatz zu diesen
trachtete er das Schauspiel der Berge, das ihn erschütterte,
berühren sie die Sinne. Sein Begleiteter Marti fragte sich, wie
weil er in ihnen das Werk des großen Baumeisters (summus
man die Berge wohl nicht lieben könne, und hob ihre Zeit-
illius architectus) sah. Er bestieg mit Benedict Marti (um 1522–
losigkeit und Ungewöhnlichkeit hervor:
1574) den Frakmont (1.920 Meter), das Stockhorn (2.192 Meter)
‹Wenn du Altes ersehnst, hast du dort Denkmäler des sehr
und den Niesen (2.366 Meter), woraufhin er voller Begeisterung
langen Bestehens, Abgründe, Klippen, in der Luft schwebende
‹alljährlich einige Berge, oder wenigstens einen einzigen zu
Felsen, tiefe Spalten und erstaunliche Öffnungen der Berge,
besteigen› wünschte, und zwar:
verborgene Höhlen: gehärtetes Eis, auch mitten in der Sonnen-
‹[…] zu der Zeit, wo die Pflanzen in ihrer Lebenskraft sind,
glut. Genug! Dort ist das Theater des Herrn, Denkmäler –
teils wegen deren Erkenntnis, teils wegen der ehrenhaften
ohne Unterschiede – des langen Bestehens, die Ergötzungen
Übung des Körpers und der
der bewundernswerten Weisheit und des Ungewöhnlichen
Ergötzung des Geistes. Denn
erfassend.›25
wie groß ist das Vergnügen,
In ihrer ungewohnten Zauberhaftigkeit waren die Berge für
wie groß sind die Genüsse
Marti Ausdruck göttlicher Weisheit und für Gessner die höhere
des ergriffenen Geistes, gleich
Ordnung des ‹weisen Architekten›. Als die beiden auf den
wie er ist, nicht wahr, das un-
Pilatus (2.132 Meter) stiegen, war Gessner von den Höhen-
ermessliche Schauspiel der
stufen beeindruckt, in denen die Pflanzen unterschiedliche
Berge zu bewundern und
Entwicklungen aufwiesen, wie zu unterschiedlichen Jahres-
das Haupt gewissermaßen
zeiten: ‹So können wir also die Hochgebirge der Alpen in vier
zwischen die Wolken empor-
Regionen einteilen. Auf der obersten Höhe herrscht ein
zuheben? Ich weiß nicht, wie
beständiger Winter, Schnee und Eis und kalte Winde. Dann
der Verstand von der
folgt die Frühlingsgegend […], dann die herbstliche Lage, in
erstaunlichen Höhe erschüt-
welcher drey Jahreszeiten vorkommen, Winter, Frühling und
tert, wie er hingerissen wird
etwas vom Herbste; und endlich die unterste Tiefe, wo auch
zur Betrachtung jenes höch-
ein kurzer Sommer sich findet, also alle vier Jahreszeiten.›26
sten Schöpfers (in summi
Während in der unteren Zone die Kirschen reif sind (wie im
illius architecti considera-
Frühling), so sind es weiter oben die Brombeeren (wie im
tionem).›
Herbst), stellte Gessner beeindruckt fest, denn er konnte an
23
Gessner erwähnte sowohl die ‹Übung des Körpers› als auch
einem Ort und Tag alle vier Jahreszeiten gleichzeitig erleben.
die ‹Ergötzung des Geistes› im Versuch, die noch zu erkun-
Aus diesem Phänomen leitete er eine Kosmogonie ab, eine
dende Welt der Berge als Teil des Kosmos zu erfassen. Durch
allgemeine Theorie über das Funktionieren der Welt, ihren
die Studie der Natur solle das Zusammenspiel der Elemente
Bauplan.
begriffen werden, aber auch die Sinneswahrnehmung werde
Gessner hatte dazu beigetragen, dass die Berge emotional
aufs Höchste angeregt, wie er hervorhob. Er bewunderte die
positiv besetzt wurden, wobei die wissenschaftliche Natur-
‹Verschiedenheit der Natur, die sich in den Bergen gleich-
kunde mit der neuplatonischen Gottesauffassung einherging.
wohl in einem einzigen Gipfel zeigt›, wobei ‹das Vergnügen
Dennoch flossen seine Erfahrungen und Forschungen nicht in
des Geistes zu dem einträchtigen Vergnügen aller Sinne hin-
die damals in Basel erstellte Enzyklopädie Cosmographia
zutritt: Welche andere Art der Ergötzung innerhalb der Gren-
universalis27 von Sebastian Münster (1544) ein, die sämtliche
zen der Natur […] wirst du freilich finden, die wahrer, größer
geografische, botanische, mineralogische und anthropologi-
und vollkommener als alle absoluten Zahlen sind?› Er sah
sche Kenntnisse erfasste. Das Gebirge war darin allerdings
die Berge als Teil einer perfekten Ordnung und verglich sie
noch als ‹topos horribilis›28 beschrieben. Gessners Forschun-
mit der Abstraktion ‹absoluter Zahlen›. Als Bestandteil der
gen fanden keine Berücksichtigung, denn er war in seiner
Natur würden jedoch die Berge die Zahlen an Größe und
Bewunderung für das ‹große Schauspiel des Kosmos› und der
24
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
22
Conrad Gessner, ‹Fragaria vesca›, Zeichnung, aus: ‹Historia Plantarum›, 1542
bewiesenermaßen in einem universellen Zusammenhang mit einem allübergreifenden, bewegten Kosmos. Dieser wurde von den Neuplatonikern als ein wohlgeordnetes System angesehen, vom Demiurgos in perpetueller Bewegung gehalten. Der christliche Gottesbegriff wandelte sich, Gott wirkte nunmehr in der Natur und im Menschen. Infolgedessen änderte sich das bisherige Verhältnis zur wilden Natur und somit zu den Bergen: Alles auf Erden, auch die unkontrollierbare Natur mit den dazugehörigen Gewittern, Lawinen und anderen Naturkatastrophen, wurde nun als Teil des bewegten Kosmos angesehen. Mit der Konzeption eines ‹harmonischen Kosmos› kam ein neuartiges Naturgefühl auf, das mit einer gewissen Art von Religiosität einherging. Sobald die wilde Natur als Teil des Kosmos betrachtet wurde, der vom Demiurgen, dem großen Baumeister, in permanenter Bewegung gehalten wird, durfte auch Leidenschaft empfunden werden für ‹[…] die Höhen der Berge und die gewaltigen Fluten des Meeres und das Fließen der breitesten Ströme und des Ozeans Umlauf und die ‹unerreichbaren Höhen der Berge› seiner Zeit voraus. Er
Kreisbahnen der Gestirne […]›,29 vor denen Augustinus noch
bereitete nicht nur den Weg zu sämtlichen Kosmogonien vor,
gewarnt hatte. Die von ihm verlangte Introspektion ging in
in denen die Berge eine zentrale Rolle spielten, sondern auch
Selbstreflexion über, die im Naturerhabenen einen Ausdruck
den Weg zum Erhabenen.
fand. Nachdem Ästhetik von Wissenschaft, Philosophie, Ethik und Religion noch untrennbar war, konnte das Naturerhabene
Das Aufkommen des Naturerhabenen
erst mit dem neuen heliozentrischen Weltbild aufkommen. ‹New Science› und der neue Naturbegriff
Zwei Jahre nach Gessners Brief publizierte Nikolaus Kopernikus
Die wilde Natur rückte zusehends in den Vordergrund der
(1473–1543) im Jahre 1543 seine bahnbrechende Entdeckung,
Ästhetik, getragen von den Anhängern der aufgeklärten
dass die Erde ein Planet unter anderen ist und sich mit diesen
englischen New-Science-Bewegung (1640–1700, auch ‹New
um die Sonne dreht. Johannes Kepler (1571–1630) erkannte
Philosophy› genannt), basierend auf den Lehrmeinungen der
im 1609 bis 1618 erschienenen Werk Astronomia Nova, dass
Antike.30 Obwohl die erste Übersetzung von Pseudo-Longinus’
die Planetenbewegungen um die Sonne auf elliptischen Um-
Traktat bereits 1554, zu Gessners Zeiten, durch Francesco
laufbahnen erfolgen, die mathematischen Regeln unterliegen.
Robertello31 in Basel erfolgte, kam das Erhabene erst mit der
Durch seine Beobachtungen der Supernova im Jahre 1604
zweiten, viel gelesenen Übersetzung von Nicolas Boileau im
setzte er dem Glauben an ein Fixsterngewölbe ein Ende.
Jahre 1674 zum Durchbruch, die den Weg von den schrecklichen
Isaac Newton (1643–1727) konnte in De motu corporum in
zu den erhabenen Bergen ebnete.
gyrum (1684) und Philosophiae Naturalis Principia Mathematica
Pseudo-Longinus’ Naturauffassung (‹Natur ist die höchste
(1687) die Kepler'schen Gesetze mathematisch nachweisen.
Kunst›) wurde Ende des 17. Jahrhunderts im revolutionären
Er fasste die auf der Erde herrschenden Schwerkraftgesetze
England aufgegriffen, wo sie sich zusammen mit einem
in eine allgemeingültige Formel, welche die gegenseitige
Identitäts- und Freiheitsbegriff in der Ästhetik durchsetzte,
Anziehungskraft zweier Körper beschreibt, die auch auf das
als Gegenpol zur geometrischen Strenge der absolutistischen
Weltall und die Planeten übertragbar ist. Die Erde stand nun
französischen Gartenanlagen. Die neue Naturkonzeption kam
23
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
im englischen Landschaftsgarten zum Ausdruck, wo der natür-
Alpen – ein einschneidendes Erlebnis, das sein späteres Werk
liche den perfekt domestizierten Charakter ablöste und die
Telluris Theoria Sacra (1681 auf Lateinisch, 1684 auf Englisch:
wilde Natur zum Schauplatz neuer Erfahrungen und Gefühle
The Sacred Theory of the Earth)33 beeinflusste. Es handelt
wurde, einhergehend mit einem aufgeklärten Gedankengut.
sich dabei um eine spekulative Kosmogonie über die Entste-
In England publizierte John Milton, der aus einer protestanti-
hung der Erde, basierend auf Luthers Erbsünden-Theorie.34
schen Familie stammte und zu Beginn seiner Laufbahn der
Sie beruht auf der Annahme, die Erde sei ein glattes, perfektes
anglikanischen Kirche nahestand, im Jahre 1667 Paradise
Ei (ovum mundi) gewesen, das bei der Sintflut aufbrach und
Lost. Er stellte darin die Vertreibung aus dem Paradies in ein
überschwemmt wurde, wobei die Berge entstanden. Den
positives Licht, weil dadurch die Selbstbestimmung der
‹Rahmen der alten Welt› habe Gott mit einem Schlag zerstört
Menschheit erst möglich geworden sei. (Der Erzengel Michael
und eine neue Welt aus deren Ruinen geschaffen, in denen
erzählt Adam von einer möglichen Erlösung der Menschheit
wir seither leben›.35 Anstatt ‹der weiten und endlosen Ebene,
von der Erbsünde durch Christus und sagt tröstend zu ihm,
glatt wie der ruhige Ozean›,36 gebe es nun ‹wilde, riesige und
als er ihn des Paradieses verweist: Vielleicht findest du ‹in dir
unansehnliche Haufen aus Steinen und Erde›.37 Diese ‹Ruinen
ein Paradies, ein weitaus glücklicheres.›)32
der zerbrochenen Welt›,38 ohne Symmetrie und Proportion,
Der Kleriker Thomas Burnet hingegen beharrte auf der Erb-
sollen den Menschen an die Erbsünde erinnern und durch
sündenlehre und stellte 1681 die Berge als Strafe Gottes für
ihre Hässlichkeit eine Mahnung Gottes sein: ‹[…] sie sind die
die Vertreibung aus dem Paradies dar. Für John Dennis waren
größten Beispiele für Verwirrung, die wir in der Natur kennen;
diese 1693 aber bereits die ‹Wunder der neuen Welt›. Der
kein Sturm oder Erdbeben bringt Dinge in größere Unord-
Wandel des Naturbegriffs zeichnet sich ebenso in den Schriften
nung.›39 Thomas Burnet illustrierte seine Kosmogonie mit
des Neuplatonikers Anthony Ashley-Cooper, 3 Earl of
einer Serie von Grafiken in Grundriss, Schnitt und Axonome-
Shaftesbury, ab, der die wilde Natur als Ausdruck Gottes ver-
trie. Sie stellten die Entstehung der Berge und den Bruch des
stand, als Teil eines harmonischen Kosmos. Joseph Addison
glatten ovum mundi dar, bei dieser Gelegenheit ordneten sich
assoziierte mit den Schweizer Bergen einen Freiheitsbegriff,
seiner These nach die Bruchstücke der Kruste zu den fünf
der symbolisch für die 1688 begründete konstitutionelle
Kontinenten.
Monarchie Englands stand. Textausschnitte dieser vier engli-
Allerdings hatte er zu den Alpen ein gespaltenes Verhältnis:
schen Philosophen illustrieren, wie sich die Alpen innerhalb
Trotz seiner Bestrafungstheorie empfand Burnet eine gewisse
von nur 50 Jahren von einer negativen, von der Erbsünde
Faszination, denn die Berge wirkten auf ihn wie eine ‹andere
behafteten Konzeption in einen Topos der Freiheit wandelten.
Welt›. Um dies zu illustrieren, spielte er mit folgender Vorstel-
Interessant ist, dass bei diesen philosophischen Betrachtungen
lung: Wenn man einen schlafenden Menschen von einem
die Flugallegorie in verschiedenen Formen eingesetzt wurde:
ebenen Land in die Alpen trüge, würde der auf dem Berg
Schlafende, fliegende oder schwebende Körper ermöglichen
Erwachende glauben, in einem ‹verzauberten Land› zu sein,
es, den Überraschungseffekt der wilden Landschaft im Moment
oder gar in einer ‹anderen Welt›: ‹[…] riesige Körper sind in
des Erwachens dramatisch zu inszenieren. Mithilfe des imaginä-
Verwirrung zusammengeworfen […]. Felsen stehen nackt um
ren Flugs kann eine paradiesische Traumwelt skizziert werden;
ihn herum und tiefe Täler klaffen unter ihm auf. [...] Er hört
sie erleichtert aber auch, die zur philosophischen Betrachtung
den Donner von unten heraufgrollen und erblickt die schwarzen
nötige Distanz aufzubauen.
Wolken unter ihm. Bei solch einem Anblick wäre es für ihn
rd
schwer zu glauben, dass er noch auf derselben Erde sei.›40 Thomas Burnet, das Erwachen inmitten der Alpen, 1681
Dennoch war Burnet, wie bereits Petrarca, bezaubert vom
Der junge Theologe Thomas Burnet (1635–1715), der vor der
Rundblick, vom weiten Horizont, von der Nähe zum Himmels-
‹Glorious Revolution› als Tutor eines jungen Adeligen seinen
zelt und zu den Sternen – und auch er dachte dabei an Gott:
Lebensunterhalt verdiente, unternahm mit seinem Zögling
‹Es liegt etwas Großes und Herrliches im Wesen dieser
eine Reise nach Rom, den damaligen Gepflogenheiten der
Dinge, die den Geist mit großen Gedanken und Leidenschaf-
englischen Noblesse entsprechend. Ihr Weg führte über die
ten inspirieren, und naturgemäß denken wir gleich an Gott
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
24
Thomas Burnet, ‹Ovum mundi›, Zeichnung, lat. 1681, aus: ‹The Theory of the Earth›, 1697
John Faber, ‹Thomas Burnet, Master of the Charterhouse›, nach einem Gemälde von Sir Godfrey Kneller (1697), 1752
und seine Größe.›41 Er führte dieses bewegende Gefühl auf das Unendliche zurück: ‹[…] des UNENDLICHEN, welches alle Dinge, die zu groß für unser Verständnis sind, in sich birgt, sie füllen und überragen den Geist mit Exzess und erzeugen eine angenehme Art von Benommenheit und Bewunderung.42 Allerdings fügte er sogleich eine Warnung hinzu (ähnlich wie Petrarca, der sich der Introspektion zuwandte), denn seine persönliche Bergerfahrung war mit der Erbsünden-Theorie nicht vereinbar: ‹Wir sollen ihre Größe und Weite nicht bestaunen, denn wir sehen, dass sie die Ruinen einer zerbrochenen Welt sind.›43 Burnet schwankte zwischen der Theorie und seiner persönlichen Erfahrung. Da die Natur laut Luther (im Gegensatz zu Zwingli) mit der Erbsünde behaftet ist, versuchte er, die Entstehung der wilden Berge aus der Sintflut abzuleiten. Die ‹Bergruinen› mussten demnach fürchterlich sein, aber er erlebte sie auch als prächtig, denn sie inspirieren ‹den Geist mit großen Gedanken›.Obwohl sich hier bereits die Grundcharakteristika des Sublimen abzeichnen, basierend auf dem Zusammenspiel konträrer Eigenschaften wie Erstaunen, Bewunderung, Grenzenlosigkeit, Angst, Terror, Exzess und Benommenheit, konnte Burnet darin keine Verbindung zu seinem Glauben sehen. John Dennis, Berge als größtes Wunder der ‹neuen Welt›, 1693 Kurz nach dem Erscheinen von Nicolas Boileaus L’Art Poétique und seiner Übersetzung des Traktats von Pseudo-Longinus (beide 1674 publiziert), skizzierte John Dennis (1657–1734) in Miscellanies, in Verse and Prose (1693) ein neues, positiv besetztes Bild von den wilden Bergen als unmittelbare Kritik auf Burnets Sintflut-Theorie. Dabei übertrug er die Grundcharakteristika des Sublimen, die bisher nur in der Rhetorik und Poesie angewandt worden waren, auf die Naturbetrachtung. Seine Alpenüberquerung, die er als junger Mann im Zuge
25
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
John Vandergucht, ‹Mr. John Dennis›, 1734
seiner Grand Tour auf einem Maultier unternahm, beschrieb
eine Kreation sind, sondern das Werk universeller Zerstörung
er mit aufgeregten und gemischten Gefühlen, in denen sich
[…], dann sind diese Ruinen der alten Welt die größten
die Erfahrung von Furcht und Schrecken mit ästhetischem Ge-
Wunder der Neuen.›51 Im Gegensatz zu Burnet, der die Berge
nuss vereinte.44 Er verglich die liebliche Hügellandschaft, die
noch als Strafe Gottes betrachtete, war sein Blick nicht pessi-
angenehm ist und gefällt, mit dem schroffen Gebirge, das
mistisch rückwärtsgewandt, sondern nach vorn, in die
den Betrachter in Erstaunen versetzt und wesentlich stärker
Zukunft: Somit konnten sie für ihn ‹die größten Wunder der
beeindruckt: ‹Denn die Alpen sind Werke, die sie [die Natur]
Neuen›, weil noch zu erforschenden Welt sein.
mit Ungestüm entworfen und ausgeführt zu haben scheint. Jedoch bewegt sie uns weniger, wenn sie versucht, uns zu
Anthony Ashley Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury,
gefallen.›45 Der wilde, ‹unregelmäßige und nackte› Aspekt
fliegend über die Berge wie Pegasus, 1709 Der junge Anthony Ashley Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury
der Berge beeindruckte ihn zutiefst: ‹Ruinen auf Ruinen in monströsen Haufen, und Himmel und Erde [sind] verwirrt.›
46
Mit mulmigem Gefühl assoziierte er den schrecklichen Anblick
(1671–1713), legte seine philosophischen Gedanken über Gott und die Welt im sokratischen Dialog dar, den er seine
mit Zerstörung:
Protagonisten führen lässt, während sie über die Berge fliegen.
‹Inzwischen gingen wir, im
Dabei verarbeite er eine persönliche Erfahrung, die er auf
wahrsten Sinne des Wortes,
seiner Grand Tour über die Alpen gemacht hatte. Diese
am äußersten Rand der
beeinflusste sein philosophisches Gedankengut, das durch
Zerstörung; ein Stolpern,
John Lockes Erziehung vom Rationalismus der Aufklärung
und beides, Leben und
geprägt war. Der junge Mann wehrte sich jedoch gegen die
Trümmer, wären auf einmal
rein rationalistische Sichtweise seines Tutors, die auf abstrakter
zerstört.›47 Bei diesem
Moral basierte und wollte sie mit sensiblen Erfahrungen in
Anblick empfand er ‹[…]
Verbindung bringen.
eine wunderbare Furcht,
Andrew Ashfield und Peter de Bolla formulieren Shaftesburys
eine schreckliche Erregung,
Begehren folgendermaßen: ‹[…] dass moralische Ideen über-
und gleichzeitig war ich
haupt nicht durch Wörter ausgedrückt werden können, wenn
unendlich erfreut, ich zit-
sie uns nicht mittels analoger empfindlicher Gegenstände vor
terte›. Das Hochgebirge
Augen gestellt werden.›52 Dies bringe die Diskussion um das
löse laut Dennis Grauen
Erhabene gewissermaßen auf den Punkt: ‹[…] durch Analogie
aus, manchmal sogar
eine Struktur für die Erfahrung des Sublimen zu konstruieren,
Verzweiflung, aber auch
die Affekte [starke Emotionen] mit Ursachen verbindet.›53
bewegende Freude, ‹die
Shaftesbury versuchte, Enthusiasmus mit Vernunft in Verbindung
mit der Vernunft vereinbar
zu bringen, was für die damalige Zeit ein Neuansatz war.
ist, eine Freude, die zur Me-
Leidenschaft und Enthusiasmus wurden damit zu einer neuen
ditation anregt oder diese
Art der Naturerfahrung.
48
verbessert›. Er verglich die visuelle Erfahrung mit der Musik:
Seine philosophischen Gedanken vermittelte er in The
‹[…] die furchtbare Aussicht auf die Abgründe und schäumen-
Moralists (erstmals 1709 publiziert) in Form eines sokratischen
den Wasser, die sich kopfüber hinunterstürzten, gewährten
Dialogs zwischen Theocles, dem Lehrer (John Locke) und
dem Auge solcherart Trost, wie jene Art von Musik dem Ohr,
Philocles, seinem Schülern (sich in der Ich-Form meldend).
bei der Entsetzen mit Harmonie einhergeht.›50 In der Gleich-
Letzterer solle den Meister auf seinen geistigen, abstrakten
zeitigkeit gegensätzlicher Gefühle artikuliert sich die Ästhetik
Höhenflügen begleiten, allerdings wünscht Philocles kon-
des Erhabenen, die mit dem neuen Weltbild einherging.
krete Anschauungsbeispiele zur Illustration der abstrakten
John Dennis bezog sich abschließend auf die viel diskutierte
Lehrgebäude; wie solle er ihm sonst folgen können durch all
Theorie von Thomas Burnet: ‹Aber wenn diese Berge nicht
die unterschiedlichen Klimazonen, von Pol zu Pol, von den
49
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
26
‹Anthony Ashley-Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury, englischer Politiker, Philosoph und Schriftsteller›, 1702
kalten Gebieten zu den heißen? Nur wenn sein Lehrer über
höchst angespannter Zauber, was im Satz ‹Silence it-self
die Phänomene der Erde spräche, sei er bereit, wie ein ‹be-
seems pregnant […]›58 (Das Schweigen selbst scheint etwas
flügelter Pegasus›54 mitzufliegen, sofern sie sich nicht allzu
auszubrüten [wörtlich: schwanger zu sein]) anschaulich zum
sehr dem Mond annäherten und nahe an der Erdoberfläche
Ausdruck kommt.
blieben. So begeben sie sich auf eine imaginäre Reise um die
Gott situierte Shaftesbury in
Welt, die einen erzieherischen Zweck hat und Philosophie mit
der Natur und im Kosmos:
Naturkunde, Geografie und Religion verbindet. Die mytholo-
Die Naturkenntnis ermögli-
gische Figur des Pegasus erlaubt dem Philosophen, sich auf
che es, Gott zu erfassen und
fliegende Weise nicht nur Überblick, sondern auch Einblick in
zu verstehen. Das aktive, fra-
die verschiedenen Phänomene der Welt zu verschaffen. Er be-
gende Streben nach Wissen
schreibt die wilde Natur auf atemberaubende Weise:
im Sinne der Naturwissen-
‹[…] wo riesige Felsformationen übereinander getürmt liegen
schaften löse somit das bis-
und das hohe Himmelsgewölbe zu stützen scheinen. – Siehe,
herige Glauben ab. Alles,
mit welch zitternden Schritten die armen Menschenkinder den
was der Natur angehöre,
schmalen Rand der tiefen Abgründe betreten! Von wo sie mit
hielt er für gut, auch den
schwindelndem Grausen hinabsehen, sogar dem Grund, der
Menschen. (Das Konzept der
sie trägt, misstrauend, während sie das hohle Getöse der
Erbsünde war für ihn nicht
Gießbäche unter sich hören und den Absturz der überhängen-
mehr relevant.) Bei Shaftes-
den Felsen sehen, dazu noch fallende Bäume, die mit ihren
bury war dies mit einer ge-
Wurzeln nach oben hängen und weiteren Absturz nach sich zu
fühlsbetonten Naturwahrnehmung verbunden, er glorifizierte
ziehen scheinen.›55
die Natur und verlieh ihr einen göttlichen Status:
Angesichts dieser Verwüstung ‹werden gedankenlose
‹O mächtige Natur! Weise Stellvertreterin der Vorsehung!
Menschen, gepackt von der Neuheit solcher Gegenstände,
Bevollmächtigte Schöpferin! Oder Du, bevollmächtigte Gott-
nachdenklich und betrachten willig die unablässigen Verän-
heit, höchster Schöpfer! Dich rufe ich an, und Dich allein bete
derungen der Oberfläche dieser Erde›, schreibt der junge
ich an.›59
Philosoph, beeindruckt von der Vergänglichkeit der Dinge.
Jedes einzelne Werk der Natur biete weitaus eindrucksvollere
Der ‹ruinenhaften Wildnis› steht er mit gemischten Gefühlen
Szenen und ein edleres Schauspiel, als es jemals von Kunst
gegenüber:
produziert werden könne, betonte er voller Bewunderung.
‹Das schwache und düstere Licht sieht ebenso schrecklich aus
Er stellte die wilde Natur dem künstlichen Labyrinth der
wie der Schatten selbst, und die tiefe Stille dieser Orte bringt
Prinzengärten entgegen und kam zu dem Schluss, dass ihm
die Menschen, die vom rauhen Widerhall jedes Lautes in den
die Wildnis weitaus besser gefalle, mitsamt den schrecker-
weiten Wölbungen des Waldes aufgeschreckt werden, zum
regenden Dingen und Tieren, denn auch diese sind Teil des
Schweigen. Hier versetzt der bloße Raum in Bestürzung. Das
harmonischen Kosmos und daher auch nützlich.60
Schweigen selbst scheint etwas auszubrüten, während eine
Shaftesbury war ein Verfechter der ‹göttlichen Natur› und
unbekannte Gewalt auf den Geist wirkt und unbestimmte
unterschied sich somit von den englischen Deisten, die rein
Gegenstände die wachen Sinne erregen.›56
rationalistische Prinzipien gelten ließen und Gott schlichtweg
Nach den aufwühlenden Emotionen wird Theocles’ Auge
als Mechaniker des Kosmos betrachteten. Für Shaftesbury
ruhiger, er verabschiedet sich vom Erhabenen: ‹Theocles was
musste die Mechanik aber einen ‹Geist› haben, der die
now resolved to take his leave of the Sublime›57 (Theocles war
gesamte Maschine des Kosmos antreibt, worin für ihn der
jetzt entschlossen, sich vom Erhabenen zu verabschieden.)
Gottesbegriff lag. Er wehrte sich gegen die vorbestimmte ratio-
Das Naturerhabene ist hier bereits klar umrissen: Durch
nalistische Eintönigkeit, die nur zu Atheismus führen könne.
Erstaunen (astonishment) wird die gewohnte Wahrnehmung
Das Unebene der Wildnis berge Rätsel, Überraschung, Wunder
aufgehoben; man ist bewegt und alles rundum wirkt wie ein
und Schrecken, in ihrem ‹Wahnsinn› sah er den göttlichen
27
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
‹The R.t Honble Joseph Addison Esq., one of his Majesty’s Secretary’s of State›, um 1712
Ausdruck von Weisheit, nicht nur in der harmonischen
ich in jedem Augenblick von einem Gipfel zum nächsten zu
Ordnung, denn das Unvorhersehbare bewege uns und rege
springen, bis ich schließlich, nachdem ich diesen luftigen Weg
zum Nachdenken an: ‹Wir müssen Rätsel, Wunderzeichen,
über die Gipfel mehrerer Berge zurückgelegt hatte, mitten
Stoff zum Staunen und Grausen haben! Durch Harmonie,
ins Zentrum der gebrochenen Felsen und Abgründe kam.
Ordnung und Einklang werden wir zu Atheisten gemacht;
Hier sah ich, so dachte ich, einen wunderbaren Bergkessel,
durch Unregelmäßigkeit
der über die Wolken hinwegragte und einen weiten Raum
und Mißklang werden wir
umzirkelte, den ich mit großer Neugier betrachtete.›63
von der Existenz einer
Nach luftigen Sprüngen verschafft er sich von einem Gipfel
Gottheit überzeugt!
aus Überblick und schildert, wie auf der einen Seite schroffe
Die Welt ist bloßer Zufall,
weiße Berge karg emporragen, während auf der anderen
wenn sie ihren geregelten
fruchtbare grüne Wiesen die Bergflanken überziehen, die
Lauf nimmt, jedoch ein
eine zauberhafte Wirkung auf ihn ausüben.64 Den Gegensatz
Werk der Weisheit, wenn
der beiden Landschaften setzte Addison ein, um inmitten des
sie verrückt spielt!›61
wilden Paradieses den Begriff von Freiheit ins Spiel zu bringen:
In diesem Spannungsfeld
‹Ich wunderte mich erstaunt über die Entdeckung eines sol-
lag für Shaftesbury das
chen Paradieses inmitten der Wildheit jener kalten, grauen
Erhabene: eine Gott-Natur-
Landschaft, die darüber lag; aber schließlich fand ich, dass
konzeption, in der das Gute
diese glückliche Region von der Göttin der Freiheit bewohnt
und das Böse vereint sind
war; ihre Gegenwart milderte die Härte des Klimas, bereicherte
und das vermeintliche
die Unfruchtbarkeit des Bodens und glich bei Weitem die
Chaos als Teil der Ordnung
Abwesenheit der Sonne aus.›65
anerkannt ist. Verstand und
Dieser imaginäre Flug über die erschreckenden und gleich-
Emotionen konvergieren
zeitig paradiesischen Alpen vermittelt ein Freiheitsbild, das
in seinem philosophischen
von einer sinnlichen Landschaftsbeschreibung gezeichnet
Weltbild, das er durch des Pegasus’ Flug über die Berge zu
wird. Zehn Jahre nach seiner Alpenerfahrung übertrug er
vermitteln suchte.
seine Eindrücke auf eine philosophisch-politische Ebene, wobei er zu dem Schluss kam, dass es die Freiheit sei, welche die beiden gegensätzlichen Landschaften voneinander trennt:
Berge als Freiheitssymbol
Während auf der kargen Seite das unterdrückerische Regime von Ludwig XIV. herrscht, so liegt auf der fruchtbaren Seite
Joseph Addison,
die freie Schweiz. Durch diese Allegorie konnte Addison
Schweizer Alpen als Symbol der Freiheit, 1710
seine politische Gesinnung zum Ausdruck bringen (er stand
Der englische Autor, Dichter und Politiker Joseph Addison
den Whigs nahe) und implizit den französischen Absolutismus
(1672–1719) griff, nachdem er 1701 die Alpen überquert
kritisieren. Die ‹Göttin der Freiheit› (mit Engelsstimme, in
hatte, im Jahre 1710 in der Zeitschrift The Tatler das Thema
weißen Hermelin gekleidet, einen gezähmten Löwen zu
der Initiationsreise auf und schilderte sie in Form eines imagi-
Füßen) erscheint einige Seiten danach als ‹Genius›66 der
nären Traumes. Er verlegte diese Allegorie ebenfalls in einen
englischen konstitutionellen Monarchie.
sokratischen Dialog der Antike, ‹The table of Cebes› (Cebus,
Die Schweizer Berge wurden somit zum Freiheitssymbol des
Schüler von Sokrates): Erschöpft von der Lektüre, schläft der
postrevolutionären Englands, wobei das Sublime eine wichtige
Erzähler ein und fliegt im Traum über die Alpen, springt
und auch neuartige Rolle spielte: Seine komplexe Doppeldeu-
schwerelos von einem Gipfel zum nächsten und landet
tigkeit zwischen Schrecken und Faszination war hier dualistisch
schließlich auf der höchsten Bergspitze: ‹Mir gefiel es inmit-
aufgespalten, um zwei entgegengesetzte Regierungsformen
ten der Alpen, und, wie es in einem Traum üblich ist, schien
(Unterdrückung vs. Freiheit) durch zwei unterschiedliche
62
1
‹La Montagne› als Freiheitskult der Französischen Revolution, 1794 28
Charles-Simon Pradier, ‹Horace-Bénédict de Saussure›, 1810
Berglandschaften symbolisch darzustellen, die jeweils einer
Gebirgsgruppen, bestieg Gletscher und ließ sich von seinen
bestimmten Nation und deren Regierungsform entsprechen.
Kammermalern dabei malen. Er erforschte die Berge und
Nachdem England bereits 1688 die Einführung einer konsti-
stellte sie in den Dienst des Menschen, um die Lebens-bedin-
tutionellen Monarchie durchgesetzt hatte, lehnte sich hundert
gungen der Bergbauern zu verbessern. In seiner Biografie gin-
Jahre später auch Frankreich gegen den Absolutismus auf
gen Bemühungen um Fortschritt und Industrialisierung mit
und feierte 1789 die neu entstandene Republik. Wieder
Natur- und Bergbegeisterung einher, im Sinne der Aufklärung –
kamen die Berge als Freiheitssymbol zum Einsatz, diesmal in
während diese Leidenschaften gegen Ende des 19. Jahrhun-
künstlicher Form, und standen für die neuen Werte ‹Freiheit,
derts als unvereinbarer Gegensatz angesehen wurde; denn mit
Gleichheit und Brüderlichkeit›. Als symbolische Ikone der
fortschreitender Industrialisierung wurden der verschmutzten
Revolution wurden sie für große Feiern auf öffentlichen Plät-
Stadt die ‹heilen Berge› als Gegenwelt entgegengestellt, die
zen errichtet, von der Statue der Vernunft gekrönt (Projekt 1).
immer mehr als Zufluchtsort für kranke Städter dienten.
Auch in den Kirchen sollten sie aufgetürmt werden, stellvertretend für das neue Ziel, den Berg, dem die Kirche in einer
Horace-Bénédict de Saussure,
Umkehrung der Werte nur mehr als ‹Vorhalle› zu dienen hatte
der Panoramablick auf die Berge, 1776–1796
(Projekt 2).
Horace-Bénédict de Saussure (1740–1799), Professor an der Genfer Akademie, suchte die Alpen auf, um sie zu erforschen.
Wilde Berge als Szenerie, wilde Berge zur Erforschung
Er warf einen wissenschaftlichen Blick auf die Berge, den bereits der Humanismus kultiviert hatte (wie aus Gessners Text hervorgeht) und der in der Aufklärung weiter voranschritt. De Saussure publizierte
Nachdem die wilden Berge durch die philosophische Betrach-
seine Alpenforschung
tungsweise der Aufklärung zum Freiheitssymbol avanciert und
zwischen 1779 und 1796 in
ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt waren, standen sie
dem vielbändigen Werk
für eine ganz bestimmten Vorstellung von Natur. Diese ging
Voyage dans les Alpes,67
mit dem Begriff ‹Wildnis› einher, die seit John Dennis nicht
das in zahlreichen Auflagen
nur furchterregend, sondern auch magisch anziehend war –
erschien und ins Deutsche
weil unbekannt und noch zu erforschen. Das in den österrei-
und Englische übersetzt
chischen Alpen gelegene Wildbad Gastein entsprach dieser
wurde. Seine Alpenstudien
Vorstellung: Im 18. Jahrhundert machte es Furore, insbeson-
generierten allgemeine
dere beim englischen Publikum, der Heilkraft der Thermen
Erkenntnisse, die ihm Auf-
und vor allem der Ästhetik der Wildnis wegen (Projekt 3).
schluss über das Funktionie-
Neben dem philosophischen Interesse an den Alpen und der
ren der Weltgesetze geben
beginnenden touristischen Entwicklung gab es das Bestreben,
sollten. Wie der erste Satz
dieses neue Paradies zu erkunden und dem Menschen nutzbar
der Einleitung des Bands
zu machen. Das Beispiel des Wildbads zeigt nicht nur die
‹Voyage autour du Mont
Begeisterung für die Ästhetik der Wildnis, sondern auch deren
Blanc› ankündigt, versuchte er aus den beobachteten Phäno-
Nutzbarmachung im Zuge von Erzherzog Johanns (1782–1859)
menen eine allgemeine Theorie der Erde (Kosmogonie) abzu-
Reformpolitik. Er sammelte Mineralien, war Alpinist und Jäger,
leiten: ‹Der Mont Blanc ist einer der Berge Europas, dessen
Landwirt, Weinbauer, Industrieller und Mäzen zugleich und
Studie die größten Erkenntnisse über die Theorie der Erde
verbrachte sein Leben hauptsächlich in den Alpenländern
mit sich bringt.›68
Steiermark, Tirol und Salzburg. Er begeisterte sich für das
Er interessierte sich für Geologie, Zoologie, Botanik und
Gebirge und erwanderte die meisten österreichischen
Gletscherkunde und ließ sämtliche beobachteten Tiere,
Künstliche Berge als ‹temples de la Raison›, 1793 29
2
Lane, ‹Battle of Trafalgar›, Werbeplakat für das Panorama Leicester Square in London, nach H. A. Barker, 1806 (u.)
Marc-Théodore Bourrit, ‹Rundblick auf die Berge, die man vom Gipfel des Buet Gletschers aus sieht›, aus: de Saussure 1779 (o.)
Steine, Pflanzen, Kristalle und Gletscher von Marc-Théodore Bourrit, der ihn auf seinen Expeditionen begleitete, zeichnen. Insbesondere seine meteorologischen Forschungen waren von Bedeutung, da er unterschiedliche, selbst entwickelte Messinstrumente bei den Expeditionen einsetzte. Unter anderem konnte er die verschiedenen Blauwerte des Himmels mittels eines eigens angefertigten Cyanometers – ein Rad aus Karton mit verschiedenen Blautönen, mit einer Nummernskala von 1 bis 16 versehen – bestimmen, um auf den atmosphärischen Druck zu schließen. Damit versuchte er ein ‹Muster des Himmels› zu erstellen, als er als einer der ersten den Gipfel des Mont Blancs erreichte. De Saussures Bestreben, alles zu studieren, zu messen und aufzuzeichnen, betraf nicht nur Berge, Pflanzen und die Meteorologie, sondern auch die Zustände des eigenen Körpers beim Aufstieg, die er beobachtete und genau beschrieb: Je näher er dem Gipfel kam, desto schwächer wurde sein Körper und forderte aufgrund der Höhenluft lange Pausen ein: ‹Ich hoffte, den Gipfel in weniger als einer Dreiviertelstunde zu erreichen; aber die dünne Luft bereitete mir wider Erwarten größte Schwierigkeiten. Am Ende war ich gezwungen, alle 15 bis 16 Schritte Luft zu holen; meist tat ich das im Stehen, auf meinen Stock gestützt, aber jedes dritte Mal musste ich mich setzen, denn die Notwendigkeit des Ausruhens war unbezwingbar. Wenn ich versuchte, dies zu überwinden, verweigerten mir meine Beine ihren Dienst, ich spürte den Beginn eines Versagens, […].›69 Die gewonnenen Erkenntnisse gingen mit einer andersartigen Blickweise einher, die sich auch in der Repräsentation der Berge artikulierte. De Saussure entwickelte eine neue Art der Darstellungsweise von Landschaft, die sich von einem Gipfel aus offenbart, nämlich das Panorama: ‹Diese Zeichnung wurde angefertigt, um einen Eindruck des Rundblicks auf die Berge zu vermitteln, den man von der Spitze des Buet aus hat. Der Betrachter sollte sich in der Mitte der Figur befinden; alle Objekte sind perspektivisch um einen zentralen Punkt herum angeordnet, so als ob sie von einem, im Zentrum befindlichen Auge aus gesehen werden, das sukzessive den Horizont umkreist.›70
3
Seine Darstellungsweise wurde bald darauf zum Modell der
ausgestellte Leinwand übertragen wurde (siehe Unterkapitel
Panoramazeichnungen, welche bestrebt waren, die Landschaften
‹Panorama›).
oder Orte maßstabgetreu zu reproduzieren, zum Beispiel
Sein wissenschaftlicher Blick hinderte de Saussure nicht daran,
Karl Friedrich Schinkels kreisförmiger Panorama-Entwurf
die Berge auch aus der Perspektive der Ästhetik zu betrachten.
von Palermo, der auf eine großflächige, in einem Rundbau
Seine Beobachtungsweise schrieb sich in die Alpenrezeption
Wolfgang Hagenauer, Badeschloss in Wildbad Gastein, 1791–1794 30
des Erhabenen ein: Er beschrieb die Berge als erregendes
Leidenschaft, Enthusiasmus und Ekstase wurden bereits von
‹Spektakel›, in dem sich der Betrachter von den kontrastreichen
Longinus thematisiert und von Shaftesbury aufgegriffen.
Ereignissen zwischen ‹vielfachen Regenbogen, Lawinen,
Letzterer übertrug diese extremen Gefühle auf die wilde
schrecklichen Zerstörungen, Donnern, ewigem Eis› einerseits
Natur, nicht ohne dabei ein Gleichgewicht zwischen Emotionen
und einem ‹zarten Bild› andererseits emotional hin- und her-
und Verstand zu suchen. Burke lehnte sich zwar an ihn an,
gerissen fühlt:
konzentrierte sich aber auf die ‹Affekte des Sublimen›, ohne
‹Große Spektakel verändern jeden Augenblick die Szene;
sie der Ratio abwägend gegenüberzustellen. Er leitete somit
hier entspringt eine Quelle über einem Felsen, formt Flächen
die Frühromantik ein, die eine gefühlsbetonte Variante des
und Wasserfälle, die sich in Regentropfen auflösen und dem
Erhabenen aufwies.
Betrachter doppelte und dreifache Regenbogen bieten, die
Dabei konzentrierte sich Burke auf die psychologischen und
seinen Schritten folgen und sich mit ihm bewegen. Dort
sensorischen Eindrücke. Er war bestrebt, alle Einzelheiten zu
lösen sich Lawinen in Blitzgeschwindigkeit aus, durchqueren
erfassen und sie nach ihrer Wirksamkeit zu ordnen. Die Liste
und durchbersten die Wälder, die größten Bäume entwurzelnd,
der Kapitel des zweiten Teils seiner Untersuchung veran-
mit einer schrecklicheren Gewalt als der Donner. Etwas weiter
schaulicht auf einen Blick, welche Ursachen eine Erfahrung
vermitteln große, aus ewigem Eis gebaute Räume die
des Erhabenen hervorrufen können: ‹Leidenschaft, Schrecken,
Vorstellung eines plötzlich erstarrten Meeres, im Augenblick,
Dunkelheit, Kontraste zwischen Hell und Dunkel, Macht,
als der Nordwind die Wogen aufpeitschte. Und neben diesem
Entbehrung, Riesigkeit, Unendlichkeit, Sukzession und
Eis, inmitten schreckerregender Objekte, gibt es wunderbare
Gleichartigkeit, Größe der Dimensionen bei Gebäuden,
kleine Nischen, freundliche Wiesen, die das Parfum tausender
Schwierigkeit, Pracht, Licht, Farbe, Ton und Lärm, Plötzlich-
Blumen preisen, die ebenso selten sind, wie nützlich und schön;
keit, Unterbrechung, Tiergeschrei, Geruch und Geschmack,
und sie vermitteln in diesem begünstigten Klima das zarte Bild
Gefühlssinn, Schmerz.›74 Insbesondere betonte er die ‹maß-
des Frühlings und schenken dem Botaniker die reichste Ernte.›
stabslose Größe, umwerfende Pracht und Grenzenlosigkeit›,
In seinem Werk kommt die Überschneidung von Wissenschaft
die beim Betrachter Entsetzen und tiefe Faszination zugleich
und Ästhetik zum Ausdruck; es ist zu erkennen, dass das Erha-
hervorriefen. Das Erhabene löse weitaus größere Emotionen
bene als kulturelle Grundlage der Betrachtungsweise sich
aus als das Schöne, weil es mit Schmerz verbunden sei.
durchgesetzt hatte. Parallel zur wissenschaftlichen Erkundung
Burke fragte sich, welche dieser Ursachen auch künstlich
der Alpen schritt im Bereich der Philosophie und der Ästhetik
reproduziert werden könnten, und kam zu dem Schluss, dass
die Auseinandersetzung mit den ‹wilden Bergen› voran,
dies bei den meisten möglich sei, mit Ausnahme zweier Phä-
insbesondere über die Gefühle, die sie auslösen.
nomene: der wahren Größe der Natur und der Unendlichkeit.
71
Er setzte sich daraufhin mit der Größe auseinander und verglich Edmund Burke,
sämtliche Formen der Natur:
die künstliche Reproduzierbarkeit des Erhabenen, 1757
‹Ich bin ferner zu der Annahme geneigt, daß Höhe weniger
Der englische Philosoph, Schriftsteller und Politiker Edmund
großartig ist als Tiefe und daß wir stärker berührt sind, wenn
Burke (1729–1797) sah als erster das Erhabene als eigene
wir in einen Abgrund hinab-, als wenn wir an einem Objekt
ästhetische Kategorie an, die sich zum Schönen antithetisch
von gleicher Höhe hinaufsehen, […] Eine senkrechte Fläche
verhält, so wie Licht zu Schatten.72 In seinem 1757 erschiene-
hat mehr Kraft, erhaben zu wirken, als eine schiefe, und die
nen Jugendwerk A Philosophical Enquiry into the Origin of
Wirkung einer rauhen und gebrochenen Oberfläche ist stärker
our Ideas of the Sublime and Beautiful verarbeitete er seine
als die einer glatten und polierten.›75
zehn Jahre zuvor gemachte Alpenerfahrung. Von Shaftesbury
Der allerwichtigste Faktor des Sublimen sei jedoch die
beeinflusst, war auch Burke von den Bergen fasziniert, weil
Unendlichkeit: ‹Unendlichkeit hat die Tendenz, den Geist mit
sie bewegende Gefühle hervorrufen, und beschloss zu erfor-
derjenigen Art frohen Schreckens zu erfüllen, die die eigen-
schen, ‹welche Dinge in uns das Gefühl des Erhabenen und
tümlichste Wirkung und das sicherste Merkmal des Erha-
des Schönen auslösen›.
benen ist.›76
31
73
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
Christian Mechel, Marquard Wocher, Tafel 10 (o.) und 2 (u.), aus: ‹Reise des Herrn de Saussure zum Gipfel des Mont Blanc im August 1787›, 1790
glaube ich, die Ursache zu suchen, warum eine Rotunde einen so edlen Anblick gibt. In einer Rotunde nämlich – sei sie ein Gebäude oder eine Gartenanlage – lässt sich nirgends eine Grenze fixieren. Man wende sich, nach welcher Seite man will: Immer scheint sich dasselbe Objekt fortzusetzen, und die Einbildungskraft findet nirgends einen Ruhepunkt. Um aber dieser Gestalt ihre volle Kraft zu geben, müssen alle Teile nicht bloß kreisförmig sein, sondern auch untereinander gleichartig sein.›77 Er bezog sich auf Addison, der die angenehme Wirkung einer Rotunde mit der Tatsache begründete, dass der Betrachter mit einem Blick den halben Raum erfassen könne (Spectator Nr. 415).78 Für Burke lag jedoch der Grund im Erhabenen selbst, das durch den Eindruck von Unendlichkeit ausgelöst werde. Burkes Theorie der künstlichen Unendlichkeit und de Saussures kreisförmige Darstellungsweise des Panoramablicks auf die Alpen machten Schule. Kurz darauf konzipierte der englische Maler Robert Barker das erste in sich geschlossene Panoramabild, das er in einer eigens dafür konstruierten Rotunde ausstellte. Er ließ seine Erfindung 1787 patentieren (Projekt 4).79 Das runde Prinzip als ideale Darstellungsform von Unendlichkeit wurde hier erstmals räumlich umgesetzt; der obere und untere Gemälderand waren bei dieser Art der Präsentation sorgfältig versteckt, um die Wahrnehmung jeglicher Begrenzung zu vermeiden, Burkes Theorie entsprechend. Immanuel Kants Kritik an Burke: das Erhabene als eine geistig-moralische Erfahrung Immanuel Kant reiste nicht gerne und war nie in den Alpen. Seine Theorie der Ästhetik, die zwischen dem Schönen und dem Erhabenen unterscheidet, leitete er nicht von persönlichen Erfahrungen ab (wie die bisher präsentierten Philosophen), sondern er versuchte, die Erfahrungen anderer zu erklären und ins Licht der rationalen Aufklärung zu rücken. Immanente
4
Um seine Frage, ob Unendlichkeit auf künstlichem Wege
überschwängliche Gefühle sollen kontrolliert und auf die
hergestellt werden könne, weiterzuverfolgen, setzte er sich
geistige Ebene eines höheren Bewusstseins transferiert sein,
mit der Sukzession und der Gleichartigkeit auseinander.
nur so können sie zur Anschauung verhelfen.
Dabei unterstrich er die Notwendigkeit der Abwesenheit
Kant kritisierte Edmund Burkes Abhandlung. Seiner Ansicht
jeglicher Grenzen, woraus er schloss, dass ein künstlicher
nach verfolge diese bloß den Ansatz einer empirischen
Raum nur dann als unendlich wahrgenommen werde, wenn er
Psychologie, liefere ‹mithin Stoff zu künftigen systematisch zu
rund sei; denn nur dann störe kein Hindernis den Eindruck von
verbindenden Erfahrungsregeln›80 (die Geschichte sollte ihm
Unendlichkeit: ‹In dieser Art von Künstlichkeit haben wir,
recht geben, Burkes Abhandlung beeinflusste tatsächlich die
Robert Barkers Panorama, Architekt Robert Mitchell, London, 1793(–1864)
32
William McGregor, zwei Bilder aus: ‹Ersteigung des Mont Blanc›, um 1850
künstliche Erzeugung des Erhabenen); er untersuche ‹Gemütsaffection oder Bewegung, die in Schauspielen, dichterischen Vorstellungen und von Gegenständen der Natur erweckt›81 werde, und erhebe, so Kants beißende Kritik weiter, Anspruch auf eine Erklärung der Ursachen, ohne diesen jedoch auf den Grund zu gehen. Daher dürfe dieses Unterfangen nicht ‹Philosophie› genannt werden, höchstens ‹Psychologie›.82 Anschließend verfasste Kant in der Kritik der Urteilskraft (1790) seine eigene philosophische Abhandlung über das Schöne und Erhabene, wobei er – im Gegensatz zu Burke – nicht die sensorischen Aspekte in den Vordergrund stellte, sondern den Verstand. In der deutschen Philosophie erfuhr das ‹Sublime› nicht nur eine begriffliche, sondern auch eine inhaltliche Wandlung. Im Gegensatz zu den lateinischen und angelsächsischen Sprachen wurde das lateinische Wort sub limen (das eine Grenzerfahrung andeutet) durch das deutsche Wort ‹erhaben› ersetzt, das ein ‹sich über etwas erheben› impliziert. Diese Begriffsänderung ist bezeichnend für die deutsche Auslegung des Erhabenen: Es geht weniger um die Überschreitung der Grenzen durch bewegende Gefühle als um das Sich-Erheben über die eigene Ohnmacht, die zum Beispiel angesichts des unendlichen Meeres oder der Größe der Berge empfunden wird. Kant hob die geistige Kraft hervor, die sich über die physische Macht der Natur (die äußere, aber auch die innere) erheben könne. ‹Obgleich der Mensch jener Gewalt unterliegen müßte›,83 könne er sich moralisch-geistig über sie erheben, wodurch er sich seines eigenen Daseins (der ‹eigenen Erhabenheit der Bestimmung›) bewusst werde. ‹Das Erhabene ist nicht in den Dingen der Natur, sondern in unseren Ideen› zu suchen, schrieb er, denn die Landschaft an sich könne nicht erhaben sein: ‹So kann der weite, durch Stürme empörte Ozean nicht erhaben genannt werden. Sein Anblick ist gräßlich; und man muß das Gemüt schon mit mancherlei Ideen angefüllt haben, wenn es durch eine solche Anschauung zu einem Gefühl gestimmt
Während das Schöne mit ruhiger Kontemplation einhergehe,
werden soll, welches selbst erhaben ist, indem das Gemüt die
so sei das Gefühl des Erhabenen aufwühlend-bewegend und
Sinnlichkeit zu verlassen und sich mit Ideen, die höhere
mit Furcht verbunden. Doch dürfe der Mensch der Naturgewalt
Zweckmäßigkeit enthalten, zu beschäftigen angereizt wird.›84
keinesfalls unterliegen, diese solle lediglich Auslöser seiner
Kant unterschied zwischen dem Mathematisch-Erhabenen
Angstvorstellungen sein:
und dem Dynamisch-Erhabenen. Ersteres entstehe durch die
‹Kühne überhangende gleichsam drohende Felsen, am Himmel
unfassbare Größe der Natur, letzteres werde durch die Bewe-
sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen
gung des Gemüts ausgelöst, basierend auf Erschütterung.
einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt,
33
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
85
[…] machen unser Vermögen zu widerstehen […] zur unbe-
andern als seinen eigenen Gesetzen stünde›. Das Erhabene
deutenden Kleinigkeit. Aber ihr Anblick wird nur um desto
verschaffe uns ‹einen Ausgang aus der sinnlichen Welt›,
anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit
wobei ‹Vernunft und Sinnlichkeit› nicht zusammenstimmten;
befinden; und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben,
‹eben in diesem Widerspruch zwischen beiden liegt der
weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß er-
Zauber, womit es unser Gemüt ergreift.›92 Dabei spiele laut
höhen, und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer
Schiller die Frage der Grenze eine essenzielle Rolle: Einerseits
Art in uns entdecken lassen, welches uns Mut macht, uns mit
wegen unserer beschränkten Fassungskraft, uns ein Bild vom
der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können.›
Erhabenen zu verschaffen, andererseits wegen unserer Lebens-
86
Erhaben also in dem Sinne, dass sich der Mensch seiner
kraft, die angesichts der Macht der Natur verschwindend
selbst bewusst wird als selbstständig denkendes und han-
klein sei. Diese Bewusstwerdung unserer eigenen Grenzen
delndes Wesen.87 Dank der geistigen Überlegenheit, die er
ziehe uns ‹mit unwiderstehlicher Gewalt› an: ‹Würde dieses
angesichts der furchterregenden Natur verspüre, erscheinen
wohl möglich sein, wenn die Grenzen unsrer Phantasie zugleich
ihm die alltäglichen Angelegenheiten (‹Güter, Gesundheit
die Grenzen unsrer Fassungskraft wären?›93
und Leben›)88 klein. Doch hat das Erhabene bei Kant auch
Das Erhabene als Grenzerfahrung wurde auch von Friedrich
eine übersinnliche Dimension, die durch den Geist (Vernunft,
Nietzsche aufgegriffen, der allerdings Schillers moralischen
Idee, freie Vorstellung) zu erfassen sei: ‹Die Verwunderung,
Ansatz kritisierte. Nietzsche führte in Also sprach Zarathustra
die an Schreck grenzt, das Grausen und der heilige Schauer,
(1883–1885 in Privatdruck, ab 1886 in Verlag von E. W. Fritsch
welcher der Zuschauer beim Anblick himmelsansteigender
veröffentlicht) ein Erhabenes ein, das nicht auf Moral gegründet
Gebirgsmassen, tiefer Schlünde und darin tobender Gewäs-
ist, sondern in der reinen Selbstsuche liegt. Dies artikuliert
ser […] ergreift, ist […] nicht wirkliche Furcht, sondern nur ein
sich in der Figur des Übermenschen, wobei dem Körper, in
Versuch, uns mit der Einbildungskraft darauf einzulassen, um
inniger Verschmelzung mit den Naturelementen, eine wesentli-
die Macht ebendesselben Vermögens zu fühlen […] und so
che Rolle zukommt, wie im Kapitel ‹Therapeutische Landschaft›
die Natur in uns selbst, mithin auch der außer uns […], über-
erläutert wird. Kants Theorie hat die deutsche Philosophie der
legen zu sein.›89
Ästhetik nachhaltig geprägt (und somit auch die Naturbe-
Das ‹Schlechthin-Große› könne daher nur in Relation zur
trachtung und die Kunstauffassung, wie im zweiten Kapitel
eigenen Bewusstwerdung gesehen werden.90 Kants Theorie
‹Kristall, Kristallisation› aufgezeigt wird), aber nicht die
des Schönen und Erhabenen veränderte den Bezug zu den
englische. In England blieb Burkes Ansatz die ausschlagge-
Bergen: Furchterregend war die Natur nicht mehr als solche,
bende Referenz, wie Uvedale Prices theoretischer Schrift An
sondern lediglich als Vorstellung. Nur wenn sich der Mensch
Essay on the Picturesque: As Compared with the Sublime and
in Sicherheit fühle, könne er die wilde Natur als erregend
the Beautiful (1796) zu entnehmen ist.
wahrnehmen und Erhabenheit empfinden; das geistige Sich-Erheben, über die äußere, schreckerregende sowie die
Uvedale Price, das Pittoreske und die ‹Verbesserung der
innere Natur, ermöglicht das Nachdenken über das eigene
Landschaft›, 1796
Dasein, wobei das Alltägliche relativiert wird. In Kants
Der junge Baron von Herefordshire, Uvedale Price, war der
Erhabenen-Begriff ist die Möglichkeit von Erkenntnis verankert.
älteste Sohn des Malers Robert Price, der 1741 eine Expedition auf den Gletscher des Mont Blancs unternommen hatte (sein
Friedrich Schillers Interpretation des Erhabenen als
Reisebericht erschien 1743 unter dem Titel Mercure de Suisse).
geistige Freiheit und Bewusstwerdung unserer Grenzen
Möglicherweise wegen der väterlichen Extremerfahrung
Friedrich Schiller knüpfte in Über das Erhabene91 an Immanuel
setze sich Uvedale mit der maximalen Nervenanspannung
Kants vernunftorientierte Theorie an. Er legte das Erhabene
auseinander, welche die wilde Natur auszulösen fähig war;
als eine Form geistiger Freiheit aus, ‹weil die sinnlichen
dazu kam seine eigene Erhabenen-Erfahrung, die er auf seiner
Triebe auf die Gesetzgebung der Vernunft keinen Einfluß
Grand Tour im Jahre 1768 machte.94 Die vielfältigen Sinnes-
haben, weil der Geist hier handelt, als ob er unter keinen
eindrücke regten ihn zum Nachdenken über den Reiz der
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
34
Sir Thomas Lawrence, ‹Sir Uvedale Price, 1st Baronet›, um 1799
Landschaft an und motivierten ihn, seine Erkenntnisse in
sind. Price fügte hinzu, dass
gestalterischer Weise auf seinem englischen Landgut einer
es hingegen beim Pittores-
Probe zu unterziehen. Dabei nahm er die Sichtweise eines
ken nicht auf die Größe an-
Malers ein: Nicht die Gleichmäßigkeit und künstliche Perfektion
komme, sondern vielmehr
sah er als stimulierend an, sondern die Wildnis. Price war sich
auf Zufälligkeit und Unregel-
durchaus bewusst, dass es unmöglich sei, das Erhabene
mäßigkeit, kombiniert mit
durch künstliche Gärten zu erzeugen; das erregende Pittoreske
einer gewissen Dekadenz.
hingegen könne sehr wohl gestaltet werden.
Während sich das Erhabene
In seinen reifen Jahren verarbeitete er das in der Praxis erwor-
durch seine Feierlichkeit
bene Wissen in seinem theoretischen Lebenswerk Essays on
eindeutig von der Lieblich-
the Picturesque, as Compared with the Sublime and the
keit des Schönen abhebe,
Beautiful: and, on the Use of Studying Pictures, for the Purpose
so mache das Pittoreske
of Improving Real Landscape. Wie bereits der Titel ankündigt,
diese erst so richtig aufre-
verfolgte er ausdrücklich das Ziel, die reale Landschaft durch
gend.99 Die drei ästheti-
das Studieren von Bildern zu verbessern. Seine Abhandlung
schen Kategorien seien laut
sollte als theoretische Anleitung dienen. Er vertrat die Ansicht,
Price aber keinesfalls ausschließlich, im Gegenteil: Das
dass Landschaft durch eine künstlerische Intervention anregen-
Pittoreske könne manchmal näher beim Sublimen und
der gestaltet beziehungsweise auch künstlich erzeugt werden
manchmal näher beim Schönen liegen, es könne in allen
könne. Die Schwelle zwischen Natur und Kunst sei eine
möglichen Kombinationen auftreten, wobei sich die
durchaus fließende: Prices ‹Gestalten der Landschaft› war,
Gewichtung stets verändere.
ähnlich wie Burkes ‹Erzeugen des Sublimen›, ein anzustre-
Bemerkenswert ist, dass Price den drei Kategorien unter-
bendes Unterfangen, das durchaus auch auf künstlichem Wege
schiedliche Nervenzustände zuordnete: Während das Sublime
erfolgen konnte, um den gewünschten Effekt zu erzielen.
(und die von ihm ausgelösten Gefühle von Angst und Schrecken)
Uvedale Price stellte zwischen die beiden sich antithetisch
Höchstspannung erzeuge, so löse die durch das Schöne ent-
verhaltenden ästhetischen Kategorien des Schönen und
standene Leidenschaft Liebe und Wohlgefallen aus und das
Erhabenen eine dritte ‹Grundaussage›, das Pittoreske. Diese
träge innere Gefühl des Dahinschmelzens entspanne die
Terminologie kam ursprünglich aus dem Italienischen und
Nerven völlig.100 Das Pittoreske hingegen siedle sich genau
bezeichnete im 16. Jahrhundert eine Landschaft, ‹die des
dazwischen an und habe regulierende Eigenschaften: Es mache
Malens wert› sei. Zwischen dem erschütternden Erhabenen
das ‹Sublime erträglicher› und das ‹Schöne zugänglicher›.
und dem beglückenden Schönen sei das begrenzende
Anhand des Beispiels einer romantischen Berglandschaft
Pittoreske situiert.97 Dieses oszilliere zwischen den anderen
beschrieb er die Eigenschaften des Pittoresken:
beiden ästhetischen Kategorien und zeichne sich durch eine
‹[…] während [das Erhabene] uns veranlasst, jeden Felsvor-
lebendige Neugierde aus. Während das Erhabene vor allem
sprung zu erklettern und jeden neuen Rücksprung zu
durch Grenzenlosigkeit definiert sei, komme es beim Pittores-
erkunden, hält es durch seine aktivierende Wirkung die Nerven-
ken darauf an, wie und auf welche Art Grenzen gesetzt werden:
fasern in voller Anspannung; das Pittoreske hingegen, wenn
‹Das Unendliche ist der stärkste Auslöser des Erhabenen; der
es mit einem der beiden anderen Charakteristika vermischt
grenzenlose Ozean erweckt aus diesem Grunde erhabene
ist, korrigiert die Trägheit des Schönen oder die Spannung
Gefühle; um Pittoreskes zu erzeugen, musst du diesen Faktor
des Erhabenen.›101
des Erhabenen zerstören; denn das Pittoreske hängt in
Das Pittoreske sei laut Price eine ‹Koketterie der Natur, die das
großem Maße von der Form und der Art der Anordnung der
Schöne zwar unterhaltsamer, abwechslungsreicher und ver-
Grenzen ab.›98
spielter mache, aber auch weniger angenehm weich und lieb-
Burke hatte bereits festgestellt, dass die wichtigsten Faktoren
lich mild›. Es sei aber auch befreiend für den Geist, denn es
des Erhabenen die Grenzenlosigkeit und die Maßstabslosigkeit
‹regt ihn zur Neugierde an und lässt der Phantasie genügend
95
96
35
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
Johann Gottfried Jentzsch, Wilhelm Rothe, ‹Blick von der sogenannten Teufelsbrücke›, bei Gestinen, um 1810
begrenzt die Natur an sich. Gebirgsarchitektur begrenzt jene Natur, die als erhaben rezipiert wird: Panoramafenster geben der Landschaft einen Rahmen, wodurch die ‹wilde Natur› draußen zum pittoresken Bild einer nostalgischen Sehnsucht nach Grenzenlosigkeit wird. Das durch die Wildnis hervorgerufene Erhabenen-Gefühl gehört jedoch bereits dem Pittoresken an, sobald versucht wird, es zu inszenieren oder künstlich zu reproduzieren. Dies kommt bei den Grandhotels und Villen des 19. Jahrhunderts mitsamt ihren Landschaftsparks und falschen Grotten zum Ausdruck. In den Alpen entstanden sämtliche pittoreske Imitationen der Natur: in sich geschlossene, kleine Welten inmitten der echten Wildnis. In den Städten artikulierten sich möglichst naturgetreue Abbilder der Natur als Panoramen, Dioramen und künstliche Berge. Bei den diversen künstlichen Reproduktionen der Berge wurden unterschiedliche Mittel eingesetzt, um Faszination und Schrecken zu erwecken, auf möglichst ähnliche Weise wie in den ‹echten› Alpen. Im Panorama wurden mehrere Landschaften, Städte oder historische Szenen übereinandergestapelt, unabhängig von reellen zeitlichen oder räumlichen Beziehungen, sodass der Besucher in kürzester Zeit durch verschiedene Räume und Zeiten reisen konnte. Es erlebte im 19. Jahrhundert einen Höhepunkt, koexistierte aber lange Zeit mit anderen Medien, die auf unterschiedlichste Weise Immersion produzierten. Nachdem die Panoramen zwar einen überwältigenden Eindruck von UnendSpielraum, im Gegensatz zum Erhabenen, wo das Erstaunen den Geist mit eisernen Bändern fesselt›.
102
Price war überzeugt,
lichkeit vermittelten, nicht aber die aufregende Sensation von Angst und Schrecken, wurde bald darauf das Diorama von Louis
dass von den drei ästhetischen Kategorien das Pittoreske den
Daguerre erfunden, welches das Publikum auf andere Weise
‹größten Einfluss› habe.
erfasste: Flackernde Licht- und Schattenspiele huschten in abwechslungsreichen Animationen über bemalte Leinwände,
Künstliche Berge. Vom Sublimen zum Pittoresken
begleitet von aufzuckenden Blitzen und künstlichem Donner. Für wachsende Spannung sorgte, wie bereits beim Panorama, Musik, selbst Schauspieler kamen hinzu (Projekt 5).103 Die totale Immersion des Publikums als Ziel war immer wichtiger, wobei
5
Uvedale Price hatte in Zusammenhang mit seiner Aktivität als
der gesamte Körper miteinbezogen wurde, um möglichst alle
Landschaftsgestalter herausgefunden, dass das Charakteris-
Sinne zu ergreifen.
tischste des Pittoresken die Begrenzung ist, durch die es ‹das
Ende des 19. Jahrhunderts avancierten die Berge auf den
Sublime erträglicher› und ‹das Schöne zugänglicher› mache.
Weltausstellungen zu einer beliebten Attraktion: Im Jahre
In diesem Sinne betrifft die Frage der Begrenzung jede
1896 wurde das erste ‹Schweizer Dorf› auf der ‹Exposition
gestalterische Intervention in der Natur, auch die Architektur,
Nationale Suisse› (Schweizer Landesausstellung) in Genf errichtet,
denn sie setzt der Natur allein schon durch ihre Existenz
mit einem riesigen künstlichen Berg im Hintergrund. Der Erfolg
Grenzen. Architektur, indem sie in die Bergwelt gebaut wird,
war dermaßen groß, dass eines vier Jahre später auch auf der
Louis Daguerre, Diorama, 1822 36
Pariser Weltausstellung aufgebaut wurde. Die Besucher konnten
technischen Fortschritts gegen Ende des 19. Jahrhunderts
durch rekonstruierte Alpendörfer wandeln, umgeben von
mit Eisenbahnen und Zahnradbahnen erreichbar. In unmittel-
einem Bergszenario aus Pappmaché. In diesen künstlichen
barer Nähe der Bahnstationen und an den attraktivsten
Idyllen hatten Bauern (bezahlte Statisten) und Tiere die Auf-
Standorten siedelten sich die ersten alpinen Grandhotels an
gabe, einen typischen Tagesablauf zu inszenieren. Durch die
(siehe Kapitel ‹Bewegung, Rausch und Schwindel›). Hier
vollkommene Immersion wurde der Besucher Teil des Szenarios.
begann die Architekturgeschichte all derjenigen Projekte, die
(Erlebnisparks funktionieren noch heute nach diesem Modell,
Städter in den Alpen errichteten, um ihrer Sehnsucht nach
auch wenn sich das Sujet verändert hat [Projekt 6].) Auch das
den vielpropagierten ‹erhabenen Bergen› nachzugehen.
Panorama entwickelte sich weiter: Giovanni Segantini erstellte
Das illusionistische Bild der Alpen wurde von den städtischen
für die Pariser Weltausstellung 1900 einen Entwurf für ein
Reproduktionen auf die wirklichen Berge übertragen, wodurch
Engadin-Panorama, für dessen Zentrum keine Aussichtsplatt-
sich deren Wahrnehmungsweise änderte. Es entstand ein
form vorgesehen war (wie sonst üblich), sondern ein künstlicher
Wechselspiel zwischen der Erfahrung des Originals und der
Berg, den Bauern und Tiere ‹bewohnen› sollten, um die Besucher
Erfahrung seiner Reproduktion. Dabei wurde das Erhabene
mit allen Sinnen zu ergreifen (Projekt 7).
zum Leitmotiv der Alpenrezeption und das Pittoreske zum
Die Zurschaustellung eines ‹pittoresken Landlebens› war fixer
Modus Vivendi: Mit der zunehmenden Herrschaft über die
Bestandteil großer Ausstellungen und kam in dieser Form
Natur durch Wissenschaft und Technik verringerte sich
noch bis zum Ende der 1920er Jahre zum Einsatz. 1925 gab es
das Gefühl menschlicher Ohnmacht angesichts der wilden
etwa im Rahmen der Ausstellung ‹Exposition internationale de
Berge. Sie lösten gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht
la houille blanche et du tourisme› in Grenoble (die der Wasser-
mehr Schrecken aus, sondern ästhetischen Genuss. Das pitto-
kraft und dem Tourismus gewidmet war) ein ‹savoyisches Dorf›
reske, nach Price das aufregendere, Erleben von Landschaft
zu betrachten. Nationale und vor allem auch regionale
überlagerte nun die erhabene Erfahrung. Analog wurde auch
Identität wurde dadurch nicht nur vermittelt, sondern auch
versucht, durch diverse Interventionen intensive Gefühle
erschaffen. Während das Panorama das Erhabenen-Gefühl zu
beim Betrachten der Gebirgswelt weiter zu steigern und
erzeugen strebte, so war das ‹Schweizer Dorf› der Weltausstel-
gespannte Erwartungshaltungen nicht zu enttäuschen
lungen eine pittoreske, möglichst naturgetreue Imitation der
(zum Beispiel durch pittoreske Landschaftsparks mit Grotten,
Natur. Das Panorama könnte somit als ‹Maschine des Subli-
Gebirgsbeleuchtung, Szenerien mit ausgestopften Bären und
men› betrachtet werden, das Diorama und das idealisierte
Hirschgeweihen in den Eingangshallen der Grandhotels).
Dorf als ‹Theater des Pittoresken›. Bei all diesen Attraktionen,
Das von Uvedale Price proklamierte Ziel, ‹Landschaft durch
so verschieden sie auch waren, erweist sich die Dissimulierung
Bilder zu verändern›, verwirklichte sich hier mit dem
der Grenze als essenziell, denn sie ist dafür ausschlaggebend,
gewünschten Effekt der ‹Verbesserung von Landschaft› durch
ob sich der gewünschte Effekt einstellt oder ob die Künstlich-
Interventionen, die das Erleben der Alpen durch sinnliche
keit demaskiert wird.
Wahrnehmung intensivierten. Die Wechselwirkung zwischen Wirklichkeit und Bild wurde insbesondere durch die Plakate
Die Städter erobern die Alpen. Das Erhabene als Leitmotiv der Alpenrezeption
der Fremdenverkehrswerbung angeschürt: Die Alpen waren darauf paradiesisch inszeniert, um die Gemüter zu erregen. Durch die inszenierten Illustrationen der Landschaft verwandelte sich die Wahrnehmung der Gebirgslandschaft: Sie
Nachdem die Alpen in den Städten Furore gemacht hatten,
wurde in pittoreske Einzelbilder zerlegt, die eine Folge
setzte eine Reiseflut ein, um die in schillernden Farben
unzusammenhängender Motive ergaben. Sie erzeugten ganz
inszenierte Erfahrung des Erhabenen vor Ort zu machen.
spezifische Klischees einer Bergwelt, die mit konkreten Inhalten
Mit dem aufkommenden Tourismus wurden Berge zusehends
und Nutzungen verbunden war.
erschlossen: Anfänglich nur über mäandrierende enge Straßen befahrbar, waren die ersehnten Höhenlagen dank des
‹Schweizer Dorf›, Exposition Nationale Suisse, Genf 1896,
6
Pariser Weltausstellung 1900 Giovanni Segantini, Entwurf eines Engadin-Panoramas, 37
Pariser Weltausstellung 1900
7
Friedrich Studer, ‹Giessbach – Am Brienzersee – Beleuchtung der Fälle jeden Abend›, Werbeplakat, 1912
Karl Bickel, ‹Trümmelbach – Lauterbrunnen – Schweiz›, Werbeplakat, 1929
Wie das Landschaftsbild im Sinne des Pittoresken ‹verbessert›
bige Weltpunkt› als exotisch bezeichnet werden, sofern er
wurde, illustriert ein Werbeplakat aus dem Jahre 1912: Die
von einem ‹anderen beliebigen Weltpunkt aus als ungewöhn-
Wasserfälle in Giessbach, eine wahre Touristenattraktion,
lich erscheint›, stellte er fest und wies auf die ‹Exotisierung›
wurden jeden Abend beleuchtet, schließlich mussten sie mit
der Natur in Form von Naturschutzparks hin:
den eindrucksvollen Inszenierungen der Dioramen konkurrieren.
‹Diese Relativierung des Exotischen geht Hand in Hand mit
Mehrere Grandhotels hatten sich in unmittelbarer Nähe der
seiner Verbannung aus der Wirklichkeit – so daß romantische
Wasserfälle angesiedelt, um das leuchtend-tosende Natur-
Gemüter früher oder später die Anlage umzäunter Natur-
schauspiel durch Panoramafenster in Szene zu setzen. Auf
schutzparks werden anregen müssen, verschlossener, märchen-
dem Plakat verschmilzt der Wasserfall durch die Beleuchtung
hafter Bereiche, in denen man auf Erlebnisse hoffen darf, die
mit den Grandhotels und der Eisenbahntrasse und bildet
zur Zeit Kalkutta kaum noch gewährt. Bald ist es so weit.›104
optisch zusammen mit dem glitzernden Sternenhimmel eine
Die Erzeugung solch märchenhafter Bereiche wurde bereits
untrennbare Einheit von Natur und Kultur.
von den alpinen Grandhotels praktiziert, wie wir aus den
Das Spektakuläre rückte zusehends in den Vordergrund der
Werbeplakaten erfahren können. Die Inszenierung der Alpen
Reisemotivation. Siegfried Kracauer, deutscher Philosoph und
war dermaßen stilisiert und übertrieben, um die gewünschten
Architekt, konstatierte, dass es in den 1920er Jahren nicht
gemütsbewegenden Effekte zu erzielen, dass die Realität oft
mehr um das Spezifische eines Ortes ging, sondern um die
nur ein flaues Abbild dessen sein konnte, was mit leuchtenden
Fremdheit an sich: Anstatt der Pyramiden würde jeder ‹belie-
Bildern und überschwänglichen Worten angekündigt wurde.
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
38
Otto Baumberger, ‹Höll-Grotten Baar bei Zug – Wundervolle Tropfsteinhöhlen›, Werbeplakat, um 1931
Auch die Beschreibungen in den Reiseführern trugen zur Ent-
Twain hatte Mühe, die Beschreibungen der ‹erhabenen
stehung eines ganz bestimmten Alpenbildes bei, welches die
Berge› mit seinen eigenen Erfahrungen zu vereinbaren, weil
Touristen genauso erleben wollten, wie es beschrieben war.
die Präsenz anderer Touristen seine Wahrnehmung der Alpen
Sobald der wahre Eindruck den Erwartungshaltungen nicht
ständig beeinträchtigte. Die Erfahrung des Einzelnen wurde
entsprach, trat Enttäuschung ein. Dies hängt auch mit der
zu einem kollektiven Erlebnis, die individuelle Wahrnehmung
raschen Entwicklung des alpinen Tourismus zusammen, der
zu einer bereits vorprogrammierten Attraktion. Dies ist der
bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so weit
Grund, warum die Erfahrung nicht mehr erhaben sein konnte
ausgeprägt war, dass durch die Präsenz zahlreicher anderer
(sie war nicht mehr überraschend und schaurig, weil bereits
Reisender eine gewisse Abstumpfung in Bezug auf die Alpen-
bekannt und erwartet), sondern pittoresk.
rezeption eintrat – denn alle wollten das Gleiche erleben, so wie es im Reiseführer stand. Dies kommt in der satirischen Erzählung A Tramp abroad (1880) von Mark Twain zum Aus-
Die körperliche Dimension des ‹Sublimen›
druck, der sich über die ‹Baedeker Touristen› lustig machte: ‹Ein alter Engländer ließ sich auf seinem Sitz nieder und
Es geht nicht nur um eine ästhetisch-visuell-geistige Wahr-
sagte: «Gut, ich bin befriedigt; ich habe die wichtigsten Sehens-
nehmung, sondern darüber hinaus um eine allumfassende
würdigkeiten der Schweizer Landschaft gesehen – den
Erfahrung des Erhabenen, die auch den Körper impliziert,
Mont Blanc und den Goiter – und jetzt nach Hause!»›
wovon unter anderem ein Reisebericht George Sands zeugt.
105
Im Jahre 1847 hatte sie die Alpen per Pferdekutsche überquert und blieb von den Gipfeln und Schluchten zutiefst beeindruckt. In ihren Memoiren Histoire de ma vie (1855) schilderte sie dieses als schrecklich schwindelerregendes Erlebnis, zugleich ‹wunderbar› und ‹nicht ohne Reiz›. Die wilde Landschaft löste in ihr extreme Emotionen aus, die sich mit ihrem Abschiedsschmerz überlagerten: ‹Beim Verlassen von Pierrette, beim Erklimmen eines Berges mit außerordentlicher Geschwindigkeit der eingespannten Pferde, beim Lauschen des tosenden Wildbachs in seiner unglaublichen Wildheit, schnürt sich die Seele zu und ein Gefühl unüberwindbaren Entsetzens erstarrt das Herz. […] Der Weg schlängelt sich entlang der Flanken einer tiefen Schlucht, an den Wänden des Abgrunds. Die Felsblöcke neigen sich und ragen über den Abgrund. […] All das schien mir schrecklich und wunderbar zugleich. Ich hatte Angst, eine außergewöhnliche und grundlose Angst, Angst vor dem Schwindel, die jedoch nicht ohne Reiz war. Ich war wie betrunken und hatte Lust zu schreien.›106 Dieses Zitat veranschaulicht, dass das Erhabene eine elementare psychische Erfahrung ist, die mit einem intensiven Körpergefühl zusammenhängt.
39
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
8
Rasend durch die Berge der Vergnügungsparks
sind durch die Verwirrung im Äußeren, durch das Ineinander
Die viel propagierten Reiseberichte über die extremen psy-
von Fassade und Holzgerüst freigelegt worden. Das irrsinnige
chischen und physischen Erlebnisse, die in den Alpen gemacht
Tempo erweckt sie vollends, und nun spielen sie Aufruhr.
wurden, lösten eine kollektive Welle der Begeisterung aus.
Die Fahrenden brüllen vor Angst, zerschmettert zu werden, sie
Um die entstandene Alpensucht zu befriedigen, wurden –
schaudern am Rande der Welt, das Bild der Gefahr versetzt
ähnlich wie bei einem Ersatzsuchtmittel – diverse Einrichtungen
sie in Schrecken. Ihr Schreien ist elementarisch. […] Fast
erfunden, welche die berauschende Wirkung auf künstlichem
scheint es, als schrien alle, weil sie sich endlich erlöst wähnen.
Wege herstellten und einem breiten Publikum zugänglich
Ein Triumphgeschrei: wir sind da, wir schweben mitten im
machten. Es handelte sich dabei jedoch nicht mehr um eine
Glück, wir rasen, weiter und weiter. Das Rasen kann Tod be-
erschütternde Kontemplation, wie bei den Panoramen, oder
deuten; es ist zugleich die Erfüllung. Der Schrei dauert an.
um ein pittoresk-schauriges Erlebnis, wie angesichts der
In einem unaufhörlichen Taumel wird das Spiel zu Ende ge-
Dioramen. Um 1900 ging es vielmehr darum, ein bedingungs-
bracht. Die Geheimnisse finstrer Tunnels werden blitzschnell
loses Hineinstürzen in eine künstliche Welt des Schreckens zu
erkundet, verwischte Fronten brausen vorbei. Eine wilde Krit-
ermöglichen, die Körper, Geist und Seele gesamtheitlich erfassen
zelei ist die Welt geworden. Das sind nicht Arbeiter, kleine
sollte.
Leute und Angestellte mehr, vor denen die Brocken stürzen,
In den Vergnügungsparks wurden künstliche Berge errichtet,
die Linien rascheln, die Stücke aufrauschen. Es sind Men-
wie es das Beispiel von ‹Dreamland› auf Coney Island bei
schen, die im Augenblick sind, die, fliegenden Strichen
New York (1904 errichtet) veranschaulicht, das für seine
gleich, von einem Pol zum andern sich dehnen. Vom Berg ins
Besucher eine ganzheitliche Immersion anstrebte (Projekt 8).
Tal, aus der Höhe in die Tiefe und wieder in die Höhe.›107
Der Name ‹Dreamland› war bezeichnend: für ein Land, in
Durch die rasende Bewegung des Körpers und den damit
dem Träume erlebt werden können, die uns in Sekunden-
verbundenen Schrecken war eine Loslösung vom Alltag mög-
schnelle in das illusionistische Reich außerordentlicher
lich. Die im Begriff des ‹Sublimen› etymologisch enthaltene
Gefühlszustände befördern, welches bisher (wenn auch auf
Grenzüberschreitung, die zur Zeit der Aufklärung in erster
andere Weise) nur einer gewissen sozialen Bevölkerungsschicht
Linie die Emotionen, Sinne und die Fassungsfähigkeit des
zugänglich war.
Geistes betraf, artikuliert sich hier vor allem in einer physischen
Mittels rasender Geschwindigkeit und ergreifender Szenen
Dimension. Die Beziehung zwischen dem Körper und dem
wurden hier Angst und Schrecken erzeugt, der Wirklichkeits-
Imaginären wurde auch von Michel Foucault in Le corps
effekt steigerte sich noch durch das Einsetzen von eisiger
utopique (1966) thematisiert, der die Sehnsucht nach der
Kälte, Geräuschen und speziellen Lichteffekten. Die Besucher
Aufgabe des eigenen Körpers bzw. nach Körperlosigkeit als
wurden in eine Art Schwebezustand versetzt, der sie die
‹ursprünglichste Utopie› bezeichnete, die eines ‹unkörperli-
Orientierung verlieren ließ. Die erregende Grenzüberschrei-
chen Körpers› (corps incorporel), der von einem Berg stürzt
tung wurde durch die Aufgabe der Kontrolle über den eigenen
und sich lebend wieder erhebt:
Körper erreicht, der sich willig dem Rausch der Bewegung
‹Und es kann gut sein, dass die erste Utopie, die im Herzen
und des Schwindels auslieferte. Durch eine ‹totale Erfahrung›
der Menschen am tiefsten verankert ist, die Utopie eines
fühlte man sich, wenn auch nur kurzfristig, befreit von der
unkörperlichen Körpers ist. Das Land der Feen […] ist das
reellen Welt.
Land, wo sich Körper so schnell wie das Licht fortbewegen,
Siegfried Kracauer beschrieb 1928 im Aufsatz ‹Berg- und
wo Verletzungen durch einen Balsam in Blitzeseile heilen, wo
Talbahn› das Lustgefühl, das Erlöst-Sein und das bedin-
man von einem Berg herunterfallen und lebend wieder
gungslose Sich-fallen-Lassen – die Selbstaufgabe – in den
aufstehen kann, wo man sichtbar ist, wann man will, und un-
Vergnügungsparks so: ‹Der Wagen kommt ins Sausen. Er jagt
sichtbar, wann man sich danach sehnt.›108
in den Abgrund hinein, seine Geschwindigkeit ist nicht zu
Der ‹utopische Körper›, der mit Lichtgeschwindigkeit über
ermessen. Ein einziger Schrei bricht los. […] Sie, die für ge-
die Berge fliegt, fällt und sich wieder erhebt, ist der Topos
wöhnlich von dem festen Gefüge der Dinge erstickt werden,
eines stets wiederkehrenden Traums, der sich quer durch die
Dreamland, Coney Island, New York, 1904–1911 40
Geschichte der Menschheit zieht und zu Beginn des 20.
die bei einer Bergbesteigung an einem einzigen Tag erlebt
Jahrhunderts in Form von Vergnügungsparks auftaucht.
werden können, sollten hier mittels einer Zeitrafferaufnahme
Den Schwebezustand eines ‹unkörperlichen Körpers› finden
in weniger als einer halben Stunde virtuell erlebbar gemacht
wir bereits in den Schriften von Shaftesbury und Addison zu
werden. In diesem inmitten der Berge installierten Panorama-
Beginn des 18. Jahrhunderts als imaginären Flug über die
gebäude sollte nicht mehr der Rundblick inszeniert werden
Berge. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wandelte sich das
(der besser draußen, in der Realität betrachtet werden kann),
körperlose Schweben zur wirklich machbaren Körpererfah-
sondern die Dimension der Zeit (Projekt 9).
rung. Aus dem besinnlichen Schweben wurde ein freneti-
Der ‹Zusammenbruch der Wahrnehmung von Zeit und
sches Stürzen, das haltlose Sich-Verlieren zu einer begehrten
Raum›109 wurde in der Philosophie der Postmoderne von
Attraktion, die Menschen mit dem ‹Nichts› konfrontierte
Jean-François Lyotard als Grundcharakteristik des Erhabenen
(siehe Kapitel ‹Bewegung, Rausch und Schwindel›).
angesehen. Auf diese Erfahrung spielt das Panorama an,
Interessant ist, dass bei den künstlichen Alpenattraktionen
indem es Raum und Zeit beliebig verändert.
jene Faktoren eingesetzt wurden, die Edmund Burke 150 Jahre zuvor aufgelistet hatte, als er die Ursachen untersuchte, welche die Erfahrung des Sublimen erzeugen: nämlich Angst und Schrecken, Plötzlichkeit, Erstaunen und Leidenschaft, Tiergeschrei, Licht und Dunkelheit, Wechselhaftigkeit, Geruch und Geschmack, Töne und Lautstärke sowie die Unendlichkeit durch das Dissimulieren von Grenzen. Burkes Erkenntnisse, die auf unterschiedliche Weise und bei diversen Sensationen in der Praxis angewandt wurden, fungierten als eine Art ‹Gebrauchsanweisung› zur künstlichen Erzeugung des Sublimen. Das Panorama als Zeitmaschine Der Film, insbesondere die atemberaubenden Bergfilme der 1920er Jahre, übertraf und löste bald die Sensationen ab, die das Panorama und all die anderen illusionistischen Einrichtungen vermitteln konnten. Erst durch die zeitgenössische Medientechnologie feiert das Panorama eine Renaissance, wenn auch in anderer Form: Jean Nouvel konzipierte eine moderne Präsentation des Panoramas in einem rostigen Kubus inmitten des Genfersees, anlässlich der 6. Schweizer Landesausstellung 2002 (Expo.02): Im obersten Geschoss wurde das historische Panoramabild ‹Die Schlacht bei Murten› (1894 von Louis Braun gemalt) ausgestellt, darunter war durch einen schmalen Schlitz in der Fassade das reelle Panorama von Murten zu sehen, während im untersten Geschoss eine gigantische Multimediashow der heutigen Schweiz stattfand. Auch der von Valerio Olgiati mit Bonzi Verme Peterli erstellte Entwurf eines Panoramas auf dem Gornergrat gegenüber dem Matterhorn ist eine Neuinterpretation: Die bereits von Conrad Gessner erwähnten vier Jahreszeiten, Valerio Olgiati mit Bonzi Verme Peterli, 41
Entwurf Panorama Gornergrat, 2011
9
Fête de l’Être suprême (Fest des Höchsten Wesens) vom 8. Juni 1794, 4. Radierung
1 ‹La Montagne› als Freiheitskult der Französischen
dem Montagne Sainte-Geneviève in Paris befand, während
Revolution, 1794
die finanzkräftige Rechte, Le Marais genannt, in der Ebene,
In der Revolutionszeit benötigte Frankreichs proklamierter
auf dem rechten Seineufer logierte.
Laizismus starke Symbole, um die bisherige Religion durch
Bald darauf wurde la montagne zu einem Freiheitssymbol
eine réligion révolutionnaire zu ersetzten, basierend auf den
für die junge Republik: Als am 8. Juni des Jahres 1794
neuen Grundsätzen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.
(le 20 prairial de l’an II, also im Jahre II des neu eingeführten
Zu diesem Zweck wurden Berge eingesetzt und zu einem
Kalenders) La fête de l’Être suprême (Fest des höchsten
Freiheitssymbol hochstilisiert.
Wesens) stattfand, wurden auf sämtlichen Plätzen der französischen Städte künstliche Anhöhen errichtet. In Paris
Les Montagnards hießen seit der Gründung der konstitutio-
befand sie sich mitten auf dem so genannten Champ de la
nellen Monarchie diejenigen Parlamentarier, die in den links-
Révolution (dem ehemaligen Champ-de-Mars), gekrönt vom
obersten Reihen saßen und sich für die Begründung der
‹Baum der Freiheit›, daneben die ‹Statue der Vernunft› auf
Republik einsetzten. Diese Bezeichnung dürfte ursprünglich
einer klassizistischen Säule. Robespierre an der Spitze
auf die politische Verteidigungsschrift Lettres écrites de la
der Abgeordneten des Nationalkonvents hatte den Zug der
montagne (1763–1764), die in der Zeit des Absolutismus in
singenden und musizierenden Menschenmenge hingeführt.
Paris und La Haye verbrannt wurde, zurückzuführen sein,
Die Hymne an das ‹höchste Wesen› untermalte die Zeremonie
deren Autor Jean-Jacques Rousseau ein intellektuelles
akustisch, die mit Kanonengetöse und einem gigantischen
Vorbild für die demokratisch revolutionäre Bewegung war.
Feuerwerk endete.
Der Name hängt möglicherweise auch mit der politischen Topografie der Bewegung zusammen, deren Sitz sich auf
Alexandre-Théodore Brongniart, ‹Berg für die «Fête de la Raison» in der Kathedrale Saint-André, Bordeaux›, Projektzeichnung,1793
2 Künstliche Berge als ‹temples de la Raison›, 1793
kurzer Zeit zu einer pompösen Zelebration eines gegen den
Robespierres Regime, das aufgrund zahlreicher Verfolgungen
Katholizismus gerichteten Regimes wandelte, hängt mit der
und Exekutionen auch als La Terreur bezeichnet wird, verfolgte
antirevolutionären Politik des Papstes zusammen.
einen vehementen Antiklerikalismus. Nach dem Erlass des Dekrets vom 23. November 1793 war die Ausübung ‹religiöser Kulte› verboten, die Kirchen waren den Konfessionen entzogen und in so genannte Tempel der Vernunft (Les temples de la Raison) umgewandelt. Der zur Zeit der Revolution besonders aktive Architekt Alexandre-Théodore Brongniart (1739–1813), der das Theâtre de la Montagne in Bordeaux errichtet hatte, erhielt den Auftrag, die gotische Kathedrale Saint-André in Bordeaux in einen ‹temple de la Raison› umzubauen.110 Für La fête de la Raison (Fest der Vernunft) am 10. Dezember 1793 (le 20 frimaire de l’an II) konzipierte er eine radikale Transformation des Sakralbaus,111 den er von nun an in umgekehrter Richtung verwendet sah: Der Baukörper sollte durch eine in die Apsis geschlagene Öffnung betreten und in Richtung des früheren Haupteingangs durchschritten werden. Der Chorraum würde nun als Art Vorhalle des neuen Allerheiligsten dienen, des künstlichen Berges, angelegt am Schnittpunkt von Längs- und Querschiff. Zu seinem auf der Höhe der Orgel befindlichen Gipfel und zur darauf thronenden ‹Statue der Freiheit› sollte ein mäandrierender Weg führen. Auf dem Berg sollte es künstliche Grotten, Hecken und kleine Baumgruppen geben, nach dem englischen Modell eines pittoresken Landschaftsgartens.112 Der französische Garten konnte nicht als Vorbild dienen, denn seine strikte barocke Gartenarchitektur war eine Ausdrucksform des Absolutismus und nicht von demokratischen Überlegungen getragen. Es war geplant, die sakrale Architektur auszumerzen und einen künstlichen Berg ins Zentrum der Betrachtung zu rücken, der für die neue Gesellschaftsordnung stand. Der Berg veranschaulichte das Erhabene; als visuelles Symbol des ‹Höheren› sollte er die Ideale der Republik repräsentieren. Das Sublime avancierte somit zum politischen Instrument einer Nation, die das ‹Streben nach Höherem› nicht nur gesellschaftspolitisch zu erreichen suchte, sondern auch räumlich inszenierte. Dass sich das initiale Streben nach Freiheit binnen
43
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
Johann Huber ‹Erzherzog Johann am Hochschwab› nach Johann Peter Krafft (1817), 1839
3 Wolfgang Hagenauer, Badeschloss in Wildbad Gastein,
Finanzierung ihn Erzbischof Ladislaus Pyrker gewinnen
1791–1794
konnte, und das Thermalwasser der Quelle nach Hofgastein
Gasteins Heilkraft war schon früh dank seiner außerordent-
zu leiten (1828–1830).
lichen Lage an einem Wasserfall, seiner Quellen und Stollen bekannt. Das Wildbad hatte
Erzherzog Johann, ein jüngerer Bruder des österreichischen
im 16. Jahrhundert seine
Kaisers, verliebte sich in das Wildbad Gastein während seines
erste Blütezeit erlebt, bevor
ersten Kuraufenthaltes 1822 und ließ sich 1828 in unmittelbarer
die Pest, Erdbeben, Brände
Nähe des Ortes eine kleine Villa erbauen, die er alljährlich
und Hochwasser zur Stagna-
mit seiner Frau Anna Gräfin Meran, der geborenen Ausseer
tion führten. Anlass zu seiner
Postmeisterstochter Anna Plochl, aufsuchte. Erzherzog Johann
neuerlichen Inbetriebnahme
sollte schließlich als großer Förderer der Steiermark in die
gab der Salzburger Erz-
Geschichte eingehen. Franz II./I. hatte seinem Bruder den
bischof Hieronymus von
Aufenthalt in Tirol untersagt, da er die Tiroler Freiheitskämpfer
Colloredo gegen Ende des
unterstützte. Johann liebte die Berge, weil sie für ihn der Inbe-
18. Jahrhunderts. Er ließ
griff von Freiheit waren, wie er in seinem Tagebuch festhielt:
1791 bis 1794 ein klassizisti-
‹Wo hat sich die Freiheit gehalten, wo ist sie behauptet
sches Badeschloss nach
worden, wo ist Herz, Mut, Liebe zur Heimat, fester Glaube,
Plänen von Wolfgang
Treue, Harmlosigkeit, Einfalt der Sitte noch zu finden als in
Hagenauer erbauen, in dem
den Bergen!›113
er während seiner sommerlichen Kuraufenthalte der
Dieser Begriff von Freiheit, der mit einem reinen, unverdor-
Jahre 1794 bis 1800 resi-
benen Alpenbild einherging, brachte den international
dierte. 1807 wurde das
schnell zunehmenden Tourismus auch nach Gastein. Den
Badeschloss in ein öffentliches Kurhaus umgewandelt, um –
wilden Charakter des Naturbades schätzten insbesondere
über eine Brücke erschlossene – Kurgalerien auf der anderen
Engländer, zu deren Ehren ein ‹Englisches Kaffeehaus› ein-
Seite des Wasserfalls erweitert und 1857 bis zum ersten Stock
gerichtet wurde, wie auf einem Bild aus dem Jahr 1850 zu
abgetragen und neu aufgebaut. Von der fürstlichen Ausstat-
erkennen ist. Das Wildbad zog zahlreiche berühmte Persön-
tung mit dunkelgrünem Serpentin (Gasteiner Marmor) blieb
lichkeiten an, zum Beispiel Franz Grillparzer, Arthur
lediglich das klassizistische Portal erhalten.
Schopenhauer, Franz Schubert, Wilhelm von Humboldt,
Ferdinand III., der das Großherzogtum Toskana gegen das
Bismarck, Kaiserin Elisabeth und viele andere; zwischen 1871
Kurfürstentum Salzburg eingetauscht hatte, förderte den
und 1905 verdreifachte sich schließlich die Gästezahl.
Kaiser Franz Joseph I., Kaiser Wilhelm I., Otto Fürst von
Badeort, indem er 1804 ein Badekommissariat schuf und
Kaiserin Elisabeth (1837–1898) verfasste während ihres ersten
Postverbindungen zwischen Salzburg und Gastein herstellen
längeren Aufenthaltes in Bad Gastein ein melancholisches
ließ. Auf seiner Rundfahrt durch das Land Salzburg, das 1805
Gedicht. Sie erhoffte eine allumfassende Heilung durch die
an Österreich gegangen war, kam Kaiser Franz II./I. 1807
Natur, eine Genesung von Körper und Seele im heißen,
auch nach Gastein, um sich ein Bild von den notwendigen
gleichsam ‹mystischen› Quell der heimatlichen wilden Berge:
Neuerungen des nunmehrigen k. k. Bades zu machen. Er erkannte die wirtschaftliche Bedeutung der Heilquellen und veranlasste die Neufassung der Quellzuleitung, um sie gegen Verunreinigung zu schützen. Schließlich entschied er, ein bereits ausgearbeitetes Projekt umzusetzen, für dessen
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
44
Thomas Ender, Josef Kuwasseg, ‹Wildbad Gastein›, Sammelblatt von Bad Gastein und Umgebung, 1850
Gastein Nur kranke Glieder dachte ich zu bringen, wo mystisch deine heißen Wasser springen, geheimnisvoll versagend und ertheilend, hier jede Hoffnung raubend, dort heilend. Doch wie der Hirsch von trauter Heimatstelle, den Pfeil im Herzen, sich flüchtend an die Quelle, So bring ich dir ein Herz, zu Tode verwundet; vernarben mag’s, doch ob es je gesundet? Brief von Kaiserin Elisabeth, 1. Juli 1886
45
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
Robert Mitchell, ‹Panorama Leicester Square›, Querschnitt, 1792, aus: ‹Plans, and views in perspektive›, 1801
4 Robert Barkers Panorama, Architekt Robert Mitchell,
Johann Baptiste Isenring, ‹Panorama Gäbris›
den Raum treten, um die Kreisform nicht zu unterbrechen.
London, 1793 (–1864)
Des Weiteren ordnete er zwei übereinandergestapelte
Der irische Maler Robert Barker (1739–1806) konzipierte 1787
Panoramabilder gleichzeitig an, in Hinblick auf die Renta-
das erste kreisförmige Panoramagemälde, ‹View of
bilität der Investition. Die Gemälde bekleideten die Innenwände der am 25. Mai 1793 eröffneten Rotunde und stellten entlegene Städte und Landschaften oder historische Szenen dar. Das temporäre Eintauchen in eine andere Umgebung bzw. Zeit ermöglichte den Besuchern, sich dem Alltag für einen Augenblick zu entziehen und um nur einen Schilling (pro Gemälde) jene Orte zu ‹bereisen›, die in Wirklichkeit vermögenden Personen vorbehalten waren. Dabei gab es ein bestimmtes Ritual, eine spezielle Einführung, die den Überraschungseffekt des Bildes zu steigern wusste: Vom Eingang kommend, wurden die Besucher durch die Dunkelheit ins Licht geschleust – durch einen dunklen Gang und über eine gekrümmte Treppe zur ersten Aussichtsplattform, wo die Pracht der Panoramalandschaft sie überwältigte, auf die durch ein kontinuierliches Glasband im Dach helles Licht fiel. Der Anblick versetzte die
Edinburgh›, das er in der selbigen Stadt ausstellte. Am 19. Juni
Betrachter in Staunen und vermittelte ihnen den Eindruck, im
desselben Jahres ließ er seine Erfindung patentieren, die er
Zentrum einer virtuellen Welt zu sein. Anschließend ließen
zuerst ‹La Nature à Coup d’Œil› nannte, bevor er 1792 den
sich die Besucher durch denselben Gang zu einer Wendel-
Begriff panorama prägte, zusammengesetzt aus den grie-
treppe bringen, die eine darüber liegende, etwas kleinere
chischen Wörtern pan (alles) und horama (Blick).
Aussichtsplattform erschloss. Sie bot eine andere Szene, meist
Er suchte nach einem Medium, das ‹die visuelle Erfahrung
Bilder mit gegensätzlichen Motiven, wodurch die Besucher
organisiert›.114 Um seine Panoramagemälde in einem adäqua-
den Eindruck hatten, eine Reise von einer entfernten Stadt zu
ten Ausstellungsraum zu präsentieren, beauftragte er 1792
einer fremden Landschaft zu machen, oder eine Zeitreise in die
den Architekten Robert Mitchell, eine hölzerne Rotunde für
Geschichte. Luft wurde mittels Ventilatoren eingeblasen, die
den Leicester Square in London zu entwerfen, gemäß den
unter der Plattform angebracht waren, wodurch der Eindruck
Vorgaben seines Patents: Im zylindrischen Baukörper sollten
einer frischen Brise entstand.115
die Panoramagemälde solchermaßen ausgestellt sein, dass
Nachdem die Patentfrist 1802 abgelaufen war, begannen
die oberen und unteren Ränder der Leinwand für die auf
zahlreiche Maler, ebenfalls Panoramen zu malen, die ein
einer zentralen Plattform stehenden Betrachter nicht sichtbar
großer Publikumserfolg waren und von einem Ort zum anderen
wären. Die Plattform müsse eine gewisse Distanz zum Bild
wanderten. Stimmungsvolle Musik untermalte die Panorama-
aufweisen, um dessen Betrachtung nicht zu stören. Das Licht
Landschaftserfahrung, während Marschmusik den historischen
solle von oben einfallen, während die Besucher von unten in
Schlachten mehr Echtheitscharakter verlieh.
Alexis Donnet, ‹Diorama und Waxhall›, Blatt 23, Schnitt (o.) und Plan (u.), 1837–1840
5 Louis Daguerre, Diorama, 1822
berüchtigte ‹Erdrutsch von Goldau in der Schweiz›116 gezeigt.
Louis Daguerre (1787–1851) erfand im Jahre 1822 das
Auf der einen Bildseite war der Berg vor dem Unglück, auf
Diorama, für das er, in Zusammenarbeit mit Charles Marie
der anderen die verheerende Verwüstung nach dem
Bouton, spezielle Effekt-Bilder entwickelte. Beide arbeiteten
Unglück dargestellt. Daguerre hatte bereits 1823, nur ein
als Assistenten bei Pierre Prévost, dem ersten französischen
Jahr nach der Errichtung des ersten Dioramas in Paris, ein
Panoramen-Maler, und zugleich als Theatermaler. Während
weiteres in London eröffnet, beim Regent’s Park, erbaut
dieser Zeit setzten sie sich mit neuen Techniken auseinander,
vom Architekten Augustus Charles Pugin. Die Schau war ein
die in ihre spätere Erfindung einfließen sollten: der Transpa-
Erfolg, denn das Publikum hatte den Eindruck, mitten im
rentmalerei, einem jungen, aufsehenerregenden Medium,
Geschehen zu sein.
und der Inszenierung eines Theaterraums durch Lichteffekte, die so manches Bühnenbild ab 1803 animiert hatten. Das von
Die englischen Künstler Clarkson Stanfield und David
ihnen entwickelte Diorama war eine räumliche Einrichtung,
Roberts entwickelten ab 1830 aufwendigere Dioramen,
die Landschaft inszenierte und das illusionistische Erlebnis
ausgestattet mit akustischen Effekten und unter Mitwirkung
durch eine doppelte Guckkastenbühne erzeugte. Die Szenen,
von Schauspielern, um die totale Immersion zu steigern.
die in einer speziell entworfenen Architektur präsentiert wurden, benötigten äußerst komplizierte Aufbauten und mussten fix installiert sein. Daher drehte sich nicht wie etwa beim Theater das Bühnenbild um seine Achse, sondern der Publikumsbereich, der zirka 350 zumeist stehende Personen fasste. So konnten nacheinander zwei, später in England sogar drei verschiedene großformatige Bilder für die Dauer von jeweils 15 Minuten bespielt werden. Das 7,3 Meter breite und 6,4 Meter hohe Proszenium verbarg die Ränder der Leinwand vor dem Publikum, um den Wirklichkeitseffekt der Szenerie nicht zu beeinträchtigen. Die beidseitig bemalte, teilweise transparente Leinwand, die je nach gewünschtem Effekt deckend oder durchscheinend bemalt war, wurde durch wechselnde Beleuchtung animiert: Auf der einen Seite der Leinwand war zum Beispiel eine Landschaft bei Tag dargestellt, auf der anderen Seite dasselbe Motiv bei Nacht. Das Publikum sah die ihnen zugewandte Seite mit der Landschaft im Tageslicht, wenn das Licht auf diese Fläche der Leinwand fiel; um jedoch das Bild der anderen Seite zur Geltung zu bringen, wurde diese beleuchtet, im Gegenlicht sozusagen, und zwar von oben, damit keine Umrisse eventueller Akteure zu sehen waren. Sanfte Übergänge konnten geschaffen werden, wenn beide Beleuchtungen gleichzeitig auf die Leinwand fielen. Dazu kamen Spezialeffekte durch diverse Farbfilter, sogar Feuer kam zum Einsatz. In Daguerres Diorama im Pariser zehnten Bezirk in der Nähe des Platzes La République, das 1839 abbrannte, wurde der
47
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
‹Le Village Suisse›, mit Riesenrad im Hintergrund, Pariser Weltausstellung 1900, Ansichtskarte, koloriert
6 ‹Schweizer Dorf›, Exposition Nationale Suisse, Genf 1896;
Ähnlich wie bei Panorama und Diorama sollte die sich ein-
Pariser Weltausstellung 1900
stellende Illusion ungestört wirken können. Daher mussten
Die ‹Schweizer Identität› stellte sich in Form eines exemplari-
die Grenzen unkenntlich und die Objekte möglichst wirklich-
schen ‹typischen› Dorfes, in dem alles künstlich installiert war,
keitsgetreu nachgebildet sein. Das Landleben war realistisch
zur Schau. Auf einem Terrain von 23.191 m errichteten die
inszeniert und die vermeintlichen Bewohner agierten wie auf
Architekten Paul Bouvier und Aloys Brémond (mit Hilfe des
einer Theaterbühne (ähnlich den Akteuren, die in den Dioramen
Architekten Edmond Fatio und des Malers Francis Furet) für
den Echtheitseffekt steigen sollten). Die ins Bild integrierten
die Exposition Nationale Suisse in Genf 56 Häuser und Holz-
Besucher konnten den Bauern und Handwerkern bei der
hütten, Originale oder gipserne Imitate, sowie drei Bauern-
Verrichtung ihrer Tätigkeiten ungeniert zusehen. Diese Art
höfe mit Ställen, 18 originale Mazots (Hütten) und eine Kirche.
von ‹Lebensexperiment› war im 19. Jahrhundert ein beliebtes
Als Kulisse diente eine 40 Meter hohe künstliche Gebirgsland-
Mittel, um Emotionen durch Exotismus zu erzeugen.
2
schaft mit Wasserfall, in den 166 Liter Wasser pro Sekunde, ungefähr sechs Millionen Liter pro Tag, ins Tal stürzten.
Aufgrund des großen Erfolges in Genf stellte man auch auf
Für authentisches Flair sorgten 353 ‹Bewohner› in unter-
der Weltausstellung in Paris 1900 ein ‹Schweizer Dorf› aus,
schiedlichen Trachten, während 33 Schweizer Firmen ihre Pro-
diesmal nach Plänen der Schweizer Gartenarchitekten Henry
dukte präsentierten und 22 Polizisten das reibungslose
Correvon und Jules Allemand (die bereits den ‹Schweizer
Funktionieren überwachten.
Garten› auf der Exposition Nationale Suisse vier Jahre zuvor
Mehr als eine Million Besucher besichtigten dieses ‹Schweizer
gestaltet hatten). Das 21.000 m2 große Terrain des Dorfes lag
Dorf›, manchmal bis zu 40.000 pro Tag. Sogar diejenigen, die
neben dem Champ de Mars, in unmittelbarer Nähe der
sich zuvor skeptisch und sarkastisch darüber geäußert hatten,
Hauptachse der Weltausstellung. Ein Riesenrad überragte die
zeigten sich letztendlich überzeugt – dank der wirklichkeitsge-
Bergkulisse und verlieh dem Ensemble etwas Skurriles, wovon
treuen Nachbildungen, wie Gaspard Vallette, ein Berichterstat-
zeitgenössische Ansichtskarten zeugen.
ter der Commission du Village suisse, nicht ohne Begeisterung meinte: Es sei die ‹absolute Illusion von Echtheit› gegeben,
Da die Architekten des ‹Schweizer Dorfes› Wert auf ein mög-
weil die ‹Wunder der wahren Schweiz mitten in die prächtigen
lichst wahrheitsgetreues Aussehen legten, ließen sie Häuser
Ausstellungsarchitekturen hineingesetzt wurden›.117
in den entlegensten Dörfern der Schweiz abmontieren und in Paris wieder zusammenbauen. Die unterschiedlichen Dorfteile und Haustypen waren nach regionalen Schweizer Hauptstädten benannt, und so konnte man gemütlich durch Bern und Lausanne streifen, ohne reisen zu müssen. Auch dieses Dorf belebten – 300 – ‹Bauern› und diverse ‹Handwerker› (Holzschnitzer, Stickerinnen und Spitzenhäklerinnen) in traditionellen Kostümen. ‹Das Schweizer Dorf ist die Schweiz in Paris›, hieß es in einer Werbebroschüre. Das Artefakt repräsentierte die nationale Identität, man sah es als ‹animierte Synthese› des ‹kleinen originellen Landes› an, dessen ‹natürliche Schönheit jeden Sommer die Bewunderung tausender Touristen erzeugt, die aus allen Ländern der Welt anreisen›.
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
48
Giovanni Segantini, 1898
7 Giovanni Segantini, Entwurf eines Engadin-Panoramas,
Es blieb jedoch bei dem
Pariser Weltausstellung 1900
Entwurf, da Segantinis Auf-
Der aus Arco im Trentino (damals Kaisertum Österreich)
traggeber, die Hoteliers von
stammende Giovanni Segantini (1858–1899) entwarf im Jahre
St. Moritz, aus finanziellen
1900 für die Pariser Weltausstellung ein Alpenpanorama.
Gründen absagten (schon
Seinem Plan nach sollte eine Rotunde in Eisenkonstruktion
allein die Miete des Stand-
mit einer Gesamtfläche von 3.850 m ‹ganz in der besten
ortes betrug eine Million
Tradition des Panoramas des 19. Jahrhunderts die Wieder-
Francs). Daraufhin schuf er
herstellung der natürlichen Schönheiten des Engadins mittels
ein monumentales Alpen-
2
eines bildnerischen und plastischen Illusionismus›
118
präsen-
triptychon, genannt ‹La
tieren. Die Eingangs- und Aussichtssituation dieses
Vita› (Werden), ‹La Natura›
Engadin-Panoramas (‹Alpensymphonie›) war speziell und
(Sein), ‹La Morte› (Verge-
unterschied sich somit von den bisherigen Panoramabauten:
hen), das statt des Panora-
Anstatt des Ganges, der Wendeltreppe und der Aussichts-
mas auf der Weltausstellung
plattform sah der Künstler einen Berg mit einem sich spiral-
gezeigt werden sollte. Beim
förmig hinaufschlängelnden Weg vor. Dieser hätte den Vorteil
Malen in ausgesetzter Lage
gehabt, dass der aufsteigende Besucher im Zuge seiner
auf dem Schafberg
erzwungenermaßen fortwährenden Drehbewegung viele
erkrankte er und starb bald
Aspekte der Landschaft vermittelt bekäme. An der Spitze an-
darauf. Das Triptychon ist
gekommen, könnte er seinen Blick um 360 Grad schweifen
heute im von Nicolaus
lassen und das ganze Ausmaß auf einmal erfassen, ein und
Hartmann 1908 erbauten
dieselbe Landschaft im Laufe der vier Jahreszeiten. Nicht zu-
Segantini-Museum in St. Moritz ausgestellt, in einer eigens
letzt wegen des spiralförmigen Aufstiegs hätte der Besucher
dafür konstruierten Rotunde, in Erinnerung an den Rundbau,
symbolisch eine zyklische Reise durch die Zeit körperlich er-
den der Maler als Modell (im Maßstab 1:10) für sein
lebt. Dieses Panorama sollte nicht nur eine optische Betrach-
geplantes Engadin-Panorama der Pariser Weltausstellung
tungsweise bieten, wie bisher üblich, sondern eine Gesamt-
bauen ließ.
erfahrung, beruhend auf totaler Immersion: Als Bauern verkleidete Statisten und echte Tiere sollten als ‹Bewohner› des künstlichen Berges den Echtheitseffekt steigern.
49
Giovanni Segantini, ‹La Morte›, Alpentriptychon, Ausschnitt, 1898–1899
Giovanni Segantini, ‹La Natura›, Alpentriptychon, Ausschnitt, 1898–1899
Dreamland, ‹Luna's Mountain Torrent›, Coney Island, New York, 1906 (o.)
8 Dreamland, Coney Island, New York, 1904–1911
Dreamland, ‹Touring the Alps›, Coney Island, New York, 1907–1911 (u.)
künstlichen Bergsees zu landen, dessen Wasser beim Bremsen
Zu den Sensationen des New Yorker Vergnügungsparks
aufspritzte. 1907 geschah ein schwerer Unfall, mitten auf der
Dreamland zählten diverse künstliche Berge, die das Publikum
steilen Abfahrt entgleiste ein Wagen, als er in einen Tunnel ein-
auf unterschiedliche Weise begeisterten. Sie boten die Gele-
fuhr, und zahlreiche Besucher wurden verletzt.
genheit zu rasender Geschwindigkeit sowie beschaulichere Einrichtungen und zusätzlich eine vollklimatisierte Schnee-
‹Coasting through Switzerland›, vom Architekten Thomas
landschaft, die alle Sinne erfasste.
J. Ryan konzipiert, fand in einem hermetisch abgeschlossenen Raum statt. Auf der Fassade des Gebäudes waren Malereien
‹Over the Great Divide›119 war eine atemberaubende Attraktion,
verschneiter Alpengipfel zu sehen, die bereits vage ankün-
die auf Angst und Schrecken setzte. Eine Berglandschaft aus
digten, was im Inneren stattfinden würde: nämlich die erste
Pappmaché war der Ausgangspunkt einer spektakulären Berg-
vollklimatisierte Landschaft, die, als Gegenpol zum heißen
und Talfahrt. Über einen steilen Anstieg zog ein elektrisch
Manhattan, eine erfrischende Bergatmosphäre bot. Wie die
betriebener Zug seine Passagiere auf eine Anhöhe von
meisten traumhaften Reisen begann auch diese mit einem
15 Metern, um anschließend in hohem Tempo talwärts zu sau-
ausgeprägten Schwellenbereich, der die Außen- von der Innen-
sen, dabei Tunnels und Schluchten zu durchkreuzen und eine
welt trennte: Das Publikum fuhr in einem roten Wagen, aus
21 Meter lange Brücke zu überqueren, die zu einem zweiten
dessen Bänken kalte Luft geblasen wurde, über einen
Berg führte. Diesen kletterten die Wagons zu einem ‹spucken-
150 Meter langen Tunnel ins Innere, vorbei an angeseilten
den Vulkan› hoch, um nach erneuter Talfahrt inmitten eines
Kletterern, die dabei waren, einen steilen Gipfel zu erklimmen – bis scheinbar unerwartet eines der Seile riss und einer der Mannschaft dramatisch und unter dem entsetzten Aufschrei des Publikums in die Tiefe stürzte.120 Die darauf folgenden pittoresken Szenen, erfüllt mit ‹Schweizer Leben›, ermöglichten es, den zu Beginn erlittenen Schock zu vergessen. Ein Blick auf den Mont Blanc stellte den Höhepunkt der Reise dar, ein sanftes Gefälle vermittelte einen angenehmen Ausklang des Reiseerlebnisses. ‹Touring the Yellowstone› bot eine andere Erfahrung: Der Eingang dazu lag am Fuße eines Miniatur-Berges, wo ein Zug Besucher erwartete. Nachdem diese gemütlich darin Platz genommen hatten, begann dieser zu vibrieren, um seine Fortbewegung zu suggerieren, während in Wirklichkeit die Landschaft vorbeizog. Diese war auf 1,2 Kilometer lange Bahnen aufgemalt, auf denen alle nur denkbaren Attraktionen abgebildet waren, völlig unabhängig von ihrer jeweiligen reellen geografischen Lage oder räumlichen Abfolge: Fort Yellowstone, Hot Springs Terraces, Black Glass Mountain, Upper Geyser Basin, Old Faithful Geyser und Morning Glory Pool. Die meisten Attraktionen von Dreamland fielen im Jahre 1911 einem großen Brand zum Opfer.
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
50
Valerio Olgiati mit Bonzi Verme Peterli, ‹Panorama Gornergrat›, Schaubild (o.) und Schnitt (u.), 2011
9 Valerio Olgiati mit Bonzi Verme Peterli, Entwurf Panorama
des ‹erratischen Blocks›121 aus weißem Sichtbeton zeichnen
Gornergrat, 2011
sich leicht hervorspringende Betonrippen ab, die an die Linien
Der nicht ausgeführte Entwurf von Valerio Olgiati mit Bonzi
von Mineralien erinnern und das Gebäude optisch in der
Verme Peterli eines Panoramas auf dem Gornergrat war
Geometrie der Landschaft verankern.
gedacht, das ‹Erlebnis Berg› zu verstärken. Der Bau dafür Valerio Olgiati erklärte in einem Interview in Zusammenhang mit seiner autobiographischen Ikonographie, dass er danach strebe, eine Architektur zu schaffen, die in ‹letzter Instanz nicht referentiell› sei und Neues generiere. Nachdem dies aber kaum möglich sei, könne er ‹«nur» eine abstrakte, wenn möglich dichte und reichhaltige Architektur› entwerfen.122 Er löste daher das Gebäude für ‹Peak Gornergrat› aus kulturellen und stilistischen Referenzen heraus, um es in ein geometrischabstraktes Prinzip einzuschreiben, das im Grundriss aus einem Kreis und einem Quadrat besteht. Die Erwartungshaltung der Besucher solle durch die stilistische Referenzlosigkeit in die Irre geführt werden. Eine andere Art der Destabilisierung erleben sie durch das zenitale Loch (das an den Archetyp sollte auf 3.100 Meter Höhe, gegenüber dem Matterhorn,
des Pantheons erinnert) und den Zwischenraum, der sich zum
stehen, wo sich ein Rundblick auf mehr als 20 Gipfel der
Himmel hin öffnet und sie unmittelbar mit den Elementen der
Alpen auftut, darunter Monte Rosa und Liskamm.
Natur konfrontiert. Dieser introvertierte Panoramakubus hat etwas Archaisches und Mysteriöses an sich; die abstrakte
Da dieses Panoramagebäude nicht in der Stadt, wie im 18. Jahrhundert üblich, sondern inmitten der Berge situiert werden sollte, konzipierten die Architekten eine neue Panoramatypologie: Eine spiralförmige Rampe führt die Besucher in einen kreisförmigen Projektionsraum mit 20 Meter Durchmesser. Dort erleben sie eine audiovisuelle Videoprojektion, welche die jahreszeitlichen Veränderungen des Matterhornes abbildet und den Eindruck vermittelt, mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit oder Zukunft zu reisen. Das monolithische Bauwerk ist nicht hermetisch abgeschlossen, um die visuelle Erfahrung mithilfe eines Außenraumerlebnisses zu verstärken: Durch zenitale Öffnungen, die sich im Zentrum des Gebäudes wie auch an den vier Ecken zwischen dem runden Dach (das den kreisförmigen Projektionssaal überdeckt) und der quadratischen Form der Außenwände ergeben, können Licht, Regen, Schnee und Nebel, warme oder kalte Luft ins Innere gelangen, wodurch sich die virtuelle Realität mit der reellen Welt vermischt. Auf der Gebäudehülle
51
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
Form scheint in ihrer Zeitlosigkeit den Bergen standzuhalten.
1 Victor Hugo, ‹Fragment d’un voyage aux Alpes› (1825), in: Œuvres complètes de Victor Hugo, En voyage, Bd. II, Libr. Ollendorff, Paris 1910, 12. 2 Alexandre Koyré, From the Closed World to the Infinite Universe, Johns Hopkins Univ. Press, Baltimore 1957, Introd., 2, zit. n.: Saint Girons 2005, 97. 3 Théophile Gautier, ‹Vue de Savoie et de Suisse›, in: Le Moniteur universel (16. Juni 1882), abgedruckt in: Impressions de voyage en Suisse, Verl. L’age d’Homme, Lausanne 1985, 83, zit. n.: Saint Girons 2005, 97. 4 Longinus De sublimitate. Dieses Buch wurde zuerst dem mittelalterlichen Schreiber Cassius Dionysius Longinus (213–273) zugeschrieben, dann Dionysius (Dionysios von Halikarnassos, 1. Jh. v. Chr.), vgl. Grube 1957, Kap. XVIII. 5 Longinus, ‹Traité du sublime ou du merveilleux dans le discours›, in: Nicolas Boileau Despréaux, Oeuvres diverses du sieur D *** avec le traité du sublime ou Du merveilleux dans le discours. traduit du grec de Longin, 1674 [=Longinus 1674], Kap. I (Vorwort). 6 Ibid. 7 Ibid., Kap. VI, ‹Les cinq sources du grand›: Longinus’ fünf Punkte sind: die Erhebung des Geistes, Pathos und Enthusiasmus, die Art der Anwendung der rhetorischen Figuren, der noble Ausdruck, die Komposition und Anordnung der Worte in ihrer ganzen Herrlichkeit und Würde. 8 Ibid. 9 Ibid., Kap. XVIII, ‹Des Hyperbates›. 10 Marjorie Hope Nicolson, William Cronon (Hg.), Mountain gloom and Mountain Glory. The Development of the Aesthetics of the Infinite (1959), University of Washington Press, Seattle, London 1997, 31f. 11 Longinus 1674, Kap. I (Vorwort). 12 Vgl. William Barton, Mountain Aesthetics in Early Modern Latin Literature, Routledge, 2017. 13 Francesco Petraca, Die Besteigung des Mont Ventoux (1364), Lateinisch/Deutsch, Übers. Kurt Steinmann (Hg.), Reclam Nr. 887, Stuttgart 1995 [=Petrarca (1364) 1995], 13f. 14 Ibid. 15. 15 Inid. 17. 16 Ibid. 23. 17 Heinz Hofmann, „War er oben der nicht?“, in: Neue Zürcher Zeitung, 24.12.2011. Hofmann zeigt auf, dass Petrarcas Brief nicht unmittelbar nach der Besteigung geschrieben wurde, sondern erst viele Jahre später: ‹Die theologische und philosophische Symbolik und das dichte literarisch-allegorische Geflecht, das den Episteltext charakterisiert, setzen eine intellektuelle Entwicklung voraus, die Petrarca erst um 1352/53 durchlaufen hat.› 18 Petrarca (1364) 1995, 25. Lat: ‹Et eunt homines admirari alta monitium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et oceani ambitum et giros siderum, et
relinquunt se ipsos.› 19 Ibid. 20 Ibid. 21 Ruth Groh, Dieter Groh, Weltbild der Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur, Suhrkamp Verl., Frankfurt am Main 1991, 36. 22 Ibid., 112. 23 Conrad Gessner, ‹Libellus de lacte et operibus lactariis›, Zürich 1541, zit. n.: Jens Awe, ‹Berge mit Licht- und Schattenseiten› (2007), in: Walter Regel, Hartmut Köhler (Hg.), …Hoch gerühmt, fast vergessen, neu gesehen …, Der italienische Maler und Poet Salvador Rosa. Studien zur Neubewertung, Königshausen u. Neumann, Würzburg 2007, 88. Lat: ‹[…] monitium moles immensa spectaculo admirari et caput tanquam inter nubes attollere? ‹Nescio quo pacto altitudine stupenda mens percellitur, raptiurque in summi illius architecti considerationem.› 24 Gessner (1541) 2007, 89, Lat.: ‹Quod quaeso aliud intra naturae quidem limites, honestius, maius et omnibus absolutius numeris oblectamenti genus inuenies?› 25 Ibid. 26 Johannes Hanhart, Conrad Gessner. Ein Beytrag zur Geschichte des wissenschaftlichen Strebens und der Glaubensverbesserung im 16. Jahrhundert. Aus den Quellen geschöpft v. Johannes Hanhart, Steinerische Buchhandlung, Winterthur 1824, 179f. 27 Vgl. Sophie Linon-Chipon, Daniela Vaj, Relations savantes: Voyages et discours scientifiques, Pups 2005, 182f. Gessner interessierte sich für die Cosmographia universalis von (Sebastian Münster, Verl. Henri Petri, Basel 1572), welche sämtliche Informationen über den Globus herausgab, wie Karten, Messinstrumente und wissenschaftliche Erkenntnisse; allerdings wurde er nicht zur Mitarbeit eingeladen. 28 Ibid., 182. 29 Augustinus, in: Petraca (1364) 1995, 15. 30 Vgl. Dimitris Levitin, Ancient Wisdom in the Age of the New Science, Cambridge University Press, 2015. 31 Francesco Robertello, Dionysi Longini rhetoris praestantissimi liber de grandi sive sublimiorationis genere; cum adnotationibus, Basel 1554. Wiederauflage (und Übersetzung vom Altgriechischen ins Lateinische) mit Anmerkungen der verlorengegangenen Literaraturkritik Peri hypsous, von Longinus. 32 John Milton, Paradise Lost, a poem in twelf books (1667), from the text of Thomas Newton D.D., Birmingham, printed by John Baskerville for J. and R. Tonson, London (1667), 1758, Buch VII, 409, Zeile 465: ‹Whether in Heav’n or Earth, for then the Earth Shall all be Paradise, far happier place Than this of Eden, and far happier days.› und: Buch XII, 414, Z. 585: ‹Of all the rest: than wilt thou not be loath To leave this Paradise, but shalt possess A Paradise within thee, happier far.› 33 Thomas Burnet, The Theory of the Earth,
containing an Account of the original of the Earth, and of the general changes which it Hath Already Undergone, Or is to Undergo Till the Consummation of All Things (1681/89 Lat.; 1684/90 Engl.), 3. Aufl., R.N., London 1697, Bd. 4. 34 Burnets Werk blieb allerdings nicht ohne Kritik, selbst Newton schrieb ihm, um die spekulative Kosmogonie mit einer wissenschaftlichen These anzureichern (die Länge der Tage betreffend), was Burnet jedoch entschieden von sich wies. 35 Ibid., 53. 36 Ibid., 47. 37 Ibid., 95. 38 Ibid., 100. 39 Ibid., 98. 40 Ibid., 96. 41 Ibid., 94. 42 Ibid., 94f. 43 Ibid., 100. 44 Vgl. Harry Gilbert Paul, John Dennis, His Life and Criticism, Colombia University Press, New York, 1911; siehe auch: Hope Nicolson 1974. 45 John Dennis, Miscellanies, in Verse and Prose, printed for James Knapton at the Crown in St. Pauls Church-Yard, London 1693, 138. 46 Ibid., 139. 47 Ibid., 134. 48 Ibid. 49 Ibid., 138f. 50 Ibid., 139. 51 Ibid. 52 Andrew Ashfield, Peter De Bolla (Hg.), The Sublime: A Reader in British EighteenthCentury Aesthetic Theory, Cambridge University Press, Cambridge 1996, 60. 53 Ibid. 54 Anthony Ashley Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury, The Moralists, a Philosophical Rhapsody (1709), Part III, Sect. 1, in: Wolfram Benda [ed.], Christine Jackson-Holzberg, Patrick Müller, Friedrich A. Uehlein. StandardEdition: sämtliche Werke, ausgewählte Briefe und nachgelassene Schriften; in englischer Sprache mit deutscher Übersetzung, Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1981 [=Shaftesbury (1709), 1981], Bd. II, 1, 299. DE: Ibid., Bd. II, 3, Die Moralisten, III, 1, 297f. 55 Ibid., 310, 302. 56 Ibid., 303. 310f. 57 Ibid., Bd. II, 1, The Moralists, III, 1, 312. Hervorhebung von Shaftesbury 58 Ibid., 390. 59 Ibid., Bd. II, 3, Die Moralisten, III, 1, Meditation, 273; Bd. II, 1, The Moralists, III, 1, Meditation, 346. 60 Ibid., Bd. II, 1, The Moralists, III, 1, Meditation, 308: ‹The wildness pleases. We seem to live alone with Nature. We view her in her inmost Recesses, and contemplate her with more Delight in these original Wilds, than in the artificial Labyrinths and feigned Die Entstehung des alpinen Erhabenen
52
Wildernesses of the Palace. The Objects of the place, the scaly Serpents, the savage Beasts, and poisonous Insects, how terrible soever, or how contrary to human Nature, are beauteous in themselves, and fit to raise our Thoughts in Admiration of that Divine Wisdom, so far superior to our short Views.› 61 Ibid., Bd. II, 3, Die Moralisten, II, 5, Atheismus aus Aberglauben, 268; Ibid., Bd. II, 1, The Moralists, II, 5, Atheisms from Superstition, 239. 62 Das Journal The Tatler wurde von Sir Richard Steele 1709 gegründet (1711 eingestellt). Addison publizierte darin zahlreiche Artikel. 63 Joseph Addison, The Tatler, Nr. 161, 20. April 1710, 157. 64 Ibid., 158. 65 Ibid. 66 Ibid. 67 Horace-Bénédict de Saussure, Voyage dans les Alpes, sur l’histoire naturelle des environs de Genève, Bd. 1, Teil 2, Voyage autour du Mont-Blanc, Samuel Fauche, Neuchâtel 1779. [= Saussure 1779] 68 Ibid., 408. 69 Ibid., 247. 70 Ibid., 495: Erklärungen zur Tafel VIII. 71 Saussure 1779, Préliminaire, XV/XVI. 72 Vgl. Vanessa L. Ryan, ‹The Physiological Sublime: Burke’s Critique of Reason›, in: Journal of the History of Ideas, Bd. 62, Nr. 1, 2001, 265–279. 73 Edmund Burke, A philosophical Enquiry into the Origin of our Idea of the Sublime and the Beautiful, Verl. R. and J. Dodsley, London 1757 [=Burke 1757], 38. 74 Ibid., Kapitel des zweiten Teils. 75 Edmund Burke, Vom Erhabenen und Schönen (1757), Aufbauverlag, Berlin 1956 [=Burke (1757) 1956], 109; Orginaltext: Burke 1757, 52. 76 Burke (1757) 1956, 110; Burke 1757, 52. 77 Burke (1757) 1956, 111; Burke 1757, 55. 78 Addison verglich das Pantheon in Rom mit einer gotischen Kathedrale: Letztere wirke, trotz ihres größeren Ausmaßes, wesentlich kleiner als das Pantheon wegen ihrer übermäßigen Ornamentik. Vgl. Saint Girons 2009, 146. 79 Der aus Prag stammende Maler Wenceslaus Hollar hatte zwar bereits 1647 ein Panoramabild von einer Kirchturmspitze aus angefertigt, mit dem Titel ‹Long View of London from Bankside›, das aus einer sechsteiligen Radierung bestand, die zusammengesetzt 2,7 Meter lang war; allerdings wurde es flach, und nicht in einem runden Raum ausgestellt. 80 Immanuel Kant, Handschriftlicher Nachlass, Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, in: Akademieausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken. Bände und Verknüpfungen zu den Inhaltsverzeichnissen (1789), Korpora 2018 [=Kant 1789], Kap. X. ‹Von der Nachsuchung eines Prinzips der technischen 53
Die Entstehung des alpinen Erhabenen
Urteilskraft›, 238: ‹[…] mithin Stoff zu künftigen systematisch zu verbindenden Erfahrungsregeln.› 81 Ibid., 238. 82 Ibid. 83 Kant (1790) 1963, zweites Buch, ‹Analytik des Erhabenen›, ‹Vom Dynamisch-Erhabenen der Natur›, § 28, ‹Von der Natur als einer Macht›, 161. 84 Ibid., § 23, ‹Übergang von dem Beurteilungsvermögen des Schönen zu dem des Erhabenen›, 136. 85 Ibid., § 27, ‹Von der Qualität des Wohlgefallens in der Beurtheilung des Erhabenen›, 158f. 86 Ibid., § 28, ‹Von der Natur als einer Macht›, 160. 87 Ibid., 160f. 88 Ibid., 161f. 89 Ibid., 173. 90 Ibid., 174. 91 Friedrich Schiller, ‹Über das Erhabene› (Erstpubl.: Vom Erhabenen 1793), in: Klaus L. Berghahn (Hg.), Vom Pathetischen und Erhabenen. Schriften zur Dramentheorie, Reclam Nr. 18673, Stuttgart 2009, 99ff. 92 Ibid., 105. 93 Ibid., 104. 94 Vgl. Charles Watkins, Ben Cowell, Uvedale Price (1747–1829): Decoding the Picturesque, The Boydell Press, Woodbrigde 2012. 95 Uvedale Price, Essays on the picturesque, as compared with the sublime and the beautiful: and, on the use of studying pictures, for the purpose of improving real landscape (1794), gedruckt für J. Mawman, London 1810, [=Price (1794) 1810], Bd. 1, Google Books 2012. 96 Vgl. Gerhard Hard, ‹Zu Begriff und Geschichte der «Natur» in der Geographie des 19. und 20. Jahrhunderts›, in: Natur als Gegenwelt, Karlsruhe 1983: Sprichwort im 18. Jh.: ‹eine Landschaft so genannt, wenn sie aussah, als hätte sie Claude Lorrain erfunden.› 97 Price (1794) 1810, 84. 98 Ibid. 99 Ibid., 86. 100 Ibid., 87: ‹Astonishment is that state of the soul, in which all its motions are suspended with some degree of horror: the sublime also, being founded on ideas of pain and terror, like them operates by stretching the fibres beyond their natural tone. The passion excited by beauty, is love and complacency; it acts by relaxing the fibres somewhat below their natural tone, and this is accompanied by an inward sense of melting and languor.› 101 Ibid., 88. 102 Ibid., 89. 103 Anno Mungen, Bilder-Musik. Panoramen, Tableaux vivants und Lichtbilder als multimediale Darstellungsformen in Theater- und Musikaufführungen vom 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert, 2 Bände, Gardez Verl.,
Remscheid 2006. 104 Siegfried Kracauer, ‹Die Reise und der Tanz› (1925), in: ders., Das Ornament der Masse, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977, 41. 105 Marc Twain, A Tramp abroad (1880), American Publishing Company, Chatto & Windus, London, Projekt Gutenberg, Kap. ‹Meeting a Hog on a Precipice›. 106 Georges Sand, Histoire de ma vie (1847– 1855), 1856, Bd. VIII, Kap. X, 120f. 107 Siegfried Kracauer, ‹Berg- und Talbahn›, in: ders., Aufsätze 1927–1931, Suhrkamp Verl., Frankfurt am Main 1990, 117f. 108 Michel Foucault, Le corps utopique, suivi de Les Hétérotopies (1966) Nouvelles Ed. Lignes, Paris 2009, 10f. 109 Jean-François Lyotard, Das Inhumane, Wien 1989, 197f. 110 Odile Lesaffre: ‹Une fête révolutionnaire en province: la fédération de Lille (6 juin 1790)›, in: Michel Vovelle (Hg.), Les images de la Révolution Française, France XIX-XX, Publications de la Sorbonne 1982, 149. 111 Christian Taillard, ‹Le mobilier de la cathédrale St. André de Bordeaux, du milieux du XVIIIè siècle au milieu du XIXè siècle›, in: Agostino, V. Marc (Hg.), La cathédrale SaintAndré, reflet de neuf siècles d'histoire et de vie bordelaises, Presses Univ. de Bordeaux, Bordeaux 2001, 134. 112 Sylvia Pressouyre, ‹Brongniart à Bordeaux et à La Réole (1793–1795)›, in: Bulletin Monumental, tome 124, n°1, année 1966, 87f. 113 Klaus Albrecht Schröder, Maria Luisa Sternath-Schuppanz (Hg.), Von der Schönheit der Natur. Die Kammermaler Erzherzogs Johann, Verl. Albertina, Wien 2015, 82. 114 Vgl. Stephen Oetermann, The Panorama: History of a Mass Medium, Zone Books, New York 1997, 7. 115 Ibid. 116 Louis Daguerre, Historique et Description des procédés du Daguerréotype et du Diorama par Daguerre, Ed. Suisse Frères, Paris 1839, 75f. 117 Gaspard Vallette, Le Village Suisse à l’Exposition Nationale Suisse, éd. Commission du Village Suisse, Genève 1896. 118 Annie-Paule Quinsac, Giovanni Segantini. 1858–1899, Ausst.- Kat. Kunsthaus Zürich, 1990, 21. 119 Jeffrey Stanton, Coney Island, 1997, www.westland.net/coneyisland/articles/independentrides.htm (18.11.2010). 120 Rem Koolhaas, New York délire, Parenthèses, Paris 1978, 61. 121 Gian-Marco Jenatsch, ‹Maschine und Kaaba› (Hoher Kasten und Peak Gornergrat), in: WBW Nr. 10, 2004, 91 122 Valerio Olgiati, zit. n.: Laurent Stalder, Sandra Bradvic, in: Valerio Olgiati, Englisch Texts, Quart Publishers, 2014, 8ff.
Andrea Deplazes mit Studio Monte Rosa ETH Zürich, Monte-Rosa-Hütte, 2009
2
Kristall, Kristallisation
So ist bei gewissen Bauwerken die eurythmische Abgeschlossenheit der Krystalle und andrer vollkommen regelmäßiger Formen der Natur wiederzufinden [wie Grabkegel und Pyramiden …]. Sie sind […] als vollständig für sich bestehende Mikrokosmen, als Symbole des Alls, das nichts außer sich kennt […], sehr eindrucksvoll. Gottfried Semper, Der Stil, 1, Textile Kunst, Prolegomena, 1860, XLIII
Die metaphysische und unendliche Dimension des Erhabenen
faszinierte sämtliche Architekten, Künstler und Schriftsteller,
wurde in der Romantik in ein kleines, metaphorisches Objekt
die um 1900 utopische oder mystische Kosmogonien um
projiziert: den Kristall. Die Entwicklung des metaphysischen
den Kristall herum fabrizierten. Das Kristalline, das sich durch
Erhabenen-Gefühls in der Romantik war nicht nur ausschlag-
seine markante Geometrie auszeichnet, ermöglicht es Archi-
gebend für den Wandel unserer Naturauffassung, sondern
tekten, der kosmisch-metaphysischen Naturauffassung eine
auch für das aus dem Naturbegriff abgeleitete ‹kristalline
Form zu geben bzw. formal inmitten der ‹wilden Natur› zu
Kunstschaffen›. Die erhabene Betrachtungsweise der ‹wilden
existieren, indem die Architektur Teil der ‹abstrakten Kreation›
Berge› hatte zum Drang geführt, durch Kunst die Natur nicht
wird. Im 19. Jahrhundert avancierte das Kristalline im deutsch-
nur zu erfassen, sondern diese auch zu gestalten, durch Archi-
sprachigen Raum zu einem wichtigen Topos der Kunstge-
tektur. Der Kristall wurde zum Symbol einer auf Struktur und
schichte; die Voraussetzung dafür ist allerdings wesentlich älter.
Wachstum basierenden Erklärung des Bauplans der Welt (Kosmogonie). Dabei wurde auch der Technik eine zentrale Rolle zugemessen, als Teil des schöpferischen Plans.1 Die
Der Kristall in der Kulturgeschichte
kosmisch-geometrische Dimension des Kristallinen wurde bereits von Gottfried Semper (1803–1879) thematisiert, der
Seit der Antike hatte der Kristall sowohl eine transzendentale
in der Einleitung seines 1860 erschienenen Hauptwerks Der
als auch eine geometrisch-mathematische Dimension, durch
Stil schrieb: ‹So ist bei gewissen Bauwerken die eurythmische
die man versuchte, die Regeln des Kosmos zu erfassen. Die
Abgeschlossenheit der Krystalle und andrer vollkommen regel-
Quintessenz fand bei Platon im Dodekaeder, im perfekten
mäßiger Formen der Natur wiederzufinden [wie Grabkegel
zwölfflächigen Kristall, sein geometrisches Symbol. Aristoteles
und Pyramiden]. Sie sind […] als vollständig für sich beste-
bezeichnete die quinta essenzia als Äther,3 den Lichtträger, die
hende Mikrokosmen, als Symbole des Alls, das nichts außer
Lebenswärme. Für die Alchemisten war die Quintessenz das
sich kennt […], sehr eindrucksvoll.› Diese Symbolhaftigkeit
Resultat einer Extraktion: die reine Materie. Sie repräsentierte
2
55
Arnold Fanck, Karl (Luis Trenker) im Eissturm, aus: ‹Der heilige Berg›, 1926
Jacopo de’Barbari (vermutl.), ‹Fra Luca Pacioli bei einer Kristallstudie› (u.), Ausschnitt (o.), um 1495
das Weltganze und den We-
Johann Gottfried Herder in Ideen zur Philosophie der
senskern aller Stoffe, sie ist
Geschichte der Menschheit (1784–1791) die Kristallisation als
Makrokosmos und Mikrokos-
Schöpfungsakt, der sich in geometrischen Strukturen artikuliert:
mos in einem, ihr Symbol ist
‹Die unermeßliche Kette reicht vom Schöpfer hinab bis zum
der Kristall. Leonardo da
Keim eines Sandkörnchens, da auch dieses seine bestimmte
Vinci (1452–1519), Schüler
Gestalt hat, in der es sich oft der schönsten Kristallisation
des Mathematikers Fra Luca
nähert. […] Noch eine gewaltigere und reinere Wirkung des
Pacioli, illustrierte für seinen
Feuers und der Kälte ward zur Kristallisation erfordert, die
Meister De Divina Propor-
nicht mehr die Muschelform, in die der Kiesel springt, sondern
tione, eine 1509 veröffent-
schon eckige geometrische Winkel liebet.›5
lichte Studie über perfekte
Bei Friedrich Schillers Romanfragment Das philosophische
(göttliche) Proportionen,
Gespräch aus dem Geisterseher (1787–1789) stand der Kris-
die unter anderem sämtli-
tall als Anschauungsbeispiel für ein Fragment eines univer-
4
che Kristallstrukturen erfasste. Er studierte die Formen der
sellen Bauplans. Schiller thematisierte das menschliche
fünf platonischen Körper und ordnete ihnen die vier Elemente
Bestreben, aus seinem eigenen Geschlecht den Schöpfer
der Erde zu (Feuer: Tetraeder; Wasser: Ikosaeder, Luft: Oktae-
ableiten zu wollen, und illustrierte dies mit dem Kristall,
der; Erde: Kubus), wobei der fünfte Körper dem Weltganzen,
dessen Weltplan analog dazu die Kristallisation sein müsse:
der Quintessenz, entsprach.
‹Geben Sie dem Kristalle das Vermögen der Vorstellung, sein höchster Weltplan wird Kristallisation, seine Gottheit die
Der Kristall als Bauplan
schönste Form von Kristall sein.›6
Aufgrund seiner perfekt geometrischen Matrix und seines
Auch Kant bezog sich in der ersten Einleitung (1789) der Kritik
inhärenten, den Wachstumsprozess definierenden Bauplans
der Urteilskraft auf den Kristall, weil dieser, gemeinsam mit
wurde der Kristall als Mikrokosmos einer übergeordneten
anderen höheren Bauplänen, aus einem vorprogrammierten
Weltordnung angesehen. Im Zeitalter der Aufklärung beschrieb
Wachstumsprozess der Natur heraus entstehe; er sei ein System, eine Technik und somit auch eine Kunst: ‹Die Natur verfährt in Ansehung ihrer Producte als Aggregate mechanisch, als bloße Natur; aber in Ansehung derselben als Systeme, z. B. Cristallbildungen, allerley Gestalt der Blumen, oder dem inneren Bau der Gewächse und Thiere, technisch, d. i. zugleich als Kunst.›7 Die Einfühlung in die Natur als Wegbereiter zur kristallinen Kunsttheorie In der Aufklärung strebte Kunst nicht mehr die möglichst naturgetreue Nachahmung (Mimesis) der Natur an, sondern vielmehr deren Interpretation, welche Kant dem Genie des Künstlers zuschrieb. In seiner 1790 erschienenen Theorie der Ästhetik, der ‹Kritik der Urteilskraft›, hatte er sich vom Prinzip der Mimesis gelöst und legte den schöpferischen Prozess ins Subjekt: Die Natur werde durch das Genie (Gemüt) des Künstlers interpretiert, wobei die Vermittler zwischen Natur und Kunst der Verstand und der Geschmack seien. Unter Genie verstand er ein Talent (eine Naturgabe), ‹welches der
Kristall, Kristallisation
56
Kunst die Regeln gibt›. Nachdem es aber ‹selbst zur Natur
Robert Vischer (1877–1933) brachte den Begriff der ‹Einfüh-
gehört›, sei das Genie ‹die angeborene Gemütslage, durch
lung› auf, worunter er einen psychischen Akt verstand, durch
welche die Natur der Kunst die Regel gibt›. An die Stelle der
den äußerliche sinnliche Erscheinungen mit seelischem Gehalt
künstlerisch-technischen Virtuosität der Mimesis trat die mensch-
erfüllt seien.11 Theodor Lipps (1851–1914) griff dieses Konzept
liche Natur, die durch die Sensibilität ihres ‹Gemüts› zum Me-
auf und wandte sich der psychischen Rezeption des Kunstwerks
dium zwischen Natur und Kunst wurde (durch Interpretation).
zu, wobei das Ich mit dem betrachteten Ding verschmelze,
Die Kant‘sche Ich-Erweiterung der erhabenen Naturbetrachtung
woraus ästhetischer Genuss entstünde.12 Die einfühlende und
kann als Grundlage für die daraus folgende ‹Einfühlung› in
metaphysische Naturbetrachtung wurde von der Natur auf
die Natur betrachtet werden, die in der deutschen Kunstge-
die Kunst übertragen und zu einem wichtigen Aspekt in der
schichte des 19. Jahrhunderts aufkam. Caspar David Friedrichs
Kunsttheorie der deutschen Romantik.
8
‹Wanderer über dem Nebelmeer› (1818) kann als Ausdruck dieser gefühlsvollen Naturbetrachtung angesehen werden, weil der Betrachter durch die Figur des Wanderers den Blick
Der Kristall in der Kunsttheorie
auf die Berge erlebt, indem er sich in sie hineinfühlt. Während in der Aufklärung der sittlich handelnde Mensch im Vorder-
Im 19. Jahrhundert wurde das Kristalline zu einem wichtigen
grund stand, als Grundstein einer aufgeklärten Gesellschaft,
Thema in der Kunsttheorie. Dem ‹kristallinen Kunststreben›
so war es in der Romantik der Rückzug auf das eigene Ich,
lag eine kosmische Dimension zugrunde, die man auch im
das in gefühlsbetonter Weise versuchte, mit der Natur (und
Erhabenen findet. Der Vermittler war der empfindsame,
dem Kosmos) eins zu werden.
begabte und inspirierte Mensch, der Philosoph, Künstler
Arthur Schopenhauer (1788–1860) baute auf Kants Prinzip
oder Architekt, der sich in die Natur einfühlt, um aus ihr
der erhabenen Naturbetrachtung auf, ersetzte aber das Sich-
heraus schöpferisch zu schaffen. Die von deutschen Philoso-
Hinwegheben über die Kräfte der Natur mittels des Verstandes
phen geführte Diskussion über die Ästhetik beeinflusste die
durch eine kontemplative Verschmelzung mit der Natur.
Kunsttheorie und somit auch das Kunstschaffen, wobei das
Diese Vereinigung kann bis zur ekstatischen Selbstentäußerung
Kristalline eine bedeutende Dimension hatte.
(auf Griechisch Kenosis, auch: Selbstentleerung) führen, die
Friedrich Wilhelm Schelling (1775–1854) ging davon aus,
durch kontemplative Meditation entstehe. Somit sei der
dass die Natur durch die Kunst in ihrer Struktur erfassbar sei
Betrachter ‹nicht mehr Individuum: denn das Individuum hat
und verglich das Wachstum der Natur mit dem Kunstschaf-
sich eben in solche Anschauung verloren: sondern er ist reines,
fen. Den Kristall sah er als ein übergeordnetes Formgesetz
willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniß›.9
an, das Natur und Kunst vereine. Die mimetische Beziehung
Schopenhauer zitiert Lord Byron (1788–1824), der sich nach
der Kunst zur Natur blieb zwar aufrecht, wurde aber umge-
seiner Grand Tour fragt: ‹Are not the mountains, ways and
deutet in eine Analogie von Werk- und Wachstumsprozess,
skies, a part of me and of my soul, as I of them?›
wie Regine Prange es treffend formuliert.13 Der Kristall ermög-
In der Romantik wurde die metaphysische Dimension des
lichte es, Kunst und Natur zu vereinen, wobei der kreative
Erhabenen betont, basierend auf der Verschmelzung mit der
Schaffensprozess mit dem Wachstum der Natur verglichen
Natur. Gustav Theodor Fechner (1801–1887) brachte in der
wurde.
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Begriffe der ‹Empathie›
Alois Riegl (1858–1905) sah in der ‹Kristallisation› das ‹Grund-
und der ‹Allbeseelung› auf, basierend auf der Vorstellung
gesetz, nach welchem die Natur die tote Materie formt›, und
einer allgemeinen Beseelung, die sich von den Lebewesen
leitete daraus das ‹kristalline Kunstwollen› (damit meinte er
wie Menschen, Tieren und Pflanzen über anorganische Dinge
das künstlerische Schaffen) ab, das durch die Vereinigung
bis hin zu den Atomen und Gestirnen erstreckte. Er lieferte
von Verstand und Materie zu einem ‹Glückseligkeitsstreben›
die Grundlage der Einfühlungstheorie, die in der Romantik
führe. Die metaphysische Dimension des Kristallinen stand
ausschlaggebend war für das Kunstschaffen, wobei die kos-
symbolisch für die Schöpfung, wobei kristalline Wachstums-
mische Dimension eine wichtige Rolle spielte.
strukturen, die einem geometrischen Prinzip folgen, als Ausdruck
10
57
Kristall, Kristallisation
Leonardo da Vinci, ‹Rhombicuboctahedron› erste gedruckte Illustration, aus: ‹De divina proportione›, 1509
eines kosmischen Ganzen
indem er sich die Frage stellte, wie Kristalle von außen und
angesehen wurden.
von innen her wirkten. Aus kristallinen Strukturen leitete er
Zu Beginn des 20. Jahrhun-
die symmetrische Komposition der Eurythmie ab, worunter er
derts artikulierte Wilhelm
‹das Gestaltungsprinzip der vollständig in sich abgeschlossenen,
Worringer (1881–1965) in
für das Außensein indifferenten Formen› verstand. Sie würden
seiner Dissertation Abstrak-
sich dadurch auszeichnen, dass sie eine ‹unmittelbare Beziehung
tion und Einfühlung (1907)
allein zu sich selbst› haben und um einen Kern oder Mittel-
eine klare Trennung zwischen
punkt herum angeordnet sind: ‹Die Eurythmie besteht in einer
dem Prinzip der Einfühlung
geschlossenen Aneinanderreihung gleichgeformter Raumab-
und der kristallinen Abstrak-
schnitte›, die zwei- oder dreidimensional sein können: ‹Bei
tion, wodurch das Kristalline
dem Kreise […] und der Kugel als Polyeder von unendlich
zur eigenen Ausdrucksform
vielen Seitenflächen wird diese Regelmässigkeit zu absoluter
in der Kunst und Architektur
allseitiger Gleichförmigkeit, weshalb diese Formen seit Urzeiten
avancierte. Er lehnte sich an
als Symbole des Absoluten und in sich Vollkommenen gelten.›15
14
Lipps Theorie der Einfühlung an, bestritt allerdings, dass nur
Beim Kristall fallen all diese Faktoren in einem in sich stabilen
durch diese ästhetischer Genuss entstehen könne, und setzte
Ordnungsprinzip zusammen. Im Gegensatz zur Symmetrie
ihr den menschlichen Drang nach Abstraktion entgegen, die
hätten ‹die regelmässigen Kristallbildungen, die sich von
er aus dem Kristallinen ableitete. Während Einfühlung durch
dem All völlig abschliessen und wahre Mikrokosmen sind, in
die Kontemplation einer Landschaft oder durch das perspek-
sich genügend Bestand, so dass sich die Möglichkeit ihres
tivische Sich-Verlieren im Raum erzeugt werde, stehe die kris-
Seins auch ausser der Welt in ihrer Form ausspräche›.16 Ange-
talline Abstraktion für das Streben nach einer ganzheitlichen
sichts ihrer hermetischen Geschlossenheit ging Semper der
Vereinigung mit der Menschheit, der Natur und dem Kosmos –
Frage nach, wie Kristalle auf den Betrachter wirken: Prinzipiell
und nicht zuletzt auch mit der Wissenschaft und Technik. Das
sei der Betrachter aus dem kristallinen Prinzip ausgeschlossen;
Prinzip der Abstraktion sah Worringer in der Geometrie des
steht er jedoch im Zentrum des Kristalls, so werde er ‹Einge-
Kristallinen verkörpert, weil sie – losgelöst von Zeit und Raum –
schlossenen›, zum ‹Eingerahmten›. Er veranschaulichte das
für eine übergeordnete kosmische Gesetzmäßigkeit stehe,
eurythmische Prinzip mit dem Rahmen. Während Kant den
die im Gegensatz zur Einfühlung nicht auf dem Empfinden
Rahmen als ‹Zierat (Parerga)›17 abtat, verlieh ihm Semper eine
des Einzelnen beruhe, sondern auf einer absoluten und uni-
Eigenständigkeit, die weit über das ‹Zieren› von Bildern
versellen Struktur. Seine These beeinflusste sämtliche Künstler,
hinausging. Es ging ihm nicht um ein ästhetisches, sondern
vor allem die Abstrakten und Expressionisten.
um ein wesentlicheres Phänomen, das sowohl mit dem Abschluss als auch mit der Maßstäblichkeit des Eingerahmten
Gottfried Semper, eurythmische Kristalle und die
zusammenhängt: ‹Der Rahmen ist eine der wichtigsten Grund-
Wahrnehmung aus dem Kristallinneren, 1858
formen der Kunst. Kein geschlossenes Bild ohne Rahmen, kein
Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen beschäftigte sich
Maßstab der Größe ohne ihn›, denn er bilde ‹um das einge-
Gottfried Semper (1803–1879) nicht mit dem gefühlsbetonten,
rahmte Objekt herum eine geschlossene Figur›.18 Das
sondern mit dem strukturellen Aspekt der Kristalle, um daraus
Eurythmisch-Kristalline verkörperte für Semper ein in sich
Verbindungen zu Raum, Architektur und Kunst abzuleiten.
geschlossenes System, das ein Außen und ein Innen hat. Ist
Nachdem 1851 durch den Bau des Londoner Glaspalasts die
es zweidimensional, wird das innen eingeschlossene Subjekt
Kristallmetaphorik reaktiviert wurde, versuchte Semper, der
zum eingerahmten Objekt. Ist es aber dreidimensional, kommt
den Bau von innen erlebt hatte, das neuartige Raumgefühl
dem Eingeschlossen-Sein eine andere Bedeutung zu:
entmaterialisierter Wände und Decken zu erfassen. Er befasste
Die perspektivische Wirkung wird aufgehoben, wenn sich der
sich mit der Geometrie kristalliner Formen und setzte sich
Betrachter im geometrischen Zentrum einer kristallinen
insbesondere mit der Position des Betrachters auseinander,
eurythmischen Struktur befindet.
Kristall, Kristallisation
58
Diese Art der Wahrnehmung musste er selbst erfahren haben,
mit national-visionären, dann zusehends mit utopischen
als er für die Weltausstellung im Crystal Palace die Abteilun-
Sehnsüchten überlagert. Im Gegensatz zum formlosen Erhabe-
gen der Türkei, Ägyptens, Schwedens und Dänemarks einge-
nen-Begriff konnte das Kristalline formgebend wirken bzw.
richtet hatte. Allerdings wurde uns die räumliche Wahrnehmung
symbolisch einer bestehenden Form zugeordnet werden, wie
nicht durch ihn vermittelt, sondern durch andere Zeitzeugen-
dies bei der ‹kristallinen Gotik› der Fall war. Somit konnte
berichte, wobei in Lothar Buchers Bericht aus dem Jahre 1861
über die Form eine unmittelbare Verbindung vom Kristallinen
insbesondere die Überraschung über die nicht vorhandene
zur Kunst und Baukunst hergestellt werden.
perspektivische Wirkung zum Ausdruck kommt: ‹Wir sehen ein feines Netzwerk symmetrischer Linien, aber ohne irgend-
Von der gotisch-kristallinen Kathedrale zum Kristallpalast
einen Anhalt, um ein Urteil über die Entfernung desselben
für das Volk
von dem Auge und über die wirkliche Größe seiner Maschen
Karl Friedrich Schinkel und Caspar David Friedrich malten
zu gewinnen. Die Seitenwände stehen zu weit ab, um sie mit
‹gotisch-kristalline› Kathedralen (wie sie damals bezeichnet
demselben Blick erfassen zu können, und anstatt über eine
wurden) als sehnsuchtsvolles Symbol einer deutschen Identität.
gegenüberstehende Wand streift das Auge an einer unendli-
Diese musste mit der 1815 erfolgten Gründung des Deutschen
chen Perspektive hinauf, deren Ende in einem blauen Duft
Bundes (der aufgrund fortwährender nationaler Kriege zur
verschwimmt […]›, wobei die Träger optisch ‹in einem fernen
Befriedung entstand) allerdings erst erschaffen werden.
Hintergrund› verfließen, ‹in dem alles Körperhafte, selbst die
In dieser turbulenten Zeit malte Schinkel utopisch-ideale
Linie verschwindet und nur noch die Farbe übrig bleibt.›
Stadtlandschaften, indem er auf das rückwärtsgewandte
19
Die Menge sei in dem ‹ungeheuren Raume› zerflossen, welches
Symbol der gotisch-kristallinen Kirche zurückgriff, um es
Bucher mit einem ‹Stück Sommernachtstraum in der Mittags-
identitäts-bildend für die neue Deutsche Nation einzusetzen
sonne› verglich. Sempers eurythmisches Prinzip des Rahmens
(wie zum Beispiel die idealisierte ‹Mittelalterliche Stadt am
scheint hier in dreidimensionaler Weise eine räumliche
Fluss›, 1815, oder die ‹Gotische Kirche auf einem Felsen
Verkörperung gefunden zu haben, indem der Kristall von
am Meer›, 1815). Auch Caspar David Friedrich malte gotische
innen her erlebt wurde.
Kathedralen als halbtransparente, kristalline Gebilde, die in den Wolken lediglich zu erahnen sind (‹Das Kreuz im Gebirge›,
Das Kristalline in der Architektur – der Architekt als utopischer Schöpfer
1812, oder ‹Die Kathedrale›, 1818). Monumentaler artikulierte sich das Kristalline in seinem 1823 bis1824 gemalten Bild ‹Das Eismeer›, das wild aufgeworfene Eisschollen zeigt, die von großer Dynamik ausgezeichnet sind. Hundert Jahre später
‹Das Licht will durch das ganze All – und ist lebendig im
griff Walter Gropius diese Dynamik und expressive Form auf
Kristall.›20 Paul Scheerbart, Spruch auf dem Gesims des Kölner
für sein 1922 errichtetes ‹Denkmal der Märzgefallenen›, das
Glashauses, 1914
er im Auftrag des Gewerkschaftskartells für die am 15. März 1920 von den nationalsozialistischen Putschisten ermordeten
Bevor das Kristalline eine (im geometrisch-formalen Sinn)
streikenden Arbeiter konzipierte. Laut Gropius sollte das
entsprechende Formgebung in der Architektur erhielt (wie
Denkmal wie ein ‹Blitzstrahl aus dem Grabesboden als Wahr-
etwa bei Tauts Kristallarchitektur), wurde im 19. Jahrhundert
zeichen des lebendigen Geistes› wirken.
das kristalline Formprinzip retroaktiv auf die Gotik projiziert.
Die im 19. Jahrhundert auf ‹gotisch-kristalline› Kathedralen
Die Kunst fand im Kristallinen eine Möglichkeit, die Erfahrung
projizierten nationalen Identitätssehnsüchte verlagerten sich
einer ‹idealen Natur› zu stilisieren – und für ‹höhere Zwecke›
zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf politisch-kosmische
zu instrumentalisieren. Ähnlich wie beim Erhabenen wurde
Utopien, die für Fortschritt, Demokratie und Frieden standen.
auch das Kristalline für politisch-ideologische Gesinnungen
Mit den technischen Errungenschaften (wie der Erfindung des
vereinnahmt. Während das Erhabene in der Aufklärung zu
Glasbausteins, der dem Baustoff Glas auch strukturelle Eigen-
einem Freiheitsbegriff avancierte, wurde das Kristalline zuerst
schaften verlieh) fand dieses Streben einen neuen formalen
59
Kristall, Kristallisation
Bruno Taut, Glashaus-Pavillon, Kölner Werkbundausstellung, Außenansicht (o.) und unterer Innenraum mit Kaskadentreppe (u.), 1914
Formensprache, wobei buntes Glas wie ein bezauberndes Kaleidoskop leuchten sollte. Auch das Programm änderte sich: Die Kirche wurde in ihrer Funktion zu einem Versammlungsort des Volkes für Kunst, Kultur und Wissenschaft umgewandelt, der allerdings weiterhin mit ‹Andacht› und ‹Streben nach Höherem› verbunden war. Der deutsche Kunsthistoriker Adolf Behne stellte diesbezüglich 1915 fest, dass der Dom ‹von der Gebundenheit an einen Zweck befreit› sei, daher müsse er als ‹künstlerischer Rausch› als ‹höhere Baulust› aufgefasst werden. Die Transposition von der Kirche auf die kristalline Glasarchitektur kommt u. a. in Paul Scheerbarts Ausspruch ‹der gotische Dom ist das Präludium der Glasarchitektur›21 zum Ausdruck, der davon träumte, dass sich diese über die ganze Erde verteilen solle: Dann hätten wir ‹ein Paradies auf der Erde und brauchten nicht sehnsüchtig nach dem Paradiese im Himmel auszuschauen› (Porträt 10). Diese Vision kam erstmals in Bruno Tauts Pavillon der Werkbundausstellung in Köln zum Tragen, den er im Mai 1914 bauen konnte, in intensivem Austausch mit Scheerbart. Weder Natur noch Artefakt, glich dieses Gebäude von innen her gesehen einem Kristallberg: Der Besucher betrat den Bau über einen Betonsockel, auf dessen Gesims ein Spruch Scheerbarts stand: ‹Ohne einen Glaspalast ist das Leben eine Last. Das bunte Glas zerstört den Hass.› Dann wurde er über eine Treppe in den oberen Kuppelraum geführt, dessen weiße, transluzide Glasrhomben weißes, milchiges Licht erzeugten. Ein zentrales Loch im Glasmosaikboden gab den Blick auf den darunterliegenden Raum frei, in dessen Zentrum sich eine bunt beleuchtete Kaskade befand. Über eine Glastreppe wurde der Besucher wieder hinuntergeleitet und von der Buntheit des Raums überrascht. Beim Hinausgehen war sein Blick auf ein großes Kaleidoskop gerichtet, dessen stetig bewegte Glassplitter hypnotisch wirkten. Das Licht wurde in unzählige Farbpunkte aufgesplittert, die auf den Wänden tanzten. Der Besucher befand sich im Inneren eines transparenten, farbig leuchtenden Kristalls; er war bezaubert, überrascht und er-
10
Ausdruck. Das Kristalline avancierte zum utopischen Symbol,
schüttert zugleich, denn er war seiner gewohnten räumlichen
wobei Glas als zukünftiger Baustoff einer visionären Architektur
Wahrnehmung enthoben.22 Der Effekt löste Enthusiasmus aus,
in den Vordergrund trat. Die ‹kristalline Gotik› diente zwar
das Glashaus wurde als ‹Juwel› bezeichnet, als ‹Jungquell der
symbolisch als Vorbild, die Architekten strebten aber eine
Anregungen›. Adolf Behne schrieb 1915 im Kunstgewerbeblatt
Loslösung von deren Formensprache an, zugunsten reiner
von der ‹blumenhaften Zartheit› dieses Baus, von seiner ‹un-
Kristallformen, wobei sie an Joseph Paxtons Glaspalast an-
fassbaren Geistigkeit›, man hätte die ‹lockende Schönheit des
knüpften. Sie entwickelten eine expressionistische, kristalline
Ideals in einem reizenden Splitter› gesehen: ‹Die Sehnsucht
Paul Scheerbart, Glasarchitektur, 1914 60
nach Reinheit und Klarheit, nach leuchtender Helligkeit,
Form, auf der Suche nach der Quintessenz, dem Kristall.
kristallischer Exaktheit, nach körperloser Leichtigkeit, und
Im Streben nach ‹Höherem› sah Bruno Taut in seinem Bild-
unendlicher Lebendigkeit fand das Glas als Mittel ihrer Erfül-
band Alpine Architektur (Projekt 11) neben der Errichtung
lung – den körperlosesten, den elementarischsten, den hand-
bunter Glaspaläste auch die Perfektionierung der Bergspitzen
lungsfähigsten und an Deutungen und Anregungen reichsten
vor, indem er ihnen präzise, geometrische Kristallformen verlieh.
Stoff, der wie kein anderer verschmilzt mit der Welt, der am
In diesen Ansätzen schimmert Worringers These durch, der
wenigsten starr dasteht, sondern sich wandelt mit jedem
davon ausging, dass durch Abstraktion und ‹geometrisch-
Wandel der Atmosphäre, unendlich reich an Beziehungen,
kristallinische Gesetzmäßigkeit› ein Losreißen von ‹Zeitlichkeit
das Oben im Unten spiegelnd, beseelt, voller Geist und
und Willkür›24 möglich sei. Dies mag die Expressionisten dazu
lebendig! Der Gedanke an den herrlichen Kuppelraum, der
bewegt haben, der Architektur und der Berglandschaft
sich wie eine funkelnde Gehirnschale wölbte, an die unwirkliche,
kristalline Formen zu verleihen, um sie zu einem ‹höheren
unirdische Treppe, die man wie durch perlendes Wasser hinab-
Dasein› zu erheben. Die gewählte Form der Abstraktion,
schritt, ergreift mich und beglückt mich in der Erinnerung.›
die sowohl geometrisch als auch organisch sein konnte (Taut
Behne hob in seiner blumigen Sprache die ‹Lebendigkeit›
entwarf selbst Glasblumen, die die Berge zierten), zeugt von
dieses kristallinen Gebäudes hervor, dessen Kuppel er mit
der Sehnsucht nach einer Verschmelzung des Menschen mit
einer ‹funkelnden Gehirnschale› verglich, ‹beseelt, voller
der Natur.
Geist›. Das Kristalline wurde als etwas Lebendiges erlebt, in
Das Naturverhältnis hatte sich somit von einem einfühlenden
Kohärenz mit der Entdeckung der Flüssigkristalle.
zu einem gestaltenden Prinzip gewandelt. Konstant blieben
23
die kosmische Dimension des Höheren, Ewigen und UnenVon der Schöpfung der Natur zum Architekten als Schöpfer
dlichen sowie das Streben nach Transzendenz. Die dem
Schopenhauers Naturauffassung, Nietzsches Zarathustra und
Erhabenen inhärente Grenzerfahrung wurde nicht mehr in der
Scheerbarts fantastische Erzählungen inspirierten zahlreiche
kontemplativen Naturbetrachtung, sondern im utopischen
Künstler und Architekten. Wenzel Hablik, Wassili Luckardt und
Streben nach Vervollkommnung gesucht, welches im kristalli-
Bruno Taut konzipierten zu dieser Zeit Kristallarchitekturen in
nen Schaffen lag. Ein Ausspruch von Taut über die Natur
den Bergen und im All. Ihr Werk reflektiert den Einfluss der
illustriert dies: ‹Auch wir sind ihre Atome und folgen ihrem
Philosophen, insbesondere was das kosmisch-utopische Verei-
Gebot – im Schaffen. Sie untätig anstaunen ist sentimental.
nigungsstreben mit der Natur betrifft, aber auch das gottähnli-
Schaffen wir in ihr und mit ihr und schmücken sie!›25
che Schaffen der Künstlerfigur, die sich an den Naturgewalten
Der Künstler-Architekt war bestrebt, die Natur durch kristalline
misst. Als idealer Ort für diese utopischen Kristallpaläste wurden
Formgebung zu perfektionieren und wurde somit zum
die höchsten Gipfel der Alpen auserkoren. Angesichts der
eigentlichen Schöpfer: Er sah in seiner Rolle die Aufgabe, die
Berge entstand allerdings kein ehrfürchtiger Schauder mehr,
Natur zur höheren Kunst anzuheben, um eine bessere Gesell-
sondern ein Drang, die Natur durch kristalline Formgebung
schaft zu gründen.
zu gestalten.
In den expressionistischen Visionen wurde der Kristall zu einer
Somit kann in unserer Beziehung zur Natur ein Bruch festge-
Kosmogonie hochstilisiert, die nicht nur die Berge, sondern
stellt werden: Sie war nicht mehr Vorbild für einen künstleri-
das gesamte All umfasste. Die Technik spielte dabei eine
schen, auf Nachahmung beruhenden Schaffensprozess,
Schlüsselrolle, denn sie wurde als integraler Bestandteil der
sondern ein zu gestaltendes Objekt. Das Kristalline wurde zum
Kreation angesehen, die nun nicht mehr göttlich, sondern
Inbegriff künstlerischen Gestaltens, das selbst die Natur zu
menschlich war. Flugzeuge und Landepisten kommen in Tauts
verschönern trachtete. Die geometrischen Strukturen und
Visionen ebenso vor wie Kristallblumen und Viadukte mit
Formen der Natur wurden von der Kunst übernommen, indem
Äolsharfen.
sie nicht nur reproduziert, sondern auch ‹perfektioniert› wurden. Der Schaffensprozess, der von der Kunst auf die Natur übergriff, bestand in der Purifikation: im Streben nach der reinen Bruno Taut, Alpine Architektur, 1919 61
11
Ernst Haeckel, ‹Radiolaria marine protozoa, Acanthophracta›, Zeichnung, Titelbild aus ‹Kristallseelen› 1917
Die ‹Beseelung› der ‹lebendigen› Kristalle in Architektur, Tanz und Film
Die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse und Haeckels Kristallstudien riefen bei Architekten, Künstlern und Tänzern großes Interesse hervor. Ebenso radikal wie in der Wissen-
Als 1904 von Otto Lehmann die Existenz der Flüssigkristalle
schaft sollte nun auch in der Architektur-, Kunst- und Tanzszene
entdeckt wurde, gesellte sich zur kosmisch-gefühlsbetonten
das bisher Geltende überdacht und erneuert werden. Dabei
Auffassung des Kristallinen die Idee, dass Kristalle leben. Sie
diente das Kristalline als Inspirationsquelle, sowohl was die
wurde vom Naturforscher Ernst Haeckel (1834–1919) geprägt,
strukturellen als auch was die organischen und psychischen
der 1917 das Buch Kristallseelen publizierte, in dem er fest-
Aspekte betrifft.
stellte: ‹Alle Substanz besitzt Leben, anorganische ebenso Wenzel Hablik: Glas, welch herrliches Baumaterial! ‹Welch herrliches Baumaterial!›,28 rief der Maler Wenzel Hablik (1881–1934) entzückt in seinem Artikel ‹Die freitragende Kuppel› aus, der 1922 in der Zeitschrift Frühlicht erschien, die der Glaskonstruktion gewidmet war (der Herausgeber war Bruno Taut). Nachdem Hablik alle geometrisch nur denkbaren kristallinen Konstruktionsmöglichkeiten grafisch dargestellt hatte, schwärmte er von einer neuen technischen Produktionsweise; denn bald solle farbiges Glas aus Erde fabriziert werden (im Bläschen-Zellwandsystem, das damals gerade für Bierflaschen erfunden worden war), und zwar ohne sichtbare Metallkonstruktion: wie organische; alle Dinge sind beseelt, Kristalle so gut wie
‹Nur wie jetzt z. B. im Bergkristall oder die unsichtbaren
Organismen.› Kristalle, die bis dahin als anorganisch und
Eisenstäbe im Beton werden gelegentlich schimmernde, von
somit als unbeseelt galten, müssten nunmehr ‹als «lebende
gehäuften Bläschengebilden umgebene Metallzüge als
26
Naturkörper» betrachtet› werden ‹und mit Rücksicht auf ihre
konstruktive Stützen oder Rohre im Glas liegen! Bis dahin ist
psychomechanischen Eigenschaften auch als «beseelte»›.
es so weit nicht mehr.›29
Daher dürfe es nicht mehr um die reine Beschreibung und
Hablik sah die technische Weiterentwicklung des Baustoffs
Klassifizierung der Kristallformen gehen, sondern um das
Glas als nahe Zukunft an. Das Bauen setzte er der Kristallisation
‹Erforschen ihrer Entwicklung›. Die neue Wissenschaft der
gleich, worunter er einen physikalischen Prozess der moleku-
‹Psychologie der Kristalle›, wie er sie nannte, ‹habe ebenso
laren Formfindung verstand, bei dem der ‹lebendige› Kräfte-
wie diejenige der Organismen ihr physikalisches und chemi-
verlauf ein organischer sei:
sches Verhalten zu untersuchen›, wobei auch die ‹Richtung ihrer
‹Die vielen Möglichkeiten, die es in technischer Hinsicht gibt,
geheimnisvollen Molekularkräfte› zu erforschen sei. Laut
berechtigen uns jedenfalls schon heute, vom «Bauen» als von
Haeckel würden dabei die ‹Energieformen› eine wesentliche
einem Kristallisieren zu reden, einem Auseinandersetzen von
Rolle spielen. Er verwies auf die neuerdings bekannte Struktur
«gesetzmäßig ausgerichteten Molekülen» verschiedenster
der Atome, auf deren Richtungsprinzipien sowie auf die
Materien zu einem einheitlichen Gebilde. Je sicherer dann die
Umwelteinflüsse, die das Wachstum der Flüssigkristalle hervor-
«Anziehungspunkte» der Moleküle in Bezug auf die lebendigen
bringen. Dadurch wurde die emotionale Dimension des Kris-
Achsen der Kräfte gefunden werden, um so einheitlicher,
tallinen weiter verstärkt, weil durch die organische Charak-
organischer, sicherer wird das fertige Gebilde von Kraft und
teristik der Kristalle nun der Vergleich zwischen kristallinen
Stoff sein.›30
und mensch-lichen Strukturen möglich wurde, die sowohl
Daraufhin appellierte er an den ‹kosmisch empfindenden
den Körper als auch die Psyche implizieren. Der Kristall avan-
Geist› des Architekten, der dem einfachen Würfel unendlich
cierte somit zur abstrakten Identifikationsfigur des Menschen.
viele Formen verleihen könne, wenn er dessen Geometrie
27
12
Rudolf von Laban, Der Tänzer im Kristall 62
Rudolf von Laban, Tänzer im Kristall, Skizze
nach den Kristallisationsgesetzen aufsplittere, wodurch neue
ab und im inneren Sechseck
architektonische Formen und somit auch eine neue Lebens-
schließlich ist der Mensch als
form entstünde:
bloße Masse dargestellt.33
‹Nun ist freilich schon der einfachste Würfel (im Sinne der Kris-
Gemäß der neuen Raum-
tallisationsgesetze gedacht) architektonisch unendlich variabel
Zeit-Vorstellungen seit
(wie schließlich jede Form, deren sich ein kosmisch empfinden-
Albert Einsteins Relativitäts-
der Geist bedient), aber in der heute üblichen «Wohnhaus-
theorie (1905–1916) wollte
schachtel mit Löchern» wissen nur noch wenige, etwas damit
Laban Raum als offenes
anzufangen – so wirkt unser Wohnhaus als Karikatur auf alles,
Prinzip darstellen und die
was sonst mit «Menschengeist und Witz» bezeichnet werden
Dreidimensionalität der
kann.›31 Die organische Dimension des Kristallinen wurde zum
Bewegung systematisieren,
Symbol eines gesellschaftlichen Neubeginns. Sie artikulierte
wie auch die Formen,
sich bereits in Tauts Alpiner Architektur, wo sowohl organi-
Rhythmen und ‹Raumwege
sche als auch geometrische Formen zu neuartigen Konstruk-
des Tänzerkörpers›. Das
tionen führten; bei Habliks Text kommt jedoch der Aspekt
Raummodell des Ikosaeders
des Lebendigen hinzu, der erst nach Haeckels Kristallseelen
(20-flächiger Kristall) solle ermöglichen, die ‹objektiven
dem Baustoff Glas eine neue Charakteristik gab.
Gesetze› der menschlichen Bewegung zu erfassen und die Bewegungsrichtungen zu strukturieren. Daraufhin schrieb er
Rudolf von Laban: Der Kristall lebt!
seine Schüler in eine menschengroße Kristallstruktur ein, um
Drei Jahre, nachdem Haeckel jegliche Form von Leben auf
ihnen die kristallinen Richtungsprinzipien als Vorbild für die
kristalline Strukturen zurückgeführt hatte, schrieb der Tänzer,
menschliche Bewegung beizubringen (Porträt 12).
Choreograf und Theoretiker Rudolf von Laban (1878–1958) fasziniert: ‹Der Kristall lebt!› Nun fand er durch die Kristall-
Kristallmystik im Bergfilm
kunde wissenschaftlich bestätigt, was er im Tanz schon seit
In den expressionistischen Bergfilmen der 1920er und frühen
einiger Zeit suchte, nämlich die Verbindung von Emotionen
1930er Jahre avancierte der Kristall zu einem filmischen
mit einem räumlich-geometrischen Richtungsprinzip: ‹Der
Thema. Weniger utopisch als in der Architektur und weniger
Kristallisationsprozeß ist Erregung und Bewegung›, schrieb er
strukturalistisch als im Tanz fungierte der Kristall im Bergfilm
in Die Welt des Tänzers (1920), sich auf die neuen Erkenntnisse
vielmehr als mystisches Symbol, als mysteriös leuchtende
der Physiologie berufend, die das Zentrum des Denkens
Gegenwelt. Im Kristall wurde der Mensch mit der Natur vereint.
nicht mehr ausschließlich im Gehirn situierte: ‹«Verstehen» ist
Dies erfolgte in Arnold Fancks Film ‹Der heilige Berg› (1926) in
im Grunde das Befolgen einer Erregung, einer Kraft, durch
Form einer Halluzination, die in der Todesangst beim Klettern
Bewegen, Wachsen›, schloss Laban daraus. Bei der Bewegung
auf einer Felswand entsteht. Der bläulich leuchtende Eispalast
gäbe es Fremd- und Eigenanstöße, ‹wie die Strebungen im
mit einem übermenschlich großen Eisblock als Traualtar tritt
Kristall nach bestimmten Richtungen oder das Wirken der
als letzter Hoffnungsschimmer auf. Im Kristall kommt die
menschlichen Phantasie in den vielfachen Richtungen der
Sehnsucht einer Verschmelzung zwischen Mensch und Natur
Gedanken, Triebe und Gefühle›.32 Für Laban war die Verbin-
zum Tragen, inszeniert durch ein gigantisches Naturschau-
dung von Kristallstrukturen und menschlicher Bewegung
spiel (Filmporträt 13).
(physischer und psychischer) evident. Um sie tiefer zu ergrün-
In Leni Riefenstahls Film ‹Das blaue Licht› (1932) steht eben-
den, versuchte er, aus kristallinen Strukturen menschliche
falls die Vereinigung des Menschen mit der Natur im Vorder-
Bewegung im Tanz abzuleiten, woraufhin er die Zeichnung
grund, verkörpert durch die Figur des wilden Bergmädchens
‹Tänzer im Kristall› anfertigte: Sie stellt drei Stufen der Bewe-
Junta, das Riefenstahl selbst spielt. Sie ist auf mysteriöse
gung dar: das äußere Sechseck zeigt den ausgestreckten Menschen; das mittlere bildet eine auf sich bezogene Haltung
63
Kristallmystik im Bergfilm – Arnold Fanck, Der heilige Berg, 1926
13
Leni Riefenstahl, Das blaue Licht, 1932
14
Weise innig mit einer Kristallhöhle verbunden, die sie magisch
technischen Aspekte bald zum prinzipiellen Gestaltungsprinzip.
anzieht – sie ist ihr Leben, aber auch ihr Untergang, als die
In den 1960er und 1970er Jahren erlebte das Kristalline mit
Dorfbewohner beginnen, die Kristallhöhle auszubeuten. In
der Erkundung des Weltraums eine Aktualisierung als Aus-
beiden Filmen werden Mensch und Natur im Kristall vereint,
druck eines futuristisch-utopischen Verbundenseins mit dem
wobei Transzendenz in Mystik übergeht und Leben in Tod
neuerdings erfassbaren Weltall. Nach der Mondlandung im
(Filmporträt 14).
Jahre 1969 thematisierten zahlreiche Künstler und Architek-
Die Vereinigung von Mensch und Natur war zwar bereits in
ten die potenzielle Ausdehnung der Menschheit bis in die
Schellings Naturphilosophie und Riegls Kunsttheorie vorhanden,
wissenschaftlich eroberten Sphären des Kosmos.
sie bekommt aber hier eine prägnant mystische Dimension,
Die kosmisch-utopische Dimension kommt in den kristallinen
die dualistisch auf Gut (Natur und Kristall) und Böse (Dorfbe-
Kugeln des US-amerikanischen Architekten Richard Buckminster
wohner und Habgier) aufgebaut ist.
Fuller zum Ausdruck, die auf einigen seiner Zeichnungen im Nachthimmel über den Bergen schweben (Projekt 15). Auch
Kristallarchitektur in den Alpen, von den 1950er Jahren bis heute
in den Alpen wurde die schrankenlose Ausdehnung des Menschen thematisiert, indem die Technik, die das Erschließen der letzten unberührten Höhenlagen ermöglichte, zum gestalterischen Thema wurde. Auch hier kamen Kristallstrukturen zum
Geometrie, Wissenschaft und Technik ist dem Kristallinen
Einsatz, wie es Gerhard Garstenauers geodätische Kugeln
ebenso inhärent wie Transzendenz. Während der Kristall als
veranschaulichen, die er Anfang der 1970er Jahre in Sport-
geometrisch-symbolische Form Architekten zu analogen
gastein in verschiedenen Varianten konstruierte (Projekt 16).
Konstruktionen inspiriert, kommt der Begriff des ‹Kristallinen›
Die Kristallstruktur des Pyrits diente ihm als Vorbild für die
aus dem Diskurs der Kunsttheorie, welcher der kristallinen
Planung der Erweiterung des Dorfes Sportgastein.
Architektur vorausging. Letztere bekam im Laufe des 20. Jahrhunderts eine gewisse Eigendynamik und löste sich zusehends
Kristalline Analogien und Optimierung
von der kunsttheoretischen Diskussion des 19. Jahrhunderts
Das Kristalline ist weder Kunst noch Natur. In dieser Ambivalenz
ab. Dennoch ist die theoretische Grundlage des Kristallinen
liegt ein gewisser Reiz. Die Symbolhaftigkeit und die Abge-
auch in diesen Projekten vorhanden, denn der Kristall hat
schlossenheit kompakter kristalliner Systeme regen Architekten
immer etwas Zeitloses, Abstraktes und in seinen ‹kosmischen›
an, mit solchen Formen zu experimentieren. Dabei zeichnet
Eigenschaften auch etwas Universelles an sich.
sich sowohl ein konstruktiver als auch ein formaler Ansatz ab: Heute ist das Kristalline nicht mehr, wie bei Fuller oder
Wissenschaft, Technik und kristalline Kugeln
Garstenauer, eine Matrix von Linien und Verknüpfungspunkten
Bei den zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten Kristall-
einer perfekten, in sich geschlossenen Form, sondern ein
visionen war die kosmische Dimension mit der formalen und
formverleihendes Natursymbol, welches durch das Prinzip
technischen eng verbunden. Als Reaktion auf die expressionis-
der Analogie dem Problem der Maßstabslosigkeit inmitten
tische Formensprache hatte Worringer 1922 die Wende
der Natur standzuhalten vermag. Kristalle oder kugelähnliche
von der ‹Kunstsinnlichkeit› zur wissenschaftlichen ‹Denksinn-
Formen werden, von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet,
lichkeit› angekündigt, worunter er die ‹klare Vergeistigung des
nicht als Fremdkörper in der Landschaft angesehen, sondern
Kristallinen› verstand, welche nur die Wissenschaft hervorzu-
als integrierbare Bestandteile der Natur. Durch die Imitation
bringen vermöge (und nicht etwa die Kunst, die ihn enttäuschte).
kristalliner Naturformen werden diese Konstrukte zu einem
Nach der Blütezeit des Expressionismus setzte sich das Kristal-
‹Fraktal› der Berglandschaft, zu einem von Menschenhand
line in einer technisch-wissenschaftlich motivierten Architektur
fabrizierten Mikrokosmos inmitten des übergeordneten
fort. Mit dem aufkommenden Funktionalismus wurden die
Makrokosmos. Gottfried Sempers Auffassung, dass ‹bei gewissen Bauwerken die eurythmische Abgeschlossenheit der Krystalle›
15
Richard Buckminster Fuller, Geodätische Kugeln als kosmischer
wiederzufinden ist, die als ‹vollständig für sich bestehende
Weltbegriff, 1949–1981 16
Gerhard Garstenauer, kristalline Kugeln als Skiliftstation in Sportgastein, 1972
64
Ross Lovegrove, ‹Alpine Capsule› mit Ross Lovegrove auf dem Piz La Ila, Alta Badia, 2008
Mikrokosmen, als Symbole des Alls […], sehr eindrucksvoll
einfühlende Naturauffassung der Romantik an, auf der Suche
sind›, scheint in dieser Hinsicht immer noch aktuell zu sein.
nach einer ‹kosmischen› Vereinigung mit der Natur im Kristall
Heute sind sowohl symbolische Analogien als auch Optimie-
(siehe Projekt 53). Dieses Projekt wird im letzten Kapitel prä-
rung die ausschlaggebenden Beweggründe der Architekten,
sentiert: als zeitgenössische Tendenz des Luxustourismus, wo
kristalline Formen heranzuziehen, wenn es darum geht, in
kristalline Projekte wieder auftauchen. Dies zeigt, dass sich das
noch unberührten Berggegenden zu bauen. Das Kristalline
Thema Kristall über die gesamte alpine Architekturgeschichte
als mimetisches Naturprinzip wird den traditionellen, aus dem
der letzten hundert Jahre erstreckt und trotz der unterschied-
Kulturraum stammenden Bautypologien entgegengesetzt. Auf
lichen Motivationen und Hintergründe bis hin zur Gegenwart
der Suche nach einer architektonischen Ausdrucksform inmitten
ein aktuelles Thema
des Hochgebirges finden Architekten im Kristall eine adäquate Lösung, was zum Teil mit der Notwendigkeit der klimatischen Optimierung zusammenhängt: Nachdem Kristallformen kompakt sind, können sie den hohen thermischen Anforderungen gerecht werden. Beim internen Wettbewerb des Studio Monte Rosa der ETH Zürich ging der Kristall als Siegerprojekt hervor, weil allein diese Form sowohl den klimatischen als auch den formalen Ansprüchen gerecht werden konnte, wie Andrea Deplazes erklärte: ‹Denn wie kann man bauen inmitten der maßstabslosen Gletscherlandschaft, so ganz ohne kulturellen Kontext? Eine Hütte wirkt da lächerlich!›34 (Projekt 17) Kosmische Verbundenheit Heute manifestiert sich die Doppeldeutigkeit des von Worringer geprägten Begriffs der ‹Denksinnlichkeit› in einer neuartigen Facette: einerseits im rationalistischen Prinzip der Optimierung (hinsichtlich konstruktiver und klimatisch-thermischer Aspekte), andererseits im Streben nach einer Form von ‹Sinnlichkeit›, die auf Bedürfnisse eingeht, die über rationale Notwendigkeiten hinausreichen. Dieses Streben könnte allgemein als Suche nach ‹Ästhetik› bezeichnet werden. In der Romantik gipfelte dieses sehnsuchtsvolle Streben in der ‹Selbstentäußerung›, die mit emotionaler Grenzüberschreitung einhergeht. Selbst wenn sich heute die Kunst- und Architekturauffassung grundlegend verändert hat, könnte dennoch die Frage gestellt werden, ob dieses Streben nicht weiterhin existiert und inwiefern es durch Architektur erlebbar gemacht werden kann. Als Illustration für die Berechtigung dieser Frage steht Ross Lovegroves Projekt ‹Alpine Capsule›: Der englische Designer wählte als architektonische Form eine hermetisch in sich geschlossene Blase, die als hochtechnoide Urform über dem Hochplateau des Piz La Ila schwebt. Er visierte eine essenzielle Erfahrung aus dem Kristallinneren an, mit Panoramablick auf die Dolomiten und den Sternenhimmel. Die kontemplative Erfahrung knüpft an die Andrea Deplazes mit Studio Monte Rosa ETH Zürich, 65
Monte-Rosa-Hütte, 2009
17
Wilhelm Fechner, ‹Paul Scheerbart›, 1897
10 Paul Scheerbart, Glasarchitektur, 1914 Der deutsche Dichter Paul Scheerbart (1863–1915) sah in der
So manche der Textpassagen betrafen auch die Landschaft, vor allem die Berge, und beeinflussten Bruno Tauts Bildband
Kunst den Retter der Menschheit und publizierte Das Paradies.
Alpine Architektur, den er während des Ersten Weltkriegs
Die Heimat der Kunst (1889) als Reaktion auf den 1878 erfolg-
zeichnete. Scheerbart erwähnte Glas als landschafts-gestalteri-
ten Erlass der repressiven
sches Element, das die Erdoberfläche verzieren und in ein
Sozialistengesetze unter
glitzerndes Paradies verwandeln solle. Die Vorstellung einer
Kaiser Wilhelm I. In diesem
künstlichen Beleuchtung der Berge durch Glasarchitektur
Roman schilderte Scheer-
brachte ihn ins Schwärmen – eine Vision, die Taut übernahm.
bart eine symbolisch-fantas-
‹Gebirgsbeleuchtung: Phantastisch klingt so manches, was
tische Reise auf der Suche
im Grunde ganz und gar nicht phantastisch ist. Denkt man
nach der Kunst; nach dem
bei Gebirgsbeleuchtung an die Beleuchtung des Himalaya-
Durchqueren von leuchten-
Gebirges, so ist das wohl eine scherzhafte Phantasterei, die
den Grotten endet die
von Praktikern gar nicht diskutabel genannt werden dürfte.
Reise in einem unendlichen
Anders wirkt schon die Beleuchtung der Berge in der Nähe
Dom, der mit Diamantkup-
des Luganer Sees. Da gibt es so viele Hotels, die sich gerne
peln und Purpurgewölben
in Szene setzen möchten, daß sie zur Glasarchitektur wohl
ausgestattet ist. Der Roman
Neigung hätten, wenn die Sache nicht ihre Mittel überstiege;
beeindruckte die Expressio-
die Mittel dieser Hotels sind aber nicht unbedeutend, und
nisten im Kreis der ‹Brücke›
die Beleuchtung der Gebirge durch die Beleuchtung der
wie auch Bruno Taut. Ab
Hotels, wenn diese zu Glasarchitektur werden, ist wohl nicht
1897 taucht in Scheerbarts
mehr phantastisch zu nennen. Die Zahnradbahn, die zum Rigi
Texten Glas als visionäres
hinauffährt, ist sehr leicht effektvoll (auch durch Scheinwerfer)
Element auf, denn er wähnte
zu beleuchten. Und – hat erst die Luftschifffahrt die Nacht
darin das Baumaterial der Zukunft, den idealen Träger von
erobert, so wird die ganze Schweiz bald ihre Berge auch des
Licht und Farben. Bei seinen Visionen ging es um eine fort-
Nachts durch Glasarchitektur bunt leuchtend machen. Man
schrittliche Welt, um utopische Traumwelten, die sich im
vergißt immer wieder, wie rasch sich in den letzten Jahrhun-
Baustoff Glas verkörperten.
derten so manches verändert hat. In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts kannte der alte Goethe noch nicht
Parallel zu Bruno Tauts Planung des Kölner Glashauses schrieb
die Schienenwege der Dampfeisenbahn. Es sind noch nicht
Scheerbart ab 1913 an dem Text Glasarchitektur, den er kurz
hundert Jahre seitdem vergangen – und die ganze Erde ist
vor der Fertigstellung des Pavillons im Jahre 1914 publizierte
mit Schienenwegen umspannt. So schnell kann sich auch die
und Bruno Taut widmete, der daran beteiligt war. Scheerbart
Gebirgsbeleuchtung entwickeln, die heute noch vielen immer
beleuchtete hier den Baustoff Glas zum ersten Mal auch von
wieder als Phantasterei erscheint.›35
der technischen Seite her, in konkretem Bezug auf die architektonische Anwendung, mit der sich Taut bei der Planung
Mit der Erfindung der Dampfturbine verbreitete sich zu Beginn
seines Glashauses auseinandersetzte. Der Text war eine Art
des 20. Jahrhunderts rasch die künstliche Beleuchtung. Laut
Manifest für die Glasarchitektur, um die Gesellschaft von
Scheerbart könnten kristalline Hotelbauten und beleuchtete
deren revolutionären architektonischen Eigenschaften zu
Zahnradbahnen die Alpen in eine phantastische Landschaft
überzeugen. Glas war für Scheerbart und Taut aber nicht nur
verwandeln, wodurch sie eine neue Attraktivität auf die Touris-
ein neuer Baustoff, es sollte auch moralische Reinheit in die
ten ausüben würden. Seine Visionen waren teilweise bereits
Menschenwelt bringen; sie hoben seine kosmischen Eigen-
Wirklichkeit geworden: In der Schweiz wurde damals schon
schaften hervor: ein leichtes, transparentes Bindeglied zwi-
Beleuchtung in der Fremdenverkehrswerbung eingesetzt, wie
schen der Erde und dem Universum.
es das Werbeplakat von Giessbachs beleuchteten Wasserfällen
Kristall, Kristallisation
66
Paul Scheerbart, Zeichnung (u.)
aus dem Jahre 1912 illustriert. Allerdings waren es nicht Glaspaläste, sondern pittoreske Grandhotels, die in unmittelbarer Nähe der Wasserfälle standen; die Glasarchitektur als touristische Attraktion musste erst erfunden werden. Scheerbart hielt diese für äußerst notwendig, denn das Reisen habe eine routinierte Abgedroschenheit: ‹Heute reist man aus purer Nervosität. Man will etwas Andres haben. Und obschon man weiß, daß alle Hotels und Stadtanlagen, Hochgebirgsdörfer und Badeorte eine verzweifelte Ähnlichkeit miteinander haben, reist man doch hin. Man reist, obschon man weiß, daß man wo anders nichts Besseres hat.›36 Glasarchitektur könne hingegen anziehend wirken und dem Reisen neuen Reiz verleihen: ‹In der Zukunft wird man «reisen», um sich neue Glasarchitektur anzusehen, die an allen Orten der Erde immer wieder anders aussehen wird. Der «Glasarchitektur» wegen zu reisen, hat doch jedenfalls einen Sinn; man darf doch an anderen Orten sehr wohl neue Glaseffekte «erwarten». Es ist ja auch anzunehmen, daß neun Zehntel der Tagespresse nur von neuen Glaseffekten berichten werden. Die Tagespresse «braucht» das Neue – darum wird sie dem Glase nicht feindlich gesinnt sein.›37 Scheerbart sah in der Glasarchitektur die Möglichkeit einer radikalen kulturellen Veränderung, was ihn beim Abschluss seiner Schrift dazu verleitete, utopisch-visionär das Kommen einer ‹Glaskultur› vorauszusagen: ‹Die Glaskultur: Nach dem Gesagten können wir wohl von einer «Glaskultur» sprechen. Das neue Glas-Milieu wird den Menschen vollkommen umwandeln. […] das Neue wollen wir erstreben – mit allen Kräften, die uns zu Gebote stehen – mögen diese immer größer werden! Schluß!›38
67
Kristall, Kristallisation
Paul Scheerbart, Zeichnung, Tafel 5, 1907 (o.)
Bruno Taut, ‹Alpine Architektur›, Blatt 14, Ausschnitt, 1919
11 Bruno Taut, Alpine Architektur, 1919
Bruno Taut, ‹Alpine Architektur›, Blatt 10, 1919
werden: ‹Wir wollen nicht grotesk sein, wir wollen schön
Bruno Tauts visionäre ‹Kristallarchitekturen› könnten als erster
werden durch den Menschengeist. Baut die Weltarchitektur!›
Versuch angesehen werden, eine nicht auf herkömmlichen
(Alpine Architektur 1919, Blatt 13).39 Der architektonische
Bautraditionen beruhende Formensprache für alpine Architek-
Willensakt kommt noch stärker auf Blatt 14 zum Ausdruck,
tur zu konzipieren. In ihr zeichnet sich in gewisser Weise der
wo die Berge durch Sprengungen zu einer unendlich großen, terrassenförmigen Landefläche umgestaltet werden. Zuschauertribünen werden am Rande des Luganersees angebracht, auf denen ‹Flug-, Ballon-, Licht- und Wasservorführungen› stattfinden sollen. Dank des menschlichen Schöpfers wird aus dem einfachen Berg ein Kristallberg: ‹Der Kristallberg: Der Fels ist oberhalb der Vegetationszone behauen und geglättet zu vielfachen kristallinischen Formen.› (Blatt 7) Leuchtende Dome sollten den Bergen absolute Schönheit verleihen und sie zu zeitlosen Monumenten einer in Frieden lebenden Gesellschaft machen. Das Blatt 16 ist politisch und gesellschaftskritisch angelegt, Taut appelliert hier an das Volk: ‹Völker Europas! Bildet euch die heiligen Güter – baut! Seid ein Gedanke eures Sterns, der
damals bereits 200-jährige Diskurs über das Schöne und Erha-
Erde, die sich schmücken will – durch euch!› Eine Landkarte
bene ab, denn durch Architektur solle hier etwas ‹Höheres› geschaffen werden, wobei Transzendenz mit sozialen Utopien konvergierte. Scheerbarts Glasarchitekturvisionen veranlassten Taut, während des Ersten Weltkriegs in das Kristalline eine utopische Gegenwelt zu projizieren. Er war gegen den Krieg eingestellt und beschloss, nicht an die Front zu gehen. Während der turbulenten Kriegsjahre schrieb und zeichnete er die Bücher Die Stadtkrone und Alpine Architektur, die beide nach dem Krieg, im Jahre 1919, publiziert wurden. Letzteres besteht aus einer Serie von kristallinen Projekten in den Bergen, die in vielen Aspekten auf Scheerbarts Glasarchitektur zurückgriffen. Taut versuchte dem Krieg ein utopisches, auf universellem Frieden beruhendes Weltbild entgegensetzen, wobei die kosmisch-kristalline Ästhetik den Menschen berühren sollte, um ihn auf einen übergeordneten Weltzusammenhang zu sensibilisieren. Mit kristallinen Glasstrukturen eiferte Taut den Gebilden der Natur nach, um diese letztendlich in ihrer Schönheit zu übertreffen. Die unregelmäßigen Formen der Berge sollen durch des Architekten Hand in geometrische Formen gebracht werden. Die Berge streben selbst nach Perfektionierung, die Felsen rufen flehentlich, um vom Architekten gestaltet zu
Kristall, Kristallisation
68
Bruno Taut, ‹Alpine Architektur›, Blatt 14, Ausschnitt, 1919
der Alpen ist abgebildet, die Taut als ‹Karte des Baugebiets›
Der Bildband Alpine Architektur ist in fünf Abschnitte unter-
bezeichnet, wodurch die länderübergreifende, gigantische
teilt, wobei die Maßstäblichkeit immer größer wird und
Dimension ins Bewusstsein gerufen wird. Das Volk soll sich an
schrittweise vom Mikro- zum Makrokosmos avanciert. So ist
der Verschönerung der Berge beteiligen, um ‹Höheres› anzu-
der erste Teil dem ‹Kristallhaus› gewidmet, der zweite der
streben, denn ‹Nutzen und Bequemlichkeit› führe zu ‹Lange-
‹Architektur der Berge›, der dritte dem ‹Alpenbau›, der vierte
weile›, zu ‹Zank, Streit und Krieg›: ‹Lüge, Raub, Mord, Elend,
dem ‹Erdrindenbau›, während der fünfte schließlich mit dem
millionenfach fließendes Blut. Predigt: seid friedfertig!
‹Sternbau› eine kosmische Dimension erhält. Hier schwebt
Predigt die soziale Idee: ihr alle seid Brüder, organisiert euch,
der Domstern als Kristallkugel im All (Blatt 26), während auf
ihr könnt alle gut leben, gebildet sein, und Frieden haben!›
Blatt 28 lediglich steht: ‹Die Kugeln! Die Kreise! Die Räder!›,
Die Massen sollen in eine große Aufgabe eingespannt wer-
womit Taut auf die ultimative Abstraktion und die kosmische
den, ‹die sie alle erfüllt. […] Die ungeheure Opfer an Mut,
Bewegung anspielt; Kometenbahnen, Sterne und Kristalle
Kraft und Blut und an Milliarden verlangt.› Technik solle nicht
schweben in einer explosiven Figur im All. Auf Blatt 29 zeich-
der Langeweile und dem Streit (Krieg) dienen, sondern ‹dem
nete er Galaxien: ‹Systeme von Systemen – Welten – Nebel›,
Streben des wahrhaft tätigen Menschengeistes›. Tauts Vision
bevor er auf Blatt 30 im Eckhart'schen Nichts endet:
beruhte auf der Unterordnung der Menschen unter ‹das Höhere›, das durch ein unentwegtes Arbeiten und durch das
‹Sterne
Kunstschaffen erreicht werden solle: ‹[…] es gibt nur noch
Welten
rastloses mutiges Arbeiten im Dienst der Schönheit, im
Schlaf
Unterordnen unter das Höhere.›
Tod Das große Nichts DAS NAMENLOSE ENDE›
69
Kristall, Kristallisation
Laban-Tanzschule, Tanzübungen im Ikosaeder, Filmsequenz eines anonymen Stummfilms ohne Titel, 1928
12 Rudolf von Laban, Der Tänzer im Kristall
werden könne. Kristallstrukturen dienten als Vorbild für die
Der Tänzer, Choreograf und Tanztheoretiker Rudolf von Laban
Erlernung neuartiger Bewegungsformen, die auf universellen,
(1879–1958, eigentlich Rezsö Laban de Váraljas) wurde als
archaischen Prinzipien aufbauten: ‹Wir besitzen in den zwei
Sohn eines ungarischen Offiziers in Pressburg, im habsburgi-
regelmäßigen Kristallen, Dodekaeder und Ikosaeder, Gebilde,
schen Österreich-Ungarn, geboren. Nachdem er in Paris
in denen diese Schrägenverhältnisse ganz rein zum Ausdruck
Kunst studiert hatte, gründete er in München seine erste
kommen.Das Erstaunliche aber ist, dass diese Kantenneigungen
Tanztruppe und folgte 1913 Émile Jaques-Dalcroze nach
in diesen Körpern in ganz bestimmten harmonischen Verhält-
Hellerau. Wie dieser war auch Laban bestrebt, eine körperge-
nissen zueinander stehen, und noch erstaunlicher ist wohl,
rechte Form des Tanzes zu finden. Seine experimentellen
dass unsere üblichsten Bewegungsskalen, wie sie etwa bei
Übungen generierten ein neuartiges Körperbewusstsein,
den geschicktesten Verteidigungsgriffen in den verschiedenen
welches (insbesondere ab den 1920er Jahren) auf kristallinen
Kampfarten vorkommen, genau dieselben Grundschrägen
Richtungsprinzipien basierte. Er sah den Kristall als eine univer-
aufweisen, wie bestimmte Harmoniefolgen in den genannten
selle Struktur an, deren Geometrie in erregten menschlichen
Polyedern. Es ist uns damit ein Raumgebilde gegeben, auf
Gebärden, wie in Tanz- und Kampfbewegungen, gefunden
das wir die harmonische und disharmonische Bewegungsfähigkeit des menschlichen Körpers beziehen können, und von dem aus wir auch jede künstlerische Tanzbewegung einfach verständlich beschreiben und festhalten können.›40 Mit Winkelmesser und Maßband ausgestattet, vermaß er die Positionen der Gliedmaßen seiner Tänzer, zeichnete sie auf und studierte das Gleichgewicht und den Kraftaufwand. Er entwarf ein räumliches Bewegungsmodell, basierend auf den Radien der Glieder und deren Position im Raum. Die Verknüpfung aller Raumpunkte ergab ein Dodekaeder, woraus er schloss, dass der Mensch im Zentrum eines unsichtbaren Kristalls stehe. Daraufhin baute er menschengroße Kristallstrukturen, in denen er seine Schüler tanzen ließ: ‹Das menschliche Skelett ist der Kristall der Kristalle. Das Skelett zeichnet in seinen Bewegungen die Kanten und Neigungen eines unsichtbaren Raumkristalles. Dieser ist das Medium, das Gehäuse, in das die Spannung Mensch gebaut ist.›41
Rudolf von Laban in dem von ihm entworfenen Ikosaeder
70
Rudolf von Laban vor der von ihm entwickelten Tanzschrift mit einer Kristallstruktur in der Hand
Aus der modernen Kristallografie bezog er die Bestätigung seiner strukturellen Erkenntnisse, die er auf Spannungsverhältnisse zurückführte: ‹Jede Spannung ist ein unsichtbarer Kristall. Sie baut sich nach feststehenden Formgesetzen auf.›42 Er setzte sich auch mit dem Phänomen des Bruchs
der Struktur auseinander, wie z. B. mit dem Sturz des Tänzers: ‹Der gesehene Sturz verursacht uns ein Schwindelgefühl, wie wenn wir selbst ohne Stütze durch den Raum rasen würden.›43 Der Ausbruch aus der Struktur ist die Konfrontation mit der Grenze eines Systems, das ruhende Gleichgewicht wird zum Sturz, zum haltlosen Rasen. Gleichgewicht und Ungleichgewicht, Ruhe und Geschwindigkeit, Vertikale und Diagonale, all die auf Gegensätzen beruhenden Bewegungsformen bildeten die Grundlage für Labans Ausdruckstanz. Aus den strukturellen Analysen resultierte die ‹Labannotation›, der erste Versuch, Bewegung in einer Tanzschrift festzuhalten, die er ‹Kinetographie› nannte. Er entwickelte ein System von 1.421 abstrakten Symbolen, um die Bewegungen des Tänzers im Raum aufzuzeichnen wie auch das Energieniveau und die Zeit. Labans Naturbegriff war an die Geometrie der Naturgesetze gebunden, deren Gesetzmäßigkeiten auch der Mensch unterstand.
71
Kristall, Kristallisation
Arnold Fanck, Kletterszene vor dem tödlichen Absturz, Szenenfoto aus ‹Der heilige Berg›, 1926
13 Kristallmystik im Bergfilm – Arnold Fanck, Der Heilige
des Expressionismus. Der aufwändig konstruierte Eispalast,
Berg, 1926
der 16 Meter hoch war und wegen einer Temperaturschwan-
Das Kristalline fand im deutschen Bergfilm ein neues Medium,
kung zweimal gebaut werden musste, schrieb sich mit seiner
in dem Naturverehrung, Körperkult und Kristallmystik konver-
gotisch-kristallinen Kathedralen-Form in die expressionistische
gierten. Im 1926 von Arnold Fanck (1889–1974) gedrehten
Architektursprache ein. Die Verschmelzung mit der Natur, die
Film ‹Der heilige Berg› spielte Leni Riefenstahl die Hauptrolle
sich zu Beginn des Films durch das tanzende Mädchen vor den
der Tänzerin Diotima. Sie war eine ehemalige Schülerin von
Wellen artikuliert und dann in der visionären Vereinigung im
Mary Wigmans Tanzschule und hatte bereits 1925 im Stumm-
Eispalast zum Höhepunkt kulminiert, kann als typischer Aus-
film ‹Wege zu Kraft und Schönheit› mitgespielt.
druck der Kristallmystik angesehen werden, vermischt mit dem Erhaben-Gefühl der Romantik. Dies kommt auch in der Figur des Karl zum Ausdruck, der sich wie Zarathustra in die Berge zurückzieht, um sich seiner selbst bewusst zu werden (während Vigo seinem Gefühl nachgeht). Karls erhabene Spiritualität gipfelt in der Eispalastvision, wo er im Geist mit seiner Geliebten eins wird, inmitten des bläulich-leuchtenden Kristalllichts. Die mystische Vermischung von Erhabenen-Visionen mit Kristallsehnsüchten impliziert hier Körper, Geist und Seele in gesamtheitlicher Weise. Diese Art von Verschmelzung mit der Natur im Kristallinen entsprach dem damaligen deutschen Zeitgeist. Der Film begeisterte aber über Deutschlands Grenzen hinaus das Filmpublikum der ganzen Welt: Er wurde in Frankreich, Spanien, Portugal, Dänemark, Griechenland, Amerika, Brasilien und Japan erfolgreich aufgenommen. ‹Der heilige Berg› wurde vom Filmkritiker und Regisseur Béla Balázs 1931 als ein
Zu Beginn des Films tanzt sie zum Rhythmus der wogenden
‹gewaltiges Spektakel von bedrohlichen Wolkentürmen, tiefen
Wellen des Ozeans, ihren Emotionen folgend, eins mit der
Gletscherspalten und Gegenlichtaufnahmen› beschrieben, in
Natur, bis sie beschließt, die Berge aufzusuchen. Zwei Kletterer,
denen die Figuren lediglich als ‹Schatten› erscheinen, um ‹den
die sie beim Tanzen beobachten, verlieben sich in sie, womit
Menschenblick› tief in ‹die ungeheure Welt der Ungeheuer
das Eifersuchtsdrama beginnt. Während Karl, der ältere, sich in
hineinzuwerfen.› Siegfried Kracauer, der im mystischen Gefühls-
die Berge zurückzieht, um sich seiner Gefühle klar zu werden,
schwall der Naturromantik eine Gefahr witterte, insbesondere
gewinnt Vigo Diotima für sich. Bei einer Kletterpartie im Eis
in Hinblick auf die Radikalisierung der deutschen Jugendbe-
stürzt der eifersüchtige Karl ab. Während er mit seinen Kräften
wegung und den aufkommenden Nationalsozialismus, rezen-
kämpfend am Seil hängt, kommt ein Schneesturm auf. In einer
sierte den Film in der Frankfurter Zeitung mit scharfer Kritik:
Halluzination sieht er seine Vermählung mit Diotima in einem
‹Dieser von Dr. Arnold Fanck in anderthalb Jahren geschaffene
Eispalast, vor einem mystisch dampfenden Eisblock als Traualtar,
Film ist eine gigantische Komposition aus Körperkultur-Phan-
dessen eindrucksvolle Größe das Paar weit überragt. Als er auf
tasien, Sonnentrottelei und kosmischem Geschwöge. Selbst
sie zugehen will, reißt er sich und Vigo, der ihn am Seil hält, in
der abgehärtete Routinier, den die alltäglichen Gefühlsfaseleien
die Tiefe – und somit in den Tod.
nicht mehr berühren, findet sich hier aus seinem Gleichgewicht gebracht. Es gibt vielleicht in Deutschland hie und da kleine
Der mystische Einschlag dieses Films, der in der Halluzination
Jugendgruppen, die dem, was sie in Bausch und Bogen Me-
im Eispalast gipfelt, ist bezeichnend für die Kristallsymbolik
chanisierung heißen, durch eine verrannte Naturschwelgerei,
Kristall, Kristallisation
72
Arnold Fanck, Inneres des Eispalasts, Szenenfoto aus ‹Der heilige Berg›, 1926
durch eine panikartige Flucht in das Nebelgebräu der vagen Sentimentalität zu begegnen trachten. Als Ausdruck ihrer Art, nicht zu existieren, ist der Film eine Spitzenleistung. Die Heldin könnte von Fidus erfunden sein. Das Mädchen muss immer tanzen, als Kind schon am Meer mit den Wogen, später im Hochgebirge, wo sie sich das Reine und Schöne und Gott weiß was ersehnt.›44 Doch auch Kracauer zeigte sich beeindruckt von den ‹Naturaufnahmen, um derentwillen die Verschrobenheiten sich ereignen›, und musste anerkennend feststellen: ‹Ein Skirennen in all seinen Phasen ist mit unerhörter Vehemenz gefilmt, die Bretterspuren tauchen Zauberstrichen gleich auf›. In diese gekonnten ‹Photographien›, in diese ‹Kunstdrucke auf Glanzpapier› sei nur ‹leider der Ungeist der Handlung gefahren›, wie er sarkastisch hinzufügte.
73
Kristall, Kristallisation
Leni Riefenstahl, Junta in mystischer Pose in der leuchtenden Kristallhöhle, Szenenfoto aus ‹Das blaue Licht›, 1932
14 Leni Riefenstahl, Das blaue Licht, 1932
‹Wundervolle Außenaufnahmen betonen das unlösbare Band
Im Jahre 1932 erschien der Film ‹Das blaue Licht›, in dem
zwischen einfachen Menschen und ihrer natürlichen Umge-
Leni Riefenstahl zum ersten Mal selbst Regie führte, zusammen
bung. […] Während die Bauern bloß mit dem Boden verbunden
mit Béla Balázs (die Kamera bediente Hans Schneeberger).
sind, ist Junta die wahre Inkarnation der Elementarkräfte;
Riefenstahl spielt die Haupt-
dies wird schlagend durch die Umstände ihres Todes bestätigt.
rolle des wilden, spirituellen
Sie stirbt, als nüchternes Denken die Legende des blauen
Bergmädchens Junta, das
Lichts erklärt und damit zerstört hat. Mit dem Leuchten der
einen existenziellen Bezug
Kristalle wird ihr die Seele genommen. […] dieses Mädchen
zu einer bläulich leuchtenden
[gehört] zu einem politischen Regime, das auf Intuition beruht,
Kristallhöhle hegt, zu der sie –
das Natur anbetet und Mythen kultiviert.›45 Nicht das Rationale,
wie magisch angezogen –
sondern das Irrationale siegt: ‹Was bleibt, ist die Sehnsucht
bei Vollmond barfuß hinauf-
nach ihrem Reich und Traurigkeit über eine entzauberte Welt,
klettert. Die einheimischen
in der das Wunderbare zur Ware wird.›46
Burschen hingegen scheitern kläglich beim Versuch,
Kracauer analysierte die Zusammenhänge und Übergänge
die im Mondlicht mysteriös
von den Filmen der präfaschistischen Ära und den NS-Filmen.
leuchtende Felswand zu er-
Insbesondere bei den Bergfilmen sah er sämtliche Einflüsse,
klimmen, und stürzen in die
indem eine ‹Verschmelzung von Gebirgskult und Hitlerkult›
Tiefe zu Tode. Nur Junta
stattfand.47 Der mystische Zug der Bergfilme in der Zwischen-
kennt das Geheimnis des
kriegszeit (inklusive der immer wiederkehrenden Kristallsym-
leuchtenden Monte Cristallo,
bolik) veränderte die Auslegung des Erhabenen- Begriffs, den
nur sie kann ihn erklimmen.
sich der Faschismus für seine Zwecke einverleibte. Die mysti-
Die eifersüchtige Dorfjugend
schen Bergfilme waren eine brauchbare Grundlage für die
beschimpft sie als Hexe und bewirft sie mit Steinen, sobald
Propaganda, denn die Kunst, filmisch Emotionen zu erzeugen,
sie von ihren Bergen hinunter ins Tal kommt. Der junge
konnte von den Bergen unschwer auf andere Ziele und Zwecke
Wiener Maler Vigo wird zufällig Zeuge einer solchen Szene
‹umgepolt› werden. Das Erhabenen-Gefühl verlagerte sich
und fühlt sich von Junta angezogen. Er folgt ihr in die Berge,
von der Macht der Natur auf diejenige des allmächtigen
wo sie miteinander leben. Eines Nachts, als Vollmond ist und
Führers (vgl. Kap. ‹Gefügige Körper›). Hitler war begeistert
Junta wie schlafwandelnd die Kristallhöhle erklimmt, erwacht
von Riefenstahls Bergfilm und konnte sie für die NS-Propa-
auch Vigo und folgt ihr auf leisen Füßen. Er klärt die Dorfju-
ganda gewinnen; 1934 drehte sie während des Nürnberger
gend über ihr Geheimnis auf, wodurch sich die Quelle der
Reichsparteitags den Propagandafilm ‹Triumph des Willens›
Angst schlagartig in eine des möglichen Reichtums wandelt.
(1935), bei dem die Wolkenmassen, die Hitlers Flugzeug um-
Unter Vigos Anleitung finden sie den richtigen Kletterpfad
gaben, denjenigen in den Bergfilmen glichen, wie Kracauer
und beuten die Höhle aus. Als Junta beim nächsten Voll-
es aufzeigte.48
mond hinaufklettert, fehlt das bläuliche Leuchten, sie verfehlt den Weg und stürzt in den Tod. Vigo kommt zu spät und beugt sich über ihr im Mondlicht schimmerndes Gesicht. Juntas mystische Verbindung mit den Kristallen lässt sie als höheres Naturwesen erscheinen, im Kontrast zur Dorfbevölkerung, die in ihrem alltäglichen Dasein als eifersüchtig, habgierig und bösartig dargestellt wird. Der Kristall tritt hier symbolisch als Natur und Mensch vereinendes Element auf. Siegfried Kracauer schrieb in Von Caligari zu Hitler (1947):
Kristall, Kristallisation
74
Richard Buckminster Fuller, ‹Non-Symmetrical, Tension-Integrity Structure from the Inventions: Twelve Around One portfolio›, 1981
Richard Buckminster Fuller, ‹Laminar Geodesic Dome from the Inventions: Twelve Around One portfolio›, 1981 (o.)
15 Richard Buckminster Fuller, Geodätische Kugeln als kosmischer Weltbegriff, 1949–1981 Buckminster Fuller setzte sich in den 1920er Jahren mit Optimierung auseinander und entwickelte sein berühmtes Prinzip von Dynamik, Maximierung und Spannung, das kurz darauf in der abgekürzten Form ‹DYMAXION› (Dynamic, Maximum, Tension) bekannt wurde. Er hatte bereits in den Jahren 1928 bis 1930 das ‹4D-House› entworfen, ein in der Fabrik vorfabriziertes, für die Massenproduktion bestimmtes hexagonales, energieoptimiertes Haus aus Aluminium, in dessen innere Schale jegliches Mobiliar vollintegriert war. Drei Jahre später konzipierte er ein aerodynamisches Auto in Tropfenform mit einem innovativen Treibstoffhaushalt. Im Krieg verlagerten sich seine Interessen auf den Makrokosmos, als er 1943 die ‹DYMAXION-Map› ausklügelte: eine aus Dreiecken zusammengesetzte zweidimensionale Weltkarte, die zu einer annähernden Kugelform zusammengefaltet werden konnte. Bei der Auswahl des Zuschnitts war er darauf bedacht, die Kontinuität der
konnten, die eine Art ‹Weltinnenraum› formten. Mit der kleinen,
Landflächen nicht zu unterbrechen, um den Zusammenhang
seinen eigenen Körper umhüllenden Maßstäblichkeit begin-
der verschiedenen Erdteile ins öffentliche Bewusstsein zu
nend, wurden diese Kugeln immer größer, bis sie schließlich
rufen. Diese Abwicklung der Erde wurde 20 Jahre später zur
das Maß einer konstruierbaren Dimension verließen und als
Spielfläche für sein 1961 erfundenes ‹Worldgame›, ein Be-
utopische Vision Manhattan einhüllten, wobei das Stadtviertel
wusstsein erzeugendes Spiel, das auf das ‹Spaceship Earth,
von New York in einen blasenförmigen, klimatisch geschützten
für das wir keine Gebrauchsanleitung bekamen›,49 aufmerksam
Innenraum verwandelt wurde. Auf seinen 1981 angefertigten
machen und anregen sollte, mit der Erde nachhaltig umzuge-
Zeichnungen schweben kristalline Sphären als kosmische
hen – ohne Verlierer. 1949 konstruierte er mithilfe seiner
Objekte im All, über hohe Bergspitzen hinweg, und erinnern
Studenten seine erste geodätische Kugel, mit einem Durch-
gewissermaßen an Bruno Tauts Kristallvisionen in den Alpen.
messer von 4,3 Metern, von einer Vinylplastikfolie überdeckt. Das strukturelle Prinzip zeichnete sich durch kontinuierliche Zug- und diskontinuierliche Druckelemente aus (Continuous Tension – Discontinuous Compression), ohne Knick- und Biegemomente. Sie war stabil, leicht und schnell zu errichten, woraufhin die US-amerikanische Armee Fullers Konstruktionsfirma beauftragte, sämtliche Kugeln für die Marine anzufertigen. Bald darauf gab es tausende dieser Kugeln auf der Welt. 1953 konnte er seine erste großmaßstäbliche geodätische Kugel für Ford errichten und anlässlich der 1967 stattfindenden Weltausstellung in Montreal die ‹Biosphäre›. Buckminster Fuller arbeitete wie besessen an der Dekomposition der Weltkugel in trianguläre Strukturen, die durch die Einsetzung von Stahlstabwerken in allen nur denkbaren Maßstäben zu geodätischen Kugeln zusammengesetzt werden
75
Kristall, Kristallisation
Gerhard Garstenauer, kristalline Kugel neben der domförmigen Skiliftstation in Sportgastein, 1972
16 Gerhard Garstenauer, kristalline Kugeln als Skiliftstation in
gesehen bietet sie wenig Luftwiderstand, wodurch einseitig
Sportgastein, 1972
angewehte Schneemassen vermieden werden›.50 Die verglasten
Der Salzburger Architekt Gerhard Garstenauer war aus kon-
Aluminium-Netzwerkkugeln mit sechs Meter Durchmesser
struktiven Gründen von kristallinen Formen fasziniert, weil sie
wurden als Ganze mit dem Helikopter im Hochgebirge ange-
als perfekte, in sich geschlossene Strukturen für das Zeitlose
liefert, auf Stahlstützen aufgeständert und im Fels verankert,
und Universelle stehen. Tauts Kristalldome dienten ihm als
während die zwölf Meter großen Kugeln in zwei Teilen
Inspiration, aber auch Fullers geodätische Kugeln, wie er in
angeliefert wurden. Er konzipierte die Geometrie der Sphären
einem Interview mit der Autorin erklärte. Nach einem von
mit horizontalen Hauptkreisen, um eine Unterteilung wie
Konrad Wachsmann geleiteten Sommerworkshop befasste
auch eine einfache Verankerung im Boden zu ermöglichen.
er sich eingehend mit der neuen Technologie der Stahlstabskonstruktion, die in verschiedenen Geometrien zusammen-
Dieselbe Konstruktionsweise plante Garstenauer auch für
gesetzt werden konnte.
die Seilbahnstation der Schareck-Gletscherbahn, nun als Halbkugeln. Ein universelles System sollte für unterschiedliche Nutzungen eingesetzt und zum ikonischen Markenzeichen von Gastein werden, das durch moderne Architektur junge Touristen anlocken wollte. Seine eigens entwickelten Gondeln der Stubnerkogel-Seilbahn in Bad Gastein, die sich durch superelliptische Formen in Plexiglas auszeichnen, machten in den 1970er Jahren Furore – zwischen Pop-Art und futuristischem Raumschiff. Das kristalline Prinzip faszinierte Garstenauer auch aus anderen Gründen, denn es ist organisch und wachstumsfähig, in jedem Stadium sieht es in sich geschlossen und gewissermaßen ‹fertig› aus.51 Die kristalline Struktur des Pyrits diente ihm als Vorbild beim Entwurf des neu gegründeten Orts Sportgastein. Nachdem das ex nihilo konzipierte Tourismuszentrum nicht in einer einzigen Bauphase zu errichten war und weiterwachsen können musste, schienen ihm die kristallinen Eigenschaften besonders geeignet zu sein.
Als ihm Aufträge für die Entwicklung neuer Tourismusbauten in Bad Gastein und Sportgastein anvertraut wurden, konzipierte
Weder die Schareck-Gletscherbahn noch sein Entwurf für
er geodätische Glaskugeln, die in Bad Gastein beim Felsenbad
Sportgastein kamen zur Ausführung. Garstenauer strebte eine
und beim Kongresszentrum als domartige Halbkugeln die
Synthese zwischen Mensch und Natur, Kunst und Technik an –
Dachlandschaft konstituierten, während sie in Sportgastein
und fand sie im Kristall.
emblematisch als Sphären die Stationen der Lifte markierten. Die abstrakte, referenzlose Kugelform schien ihm im unberührten Kontext der Berglandschaft adäquat zu sein, weil die Untersicht ebenso wichtig ist wie die Ansicht und Aufsicht, wie er in einem Interview erklärte: ‹[…] außerdem gewährt sie einen 360-Grad-Blick auf die umliegenden Gipfel und bietet ein verhältnismäßig großes Raumvolumen. Auch technisch
Kristall, Kristallisation
76
Andrea Deplazes und Monte Rosa Studio ETH Zürich, Monte-Rosa-Hütte, Grundriss EG (o.) und Foto (u.), 2009
17 Andrea Deplazes mit Studio Monte Rosa ETH Zürich,
förmig angeordnet und werden von einer Treppe erschlossen,
Monte-Rosa-Hütte, 2009
die sich an der Außenseite des Gebäudes kontinuierlich
Das Projekt der neuen Monte-Rosa-Hütte wurde zwischen
hochwindet. Entlang der Treppe bietet ein Panoramafenster
2003 und 2009 von Studenten der Eidgenössischen Techni-
Ausblick auf die Landschaft, während die Zimmerfenster klein
schen Hochschule Zürich (ETH) im Entwurfsseminar von
sind, um den Wärmeverlust zu minimieren. Die Außenhülle der
Andrea Deplazes entworfen und gebaut, in Zusammenarbeit
Kristallfacetten setzt sich aus Metallblechverschalungen und
mit dem Schweizer Alpen-Club SAC, der Universität Luzern
Sonnenkollektorflächen zusammen, je nach der Orientierung
und der Eidgenössischen Materialprüfanstalt. Da die ehemalige
zur Sonne. Der Kristall gründet hier seine Existenz nicht nur auf
Hütte baufällig war, musste ein Neubau geplant werden,
formal-analogen Aspekten, sondern auch auf der technischen
den heutigen energetischen Anforderungen entsprechend.
Optimierung, wodurch dem jahrhundertelangen Diskurs über
Um den speziellen Bedingungen im Hochgebirge gerecht zu
das Kristalline eine neue Dimension hinzugefügt wird.
werden, ist die Monte-Rosa-Hütte durch Sonnenkollektoren und ein Wasseraufbereitungssystem vollkommen autark. Andrea Deplazes suchte mit seinen Studenten eine neue Form nachhaltigen Bauens im alpinen Raum: ‹Interessant war die Vorstellung, eine Berghütte an einem Ort [zu errichten], die in keiner Weise verbunden sein kann mit der Zivilisation, jedenfalls nicht in dem Maße, wie wir es von der Stadt gewöhnt sind: keine Kanalisation, kein Wasseranschluss, kein Stromanschluss. Die Studenten sind auf die Frage zurückgeworfen: Was ist ein Gebäude eigentlich? Wie funktioniert das? Woher kommen die Dinge, die wir so alltäglich brauchen? Ich finde das ganz wichtig, dass man das so fundamental begreift.›52 Das Siegerprojekt des internen Studentenwettbewerbs zeichnete sich durch seine kristalline Form aus: ‹Nur diese konnte dem maßstabslosen Gletscher gegenüber Stand halten, durch ihren zeitlosen, abstrakten Charakter. Außerdem konnte die kompakte Form den klimatischen Anforderungen am besten entsprechen›, wie Andrea Deplazes erklärt.53 Die Konstruktion der auf ca. 2.800 Meter Höhe situierten Hütte erfolgte durch eine vollständige Vorfabrikation der Bauteile, die mit dem Hubschrauber angeliefert wurden. Eine Holzplattform stellt eine horizontale Fläche für den Zugang der Hütte her. Auf dem Eingangsniveau befindet sich der Speisesaal, der einheitlich aus Holz ist, von den Fachwerkträgern angefangen bis hin zur Möblierung. In die Tragstruktur wurden vom Architektenteam Gramazio Kohler mit einem computergesteuerten Programm künstliche Holzmaserungen eingraviert, die semantisch-symbolisch auf die Materialität des Baustoffs hinweisen. Um einen zentralen tragenden Kern sind die Zimmer strahlen-
77
Kristall, Kristallisation
Andrea Deplazes mit Monte Rosa Studio ETH Zürich, Monte-Rosa-Hütte bei Nacht, 2009
Über den Fels kragendes Volumen mit ansteigender Treppe
Schlafzimmer im Obergeschoss mit Holzverschalung
Treppenraum mit durchlaufendem Fensterband
78
1 Vgl. Regine Prange, ‹Das Kristalline als
1963, 104: ‹Selbst was man Zieraten (Parerga)
fünf Gedankenreigen, Verl. v. Walter Seifert,
Kunstsymbol. Bruno Taut und Paul Klee. Zur
nennt, d. i. dasjenige, was nicht in die ganze
Stuttgart 1920 [=Laban 1920], 59.
Reflexion des Abstrakten in Kunst und Kunst-
Vorstellung des Gegenstandes als Bestandstück
33 Vgl. Evelyn Dörr, ‹Der Tänzer im Kristall –
theorie der Moderne›, in: Studien zur Kunst-
innerlich, sondern nur äußerlich als Zutat gehört
Rudolf von Laban und die Gemeinschafts-
geschichte, Georg Olms Verl. Hildesheim-
und das Wohlgefallen des Geschmacks ver-
ideologie›, in: Reininghaus, Schneider (Hg.),
Zürich-New York 1991.Bd. 63, [=Prange 1991].
größert, tut dieses doch auch nur durch seine
Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert.
2 Gottfried Semper, Der Stil in den technischen
Form: wie ein Einfassen der Gemälde, oder
Experimentelles Musik- und Tanztheater, Laaber
und tektonischen Künsten oder praktische
Gewänder an Statuen, oder Säulengänge um
Verl., 2004, 46.
Ästhetik, Verl. f. Kunst u. Wissenschaft, Frank-
Prachtgebäude. Besteht aber der Zierat nicht
34 Andrea Deplazes, Die neue Monte Rosa
furt am Main 1860, Bd. 1, Die Textile Kunst,
selbst in der schönen Form, ist er, wie der
Hütte, Konferenz im CCS-Paris, 5.4.2012.
Prolegomena, XLIII [Semper 1860].
goldene Rahmen, bloß um durch seinen Reiz
35 Paul Scheerbart, Glasarchitektur, Verl. Der
3 Vergl. Gernot Böhme, Hartmut Böhme,
das Gemälde dem Beifall zu empfehlen ange-
Sturm, Berlin 1914, Kap. L, ‹Gebirgsbeleuch-
Feuer, Wasser, Erde, Luft: eine Kulturge-
bracht; so heißt er alsdann Schmuck, und tut
tung›, Gutenberg, o.p.
schichte der Elemente (1996), Beck’sche Reihe,
der echten Schönheit Abbruch.›
36 Ibid., Kap. XCIII, ‹Das heutige «Reisen»›.
C. H. Beck Verl., 2004, 143 ff.
18 Semper 1860, XXVII.
37 Ibid., Kap. XCIV, ‹Das zukünftige «Reisen»›.
4 Vgl. Prange 1991.
19 Lothar Bucher, Kulturhistorische Skizzen
38 Ibid., Kap. CXI, ‹Die Glaskultur›.
5 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philo-
aus der Industrie-Ausstellung der Völker,
39 Bruno Taut, Alpine Architektur, Folkwang-
sophie der Geschichte der Menschheit
Frankfurt 1861, 11, zit.n.: Prange 1991, 19f.
Verl., Hagen in Westf. 1919.
(1784–1791), Aufbau Verl., Berlin-Weimar, 1965,
20 Paul Scheerbart, Spruch auf dem Gesims
40 Rudolf von Laban, ‹Der Tanz als Eigenkunst›,
Bd.1, 51f.
des Kölner Glashauses, 1914. Diesen Spruch
in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine
6 Friedrich Schiller, Das philosophische
schlug er Bruno Taut in einem Brief vom
Kunstwissenschaft, 1925, Bd. 19, 363f.
Gespräch aus dem Geisterseher (1787–89), in:
8. Februar 1914 vor (Spruch Nr. 10), siehe: Leo
41 Laban 1920, 98.
Gerhard Fricke, Herbert G. Göpfert (Hg.),
Ikelar, Paul Scheerbart und Bruno Taut, Zur
42 Ibid., 31.
Sämtliche Werke, Bd. 5, 3. Aufl., Hanser,
Geschichte einer Bekanntschaft. Paul Scheer-
43 Ibid., 73.
München 1962, Bd. 5, 165.
barts Briefe von 1913–1914 an Gottfried
44 Siegfried Kracauer, ‹Der heilige Berg›,
7 Kant 1789, Kap. VI: ‹Von der Zweckmäßigkeit
Heinersdorff, Bruno Taut und Herwarth Walden,
1927, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 168, 4.3.1927,
der Naturformen als so viel besonderer
Igel Verl. Literatur und Wissenschaft, Paderborn
in: Von Caligari zu Hitler (1947 engl.), Suhrkamp
Systeme›, 217.
1996, 71, 102.
Verl., Frankfurt am Main 1984, 399f [=Kracauer
8 Kant (1790) 1963, Kap. ‹Schöne Kunst ist
21 Scheerbarts Spruch wurde im Begleittext
(1947) 1984].
Kunst des Genies›, § 46, 165.
von Bruno Tauts Führer zur Eröffnung des
45 Kracauer (1947) 1984, ‹Nationales Epos›,
9 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Glashauses (1914) abgedruckt.
272f.
Vorstellung (1819), Bd. I, Kap. 34, Projekt
22 Vgl. Prange 1991, 72ff.
46 Ibid.
Gutenberg-DE: http://gutenberg.spiegel.de/
23 Adolf Behne, ‹Bruno Taut›, in: Neue Blätter
47 Ibid., 271.
buch/die-welt-als-wille-und-vorstellung-band-
für Kunst und Dichtung, 2, 04/1919, 13ff.
48 Ibid.
i-7134/20 (zuletzt: 22.6.2018) [=Schopenhauer
24 Wilhelm Worringer, Abstraktion und Ein-
49 Richard Buckminster Fuller, Operating
(1819)].
fühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie (Diss.
Manual for Spaceship Earth (1963), Estate of R.
10 Gustav Theodor Fechner, Elemente der
1907, Erstpubl. 1908) 2007, 107: Laut Worringer
Buckminster Fuller (Hg.), Lars Müller, Zürich
Psychophysik, Breitkopf & Härtel, Leipzig 1860,
ging es beim Abstraktionsdrang primitiver
2008, 87: ‹Now there is one outstandingly im-
und: Gustav Theodor Fechner, Vorschule der
Völker um ‹das Bedürfnis, die Wiedergabe des
portant fact regarding Spaceship Earth, and
Ästhetik, Breitkopf & Härtel, Leipzig 1876.
Naturvorbildes mit den Elementen jener
that is, that no instruction book came with it.›
11 Robert Vischer, Über das optische Form-
reinsten Abstraktion, nämlich der geometrisch-
50 Gerhard Garstenauer, Interview geführt mit
gefühl, Hermann Credner Verl., Leipzig 1873,
kristallinischen Gesetzmäßigkeit, in Beziehung
Susanne Stacher, Frühling 2016.
Vgl: Paolo Amaldi, Architecture, Profondeur,
zu bringen, um ihr auf diese Weise den Ver-
51 Vgl. Gerhard Garstenauer, Interventionen,
Mouvement, 2011, 187.
ewigungsstempel aufzudrücken und sie der
Architekturzentrum Wien (Hg.), Anton Pustet
12 Theodor Lipps, Psychologie des Schönen
Zeitlichkeit und Willkür zu entreißen.›
Verl., Salzburg 2002, 116ff.
und der Kunst (1903), Verl. Leopold Voss,
25 Bruno Taut, Alpine Architektur, Folkwang-
52 Andrea Deplazes, ‹Bauen aus Leidenschaft›,
Hamburg, Leipzig 1906.
Verl., Hagen in Westf. 1919, Blatt 12.
filmisches Interview der ETH Zürich,
13 Prange 1991, 511.
26 Ernst Haeckel, Kristallseelen, Kröner Verl.,
veröffentlicht am 7.11.2010.
14 Alois Riegl, Historische Grammatik der
Leipzig 1917, 10f.
53 Ibid.
bildenden Künste (1897/98), aus dem Nachlaß
27 Ibid., 12.
von Karl M. Swoboda, Otto Pacht (Hg.), Graz-
28 Wenzel Hablik, ‹Die freitragende Kuppel›,
Köln 1966, Bd.1.
in: Frühlicht, Heft 3, 1922, 173.
15 Semper 1860, XXVIII und XXIV f.
29 Ibid.
16 Ibid., XXIX f.
30 Ibid.
17 Kant (1790) 1963, 1. Teil, 1. Abschn., 1. Buch,
31 Ibid.
Kap. ‹Erläuterung durch Beispiele›, § 14 (1790)
32 Rudolf von Laban, Die Welt des Tänzers,
Otto Morach, ‹Der Weg zur Kraft u. Gesundheit führt über Davos›, Plakat um 1926
3
Therapeutische Landschaft Je doute qu’aucune agitation violente, aucune maladie de vapeurs pût tenir contre un pareil séjour prolongé, et je suis surpris que des bains de l’air salutaire et bienfaisant des montagnes ne soient pas un des Ich bezweifle[,] dass jegliche heftige
grands remèdes de la médecine et de la morale . 1
Aufregung, jegliche Nervenkrankheit
Jean-Jacques Rousseau, Julie, ou La nouvelle Héloïse, 1761
anhalten kann bei solch einem langen Aufenthalt, und ich bin überrascht, dass die gesunden und wohltuenden Luftbäder in den Bergen nicht zu den großen Heilmitteln der Medizin und der Moral gehören.
Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts betrachtete man
eine Art Gottesersatz; durch sie hoffte er, sich von seinem
die Alpen als therapeutische Landschaft und mythologisierte
kranken Dasein zu befreien, das mit einem dekadenten Stadt-
die Berge, die Höhenluft und vor allem das Allheilmittel
leben und Entfremdung assoziiert wurde. Die im 18. Jahrhun-
Sonne. Als ‹erhaben› galt nicht mehr die unberührte Natur,
dert empfundene Ehrfurcht vor der Macht der Natur, die im
sondern die zum Mythos erhobene Sonne, die dem Men-
Erhabenen-Gefühl zum Ausdruck kam, verlagerte sich somit
schen zur Gesundheit verhelfen sollte. Auf den Plakaten der
Anfang des 20. Jahrhunderts auf die Macht der Sonne, die
1920er und 1930er Jahre trat die Hoffnung, die in die Heil-
unterschiedlichen Konzeptionen von Heilung diente.
kraft der Natur gelegt wurde, emblematisch in Erscheinung: Kontrastierende Darstellungen zeigten sonnig leuchtende Berge und schwarze, verschattete Städte. Figuren mit weit ausgebreiteten Armen wenden sich der strahlenden Sonne
‹Der neue Mensch› und die heil(s)bringende Natur
zu, die um 1900 zu einer Art Religionsersatz wurde. Es handelte sich allerdings um ein anderes Gott-Natur-Bild als das-
Den Begriff des ‹neuen Menschen› finden wir bereits bei
jenige von Shaftesbury im frühen 18. Jahrhundert, der die
Jean-Jacques Rousseau, der die unberührte, der Zivilisation
wilde Natur als göttlichen Ausdruck eines wohlgeordneten
ferne Natur als idealen Rahmen für heranwachsende Kinder
Kosmos ansah. Denn zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es
ansah. In seinem Erziehungsroman Émile, ou De l’éducation
‹der neue Mensch›, der ins Zentrum des Weltbilds rückte; er
(1762) schrieb er: ‹Émile, sei ein neuer Mensch›, vergiss
machte sich die Natur dienstbar und erhob die Sonne zum
deine Sorgen, ‹sie verschwinden im Abgrund des Nichts; was
mythischen Sinnbild der Gesundheit. Der Gottes- und Natur-
aber reell ist und wichtig für dich, das ist dein Leben, deine
begriff verlagerte sich somit von den wilden Bergen auf die
Gesundheit, deine Jugend, deine Vernunft, dein Licht, und
Sonne, deren Strahlkraft zur Heilung und Genesung des
letztlich deine Tugend, wenn du so willst, und somit auch
‹neuen Menschen› eingesetzt wurde. In der Sonne sah dieser
dein Glück›.2 Der Begriff des ‹Neuen Menschen› kam aber
81
Therapeutische Landschaft
Alfred Soder, ‹Exlibris Friedrich Berthold Sutter›, nackter Mann (Nietzsche) im Hochgebirge, 1907
der ‹erhabenen Natur› und der ‹hässlichen Stadt› zuspitzte. In diesem Zusammenhang sind John Ruskin und das englische Arts and Crafts Movement zu erwähnen, die für eine Renaissance der Handwerkskunst plädierten, als Gegenpol zur industriellen Massenproduktion. Auch die insbesondere von Deutschland und der Schweiz ausgehende Lebensreformbewegung setzte sich für das Handwerk ein, vor allem jedoch für den Körper. Auch diesen galt es von seiner zivilisatorischen Unterjochung zu befreien, um nach dem ‹Echten›, ‹Wahren› und ‹Reinen› streben zu können.4 Vom philosophischen Diskurs der damaligen Zeit geprägt, manifestierten sich diese abstrakten Begriffe unter anderem in gesunder Ernährung, Abstinenz, Bewegung und körpergerechter Reformkleidung. Die Reformbewegung und ihre Errungenschaften sind nicht zu unterschätzen, denn sie bereiteten den Weg zur Befreiung des Körpers, zu sozialen Reformen und zur emanzipierten Beziehung der Geschlechter. Sie erzeugte eine gesellschaftliche Aufbruchsstimmung, basierend auf einem radikalen und utopischen, aber auch schwärmerischen Neubeginn, bei dem die Natur und der befreite Körper im Zentrum standen. Schopenhauers ‹Wille›, Nietzsches ‹homo natura› und die ‹nackte Natur› Als geistige Grundlage für die sogenannte Lebensphilosophie der deutschen Reformbewegung können die Gedankengebäude der Philosophen Arthur Schopenhauer und Friedrich erst zu Beginn der Jahrhundertwende im gesellschaftlichen
Nietzsche angesehen werden, vor allem in Hinblick auf die
Diskurs auf, bis er schließlich in den 1920er Jahren auf breiter
Bedeutung des Körpers. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts
Basis zum Durchbruch gelangte, indem er einen vehementen
betrachtete man Geist und Seele nicht mehr als selbststän-
Bruch mit der ‹alten Gesellschaft› des als dekadent erklärten
dige Größen, sondern als vom Körper abhängige (und mit
Fin de Siècle darstellte.
diesem zusammenwirkende) Bestandteile des Menschen.
Rousseau hatte schon im 18. Jahrhundert die potenzielle
Folglich bezogen sich die ästhetischen Kategorien des Schönen
Heilkraft der Natur erkannt: ‹Ich bezweifle[,] dass jegliche
und Erhabenen nicht mehr ausschließlich auf den Geist, die
heftige Aufregung, jegliche Nervenkrankheit anhalten kann
Kunst und die Naturbetrachtung, sondern auch auf den Körper.
bei solch einem langen Aufenthalt, und ich bin überrascht,
Arthur Schopenhauer verstand, wie aus seinem philosophischen
dass die gesunden und wohltuenden Luftbäder in den Bergen
Traktat Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) hervorgeht,
nicht zu den großen Heilmitteln der Medizin und der Moral
unter ‹Wille› nicht etwa den freien Willen des Menschen, son-
gehören.›3 Allerdings war es damals noch nicht so weit; die
dern das ‹Ding an sich›,5 womit er die Lebenskraft meinte,
Alpen entdeckte man erst im Zuge der aufkommenden Indus-
das vernunftlose Wesen der Welt und der Natur, das von den
trialisierung und der damit verbundenen Krankheiten als
Trieben gesteuert sei (der Drangfähigkeit).6
‹therapeutische Landschaft›, insbesondere in der zweiten
Friedrich Nietzsche baute auf Schopenhauers Philosophie auf,
Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich die Polarisierung zwischen
verkehrte aber die Stellung und Bedeutung des Leibes um:
Therapeutische Landschaft
82
Für ihn war dieser nicht der unmittelbare Ausdruck des Willens,
lebendigen ‹Leidenschaft› beruhe, die im wirbelnden Tanz
sondern geradezu der Grund des Willens. ‹Homo natura› (ein
des Philosophen einen bildlichen Ausdruck fand.
Nietzsche-Zitat aus Jenseits von Gut und Böse, 1886) war seine Antwort auf die philosophische Diskussion: Nicht Gott
Verehrung, Verfremdung und Vermarktung Nietzsches
sei der Natur gleich (Baruch Spinozas ‹Deus sive Natura›), son-
Dieser philosophische Hintergrund war prägend für die Um-
dern der Mensch, womit er an Schopenhauers triebbestimmte
bruchszeit der Jahrhundertwende, insbesondere für die
Naturauffassung ‹natura sive sexus› (Natur gleich Trieb) an-
Lebensreformbewegung, aber auch für den Expressionismus
knüpfte, wie Wolfgang Riedel ausführlich erörtert. Doch im
und die aufkommende Moderne. Die körperbetone Naturer-
Gegensatz zu Schopenhauer sah Nietzsche die Seele schlicht-
fahrung und der moderne Tanz waren Ausdruck dieser
weg als Bestandteil des Leibes an. Im Kapitel ‹Von den Ver-
radikalen Erneuerung.
ächtern des Leibes› (in: Also sprach Zarathustra, 1883–1885)
Auch wenn Nietzsche den Körper ins Zentrum seiner Philoso-
bezeichnete er den Leib als das Selbst, das sich über den
phie rückte, so beschäftigte er sich nicht mit dem nackten
Geist (das Ich) erhebe:
Körper. Im Gegenteil, für ihn war Nacktheit vor allem aus
‹«Leib bin ich und Seele» – so redet das Kind. Und warum
ästhetischen Gründen ein Gräuel, wie in Die fröhliche Wissen-
sollte man nicht wie die Kinder reden? Aber der Erwachte,
schaft (1882/1887) nachzulesen ist: ‹Der nackte Mensch ist im
der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und Nichts
Allgemeinen ein schändlicher Anblick – ich rede von uns
ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am
Europäern (nicht einmal von den Europäerinnen!). Angenom-
Leibe. Der Leib ist eine grosse Vernunft»›
men, die froheste Tischgesellschaft sehe sich plötzlich durch
7
8
Nietzsche sah den Geist als das Werkzeug des Körpers an,
die Tücke eines Zaubers enthüllt und ausgekleidet, ich glaube,
denn der triebgesteuerte Leib bestimme den Geist: ‹Der
dass nicht nur der Frohsinn dahin und der stärkste Appetit
schaffende Leib schuf sich den Geist als eine Hand seines
entmutigt wäre, – es scheint, wir Europäer können jener
Willens.› Um der triebhaften Bestimmung des Leibes zu ent-
Maskerade nicht entbehren, die Kleidung heißt.›11
kommen, verlieh Nietzsche dem ‹Selbst› einen höheren Wil-
Unabhängig von Nietzsches prinzipieller Ablehnung der
len, der dem Menschen dazu verhelfe, über sich selbst
Nacktheit vermarkteten ihn nach seinem Tod unterschiedliche
hinwegzukommen und den Weg zum ‹Übermenschen› zu su-
Gruppierungen. Auf einem Exlibris des Radierers Alfred Soder
chen. Nietzsche warnte die ‹Verächter des Leibes›, dass sie
aus dem Jahre 1907 ist der nackte Philosoph im Hochgebirge
besser ihrem ‹Selbst› dienen sollten, anstatt ihren Leib zu
abgebildet.12 Dass dessen Gedanken von den diversen Inter-
verachten, weil dieser ansonsten sterbe.9 Er ließ Zarathustra
pretationen nicht getreu wiedergegeben wurden, schien uner-
mit dem dezidierten Ausspruch enden: ‹Ich gehe nicht euren
heblich; es ging vielmehr darum, ihn für eigene Ziele, Zwecke
Weg, ihr Verächter des Leibes! Ihr seid mir keine Brücken
und Ideologien zu vereinnahmen, ob sie nun revolutionär
zum Übermenschen!›
waren oder völkisch gesinnt.
Das ‹Leibsein› war für Nietzsche essenziell. Er sagte der euro-
Auch zeitgenössische Architekten huldigten dem verstorbenen
päischen philosophischen Tradition, die bisher das Wesentliche
Philosophen und interpretierten ihn vollkommen frei: Fritz
in der Vernunft, der Seele und dem Geist sah, den Kampf an.
Schumacher fertigte 1898 bis 1900 einen Entwurf für ein
Die ‹nackte Natur› war für ihn Ausdruck einer Urkraft, eines
‹Nietzsche-Denkmal›13 an; Henry van de Velde entwarf in den
puren, ungeschminkten Zustands, in dem die ‹große Leiden-
Jahren 1910 bis 1912 sogar einen ‹Nietzsche-Tempel› für
schaft› den Menschen bestimme, die er der ‹Maskerade der
Weimar, der alle Anhänger des Philosophen in einer zweiteiligen
Moral› entgegensetze. Aufgabe der Kultur sei es, das Furcht-
Anlage vereinigen sollte, um ihre Streitereien zu beschwichti-
bare der nackten Natur in den Griff zu bekommen, indem sie
gen: Vorgesehen waren ein Kopfbau – ein kleiner ‹Tempel des
es durch Leidenschaft in das Gute verwandle und nicht als
Geistes› für die geistige Elite – und ein nach antikem Modell
das Böse verdamme oder zu mäßigen versuche.10 Der trieb-
daran angeschlossenes längliches Stadion, riesig dimensioniert
hafte Körper weise einen Weg zur Erkenntnis, der nicht länger
für die körperliche Ertüchtigung der Massen, wie dem Ausstel-
auf der Bezwingung körperlicher Triebe, sondern auf einer
lungskatalog Die Lebensreform: Entwürfe zur Neugestaltung
83
Therapeutische Landschaft
Caspar David Friedrich, ‹Der Wanderer über dem Nebelmeer›, Ausschnitt, 1818
Lebensphilosophie, Freikörperkultur und Wandervereine Der – inzwischen aus der Mode gekommenen – Vergeistigung der aufklärerischen philosophischen Tradition nach John Locke, David Hume und Immanuel Kant folgte, gewissermaßen antithetisch, das ‹Leben›.16 Shaftesbury hatte sich bereits gegen die rein rationalistische Sichtweise seines Tutors Locke gewandt, indem er emotional nachvollziehbare Analogien einforderte und dem gefühlsbetonten Enthusiasmus einen wichtigen Platz einräumte. Der Schritt von der Aufklärung zur Romantik ist aber ein großer; nun kam zum fühlenden und vorstellenden Wesen auch das ‹wollende› hinzu, das in die Vorstellung von ‹Leben› integriert wurde. Dieser Begriff forderte die rein naturwissenschaftliche Sichtweise der Welt heraus, wie Thomas Rohkrämer treffend formulierte:17 Der Mechanisierung und dem Materialismus entgegen wandte sich das Einfache und Elementare, das Schöpferische, Lebendige und Jugendliche. Denn die unmittelbare persönliche Erfahrung mache die Realität unserer Existenz aus, sie sei nicht zu objektivieren oder zu analysieren. Dabei war ‹Leben› als überzeitlicher Begriff zu verstehen, als Ursprung aller Formen, das Symbol der schöpferischen Kraft des Werdens, das durch Selbstreproduktion vor dem Absturz in die Sinnlosigkeit bewahren solle.18 Seit sich Schopenhauer und Nietzsche dem zyklischen Denken verschrieben, das sie in ihrer Vorstellung von der ‹ewigen von Leben und Kunst um 1900 zu entnehmen ist. Demnach
Wiederkehr› veranschaulichten, verstand man das Leben als
wäre diese Aufteilung in zwei Klassen eine allzu freie Inter-
ein organisches Ganzes, als ein dynamisches Gleichgewicht
pretation von Nietzsches geistigem Erbe und keine Idee, die
von Körper und Geist, Denken und Fühlen. Auf Nietzsche ist
sich auf ihn zurückführen ließe. Nietzsche hatte sich zum
die Leidenschaft und die betonte Körperlichkeit im Streben
Thema Tatsachen und Interpretation folgendermaßen geäu-
nach einem höheren Bewusstsein zurückzuführen; dessen
ßert: Einerseits schrieb er, gebe es ‹keine Tatsachen, nur In-
symbolischer Ort sind die Berge, während der tosende
terpretationen›, also mehrere Perspektiven, andererseits
Ozean für aufwühlende Gefühle und verborgene Triebe steht.
14
forderte er philologische Kenntnis ein, um Tatsachen ablesen zu können, ohne sie durch Interpretation zu fälschen.15 Diese
Ziele der Freikörperkultur
Maxime wurde wenig beachtet.
Im Zentrum der Lebensphilosophie stand der demaskierte Körper, dessen Nacktheit Ausdruck des ‹Wahren und Schönen› war. Nacktheit sollte ein ‹reines› Verhältnis zur Körperlichkeit schaffen, fern der erotischen ‹Verschleierung›, und nicht etwa zur Triebhaftigkeit anregen. Die verschiedenen Reformbewegungen teilten zwar das Ziel eines befreiten Körpers, hatten aber unterschiedliche Absichten, je nach ideologischer und
Therapeutische Landschaft
84
Ferdinand Hodler, ‹Blick ins Unendliche›, Ausschnitt, 1903–1906
politischer Orientierung. Verbindend war das Streben nach einer ‹natürlicheren› Lebensweise, nach einer ‹freien Natur› des Menschen. Die Gegensätze der ideologischen Ausrichtungen lassen sich anhand der Freikörperkultur veranschaulichen, die im deutschen Sprachraum von mehreren Gruppierungen aus unterschiedlichen Gründen praktiziert wurde: Da die aus dem Bildungsbürgertum stammenden Lebensreformer nach einer Vereinigung des Menschen mit der Natur strebten, projizierten sie die Möglichkeit einer radikalen Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen in die Freikörperkultur. Die Nationalistisch-Völkischen sahen in ihr die Gelegenheit der ‹natürlichen Auslese› für die Konstitution einer ‹besseren› Welt (worunter sie eine ‹reinrassige› verstanden) verkörpert, den Sozialdarwinismus gemäß ihrer Ideologie auslegend (gesunde nackte Germanen würden gesunde Germaninnen anziehen). Für die Arbeiterbewegung, die sich als politischer Gegenpol zu den bürgerlichen Reformbewegungen formiert hatte, waren Nacktheit und Hygiene ein Weg zur körperlichen Gesundheit, zur Stärkung des revolutionären Körpers des Arbeiters, der sich auf den Klassenkampf vorbereitet. Die Arbeiterbewegung war bestrebt, antikapitalistisch ausgerichtete Gesellschaftsstrukturen aufzubauen (basierend auf einer Produktions- und Gütergemeinschaft), und setzte sich für Emanzipation, Bodenreform, Siedlungsprojekte und geregelte Arbeitsbedingungen ein. Dieses Ziel teilten sie mit so mancher bürgerlichen Reformbewegung, die sich ebenfalls für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse einsetzte. Die Grenzen zwischen den sozial
Ferdinand Hodlers Bild ‹Blick ins Unendliche› (1903–1906)
engagierten und den theosophischen Gruppen konnten flie-
nicht mehr die einfühlende Figur des Wanderers, den Betrach-
ßend sein, oft kam es zu Überschneidungen, wie am Monte
ter einladend, sich im Erhabenen-Gefühl angesichts der
Verità, der gemäß Harald Szeemann die ‹Summe aller Ideolo-
Unendlichkeit der Berge zu verlieren, sondern ein splitter-
gien› darstellte.
nackter Jüngling. Dieser ist nicht mehr mit dem Rücken zum
Von sämtlichen Reformgruppen praktiziert, eroberte die Frei-
Betrachter gekehrt, sondern richtet seine Augen auf ihn;
körperkultur sukzessive die ‹wilde Natur› und somit auch die
seine Hände bedecken nicht etwa schamhaft seine Nacktheit,
Alpen. Zur neuen körperlichen Freiheit gehört das Sonnen-
sondern bedeutungsvoll die Brust, wie bei einer Gebärde
bad, nacktes Schwimmen, entblößtes Ballspielen und Turnen
der Ergriffenheit oder Offenbarung. Im Gegensatz zu
auf der Wiese, im Wald und in den Bergen.
Friedrichs zentral positioniertem Wanderer steht er in der linken Bildhälfte. Dadurch ist einerseits der Blick auf das
Der nackte Wanderer über dem Nebelmeer
Nebelmeer im Hintergrund freigegeben, andererseits ent-
Die radikal andere Beziehung von Menschen und Natur wirkte
steht eine destabilisierende Asymmetrie, die ein Schwanken,
sich auch auf die Betrachtungsweise der Berge aus, wie der
ein mögliches Kippen evoziert, das die Fragilität des nackten
Vergleich zweier Bilder zeigt: 85 Jahre nach Caspar David
Körpers unterstreicht: Dieser scheint in seiner starren Pose
Friedrichs ‹Wanderer über dem Nebelmeer› stand auf
auf der Felsenspitze in den Wolken zu schweben, zwischen
19
85
Therapeutische Landschaft
‹Sonnenanbeter› auf dem Monte Verità
hier und anderswo. Die
Die Jugendlichen waren zwischen Sonnenanbetung und
Konfrontation mit dem Erha-
Elementarerfahrung in der Natur vor allem auf der Suche nach
benen kommt auch in
dem Selbst – allerdings innerhalb einer Gruppe, deren unter-
Nietzsches Vierzeiler ‹Der
schiedliche politischen und religiösen Strömungen auf ihre
Wandrer› zum Ausdruck, der
Denkweise stark einwirkten.
darin in seiner Einsamkeit
Die Jugendkultur war insgesamt von einer radikalen Neue-
und Verlorenheit mit der un-
rungsidee getragen: Bei den links ausgerichteten Gruppen
endlichen Stille konfrontiert
kamen zum allgemein geteilten Ziel einer natürlichen Lebens-
ist, die sich in der Nacktheit
weise, der Alkohol- und Rauschmittelabstinenz, der Ernährungs-
des Jünglings auf Hodlers
und Kleiderreform sowie der Freikörperkultur auch die Emanzi-
Bild kristallisiert.
pation und sexuelle Befreiung hinzu, wie auch demokratische Selbstorganisation und alternativer Landbau. Bei den völkisch
‹«Kein Pfad mehr! Abgrund
gesinnten Jugendlichen standen Rassenhygiene und Deutsch-
rings und Totenstille!» –
tum im Vordergrund. In zahlreichen Gruppen brachten früh
So wolltest du’s! Vom Pfade
sektiererische, hierarchische Strukturen die romantische Natur-
wich dein Wille! Nun,
sehnsucht unter ihre Kontrolle, wie es die Geschichte des
Wandrer, gilt’s! Nun blicke
Wandervogels aufzeigt: Von einer kleinen Schülergruppe in
kalt und klar! Verloren bist
Steglitz (heute Berlin) gegründet, orientierte sich die schnell
du, glaubst du – an
anwachsende Jugendbewegung unter dem Einfluss ehemaliger
Gefahr.›
Militärs ab 1911 völkisch-national. Der österreichische Wander-
20
vogel, von Anfang an deutschorientiert und antislawisch, nahm Ideologie und Radikalisierung der Wanderjugendbewegung
im Juli 1913 den auf Georg von Schönerer zurückgehenden
Der nackte Jüngling, der den Wanderer im Gehrock ablöste,
‹Arierparagraphen› auf, der jüdischen Jugendlichen den Zutritt
zeigt einen Umbruch auf, der sich insbesondere in der gegen
verweigerte.
Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Jugendkultur artikulierte, die vom Bild des ‹neuen Menschen› in der Natur
Alpine Wandervereine und die Politik der Ausgrenzung
geprägt war. Die Jugend, eine neuerdings wahrgenommene
Auch in den alpinen Vereinen, die in der zweiten Hälfte des
eigenständige Gruppe von Menschen eines bestimmten Alters
19. Jahrhunderts in etlichen Ländern entstanden, zeichneten
und einer bestimmten Situation, entwickelte eine bedeutende
sich spürbar Nationalismus und Antisemitismus ab, die Anfang
Bewegung. Sie war zum Inbegriff der Revolution altherge-
des 20. Jahrhunderts mit einer immer stärker werdenden
brachter, ‹verstaubter› Gesellschaftsformen geworden.21
Politisierung und Radikalisierung einhergingen. Inmitten der
Junge Menschen organisierten sich erstmals neben Schule,
Berge, die Rousseau im 18. Jahrhundert noch als ideale Welt
Ausbildung oder Arbeit in Gruppen. Sie wollten gemeinsam
für heranreifende Menschen einer aufgeklärten Welt gepriesen
hinaus aus dem Alltag, der Stadt und die Natur erobern,
hatte, wurde auf einmal darüber diskutiert, wem die Berge
insbesondere die Alpen, die im Laufe der Jahrhunderte zum
gehören – und wem nicht. Dabei wurden Einschluss und Aus-
Sinnbild für Freiheit und Grenzerfahrung geworden waren.
schluss zu bestimmenden Prinzipien alpiner Vereine.
Romantische Begriffe wie ‹Mut› und ‹Tugend› trieben die
Begonnen hatte die ‹Inbesitznahme› der Berge damit, dass
Jugendlichen auf der Suche nach starken Erlebnissen an.
Nationen um die Erstbesteigung der höchsten Gipfel der
Das viel propagierte Erhabene (in den Panoramen und
Alpen wetteiferten und sich junge alpine Vereine die touristi-
Dioramen, der Malerei, auf Buchillustrationen, in der Literatur
sche Erschließung der Berge zum Ziel setzten. 1857 riefen
und ab den 1920er Jahren auch in Bergfilmen) bot eine starke,
britische Alpinisten den ersten Verband für Bergsteiger ins
erschütternde Erfahrung, zu der sich die verklärte Vorstellung
Leben, den Alpine Club (der Ladies’ Alpine Club entstand
einer möglichen Verschmelzung mit der Natur gesellte.
1907). 1862 kam es zur Gründung des Österreichischen
Therapeutische Landschaft
86
Alpenvereins, des Schweizer Alpen-Clubs ein Jahr darauf,
Deutschen Alpenvereins. Nicht nur die gesunde Entwicklung
auf Initiative des Berner Universitätsdozenten Rudolf Simler,
in der Natur war dabei wichtig, sondern auch die politisch-
der darauf hingewiesen hatte, dass die Eroberung der Alpen
ideologische Erziehung (wie im Kapitel Kampf um das Kind
nicht allein den Ausländern überlassen werden dürfe und
näher erläutert).
eine schweizerische Bergsteigervereinigung ‹ohne Zweifel
Die Geschichte der Wandervereine, Jugendbewegungen und
Besseres, für das Vaterland unmittelbar Fruchtbareres leisten›
so mancher Reformgruppen zeigt auf, wie sich ein ‹Streben
könne (der Schweizerische Frauen-Alpen-Club entstand
nach der Natur› in einen ‹Kampf um die Natur› verwandelte.
1918). In Deutschland formierte sich im Jahre 1869 der
Romantische Bestrebungen verwirrten sich mit nationalisti-
Bildungsbürgerliche Bergsteigerverein (später Deutscher
schen und rassistischen, die bis zur Ausgrenzung führten –
Alpenverein), der vier Jahre danach mit dem Österreichischen
und dies bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozia-
Alpenverein fusionierte. 1874 bildete sich der Club Alpin
listen. In den Bergen herrschte – möglicherweise aufgrund
Français, um nun ebenfalls an der touristischen Eroberung
ihrer isolierten Lage, fernab jeglicher Instanzen – eine Art von
der Alpen teilzunehmen.
eigener Gesetzmäßigkeit. Dies betraf nicht nur die Hüttenpo-
Infolge der zunehmenden Politisierung und als Gegenpol
litik (manche Vereinshütten verweigerten Nichtmitgliedern
zum bürgerlichen Alpenverein rief die Arbeiterbewegung
aufgrund ihrer religiösen oder politischen Zugehörigkeit den
1895 einen eigenen Wanderverein ins Leben, die Naturfreunde.
Zugang), sondern auch die Aufnahmebestimmungen der
In ihrer Satzung bekannten sie sich zum demokratischen So-
Alpenvereine, die je nach Sektion frei darüber bestimmen
zialismus und dem Ziel, dass die Berge ‹allen›, das heißt auch
konnten, wer als Mitglied aufgenommen werden durfte – und
den arbeitenden Massen, gehören sollten. Die diversen
wer nicht.
Klubs entfachten einen wahren Wettkampf um die Inbesitz-
Die ‹therapeutische Landschaft› der Alpen, in der die deutsche
nahme der Alpen: Wer baut wo für wen eine Hütte?
Romantik eindeutig ihre Spuren hinterlassen hat, zwischen
Um die Jahrhundertwende behaupteten sich im Deutschen
Transzendenzsuche und nationalistischen Ambitionen, zeigt
und Österreichischen Alpenverein (1873–1938) der Antisemi-
somit eine Schattenseite der Geschichte, wobei sich die
tismus und – früher als im Wandervogel – gesetzliche Aus-
Gefahr, die in der Verschmelzung beider Bestrebungen liegt,
grenzungsbestimmungen: Zur Sektion Mark Brandenburg
klar abzeichnet.
hatten seit ihrer Gründung 1899 ausschließlich ‹christlich getaufte, deutsche Staatsbürger› Zutritt; die 1905 gegründete Sektion Wien akzeptierte von Beginn an nur ‹arische› Mitglieder, 1907 nahm sie den sogenannten Arierparagraphen
Monte Verità, eine widersprüchliche Gegenwelt
auf (sechs Jahre vor dem Österreichischen Wandervogel). Als Eduard Pichl und weitere völkisch gesinnte Mitglieder 1921
Der Monte Verità wird als radikalstes Beispiel der Lebensreform
die Mehrheit im Vorstand der Sektion Austria erlangten,
im alpinen Raum präsentiert und in seiner Widersprüchlichkeit
gründeten aus der Vereinigung verdrängte jüdische und
und Pluralität dargestellt. Ebendiese gibt uns Aufschluss über
liberale Mitglieder die Sektion Donauland, 1924 wurde auch
die heterogene Zusammensetzung der Reformbewegung, die
die Sektion aus dem Alpenverein ausgeschlossen, woraufhin
zwischen sozialpolitischen Ambitionen und mystisch-religiö-
sie sich als Alpenverein Donauland selbstständig machte.
ser Naturverehrung oszillierte. Gegen Ende des 19. Jahrhun-
Die zunehmende Politisierung und das Bewusstsein, dass
derts hatte sich eine neue Naturauffassung durchgesetzt,
Ideologie am besten durch die Erziehung der Jugend zu
die sich einerseits durch die synthetische Verschmelzung des
verbreiten ist, führten dazu, dass die Wandervereine in der
Menschen mit der Natur, andererseits durch ein kosmisches
Zwischenkriegszeit eigene Jugendorganisationen gründeten:
Streben nach dem ‹Reinen› auszeichnete, das im Kristallinen
1925 entstand die Naturfreundejugend als Gegenbewegung
einen Ausdruck fand.
zum damals weit verbreiteten bürgerlichen Wandervogel und
Beide Ansätze waren in der Reformkolonie Monte Verità an-
der Alpenverein gründete zwei Jahre später die Jugend des
zutreffen, die sich im Jahre 1900 auf einem kleinen Weinberg
87
Therapeutische Landschaft
Johann Adam Maisenbach, Rudolf von Laban (rechts) und seine Tänzer, Choreografie am Ufer des Lago Maggiore, Ascona, Monte Verità, 1914
bei Ascona im Tessin ansiedelte (Projekt 18). Diese Kolonie –
‹Der Monte Verità ist keine Naturheilanstalt im gewöhnlichen
die aufgrund ihres konsequenten Vegetarismus und Naturis-
Sinne, sondern vielmehr eine Schule für höheres Leben, eine
mus großes Aufsehen erregte und neugierige Besucher aus
Stätte für Entwicklung und Sammlung erweiterter Erkennt-
allerlei Ländern anzog – dient hier als Beispiel eines radikalen
nisse und erweiterten Bewusstseins […], befruchtet vom
gesundheitlichen und gesellschaftlichen Neubeginns inmitten
Sonnenstrahl des Allwillens, der sich in uns offenbart.›22
der Berge. Im Streben nach einem gesünderen und unver-
Angesichts dieser abgehobenen, kosmisch angehauchten
fälschten Leben waren ihre Begründer auf permanenter Wahr-
Ideale war der reale Tagesablauf nüchtern: Lebensmittel
heitssuche, um, wie Ida Hofmann in ihren Memoiren schrieb,
waren durch Eigenanbau herzustellen, vegetarische Kost war
zu einer ‹höheren Kultur› zu finden.
Pflicht. Es gab meist Suppen und selbst angebautes Obst
Die Gründungsmitglieder verwandelten die ‹vegetabilische
und Gemüse. Die bisher nicht mit körperlicher Arbeit kon-
Cooperative›, wie sie zuerst hieß, aus finanziellen Gründen
frontierten Mitglieder mussten sich nicht nur auf die radikale
alsbald in eine ‹Naturheilanstalt› beziehungsweise ein
vegetabile Kost umstellen:
‹Sanatorium›, wie man es im Werbeprospekt von 1902 nannte,
‹Morgens zwischen 6–7 zogen wir zur Arbeit aus und kehrten
worin es verheißungsvoll hieß: ‹Von Wahrheitssuchenden
des Abends zwischen 5–7 todmüde heim. Männer wie Frauen
gegründet, Wahrheitssuchenden gewidmet.› Die Naturheilan-
arbeiteten da mit Stichel und Spaten, sie schleppten Balken,
stalt sollte der vorübergehenden Erholung dienen oder durch
sägten und hobelten. Man wird erst allmählich gewahr, dass
einen dauerhaften Aufenthalt zu einer nachhaltigen Genesung
der hauptsächlich an geistige Arbeit Gewöhnte, seine Kraft
führen. Zu den wesentlichsten ‹Purifikationsritualen› zählte
ebenso schwer in körperliche Leistung umsetzen kann, als es
eine strikte vegetarische Ernährung ebenso wie Licht-, Luft-
umgekehrt der Fall ist.›23
und Sonnenbäder (nach Arnold Riklis Modell in Veldes, mit
Die Reformkolonie Monte Verità ist auch deshalb interessant,
dem Henri Oedenkoven und Ida Hofmann durch Kuraufent-
weil unterschiedliche ideologische Strömungen aufeinander-
halte wohl vertraut waren), Musik, Diskussionen und Vorträge
trafen, zwischen Theosophie und Anarchismus, teilweise auch
regten die Entwicklung des Geistes an. Theorie und
Kommunismus. Aus heutiger Sicht widersprüchliche Tendenzen
Lebensexperiment trafen hier aufeinander, denn es wurde
wie etwa die unvereinbar erscheinenden Gegenpole Natur
nicht nur viel diskutiert, sondern auch am eigenen Körper
und Technik konnten im damaligen Kontext durchaus konver-
ausprobiert.
gieren, wie Gernot Böhme24 betonte: Die beiden Gründer,
Im Nachwort von Ida Hofmanns Autobiografie sind ihre
Oedenkoven und Hofmann, stellten trotz ihrer radikalen
gesamtheitlichen Ziele zu vernehmen, mit Anspruch auf ein
Naturverbundenheit die Technik in den Dienst des Menschen
‹höheres Leben›, wobei ein prophetisch-mystischer Zug
und zählten zu den ersten in Ascona, die elektrisches Licht und
durchschimmert:
Fließwasser installieren ließen. Ihre Gesinnung war nicht nur von einem theosophisch-urchristlichen Ansatz geprägt, sondern auch von einem sozialpolitischen, der sich in einer genossenschaftlich strukturierten Siedlungsform äußerte. Über jegliche Religion und nationale Zugehörigkeit stellte Ida Hofmann das ‹Menschsein›: ‹Das Kind kommender Geschlechter wird nicht mehr als Christ, Mohammedaner, Buddhist, Jude, als Russe, Franzose, Pole oder Deutscher erzogen werden. Seine erste Bestimmung und Aufgabe ist «Mensch» im vollen Sinne des Wortes zu sein, dann ist er von selbst dem würdigsten unter den Anhängern irgend einer Religion gleich.›25 ‹Menschsein› hieß für sie, eine eigene Lebensphilosophie in individueller Auseinandersetzung mit der Natur zu entwickeln. Der gemeinsame Nenner sollten
18
Reformkolonie Monte Verità, Lufthütten und Flachdach, 1900–1924
88
Teehaus Monte Verità (u.)
Haupthaus Monte Verità (o.)
die Kleider- und Nahrungsreform sein, doch das umzusetzen war angesichts der Unterschiedlichkeit der diversen Lebensphilosophien der Mitglieder kein leichtes Unterfangen. Obwohl Ida Hofmann vermutlich nicht völkisch orientiert war, erwähnte sie die ‹Zuchtwahl› als Ziel des modernen Menschen, indem sie sich auf den Prozess einer ‹natürlichen Anpassung› (nicht Auslese) bezog, auf Darwin zurückgreifend: ‹Nie kann der Mensch wieder Urmensch werden, der er war – sämtliche Stufen der Entwicklung trennen ihn unwiderruflich von jener ersten Stufe seines Daseins. Nicht «Naturmensch»[,] sondern «Kulturmensch» im Sinne der Zuchtwahl und aller durch Erkennen der Naturgesetze gebotenen Verfeinerungen ist der ideal strebende Mensch von heute.›26 Ihr schwebte die Anpassung im Sinne von ‹Verfeinerung› des Menschen durch die Natur vor, ein ‹höheres Dasein› durch Kultur. Der Begriff einer ‹höheren Rasse› war nicht etwa wie bei den Völkischen mit der Erbsubstanz verbunden, sondern mit verschiedenen Bewusstseinsstufen der Gesellschaft, wobei sie sich auf Ibsens Drama Kaiser und Galiläer bezog, das 1888 ins Deutsche übersetzt worden war. Ibsen unterschied zwischen dem Reich der Antike, welches der Vergangenheit angehöre, und dem Reich des Christentums, welchem wir entwüchsen, um dem ‹dritten Reich› der Wahrheit und Erkenntnis entgegenzugehen. Er verstand unter diesem Begriff die Synthese von Heidentum und Christentum. Ida Hofmann begeisterte sich für dieses Drama, weil darin das Streben nach Frieden thematisiert wurde, wobei der individuellen persönlichen Entwicklung und vegetarischen Ernährung eine wichtige Rolle zukam: ‹Das Gesetz der fortdauernden Entwicklung kennt keine Aus-
auf dem Monte Verità 1913 eine ‹Schule für Kunst› gründete
nahme: es gibt daher Menschen und Rassen auf niedrigster,
(eine Art Sommertanzschule, die er bis 1918 führte), propa-
niedriger, höherer und höchster Entwicklungsstufe. Der niedri-
gierte die freie, von Emotionen getragene tänzerische Bewe-
gen entspricht die Tötung des Tieres zum Zweck des Fleisch-
gungsform, losgelöst von herkömmlichen gesellschaftlichen
genusses, tierische Leidenschaften, sozial absolute Regie-
Konventionen (Tanzporträt 19); dennoch zeichnete er die Winkel
rungssysteme, Eroberungspolitik und Kriege; der höheren
der Gliedmaßen und deren Bewegungsradien auf, um den
und höchst entwickelten im Sinne des «dritten Reiches» von
Tänzer in einen Kristall einzuschreiben, der als strukturelles
Ibsen in Kaiser und Galiläer entspricht fleisch- und blutlose
Vorbild für die Bewegungsrichtungen diente. (Der wissenschaft-
Nahrung, das Bedürfnis erhöhten sittlichen Lebens, das Streben
lichrationale Ansatz des Abmessens und Verzeichnens koexis-
nach freierer Verwaltung innerhalb des Staatensystems, fried-
tierte mit der freien, emotionsbeladenen Bewegungsform und
licher Ausgleich zwischen Individuen und Völkern, allmähliche
den ekstatischen Sonnentänzen.) Er strebte nach einer natürli-
Auflösung der Heeresorganisation, Entwicklung der Persön-
cheren Ausdrucksform in der Tanz-bewegung, die er sowohl im
lichkeit und Individualität.›27
Kristallinen als auch in der Osmose zwischen Mensch und
(Daraus geht hervor, dass der Sozialdarwinismus auch außerhalb
Natur suchte und die sich in kultischen Tänzen und Ritualen
der völkischen Kreise als Referenz galt.) Rudolf von Laban, der
artikulierte. Tanz sah Laban als einen ‹leiblich-seelisch-geistigen› Rudolf von Laban, Sonnentanz auf dem Monte Verità, 1917
89
19
Martin Peikert, ‹Vorbeugen – Heilen – Verjüngen – durch Schweizer Heilbäder›, Plakat 1948
Sonne im Dienst der Gesundheit Das Gesundheitsfördernde der Sonne erkannte man in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 70 Jahre nach Rousseau. Der aus Österreichisch-Schlesien stammende Landwirt und autodidaktische Naturheiler Vincenz Prießnitz (1799–1851) begann 1830, mit Wasserkuren und Luftbädern im Freien zu experimentieren. Der Schweizer Färbereibesitzer und Naturheiler Arnold Rikli (1823–1906) gründete 1854 in Veldes in der damaligen Oberkrain (heute Slowenien) seine erste Heilanstalt, basierend auf Licht, Luft und Sonnenbädern.
20
Ausdruck, mit Betonung auf der harmonischen Vermischung:
In seinem selbstverlegten Buch Es werde Licht und Es wird
‹Tänzer ist mir jener neue Mensch, der seine Bewußtheit nicht
Licht! stellte er fest, dass ‹dieser paradiesähnliche Zustand
einseitig aus den Brutalitäten des Denkens, des Gefühls oder
[eines Lichtluftbades] bei allen Teilnehmern eine auffallende
des Wollens schöpft. Es ist jener Mensch, der klaren Verstand,
Heiterstimmung, Belebung, ein höheres Selbstbewusstsein›29
tiefes Empfinden und starkes Wollen zu einem harmonisch
erwecke. Er eröffnete weitere Anstalten in Laibach, Triest und
ausgeglichenen und in den Wechselbeziehungen seiner Teile
Gries bei (heute in) Bozen, um schwerere Krankheiten zu be-
dennoch beweglichen Ganzen bewußt zu verweben trach-
handeln, mit mehr oder weniger Erfolg. Von Prießnitz, Sebastian
tet.›28
Kneipp und Rikli beeinflusst, war der gelernte deutsche
Nietzsches Worte klingen hier durch, der im Tanz die Mög-
Buchhändler Adolf Just (1859–1936) davon überzeugt, dass
lichkeit einer Vereinigung des Menschen mit der Natur sah,
längere Aufenthalte in der freien Natur zur Gesundung führen,
die in der Figur des tanzend-taumelnden Philosophen zum
und errichtete ‹Licht-Luft-Hütten› im Wald. In seiner 1896
Ausdruck kommt. Sein ekstatisch-dionysisches Prinzip wurde
erschienenen Schrift Kehrt zur Natur zurück! hieß es:
im Ausdruckstanz aufgegriffen und konkret umgesetzt.
‹Licht und Luft sind besonders für den Menschen, welcher
Die Unterschiedlichkeit der ideologischen Ausrichtung der
das höchste Lichtluftgeschöpf ist, die wahren Lebenselemente,
Gemeinschaft und das unentwegte Suchen kommt auch in
in denen sich der Mensch nach Absicht der Natur stets Tag
der Heterogenität der Architekturen zum Ausdruck, zwischen
und Nacht, Winter und Sommer nackend bewegen soll.›30
einfachen Lufthütten aus Holz (aber mit Heizung und Wasser-
Die Sonnenbäder der Naturheiler waren erst dann gesell-
anschluss ausgestattet), einem tempelartigen Zentralhaus in
schaftlich anerkannt, als die Schulmedizin von deren Heilwirkung
einem eigenartigen Jugendstil und der mysteriösen Casa
überzeugt war. Der deutsche Arzt Alexander Spengler, der
Anatta, deren Flachdach dem Sonnenbad diente. All diese
1853 nach Davos kam, beobachtete, dass sich die Symptome
Bauten reflektieren die Suche nach einer adäquaten architek-
der Tuberkulose bei Menschen, die dorthin zurückkehrten,
tonischen Form für eine neue Lebensweise inmitten der Natur.
besserten, was ihn dazu veranlasste, ab 1868 die Höhenkur
Nach dem Untergang der Kolonie kaufte Eduard Freiherr
in Davos zu propagieren, bald mit großem Erfolg.31
von der Heydt den Monte Verità und ließ nach Plänen des
1882 erkannte der Mediziner Robert Koch, dass sich Infektions-
deutschen Architekten Emil Fahrenkamp ein neues Hotel im
krankheiten über Bakterien verbreiten. 1905 erhielt der
Stil der Moderne errichten, unmittelbar neben dem ehemaligen
Begründer der Bakteriologie ‹für seine Untersuchungen und
Haupthaus. Von diesem blieb nur der Steinsockel übrig, mit
Entdeckungen auf dem Gebiet der Tuberkulose› den Nobel-
seiner zweiflügeligen Treppe. Ein neues mondänes Leben in-
preis. Koch perfektionierte die Mikroskopie, die Krankheits-
stallierte sich: schick gekleidet, im Badeanzug oder auch
erreger nun sichtbar machte und somit bedeutende
nackt zeigte die neue Gesellschaft, dass die Freiheit, für die
Veränderungen auf vielen Ebenen mit sich brachte. Dazu kam
ihre Vorgänger noch kämpfen mussten, in den 1920er Jahren
die Entdeckung der Röntgenstrahlen im Jahre 1895. Die
bereits errungen war (Projekt 20).
neuen medizinischen Erkenntnisse hatten große Auswirkung
Emil Fahrenkamp, Hotel Monte Verità, Untergang und Neubeginn, 1927–1928
90
Martin Peikert, ‹Sanrocco – Maison de cure et de repos – Das moderne Kurhaus – Lugano›, Plakat, 1948
auf den Umgang des Menschen mit dem eigenen Körper. Intensive Gesundheitskampagnen brachten die Notwendig-
Die Architektur der Gesundheit
keit von Hygiene und klarem, dunstfreiem Sonnenlicht für die Genesung kranker Körper zu Bewusstsein. 1889 eröffnete
Die Reformgruppen und die
der praktische Arzt Karl Turban das erste geschlossene Hoch-
Schulmedizin entwickelten
gebirgssanatorium in Davos und setzte erfolgreich auf die hei-
unterschiedliche Methoden
lende Wirkung von Sonne und Höhenklima in Kombination
der Heilung: Während ers-
mit einer Liegekur. Weitere Gründungen von Fachkliniken
tere, einen ganzheitlichen
folgten, etwa der Sonnenschein-Klinik in Leysin durch Auguste
Ansatz verfolgend, die
Rollier, Arzt und Entwickler der Heliotherapie, der sich der
Sonne als zyklisches Ele-
Behandlung von Patienten mit Knochentuberkulose widmete.32
ment verehrten, setzte zwei-
Die Wirkung der Sonne auf die körpereigene Produktion des
tere sie als Strahlendosis
zur selben Zeit entdeckten Vitamin D erkannte man 1919,
ein. Um der Sonne und der
auf der Suche nach einer erfolgreichen Therapie für Rachitis.
Höhenluft ausgesetzt zu
Diese Erkenntnis verhalf der Freikörperkultur – die bis zu diesem
sein, lagen Patienten stun-
Zeitpunkt nur wenige, oftmals als verschroben angesehene
denlang, bei jedem Wetter
Reformgruppierungen wie auch diverse Jugendorganisationen
und zu jeder Jahreszeit auf
praktizierten – zu gesellschaftlicher Anerkennung (insbeson-
Kurbalkonen, die zu diesem
dere in Deutschland und in Österreich), da nun ein braun-
Zwecke eingerichtet wur-
gebrannter und sportlicher Körper für Gesundheit stand.
den. Den jeweiligen Vorstel-
Die bis dahin allgemein verpönte Entblößung des Körpers
lungen der Ärzte und
konnte moralisch erst dann angenommen werden, als sie
Gründer der Heilanstalten
schulmedizinisch gesehen dem Zweck der Gesundung
entsprechend, entwickelten sich neue architektonische
diente. Die Grandhotels in den Bergen bauten Anfang der
Typologien für die Alpen, die mit der Zeit verbessert wurden.
1930er Jahre für ihr neues Publikum Schwimmbäder im
Die typologische Organisation der Gesundheitsbauten
Freien, ‹Alpenstrandbäder› genannt, deren Nutzung dank
definierte nicht nur die Form, sondern auch die Ästhetik der
der Installation von ‹künstlichen Sonnen› selbst an bewölkten
Architektur: Analog zur Entkleidung des Körpers wurden auch
Tagen zum erwünschten Ergebnis führen sollten (Projekt 22).
die Gebäude von ‹verstaubten› Bekleidungen und verzierenden
Die Sonnenverehrung fand in der berühmten androgynen
Attributen befreit. Klare, pure Formen, die als fortschrittliches
Figur des nackten, mit ausgestreckten Armen zur Sonne
Symbol für Hygiene standen, sollten das Ornament, bisher
gewandten Jünglings einen bildlichen Ausdruck. Das Motiv
wesentliches Element der Architektur, ersetzen. Mit den zur
des ‹Lichtgebets›, das der Maler Fidus in verschiedenen
Sonne hin geöffneten und durch Kurgalerien erweiterten
Varianten gestaltete, verbreitete sich ab 1890 durch millionen-
Fassaden entstand eine neue Typologie, die in ihrer puristi-
fache Reproduktion in Deutschland und Österreich, es
schen Nacktheit zum Inbegriff der Moderne wurde. Beispiel-
erschien in zahlreichen Büchern und Zeitschriften, auf Post-
haft dafür sind Rudolf Gaberels Umbauten von Heilstätten in
karten und Plakaten, insbesondere auch auf den Prospekten
den Schweizer Bergen (Projekt 23). Der utopische Charakter
der Jugendbewegung. Die Naturheilmethoden und Praktiken
der Sanatorium-Architektur manifestierte sich etwa in Juraj
der Reformbewegung hatten zudem ästhetische
Neidhardts nicht realisierten Projekten für Davos (Projekt 21)
Auswirkungen auf die Schulmedizin und ihre Einrichtungen.
wie auch in der futuristischen Sanatorium-Stadt Sondalo, die
Interessant ist, dass auch Schweizer Sanatorien und Thermal-
in Mussolinis Italien errichtet wurde und sich durch eine
bäder das Bildsujet der sonnenanbetenden Figuren für Werbeplakate aufgriffen – eine säkularisierte Version des
Die künstlichen Sonnen des Alpenstrandbads, Panhans und
Sonnenmythos.
Südbahnhotel, 1932–1933 Pol Abraham und Henry Jacques Le Même, Entwurf Sanatorium
22 24
Plaine-Joux, Plateau d’Assy, 1927–1929 91
Pol Abraham und Henry Jacques Le Même, Kindersanatorium Roc des Fiz, Plateau d’Assy, 1932
25
Jean Saidman im Solarium von Aix-les-Bains bei der Bestrahlung eines Patienten, um 1930
eindrucksvolle Viadukt-
der Sonne zu nützen, verfolgte Jean Saidman, der das Institut
Architektur der Straßen und
d’actinologie (licht-therapeutisches Institut) in Paris führte.
durch ein verzweigtes Seil-
Er entwickelte ein ‹drehbares Solarium für Helio- und Aktino-
bahnsystem auszeichnet
therapie› und reichte im August 1929 einen Patentantrag ein,
(Projekt 26). Die typologi-
der am 17. Januar 1930 bewilligt wurde. Als Standort wählte
schen Innovationen von Pol
er das in den Savoyer Alpen gelegene Aix-les-Bains aus und
Abrahams und Henry
beauftragte den Architekten André Farde mit dem Bau.
Jacques Le Mêmes Projekt
Am 26. Juli 1930 wurde das Solarium eröffnet (Projekt 27).
Plaine-Joux auf dem Plateau
Auf der Spitze eines pittoresken Turms drehte sich ein futuris-
d’Assy in den französischen
tisch aussehender Metallflügel, der dem Lauf der Sonne
Alpen illustrieren die Tatsa-
folgte. Die Patienten ruhten angeschnallt auf schwenkbaren
che, dass der Verlauf der
Liegen, die sie den durch Glaslinsen verstärkten Strahlen im
Sonne ausschlag-gebend
gleichbleibenden Winkel von 90 Grad aussetzten. Der
für die Entwicklung neuer
menschliche Körper war Gegenstand sämtlicher Messungen,
Architekturtypologien war,
um die maximal zumutbare Bestrahlungszeit festzulegen, die
da eine permanente Beson-
ohne Verbrennungen zu erleiden möglich war. Der gute Ruf
nung garantiert sein musste (Projekt 24 und 25).
des Solariums führte zum Bau von zwei weiteren: einem in
Die Architektur trat in den Dienst der Medizin, sie wurde, wie
Jamnagar, Indien, das auf einem einfachen Sockel stand,
es der Neurologe Louis Landouzy im Jahre 1900 formulierte, zur
während jenes in Vallauris bei Cannes auf dem Dach eines
therapeutischen ‹Maschine der Hygiene›, deren Funktionieren
neuen heliotherapeutischen Sanatoriums installiert wurde
auf dem Zusammenspiel von Sonne, Kälte und Höhenluft
(von Jean Saidmann geleitet). Bei der Eröffnung am
basierte, um den Körper zu konditionieren:
10. Februar 1935 verglich es M. Haye, Vizedirektor der
‹Das Sanatorium ist ein Kurwerkzeug, ein rationales Tuberku-
Fürsorge und Hygiene, mit einem Tempel: ‹Vor diesem groß-
loseschutzorgan […], ein wissenschaftlich angeordnetes
artigen, dem Sonnengott geweihten Tempel kann man sich
Haus, eine Maschine therapeutischer Hygiene, die dazu
nicht enthalten, die wunderbare Kunst und die Geschwindig-
dient, wenn man so sagen darf, um mit maximaler Leistung
keit zu bewundern, mit welcher der Architekt Pierre Souzy das
gewisse Kategorien heilbarer Tuberkulose zu bearbeiten.›
Krankenhausschiff aus dem Boden emporschießen ließ, wel-
33
Thomas Manns Der Zauberberg (1912–1924) zeugt von der
ches, wie wir hoffen, einer großen Menge von Kranken ermög-
Intensität einer Sanatorium-Kur, mit der er gut vertraut war,
lichen wird, schnell der Gesundheit entgegen zu segeln.›34
da seine Frau Katia unter anderem für sechs Monate in einem
Jean Saidman war allerdings ein noch wesentlich größeres
Davoser Sanatorium verweilte. Der Roman illustriert, wie die
Projekt vorgeschwebt, dem er den utopisch klingenden
Patienten sukzessive die Kontrolle über ihr eigenes Ich verlieren
Namen Aktinopolis (Strahlen-Stadt) verlieh: eine internationale
und zusehends absorbiert werden, bis selbst ein gesunder
Forschungsstätte mit tropischem Garten, das Wachstum der
Körper auf mysteriöse Weise zu erkranken scheint. Er beschreibt
Pflanzen sollten von Glaslinsen gebündelte Sonnenstrahlen
die stundenlangen Ruhezeiten im Freien, bei stechender
fördern. Das heliotherapeutische Sanatorium und das Solarium
Sonne oder eisiger Kälte, wie man die Toten nachts diskret
waren Teil seiner Technikutopie und der ‹Sonnengott› der
entfernte, wie Leben und Tod in der ‹Maschine der Hygiene›
Grund ihres Daseins. Sein ‹Tempel› diente nicht etwa dem in
verwaltet wurden. Einen radikaleren Ansatz, um die Heilkraft
der Natur tanzenden Körper, wie beim Monte Verità, sondern zu dessen perfekter Kontrolle: Im Solarium, diesem ‹dem
21
Juraj Neidhardt, Entwürfe für ein Sanatorium in Davos, 1930
Sonnengott geweihten Tempel›, lag der Mensch wie eine futuristische Opfergabe auf sich zur Sonne ausrichtenden
23
Rudolf Gaberel, Umbau von Sanatorien in Davos: Deutsche
Stahlliegen. Der menschliche Körper war das rezeptive Objekt,
Heilstätte, 1929, Heilstätte Du Midi, 1928–1939
das unter gebündelten Sonnenstrahlen ‹der Gesundheit ent-
26
Villaggio Sanatoriale di Sondalo, 1932–1940
gegensegelt[e]›. Sie hatte in ihrer futuristischen Modernität
27
André Farde, Pierre Souzy, drehendes Solarium von Jean Saidman, Aix-les-Bains 1930, Jamnagar 1934, Vallauris 1935
92
eine besondere Anziehungskraft und Ausstrahlung, wovon ein
Dank der Entdeckung der antibiotischen Wirksamkeit des
Dokumentarfilm zeugt, der beim Bau des Solariums gedreht
Penicillins durch Alexander Fleming und der Entwicklung
wurde: Als Schöpfer der Erfindung steht Doktor Saidman im
weiterer Antibiotika konnte man die Tuberkulose und andere
weißen Arztkittel auf dem sich drehenden Flügel seines
Infektionskrankheiten erfolgreich behandeln. Das 1928
Sola-riums, er ist mit dem Rücken zur Kamera positioniert und
entdeckte Penicillin wurde allerdings erst nach dem Zweiten
‹segelt› in erhabener Position in einer weiten, langsamen
Weltkrieg und einer langen Forschungszeit industriell herge-
Drehbewegung über die Berglandschaft. Es folgen Aufnahmen
stellt. 1944 wurde mit Streptomycin ein wirksames Antibiotikum
von liegenden Patienten, deren nackte Körper den Sonnen-
gegen Tuberkulose gefunden.35 Als der Arzt August Bier
strahlen unter gigantischen Glaslinsen ausgesetzt sind. Diese
nachwies, dass Heliotherapie nicht zu Heilung von Tuberkulose
Szenen erinnern in ihrer dramatischen Spannung an die futuris-
notwendig sei, verloren die Sanatorien schlagartig ihre Funk-
tische Wetterwarte in Arnold Fancks ‹Stürme über dem Mont
tion. Seither werden sie entweder zur Heilung von Allergien
Blanc› (1930) oder an ‹Das Testament des Dr. Mabuse› von
verwendet oder umgewidmet, oder sie verfallen.
Fritz Lang (1933).
Thermalbäder hingegen, die im 19. Jahrhundert ihre Blütezeit
Diese Heilmethode, welche eine perfekte maschinelle Kontrolle
erlebten und auch in den Alpenraum einzogen, werden weiter-
des Körpers implizierte, stand im ausgesprochenen Gegensatz
hin gebaut. Die Alpen bleiben als ‹therapeutische Landschaft›,
zum naturverbundenen Ansatz der Kolonie Monte Verità.
die vor allem Erholung und Entspannung ermöglicht, im Be-
Beiden Konzeptionen von Heilung lag jedoch eine mytholo-
wusstsein. Die Therme in Vals ist ein besonders interessantes
gisierende ‹Sublimierung› der Sonne zugrunde: Die eine
Beispiel: Peter Zumthor war bestrebt, eine essenzielle, alle
kultivierte die Strahlkraft der Sonne und deren Steigerung für
Sinnesorgane anregende Atmosphäre zu kreieren. Sein
den ihr statisch präsentierten Körper, die andere den im
phänomenologischer Ansatz belebt die sensorische Wahrneh-
Sonnenlicht tanzenden Körper, der im ekstatischen Tanz seine
mung des Menschen, durch Architektur werden die Natur-
eigenen Grenzen zu durchbrechen suchte. Während die refor-
elemente Wasser und Stein intensiver wahrgenommen, da
merischen Bestrebungen von den idealistisch-utopischen
das Licht und die haptische Materialität eine gewisse Stim-
Vorstellungen einer ‹Rückkehr zur Natur› geprägt waren,
mung erzeugen: Das Sehen, Fühlen, Tasten und Hören, ja
reduzierten die lichttherapeutischen Bemühungen der Sana-
sogar der Geschmacksinn sind intensiv angeregt (Projekt 28).
torien und Institute die Sonne auf ihren Strahlenfaktor und
In Anbetracht der in den 1980er Jahren gebauten Thermenar-
seine maximale Nutzung.
chitektur, oft als amüsante ‹Erlebniswelt› konzipiert, kann
All die verschiedenen Heilansätze verwandelten die ‹wilde
dieses Projekt als bahnbrechend angesehen werden, denn es
Natur› in eine ‹therapeutische Landschaft›, in der die auf den
reflektiert eine gesellschaftliche Neuorientierung, die wieder
Körper einwirkende Sonne eine zentrale Rolle spielte. Es kam
einen essenzielleren, ‹archaischeren› Bezug zur Natur sucht –
zu einer radikalen Erneuerung, ja sogar zu einer Neudefinition
und somit auch zur ‹inneren Natur› des Menschen.
des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur, wenn auch auf unterschiedliche Weise: Während bei den Reformern der Körper mit der Natur verschmelzen wollte, indem er sich von jeglichen kulturellen Attributen, selbst der Bekleidung, befreite, wurde der Körper in den ‹Maschinen der Hygiene› mit nicht minderer Radikalität den Sonnenstrahlen ausgesetzt. In beiden Fällen wurden die psychischen, physischen und sensorischen Grenzen herausgefordert und überschritten – eine Transgression, welche die Vision einer tiefgehenden Erneuerung rechtfertigte, beruhend auf dem Ziel eines ‹gesunden Körpers›. In dieser grundlegenden Grenzerfahrung liegt das ‹Sublime› der therapeutischen Landschaft. Peter Zumthor, Therme in Vals, 1990–1996 93
28
Südseite des Haupthauses, Monte Verità (o.)
18 Reformkolonie Monte Verità, Lufthütten und Flachdach,
Südseite der Casa Anatta, Monte Verità (u.)
einzigen Raum, den ein Vorhang in einen Wohn- und einen
1900–1924
Schlafbereich unterteilte. Der Boden war aus Hartholz, ohne
Henri Oedenkoven, einer der Begründer der Reformkolonie
Teppich, die Möblierung spartanisch: Sie setzte sich aus
neben Ida Hofmann und den Brüdern Gräser, kaufte ein auf
einem eisernen Normalbett, Rohrstühlen, einem Waschtisch
einem kleinen Berg gelegenes Grundstück bei Ascona, das
und einem Sekretär zusammen.37 Den einzigen Luxus stellte
man den Ambitionen entsprechend ‹Monte Verità›, Berg der
die Strom- und Wasserversorgung dar, die eine Zubereitung
Wahrheit, taufte. Der ehemalige Weinberg musste aber erst
des vegetarischen Essens im Dampfkocher ermöglichte. Stolz
gerodet und besiedelt werden. Weil die Arbeit im Selbstkon-
wies Ida Hofmann auf die fortschrittlichen Einrichtungen hin:
struktionsverfahren nur langsam voranschritt, stellte man
‹Alle Zimmer sind elektrisch beleuchtet, haben Wasserleitung
Handwerker und Gärtner ein, die das steinige Grundstück
und hygienische Öfen.›
rasch in eine ansehnliche, fruchtbare Kolonie verwandelten: ‹Im Monat April stand die erste Wohnhütte, als einfaches mit
Den Hütten waren Holzterrassen vorgelagert, die sich nur
einer Doppelwand nach vier Seiten hin versehenes Holzgerüst;
leicht vom Boden abhoben und einen schwellenlosen Über-
bald folgte die Zweite nach.›36
gang ins Freie ermöglichten. Die Duschen und Badewannen standen nicht drinnen, sondern draußen, auf der Wiese, denn
Die Architektur der kleinen Holzhütten war Ausdruck des
Luft- und Sonnenbäder gehörten zum alltäglichen Ritual der
neuen Lebens inmitten der Natur. Sie bestanden aus einem
Gesundung. Im Film ‹Wege zu Kraft und Schönheit› von Wilhelm Prager (1925) ist eine Tanzszene auf dem Monte Verità zu sehen, die das Lebensgefühl der Gemeinschaft anschaulich wiedergibt: Eine mit einem kurzen weißen Kittel bekleidete Frau tanzt auf der Terrasse vor der Lufthütte, hüpft in den Garten und kreist dabei die Arme dynamisch um ihren Körper. Diese Szene kann als Sinnbild des angestrebten neuen, befreiten Lebens verstanden werden. Zwei Häuser zeichneten sich von den einfachen Lufthütten ab: das Hauptgebäude und die Casa Anatta. Im 1904 erbauten Hauptgebäude waren ein Restaurant, eine Bibliothek mit Schreib- und Lesezimmer sowie ein Musikzimmer untergebracht. Auffallend ist der Bruchsteinsockel mit Terrasse, zu der eine zweiflügelig-symmetrische Freitreppe führt, deren Handlauf mit einem theosophischen Symbol für Bewegung und Ruhe symbolisierend ausgestattet war. Ein baldachinartiges Vordach mit einer gezackt-bewegten Einsäumung, gestützt von klassizistisch anmutenden, quadratischen Säulen, überdeckte die großzügige Terrasse. Das Haus erinnerte sowohl an osmanische Zelte als auch an griechische Tempel. Das schlicht gehaltene Innere wies bewegte Jugendstilelemente auf, wobei auch hier das theosophische Symbol an denjenigen Stellen auftauchte, wo Licht in den Raum drang: nämlich im oberen Fensterbereich und auf flachen, kreisförmigen Lampenschirmen von Deckenleuchten.
Therapeutische Landschaft
94
Feldarbeit auf dem Monte Verità
Tanzreigen, um 1910
Die in den Hang gebaute Casa Anatta, das zweite sich ab-
folgendem Kommentar: ‹Das Dach als Wohnfunktion: Haus
zeichnende Haus, ist architektonisch anders ausgebildet: Auf
in Ascona um 1900. Oedenkoven, Gründer einer Kolonie für
einem Bruchsteinsockel befindet sich eine zweischalige Holz-
naturgemäße Lebensweise, kam in diesem doppelwandigen
konstruktion mit Horizontalverschalung, die im Obergeschoss
Holzhaus bereits zu einer Lösung, wie wir sie heute fordern:
zurückversetzt ist, um einer großzügigen Dachterrasse Raum
Ausnützung des Daches!›.38 Oedenkoven nützte diese techni-
zu geben. Ähnlich wie beim Hauptgebäude wurden auch hier
sche Errungenschaft, um das begehbare Dach für das ideale
die Fenster abgerundet und mit einem weißen Rahmen ein-
tägliche Sonnenbad zu verwenden.
gefasst, wodurch sie sich von der dunklen Holzverschalung abheben. Das Innere ist mit vertikalen Holzpaneelen verkleidet, welche die Räume mit ihren Holzgewölbedecken höher wirken lassen; die Zimmerecken sind abgerundet. Eine zentral angelegte Treppe im Hauptraum weist eine dynamischbewegte Form auf, welche die Bewohner wie ein Sog ins wesentlich kleinere zweite Obergeschoss ziehen sollte. All diese Details trugen zu einer mysteriösen Atmosphäre bei, untermalt vom zenital einfallenden Licht im Obergeschoss, das einen einladenden Lichtschein auf die Treppenwandung wirft. Beide Häuser waren mit einem Flachdach ausgestattet, das zu jener Zeit noch nicht weit verbreitet war. Sigfried Giedion präsentierte in seinem 1929 publizierten Buch ‹Befreites Wohnen› beide Gebäude als Vorreiter des Flachdachs mit
95
Mary Wigman tanzend vor dem Lago Maggiore, Monte Verità
Johann Adam Meisenbach, ‹Rudolf von Laban mit seiner Tanzschule auf dem Monte Verità›, 1914
19 Rudolf von Laban, Sonnentanz auf dem Monte Verità, 1917
war so gewählt, daß hinter ihm der untere Rand der unterge-
Ende des Sommers 1917 fand auf dem Monte Verità der
henden Sonnenscheibe gerade den Horizont berührte. Dort
‹Anationale Kongress› statt, zu folgenden Themen: koopera-
sprach er die ersten Sätze seines Spruches an die sinkende
tive Gesellschaftsform, neuzeitliche Erziehung, die Stellung
Sonne›, schrieb Laban in Ein Leben für den Tanz.40
der Frau in der Zukunftsgesellschaft, mystische Freimaurerei, Um Mitternacht war der zweite Teil, das Spiel ‹Die Dämonen der Nacht›, angesetzt: Eine Tänzerschar mit Trommeln und Flöten lockte die Zuschauer an, Fackeln und Laternen erhellten den Weg zu einem Berggipfel, bizarre Felsen umzirkelten eine kreisrunde Wiese. Fünf Feuer loderten auf, in denen eine Gruppe von Kobolden Sprungtänze aufführte. ‹Dann erschien eine Schar maskierter Tänzer. Die Masken waren große, den ganzen Körper verhüllende Gebilde aus Zweigen und Gräsern. Die verschiedenen, gedrungenen und hochragenden, eckigen und spitzen Formgebilde verbargen heranschleichende Hexen und Unholde, die in wilden Tänzen die Maskenträger entschleierten und ihre Verhüllungen verbrannten.›41 Durch die Demaskierung wurde der Körper in seinen nackten ‹Urzustand› versetzt – ein symbolischer Akt der Befreiung von kulturellen Attributen. Von Trommeln und Chören begleitet, sollte er sich mit der Natur ‹wiedervereinen›. ‹Die aus aller Welt zu uns gekommenen Zuschauer […] mussten soziale Neubildungen, Kunst-, Ritual- und Kulttanz früherer
um sechs Uhr früh schon wieder zur Stelle sein›, so Laban,
und außereuropäischer Kulturen, Ausdruckskultur in Erzie-
denn bei Sonnenaufgang begann der Morgentanz, ‹eine
hung, Leben und Kunst. Er wurde einberufen durch Theodor
Frauengruppe in weiten bunten Seidenmänteln stürmte den
Reuss, Ordensmeister des Orientalischen Tempelordens, eine
Abhang hinan. Am Horizont erschien die aufsteigende Sonnen-
dubiose Gestalt, die sich 1917 auf dem Monte Verità angesie-
scheibe und durchglühte die Gewänder der Tänzerinnen. Im
delt hatte und eine ‹weiße Sexual-Magie› verkündete. Höhe-
Reigen des erwachenden Tages löste sich der dunkle Spuk zu
punkt war das dreiteilige Tanzdrama ‹Sang der Sonne› (nach
freudig schwingenden, stets erneut anstürmenden Menschen-
der Dichtung von Otto Borngräber), das von Rudolf von
wellen als Sinnbild der ewigen Wiederkehr des Tagesge-
Laban inszeniert und von seinen Schülern aufgeführt wurde,
stirns.›42
39
darunter waren auch Mary Wigman, Katja Wulff, Sophie Taeuber und Suzanne Perrottet. Rudolf von Laban hatte dafür
Durch Tanz und rudimentäre Requisiten verstand Laban, die
eine Freilichtbühne aufgebaut und zelebrierte den Sonnen-
Landschaft zu inszenieren: ‹Ein steinerner Altar war errichtet
zyklus sieben Tag lang mit Tanz, Wort und Chorgesängen.
und ragte in den westlichen Himmel, der sich dehnte in Klar-
Das Fest begann mit der Szene ‹Die sinkende Sonne›, wobei
heit und Sehnsucht über den dunkler werdenden See.› Jakob
Laban nicht nur den Tanz, sondern auch die Natur in die
Flach dirigierte den Chor und schlug die große Trommel. Das
Inszenierung miteinbezog: Während das Publikum auf drei
Geschehen, an dem er selbst ekstatisch teilnahm, beschrieb
großen Steinen unter einer Baumgruppe sitzend zusah, ließ
der Puppenspieler und Maler wie folgt:
er eine Feuerstelle aus Feldsteinen errichten. Nach dem
‹Barfuß und ohne Hemd, fast ein Bantu, mit nichts im Kopf
feierlichen Reigentanz um das Feuer kam ein ‹Sprecher› den
außer Rhythmus und Ekstase, feuerte und trieb ich die unterir-
Abhang herauf, gefolgt von einem Menschenzug. ‹Der Augen-
dischen Wesen zum Höchsten, zum Letzten, riss einen Feuer-
blick, in dem sein Kopf über dem Rand der Wiese aufstieg,
brand aus der Glut und tanzte rasend von Sinnen um die
Therapeutische Landschaft
96
Tanzszene auf dem Monte Verità
Flammen – bis ein letzter mörderischer Schrei des Knaben Totimo den Wahnsinn brach zu totengleicher Stille.›43 Diese Szene erinnert an Nietzsches dionysischen Tänzer, der abseits der singenden Chöre ins Gras niedersinkt und sich seiner apollinischen Einsamkeit bewusst wird – und somit auch seines Daseins. Ähnliches schien sich auch hier abzuspielen: Die Ekstase gipfelte in einem gellenden Urschrei – daraufhin Totenstille, bevor das Leben wieder zyklisch einsetzte. Die Zuschauer waren vom Geschehen, von Labans Inszenierung, der Ekstase der Tänzer und Musiker gebannt. Natur wurde nicht nur als Hintergrund für die Tanzszenen verwendet, sondern in ihrem Tag- und Nachtzyklus selbst zum bewegten Schauspiel. Dabei fungierte die Sonne als spannungserzeugendes Instrument. Die eigenartige Vermischung von Transzendenz, Archaik und utopischem Erneuerungsstreben war charakteristisch für den Expressionismus. Die Choreografie fand 1917, mitten im Weltkrieg, statt. Der beim Sonnenaufgang aufgeführte Tanz ‹Die siegende Sonne› kann auch als Symbol für die Überwindung des Krieges sowie für eine utopische – allerdings mystisch verklärte – ‹Höherentwicklung› der Menschheit verstanden werden. Als Laban nach dem Ende des Ersten Weltkriegs nach Deutschland zurückkehrte und 1922 in der Weimarer Republik die ‹Tanzbühne Laban› (und 1923 die Laban-Schule) in Hamburg gründete, erlangte der Ausdruckstanz einen gesellschaftlichen Durchbruch und große Breitenwirkung. Der Tanz wurde zum Ausdrucksmittel des neuen Körperbewusstseins, das die zahlreich entstehenden Reformbewegungen propagierten. Doch auch die Nationalsozialisten interessierten sich für Tanz und Körperkult. Wie viele Künstler ließ sich auch Laban für deren Propagandaveranstaltungen vereinnahmen. Goebbels beauftragte ihn schließlich, den Einleitungstanz der Olympischen Spiele 1936 zu schaffen, doch Albert Speers Choreografie, die maschinenmäßiger als diejenige von Laban ausfiel, kam zur Aufführung. Das NS-Regime kategorisierte seinen Entwurf als ‹zu intellektuell›.44 Bald darauf sollte es ihn der Homosexualität und Freimaurerei bezichtigen, woraufhin er 1937 Deutschland wohlweislich verließ und nach England emigrierte.
97
Therapeutische Landschaft
Emil Fahrenkamp, Hotel Monte Verità,1927–1928, Fotografie, 2017
20 Emil Fahrenkamp, Hotel Monte Verità – Untergang und
dynamischen Linien bestätigen den Durchbruch der
Neubeginn, 1927–1928
Moderne, der mittlerweile gesellschaftlich vollzogen war:
Der Untergang der Reformkolonie auf dem Monte Verità
Nach dem Weggang der Lebensreformer stellte sich die
führte zum Verkauf des Grundstücks. Henri Oedenkoven und
mondäne städtische Bohème ein, welche die Freiheiten des
Ida Hofmann wanderten 1920 nach Brasilien aus, um eine
reformierten Lebens zu genießen wusste: Je nach Lust und
neue Kolonie zu gründen. Die von ihnen initiierte Architektur
Laune konnte man elegante Kleider, weites Leinen oder
auf dem Monte Verità war Ausdruck ihrer alternativen, auf
nichts tragen; Alkohol, Tabak und gute Küche waren durch-
das Essenzielle reduzierten Lebensweise. Unter den baulichen
aus willkommen.
Überresten der damals exzentrisch anmutenden Gesellschaft finden sich vereinzelte Lufthütten und die Casa Anatta; die im Freien stehenden, mittlerweile verrosteten Duschen und überwachsenen Badewannen aus Stein verweisen auf ihre große Naturverbundenheit. Als Eduard von der Heydt den Monte Verità 1926 erwarb, kam es zu einer weiteren Neugründung, die sich architektonisch manifestierte: Das tempelartige Haupthaus wurde abgerissen, daneben ließ er in den Jahren 1927 bis 1928 ein Hotel im Stil der Moderne nach Plänen von Emil Fahrenkamp errichten. Lediglich die auf dem Sockel liegende Terrasse mit der symmetrisch geschwungenen Freitreppe in den Garten blieb bestehen. Der weiße Baukörper erstreckt sich elegant und dynamisch westlich des Eingangs, der sich neben einem niedrigeren Nebentrakt befindet, welcher an der Stelle des ehemaligen Zentralhauses errichtet wurde. Ein dynamisch abgerundetes Vordach auf dünnen, runden Stahlstützen überdacht den neuen Zugang. Der Bau thront wie ein angedocktes Schiff auf dem einstigen ‹Berg der Wahrheit›. Die großen Fenstertüren des ersten (über einem Nutzgeschoss gelegenen) Obergeschosses öffnen sich zu einem Balkon hin. Dieser mündet in eine Außentreppe, die entlang der Fassade direkt zum Hoteleingang führt. Darüber springt die Fassade zurück, um einer zweigeschossigen, den Zimmern vorgelagerten Loggienschicht Platz zu machen, welche die Gäste zum Sonnenbaden einlädt. Das innere Treppenhaus führt bis zur Dachterrasse hinauf, die einen weiten Blick über den See bietet. Die moderne Inneneinrichtung aus Designer-Stahlrohrmöbeln und zarte Farben (Rosa-, Hellblau- und Brauntöne) unterstreicht das avantgardistische Flair der Moderne. Die Ikonen der Gründerphase wurden ersetzt: Anstelle des Tempels trat ein funktionell gestaltetes Hotel; seine puren,
Therapeutische Landschaft
98
Juraj Neidhardt, ‹Baumasten› im Wandelhallensystem für ein Sanatorium in Davos, Entwurf I, 1930
21 Juraj Neidhardt, Entwürfe für ein Sanatorium in Davos,
die Patientenzimmer mit
1930
Südbalkon. Links und rechts
Der aus Zagreb, Kroatien (damals Agram, österreichisch-un-
von der Standseilbahn sind
garische Monarchie) stammende Architekt Juraj Neidhardt
jeweils fünf Baukörper an-
studierte Architektur bei Peter Behrens an der Wiener Akade-
geordnet, die 13 südseitige
mie der bildenden Künste. Er arbeitete einige Zeit lang in
Zimmer pro Etage aufweisen.
Zagreb, bevor er 1930 eine Stelle im Büro seines ehemaligen
‹Neutralisierung im Bauauf-
Lehrers in Berlin antrat; zwei Jahre darauf ging er zu
bau sowie in der Lebens-
Le Corbusier nach Paris. Als junger Absolvent fertigte er für
weise›, lautet das charak-
den Arzt Paul Wolfer in Davos eine Studie neuer Typologien
terisierende Schlagwort die-
für Sanatorien an, welche die Schweizer Zeitschrift Das Werk 45
ses Systems.
publizierte. Neidhardt schlug drei verschiedene Typen vor, die er direkt an die Mittelstation der Schatzalpbahn anschloss.
Runder Turm Der dritte Typ besteht aus einem runden Turm, bei dem die
Baumasten
keilförmigen Zimmer über eine zentrale, kreisförmige Halle
Der erste, utopisch expressionistisch anmutende Entwurf
erschlossen sind, welche die Kommunikation fördern soll. Die
besteht aus fünf neungeschossigen Türmen, ‹Baumasten› ge-
Balkone bilden Ringe mit unterschiedlicher Orientierung zur
nannt, die halbkreisförmig in einem Tannenwald auf steilem
Sonne.
Gelände angeordnet sind. Ihre schlanke Dimension ergibt sich aus der Größe der Patientenzimmer, denn jeder Turm
Kritik
beherbergt an der Nordseite eine Treppe, die pro Geschoss
Die Schweizer Zeitschrift Das Werk kritisierte an den Projek-
zwei Zimmer (mit privaten Bädern) erschließt. Diese öffnen
ten, sie seien zu formalistisch und unpraktisch. Die talseitige
sich auf der Südseite zu einem Balkon mit Blick aufs Tal.
Ausrichtung der in den Sockeln angelegten Treppen erzeug-
Die Türme stehen auf geschosshohen Sockeln, die in ihrer ex-
ten Schwindelgefühle beim Hinabsteigen und Mühseligkeit
pressionistisch-kubistischen Form ein ausdrucksstarkes En-
beim Hinaufsteigen. Die ‹Baumasten› seien unwirtschaftlich
semble bilden. Sie bieten großzügige Freiterrassen und sind
und isolierten die Bewohner zu sehr, es gäbe ‹fehlenden Kon-
über Treppen, die der Neigung der Sockel folgen, von einem
takt mit Boden und Nachbarn. […] Stärker als in den französi-
unteren Weg her erschlossen. Eine geschwungene, überdachte,
schen Sanatoriumbauten […] scheinen hier formale und
jedoch seitlich offene Wandelhalle verbindet die fünf Türme
vielleicht weltanschauliche Erwägungen die architektonische
miteinander und schließt sie an einen niedrigeren Zentralbau
Überlegung beeinflusst und getrübt zu haben›,46 so die Kritik,
an, in dem die Gemeinschaftseinrichtungen und der Wirt-
die auf die expressionistische Formensprache anspielte. Den
schaftstrakt untergebracht sind. Das Originelle an diesem
runden Turm lehnte man ab, weil nicht für alle Zimmer die
typologischen Konzept ist die Dezentralisierung und vor
gleiche Orientierung nach Süden gewährleistet sei. Der ein-
allem die ‹Individualisierung› der Patienten: Anstatt auf
zige Entwurf, den die Redaktion als ‹denkbar› bewertete, war
einem gemeinschaftlichen Kurbalkon zu liegen, haben sie
der konventionellere Pavillontyp, doch die Zergliederung in
ihre Privatsphäre auf ihren Balkonen, während die ebenerdige
zehn Einzelgebäude wurde wegen der mühsamen Erschlie-
Wandelhalle Kommunikation ermöglicht und die Bewegung
ßung der in verschiedenen Höhenlagen angesiedelten
der Patienten fördert.
Pavillons bemängelt. Innovation war im Kontext der strengen medizinischen Vorschriften und wirtschaftlichen Anforderun-
Pavillons Der zweite Entwurf ist konventioneller und basiert auf dem üblichen Korridorsystem: Ein innen liegender Gang erschließt
99
Therapeutische Landschaft
gen nicht einfach.
Atelier Muchsel-Fuchs, ‹Alpenstrand Semmering. In direkter Verbindung mit dem Grandhotel Panhans›, Plakat, 1933
22 Die künstlichen Sonnen des Alpenstrandbads, Panhans und Südbahnhotel, 1932–1933 ‹Der Semmering ist das Alpenparadies der Wiener!›, lautete ein Werbeslogan aus dem Jahr 1932. Ein gelb-blau leuchtendes Plakat pries den ‹Alpenstrand Semmering – in direkter Verbindung mit dem Grandhotel Panhans›, dessen Zweifarbigkeit das neue ‹Alpenparadies› symbolisierte, denn der ‹Semmeringer Lidozauber›47 bot Gebirge und Strand in einem. Die von Börsenkrach und Wirtschaftskrise betroffenen Grandhotels bemühten sich, ein neues, bürgerliches Publikum anzuziehen, denn Adel und Großbürgertum waren nicht mehr so zahlungskräftig. Das verstaubte Grandhotel des Fin de Siècle war bereit, sich dem Zeitgeist anzupassen. Diese Rochade gelang dem neuen Besitzer des Grandhotels Panhans, dem internationalen Geschäftsmann William Zimdin (1880–1951). Ein Zeitungskommentator des Neuen Wiener Journals feierte ihn als ‹Retter des Semmerings›, wie wir den Semmeringer Nachrichten entnehmen können.48 Unter Zimdin erhielt das bestehende Gebäude durch einige Umbauten der Architekten Anton Liebe und Ludwig Stigler ein neues Antlitz: eine moderne Fassade, eine runde Tanzhalle, eine Bar, ein maurisches Bad und ein verglastes Hallenbad, über das ein Reporter der Semmeringer Nachrichten begeistert schrieb: ‹Die große Schwimmhalle, die sich nach Süden und Westen bis zur Decke in Glaswänden gegen die herrliche grüne Landschaft öffnet, enthält ein elfenbeinweißes Bassin von
Semmering›, heißt es humorvoll. Zugleich lobte er die neue
25 Meter Länge und 11 Meter Breite. […] In azurblauer Farbe
Erfindung:
spiegelt sich das frische Quellwasser im Bassin und erzeugt
‹Hier schaut man dem schlechten Wetter nicht mehr empört
an den orangegetönten festen Wänden wundervolle Misch-
zu, sondern lässt sich vom Hotelier ein besseres machen.
töne.›
Landregen ist auf diesem Zauberberg kein Hindernis, sich zu
49
jedem beliebigen Weekend Wörtersee-Riviera-Teint anzuDas Wasser war den hygienischen Errungenschaften gemäß
schaffen. Man fährt einfach vom Bridgetisch oder Foxtrott mit
geheizt, gefiltert und entkeimt. Im Sommer konnte die Ver-
dem Lift auf den Strand hinunter. Hier funktioniert, ob schön
glasung vollkommen geöffnet werden, während eine ‹mit
oder Regen, alles ganz märchenhaft nach den Wünschen des
Dampf gespeiste Fernheizanlage› das Hallenbad im Winter
P. T. Hotelgastes. Sonne ist auf jeden Fall da. Scheint sie
angenehm temperierte: ‹Lampen für künstliche Höhensonne
nicht draußen, so knipst der Badediener einfach ein paar
an der Decke der Schwimmhalle bieten gleichzeitig einen
seiner mysteriös strahlenden Quarzwunderlampen auf. Bläulich
Ersatz für zeitweise fehlenden natürlichen Sonnenschein.›50
flimmert die Welle und schmiegt sich um die Shorts und Ruder-
Als ‹Semmeringer Lidozauber› titulierte ein weiterer Artikel
leibchen unserer Schönen. Ein geheizter, rot oder gelb geka-
das neue Bad, der auch das häufige Schlechtwetter erwähnte:
chelter Strand, chemisch viel besser gereinigt als der simple
‹Allerdings regnet es nirgends so komfortabel wie auf dem
Strand eines Originallido, wärmt die Fußsohlen. So brennt
Therapeutische Landschaft
100
‹Semmering – Austria – 1000 M.›, Plakat, 1928
man ab, ganz à la Mittelmeer. Nur haben sie dort eine Sonne, und auf dem Semmering hängt man uns so viele hin, als wir bestellt haben. Das ist weiter keine Zauberei, sondern bloß ein bisschen Corriger la nature. Auf diese Art werden der unverlässlichen Natur mit der Zeit ihre saisonstörenden Launen vielleicht doch abgewöhnt.›51 Im nahe gelegenen Südbahnhotel, mit dem das Hotel Panhans in permanenter Konkurrenz stand, ging es ähnlich zu. Es ließ zur gleichen Zeit von Otto Schönthal und Emil Hoppe ein großzügig verglastes Hallenbad errichten und mit gestreiften Fliesen in den Elementarfarben Rot, Blau, Grün und Gelb modern ausgestalten. Neue technische Errungenschaften versuchten, die Einflussnahme des wechselhaften Bergklimas auf künstlichem Weg zu bekämpfen, man wollte die Natur korrigieren (‹corriger la nature›), um den menschlichen Komfort noch zu steigern. Die Semmeringer Nachrichten begrüßten das neue mondäne Leben des Kurorts: ‹In den großen Hotels und dem märchenhaft schön gelegenen Strandbad herrscht ein Leben und Treiben, wie es der Semmering noch nie gesehen hat.›52 Heurigenabende, ungarische Abende, Tanztourniere, Golfwochen, Tennistourniere, das berühmte Semmering-Rennen im September und vor allem die im Strandbad arrangierte ‹Wahl der Alpen-Strandkönigin und ihrer Prinzessinnen› gehörten zu den Veranstaltungen, die sich großer Beliebtheit erfreuten.53 Die Bäder wurden dem neuen Körperbewusstsein gerecht: Vom Korsett und Kostüm befreit, sonnten sich die Gäste im Badeanzug am ‹Lido alpin›. Dazu gehörten Jazzmusik und ‹wilder Tanz› im Freien. Der tanzende, badende, halbnackte Körper in der Sonne war Ausdruck des befreiten Lebensgefühls des ‹neuen Menschen›.
101
Therapeutische Landschaft
Rudolf Gaberel, Deutschen Heilstätte nach dem Umbau, 1929 (u.)
Deutschen Heilstätte vor dem Umbau (o.)
23 Rudolf Gaberel, Umbau von Sanatorien in Davos:
unabhängigen Eisenbetonkonstruktion. Ein Artikel der
Deutsche Heilstätte, 1929, Heilstätte Du Midi, 1928–1939
Schweizer Zeitschrift Das Werk aus dem Jahre 1930 begrüßte
Als Rudolf Gaberel mit dem Umbau der Deutschen Heilstätte
diese Innovation, da die eigenständige Kurbalkonschicht
beauftragt wurde, setzte sich das bestehende heterogene
durch ein intelligentes auskragendes Konstruktionsprinzip
Gebäude aus drei Baukörpern zusammen: An den ältesten
ohne Außenstützen auskam, die Schattenkegel verursacht
Teil – einen historistischen dreigeschossigen Bau mit einer
hätten:
vorgelagerten symmetrischen Freitreppe, gekrönt von einem
‹Das ganze tragende Gerüst [wurde] gleichsam wie ein Bücher-
pittoresken Turm – waren zwei neoklassizistische Seitenflügel
gestell behandelt, das als selbständiger Bau vor das Haus
angebaut, die größere Raumhöhen aufwiesen und den klei-
gestellt wurde. Grob gesprochen: wenn das Haus einstürzte,
neren Hauptbau überragten. Gaberel verband die drei unter-
würden die Terrassen allein stehen bleiben. Sie werden getra-
schiedlichen Baukörper durch eine einheitliche vorgesetzte
gen von 35–40 cm starken monolithischen Eisenbetonlamellen,
Fassade aus Liegebalkonen.
die etwa 1,30 m tief im Boden stecken.›54
Der Umbau ließ sich bei voller Belegung der Obergeschosse
Die Terrassen wurden nicht in einzelne Kompartimente aufge-
durchführen, dank einer vorgelagerten, vom Altbestand
teilt, sondern mithilfe von durchscheinenden Rohglasplatten, ‹die vom Geländer etwa 75 cm Abstand halten, um dem Arzt den Durchgang zu ermöglichen›, unterteilt. Diese Wände schützten nicht nur vor seitlichen Windströmungen, sondern erfüllten auch einen psychologischen Zweck: ‹Denn den Patienten befällt leicht ein unangenehmes, der Platzangst verwandtes Gefühl, wird er vom friedlichen Zimmer in einen endlosen freien Korridor hinausgefahren, in dem er schutzlos und preisgegeben wie auf einem Bahnhofperron liegt.›55 Von Nachteil war die Beschattung der Zimmer durch tiefe Kurterrassen. Im Vergleich zum vorherigen Bau gelangten die Sonnenstrahlen im Sommer zwar nur in einen kleinen Teil des Raumes, im Winter aber bestand kaum ein Unterschied: ‹Diese ganze Frage jedoch ist bei einer Kurvorschrift, die vom Patienten verlangt, dass er zumindest die Sonnenstunden auf dem Balkon verbringt, überhaupt von recht sekundärer Bedeutung.› Der Artikel endet mit der enthusiastischen Hochstilisierung des Umbaus zu einem heilbringenden Symbol der Menschlichkeit: Der Bau zeigt ‹mit seinen rein durchlaufenden Horizontalen, dem starken, zu dem gelblichen Ton der Wände heiter stimmenden Blau der Geländer und seiner selbstverständlich sicheren Haltung ein würdiges und offen sympathisches Gesicht. In einer Berglandschaft von ernster Grösse ist er ein freundliches Symbol menschlicher Sorge um leidendes Leben.›56
Therapeutische Landschaft
102
Rudolf Gaberel, Umbau der Deutschen Heilstätte mit dreigeschossigen Kurgalerien (u.)
Ästhetik und Pathos vermischten sich, um die Anhänger des alten Stils, die sich an das Ornament klammerten, von der Notwendigkeit der modernen Hygiene zu überzeugen. Ärzte entschieden über typologische Erneuerungen, Architekten entwickelten davon ausgehend entsprechende Bauformen; doch der Kurgast zahlte und wählte eine Kuranstalt nach subjektiven Kriterien aus. Die Moderne setzte sich aufgrund der Tatsache durch, dass für den Patienten schließlich der Berühmtheitsgrad eines Kurarztes ausschlaggebend war, wie der Autor des Artikels zuversichtlich feststellte, und nicht Stil und Komfort einer Anstalt. Die baulichen Umgestaltungen der beiden Davoser Sanatorien illustrieren, wie ‹pure Formen› das Ornament auf radikale Weise ersetzen konnten. Dass eine ähnliche Begeisterung für Schlichtheit entstand wie zuvor für das Ornament, ist folgendem Artikel zu entnehmen, der 1944 in Das Werk erschien und sich mit Gaberels Umbau der Heilstätte Du Midi beschäftigte: ‹Aus äußerst unruhigen, in unzählige Details zerfallenden, geschmacklich unvertretbaren, die Landschaft verschandelnden Bauten von außerdem unhaltbarem bautechnischem Zustande, hat der Architekt einfache, klare Baukörper, von einer einheitlichen, frischen Architektur geschaffen.›57 Die klaren Linien der Moderne traten an die Stelle der Ornamentik, die Purifikation der ursprünglichen ‹Bausünde› (oder ‹Verbrechen›, mit Adolf Loos’ Worten ausgedrückt) feierte man als das neue ‹Wahre›: ‹Mit flacher Abdeckung und mit systematisch allen Patientenzimmern vorgesetzten Balkonen sind die Bausünden des Urzustandes verdeckt oder besser gesagt, gründlich ausgemerzt worden›, hieß es triumphierend.58 Der funktionalistische Stil, dessen klingendes Schlagwort ‹Bausünden ausmerzen› lautete, hatte sich 1944 endgültig durchgesetzt.
103
Therapeutische Landschaft
Rudolf Gaberel, Deutsche Heilstätte nach dem Umbau mit vorgesetzten, individuellen Kurbalkonen, Schnittzeichnung (o.)
R. Soubie, Sanatorium Plaine-Joux von Pol Abraham und Henry Jaques Le Même, Schaubild, 1929
24 Pol Abraham und Henry Jacques Le Même, Entwurf
Sanatorium Praz-Coutant, das unter der Leitung des Architek-
Sanatorium Plaine-Joux, Plateau d’Assy, 1927–1929
ten Aristide Daniel, im Auftrag Dr. Paul Émile Davys, nach
Im Jahr 1925 erteilte der Arzt Alexandre Bruno dem Architek-
amerikanischem Pavillontypus in Anlehnung an den savoyischen
ten Henry Jacques Le Même den Auftrag zur Errichtung eines
Stil errichtet worden war (mit der Erweiterung wurden Lucien
neuen Privatsanatoriums für französische Offiziere auf der
Bechmann und Henry Jacques Le Même beauftragt, der sich
Hochebene von Assy, die dem Mont Blanc gegenüberliegt.
mit Pol Abraham assoziierte), wollten Le Même und Pol
Im Gegensatz zum 1926 in unmittelbarer Nähe fertiggestellten
Abraham für das Sanatorium Plaine-Joux eine progressive Architektur entwickeln. Die Abgeschiedenheit und die Höhenlage – die Anstalt sollte 300 Meter über dem Kurdorf Assy liegen – sowie die intensive Sonneneinstrahlung waren für die Wahl des Standorts von vorrangiger Bedeutung. Vom Bahnhof aus sollte eine Drahtseilbahn mit drei Kilometer Länge die 800 Meter Höhenunterschied zum Sanatorium überwinden. Die isolierte Lage versprach eine staub- und rauchfreie Atmosphäre sowie absolute Ruhe. Ausgangspunkt für die Planung war die optimale Belüftung und Besonnung der Zimmer, wie die Zeitschrift L’Architecte 1929 kommentierte: ‹Dr. Bruno hatte sich vor allem sehr intensiv mit der bestmöglichen Ausrichtung der Balkone beschäftigt. Diese sollten so angeordnet sein, dass ein direkter Sonneneinfall und die Durchlüftung der Zimmer nicht beeinträchtigt werden, was sogar bei den neuesten Sanatorien vorkommt.›59 Bei den damals üblichen Sanatorium-Typen verhinderten die vorgelagerten Kurgalerien, dass die Strahlen der Sonne direkt in die Krankenzimmer gelangten. Um möglichst viele Räume unterzubringen, wurden außerdem immer engere Gebäuderaster entwickelt, die den Lichteinfall in die Tiefe der Zimmer unmöglich machten und zudem den Ausblick einschränkten. Das typologisch Originelle am Entwurf von Le Même und Abraham war die Idee, die Zimmer um 45 Grad zu drehen und somit eine permanente Sonneneinstrahlung zu gewährleisten. Den aus der Gebäudeflucht herausspringenden verglasten Zimmerecken wurden halbkreisförmige Kurbalkone eingeschrieben. Eine derartige Ecke hat den Vorteil, dass die Sonnenstrahlen von morgens bis abends das Zimmer bescheinen. Während jeweils eine der beiden Seiten durch eine Markise reguliert werden konnte, gewährte die andere Seite weiterhin einen Ausblick. Die runden Kurbalkone
Therapeutische Landschaft
104
Pol Abraham und Henry Jaques Le Même, runder Balkon mit Zimmer im Hintergrund, Innenraumperspektive (u.)
Zimmereinheit mit Balkon und Bad des Sanatoriums Plaine-Joux, Grundriss, 1931
nahmen den Räumen kein Sonnenlicht weg und waren dank ihrer Lage zwischen den Glasecken außerdem windgeschützt. Auch wenn dieser ausgeklügelte Entwurf aufgrund der Weltwirtschaftskrise (und des Rückzugs amerikanischer Aktionäre) nicht über die Fundamente hinauskam, konnten die Architekten bald darauf vier weitere Sanatorien auf der Hochebene von Assy bauen, von denen heute noch zwei existieren. Die innovative Typologie mit der verglasten Ecke kam aus Kostengründen allerdings nicht zur Ausführung. Dennoch wurde dieses Projekt wegen seiner emblematischen Form zu einer Architekturikone der Moderne.
105
Runder Kurbalkon mit Zimmerecke, Außenperspektive, 1929
Südostseite des Sanatorium Roc des Fiz, vom Dach eines Pavillons, mit Verbindungsgalerie, die zum Hautgebäude führt, 1930
25 Pol Abraham und Henry Jacques Le Même,
um ein gleichbleibendes Klima in der Anstalt zu gewährleis-
Kindersanatorium Roc des Fiz, Plateau d’Assy, 1932
ten. Auf diese Weise schuf man ein vernetztes ebenerdiges
Drei Jahre nach dem Baustopp des Sanatoriums Plaine-Joux
System, das den Kindern einen unmittelbaren Bezug zum
erhielten Henry Jacques Le Même und Pol Abraham den
Außenraum bot und dennoch geschützte Wege zum Haupt-
Auftrag für den Entwurf des Kindersanatoriums Roc des Fiz.
haus ermöglichte. Jeder Pavillon dockte mit einem Ende an das Galeriesystem an, während das andere, abgerundete
Das ambitionierte Vorläuferprojekt hatte neue Wege für weitere
Ende ein Spielzimmer beherbergte.
innovative Planungen eröffnet. Auch für das Kindersanatorium entwickelte das Architektenteam eine originelle Grundriss-
Die halbrunde Form der Pavillons fing die Sonnenstrahlen
typologie, die vollkommen andere organisatorische Prinzipien
rund um die Uhr ein und verlieh ihnen einen dynamischen
aufwies als das kompakte Pionierprojekt, denn es beruhte auf
Charakter. Strukturell gesehen setzten sich die Pavillons aus
einem verzweigten System einzelner Gebäude: Im Zentralhaus
halbbogenförmigen Stahlbetonrahmenelementen zusammen,
waren der Speisesaal, die ärztlichen Einrichtungen und zwei
die sich im vorderen, verglasten Bereich aufgabelten.
Schlafsäle untergebracht, die ein Drittel der Kinder beher-
Das davon getragene auskragende Pultdach öffnete sich
bergten. Etwa 30 weitere Kinder hatten ihre Unterkunft in
nach Süden, sodass die Räume von Licht durchflutet waren.
jeweils einem der vier Pavillons. Verglaste und geheizte
Während die oberen Fensteröffnungen die Sonnenstrahlen
Verbindungsgalerien verbanden diese mit dem Hauptbau,
tief in den Raum eindringen ließen, ermöglichten die unteren
Therapeutische Landschaft
106
Kindersanatorium Roc des Fiz, Innenraum eines Pavillons, 1930
den Ausblick auf die Landschaft sowie einen direkten Zugang zu einer vorgelagerten, vom Boden abgehobenen Terrasse, die über Treppen in die Wiese führte. 1970 ging eine Lawine auf das Kindersanatorium nieder und verursachte den Tod von 56 Kindern und 15 Pflegern, woraufhin es abgerissen wurde.
107
Therapeutische Landschaft
Pol Abraham und Henry Jacques Le Même, Kindersanatorium Roc des Fiz, perspektivische Skizze, 1930
Villaggio Sanatoriale di Sondalo, Viadukte mit Krankenpavillon, 2015
26 Villaggio Sanatoriale di Sondalo, 1932–1940
Die Anlage thront futuristisch über dem Veltliner Dorf
Das lombardische Sondalo kann als gebaute Utopie einer
Sondalo und schreibt sich in den steilen, waldigen Berghang
hermetisch abgeschlossenen Krankenstadt inmitten der
am südlichen Ausläufer der westlichen Rätischen Alpen mit
Alpen angesehen werden, die wie eine perfekte Maschine
gigantischen infrastrukturellen Baumaßnahmen ein. Hohe
funktioniert. Der Veltliner Lungenarzt Eugenio Morelli begann
Steinmauern stützen die Fahrwege, die – ähnlich wie im antiken
1928 im Auftrag des Istituto Nazionale Fascista per la
Rom – auf gemauerten Terrassen und Viadukten angelegt sind,
Previdenza Sociale nach einem geeigneten Ort zu suchen,
um die Unebenheiten des Geländes zu überbrücken. Die
um Tuberkulose zu heilen, und wählte dafür das auf
kurvigen, weit über das natürliche Gelände auskragenden Straßen führen in wendigen Kehren den Steilhang hinauf und sind boulevardähnlich von Baumreihen gesäumt, die den Fußgängern Schatten spenden. Sie werden von Rotunden, terrassenförmig angelegten Gärten und waldigen Parks begleitet, die zum Flanieren einladen. Die nächtliche Beleuchtung unzähliger Lampen verleiht ihnen einen urbanen Charakter. Die aus Porphyr-Steinen gestalteten Gebäudesockel und Terrassen bilden eine materielle Einheit mit den Viadukten, während sich die farbig verputzten Baukörper in ockerfarbigen Rot- und Gelbtönen von der massiven Sockellandschaft abheben. Die Pavillons sind mit langen, auskragenden Balkonen ausgestattet, beschattet von geschwungenen Holzlamellenstores, die sich von der Landschaft abheben, und erinnern an Schiffe auf See.
1.000 Meter Höhe gelegene, sonnige Dorf Sondalo aus. Der
Die Sanatorium-Stadt war ein von der Außenwelt unabhängig
Sozialversicherungsträger beauftragte renommierte Architek-
funktionierender Mikrokosmos mit eigenem Elektrizitätswerk
ten und Ingenieure aus Rom mit dem Bau der Anlage im Stil
und autonomer Wasserversorgung. Sie verfügte über eine
des Razionalismo. Mussolini wollte ausdrücklich eine monu-
Kirche, Geschäfte, ein Kino, ein Amphitheater, thermische
mentale, für Italiens Gesundheitspolitik repräsentative An-
Bäder und eine Wetterstation, sogar eine private Radioantenne.
lage errichten lassen und äußerte den Wunsch, einen der
Dem medizinischen und administrativen Personal standen ein
Pavillons wie ein weißes Kreuzfahrtschiff länglich und mit dy-
eigenes Schwimmbad, eine Boccia-Bahn und ein Tennisplatz
namischen Kurven auszubilden. 1932 wurde mit dem Bau der
zur Verfügung. Dem Elektrizitätswerk, das wie das Haus der
Fundamente und Viadukte begonnen, vermutlich unter der
Administration aus rotem Backstein erbaut ist und aus dem
Leitung des römischen Architekten Mario Loreti und des In-
Ensemble optisch hervorsticht, verleihen hohe, schlanke
genieurs Raffaello Mattiangeli (Technik-Büro CNAS) sowie
Fenster einen vertikalen Charakter. Es spannt den Bogen zur
des Generalbauunternehmers Daniele Castiglioni;60 die Inbe-
Kirche, die in ihrer kubischen Komposition aus Backstein und
triebnahme der 1940 fertiggestellten Anlage erfolgte jedoch
weißem Travertin und ausgestattet mit runden Fenstern
erst nach Kriegsende, im Jahre 1946. Der erwünschte ikonen-
einem Schiff gleicht.
hafte Effekt des futuristischen ‹Alpen-Atlantis› erregte bereits 1939 internationales Aufsehen, insbesondere in der
Dynamik vermittelte auch ein allumfassendes Luftseilbahn-
Schweiz. In der Schweizerischen Bauzeitung61 vom 2. März
system, das eine schnelle Versorgung ermöglichte. Von der
1940 wurde über das Sanatorium, das sich noch im Bauzu-
Dachterrasse des zentralen Gebäudes aus steuerten kleine
stand befand, publiziert.
Seilbahnwagen auf direktem Weg die Dächer der neun
Therapeutische Landschaft
108
Villaggio Sanatoriale di Sondalo, Viadukte mit Zentralhaus (rechts) und Kirche (im Hintergrund)
Krankenpavillons an, wo Lastenaufzüge die Vertikalverteilung
auch nur eine Sekunde lang – der Vorstellung, in den befes-
übernahmen. Dieses innovative und effiziente System trug
tigten Mauern einer Atomstadt gefangen zu sein.›62
zum futuristischen Charakter der Anlage bei. Ihre mikrourbane Struktur erinnert an die futuristischen Stadtvisionen
Heute ist die Anlage noch als Krankenhausstadt (Ospedale
von Antonio Sant’Elia, das omnipräsente Arkadenmotiv an
Eugenio Morelli) genutzt, manche der Pavillons stehen leer
Giorgio de Chiricos metaphysische Stille, die Dynamik der
und verfallen. Die Seilbahn steht aus patentrechtlichen Gründen
Straßen an Mario Sironis diagonalen Bildaufbau. Ein Journalist
still, sie wurde in den 1980er Jahren durch weitaus weniger
des Corriere della Sera beschrieb 1952 die nächtliche Atmo-
elegante Verbindungsrohre ersetzt.
sphäre aus der Perspektive eines Durchreisenden: ‹Wer nachts auf der Straße von Tirano nach Bormio fährt, denkt unmittelbar an eine mysteriöse Einrichtung, an ein Geheimlabor oder eine unheimliche Fabrik. Auf der linken Seite, wo sich der Berghang öffnet, flammen plötzlich tausende kleine Lichter auf, inmitten des schwarzen Samts der Tannenund Kieferwälder. Man kommt nicht umhin, an eine mysteriöse Stadt der Zukunft zu denken; man unterliegt – wenn
109
Therapeutische Landschaft
Jean Saidman, Bestrahlung einer Patientin im Solarium von Aix-les-Bains, 1930
27 André Farde, Pierre Souzy, drehendes Solarium von Jean
Inbetriebnahme wies es bereits erfolgreiche Zahlen auf:
Saidman, Aix-les-Bains 1930, Jamnagar 1934, Vallauris 1935
Bis zum 14. Oktober 1930 zählte es 4.000 Besucher, darunter
Jean Saidman, Facharzt für Aktinologie (Strahlenforschung),
500 Ärzte.65 1932, im Zuge eines Anbaus an den Thermen-
entwickelte neuartige Bestrahlungstherapien, die er zunächst
komplex, sollte der bewegliche Teil auf dessen Dach übersie-
in seiner Pariser Ordination testete. Mit dem UV-Licht eigens
deln, näher zum Kur- und Thermalpublikum, allerdings konnte
konzipierter Speziallampen bestrahlte er Kinder, um Rachitis
dieser Plan aus administrativen Gründen nicht realisiert werden.
vorzubeugen. Im Souterrain seiner Praxis ließ er einen künstli-
Jean Saidman hatte schnell internationalen Erfolg und konnte
chen Sandstrand anlegen, um sie währenddessen spielerisch
diesen Prototyp sogar bis nach Indien exportieren, wo er
zu beschäftigen.
1934 in Jamnagar eingeweiht wurde. Ihm schwebte die
Von einem Davoser Prototypen inspiriert, konzipierte er (mit
in Vallauris in Südfrankreich vor, welchem er den utopisch
der Hilfe der Ingenieure Carsalade et Regimbeau) ein drehbares
klingenden Namen ‹Aktinopolis› gab. Es gelang ihm, die
Solarium, das er mit einem Kartonmodell im August 1929 im
öffentliche Hand von diesem Projekt zu überzeugen und die
Grand Palais präsentierte; kurz darauf reichte er einen Antrag
nötige Finanzierung zu erhalten. Er beauftragte den Architekten
beim Patentamt ein, der am 17. Januar 1930 bewilligt wurde.
Pierre Souzy mit dem Bau, und am 10. Februar 1935 wurde
Als Standort für die Umsetzung seiner Erfindung hatte er die
es eröffnet. Auf dem Dach des ‹heliotherapeutischen Sanato-
in den französischen Alpen gelegene Thermalstadt Aix-les-
riums›, zu dessen Direktor Jean Saidman gewählt wurde, war
Bains gewählt und den lokalen Architekten André Farde mit
ein weiteres drehendes Solarium installiert worden, allerdings
der Einreichung des Bauantrags beauftragt, die am 4. Juli
nicht so groß wie ursprünglich geplant.
Errichtung eines großen ‹heliotherapeutischen Sanatoriums›
1929 erfolgte. Mitte April 1930 begannen die Bauarbeiten, am 26. Juli wurde es bereits eröffnet. Den ersten Prototyp
Infolge gravierender finanzieller Schwierigkeiten, zu denen
beschrieb er wie folgt:
sich ein antisemitisches Komplott gesellte, musste dieses
‹Die erhöhte Terrasse umfasst zwei Seitenflügel, auf denen kleine Kabinen in Leichtbauweise errichtet sind. In diesen werden die Kranken auf Liegestühlen oder anderen geeigneten Unterlagen liegend, den Sonnenstrahlen ausgesetzt. Der Zugang zu den Bestrahlungskabinen erfolgt über einen zentralen Erschließungskern, in welchem sich ein Treppenhaus und ein Aufzug befinden. Das Erdgeschoss und die anderen Geschosse des Turms können auf sehr vielfältige Weise genutzt werden, z. B. als Kontrollräume, Geschäfte, Buffet etc.›63 Als Sockel und Träger des Drehteils ließ er von Architekt André Farde einen pittoresken hexagonalen Turm errichten, der stilistisch gesehen einen starken Kontrast zum futuristisch wirkenden Aufsatz bildete. Die Behandlung erfolgte durch gefilterte Sonnenstrahlen sowie UV- und Infrarotlampen, die von einer zentralen Steuerungsanlage aus bedient wurden und die Wirkung steigerten. Wegen der Ansteckungsgefahr wurde Tuberkulose nicht behandelt, das Solarium besuchten (Aix-les-Bains war seit der Belle Époque beliebt bei internationalen adeligen und großbürgerlichen Kurgästen) ‹vorwiegend Frauen der wohlhabenden Oberschicht›, die an ‹neuralgischen Krankheiten litten›.64 Drei Monate nach seiner
Therapeutische Landschaft
110
Jean Saidman, Drehendes Solarium in Aix-les-Bains, 1930
Fernand Ottin, Nachfolgeprojekt für das drehende Solarium in Vallauris, Enwuf, 1946
Solarium im November 1937 geschlossen werden. Den
neues Solarium für Vallauris als eigenständiges Gebäude.
folgenden langwierigen Gerichtsstreit beendete der Kriegs-
Seine Errichtung wurde allerdings von der damaligen Direktion
ausbruch; das Sanatorium diente danach dem Militär als
des Sanatoriums mit einem Veto verhindert.
Lazarett. Das Solarium in Aix-les-Bains wurde Ende 1943 von
1949 starb Saidman an einem Herzinfarkt. Heute besteht nur
den Nationalsozialisten besetzt, die es schließlich plünderten
noch das Solarium in Jamnagar und kann besichtigt werden.
und zerstörten.
In Aix-les-Bains wurde der drehende Teil 1965 abgerissen, lediglich der Sockel blieb erhalten.
Im Jahr 1946 entwarf Fernand Ottin – damals Diplomand an der École des Beaux-Arts in Paris – für Jean Saidman ein
111
Jean Saidman, Pläne des Patents für ein drehendes Solarium, 1929
Peter Zumthor, Therme in Vals, Graubünden, 1996
28 Peter Zumthor, Therme in Vals, 1990–1996
schwellenlos, man gleitet wie in einen Bergsee hinein. Innen
Im Valsertal des Schweizer Kantons Graubünden existierte
und außen sind grenzenlos verwoben, auch hier gibt es keine
bereits seit 1893 eine Badeanlage mit Hotel, Badekabinen,
trennenden Schwellen. Innerhalb der großen Steinblöcke befin-
Duschen und einem kleinen Freiluftbecken, das in den
den sich kleinere Wasserbecken mit unterschiedlichen The-
1930er Jahren sukzessive an Publikum verlor. Um 1960 wurde
matiken, die den Geruchssinn durch Blüten, den Gehörsinn
eine neue Anlage mit einem einfachen Thermalbad errichtet,
durch meditative Töne, den Geschmackssinn durch Trinkwas-
das 1990 obsolet war. Im Auftrag der Gemeinde plante Ar-
ser in Kupfertassen und den Tastsinn durch verschiedene
chitekt Peter Zumthor eine neue Therme unter bestimmten
Wassertemperaturen anregen. Durch die sinnliche Stimulation
Gesichtspunkten: Er wollte sich nicht auf den baulichen Kon-
entsteht Spannung, unterstützt von Architektur und Licht
text beziehen, sondern suchte vielmehr ‹eine spezielle Bezie-
ebenso wie von der Materialität des Steins und des Wassers.
hung zu der Berglandschaft, ihrer Naturkraft, geologischer
Interessant ist, dass Peter Zumthor die Spannung, die in
Substanz und eindrucksvollen Topografie›. Der Gedanke, das
einem architektonischen Körper steckt, mit den lebendigen
Gebäude könne älter wirken als seine Umgebung – ‹so als sei
Spannungen der Natur vergleicht:
es immer schon in der Landschaft gewesen›67 –, gefiel ihm.
‹Ich denke, dass die versteckten Strukturen und Konstruktio-
66
Die archaische Dimension der ‹mystischen Natur einer Welt
nen eines Gebäudes so organisiert sein sollten, dass sie dem
aus Stein im Berg, von Dunkelheit und Licht, von Lichtrefle-
Gebäudekörper die Qualität einer inneren Spannung verleihen
xionen auf Wasser […], von warmem Stein und nackter Haut,
und ihn zum Vibrieren bringen. So werden Geigen gebaut.
vom Ritual des Badens› inspirierten seine initialen Entwurfs-
Sie erinnern uns an die lebendigen Körper der Natur.›69
68
gedanken, die dem Gebäude Form gaben und seine Materialität bestimmten. Vom Berg aus gesehen, scheint das Gebäude aus dem Hang herauszuwachsen. Dieser erhält eine geometrische Form durch feine Linien und Punkte aus Glas, welche die begrünte Dachfläche durchweben, um Licht in das Gebäude zu bringen. Vom Tal aus betrachtet, gleicht die Therme einem massiven hervortretenden Fels mit großen Löchern, die den Durchblick ins Freie und Einblick in eine Badelandschaft gewähren, während kleinere Öffnungen zur Rhythmisierung der Masse beitragen. Der Eingang erfolgt seitlich, in Anbindung an das Hotel. Der Besucher betritt die Therme durch einen schwach beleuchteten Gang, der ihn auf die gedämpfte Atmosphäre im Inneren einstimmt und zu den Umkleideräumen führt. Die Thermenlandschaft ist durch überdimensionale Steinblöcke strukturiert, die sich immer mehr öffnen, je weiter sie aus dem Hang ragen. Zenitales Streiflicht dringt durch weiße, schmale Streifen in der Decke in den Raum. Es unterstreicht optisch die raue Oberfläche der Steinmauern, während blau leuchtende Punkte die Wasseratmosphäre ins Spiel bringen. Die Materialität des Valser Quarzits bestimmt den gesamten Raum, horizontal und vertikal. Der Übergang ins Wasser ist vollkommen
Therapeutische Landschaft
112
1 Jean-Jacques Rousseau, Julie, ou La
Bildhauerei um 1900›, in: Buchholz 2001, Bd. 1,
gegen das etablierte Leben, Alitera Verl.,
nouvelle Héloïse (1761), Charpentier, Paris
215–222; ‹Deutsche Innerlichkeit. Die Wieder-
München 2009, 122ff.
1845 [=Rousseau (1761) 1845], 80.
entdeckung Caspar David Friedrichs um 1900
40 Rudolf von Laban, Ein Leben für den Tanz,
2 Jean-Jacques Rousseau, ‹Émile et Sophie,
und die Verbildlichung des reformerischen Na-
C. Reissner Verl., Dresden 1935, 195ff.
ou Les solitaires› (Publ. posthum 1781), in:
turverhältnisses›, in: Buchholz 2001, Bd. 2, 192.
41 Rudolf von Laban, in: Szeemann 1978, 129f.
Émile, ou De l’éducation (1762), Bd. 3, Lettre 1,
20 Friedrich Nietzsche, ‹Scherz, List und Rache.
42 Ibid. | 43 Ibid.
1865 [=Rousseau (1762) 1865], 18.
Ein Vorspiel in deutschen Reimen›, Nr. 27: ‹Der
44 Lilian Karina, Marion Kant, Hitler's Dancers:
3 Rousseau (1761) 1845, 80.
Wandrer›, in: Nietzsche (1882/1887) 1982, 23.
German Modern Dance and the Third Reich,
4 Vgl. Kai Buchholz, ‹Begriffliche Leitmotive
21 Vgl. Winfried Mogge, ‹Jugendbewegung
Berghahn Books, New York-Oxford, 2003.
der Lebensreform›, in: Buchholz Kai, Rita Lato-
und Wandervogel›, in: Buchholz 2001, Bd. 2,
45 Peter Meyer, ‹Sanatorium-Entwürfe für
cha, Hilke Peckmann, Klaus Wolbert (Hg.), Die
307.
Davos. Architekt Juraj Neidhardt›, in: Das
Lebensreform, Entwürfe zur Neugestaltung
22 Ida Hofmann, Monte Verità – Wahrheit
Werk, Bd. 17, Heft 4, 1930, 118–120.
von Leben und Kunst um 1900, Ausst.-Kat.,
ohne Dichtung. Aus dem Leben erzählt, 1906
46 Ibid.
Musum Künstlerkolonie, Inst. Maathildenhöhe
[=Hofmann 1906], 95.
47 Carl Marilaun, ‹Semmeringer Lidozauber›,
Darmstadt, 16. Juli bis 28. Oktober 2006,
23 Ibid, 23.
in: Semmeringer Nachrichten, 1932, Nr. 18, 2
Häusser Verl., Darmstadt 2001, 2 Bde. [=Buch-
24 Böhme 2001, 473.
[=S. N. 1932b].
holz 2001], Bd. 1, 41ff.
25 Hofmann 1906, 70.
48 Ibid.
5 Schopenhauer (1819), Kap.20, § 18.
26 Ibid., 46f. | 27 Ibid., 71.
49 ‹Schwimm- und Strandbad-Eröffnung des
6 Vgl. Böhme 2001, ‹Anfänge der Leibphiloso-
28 Laban 1920, 3.
Grand-Hotels Panhans am Semmering›, in:
phie vom 19. Jahrhundert›,in: Buchholz 2001,
29 Arnold Rikli, Es werde Licht und Es wird
Semmeringer Nachrichten, 1932, Nr. 16, 4 [=S.
Bd. 1, 149ff.
Licht!, 1894 (4. Aufl.), 21: ‹Unwillkürlich erweckt
N. 1932a].
7 Vgl. Wolfgang Riedel, ‹Homo Natura. Zum
dieser paradiesähnliche Zustand bei allen Teil-
50 Ibid.
Menschenbild der Jahrhundertwende›, in:
nehmern eine auffallende Heiterstimmung,
51 S. N. 1932b
Buchholz 2001, Bd. 1, 105.
Belebung, ein höheres Selbstbewußstsein!›
52 Semmeringer Nachrichten 1932a, 4.
8 Friedrich Nietzsche, ‹Von den Verächtern des
30 Adolf Just, Kehrt zur Natur zurück, A. Graff
53 Ibid., 62.
Leibes›, in: Friedrich Nietzsche, Also sprach Za-
Verlag, Stapelburg 1896, 91.
54 Erwin Poeschel, ‹Terrassenbau der Deut-
rathustra (1885), Magnus Verl., Essen 2003, 73f.
31 Frederik Jötten, ‹Fehldiagnosen in Davos›,
schen Heilstätte in Davos-Wolfgang. Architekt
9 Ibid., 74.
in: Neue Zürcher Zeitung vom 10.6.2012
Rudolf Gaberel›, in: Das Werk, Bd. 17, Heft 4,
10 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene
[=Jötten (2012) 2018], Stand 3.5.2018.
1930, 115f.
Fragmente, Herbst 1887, in: nietzschesource
32 Vincent Barras, Historisches Lexikon der
55 Ibid. | 56 Ibid.
2018, 54.
Schweiz, Auguste Rollier, www.hls-dhs-dss.ch.
57 A R., ‹Bauliche Sanierung der Heilstätte Du
11 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissen-
33 Louis Landouzy (um 1900), zit. n.: Philippe
Midi in Davos des Schweizerischen Betriebs-
schaft (1882/1887), 1982 [=Nietzsche
Grandvoinnet, Architecture Thérapeutique,
krankenkassen-Verbandes Winterthur: nach
(1882/1887) 1982], Fünftes Buch, Nr. 352: ‹In-
Histoire des sanatoriums en France, 1900–
den Plänen von Rudolf Gaberel, Architekt
wiefern Moral kaum entbehrlich ist›, 233.
1945, 2014 [=Grandvoinnet 2014], 13.
BSA, Davos›, in: Das Werk, Bd. 31, Heft 3, 1944.
12 Alfred Soder fertigte es 1907 für Friedrich
34 Charles Haye, Vizedirektor der Fürsorge
58 Ibid.
Berthold Sutter an.
und Hygiene (Dir.-adj. de l’Assistance et de
59 Victor Berger, ‹Le sanatorium de Plaine-
13 Rolf Wiggershaus, ‹Philosophie der Jahr-
l’Hygiène au ministère de la Santé publique,
Joux-Mont-Blanc à Passy (Haute-Savoie)›, in:
hundertwende in ihrem Verhältnis zur Lebens-
vgl: Archives privées de l’Institut de l’Actinolo-
L’Architecte, August 1929, Heft 8, 57–67.
reform. Von der Diskrepanz zwischen objektiver
gie, Éditeur G. Douin, 1935), zit. n.: Jean-
60 Vgl. Davide del Curto, ‹La costruzione della
und subjektiver Kultur›, in: Buchholz 2001,
Bernard Cremnitzer, Architecture de la santé.
rete sanatoriale italiana›, in: Il Villaggio Morelli
Bd. 2 [=Wiggershaus 2001], 31ff.
Le temps du sanatorium en France et en
di Sondalo. Identità paesaggistica e patrimonio
14 Ibid.
Europe, Picard, Paris 2005, 112.
monumentale, 211f.
15 Christian Benne, Nietzsche und die histo-
35 Jötten (2012) 2018.
61 Schweizerische Bauzeitung, Bd. 115/116,
risch kritische Philologie, Monographien und
36 Hofmann 1906, 23.
Heft 9, 2. März 1940, 105.
Texte zur Nietzsche-Forschung, De Gruyter,
37 Harald Szeemann, Monte Verità, Berg der
62 Egisto Corradi, ‹Sondalo, Alta Valtellina›,
Berlin 2005, 8.
Wahrheit, lokale Anthropologie als Beitrag zur
in: Corriere della Sera, 3.1.1952.
16 Wiggershaus 2001, 146.
Wiederentdeckung einer neuzeitlichen sakra-
63 Thierry Lefebvre, Cécile Raynal, Les solari-
17 Thomas Rohkrämer, ‹Natur und Leben als
len Topographie, Ausst.-Kat., Electa, Mailand,
ums tournants du Dr. Jean Saidman, Aix-les-
Maßstäbe für die Reform der Industriegesell-
1978, 121 [=Szeemann 1978].
Bains, Jamnagar, Vallauris, Verl. Glyphe, Paris
schaft›, in: Buchholz 2001, Bd. 1 [=Rohkrämer
38 Emil Schaeffer (Hg.), Sigfried Giedion.
2010.
2001], 80f.
Befreites Wohnen, Orell Füssli Verl., Zürich-
64 bid. | 65 Ibid. 112.
18 Ibid.
Leipzig 1929, 67f.
66 Peter Zumthor, A+U Special Edition, Tokio,
19 Vgl. Klaus Wolbert, ‹Das Erscheinen des re-
39 Ulrike Voswinckel, Freie Liebe und Anar-
1998, 138f.
formerischen Körpertypus in der Malerei und
chie: Schwabing – Monte Verità: Entwürfe
67 Ibid. | 68 Ibid. | 69 Ibid., 17f.
Vittorio Bonadé Bottino, Colonia montana Tina Agnelli, Fiat, Sauze d’Oulx, 1937
4
Kampf um das Kind
Baut Schulen auf dem Land, neben dem Stall, neben dem Misthaufen, lehrt die Kinder die Sonne nicht nur ästhetisch zu bewerten, sondern sie als Lebensspenderin zu achten […]. Das gäbe dann Menschen, die nicht aus dem Geleise geworfen wären, sondern Kultivierte, die in Sicherheit lebten, wo immer sie leben müssten.1 Adolf Loos, Stadt und Land, Neues 8 Uhr-Blatt, 1918
Die Alpen waren bereits in Jean-Jacques Rousseaus Augen
Weltkrieg in Italien, Frankreich, Österreich, Deutschland
der ideale Ort für die Erziehung heranreifender junger Men-
und der Schweiz erbaut wurden, ein. Vergleicht man die
schen. Mit der fortschreitenden Industrialisierung ergab sich,
Architektur der Kinderheime in diesen Ländern, so sticht
ergänzend zu den ursprünglichen ethischen Gründen, die
deren Unterschiedlichkeit ins Auge, die über Stilfragen weit
Notwendigkeit, Kinder aus gesundheitlichen Gründen in die
hinausreicht: Allein schon die darin angewandte räumliche
Berge zu schicken, um wenigstens zeitweise der verschmutz-
Anordnung verdeutlicht die ideologische und politische
ten Stadt zu entkommen. Das Konzept der Kinderkolonie
Thematisierung von Erziehung. Im Fokus der Betrachtung
entstand in der Schweiz, die ersten wurden im letzten Viertel
steht die hochpolitische Zwischenkriegszeit, weil sich die diver-
des 19. Jahrhunderts in den Schweizer Alpen gegründet. Zu
sen Erziehungskonzepte – zwischen Reform und Diktatur –
Beginn des 20. Jahrhunderts nahm die Zahl der Wohltätig-
am stärksten in der Architektur manifestierten. Es wird unter-
keitsaktivitäten generell zu, wobei die politisch-ideologische
sucht, inwiefern sich die erzieherische Dimension in der Form
Dimension immer gewichtiger wurde – denn mit der Kinder-
und Typologie der Gebäude artikulierte und diese Einfluss
erziehung stand und fiel die Zukunft, wie man entdeckte. Die
auf die Kinder ausübten. Architektur tritt als ‹Erziehungs-
Alpen wurden zum Schauplatz eines religiösen und politischen
maschine› in Erscheinung, als räumliche Umsetzung unter-
Streits um die Erziehung, der in den verschiedenen Ländern
schiedlicher Ideologien: ob avantgardistisch, rückwärtsgewandt
unterschiedliche Ausprägungen hatte: Protestanten, Katholi-
oder totalitär, Architektur ist nicht nur Ausdruck ihrer Zeit,
ken, Reformpädagogen, Sozialisten, Kommunisten und nicht
sondern auch des jeweiligen politischen Systems.
zuletzt auch die Faschisten – alle waren sie bemüht, Kinder-
Auf den philosophisch-pädagogischen Hintergrund wird
kolonien oder Kinderheime zu errichten, um nicht nur für
ebenso eingegangen wie auf die Architektur, wobei auch der
Gesundheit zu sorgen, sondern auch für die ideologische
Bezug zum Erhabenen beleuchtet wird. Der erste Schwerpunkt
Erziehung in ihrem Sinne, fernab vom Elternhaus.
ist Rousseaus Lehre und der daraus resultierenden Reformpä-
Dieses Kapitel spannt einen Bogen von der Aufklärung bis zum
dagogik gewidmet, der zweite dem Faschismus, welcher der
Faschismus und geht auf zahlreiche Beispiele von Kinder-
Reformpädagogik ein abruptes Ende setzte. Während das Er-
kolonien und Kinderheimen in den Alpen, die vor dem Zweiten
habene in der Aufklärung mit einem Freiheitsbegriff verbunden
115
Kampf um das Kind
Anonyme zeitgenössische Illustration zu Jean-Jacques Rousseau, ‹Émile ou De L'Éducation›
war (den die Schweizer Berge symbolisch verkörperten, wie
philosophische Schriften über die Erziehung erreichten eine
aus Addisons Schriften hervorgeht), setzte sich in der Romantik
große, internationale Reichweite und leiteten ein Umdenken
der gefühlsbetonte Aspekt durch. Die dadurch geschaffene
ein: kritisches Hinterfragen, selbstständiges Denken, Lernen
emotionale Basis (die weiterhin in den ‹wilden Bergen› einen
durch Naturanschauung und Entdecken der eigenen ‹inneren
idealen Ausdruck fand) wurde im 20. Jahrhundert mit dem
Natur› (anstatt der Befolgung vorgeschriebener Moral). Sein
Aufkommen der Moderne ‹umgepolt›: Als erhaben galt nicht
weit gesteckter Naturbegriff umfasste gleichermaßen die äußere
mehr die Natur, sondern der ‹neue Mensch› und seine Technik,
und innere Natur, ihr Streben nach Harmonie und geistiger Frei-
der die Natur im Zeichen des Fortschritts unterjochte. Seine
heit. Er war an die Schöpfung gebunden, die Rousseau als
Faszination für Technik und Macht instrumentalisierte der
gut ansah, weil sie ein harmonisches Gleichgewicht schaffe,
Faschismus, der versuchte, das ‹Erhabene› für seine ideologi-
während der Mensch alles denaturiere, inklusive sich selbst.
schen und politischen Zwecke zu benützen, was auch auf
So lauten die ersten Sätze in Émile ou De l’éducation (1762):
dem Gebiet der Kindererziehung Auswirkungen zeigte. In
‹Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Schöpfers hervor-
diesem Zusammenhang wird vor und nach den Abschnitten
geht; alles entartet unter den Händen des Menschen. Er
‹Italien› und ‹Deutschland› die Beziehung zwischen dem
zwingt ein Land, die Produkte eines anderen hervorzubringen,
‹Erhabenen› und der totalitären Politik näher untersucht (im
einen Baum, die Früchte eines anderen zu tragen; vermischt
Unterkapitel ‹Gefügige Körper› und ‹Macht und Furcht, Krite-
und vermengt die Klimata, die Elemente, die Jahreszeiten;
rien des Erhabenen?›).
[…] nichts will er so, wie es die Natur gebildet hat, nicht einmal den Menschen; man muß ihn wie ein Schulpferd für ihn
Jean-Jacques Rousseau, ‹Émile› und die Naturanschauung,
abrichten; man muß ihn wie einen Baum seines Gartens nach
1762
der Mode des Tages biegen.›2
Als geistige Wegbereiter der Erziehung in der Natur können
Ein der menschlichen Dressur entgegengesetztes Konzept
Albrecht von Haller (1708–1777) und Jean-Jacques Rousseau
formulierte Rousseau in seinen pädagogischen, philosophi-
(1712–1778) betrachtet werden. Insbesondere Rousseaus
schen und politischen Ideen, vordergründig in Form eines Romans, in der Beschreibung von Émiles Leben, der nach der Natur erzogen werden solle. Erziehung umschrieb Rousseau als ‹Kunst, den Menschen zu bilden› (‹l’art de former des hommes›), die zu seiner Zeit stark vernachlässigt sei. Er knüpfte an John Lockes Thesen an, die besagen, dass der menschliche ‹leere Geist› eine tabula rasa sei, die keinem angeborenen Plan folge, sondern mit Erfahrung ‹gefüllt› werde, ‹da er noch sehr jung war, [sah ich ihn] bloß als ein weißes Papier oder ein Wachs [an], welches man beschreiben oder bilden konnte, wie es einem beliebte›.3 Bei der auf Platon basierenden Erziehung sei die Entwicklung eines gesunden Körpers und tugendhaften Charakters essenziell, so wie die Auswahl eines geeigneten Studiums, so Locke. Rousseau baute auf dessen Thesen auf, stellte aber die Natur (im erweiterten Sinne) ins Zentrum seiner Erziehungstheorie: Émile solle bis zu seinem zwölften Lebensjahr durch Naturanschauung lernen, und nicht durch das Lesen von Büchern (außer Daniel Defoes Robinson Crusoe, 1719). Bevor Émile erwachsen werde, solle er reisen, um sich ein Bild von der Welt zu machen, wobei für ihn philosophisches Reflektieren
Kampf um das Kind
116
und wissenschaftliches Forschen im Vordergrund standen:
heranwachsenden Menschen sah er als Grundlage eines
‹Zu Fuß reisen, heißt reisen wie Thales, Platon und Pythagoras›,
gesunden Staats an – ein Gedanke, der sich im Laufe des
schrieb Rousseau im fünften Buch des Émile. Ein Philosoph
18. und 19. Jahrhunderts durchsetzte.
muss alles beobachten, was ihm begegne, sich für das Klima und die Landwirtschaft interessieren, für die Naturwissenschaft, die Steine und die Botanik: ‹Eure Philosophen, welche sich vor den Damen mit ihren
Frankreich. Unter direktem Blick des Être suprême
naturwissenschaftlichen Kenntnissen brüsten, haben dieselben in Naturalienkabinetten eingesammelt; sie wissen allerlei
Mit der Revolution 1789 gewann die Debatte über Erziehung
Firlefanzereien, sind mit den Namen bekannt, haben aber
und Schule in Frankreich, die in den 1760er Jahren durch
keinen Begriff von der Natur. Emils Kabinett ist dagegen weit
Rousseaus Émile einen Anstoß erhalten hatte, an Intensität,6
reicher ausgestattet als die umfangreichsten königlichen
denn es galt, sie der Kirche aus der Hand zu nehmen. Ab
Sammlungen, denn sein Kabinett umfaßt die ganze Erde.›
4
1792 setzten sich mehrere Abgeordnete der Convention
Auf seinen Reisen solle Émile die Sitten und Bräuche anderer
Nationale (Nationalversammlung) für eine verpflichtende all-
Völker kennenlernen und sich ein Urteil von unterschiedlichen
gemeine, laizistische (und somit staatliche) kostenfreie Grund-
Regierungsformen bilden. Die vergleichende Anschauung
schule für sechs- bis elfjährige Kinder ein, am 19. Dezember
könne ihn anregen, über den Contrat social (Gesellschaftsver-
1793 (le 29 frimaire an II) wurde das von Gabriel Bouquier
trag) nachzudenken. Da Émile aber überall, wohin er auch
(1739–1810) vorgelegte Gesetz angenommen. Louis-François
reist, mit staatszersetzendem Machtmissbrauch und persönli-
Portiez (1765–1810), ein Abgeordneter der Nationalversamm-
chen Interessen konfrontiert wird, zieht er sich aufs Land zurück,
lung, plädierte 1794 für die Einführung einer Schulreise in der
wo er geboren wurde, um seiner Natur gemäß zu leben.
zweiten Schulstufe (collège), Rousseaus Gedankengut aufneh-
Rousseau mahnte seinen Émile, dass er dabei seine Pflicht
mend: ‹Reisen regen die Phantasie an; sie geben dem Geist
nicht vergessen dürfe:
Halt; der Seele Lebenskraft; der Kraft Geschmeidigkeit; […]
‹Sei eingedenk, daß die Römer vom Pfluge zum Konsulat
durch das Reisen reifen Ideen, erweitert sich der Überblick,
[gingen]. Beruft dich der Fürst oder der Staat in den Dienst
schwinden Vorurteile. […] Citoyens, wie glücklich könntet ihr
des Vaterlandes, dann verlasse alles, um auf dem dir ange-
euch schätzen, wenn es die Möglichkeit gäbe, an sonnigen
wiesenen Posten die ehrenvolle Tätigkeit eines Bürgers aus-
Tagen eine gesamte Schule aufs Land zu verlegen, um dort –
zuüben. […] Übrigens braucht dich der Gedanke an die Last
mal im Schutze eines steilen Felsens, mal in der Dichte eines
eines solchen Amtes nicht sehr zu beunruhigen, denn solange
Waldes, mal in der Tiefe eines Tales, unter direktem Blick des
die Männer dieses Jahrhunderts nicht ausgestorben sind,
Être suprême [‹Höchstes Wesen› der Revolution] – Unterricht
wird man dich schwerlich in den Staatsdienst berufen.›5
über Tugend und Vaterlandsliebe abzuhalten.›7
Er sprach in weiser Vorahnung, denn sein Émile und der
Er trat für eine Schulreise ein, auf der die ‹jeunes gens› durch
Contrat social wurden in Paris und Genf verbrannt, ein Haft-
Anschauung der Natur, der Länder, Bräuche und Gewohnheiten
befehl wurde gegen ihn erlassen und er musste fliehen. Sein
breitere Kenntnisse erwerben sollten, unter der Leitung eines
Gedankengut floss erst mit der Französischen Revolution in
conducteur. Die Rolle dieser Erziehungsperson sei dabei,
die Politik ein, was er allerdings nicht mehr erlebte (er starb
gemäß Rousseaus Roman, eine wichtige, so Portiez, denn
1778).
diese müsse fähig sein, Kindern eigenständiges und kritisches
Rousseau wies in Émile auf die Wichtigkeit der persönlichen
Denken beizubringen, um gute republikanische Bürger zu
Entwicklung gemäß der ‹eigenen Natur› hin, während er in
werden. Er legte Wert auf ein ausgewogenes Verhältnis zwi-
Contrat social, ou Principes du droit politique (1780–1789),
schen körperlicher, intellektueller und moralischer Erziehung
das zu einer wichtigen Referenz für die Französische Revo-
und hob die Wichtigkeit von ‹langen Nachtmärschen im
lution wurde, la volonté générale (den Gemeinwillen) in
Wald› hervor: Kalte Temperaturen sollten den Körper gegen
den Vordergrund stellte. Die persönliche Entwicklung des
Krankheiten abhärten und den Geist gegen ‹das Reich der
117
Kampf um das Kind
Vorurteile› stärken. Durch einfache Kost kämen sie auf den
kolonien des Zürcher Pastors Hermann Walter Bion11 (1830–
‹Geschmack des Einfachen und Reinen› und ihre ‹Leiden-
1909) erfahren (siehe Abschnitt ‹Schweiz›), woraufhin sie ab
schaften› veränderten sich. Bei diesem erwünschten Ände-
1881 ein ähnliches Modell für arme Pariser Kinder einrichte-
rungsprozess spiele die Natur eine wichtige Rolle (die er
ten (1882 waren es 79 Kinder, 1897 bereits 1.13412). Damit
angesichts des politischen Kontexts als ‹einzige Alliierte
war in Frankreich der erste Schritt in Richtung eines sozialpä-
Frankreichs› bezeichnete – ‹la seule alliée de la France est la
dagogischen Netzwerks unter protestantischer Oberaufsicht
Nature› ):
getan. Wie Laura Lee Downs13 in ihrem Buch über französische
‹Auf der Reise werden unsere jungen Leute vom Schauspiel
Kinderkolonien ausführlich belegt, begannen sich daraufhin
der Natur beeindruckt sein, welches sich vor ihren Augen auf
staatliche wie katholische Institutionen für dieses Konzept zu
unterschiedlichste Weise abspielt. Frühling ist in jenem Tal,
interessieren, zu Beginn des 20. Jahrhunderts gesellten sich
welches vor den Böen gefährlicher Winde von dieser Berg-
auch sozialistische und kommunistische hinzu. Neben den
kette geschützt ist, deren Gipfel mit Schnee bedeckt sind.
gesundheitlichen Aspekten erkannten alle das erzieherische
Unfruchtbar bleiben die Felder, wenn sie der faule Bauer
Potenzial der Ferienkolonien, denn Kinder sind, fern der Eltern
nicht pflügt.›9
und von Zuhause, leichter zu beeinflussen.
Analog zum Émile sollten Schüler auf ihren Reisen durch
Auf staatlicher Seite setzte sich Edmond Cottinet (1824–1895),
diverse Länder Europas auch dazu angehalten werden, die
Vorsitzender der Caisse des écoles (Schulverwaltung) des
lokale Bevölkerung nach ihrer Meinung zu politischen, admi-
IX. Pariser Bezirks, dafür ein, dass vor allem Kinder aus ärmlichen
nistrativen und gerichtlichen Institutionen zu befragen: ‹Umso
Verhältnissen an die frische Luft kamen, die häufig an Rachitis
mehr würde der Franzose beim Zurückkommen die Konstitu-
und Tuberkulose litten. 1883 ermöglichte er mithilfe öffentlicher
tion des Landes zu schätzen wissen, das Zeuge seiner Geburt
Unterstützung neun Mädchen und neun Buben einen Sommer
war!›10
auf dem Land, woraufhin er stolz verzeichnete: ‹In vierzig
Während Rousseaus Émile noch darauf wartete, dass man ihn
Tagen haben sie sieben Kilogramm zugenommen.› Vier Jahre
hole, um sich als Citoyen aktiv an der Politik des Staates zu
später waren es bereits 315 Kinder,14 die für drei Wochen in
beteiligen, zitierte man ihn zur Revolutionszeit mit Vorliebe
Bauernfamilien untergebracht waren. Ab 1887 nahm die Zahl
herbei. Der Rückzug ins empfohlene ‹idyllische Landleben›
der staatlich geförderten Schulkolonien rasch zu.
war damit für einen Jugendlichen nicht mehr möglich, er
Daraufhin begann auch die katholische Kirche, sich unter
wurde nun als denkender, freier Bürger gebraucht. Allerdings
dem Deckmantel der Fürsorge um die Kindererziehung zu
musste seine Erziehung zum ‹guten Citoyen› erst institutionell
bemühen, die ihnen von der Französischen Revolution aus
organisiert werden.
der Hand gerissen worden war. Im Gegensatz zu den staatli-
Die Umsetzung von Portiez’ Vision der Schulreise verschob
chen und protestantisch-liberalen Organisationen, die vor
sich aufgrund politischer Ereignisse um ein weiteres Jahrhun-
allem die Verbesserung des kindlichen Gesundheitszustands
dert. Die allgemeine Grundschulpflicht wurde bereits nach
anvisierten, hatten sie die Absicht, sich vor allem um die mora-
weniger als einem Jahr in der Réaction thermidorienne
lische Erziehung der ‹verlorenen Seelen› zu kümmern. So ent-
(1794–1795) wieder abgeschafft; erst in der III. Republik
stand gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein wahrer Kampf
gelang es Jules Ferry (1832–1893), Minister für öffentlichen
um die Kinder, zu einer Zeit, als sich die politische Lage im
Unterricht, die allgemeine Grundschulpflicht 1882 erneut ein-
Zuge der Dreyfus-Affäre zuspitzte.15 Abbé Bruneau begehrte
zuführen. Bald nach den ersten organisierten Schulreisen
1902 vehement gegen den Staat auf, wie auch gegen sozia-
folgte die Gründung erster Kinderkolonien.
listische und protestantische Organisationen:
8
‹Der Staat verabsäumt nichts, um dies zu fördern; die Sozialisten Ideologischer Streit um die Kinderkolonien
und Protestanten haben ihre «Reisen» in die Berge großmaß-
Die ersten colonies de vacances in Frankreich wurden von
stäblich angelegt. Es ist bemerkenswert, was unsere Feinde
der protestantischen Kirche organisiert. Pastor Théodore
alles tun, um die Seelen unserer Kinder zu entchristianisieren.
Lorriaux und seine Frau Suzanne hatten 1880 von den Kinder-
Angesichts der Entwicklung der Schülerkolonien durch die
Kampf um das Kind
118
Kinderkolonie der SNCF, Méribel-les-Allues, um 1956
Religionsfeinde, ist es unsere Pflicht zu reagieren und mit den
trächtlicher Leistungen auf
laizistischen Organisationen in Konkurrenz zu treten.›
diesem Gebiet: Im Jahr
16
Um sich den Kindern annähern zu können, müsse man sich
1938 gab es laut offiziellen
um ihre Schwächen kümmern, schrieb er, denn über diese
Angaben 4.906 Kolonien für
seien sie am leichtesten zu beeinflussen, insbesondere abends,
772.000 Kinder.20 Downs
vor dem Einschlafen. Das katholische Erziehungskonzept
vermutet, dass Mussolini
solle daher auf ‹Einfühlung und Vertrauen› aufbauen, wie in
und sein faschistisches
der 1905 erschienen Broschüre Comment organiser une
Regime diese Leistung
colonie de vacances (Wie man eine Ferienkolonie organisiert)
möglicherweise als nationale
festgehalten ist, um sie auf den ‹guten Weg› zu bringen.
Errungenschaft feiern wollten und niemanden entsandten,
Kongresse für Ferienkolonien – Versuch einer Einigung
um sich nicht der Kritik auszusetzen: Denn sie unterstellten
Angesichts der heiklen interkonfessionellen Lage versuchte
die Pädagogik ganz gezielt der Politik und waren keineswegs
Pastor Louis Comte (1857–1926) im Jahr 1906 einen gemein-
daran interessiert, Weisungen und Ratschläge anhören zu
samen Kongress zu organisieren, der vorerst an Streitigkeiten
müssen, die für eine Trennung von Politik und Pädagogik
mit den katholischen Institutionen scheiterte. Auf dem vierten
plädierten. Auf dem Kongress wurde tatsächlich die politische
‹Congrès national des colonies de vacances› (Nationaler Kon-
Ausrichtung der Ferienkolonien kritisiert: Nicht die Quantität,
gress zur Organisation von Ferienkolonien) in Paris 1910
sondern die Qualität solle beachtet werden, hieß es warnend.
wurde folgende Statistik präsentiert: In den Jahren seit 1900
Zum ersten Mal standen nicht mehr Hygiene und Gesundheit
war die Zahl der Kinder, die daran teilnahmen, fast auf das
im Vordergrund der Debatte, sondern die Rolle des Erziehers
Zehnfache angestiegen, von 8.200 auf 72.866,17 Im Vergleich
sowie die Individualität der Kinder, die zu wahren sei (während
mit manchen anderen Ländern wurden weit weniger französi-
italienische Anstalten deren Gleichschaltung praktizierten).
sche Schulkinder von staatlichen Organisationen betreut: nur fünf Prozent, während in Dänemark 40 Prozent aller Kinder
Sozialistische Kinderrepublik
jährlich fünf bis sechs Wochen auf einem Bauernhof verbringen
Auch die Sozialisten wetteiferten um die Erziehung. In Frank-
konnten.18 ‹Machen wir es wie Dänemark!›, hieß es daraufhin
reich wurden im Jahr 1930 nach österreichischem Modell die
ambitioniert. Nach dem Ersten Weltkrieg besserte sich die
Roten Falken gegründet und organisierten ab 1932 Kinderferien-
Lage: Im Sommer 1913 hielten sich 100.000 Kinder in Kolonien
kolonien auf dem Land und in den Bergen, unterstützt von
auf, 1932 bereits mehr als 320.000.19 Der dänische Prozentsatz
den protestantischen Pfadfindern. Der in der deutschen
konnte in Frankreich allerdings nie erreicht werden.
Bildungspolitik engagierte sozialistische Politiker Kurt
Der Punkt, ob es besser sei, Kinder bei Bauern unterzubringen
Löwenstein (1885–1939) musste 1933 wegen zahlreicher
(was nicht immer ein Erfolg war, weil manche Gastfamilien
Repressalien der SA nach Frankreich emigrieren, wo er sein
Kinder nur aus finanziellen Gründen, gegen ein geringes
Engagement fortsetzte. Er führte das pädagogische Modell
Tagesgeld aufnahmen) oder eigenständige Kolonien einzu-
der Kinderrepublik ein: Spielerisch sollten sie reelle Situationen
richten, stand permanent zur Diskussion. Anfangs adaptierte
der Unterdrückung durch Herrschaftsstrukturen aufarbeiten,
man dafür meist Schulgebäude oder andere leerstehende
wobei es um das Ausklügeln von Strategien ging, sich durch
öffentliche Gebäude. Erst in der Zwischenkriegszeit wurden
Gruppendynamik zu befreien. Die Kinder wählten ihre Vertreter
eigens Bauten errichtet, wobei als Vorbild die kostengünstigen
wie in einer wirklichen Republik.
Kriegsbaracken oder andere existierende Gebäudetypen
Er organisierte auch internationale Falkencamps (Zeltlager),
dienten, wie Sanatorien und Kurhäuser.
um eine auf Demokratie und Freiheit gegründete Erziehung
Im Jahr 1937 fand in Paris der ‹IIIe Congrès international des co-
zu verbreiten. Les Faucons rouges hatten jedoch relativ
lonies de vacances› (3. Ferienkolonien-Kongress) statt. Diesmal
wenige Mitglieder, lediglich 2.000 während der französischen
beteiligte sich keine Delegation aus Italien daran, trotz be-
Linksregierung Front populaire von Léon Blum (1936–1937);
119
Kampf um das Kind
oder anderen infektiösen Krankheiten litten, nicht aufgenom-
auch die Kommunistischen Pioniere verzeichneten wenig Zulauf, im Jahr 1935 hatten sie nicht mehr als 1.000 Kinder.
21
men werden durften. Allerdings gingen die Ausschlussmaßnahmen weit über die hygienische Argumentation hinaus:
Kindererholungsheime in den französischen Alpen
Um das Image des aufsteigenden Wintersportorts nicht zu
In den französischen Alpen gab es mehrere Hochburgen für
beeinträchtigen, war selbst denjenigen der Aufenthalt unter-
Kindererholungsheime und Ferienkolonien, zu den wichtigsten
sagt, die eine physische oder geistige Behinderung aufwiesen,
Standorten zählten Villard-de-Lans auf dem Plateau du Vercors
weil sie mit dem ‹Geist von Saint-Gervais nicht kompatibel›
und die Haute-Savoie, insbesondere die am Fuße des Mont
seien.23
Blanc gelegenen Orte Saint-Gervais und Megève. Meistens
Anfänglich wurden Kinderheime in bestehenden Häusern
erfolgte durch die etappenweise Einrichtung von Kurhäusern,
untergebracht und meist von Familien betrieben, erst gegen
Sanatorien und Kinderpensionen eine sukzessive ‹Inbesitz-
Ende der 1920er Jahre entstanden in den französischen
nahme› der Ortschaften. Mit der aufkommenden Hygiene-
Alpen für diesen Zweck entworfene Bauten. Sie lehnten sich
bewegung und dem damit verbundenen Streben nach
an traditionelle Bauweisen mit auskragenden Satteldächern
Höhenluft und Sonne ging die Entwicklung des Wintersports
an, waren aber an den Südfronten mit großzügigen Kurbal-
einher. Dabei kam es oft zu Überschneidungen, die allerdings
konen ausgestattet. Ähnlich wie in der Schweiz setzte sich bei
nicht immer glimpflich ausgingen. Es entstand ein Interessen-
diesen Gebäuden der Regionalismus durch, möglicherweise
konflikt, der zu einer eindeutigen Trennung von Gesunden
um sie von den in der ganzen Gegend gefürchteten
und Kranken führte.
‹Maschinen der Hygiene› zu differenzieren.
1928 erließ die Hygienekommission von Villard-de-Lans (das
Dies kann anhand dreier Bauten von Henry Jacques Le Même
übrigens mit einer Straßenbahn direkt an die Industriestadt
illustriert werden, der in den 1920er und 1930er Jahren sämtli-
Grenoble angebunden war) ein Dekret gegen Tuberkulose-
che Kinderpensionen in Megève errichtete. Für die Kinder-
kranke, um den ‹guten Ruf› des Kurorts ‹nicht in Gefahr zu
pension Chez Nous (Projekt 30) modernisierte er die tradi-
bringen›. Unter dem Titel Die Diktatur der Gesundheit erschien
tionelle Bauweise und Formensprache durch die Adaptierung
vier Jahre später, am 24. Oktober 1932, ein für die Kurstadt
seines begehrten, für den Wintersporttourismus entwickelten
werbender Artikel in einer lokalen Zeitung, der mit der rheto-
‹Chalet- Stils›. Die Höhenschule Le Hameau hingegen plante
rischen Frage begann: ‹Wie kann sich Villard-de-Lans, Kurort
er im Stil der Moderne als L-förmigen Baukörper mit Flach-
für nicht tuberkulöse Kinder, gegen den Tuberkulosebazillus
dach, der mit einer dynamischen Rundung über den Abhang
schützen?› Es folgte die Schilderung, wie infizierte Patienten
auskragt (Projekt 31). Das Kindersanatorium Roc des Fiz auf
von ihrem Territorium ferngehalten werden: durch ärztliche
dem Plateau d’Assy, das er 1932 mit Pol Abraham erbaute,
Kontrollen der Gäste und durch eine an die Hoteliers gerich-
zeichnet sich durch eine innovative Typologie und eine
tete Drohung einer Sperrung ihrer Wasserleitung, falls bei
moderne Formensprache aus (Projekt 25, in Kapitel 3).
ihnen ein Tuberkulosefall entdeckt werde.
Die Auswahl dieser drei Projekte lässt den Schluss zu, dass
Dieses Dekret der Ausgrenzung sei die ‹schönste, uns be-
für Kinderheime bewusst ein regionaler Stil gewählt wurde,
kannte Initiative im Kampf gegen die Plage der Menschheit:
während für institutionelle Bauten wie Schulen und Sanatorien
die Tuberkulose›.
der Stil der Moderne geeigneter schien. Die stilistische Plura-
22
Das Kurdorf Saint-Gervais entwickelte ein effizientes System
lität ein und desselben Architekten (innerhalb einer Region
für krankheitsgefährdete Kinder von Patienten, die sich in
und in derselben Zeitspanne) veranschaulicht, dass es je nach
einem Sanatorium auf dem gegenüberliegenden Plateau
Programm unterschiedliche stilistische Vorstellungen und
d’Assy auskurierten: Vorbeugenderweise wurden deren Kinder
Anforderungen gab.
systematisch bei Familien im Ort untergebracht. Auch hier
Der vom revolutionären Frankreich getragene Grundsatz
erließ man ein Dekret, demzufolge Kinder, die an Tuberkulose
Rousseaus, Kinder in der Natur aufwachsen zu lassen, um durch deren persönliche Entwicklung eine gute Grundlage
30
Henry Jacques Le Même, Kinderpension Chez Nous, Megève,
eines gesunden Staats aufzubauen, hatte sich 140 Jahre später –
Haute-Savoie, 1935 31
Henry Jacques Le Même, Höhenschule und Internat Le Hameau, Megève, 1933–1935
120
‹Prasura, Sonnenbahn im Winter›, Diagramm des Sonnenverlaufs in Arosa
nach mehreren Kämpfen um die ideologische Ausrichtung der zukünftigen Citoyens – schließlich durchgesetzt, um die körperliche Gesundheit des ‹neuen Menschen› zu garnatieren.
Schweiz. Ihr Schüler der Natur, ihr kennt noch güldne Zeiten! Albrecht von Hallers (1708–1777) berühmtes Gedicht ‹Die Alpen› (1729) trug zur Idealisierung der Berge als Ort der Lehre bei. Sein darin manifestierter Naturbegriff impliziert einen Freiheitsbegriff: Haller erhob die Natur über die Schule, das Herz über den Geist, denn was in den Bergen zu
und handwerklichen Kräfte der Kinder allseitig und harmo-
lernen sei, gehe weit über akademisches Wissen hinaus. ‹Ihr
nisch zu fördern, und gab 1801 seine erste Erziehungsanlei-
Schüler der Natur, ihr kennt noch güldne Zeiten!›, schrieb er,
tung heraus: Wie Gertrud ihre Kinder lehrt. Die ganzheitliche
das Landleben der Bauern verherrlichend, und stellte dem
Volksbildung war sein Ziel, um Menschen ein selbstständiges
verstaubten Schulwissen das einfache, auf Naturanschauung
und kooperatives Dasein innerhalb einer demokratischen
fußende Leben entgegen: ‹Was Epiktet getan und Seneca
Gesellschaft beizubringen. Diese neue Pädagogik, die im Ge-
geschrieben, sieht man hier ungelehrt und ungezwungen
gensatz zu den herrschenden Erziehungsmethoden nicht auf
üben.› Sein Gedicht trug nachhaltig zur Bildung der Schweizer
Autorität und Disziplin beruhte, sondern auf der persönlichen
Identität und somit des Nationalbewusstseins bei,25 wobei
Entwicklung des Kindes, leitete einen Umbruch in der Erzie-
sich das redliche Landleben und die Berge als Inbegriff der
hungspolitik ein.
24
freien Schweiz manifestierten (siehe Addison, Kapitel 1). Auch Rousseaus aufklärerisches Erziehungstraktat war von
Pastor Bions Kinderkolonien als ‹utopische Siedlungen› in
großer Wichtigkeit, denn es wurde zum Vorbild sämtlicher
den Bergen
pädagogischer Lehren, die sich von der Aufklärung bis ins
Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung und der rasant
20. Jahrhundert unentwegt weiterentwickelten. Rousseaus
anwachsenden Armut der Fabrikarbeiter hat man sich in der
theoretische Gedanken setzte erstmals der Zürcher Johann
Schweiz vermutlich nur allzu gern an Albrecht von Hallers Ge-
Heinrich Pestalozzi (1746–1827), der Émile unmittelbar nach
dicht erinnert, denn die Industrialisierung drohte genau das
dessen Erscheinen gelesen hatte, in der Erziehung seines
zu zersetzen, was in den vorangegangenen Jahrhunderten
1770 geborenen Sohnes um (während sich Rousseau auf
langsam aufgebaut worden war, nämlich das auf der Naturidylle
theoretische Schriften konzentrierte und seine Kinder dem
beruhende Schweizer Nationalbewusstsein. Angesichts des
Kinderamt anvertraute). Pestalozzi gilt als Vorläufer der An-
zunehmenden Elends und bedrohlicher Krankheiten sollte
schauungspädagogik und der daraus entstandenen Reform-
die sich verlierende Idylle wenigstens zeitweise den verarmten,
pädagogik, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts thematisiert
kränklichen Stadtkindern zugänglich gemacht werden, damit
wurde. Obwohl er mit dem Versuch, seinen Sohn gemäß
sie in der Natur gesunden und zu Kräften kommen konnten.
Rousseaus Abhandlung zu erziehen, kläglich scheiterte (auf-
Der Zürcher Pastor Hermann Walter Bion (1830–1909) initiierte
grund der großen väterlichen Ansprüche), ließ er sich nicht in
die ersten Kinderferienkolonien in den Schweizer Alpen, die
seinen pädagogischen Ambitionen entmutigen. So gründete er
bald darauf anderen Ländern als Vorbild dienten (wie zum
eine Armenanstalt auf dem Neuhof (1774–1780), bald darauf ein
Beispiel Frankreich und Österreich). Er verwendete den
Waisenhaus in Stans (1799) und schließlich zwei pädagogische
Namen ‹Kolonie›, um auf utopische Siedlungsprojekte zu
Institute in Burgdorf (1800–1804) und Yverdon/Iferten (1804–
verweisen. Im Jahre 1876 schickte er 68 Zürcher Kinder für drei
1825). Er war bestrebt, die intellektuellen, sittlich-religiösen
Wochen zu Bauern im Appenzellerland. Dreimal pro Woche
121
Adolf Loos (1870–1933), um 1920
Eugenie Schwarzwald (1878–1940), 1923
wurden dort kollektive Spiele organisiert, damit die Kinder
verwendete man in der Schweiz weiterhin regionale Baufor-
nicht für die tägliche Feldarbeit ausgenutzt werden konnten,
men für Kinderpflegeheime. Diese mussten allerdings an den
die für ihre geschwächten Körper zu schwer war. Die Zahl der
Maßstab der neuen Nutzung und an die medizinischen Anfor-
Kinderkolonien stieg rasch an.
derungen angepasst werden, wodurch eigenartige, überdi-
Auf sozialistischer Seite gab es zwei Gründungen, eine der
mensionierte ‹Bauernhäuser› mit Satteldach entstanden, wie
Kinderfreunde durch Albert Hofer 1922 in Biel, welche in ihrer
das Jugendkurhaus Prasura in Arosa illustriert, das mit
Blütezeit 3.000 Kinder betreute, und die der ersten Schweizer
Glasbausteinbalkongeländern ausgestattet wurde, um eine
Roten Falken durch die Geschwister Zöbeli 1929 in Zürich.
maximale Belichtung zu gewährleisten (Projekt 32).
In der Schweiz entstanden kaum Neubauten für Kinderkolo-
In den 1930er Jahren gab es vereinzelt Ausnahmen wie die
nien, meist wurden bestehende Häuser umgenutzt bzw. ein
Kinderheilstätte Heimeli in Unterägeri, Kanton Zug, von
Aufenthalt bei Bauernfamilien organisiert, um den Kindern
Dagobert Keiser oder das Kinderheim Mümliswil im Jura von
Heimatmosphäre und Entfremdung zu ersparen. Die
Hannes Meyer (Projekt 33). In Bezug auf deren Gebäudeform
Haller‘sche Devise, die Lehre
orientierten sich die Architekten am Stil der Moderne (mit
der Natur mit dem Herzen
Flachdach), stellten jedoch einen Bezug zur waldigen
wahrzunehmen, mochte
Umgebung her, indem sie (vor allem aus ökonomischen Grün-
auch für die ‹kolonisierten
den) Holz verwendeten. Das Kinderheim Mümliswil spiegelt
Kinder›, wie man sie nannte,
den Zusammenhang zwischen Ideologie und Form klar wider,
gegolten haben, die man in
denn laut Bernhard Jäggi, Begründer des Kinderheims und
das bäuerliche Leben (das
langjähriger Leiter des Coop (einer damals gegründeten
Haller als Idylle darstellte) zu
Konsumgüterkooperative), sollte auch die Anlage ‹[…] erzie-
integrieren suchte.
herisch im genossenschaftlichen Geiste auf die Kinder einwir-
In den 1920er Jahren wur-
ken›.26
den die ersten Kinderer-
Der Architekt Hannes Meyer übersetzte das Programm in eine
holungsheime in den
entsprechende räumliche Anordnung und generierte eine
Schweizer Alpen errichtet,
Form, die den ideologischen Vorstellungen des Bauherrn
meistens nicht im Stil der
gerecht wurde, indem ein runder Tisch in einem runden Raum
Moderne, sondern im viel-
allen gleichermaßen Ausblick auf die Natur gewährte.
mehr ‹beruhigenden›
Interessant ist, dass hier ausdrücklich ein demokratisches Prinzip
Heimatstil. Selbst im Fall von
formgebend für den Raum sein sollte, das den Blick auf die
medizinischen Kinderpflege-
Natur, von einer verglasten Rotunde aus gesehen, in den
heimen und Kindersanatorien
Vordergrund stellte. In der Natur sein und diese dabei auch zu
setzte sich die Moderne
betrachten, gehörte hier zum Programm, das Hannes Meyer
kaum durch. Trotz der stren-
mittels Ausblick- und Nutzungsdiagrammen veranschaulichte.
gen medizinischen Hygiene-
Die Vermischung von Natur mit demokratischer Freiheit, die
anforderungen (die sich,
hier räumlich interpretiert wird, finden wir bereits in Hallers
architektonisch gesehen,
Alpengedicht: ‹wo die Freiheit herrscht, wird alle Mühe
allgemein in der radikalen
minder›, heißt es dort, um ein paar Zeilen später auf das
Ornamentlosigkeit der
Lernen durch die Natur hinzuführen: ‹Man bindet die Vernunft
Kurhäuser und Sanatorien
an keine Schulgesetze, und niemand lehrt die Sonn in ihren
äußerten, wie es die Pro-
Kreisen gehen.›27
jekte von Rudolf Gaberel in Kapitel 3 veranschaulichen) 32
Alfons Rocco und Jakob Licht, Jugendkurhaus Prasura, Arosa, 1928
33
Hannes Meyer, Kinderheim Mümliswil, Jura, 1938–1939
122
Österreich. Baut Schulen auf dem Land, neben dem Stall, neben dem Misthaufen
für jedes schlechte Variété, für jedes überflüssige Kaffeehaus.›31 Als sich das Vorhaben bereits in einem fortgeschrittenen Stadium befand und Loos’ Pläne fertiggestellt waren, jedoch
Rousseaus Devise, gemäß der Kinder in der Natur aufwachsen
immer noch das nötige Geld fehlte, um mit dem Bau zu be-
sollen, um aus ihr zu lernen, ist auch den Worten von Adolf
ginnen, wandte sich Schwarzwald an ihren gesamten Bekann-
Loos zu entnehmen: ‹Sei wahr! Die natur hält es nur mit der
tenkreis mit der Bitte um private Förderung. Selbst ihre
wahrheit.› Seiner Auffassung nach solle das Einfache, Rationale
Schülerinnen investierten daraufhin ihr Taschengeld in Anleihen,
und Fortschrittliche über das Pittoreske und Verkleidende
bis schließlich 1914 der erste Spatenstich erfolgen konnte.
gestellt werden. Er wehrte sich gegen die Ästhetisierung der
Der plötzliche Ausbruch des Ersten Weltkriegs setzte dem
Natur; Kinder sollen sie nicht ästhetisch wahrnehmen lernen,
Projekt ein abruptes Ende.
sondern in ihr leben und aus ihrem zyklischen Schaffenspro-
Eugenie Schwarzwald initiierte in den Kriegsjahren angesichts
zess lernen. Loos hatte 1912 einen Entwurf für Eugenie
der großen Armut der Stadtbevölkerung die Wohltätigkeits-
Schwarzwalds Schulprojekt auf dem Semmering angefertigt
aktion ‹Wiener Kinder aufs Land›. Es entstanden zwei Kinder-
(Projekt 29), für das er sich in seinem Vortrag ‹Stadt und
heime auf dem Semmering (in Küb und am Wolfsbergkogel),
Land› einsetzte, den er am 12. Oktober 1918, kurz vor dem
eines in Reichenau an der Rax, weitere in Mödling, Bad Ischl,
Ende des Ersten Weltkriegs, im Rahmen des Vortragszyklus
Bad Fischau, Waidhofen an der Ybbs und in Bad Topolschitz
‹Äußere Kultur im 20. Jahrhundert› hielt:
(Topolšica, ein Stadtteil von Šoštanj/Schönstein, heute
‹Baut Schulen auf dem Land, neben dem Stall, neben dem
Slowenien). 1916 konnten bereits etwa 4.000 Kinder von den
Misthaufen, lehrt die Kinder die Sonne nicht nur ästhetisch zu
Ferien-kolonien profitieren (darunter der spätere Philosoph
bewerten, sondern sie als Lebensspenderin zu achten. Das
Karl Popper und der Regisseur Joseph Glücksmann, Dramaturg
ganze Jahr müssen Kinder auf dem Lande leben, in inniger
am Volkstheater ab 1949, am Burgtheater ab 1953). Der
Fühlung mit den Jahreszeiten, im Feld, im Wald und auf der
Harthof bei Gloggnitz diente anfangs nur während der
Wiese. Das gäbe dann Menschen, die nicht aus dem Geleise
Sommerferien, ab 1912 permanent als Landschule für Jugend-
geworfen wären, sondern Kultivierte, die in Sicherheit lebten,
liche von zwölf bis 18 Jahren. Ab 1933 half Schwarzwald
wo immer sie leben müssten.›
jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland, 1938 musste sie
28
29
Das ambitionierte Projekt wurde von Eugenie Schwarzwald
selbst emigrieren, in die Schweiz. Ihr Eigentum wurde arisiert
initiiert, die 1911 das erste Mädchengymnasium in Wien er-
und die Schulen geschlossen. Die meisten ihrer Schülerinnen
öffnete. Sie engagierte sich außerdem für die Gesundheit
mussten ebenfalls flüchten oder wurden im Nationalsozialis-
kränklicher Großstadtkinder und organisierte für sie, nach
mus ermordet.
Schweizer Modell, Ferien bei Bauern auf dem Land. Um den
Auch die 1908 gegründeten Kinderfreunde setzten sich für
Kindern auch längerfristig ein gesundes Landleben zu er-
die Erholung der Arbeiterkinder ein und schickten sie zur
möglichen, plante sie 1911 die Errichtung einer Schule für
Genesung aufs Land. So wurde 1915, mitten im Krieg, ihre
200 Kinder auf dem Semmering und beauftragte Adolf Loos
erste Erholungsstätte auf dem Schafberg in Wien eingerichtet.
mit ihrem Entwurf. Während des Schuljahrs sollte diese als
Zu Kriegsende zählten die Kinderfreunde etwa 10.000
Internat dienen und die restliche freie Zeit als Erholungsheim.
Mitglieder, zu Beginn der 1920er Jahre bereits 55.000. Otto
1912 erfolgte die Gründung des Vereins ‹Semmering-Schul-
Felix Kanitz übernahm 1919 die Leitung der reformpädagogi-
gesellschaft›, der die ‹Errichtung und den Betrieb von Schulen
schen ‹Erzieherschule› in Schloss Schönbrunn, mit Internat
[…] und Schülerinternaten für Knaben und Mädchen auf dem
und Kinderheim. Die Kinderfreunde fusionierten 1925 mit
Semmering› bezweckte, ‹in Gemäßheit der das Schulwesen
dem Verein Freie Schule, der sich bereits seit 1905 mit dem
regelnden Gesetze und Verordnungen›. Allerdings erhielten
Motto ‹Mehr Licht in die Köpfe, in die Schulstuben› für ein
sie nur geringe öffentliche Unterstützung, wie Loos 1918
reformiertes Schulwesen eingesetzt hatte. Ebenfalls 1925
beteuernd schrieb: ‹So war für das Erziehungsheim auf dem
erfolgte die Gründung der Roten Falken, ein eigener Verband
Semmering vor dem Kriege nicht so viel Geld zu haben als
für zwölf- bis 15-jährige Jugendliche, die in den Ferien
30
Adolf Loos, Schwarzwaldschule auf dem Semmering, 1911–1912 123
Kampf um das Kind
29
Kinder der italienischen Jugendorganisation Balilla bei einer Begrüßungszeremonie anlässlich eines Staatsbesuchs
Kinder der Balilla vor dem Turm der Kinderferienkolonie von Fiat, Marina di Massa
250 seiner Mitglieder engagierten sich im Spanischen Bürgerkrieg oder als Partisanen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die sozialistischen und kommunistischen Jugendverbände ihre Aktivitäten fortsetzen. So waren die um die Jahrhundertwende aufgekeimten Reformbestrebungen, die durch eine natürlichere Lebensform einen neuen Weg zur Zivilisation und freieren Erziehung suchten, nach einer kurzen Blütezeit mit einem Schlag vernichtet worden. Loos’ Vision, dass die ‹Wahrheit› der Natur ‹Menschen [hervorbrächte], die nicht aus dem Geleise geworfen wären, sondern Kultivierte, die in Sicherheit lebten, wo immer sie leben müssten›, konnte sich in diesem politischen Kontext nicht weiter entfalten. Um die Natur war vielmehr ein Wettkampf zwischen den verschiedenen politischen Gruppierungen entstanden, im Bestreben, sie als Zeltlager veranstalteten und ein internationales Netzwerk
Rahmen für die Erziehung der Jugend zu nutzen.
aufbauten. Seit der Ausschaltung des österreichischen Parlaments im März 1933 regierte der christlich-soziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß diktatorisch und besiegelte den
Gefügige Körper
austrofaschistischen Ständestaat mit der sogenannten Maiverfassung 1934. Infolge des Verbots der Sozialdemokratischen
Nachdem der ideologische Kampf um das Kind zwischen
Arbeiterpartei zu Beginn der Februarkämpfe 1934 wurden
Staat und Kirche, Protestanten und Katholiken und später
alle österreichischen sozialistischen Jugendorganisationen
Sozialisten im Kapitel ‹Frankreich› eingehender thematisiert
aufgelöst und ihr Besitz beschlagnahmt. Zu diesem Zeitpunkt
wurde, befasst sich der folgende Abschnitt mit der faschisti-
betreuten die Kinderfreunde 122.000 Kinder, die Roten Falken
schen Erziehungspolitik. Auch darin spielten die Alpen eine
15.000 Jugendliche. Die Kommunisten hatten 1918 den
wichtige Rolle, und zwar als erzieherisches ‹Neuland›.
Kommunistischen Jugendverband gegründet, der sich in der
Im frühen 18. Jahrhundert dienten die ‹wilden Berge› als An-
Zwischenkriegszeit insbesondere im Kampf gegen den Faschis-
schauungsbeispiel einer neuplatonischen Sichtweise der Welt
mus einsetzte. Auch er wurde 1934 zwangsaufgelöst;
und galten als Symbol aufklärerischer Bildung (deshalb war es naheliegend für Rousseau, sie als idealen Ort für die Erziehung des Émile zu wählen). In der Romantik verdrängte eine dualistische Sichtweise die vereinheitlichende, versöhnende Auffassung der Aufklärung. Im 19. Jahrhundert prägten furchterregende Elemente das Erhabene, fanden in tiefen Schluchten (Tod und Teufel) eine ideale bildliche Entsprechung und reüssierten in Kunst und Musik. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte ein Bruch und die einstmals erhabene wilde Natur wurde als idealer Rahmen für den gesunden, sportlichen Körper des ‹neuen Menschen› gelobt, den sie ‹sublimieren› (im Sinne von: auf eine ‹höhere› Stufe heben) konnte. Vor diesem Hintergrund gelang es dem Faschismus in den 1920er Jahren, den aufkommenden Körperkult für ideologische Zwecke einzusetzen. Er akzentuierte die
Kampf um das Kind
124
Kinder beim didaktischen Lernen in einer Montessori-Schule
Gymnastikübung in einer italienischen Ferienkolonie, Kinder als Teil einer ornamentalen Masse
hinaus in Europa und Amerika verbreiten, bald darauf auch auf der ganzen Welt. Nach Mussolinis Machtergreifung 1922 besuchte die damals in Barcelona lebende Pädagogin Italien in der Hoffnung, von der neuen Regierung Unterstützung für ihre Schulen zu bekommen. Sie konnte Mussolini für ihr Anliegen gewinnen, woraufhin er versprach, ihre Methodik als pädagogische Grundlage der italienischen Grundschulen einzuführen, sich eine rasche Alphabetisierung versprechend. Maria Montessori war ihrerseits angezogen von Italiens ‹neuem Leben› (als solches bezeichnete sie 1928 Mussolinis Errungenschaften in einem an ihn adressierten Brief), unter anderem wegen der Sozialpolitik für Arbeiter, Frauen und Kinder. Mussolini, der sich vor allem zu Beginn seiner Regierungsperiode mit avantgardistischen Pädagogen, Architekten, Künstlern und Filmemachern als fortschrittlich profilieren dualistische Sichtweise, wobei er das Erhabene, das in der
wollte, steuerte mit der Zeit immer mehr den Krieg als
Romantik eine emotionale Basis für ekstatische Gefühle
machtpolitischen Zweck an. Mit dem Überfall auf Abessinien
geschaffen hatte, für machtpolitische Ziele instrumentalisierte:
(1935–1936, auf dem Gebiet des heutigen Äthiopien und
Als ‹erhaben› wurde die totalitäre Politik bezeichnet, und
Eritrea) spitzte sich sein Diskurs zu. Als sich die faschistische
somit auch die von ihr beeinflusste Architektur und bildende
Regierung immer mehr in ihre Erziehungsarbeit einmischte,
sowie darstellende Kunst, etwa Massenchoreografien, welche
um diese zu militarisieren, kam es zum Bruch mit Montessori,
die Macht des sogenannten Führers zelebrierten. Dieser
die 1934 Italien den Rücken kehrte.
Anspruch kommt beispielsweise in der Erziehungspolitik zum
Vor seiner militärischen Invasion hatte Mussolini die italienische
Ausdruck: Sollte der ‹neue Mensch› etwa zur Zeit der Aufklä-
Staatsnation als ‹erhaben› bezeichnet:
rung durch die Naturbetrachtung zu beschaulicher und kriti-
‹Meine Politik ist eine Politik des Friedens. Sie gründet nicht
scher Reflexion angeregt werden, so hatte er nun im Dienst
auf Worten, Gesten und bloßen papierenen Transaktionen,
der Politik (des autoritären Systems) zu stehen, die verlangte,
sondern auf einem erhabenen nationalen Prestige und einem
dass er die Individualität zugunsten einer einheitlichen Masse
ganzen Netz von Vereinba-
aufzugeben habe. Das faschistische ‹Erhabene› kann somit als
rungen und Verträgen, das
‹Pervertierung› des aufklärerischen Erhabenen angesehen
Harmonie zwischen den
werden, das noch von einer versöhnenden Denkweise und
Menschen schafft.›32
Geistesfreiheit geformt war.
Mussolinis ‹Erhabenes›, das
Wie es zum Bruch zwischen Reformpädagogik und Faschismus
zu Beginn seiner Regierungs-
kam, illustriert zunächst das Beispiel Italiens.
zeit noch für das ‹nationale Prestige› einer ‹Politik des
Italien. Eine ‹erhabene Politik des Friedens›
Friedens› stand, wurde 1935 auf den Krieg transponiert, um die Attacke auf
In Italien war das Erziehungskonzept von Maria Montessori
Abessinien zu glorifizieren.
(1870–1952) ausschlaggebend für das Interesse an der Reform-
Er bediente sich der Archi-
pädagogik um 1900. Von Jean-Jacques Rousseaus, Johann
tektur und der Kunst, um
Heinrich Pestalozzis und Friedrich Fröbels Modellen beeinflusst,
das ‹erhabene nationale
konnte sie ihre Methodik weit über die italienischen Grenze
Prestige› durch eine moderne
125
Kampf um das Kind
Vittorio Bonadé Bottino, Colonia montana Tina Nasi Agnelli, Inschrift am Speisesaal: ‹Credere, obbedire, combattere – Mussolini›
Ästhetik zu erzeugen, für
Gruß) und veranstalteten dem Duce zur Ehren große Aufmär-
die der menschliche
sche und Gymnastikvorführungen. Dieser proklamierte: ‹Die
Körper eine wichtige Rolle
faschistische Erziehung ist moralisch, physisch, sozial und
spielte. Anlässlich der Feier
militärisch: Sie zielt darauf ab, den harmonisch vollständigen,
zum zwölften Jahrestag des
das heißt den faschistischen Menschen zu schaffen, so wie
Mussolini-Regimes 1934
wir ihn wollen.›34 In einem Propagandafilm des Regimes aus
fand eine Parade von
dem Jahr 1937 unterstrich der Kommentator die Hygiene,
15.000 Athleten statt, die
Disziplin und Dankbarkeit der Kinder:
Jugendliche als Bestandteil
‹Nach der morgendlichen Wäsche warteten die Kinder, sauber
einer einheitlichen Masse
und stolz, in perfekt disziplinierten Reihen aufgestellt, auf die
präsentierte. Im Vordergrund
Zeremonie alza bandiera [Fahne hissen], um laut schreiend
stand das Kollektiv diszipli-
dem Duce ihre Liebe und Dankbarkeit zu proklamieren.›35
nierter junger Körper, die im
Die Jugendlichen spielten mit Holzgewehren; sobald sie ins
Zuge der voranschreitenden
wehrtaugliche Alter kamen, wurden diese durch echte Waffen
Militarisierung Italiens zu
ersetzt. Mit Italiens Abessinienkrieg nahm die Militarisierung
gefügigen Soldaten erzogen
zu, wie etwa auf den Plakaten der Balilla nachzuvollziehen ist.
wurden.
1937 wurde diese von der Gioventù Italiana del Littorio (GIL) abgelöst, einer Sektion der Faschistischen Partei, der nun
Ephemere Städte
unter anderem die Aufgabe der Gründung, Organisation und
Mussolini betrieb ein massives Bauprogramm, das neben
Kontrolle der Kinderkolonien oblag. Nun stand die Ausbildung
Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen auch zahlreiche
zu ‹Faschisten von morgen› im Vordergrund, als Gegenpol zu
Stadtumbauten sowie Gründungen von zwölf Città Nuove
den weiterhin von der Kirche (Konkordat) beeinflussten
(Neustädte) vorsah. Zu seiner Gesundheitspolitik, die er mit
Schulen. Sie diente als paramilitärische Gruppe der Ausbildung
ideologischen Zielen verband und für Propagandazwecke
Jugendlicher bis 21 Jahre für künftige Einsätze unter anderem
nutzte, gehörte die Etablierung von Kinderkolonien, die man
in den Kolonien. Die Teilnahme war von diesem Zeitpunkt an
wegen ihrer temporären Inanspruchnahme città dell’effimero
für alle Kinder verpflichtend.
(ephemere Städte) nannte. Er ließ sie nicht nur aus gesund-
1937 gab die propagandistische ‹Mostra nazionale delle
heitlichen Gründen bauen, sondern auch aus politischen,
colonie estive e dell’assistenza all’infanzia› (Nationale Aus-
denn mit der Erziehung der Jugend stand auch die Zukunft
stellung der Sommer-Ferienkolonien und Jugendfürsorge) im
auf dem Spiel. Mussolini war überzeugt von der Wichtigkeit
Circus Maximus in Rom einen Einblick in die Kinderfürsorge-
der Erziehung für das ‹gute Funktionieren› des faschistischen
einrichtungen und das intensive Bauprogramm der Kinder-
Staats. Durch die diversen Kinderorganisationen für alle
kolonien. Ihr Fokus lag explizit auf den ‹Aktivitäten der
Altersstufen wollte er den uomo nuovo (‹neuen Menschen›)
Regierung zur Gesunderhaltung der Rasse›.36 Der größte Aus-
heranziehen, seinen ideologischen und hygienistischen Vor-
stellungspavillon hatte eine hundert Meter lange Fassade und
stellungen gemäß.
war den Sommerkolonien gewidmet. Im anschließenden,
Der erste Punkt des Decalogo (Zehn Gebote, 1935) der
ebenso lang gestreckten Innenhof waren ein Sportplatz und
faschistischen Jugendorganisation Piccola Italiana (eine für
ein Freiluftschwimmbad angelegt, flankiert von einer Fahnen-
Mädchen bestimmte Gruppierung der 1926 gegründeten
reihe. Um die ‹lebendige Stimmung› einer Kinderkolonie
Opera Nazionale Balilla, ONB) lautete: ‹Betet und arbeitet für
adäquat wiederzugeben, war hier für die Dauer der Ausstellung
den Frieden, aber bereitet euer Herz auf den Krieg vor.› Die
eine Tageskolonie eingerichtet. Hunderte Kinder belebten
Kinder und Jugendlichen zwischen sechs und 17 Jahren trugen
die Szenerie des Platzes und veranschaulichten vor den neu-
schwarze Uniformen, in Anlehnung an die camice nere
gierigen Augen der Besucher den Alltag einer derartigen
(Schwarzhemden), grüßten mit dem saluto romano (Römischer
Siedlung mit seiner täglichen kollektiven Gymnastik, den
33
34
Vittorio Bonadé Bottino, Colonia montana Tina Nasi Agnelli, Fiat Sauze d’Oulx, 1937
126
Plinio Codognato, ‹Fiat – Pneumatici Pirelli›, Werbeplakat für das Automobil ‹508 Balilla›, 1932
Artikel von Mario Labò und Attilio Podestà zum Ausdruck kommt, der 1941 in der Zeitschrift Casabella erschien. Sie erkannten unter anderem spezifische typologische Eigenschaften der Gebäude und wiederkehrende Details. So hoben sie etwa hervor, dass die abstrakten weißen Linien der Kolonien ‹das gemeinschaftliche Leben umreißen›, ihren Geschmacksinn stimulieren und sich in das Gedächtnis der Kinder einprägen würden: ‹Alles [in diesen Kolonien], von den abstrakten Linien und Volumen angefangen, bis zu den Grundrissen, die die Wege des Gemeinschaftslebens definieren […], ist räumlich so angeordnet […], damit eine plastische Form und ein visuelles Bild erzeugt werden, welches die Kinder in ihrer Erinnerung für immer mit dem Leben in den Kolonien assoziieren werden. Aus einfachen Buden oder bescheidenen Behausungen kommend, […] werden diese Kinder Freude haben, in einem ruhigen und einfacheren Leben sich passiv von einer Geschmackssuggestion durchdringen zu lassen – die erste aufregende Erfahrung einer architektonischen Form – nicht nur von außen, sondern adaptiert, um darin zu leben. Das ist der essenzielle Punkt.›37 Nicht nur funktionale Faktoren determinierten das Programm, sondern auch emotionale. Raum wurde inszeniert, um einen gewünschten Effekt hervorzurufen, wobei bestimmte Elemente wiederholt zum Einsatz kamen: symmetrisch aufgebaute Gebäude, nicht enden wollende Atrien, gigantische Dimen‹Leibesertüchtigungen› im Schwimmbad oder dem Sonnen-
sionen, pure Linien, Türme, im Gegenlicht erscheinende Spira-
baden. Im Inneren des Baukörpers wurden auf einer Land-
len und Rampen. Diese baulichen Maßnahmen sollten den
karte die 3.821 Kolonien für 700.000 Kinder lokalisiert – ein
Fluss der Bewegung der Massen erleichtern, diese vor allem
Programm, das in dieser Größenordnung unschlagbar war.
aber optisch inszenieren.38 All diese Elemente gehörten zum Repertoire der Architekten, die mit Licht, Dynamik und Blick-
Architekturikonen
achsen geschickt operierten, um der faschistischen Ideologie
Die Architektur der im Zeichen des Razionalismo erbauten
einen räumlichen Ausdruck zu verleihen, der die Kinder nach-
Kinderkolonien hatte ikonischen Charakter. Die Modernität
haltig beeindrucken sollte, wie Katharina Torkler in ihrer
und Radikalität der italienischen Bauten sollte symbolisch für
Dissertation detailliert ausführt. Die hierarchisch aufgebauten
den ‹revolutionären› Charakter des politischen Systems stehen
Raumsysteme glorifizierten das politische System, dessen
und einen nachhaltigen Einfluss auf die Kinder ausüben.
proklamiertes Ziel ‹Gesundheit, Hygiene, Kraft und Disziplin›
Neben den Massenparaden zählte die Architektur zu den
war. Das Zusammenspiel von Ideologie und Architektur hin-
bevorzugten Propagandainstrumenten Mussolinis, und dies
terfragte Gino Levi-Montalcini, seine Einsichten publizierte er
nicht nur als szenischer Rahmen für Zeremonien, sondern weil
in einem Artikel über die architektonischen Richtlinien von
sie Menschen auf anderer Ebene anspricht und berührt und
Ferienkolonien und setzte diese zugleich auch in die Praxis
somit auch nachhaltig beeinflusst. Dieses Potenzial wurde im
um (Projekt 35).
Fall der Kinderkolonien bewusst ausgeschöpft, wie in einem Gino Levi-Montalcini, Colonia montana IX Maggio, 127
Bardonecchia, 1937
35
Panorama vs. Panoptikum
allumfassenden Gesundheitsreform errichtete man sämtliche
Für Zeremonien und Propagandazwecke bedienen sich faschisti-
neue Kinderheime auf dem Land und in den Bergen, damit
sche Disziplinargesellschaften des ‹gefügigen Körpers› der
kränkliche Kinder in idealer Umgebung gesunden konnten.
Kinder. Diesen Ausdruck prägte der französische Philosoph
Sie waren dabei unter ärztlicher Kontrolle und hatten zudem
Michel Foucault, der ihn in Überwachen und Strafen – Die
Schulunterricht. Das vom gebürtigen Münchner, in Tirol an-
Geburt des Gefängnisses (1975) wie folgt definierte: ‹Gefügig
sässigen Architekten Lois Welzenbacher geplante Kinderheim
ist ein Körper, der unterworfen werden kann, der verwendet
Ehlert (1931–1933) in Vorderhindelang im bayerischen Allgäu
werden kann, der transformiert und perfektioniert werden
kann als Beispiel für die vergleichende Studie von Kinderhei-
kann.›39 Er analysierte die Auswirkungen äußerer und innerer
men in den Alpen herangezogen werden, nicht nur, weil es
Disziplinarprozeduren auf die Psyche und Physis eines Men-
von großer architektonischer Qualität war, sondern auch, weil
schen, der sich permanent kontrolliert wähnt und folglich
es das naturbetonte Erziehungskonzept der damaligen Zeit
selbst diszipliniert, und setzte sich insbesondere mit Jeremy
verkörpert (Projekt 36). Dieses kommt in der Formensprache
Benthams Panoptikum (1791) auseinander.
der Architektur und einer räumlichen Typologie zum Aus-
Als ‹Torre Balilla› (Balilla-Turm) bezeichnete man den Typ der
druck, die sich aus der Nutzung entwickelte. Im Gegensatz zu
Kinderheimtürme, welche die Firma Fiat in der Gestalt von
den etwa gleichzeitig konzipierten Türmen der Kinderheime
Rundbauten mit einem Atrium 1933 und 1937 anlegen ließ.
von Fiat folgten die Planer einem, aus psychologischer Sicht
Die panoptisch angelegte Typologie ersetzte hier aus den
vollkommen anderen Prinzip: Der Blick der Kinder sollte sich
vorhin erwähnten Gründen die in den Bergen zu dieser Zeit
nicht zum Innenraum richten, sondern nach außen, auf die
übliche Panoramatypologie: Der Blick eines Bewohners sollte
Landschaft. Innen und außen verschmolzen hier zu einer
sich nicht an der Landschaft orientieren (wie etwa beim reform-
schwellenlosen Einheit: Die Natur wurde weder eingerahmt
pädagogischen Kinderheim Mümliswil von Hannes Meyer),
(wie etwa von den Panoramafenstern der Grandhotels) noch
sondern nach innen zum zentralen Atrium – das die akusti-
ausgegrenzt (wie durch die relativ kleinen Fensteröffnungen
sche Überwachung der Kinder ermöglichte (Projekt 34). In
der Fiat-Türme), sondern dank eines schwellenlosen Über-
diesem standen anlässlich von Zeremonien Repräsentanten
gangs zur vorgelagerten Holzterrasse regelrecht in den Innen-
des Regimes, die von den auf einer spiralförmigen Rampe
raum hineingezogen. Der architektonische Akzent war nach
aufgereihten Kindern mit dem saluto romano begrüßt wurden.
außen verlegt, ins Freie, um den Bezug zur Natur zu betonen.
Die inszenierten Bewegungen der Kinder im architektonischen
Das Kinderheim Ehlert ist insbesondere deswegen interessant,
Raum ließen die Landschaft aus dem Blickfeld verschwinden.
weil der von Lois Welzenbacher nur ein Jahr später konzipierte
Sie war nur ausschnittsweise, wie ein gepixeltes Bild eines
Erweiterungsbau unter einem anderen politischen Vorzeichen
nicht erfassbaren Ganzen durch die verhältnismäßig kleinen
stand. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten
Außenfenster entlang der Rampen zu sehen. Das Erhabene
änderte sich die Architektur ebenso schlagartig wie die Erzie-
wurde nicht mehr draußen in den Bergen gesucht, sondern
hungspolitik. Um Welzenbachers Entwurf der drei kleinen
im Inneren, im Zentrum des Rundbaus. Erhaben war nicht die
Pavillons mit geschwungenem Dach (Entwurfsskizze 1934,
Natur, sondern der triumphierende ‹neue Mensch› und seine
Fertigstellung 1936), die sich eindeutig vom Hauptbau unter-
Technik.
scheiden, besser zu verstehen, muss berücksichtigt werden, dass sie den Baugesetzen der NS-Behörden zu entsprechen
Deutschland. Bruch in der ‹deutschen Kunst›
hatten: Der funktionalistische Stil war den Industrie- und Autobahnbauten vorbehalten, vom neoklassizistischen Stil waren die repräsentativen Gebäude geprägt, während sich kleine zivile Bauprojekte auf dem Land am jeweiligen regionalen Stil
36
Deutschlands Gesundheitspolitik in den 1920er Jahren war
zu orientieren hatten.
von der Reformbewegung geprägt, welche die freie Bewe-
Dieser Ansatz spiegelt sich auch in den Herbergen wider, die
gung in der Natur in den Vordergrund stellte. Im Zuge einer
das NS-Regime für seine Jugendorganisationen errichten
Lois Welzenbacher, Kinderheim Ehlert, 1931–1933 128
Lois Welzenbacher, drei Erweiterungspavillons des Kinderheims Ehlert, Entwurfsskizze, 1934
Kinder sitzen auf der Brüstung der Terrasse des Kinderheims Ehlert von Lois Welzenbacher, Vorderhindelang, 1933
ließ: Obwohl sie im Inneren stets die gleiche Grundrissorga-
rasch im Pompösen endet und mit dem Erhabenen nichts zu
nisation aufwiesen, passten sie sich äußerlich an die regionalen
tun hat. Die Umkehrung von einem Zufalls- zu einem Ordnungs-
Baustile an. Im Vergleich mit Mussolinis Italien war die Zahl
prinzip hat meist zur Folge, dass das Eintreten des gewünschten
der im NS-Deutschland gebauten Jugendheime verschwindend
Effekts nicht erfolgen kann. Wie die französische Philosophin
klein: nur 650 der 1938 angekündigten 50.000 Jugendher-
Baldine Saint Girons betont, weckt das Erhabene geistige
bergen wurden bis 1941 komplett fertiggestellt.40 Die Ruinen
Ansprüche;43 verliert man die Resonanz der Ideen, so verliert
von 429 im Rohbau steckengebliebenen Heimen sind ein
man auch das Erhabene, das zum Grotesken wird: Es erfolgt
Ausdruck dafür, dass die Manöver des Zweiten Weltkriegs das
dann eine Entstellung der
ehrgeizige NS-Erziehungsprogramm zu Fall brachten.
Moral, eine Unterwerfung
Den Spruch ‹Kunst ist eine erhabene und zum Fanatismus
unter ein Ideal, das nicht
verpflichtende Mission›, den Hitler in großen Lettern über
mehr menschlich, sondern
dem Eingangsportal des ‹Hauses der [damals: Deutschen]
unmenschlich ist. In diesem
Kunst› in München eingravieren ließ, proklamierte er auf dem
Fall muss man fragen, worin
Reichsparteitag 1933. Er hatte hinzugefügt: ‹Das national-
das Abdriften ins Groteske
sozialistische Deutschland aber will wieder eine «deutsche
besteht.44 Im Faschismus
Kunst» und diese soll und wird wie alle schöpferischen Werte
liegt es in der totalitären
eines Volkes eine ewige sein.› Politisches Pathos, elitäres
Ästhetik, die Ehrfurcht und
Selbstverständnis und Größenwahn gingen Hand in Hand mit
Furcht einflößt, allerdings
Rassismus, Verfolgung und Mord. Unter ‹Fanatismus› verstand
auch Begeisterung. Wie
er die ‹rücksichtslose, […] subjektive, grundsätzlich einseitige
der Transfer von einer äs-
Stellungnahme›,42 womit bereits alles gesagt ist: Pluralismus
thetischen Kategorie auf die
war ausgeschlossen, es gab nur einen Weg, der alles andere
Machtpolitik möglich ist,
als ‹entartet› deklarierte und vernichtete. Mit Hitlers Macht-
wird durch Edmund Burkes
ergreifung wurden übrigens sämtliche bestehenden Jugend-
Analyse des Erhabenen
verbände in die Hitlerjugend zwangseingegliedert oder
deutlich: Edmund Burke
aufgelöst.
hatte in seiner im 18. Jahr-
41
hundert verfassten Abhand-
Macht und Furcht, Kriterien des Erhabenen?
lung über das Sublime unter anderem die Faktoren ‹Schrecken› und ‹Angst›
An dieser Stelle ist es notwendig, den Bezug zwischen der
hervorgehoben, weil sie mit
Politik und dem aus der Ästhetik stammenden Begriff des Er-
‹Macht, Gefahr und
habenen näher zu beleuchten. Das Streben der Politik, Ästhetik
Schmerz› einhergehen und
für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, ist ein Phänomen, das
somit besonders starke
in unterschiedlichen Formen im Laufe der Geschichte immer
Emotionen auslösen: ‹Keine
wieder auftaucht, ob es sich nun um deren Licht- oder
Leidenschaft vermag so effektvoll dem Geist all seine Hand-
Schattenseiten handelt. Ästhetik umfasst all das, was wir mit
lungskraft und Verstand zu rauben, als die Furcht. Nachdem
unseren Sinnen wahrnehmen, sie bewegt uns innerlich.
Furcht eine Vorahnung von Schmerz und Tod ist, wirkt sie in
Die Erfahrung des Erhabenen ist ein passives Prinzip, ein
ähnlicher Weise wie richtiger Schmerz.›45
unbegreifliches Gefühl, das uns plötzlich erfasst und zutiefst
Burke war davon überzeugt, dass diese Faktoren die bestim-
berührt. Der Versuch einer ‹Anwendung› des Erhabenen ist
menden Prinzipien des Sublimen seien, worunter er ein
hingegen ein aktives Prinzip, beruhend auf der vorsätzlichen
Maximum an Emotionen verstand. Als Ursache der Angst
Benutzung einer ästhetischen Kategorie – ein Versuch, der
erwähnte er neben schreckenerregenden Gegenständen und
129
Kampf um das Kind
gefährlichen Tieren auch den Menschen, insbesondere
dagegen, dass Krieg als antiästhetisch bezeichnet wird […]
Machthaber, die Ehrfurcht und Furcht hervorrufen. Er fragte
Demgemäß stellen wir fest: […]
sich, welches Gefühl ein Mensch oder ein anderes Lebewesen
Der Krieg ist schön, weil er die erträumte Metallisierung des
von außerordentlicher Stärke erwecke: ob unmittelbar die
menschlichen Körpers inauguriert. […]
Idee aufkomme, ‹dass diese Stärke dir in irgendeinem Sinne
Der Krieg ist schön, weil er neue Architekturen, wie die der
dienstbar sein möge, deiner Lust, deinem Vergnügen, deinem
großen Tanks, der geometrischen Fliegergeschwader, der
Interesse?› Er kam zu folgendem Schluss: ‹Nein; deine erste
Rauchspiralen aus brennenden Dörfern und vieles andere
Regung wird der Wunsch sein, dass diese gewaltige Stärke
schafft […]›48
nicht zu Raub und Vernichtung gebraucht werde›, aus dem
Marinetti ästhetisierte Krieg (den er bereits in seinem 1909
er folgende These ableitete:
erstellten futuristischen Manifest als ‹einzige Hygiene der
‹Daß die Macht all ihre Erhabenheit dem Schrecken verdankt,
Welt›49 bezeichnet hatte) und Terror bis hin zur totalen Zer-
der sie normalerweise begleitet, sieht man deutlich an ihrer
störung. Sein zynisch abgewandelter Leitsatz ‹Fiat ars, pereat
Wirkung in den wenigen Fällen, in denen es möglich ist, die
mundus› (Es soll Kunst sein, und gehe die Welt darüber
Stärke einer erheblichen Kraft von ihrer Schädlichkeit zu tren-
zugrunde) stellte die Kunst ins Zentrum der Apokalypse (der
nen. Tut man das, so beraubt man die Sache jeder Erhabenheit,
ursprüngliche Satz lautet: ‹Fiat justitia et pereat mundus›).
und sie wird sofort ein Gegenstand der Geringschätzung.›46
Benjamin kommentierte diese Maxime so: Der Faschismus
Dies illustrierte er anhand folgender Beispiele: Der Stier wird
‹erwartet die künstlerische Befriedigung der von der Technik
als erhaben erlebt, weil wir ihn fürchten (der Ochse hingegen
veränderten Sinneswahrnehmung, wie Marinetti bekennt,
ist lediglich nützlich); eine ähnliche Unterscheidung machte
vom Kriege. Das ist offenbar die Vollendung des l’art pour
er zwischen einem Nutzpferd und einem wilden Hengst.
l’art.› Die Selbstentfremdung der Menschheit habe laut
Demzufolge können in manchen wenigen Fällen Stärke und
Benjamin ‹jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung
Zerstörung eine erregende Wirkung haben, einhergehend
als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben läßt. So steht
mit Furcht und Gefahr. Wenn noch die ‹überdimensionale
es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus
Größe› hinzukommt (ebenfalls ein Faktor des Erhabenen, laut
betreibt.›50
Burke), die im Falle unserer Thematik durch Architektur oder
Nach dem Zweiten Weltkrieg war es Theodor W. Adorno, der
geometrisch organisierte Menschenmassen generiert wird,
betonte, dass die politische Instrumentalisierung der Ästhetik
dann ist zu verstehen, welch bedeutende Rolle diese machtin-
des Erhabenen unweigerlich in den Faschismus führe.51 Laut
szenierenden Elemente für die Entstehung eines faschistischen
Jean-François Lyotard könne es jedoch keine Politik des
‹Erhabenen› spielten, dessen letzte Vollendung der Krieg ist.
Erhabenen geben, weil Terror durch Entbehrung entstehe
Walter Benjamin thematisierte in seinem 1935 im französischen
(Entbehrung von Licht, Angst vor dem Dunklen; Entbehrung
Exil verfassten Text Das Kunstwerk im Zeitalter seiner techni-
von Leben, Angst vor dem Tod): Was uns erschrecke, sei
schen Reproduzierbarkeit die Ästhetisierung der Politik:
etwas, das nicht eintrete, betonte er in Das Erhabene und die
‹Der Faschismus läuft […] auf eine Ästhetisierung des politi-
Avantgarde. Er befasste sich mit dem Schwebezustand des
schen Lebens hinaus. Der Vergewaltigung der Massen, die er
Erhabenen, mit dem Nichteintreten eines gefürchteten Ereignis-
im Kult eines Führers zu Boden zwingt, entspricht die Verge-
ses, dem angespannten Warten, ob ein ‹fabulöses «Subjekt»›
waltigung einer Apparatur, die er der Herstellung von Kult-
kommt (das reine Volk, kommt es?, Der Führer, kommt er?,
werten dienstbar macht.
Siegfried, kommt er?).›52 Das Nichteintreten erzeuge Furcht:
Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik gipfeln
‹Im Naziterror wurde der Mensch vom Erstaunen gepackt,
in einem Punkt. Dieser eine Punkt ist der Krieg.›47
er wurde stumpf, unbeweglich [und] so gut wie tot.›53 Daraus
Er bezog sich dabei auf einen von Filippo Tommaso Marinetti,
schloss er: ‹Die Ästhetik des Erhabenen, wenn sie neutralisiert
dem führenden Kopf der Futuristen, 1935 publizierten Text,
und in eine Politik des Mythos verwandelt wird, konnte ihre
der den italienisch-äthiopischen Kolonialkrieg verherrlichte:
Architekturen «menschlicher» Formierungen auf dem Zeppe-
‹Seit siebenundzwanzig Jahren wehren wir Futuristen uns
linfeld in Nürnberg bauen.›54
Kampf um das Kind
130
Ausstellung der Kinderkolonien ‹Colonie estive›, Briefmarken
Dieses zerstörerische, auf Furcht gegründete (in einen politischen Mythos verwandelte) Erhabene ist das Gegenteil des aufklärerischen Erhabenen, bei dem, wie Baldine Saint Girons betont, ein ‹höheres Nützliches› das Schädliche und Zerstörerische bekämpfe. Sie vertritt die These, dass das Erhabene einen engen Bezug zu einem ‹zutiefst Nützlichen› habe, das sie in einer essenziellen und existenziellen Weise auslegt. Wenn sich das Erhabene im 18. Jahrhundert in der Diskussion der Ästhetik ‹sowohl vom Nützlichen als auch vom Schönen› entfernt hat, so argumentiert sie, dann nur, ‹um besser gegen das wahrhaft Unnütze anzukämpfen, das heißt gegen das Schädliche sowie gegen diverse Formen von Hässlichkeit und Mittelmäßigkeit.›55 Daher müsse man, um das ‹zutiefst Nützliche› zu verstehen, den Gegner genauer ansehen, den es bekämpft. Das Problem des Schädlichen sieht sie als ein politisches Problem an und verweist auf Roger Caillois, der 1950 aufzeigte, wie leicht Demokratien in den Totalitarismus hinübergleiten, wenn sie nicht die Kraft des Aggressionstriebs anerkennen und nicht alles tun, um die Gewalt zu kanalisieren und den totalen Krieg zu vermeiden.56
131
Kampf um das Kind
Adolf Loos, Wintersporthotel auf dem Semmering, Modell ausgestellt im ‹Salon d’automne›, Paris, 1920
29 Adolf Loos, Schwarzwaldschule auf dem Semmering,
Talseite die Gemeinschaftsräume unterzubringen. So legte er
1911–1912
im ersten und zweiten Tiefparterre, in einem zweigeschossigen
Als Standort für die Höhenschule hatten Eugenie Schwarzwald
Volumen mit umlaufener Galerie, den Speisesaal und den
und Adolf Loos ein Grundstück am Abhang des Pinkenkogels
Theatersaal an, mit Blick auf das Bergpanorama. Der Sockel
ausgewählt, in unmittelbarer Nähe des Südbahnhotels.
war aufgrund der gemeinschaftlichen Nutzung breiter ausgebildet als die darüber angeordneten Geschosse. Die durchgehenden Stützen der Obergeschosse, die eine Galerie trugen, wurden geschickt in den Raum integriert. Im Bereich des mittigen, auf der Hangseite gelegenen Treppenhauses schuf Loos eine cour anglaise, wodurch nicht nur zusätzliches Licht ins Tiefparterre gebracht, sondern auch eine Querlüftung ermöglicht wurde. In den untersten zwei Sockelgeschossen waren auf der talseitigen Nordseite die Dienstbotenzimmer angesiedelt, und in den hangseitigen, finsteren Räumen die Haustechnik. Die kubische Form der Schule, ihr Flachdach und ihre ornamentlose Fassade hoben sich vom Heimatstil der umliegenden
Der Abhang wies an dieser Stelle einen gekrümmten, aus
Bauten der Grandhotels und Villen radikal ab. Die ornamentlose,
der Geländekante heraustretenden Vorsprung auf, der einen
‹pure› Architektur ging mit Loos’ Prinzip einher, Kinder in
Rundblick auf das Tal und die Berglandschaft bot. Aus diesem
der Natur zu erziehen, die er mit ‹Wahrheit› gleichsetzte. In
Grund plante Loos in seinen ersten Entwürfen einen halb-
Regeln für den, der in den Bergen baut trat er gegen jedwede
kreisförmigen, konvexen Baukörper, der allerdings bald durch
Form von Maskerade ein, die Architektur wie die Kleidung
eine rechteckige, zum Hang offene U-Form mit gebrochenen
betreffend: ‹Baue nicht malerisch, überlasse solche wirkung
Kanten (im Winkel von 45 Grad) ersetzt wurde. Sukzessive,
den mauern, den bergen und der sonne. Der mensch, der
den Pausenhof konstituierende Terrassen vervollständigten
sich malerisch kleidet, ist nicht malerisch, sondern ein
die Rechteckform im Grundriss, wodurch trotz der hangseiti-
hanswurst.›57
gen Öffnung der Baumasse nach Süden ein in sich geschlossener, geschützter Raumeindruck entstand.
Interessanterweise glich der im Jahr 1913 erstellte Entwurf
Die Klassenzimmer befanden sich im Parterre und waren zur
für ein Wintersporthotel auf dem Semmering demjenigen
bergseitigen Süd- und Ostseite hin orientiert, während der
der Schwarzwaldschule, denn für Loos mochten die typologi-
Zeichensaal in der abgeknickten Ecke auf der Nordseite un-
schen Prinzipien des Schulbaus auf den Hoteltypus übertrag-
tergebracht war. Die Schlafzimmer, die sich vom Parterre be-
bar gewesen sein. Auch dieser Entwurf kam nicht zur
ginnend bis zum dritten Obergeschoss hin erstreckten,
Ausführung, wurde aber auf dem Salon d’Automne in Paris
öffneten sich zur Süd- und Ostseite, kollektive Schlafsäle gab
(1920) ausgestellt.
es an den Eck- und Endpunkten. Auf der Nordseite waren keine Zimmer angeordnet, sondern ein Gang, wodurch jedes Geschoss einen großzügigen Ausblick auf die Landschaft gewährte. Auffallend ist die Gestaltung des Sockels, denn Loos nutzte den steil abfallenden Hang, um auf der nordseitig gelegenen
Kampf um das Kind
132
Kinderpension ‹Chez Nous› (im Hintergrund), Aiguilles de Varan, 1938
30 Henry Jacques Le Même, Kinderpension Chez Nous, Megève, Haute-Savoie, 1935
Henry Jacques Le Même, Kinderpension Chez Nous, Megève, 1935
Teil entstand. Das oberste Zimmer im südseitigen Giebeldreieck war mit einem Holzbalkon ausgestattet.
Im französischen Bergdorf Megève (1.113 m) wurden 1926 auf Initiative des Pfarrers Jules Bernard zwei Chalets ange-
Selbstbewusst und dennoch angepasst stand die Kinder-
mietet, um tuberkulosegefährdeten Kindern die Chance zu
pension in der Landschaft, im losen Gefüge der umliegenden Höfe und Scheunen. Henry Jacques Le Même erbaute bzw. baute insgesamt 14 Kinderpensionen im Chalet-Stil um. Zugleich arbeitete er mit unterschiedlichen Stilen: Parallel zur Konzeption moderner Schulen und Sanatorien mit Flachdach errichtete er für Kinderheime Satteldächer mit Holzstreben, unter denen aber sehr wohl die Moderne durchschimmert.
geben sich auszukurieren; wenig später erbaute man drei Kurhäuser: Le Christomet (1926), Saint-André (1928) und Sainte-Geneviève (1933). Andrée und Michèle Leroux, zwei Damen, setzten sich ebenfalls für gefährdete Kinder ein und beauftragten Henry Jacques Le Même mit dem Bau der Pension Chez Nous, die 40 Kinder aufnehmen sollte. Ähnlich wie bereits der Entwurf für die Skichalets basierte auch dieser auf der freien Interpretation eines regionalen Bautyps, den der Architekt an die neuen Bedürfnisse anpasste und stilistische Elemente der Moderne integrierte: Über die gesamte Südfassade erstreckte sich ein Fensterband, das sich über zwei Gebäudekanten hinauszog und diese optisch auflöste. Es garantierte, dass möglichst viel Licht und Sonne in den dahinterliegenden Aufenthaltsraum der Kinder gelangte. Aus den funktionsbedingten Anforderungen entwickelte sich eine spezifische Formensprache, die einen eigenen Stil generierte. Die spezielle Fenstergestaltung veranschaulicht dies: Da das Fensterband als Merkmal des modernen Chalets galt, fasste Le Même die Lochfenster der Zimmer in den Obergeschossen visuell durch eine Reihe von aufgemalten horizontalen Linien zu einem scheinbaren Fensterband zusammen, wodurch sich die dazwischenliegenden Mauerflächen grafisch geschickt überbrückt zeigten. Dieses Gestaltungselement setzte er selbst im zweiten, im Dachgiebel gelegenen Obergeschoss ein, wodurch eine optische Verschränkung zwischen dem unteren, verputzten und dem oberen, holzverschalten
133
Kampf um das Kind
Henry Jacques Le Même, Höhenschule mit Internat Le Hameau, Megève, Ansicht von Südwesten
31 Henry Jacques Le Même, Höhenschule und Internat Le Hameau, Megève, 1933
Auf der talseitigen Südseite waren damals im Erdgeschoss der Speisesaal, die Küche und ein Büro untergebracht, während
Kurz nachdem Henry Jacques Le Même die Kinderpension
in der Auskragung ein Spielraum, ein Salon und eine Biblio-
Chez Nous im Chalet-Stil konzipiert hatte, erbaute er in
thek in einer kontinuierlichen Raumfolge angeordnet waren.
Megève die private Schule Le Hameau im Stil der Moderne.
Im ersten und zweiten Geschoss lagen die Schlafzimmer der
Es war die erste französische Höhenschule mit Internat, die
70 Kinder, denen die darunterliegende Auskragung eine
für Kinder von elf bis 14 Jahren mit schwachem Gesundheits-
Terrasse bot. Im letzten Geschoss waren sieben Klassenzim-
zustand gedacht war. 1931 beauftragte Mme Veuve Ménard
mer angelegt, in direkter Verbindung mit der Dachterrasse,
Le Même mit der Erweiterung des Instituts, das seit 1929 in
die dem Freiluftunterricht diente. Auf der nach Norden orien-
drei alten Chalets auf einer Anhöhe über Megève
tierten Innenseite sind die Eingänge, Treppen, Gänge und
untergebracht war. Die Entscheidung fiel 1933 gegen sämtli-
Nebenräume situiert.
che Varianten, die sich mit der Vereinigung zweier Chalets auseinandergesetzt hatten, zugunsten eines modernen Neu-
Die Höhenschule ermöglichte den Kindern, Unterricht
baus aus, der etwas abseits, unmittelbar an der Kante des Steil-
während des Kuraufenthalts zu bekommen. Sie bewirkte die
hangs liegen sollte.
Errichtung zahlreicher weiterer Kinderpensionen in Megève: Zwischen 1929 und 1935 stieg die Anzahl von vier auf 13 an,
Das rationalistische L-förmige Gebäude besteht aus einem
wodurch die Kapazität von 90 auf 320 Betten gesteigert
Stahlbetonskelett mit Ziegelwänden. Aus dem strengen glatt-
werden konnte. Die Schule wurde unlängst restauriert und
verputzten, zartrosafarbigen Baukörper ragt entlang einer
dient als Ferienzentrum.
Seitenwand ein eingeschossiges Volumen heraus, das mit einer halbrunden Form dynamisch über den Abhang auskragt.
Kampf um das Kind
134
Jugendkurhaus Prasura, Kinder auf der Liegeterrasse mit Glasbausteingeländer, 1928
32 Alfons Rocco und Jakob Licht, Jugendkurhaus Prasura,
Alfons Rocco und Jakob Licht, Jugendkurhaus Prasura mit auskragenden, verglasten Erkern, 1928
Treppenhaus, einen Bettenlift und einen Speiseaufzug. Um
Arosa, 1928
den hygienischen Anforderungen zu entsprechen, wurde das
Obwohl die Schweiz historisch gesehen federführend war mit
Haus mit abwaschbaren Treppen- sowie Wandbelägen und
der gesundheitspolitischen Maßnahme ‹Kinder aufs Land›,
Linoleumböden ausgestattet. Die Hauszeitschrift der Linole-
entstanden in den 1930er Jahren nur wenige, meist gemäßigt
umfabrik schrieb: ‹Alles blitzt vor Sauberkeit; die saubere,
moderne Bauten im Bereich der Kinderfürsorge. Selbst in
elastische Fläche des Linoleums gestattet sogar, die Spiele
Arosa, wo sich die Moderne in den 1920er Jahren nicht nur
der Kleinen auf den Fussboden zu verlegen›.60
bei Sanatorien, sondern auch bei Hotelbauten und Privathäusern durchsetzte, wurde das Jugendkurhaus Prasura 1928 in traditionellem Stil geplant: ‹Architekt Alfons Rocco konzipierte auf einem Bauplatz über dem Obersee für Dr. Fritz Lichtenhahn ein überdimensioniertes Berghaus mit Satteldach›, schrieb Marcel Just in Arosa, die Moderne in den Bergen.58 Allerdings wurde der Entwurf noch vor Baubeginn von Jakob Licht modernisiert, um den medizinischen Ansprüchen hinsichtlich der Belichtung und Besonnung gerechter zu werden: Die geschlossen vorgesehenen Arkaden wurden in Kurbalkone verwandelt, mit einer Glasbausteinbrüstung, um volle Sicherheit bei möglichst viel Lichtdurchlässigkeit zu gewährleisten. Großzügige, auf zwei Seiten verglaste Erker an den Ecken ermöglichten einen optimalen Lichteinfall und Ausblick. Trotz zahlreicher Veränderungen wurden das Satteldach und das Bruchsteinmauerwerk im Sockelbereich dem ursprünglichen Entwurf gemäß ausgeführt, wodurch der Bau durch zwei Sprachen charakterisiert wird: Einerseits ist er von den traditionellen Elementen des regionalen Bauens gekennzeichnet, andererseits weisen die Balkonbänder mit verglasten Erkern auf die sanitären Ansprüche und Notwendigkeiten eines modernen Kurhauses hin, wodurch dem ‹ersten modernen Grossbau in Arosa mit etwa 100 Zimmern› nur ein gemäßigt modernes Antlitz verliehen wurde. Im Inneren hingegen verwendete man moderne Materialien, wobei verschiedene Stile kollidierten, ‹wie etwa Art-Déco-Tapeten mit Türbeschlägen nach Entwürfen von Walter Gropius oder einfaches, weiss gestrichenes Kindermobiliar mit behäbigen Rattanmöbeln›.59 Das Raumprogramm bestand aus einem medizinischen Teil (Praxis mit Sprech-, Röntgen- und Operationszimmern, Labor) und einem pädagogischen (Speisesaal, Schulzimmer, Gymnastikraum). Die Zimmer lagen in den Obergeschossen, der Arzt hatte eine eigene Wohnung. Im Sockel waren die Wirtschaftsräume mit Küche, Wäscherei, Werkstatt und Heizung untergebracht. Die Erschließung erfolgte über ein breites
135
Kampf um das Kind
Hannes Meyer, Kinderheim Mümliswil, Rundbau von der Südseite aus gesehen, 1939
33 Hannes Meyer, Kinderheim Mümliswil, Jura, 1938–1939
Machenschaften› vorgeworfen wurden, ging er nach Moskau,
Bernhard Jäggi, Politiker und langjähriger Leiter des Verban-
wo er bis 1936 dozierte und an Siedlungsprojekten arbeitete.
des der schweizerischen Konsumvereine (Coop), und seine
Als er in die Schweiz zurückkehrte, hatte er keine Arbeit, so
Frau Pauline stifteten ein genossenschaftlich organisiertes
kam ihm Jäggis Auftrag für ein Kinderheim gelegen.
Kinderheim in Mümliswil. Nachdem er bereits genossenschaftliche Wohnprojekte sowie Bildungs- und Erziehungsein-
Der Bauplatz, der südliche Berghang der Passwangkette, lag zehn Minuten vom alten Dorfkern entfernt. Auf Wunsch der Bauherren sollte im kritischen Jahr 1938/1939 beim Bauen auf eine bestmögliche Arbeitsbeschaffung geachtet werden. Mit Bezug auf lokale handwerkliche und architektonische Mittel wurde eine gemischte Holz- und Massivbauweise gewählt. Man kombinierte standardisierte Bauelemente geschickt mit Handwerk, unter Rücksichtnahme auf genormte Maße, um schnell und günstig zu bauen. Bereits nach einem halben Jahr konnte das Kinderheim eröffnet werden. Das unterhalb des Gehwegs angesiedelte Gebäude ließ sich über einen zweiseitig eingefassten Spielhof auf der Nordseite betreten. Es erinnerte mit seiner vorgestellten Pappelreihe (die als Blitzschutz dient) und dem schattigen, teilweise überdeckten Hof an ein traditionelles Juragehöft. Der zurückversetzte, witterungsgeschützte Eingang erschloss den Westflügel, während der Ostflügel über dem Gelände schwebte, um eine überdachte Außenspielfläche zu bieten.
richtungen gebaut hatte, wollte er im Solothurner Jura ein
Der zweigeschossige Baukörper setzte sich aus einem Winkel
Heim für körperlich geschwächte Kinder aus allen Gesell-
zusammen, der im Gelenkpunkt von einem eingeschossigen
schaftskreisen errichten, um ihnen Erholung auf dem Land zu
Rundbau artikuliert war.
ermöglichen – gegen ein bescheidenes Verpflegungsgeld. Die Stifter legten insbesondere Wert auf eine fortschrittliche
Die Schlafsäle der Kinder waren im ostseitigen, die Räume
Wohnform und eine zweckmäßige Ernährung, wobei die Kin-
der Angestellten und das Gästezimmer im südseitigen Ge-
der durch sportliche Ertüchtigung und spielerische Bewe-
bäudeflügel untergebracht. Im Obergeschoss des verbinden-
gung in der Berglandschaft genesen sollten.
den Rundbaus befand sich eine Terrasse, auf der die Morgengymnastik stattfand, in seinem Erdgeschoss lag ein
Mit dem Bau beauftragte man den aus Basel stammenden
runder Saal, in den ein großer Tisch in Form eines Kreisseg-
Architekten Hannes Meyer (1889–1954). Als Heimkind in
ments eingeschrieben war. An diesen grenzten einerseits die
Basel aufgewachsen, hatte dieser eine Maurerlehre absolviert,
Anrichte und die Küche, auf der anderen Seite ein Spielsaal.
bevor er Hochbauzeichner und schließlich Architekt wurde.
In einem Artikel der Schweizer Architekturzeitschrift Das
Er hatte bereits 1919 bis 1921 im Auftrag von Jäggi die ge-
Werk, signiert H. M. (Hannes Meyer?). wurde das reformeri-
nossenschaftliche Gartenstadtsiedlung Freidorf in Muttenz
sche Erziehungskonzept des Kinderheims hervorgehoben:
bei Basel für Coop errichtet. Auch in Deutschland war er an
‹Im Anschluss an die im «Genossenschaftlichen Seminar
großen Projekten beteiligt und seit 1927 Leiter der Bauabtei-
Freidorf» vertretenen Grundsätze solle das neue Kinderheim
lung im Bauhaus Dessau, seit 1928 dessen Direktor. Als er
während des Kuraufenthaltes im Sinne von Pestalozzis Lien-
1930 das Bauhaus verlassen musste, weil ihm ‹kommunistische
hard und Gertrud unter der Leitung einer Hausmutter auch
Kampf um das Kind
136
Hannes Meyer, Kinderheim Mümliswil, diagrammatischer Plan, mit Blickachsen und Aussichtsmotiven, 1937
Hannes Meyer, Kinderheim Mümliswil, Rundbau des Gemeinschaftsraums mit kreisförmigem Tisch, 1939
erzieherisch im genossenschaftlichen Geiste auf die Kinder
der 20 bis 25 Gefährten des Erziehungskreises der «Rückzug
einwirken.›
auf das eigene Ich» gewahrt bleiben. Es sollte seine Sieben-
61
sachen im eigenen Schrank aufbewahren und den Brief an Pestalozzis Drei-Kreise-Modell entsprechend, war das Heim
die Eltern im stillen Winkel verfassen können.›63
als vorübergehender oder dauerhafter Ersatz für das Eltern-
So war das Kinderheim, um Hannes Meyers Worte zu verwen-
haus gedacht. Bemerkenswert ist, dass sich die Komposition
den, ein ‹Stein und Raum gewordenes Prinzip›,64 welches das
des Baukörpers in essenzieller Weise aus dem pädagogischen
pädagogische und fortschrittlich genossenschaftliche Denken
Konzept und dem daraus entstandenen Raumprogramm
der Auftraggeber und ihres Architekten widerspiegelte.
ergab. ‹Während beim Essen die Teilnehmer an der Außenseite der runden Tafel sitzen und in dieser demokratischen Ordnung jeder der Fernsicht teilhaftig wird, kann die Verteilung des Essens vom inneren Kreis her erfolgen. Aber bei gesellschaftlichen Anlässen kann dieser innere Kreis zum Aktionszentrum der Kindergemeinschaft werden (beim Aufsagen, beim Vorsingen).›62 Die räumliche Umsetzung des pädagogischen Konzepts im Raumprogramm wurde wie folgt erläutert: ‹Somit scheidet das Bauprogramm des Kinderheims bewusst bisweilen die Funktionszonen des einzelnen Kindes und der Gemeinschaft und ermöglicht den natürlichen Ausgleich zwischen beiden Teilen. Dem Kinde sollte im Zusammenleben
137
Kampf um das Kind
Vittorio Bonadé Bottino, Westseite der Colonia montana Tina Nasi Agnelli, Fiat, Sauze d’Oulx, 1937
34 Vittorio Bonadé Bottino, Colonia montana Tina Nasi
Colonia montana Tina Nasi Agnelli, Atrium des Turms mit spiralförmiger Rampenanlage und salutierenden Kindern, 1938
di Massa ist er mit verklinkerten Sichtziegeln im Fassaden-
Agnelli, Fiat, Sauze d’Oulx, 1937
bereich ausgemauert (wie der Hotelturm Albergo Torre di
Unter Mussolinis Regime verfolgte die Firma Fiat, den Er-
Sestriere) und hat nur acht Stockwerke.
wartungen entsprechend, die damals an Großindustrielle
Der in einer Hanglage errichtete Turm steht auf einer halb-
gestellt wurden, eine aktive Sozialpolitik für ihre Arbeiter und
auskragenden, runden Betonplatte, die ihm einen schweben-
Angestellten, mit zahlreichen gesundheitlichen, sportlichen
den, vom Boden abgehobenen Eindruck verleiht. Unter
und kulturellen Einrichtungen. Dazu gehörten neben dem
dieser Scheibe liegt ein breiteres Sockelgeschoss, das im
Bau zweier Kinderkolonien und einer Skistadt in Sestriere
Terrain verankert ist. Das Erdgeschoss ist verglast, wodurch
auch die Gründung der Feierabendorganisation Dopolavoro-
die tragenden weißen Säulen sichtbar werden. Um ein zentrales
Fiat, eine fabrikinterne medizinische Betreuung, eine
Atrium schraubt sich eine spiralförmige Rampe hinauf, auf
Arbeiterfürsorge sowie zahlreiche Berufsschulen und Biblio-
welcher die Betten der Kinder aufgereiht waren (wobei jeweils
theken. Nachdem der Automobilkonzern bereits zwei
zwei Beine abgesägt wurden, damit sie geradestanden). Die
Hoteltürme in Sestriere errichtet hatte (Fertigstellung 1932 und 1933, siehe Kapitel 6), wurde 1933 ein weiterer Turm desselben Typus in Marina di Massa gebaut, für eine am Strand gelegene Kinderferienkolonie. Dieser 14 Geschosse hohe, um ein offenes Atrium strukturierte Rampenturm besteht aus einem vorfabrizierten Stahlbetonskelett mit integrierter Rampe; pilasterähnliche, halbrunde Pfeiler strukturieren die weiße Betonfassade und betonen die Vertikale, wirken wie tragend ausgebildete Kannelüren einer
Schlafbereiche waren nur durch halbhohe Wände voneinander
gigantischen Säule. Die Bauzeit dauerte nur 100 Tage, da
abgetrennt, wodurch eine gute Überschaubarkeit möglich
dieser Typus bereits als Prototyp existierte und kostengünstig
war. Ein Glasdach überdeckt das Atrium und versorgt das
umzusetzen war.
Innere mit Tageslicht, während die relativ kleinen Fenster der
In den italienischen Alpen, in Sauze d’Oulx im Piemont (nach
Fassade vor allem für Belichtung und Durchlüftung sorgten.
der Italienisierung der okzitanischen Region Salice d’Ulzio
Durch die repetitive Anordnung der mit der Spirale kontinu-
genannt) erfolgte 1937 der Bau eines weiteren Turms für eine
ierlich ansteigenden Fensteröffnungen wurde der Blick auf
Kinderferienkolonie. Im Gegensatz zu demjenigen in Marina
die Berglandschaft geradezu ‹banalisiert›, während das
Kampf um das Kind
138
Vittorio Bonadé Bottino, Colonia montana Tina Nasi Agnelli, Grundriss Rampengeschoss mit 64 Betten, 1937
Atrium im Vergleich dazu beinahe einen sakralen Charakter hatte durch das zenital einfallende Licht, das ähnlich wie in einer Kirche eine ‹höhere Autorität› suggerierte. Mussolinis Maxime ‹credere, obbidere, combattere› (glauben, gehorchen, kämpfen) stand über dem Eingang des Speisesaals, die Kinder an die ‹höhere Pflicht› erinnernd. In dieser Ferienkolonie konnten 494 Kinder beherbergt werden (ein Drittel weniger als im Turm von Marina di Massa). Das bebaute Volumen umfasste 28.000 m3, der Zylinderdurchmesser betrug 30 Meter, die Höhe des Turms 35 Meter, die Spiralrampe war 7,5 Meter breit. Die als Standardtypen konzipierten Türme passten sich nur bedingt an die Umgebung an und wurden als Ikonen in die Landschaft gesetzt, um signalhaft den erzieherischen Ehrgeiz des Regimes zu verkünden – und um für Fiat zu werben: In großen verchromten Lettern stand FIAT auf der Fassade der Kinderkolonie in Marina di Massa, die somit zum Werbeträger wurde (auf der Entwurfsskizze thronten sie noch auf dem Dach).
139
Colonia montana Tina Nasi Agnelli, Schlafsaal, bestehend aus einer achtgeschossigen Rampe mit niedrigen Abtrennungen, 1937
Gino Levi-Montalcini, Colonia montana IX Maggio, Eingangsseite (Südseite) (o.) und Schlaftrakt mit Balkonen (u.), Bardonecchia, 1937
35 Gino Levi-Montalcini, Colonia montana IX Maggio, Bardonecchia, 1937
Gino Levi-Montalcini, Architekt der Colonia montana IX Maggio in Bardonecchia, untersuchte in einer Studie, die 1939 in der französischen Zeitschrift L’Architecture d’aujourd’hui publiziert wurde, die Prämissen für den Bau von Kolonien. Er hob die symbolische Wirkung hervor, weil sie einen Rückschluss auf die heutige Zivilisation ermögliche, denn Architektur sei Ausdruck des sozialen Wandels: ‹Von den Formen schließen wir auf den Geist – im Gegensatz zum Prozess, wo der entwerfende Geist die Formen der Bauten bestimmt. Doch können wir wirklich von der Form auf den Geist rückschließen? Ist das richtig? Ergibt das in dieser Reihenfolge Sinn?›65 Damit wies er auf die Wechselwirkung zwischen der architektonischen Form und dem ‹Geist› des Entwerfers hin und hinterfragte zugleich, inwieweit Architektur als Ausdruck einer Ideologie angesehen werden könne bzw. inwiefern Ideologie überhaupt Einfluss auf die Architektur nehmen könne, denn sie greife ‹auf unzählige Ressourcen zurück›. Jedenfalls habe Architektur einen ‹großen Einfluss auf den Stil unseres Jahrhunderts›, schrieb er und legte daraufhin die generellen Planungsprinzipien einer Kolonie dar: ‹Die Landschaft bietet einen idealen Rahmen, der Raum ist fast immer grenzenlos, die Orientierung resultiert allein aus der Sonneneinstrahlung; die Ausgaben für luxuriöse Materialien sind beschränkt; gespart wird aber niemals an der Hygiene, der Erschließung und der Umgebungsgestaltung.›66 Das ‹neue Programm sei rational zu lösen›, die ‹Ressourcen der Natur› müssten respektiert werden; die Jugend erfreue sich an einer ‹ergreifenden Ästhetik›. Montalcinis Text gibt nicht nur Aufschluss über das allgemeine Bauprogramm der italienischen Kolonien, sondern auch über seinen persönlichen Zugang, der in der Colonia montana IX Maggio zum Ausdruck kam: Im Gegensatz zu den strahlend weißen Betonbauten an den Küsten, die charakteristisch für die italienischen Kolonien waren, passte er die alpine Kolonie in Bardonecchia an die lokalen Farben an (gebrochenes Weiß und Tannengrün), wobei er auch regionale Elemente einsetzte, wie Bruchsteinmauerwerk im Sockelbereich. Im Gegensatz zu französischen Architekten strebte er nicht die Interpretation einer regionalen Formensprache an, sondern kombinierte regionale Materialien mit modernen Formen, dem Programm
Kampf um das Kind
140
Gino Levi-Montalcini, Colonia montana IX Maggio, perspektivische Skizze, 1937
entsprechend: Die horizontalen Baukörper ordnete er so an, dass ein komplexes, dreidimensionales Raumgefüge entstand, wobei ein kleiner Turm einen vertikalen Akzent setzt. Weiße Betonrahmen fassen die Gebäude ein, die sich von der Berglandschaft abzeichnen, während die tannengrünen Putzfassaden hinter den Rahmen und weißgestrichenen Geländern zurücktreten. Das betonte Hell-Dunkel der Baukörper verleiht ihnen eine gewisse Form von Abstraktion, die sie von der Landschaft abhebt. Dennoch sind sie in ihr verankert, nicht nur wegen der gewählten Materialität und Farben, sondern auch durch die Anordnung der Baukörper: Vom Eingang herkommend, korrespondiert der Standort des Turms mit der Erhöhung des Berges im Hintergrund; offene Arkaden ermöglichen nicht nur eine trockene Verbindung zwischen den Baukörpern, sondern auch einen Blick auf die umliegende Landschaft. Außen und innen sind miteinander verwoben. Montalcinis theoretischer Grundsatz wurde hier architektonisch umgesetzt: ‹Die Landschaft bietet einen idealen Rahmen, Raum ist fast immer grenzenlos.›67
141
Gino Levi-Montalcini, Colonia montana IX Maggio, Grundriss Erdgeschoss, 1937
Colonia montana IX Maggio, Ostseite, der Turm setzt zum dreiseitig geschlossenen Hof einen vertikalen Akzent, 1937
Lois Welzenbacher, Kinderheim Ehlert, Westseite mit Holzlattenfassade, Vorderhindelang, 1933
36 Lois Welzenbacher, Kinderheim Ehlert, 1931–1933
Kinder bei Kreisspielen auf der Terrasse des Kinderheims Ehlert, 1933
Ehlert ist Ausdruck dieser Mischung: Teilweise hatte es eine
Der lange, horizontale, mit Flachdach ausgestattete Baukörper
Holzfassade, teilweise einen weißen Verputz. Der dynamische
fügte sich entlang eines Hanges in die Landschaft ein. Er
Halbkreis der Terrasse, das Flachdach, das auskragende Vor-
wurde von einer halbkreisförmigen Terrasse, die sich zum
dach und die Schiffsform des Gebäudes entsprachen zwar der Formensprache der Moderne, doch war das Gebäude dermaßen in der Landschaft verankert (u. a. wegen des lokalen Baustoffs Holz), dass es nicht wie ein Fremdkörper wirkte. (Welzenbacher war der einzige österreichische Architekt, der im Jahr 1932 auf Einladung an der Ausstellung International Style in New York teilnahm.) Im Gegensatz zum Erziehungsprogramm der italienischen Kinderkolonien, das vor allem auf Disziplinierung ausgerichtet war, scheint das Kinderheim Ehlert andere Ziele verfolgt zu haben, wie einer Werbebroschüre aus dessen Anfangszeit zu entnehmen ist: Auf den Fotos sprangen Kinder über die Rücken ihrer Kameraden und saßen entspannt auf der Brüstung der Terrasse oder bauten Modelle von dörflichen Häusern. Andere Bilder zeigten die Kinder auf der Terrasse beim Spielen oder wenn sie sich auf Liegestühlen ausruhten. Welzenbacher
Bergpanorama hin öffnet, abgeschlossen, wodurch die Kinder
begann mit der Planung des Kinderheims im Jahre 1931, die
beim Sonnenbad, Turnen und Spielen die Aussicht genießen
Fertigstellung erfolgte im Sommer 1933.
konnten. Zwei Treppen führten von der Terrasse direkt auf die Wiese und verstärkten dadurch den unmittelbaren Naturbezug.
Erweiterungsbau
Das Gebäude bestand aus drei Etagen, die jeweils einem
Bald nach der Inbetriebnahme sollte ein Erweiterungsbau
spezifischen Raumprogramm entsprachen: Über einem die
errichtet werden. Welzenbachers Entwurf aus dem Jahre
Nebenräume beherbergenden Sockel lag das Hauptgeschoss,
1934 für drei kleine Pavillons stellte einen starken Kontrast
das sich durch die Terrasse und ein auskragendes Vordach
zu den klaren Linien des Kinderheims dar: Sie hatten orga-
vom Baukörper abhob. Hier waren die Gemeinschafts- und
nisch geformte Dächer und schrieben sich, leicht zueinander
Unterrichtsräume angesiedelt, die sich mit raumhohen Glasfenstern zur Holzterrasse hin öffneten und somit ein fließendes Raumkontinuum erzeugten. Im Geschoss darüber befanden sich die Schlafzimmer der Kinder. Während die Südseite des Haupt- und Sockelgeschosses weiß verputzt war, bestand das Obergeschoss aus einer Holzlattenfassade, die sich über alle restlichen Fassadenflächen erstreckte. Es bildete eine materielle Einheit mit dem asymmetrischen Treppenturm auf der Westseite, der zur Dachterrasse führte. Welzenbachers Bauten waren charakteristisch für das ‹landschaftsbezogene Bauen› (wie es damals hieß), das er auf eine ihm eigene Weise mit dem Stil der Moderne verband; sie waren gleichzeitig regional und zeitlos modern. Das Kinderheim
Kampf um das Kind
142
Kinderheim Ehlert, Blick auf die halbrunde ostseitige Terrasse mit Flugdach und Blick auf die Berge, 1932
versetzt, in den Hang ein. Der Stilbruch ist bemerkenswert: Die moderne Formensprache des Kinderheims musste, um den stilistischen Vorschriften der nationalsozialistischen Baubehörden zu entsprechen, einem regionalistischen Heimatstil weichen, den Welzenbacher auf eine ihm eigene, organische Art interpretierte. Dieser Stilwandel ist auch an den alpinen bzw. ländlichen Privathäusern nachvollziehbar, die er in der nationalsozialistischen Ära baute. Im Gegensatz zu seinen in der NS-Zeit angefertigten Entwürfen für Industriebauten und Tankstellen, die vom Stil der Moderne geprägt waren, lehnten sich die Landhäuser mit dominant gewölbten Dächern an einen Regionalismus an, für den sich bereits zu Beginn des Jahrhunderts die meist völkisch geprägte Heimatschutzbewegung eingesetzt hatte. Das Kinderheim wurde in den 1970er Jahren abgerissen.
143
Gemeinschaftsraum mit schwellenlosem Übergang zur Terrasse, mit spielenden Kindern, 1933
Kinderheim Ehlert, Grundriss Erdgeschoss und erstes Obergeschoss, 1931
1 Adolf Loos, ‹Stadt und Land› (12. Okt. 1918),
12 Laura Lee Downs, Childhood in the Promi-
ging laut Loos mit dem Wahrheitsprinzip der
aus dem Vortragszyklus: ‹Äussere Kultur im 20.
sed Land: Working-Class Movements and the
Natur einher, denn sie sei, im Gegensatz zur Or-
Jahrhundert›, in: ders., Die Potemkin’sche
Colonies de Vacances in France 1880–1960,
namentik des damals gängigen ‹Heimatstils›,
Stadt, Prachner, Wien 1983, 140.
Duke Univ. Press, Durham/London 2002
zeitgemäß.
2 Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Ueber
[=Downs 2002], 23.
29 Loos (1918) 1983, 139.
die Erziehung, Band 1, Kap. 1, Übers. H. Den-
13 Ibid.
30 Zit. n.: Deborah Holmes, Langeweile ist
hardt, Philipp Reclam jun, Leipzig, zit. n.: La
14 Ibid., 44.
Gift. Das Leben der Eugenie Schwarzwald,
Bibliotheka 2008, 9. [=Rousseau (1762) 2008]
15 Wann die israelitische Gemeinde Kinderko-
Residenz Verl., St. Pölten 2012, 153–173.
3 Herrn Johann Lockens Gedanken von Erzie-
lonien unterhielt, konnte ich nicht eruieren. Ich
31 Loos (1918) 1983, 140.
hung der Kinder; von neuem aus dem Engli-
habe sehr wenig Information dazu gefunden.
32 Frans de Waal, Wilde Diplomaten. Versöh-
schen übersetzt, Leipzig, Verl. Johann, Paul
Die eclaireurs israelites wurden 1922 gegründet.
nung und Entspannung bei Affen und Men-
Krauß, Leipzig-Wien 1761, XXVIII Abschn. § 217,
16 Abbé Bruneau, L’Œuvre des saines vacan-
schen, Hanser, München 1989, 17.
(403) 404. Übers. von: John Locke, Some
ces, Bulletin de l'Association des Anciens Elè-
33 Zit. n.: Decalogo piccola italiana, 1935 Dis-
Thoughts concerning education, Johann Paul
ves de Saint-Sulpice, zit. n.: 1902, zit. n.: Downs
pense di Storia Della Pedagogia, Università
Krauß Verl., London 1693, 261.
2009, 105.
Cattolica del Sacro Cuore – Piacenza,
4 Rousseau (1762) 1865, Bd. 2, Èmile, Livre 5,
17 Bericht des Congrès national des colonies
www.docsity.com/it/decalogo-balilla-e-piccola-
‹Profession de foi du Vicaire Savoyard› 384,
de vacances, F. Gibon, Paris 1910, zit. n.: Downs
italiana/720635/ (23.6.2018).
zit.n.: Rousseau (1762) 2008, 1119.
2009, 65.
34 Zit. n.: Alberto Salza, Elena Bissaca, Elimi-
5 Ibid., Èmile, Livre 5, ‹Des voyages›, 447,
18 In Dänemark wurden bereits im Jahre 1882
nazioni di massa, Sperling & Kupfer Ed.,
zit.n.: Rousseau (1762) 2008, 1307.
7.000 Kinder aufs Land geschickt, im Jahre
Mailand 2012, 158.
6 Vgl. Pierre-Claude-François Daunou, ‹Lettres
1900 waren es 14.000 und 1906 bereits 18.000,
35 Ausschnitt des Dokumentarfilms ‹Il Principe
sur l’éducation› (1789, 1790); in ders., Plan
also 40 Prozent von insgesamt 45.000 Schulkin-
di Piemonte visita Salice d'Ulzio, la colonia es-
d’éducation présenté a l’Assemblée nationale
dern.
tiva della mutua operai Fiat e passa in ras-
(1790), siehe: René Grevet, ‹Daunou, l’organi-
19 Jean Houssaye, Le Livre des colos: Histoire
segna il battaglione Val Fassa›, in: Giornale
sateur de l’instruction publique› (1789–1797),
et évolution des centres de vacances pour
Luce, Nr. C007303, 9.9.1940, Archivio Storico
in: Revue du Nord, Juni–Dezember 1989, 963–
enfants, Documentation Française, Paris 1989,
Istituto Luce, Rom: www.archivioluce.com.
977; vgl. Publikationen einzelner Mitglieder
37ff, zit. n.: Downs 2002, 195 u. 356.
36 Alex Wall, ‹La città dell’infanzia›, in: Stefano
des Cercle social (1790–1800), u. a. La Feuille
20 Downs 2002, 356: In Frankreich gab es im
de Martino, Alex Wall (Hg.), Cities of Child-
villageoise (1790–1796); Condorcet, Cinq mé-
Vergleich dazu im Jahr 1936 Kolonien für
hood, Italian Colonies of the 1930’s, Ausst.-Kat.,
moires sur l’instruction publique (1791).
420.000 Kinder, 1939 für 700.000.
Architectural Association, London 1988, 62f.
7 Louis François Portiez, Des voyages, de leur
21 Downs 2002, 198.
37 Mario Labò, ‹L'architettura delle colonie
utilité dans l’éducation. Par Louis Portiez,
22 ‹La dictature de la santé›, in: Le Matin,
marine italiane›, in: Mario Labò und Attilio
député de l’Oise, gedruckt im Auftrag der
24. Oktober 1932
Podestà, ‹Colonie marine, montane, eliotera-
Convention nationale, s.l. s.d. [Paris 1794]
23 ‹Le Mont-Blanc côté santé. L’aventure des
piche›, Editoriale Domus, Milano, 1942. Zit.
[=Portiez 1794], 2–3. Diese Rede wurde ver-
maisons d’enfant›, in: En Coutère, n° 21, Saint-
n.: Fulvio Irace, ‹L’utopie nouvelle: L’architet-
mutlich am 8. oder 9. Juli 1794 (20 ou 21 mes-
Gervais 2000 (Archiv Annecy), 14ff.
tura delle colonie›, Domus 659, März 1985,
sidor an II) publiziert, laut: Gabor Gelleri:
24 Albrecht von Haller, Die Alpen, 1729
2–3. Erstpublikation in: Costruzioni Casabella,
www.academia.edu/5038031/Voyager_un_pro-
[=Haller 1729].
Nr. 167, 1941, 2–6.
gramme_r%C3%A9publicain
25 Ernst Wangermann, ‹The conditions of
38 Vgl. Katharina Torkler, Ferienkolonien von
Vgl. Laura Lee Downs, Histoire des Colonies
national consciousness in the epoch of
Industrieunternehmen zur Zeit des Faschismus
de vacances de 1800 à nos jours, Ed. Perrin,
Enlightenment›, in: Seventh International Con-
in Italien, Diss. Geschichtswissenschaften,
Paris 2009 [=Downs 2009], 27.
gress on the Enlightenment, 26 juillet–2 août
Freie Universität, Berlin 2001 [=Torkler 2001].
8 Portiez 1794, 11; siehe: Gabor Gelléri,
1987, Voltaire Foundation, Oxford 1989
39 Michel Foucault, Überwachen und Strafen.
‹Voyager: un programme républicain›, in: Gilles
[=Wangermann 1987], 246ff.
Die Geburt des Gefängnisses, Suhrkamp,
Bertrand, Pierre Serna (Hg.), La République en
26 Das Werk: Architektur und Kunst/L’œuvre :
Frankfurt am Main 1976, transl.: ders., Surveiller
voyage 1770–1850, Presses Universitaires,
architecture et art, Bd. 40, 1953, Heft 7 [=Das
et punir. Naissance de la prison, Éditions
Rennes 2013, 221–231.
Werk 1953], 216.
Gallimard, Paris 1975, 160.
9 Downs 2009, 38.
27 Haller 1729.
40 Die Angaben stammen aus einer Mitteilung
10 Ibid.
28 Adolf Loos, ‹Regeln für den, der in den
der Reichsjugendführung: 429 Jugendherber-
11 Vgl. Historisches Lexikon der Schweiz
Bergen baut› (1913), in: G. Stuiber (Hg.),
gen blieben im Rohbau, 241 waren begonnen,
(HLS), Version vom 11.06.2018, www.hls-dhs-
Warum Architektur keine Kunst ist, Metroverl.,
660 in Planung begriffen und mit Bauschein
dss.ch/textes/d/D16592.php (23.06.2018).
Wien 2009 [=Loos (1913) 2009], 118. Technik
ausgestattet, 800 weitere geplant. Insgesamt Kampf um das Kind
144
wären das reichsweit 2.780 Heime gewesen,
ou la pente de la guerre (1950), Flammarion
wobei mehr als die Hälfte ein konkretes Bau-
Champs, Paris 2012.
stadium gar nicht mehr erreichten. Zit. n.:
57 Loos (1913) 2009, 118.
Helmut Weihsmann, Bauen unterm Haken-
58 Marcel Just, Christoph Kübler, Matthias
kreuz, Promedia, Wien 1998, 81.
Noell, Renzo Semadeni (Hg.), Arosa. Die
41 Zit. n.: Willibald Sauerländer, ‹75 Jahre
Moderne in den Bergen, Ausst.-Kat. ETH
«Haus der Kunst» in München. Traumatischer
Zürich 24.1.–21.2.2008, Arosa 15.6.–14.9.2008,
Hass auf die Entarteten›, in: Süddeutsche Zei-
GTA Verl., Zürich 2007, 103.
tung, 18. Juli 2012.
59 Ibid.
42 Ibid.
60 Ibid.
43 Baldine Saint Girons in einem Interview mit
61 H. M. (möglicherweise Hannes Meyer
der Autorin, Sommer 2016. Siehe auch:
selbst), ‹Kinderheim Mümliswil: Hannes Meyer,
Baldine Saint Girons, ‹Le sublime et l’esprit du
Architekt, Basel-Lugano›, in: Das Werk: Archi-
classicisme›, in: Art et science à l’âge classique,
tektur und Kunst, Bd. 40, 1953, Heft 7: ‹Bauten
Dir. Baldine Saint Girons, Verl. Université Paris
für die Jugend›, 213.
Ouest, Paris X-Nanterre 2000 [=Girons 2000].
62 Ibid., 216.
44 Baldine Saint Girons, Du Grotesque comme
63 Ibid.
risque du sublime. Combat, alliance, fusion in-
64 Hannes Meyer, ‹Die Siedlung Freidorf›, in:
time, coll. de Madison, Dir. Jan Miernowski,
Das Werk: Architektur und Kunst, Bd. 12, 1925,
Champion, Droz, Paris 2014 [=Girons 2014],
Heft 2, 40– 51.
41–63.
65 Levi Montalcini, ‹Les colonies de vacances
45 Burke 1757, 75.
en Italie› (Tribune libre), in: L´architecture d´au-
46 Ibid.
jourd’hui, Vacances et Loisirs, Juli 1939, 88.
47 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter
66 Ibid.
seiner technischen Reproduzierbarkeit
67 Ibid.
(1935/1936), mit einem Kommentar von Detlev Schöttker, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007 [=Benjamin (1935/1936) 2007], Nachwort, 47ff. 48 Filippo Tommaso Marinetti, zit. n.: Benjamin (1935/1936) 2007, Nachwort, 48f. Benjamin erwähnt als Quelle für Marinettis Manifest zum äthiopischen Kolonialkrieg: La Stampa, Torino. Dieser Text ‹Estetica Futurista della Guerra›, genannt, wurde in Form eines Manifests 1935 gedruckt, in: Stile Futurista, Rivista Mensile d‘arte Vita, Torino (101). 49 Filippo Tommaso Marinetti, ‹Futuristisches Manifest› (Le Figaro [Paris], 20.2.1909). 50 Benjamin (1935/1936) 2007, 50. 51 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie (1970), Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003. 52 Jean-François Lyotard, ‹Das Erhabene und die Avantgarde› (1983), in: ders., Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Passagen, Wien 1989 [=Lyotard (1983) 1989], 159–187. 53 Ibid. 54 Ibid. 55 Baldine Saint Girons, ‹Le beau et le laid, y a-t-il un sublime de l’utile ? Les pouvoirs de l’architecture et «la minute du sublime», nicht publizierte Konferenz im SFA, Paris 2016. 56 Ibid., mit Ref. auf: Roger Caillois, Bellone 145
Kampf um das Kind
Arnold Fanck, ‹Wunder des Schneeschuhs›, 1920
5
Die Bewegung […] hat sich zu einer Art vertikalen Turbulenz verwandelt, die aus Kontraktionen, Verdunkelungen,
Bewegung, Rausch und Schwindel
Schrecken und Schwindel besteht; sie ist kein Gleiten mehr, sondern innerer Sturm, monströse Erregung, stillstehende Krise des Körperbewusstseins.
Le mouvement […] est devenu une sorte de trouble vertical, fait de contractions, d’obscurcissements, de terreurs et d’évanouissements ; il n’est plus glissement mais ravage intérieur, trouble monstrueux, crise immobile de la conscience corporelle .1 Roland Barthes, L’Homme-jet, Mythologies, 1957
Der Körper rückte in den 1920er und 1930er Jahren in den
auditive Faktoren (Unbegrenztheit, Hell–Dunkel, Tiergeschrei),
Vordergrund der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit und er-
die starke Emotionen auslösen (Angst, Überraschung,
möglichte es, auf andere Weise die Erfahrung des Erhabenen
Begeisterung). Nun ging es vielmehr um einen dionysischen
zu machen: Er vermittelte das Erleben eines rauschartigen
Rauschzustand, der zur Selbstentäußerung führt.
Schwebezustands, der zu den essenziellen Charakteristika
Der Körper wurde zu einem wichtigen Instrument für die
des Sublimen gehört. Der körperliche Rausch, der durch Ge-
Erzeugung ‹maximaler Spannung›, die Uvedale Price bereits
schwindigkeit und Schwindel entsteht, löst eine Grenzerfah-
im späten 18. Jahrhundert als einen Zustand des Erhabenen
rung aus, zwischen Schrecken und Faszination. Während zur
ausgelegt hatte, welcher ‹die [Nerven-]Fasern über ihren
Zeit der Aufklärung die Unfassbarkeit der grenzenlosen Natur
natürlichen Tonus dehnt›.2 Dies ist ein interessanter und letztlich
einer der wichtigsten Faktoren für die Erfahrung des Erhabe-
auch recht moderner Standpunkt, weil Ästhetik auf untrenn-
nen war, einhergehend mit der geistigen Bewusstwerdung
bare Weise mit psychologischen und physiologischen Effekten
des Menschen, gesellte sich in der Romantik eine numinose,
verbunden ist, gemessen in einer graduellen Spannungsskala.
ekstatische Form von Selbstentäußerung hinzu. Zu Beginn
Durch das Aufkommen der Philosophie des Leibes, die unter
des 20. Jahrhunderts stand die durch Bewegung, Geschwin-
anderem von Friedrich Nietzsche getragen wurde (der Körper
digkeit und Schwindel ausgelöste körperliche Schockerfahrung
ist der Geist), kam es zu einer gesellschaftlichen Neuorientie-
im Vordergrund, wodurch sich die bisherige, rein geistige
rung. Wenn Geist und Leib als Eines betrachtet werden und
Konzeption des Erhabenen radikal veränderte.
miteinander zur (transzendentalen) Selbsterkenntnis führen,
Es handelt sich um ein geistiges Sich-Erheben über die
so spielt der Leib auch eine andere Rolle bei der Erfahrung
Naturgewalt (wie bei Kants Dynamisch-Erhabenem), noch
des Erhabenen: Das Überschreiten unserer Grenzen erfolgt
um die Konfrontation mit einer nicht erfassbaren quantitativen
dann nicht mehr allein durch den rationalen Geist, sondern
Größenordnung (wie bei Kants Mathematisch-Erhabenem.
in untrennbarer Verbindung mit dem Körper, der seine eige-
Es handelt sich auch nicht, wie bei Burke, um eine psycho-
nen Mittel hat. Anstatt der erhabenen Naturbetrachtung ging
logische Erfahrung, ausgelöst durch visuelle, sensorische oder
es nun um die Herausforderung der ‹nackten Natur› des
147
Bewegung, Rausch und Schwindel
Carlo Mollino, Testen neuer Skifahrtechniken mit maximaler Geschwindigkeit, hier mit Flugumhang für das Springen, 1939–1944
dionysischen, sich in Bewe-
die Bewältigung der Haltlosigkeit in der eigenen Bewegung,
gung versetzenden Men-
im Wirbel des dionysischen Tanzes. Das erschreckende
schen. Beiden Erfahrungs-
‹Nichts› wird zum Feld des Möglichen. Bewegung avancierte
weisen liegt jedoch ein
zu einem neuen Paradigma, das zu Nietzsches Zeit noch mit
Rauschgefühl zugrunde,
dem Streben nach einem höheren Bewusstsein einherging.
wenn auch auf unterschied-
Dies änderte sich mit dem Zusammenbruch der Alten Welt.
liche Weise. Nietzsche hatte
Von Nietzsche beeinflusst, aber auch von Guillaume
in seinem 1898 publizierten
Apollinaire, Joris-Karl Huysmans und Stéphane Mallarmé,
Spätwerk Götzen-Dämme-
publizierte der junge Marinetti, der als 17-Jähriger in Paris
rung oder Wie man mit dem
lebte und in Künstlerkreisen verkehrte, 1909 im Figaro sein
Hammer philosophirt sowohl
‹Manifest des Futurismus›, wobei er die ‹angriffslustige
das apollinische als auch
Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den
das dionysische Prinzip als
Salto mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag› pries, als
Arten des Rausches definiert:
Gegenpol zur ‹gedankenschwere[n] Unbeweglichkeit, [der]
‹Was bedeutet der von mir
Ekstase und de[m] Schlaf›8 vergangener Zeiten. Bewegung,
in die Aesthetik eingeführte Gegensatz-Begriff apollinisch
Geschwindigkeit und die Technik sah er als Inbegriff der re-
und dionysisch, beide als Arten des Rausches begriffen? –
volutionären Modernität an:
Der apollinische Rausch hält vor Allem das Auge erregt, so
‹4. Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine
dass es die Kraft der Vision bekommt. Der Maler, der Plastiker,
neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwin-
der Epiker sind Visionäre par excellence. Im dionysischen
digkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre
Zustande ist dagegen das gesamte Affekt-System erregt und
schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen, ein
gesteigert: so dass es alle seine Mittel des Ausdrucks mit
aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint,
einem Male entladet und die Kraft des Darstellens, Nachbil-
ist schöner als die Nike von Samothrake.
dens, Transfigurirens, Verwandelns, alle Art Mimik und Schau-
5. Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer hält,
spielerei zugleich heraustreibt.›
dessen Idealachse die Erde durchquert, die selbst auf ihrer
3
Der im Affekt handelnde, rhythmisch tanzende, körperbetonte
Bahn dahinjagt. […].
Dionysos besiegte in den 1920er Jahren den statischen
8. Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhun-
Apollon; das rauschhafte Wirbeln ersetzte den kontemplativen
derte! Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheim-
Blick. Das neue Sublime lag im Rausch der Bewegung, im Un-
nisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und
vorhersehbaren, in einer unkontrollierbaren Körpererfahrung.
Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absolu-
Jeannot Simmen beschrieb in Vertigo. Schwindel der moder-
ten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige
nen Kunst die radikale, durch Nietzsches Philosophie ausge-
Geschwindigkeit erschaffen. […]›9
löste Veränderung mit anschaulichen Worten: ‹Nicht das
Zur philosophischen, gesellschaftlichen und technischen Um-
Naturschauspiel interessiert, sondern das menschliche, innere
wälzung gesellte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch
Beschleunigungs-Drama samt sprunghaftem Salto.›
eine physikalische hinzu: Einsteins Relativitätstheorie (1917)
4
5
Im Stürzen sah Nietzsche im Zuge seiner christlichen Religions-
erschütterte nicht nur die mechanischen Gesetze der Physik,
kritik (‹Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn
sondern auch die Menschheit, da die bisherige Konzeption
getödtet! […] Es gab nie eine grössere That, – […]!› ) einen
von Raum und Zeit, mitsamt den physikalischen Gesetzen
gewaltigen Befreiungsakt, weil er zu eigenständigem Denken
plötzlich vollkommen in Frage gestellt wurde. Die neue Defi-
führt: ‹Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stür-
nition von Energie (E = mc2), die auf einem direkten Zusam-
zen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts,
menhang von Masse und Geschwindigkeit jeglicher Körper
nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten?
beruhte, führte laut Simmens These dazu, dass Bewegung
Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?› Für ihn lag
zum Symbol der Moderne wurde. Eine ähnliche Erschütterung
6
7
Bewegung, Rausch und Schwindel
148
Arnold Fanck, ‹Wunder des Schneeschuhs›, 1920
musste damals empfunden worden sein wie zu Newtons Zeit, als die Menschheit durch die Gravitationsgesetze mit der Unendlichkeit des Kosmos konfrontiert wurde. Der Schauder angesichts des bedrohlichen Nichts konnte in der Aufklärung durch die Schwebemetapher überwunden werden, wie Simmen es in seinem Buch ausführt, ohne jedoch einen Bezug zum Erhabenen, der meiner Ansicht nach nicht zu vernachlässigen ist, herzustellen; denn in der Aufklärung tauchte das Schweben in sämtlichen Schriften über das Erhabene auf, insbesondere in Zusammenhang mit den Bergen, wie es im ersten Kapitel anhand von Burnets, Shaftesburys und Addisons Flugallegorien dargestellt wurde. Das bedrohliche Nichts konnte durch das Erhabene bewältigt werden, indem sich der rationale Geist über die Furcht erhob; das Erschreckende wurde in ein positiv kosmisches Weltbild integriert. Die Bewältigung von Einsteins revolutionärer Erkenntnis lag
Moderne ist ein Destruktions-Unternehmen; das irritierte
nicht mehr in einem geistigen Sich-Erheben über die unfass-
Gleichgewichtsorgan [der sechste Sinn] indiziert wirbelnde
bare Natur (denn diese konnte nun in ihrem kosmischen Aus-
Formen von ekstatischem Schwung›,12 scheint sich in den
maß berechnet werden, inklusive der Lichtgeschwindigkeit),
Alpen (analog zu den wilden Pinselstrichen der Maler der
sondern vielmehr in der Versuchung, ‹seine eigene Masse
Moderne, auf die er sich bezieht), reell abzuspielen, indem
durch Geschwindigkeit in Energie aufzulösen›, um mit Simmen
frenetische, mit Skiern ausgestattete Körper ekstatisch über
zu sprechen. Das exzessive, alle Grenzen sprengende Erha-
Felsvorsprünge in die Tiefe springen. Dies wurde im neuen
bene wurde nicht mehr durch ein geistig-fühlendes Wesen,
Medium Film in Zeitlupe und Zeitraffer visuell ausgekostet,
sondern durch einen beschleunigten Menschen erlebt. Selbst
wovon der Bergfilm ‹Der weiße Rausch – neue Wunder des
wenn die neue Art von Grenzerfahrung andere Mechanismen
Schneeschuhs› (in mehreren Varianten zwischen 1920–1931
hat als die geistige, konfrontiert sie den Menschen mit seinem
erschienen) zeugt, wo Skifahrer in wildem Tempo über die
innersten Wesen, und zwar auf eine körperlich-ekstatische
unberührten Schneehänge jagen. Zeitlupenaufnahmen erzeu-
Weise.
gen einen Schwebezustand, wobei die schwerelos wirkenden
Die Ekstase der Moderne wird von Simmen als Akt der Be-
Körper zu Ikonen eines neuen Freiheitsgefühls werden. Der
freiung und Veränderung angesehen, der sich symbolisch
Film war das ideale Medium, um den Rausch der Geschwin-
gesehen im ‹Sprung ins Nichts› artikuliert, welcher erst ein
digkeit in bewegten Bildern zu erfassen und in einer ästheti-
‹freies Schweben› ermöglicht: ‹Die Ekstase moderner Art,
sierten Form (in den Zeitlupenaufnahmen beinahe Bild für
anders als die kollektiven oder göttlich-religiösen Erfahrungen,
Bild) wiederzugeben: Aus dem sekundenlangen Sprung
die Visionen eröffnen, [bezieht sich nicht auf eine] paradiesisch
wurde ein minutenlanges Schweben, Masse und Geschwin-
jenseitige Welt, sondern [auf] ein verändertes Hier und Jetzt.›
digkeit wurden in einem neuartigen Raum-Zeit-Verhältnis auf-
10
11
gelöst und Energie wurde in geballter Weise wiedergegeben,
Alpen als Versuchsgelände
sowohl beim verlangsamten Fliegen als auch beim beschleunigten Hinauftreppen, das zu einer ekstatischen Raserei wird (Filmporträt 37).
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der ‹Sprung ins Nichts›
Die schwerelos wirkenden, schwebenden Körper erinnern
zum alpinen Thema, wobei die metaphorische Dimension in
vage an Addisons Flugallegorie, die zu Beginn des 18. Jahr-
eine physisch erlebbare Wirklichkeit umgesetzt wurde.
hunderts allerdings eine philosophische Dimension hatte. Bar
Simmens Maxime: ‹Vertigo avanciert zur Metapher für Moderne,
jeglichen Inhalts begann nun das Jahrhundert des Sports, Arnold Fanck, Der weiße Rausch, 1920–1931
149
37
Arnold Fanck, ‹Der weiße Rausch›, 1931
wobei der befreite Leib im Zentrum stand. Bewegung wurde
Natur erhaben. Allerdings langweilte er sich nun beim
zu einem neuen Paradigma, das man versuchte durch die
Anblick der Berge, anstatt ein schauriges Prickeln zu verspüren.
Beschleunigung des eigenen Körpers zu erfahren – um den
Die Sehnsucht nach aufregender Begeisterung, die eine
Verlust der Selbstkontrolle willen. Die Alpen waren zum idealen
bezwungene Natur nicht mehr erfüllen konnte, blieb aber
Versuchsgelände für das Ausleben des Rauschs der Bewegung,
bestehen. Dadurch entstand möglicherweise ein emotionales
der Geschwindigkeit und des Schwindels.
Vakuum, das mit dem Zusammenbruch der Alten Welt bzw. mit dem Aufkommen der Neuen Welt zeitlich zusammenfiel.
Der Mensch erhebt sich über die Natur
So verlagerte sich das Bedürfnis nach Aufregung vom Geist
Der technische Fortschritt ermöglichte die Eroberung der
auf den Körper, denn nur durch diesen konnte man noch eine
letzten Bastionen der ‹wilden Natur›. Durch den rasch expan-
erregende Grenzerfahrung machen, und zwar dank rasender
dierenden Tourismus und die Erstellung eines immer dichter
Bewegung und der Herausforderung extremer, existenzieller
werdenden infrastrukturellen Netzes wurde sie jedoch immer
Situationen.
weniger wild und immer mehr beherrscht. Der vereinzelte, über Schluchten und Felsen schreitende Wanderer des 18. Jahrhunderts, der angesichts der wilden
Bewegung
Natur erschauerte, wurde Ende des 19. Jahrhunderts von Zahnradbahnen überholt, welche eine bedeutende Menge
In den 1920er Jahren setzte sich die sukzessive Befreiung von
von Touristen auf die Berge hinauf, direkt zu den Grandhotels
bisherigen Konventionen, gesellschaftlichen Ritualen und
brachten – wie es Mark Twains satirische Textsammlung A
Glaubensformen durch, wobei Nietzsches Einfluss eine be-
Tramp abroad (1880) anschaulich aufzeigt. Dass das vom Reise-
deutende Rolle spielte. Die Dynamik des ‹neuen Menschen›
führer bereits programmierte Bestaunen des erhabenen Son-
kommt im neuartigen Körperbewusstsein und im Sport zum
nenaufgangs nicht mehr stattfinden konnte, weil das einsame
Ausdruck, aber auch in der Reise und im Tanz, wie es
Bergerlebnis durch die Präsenz zahlreicher anderer Touristen
Siegfried Kracauer in seinem 1925 erschienenen gesellschafts-
verhindert wurde, kommt
kritischen Essay Die Reise und der Tanz13 veranschaulicht.
darin ebenfalls klar zum
Er sah darin Sinnbilder einer ersehnten Bewegung, durch die
Ausdruck.
man die ‹alte Gesellschaft› verlassen könne, in der Erwartung
Nachdem durch die Er-
der ‹Befreiung von Erdenschwere›.14 Die Grandhotels in den
schließung der Berge in den
Alpen wurden zu einem beliebten Schauplatz dieser neuen
luftigen Höhen das gleiche
Bewegungssucht, denn hier konnten sowohl die Reiselust als
mondäne Leben geführt
auch das Tanzfieber ausgelebt werden.
werden konnte wie in den
Kracauer kritisierte die frenetische und sinnentleerte Bewe-
Städten, geriet das Gefühl
gung. Er versuchte, dieses neuartige Phänomen, das weit
des Erhabenen ins Wanken.
über die technischen Neuerungen der Transportmittel hinaus-
Der Naturgewalt wurde
reichte, in seiner Essenz zu begreifen, die in ‹raumzeitlichen
triumphierend die Technik
Passionen› liege: ‹Goethes Italienreise galt noch dem Land,
entgegengesetzt, welche
die Seele heute – oder was Seele so heißt – sucht den Wech-
die einst ‹wilden Berge›
sel des Raumes, den die Reise ihr bietet.›15 Beim Reisen gehe
erschloss und letztlich auch
es nicht mehr darum, wohin man reise, sondern dass man
bezwang. Durch das mühe-
reise und sich in Bewegung befand:
lose ‹Erklimmen› der Höhen-
‹Das Abenteuer der Bewegung als solche begeistert, das
lagen fühlte sich der Mensch
Hinübergleiten aus den normalen Räumen und Zeiten in
nicht bloß geistig, sondern
die noch nicht durchmessenen erregt die Leidenschaft, die
auch physisch über die
Vagabondage durch die Dimensionen gilt als Ideal. Dieses
Bewegung, Rausch und Schwindel
150
raumzeitliche Doppelleben könnte aber kaum mit solcher In-
entsprechende Adaptierungen durchführen. Alpencasinos
tensität begehrt werden, wenn es nicht die Verzerrung des
ergänzten das ‹Alpenparadies›, das Leben war mondän,
wirklichen wäre.›
bewegt. Neben dem Bau von Schwimmbädern wurden auch
16
Die Wirklichkeit würde sich in der Geschwindigkeit auflösen
die ‹sinnentleerten› Hotelhallen in Tanzsäle verwandelt, in
und kurzfristig im glücklichen Rausch der Bewegung ver-
denen der ‹Jazz tobte›.
schwinden. Er klagte die Oberflächlichkeit der neuen Gesell-
Das Gefühl der Leere, das in der Hotelhalle eine symbolische
schaft an, die sich kein Gesamtbild mehr verschaffe und nicht
und räumliche Verkörperung fand, wurde auch von dem in
mehr das Jenseitige suche, wodurch ihnen die eigentliche
Prag geborenen Schriftsteller Franz Werfel (1890–1945)
Erkenntnis versagt bleibe. In der Bewegung sah Kracauer
aufgegriffen. In seiner 1927 erschienenen expressionistischen
einen Ersatz für das Höhere: Die Hotelhalle ersetzt die Kirche,
Erzählung Die Hoteltreppe20 werden Schwebezustand und
das schnelle Kommen und Gehen den Gottesdienst; ‹Reise
Schwindel thematisiert durch eine hohe, zur Kathedrale
und Tanz haben eine theologische Bedeutung erlangt, […]›,
17
erhobenen Hotelhalle. Ein unglücklich verliebtes Mädchen
schrieb er konsterniert. Der Schnelligkeit und der Technik
steigt mühselig die Treppe, welche die runde Halle umkreist,
stand er skeptisch gegenüber, weil sie die menschliche Tiefe
hinauf: ‹Der Weg, der vor ihr lag, kam ihr weit und beschwer-
unterminierten: ‹Die Technik hat uns überrumpelt, die von ihr
lich vor wie eine einsame Bergbesteigung›, denn sie spielte
geöffneten Regionen starren noch leer.›18 Melancholisch
in Gedanken mit dem Tod. Sich über die Balustrade beugend,
stellte er fest: ‹Ausgeträumt ist der Walzertraum›, im Bewusst-
blickt sie in die Tiefe: ‹Wie wär’ es, wenn ich mich jetzt noch
sein, dass die Zeit der alten Gesellschaft vorüber war. Kracauer
weiter vorbeuge und das Gleichgewicht verliere …›
witterte in der Aufbruchsstimmung der 1920er Jahre eine
Der schwebende Kristallluster in der Mitte des Raumes wird
Gefahr, die in der gewaltigen Kraft der Umwälzung steckte.
zum mystischen Symbol eines tieferen Sinns: ‹Und in der
19
Höhe des Abgrunds hing der gewaltige Kronenlüster mit Das alpine Grandhotel als Brennpunkt für Reise und Tanz
seinen mattblitzenden, leisklirrenden Prismen und schien in
Bewegung wurde zum Modus Vivendi der Gesellschaft der
einem geheimnisvollen Luftzug zu schwanken.› Während das
alpinen Grandhotels, die zur Bühne des Geschehens wurden.
Mädchen unentschlossen zwischen Diesseits und Jenseits
Sämtliche Attraktionen gab es zur Unterhaltung: neben Ski-
schwankt, ertönt unten in der Halle die Jazzmusik:
fahren und Rodeln wurden zum Beispiel in St. Moritz auch
‹In der Tiefe des strahlenden Schachtes aber brach die Jazz-
Schlittschuhlaufen und Eishockey zu einem beliebten Zeitver-
band los. […] Unter den äffisch kletternden Klängen glaubte
treib, Trabrennen auf dem zugefrorenen See und Jazztanz
sie jetzt den faden Boston zu entdecken, der nichts anderes
beim five o’clock tea, den die Kellner wie im Flug auf Schlitt-
war als die Melodie der großen Öde, die sie beherrschte, die
schuhen servierten, wie es Fotos aus den 1930er Jahren
alles beherrschte.› Diese Erinnerung war zu viel, die tobende
illustrieren. Durch den Rausch der Bewegung konnte sich der
Musik wird zum Auslöser ihres tragischen Endes; die Anreise
Mensch über den Alltag ‹hinwegspannen›, das gewohnte
ihrer Eltern und ihres Verlobten erfolgt zu spät. Reise und
‹raumzeitliche Koordinatensystem› (Kracauer) verlassen und
Tanz werden zu apokalyptischen Elementen der Erzählung,
durch den Körper an bisher ungeahnte Grenzen gelangen.
die den Untergang des Sensiblen thematisiert.
Dabei wurde die Entrückung vom Alltag bewusst als Werbe-
Bewegung, Rausch und Schwindel symbolisierten den Wandel
strategie eingesetzt, um den Gästen ein ‹Land außerhalb von
von der alten zur neuen Gesellschaft. Das Schweben, Stürzen,
Zeit und Raum› anzubieten, wie es auf den Plakaten der da-
Wirbeln, das haltlose, rauschartige Sich-Verlieren in einem
maligen Zeit in großen Lettern angekündigt wurde (Thera-
nicht erfassbaren Raum waren Ausdruck einer neuen, von
peutische Landschaft, Projekt 22). Auch architektonisch gesehen
raschen Veränderungen geprägten Zeit.
mussten sich die alpinen Grandhotels modernisieren.
Die Alpen wurden zum idealen Ort dieser Bewegungssucht,
Nachdem ihre wirtschaftliche Existenz in der Folge des Börsen-
denn sie boten ein unerschöpfliches Paradies für all diejeni-
krachs bedroht war, mussten sie sich dem Wandel der Gesell-
gen, die bestrebt waren, ihre Grenzen stets von Neuem
schaft anpassen und für das neue bürgerliche Publikum
herauszufordern.
151
Bewegung, Rausch und Schwindel
Carl Moos, ‹Sankt Moritz – Engadin – 1856 m.›, Werbeplakat, 1924
Wintersporttourismus und die technische Erschließung der Alpen
Habsburgerzeit aufgeblüht, zuerst insbesondere an Thermalorten (siehe Projekt 3), und später auch in den Bergen. Die Sommerfrische entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19.
Mit der Erschließung der Alpen durch den Bau von Hochalpen-
Jahrhunderts besonders stark entlang der neugebauten Eisen-
straßen, Eisenbahnen und Zahnradbahnen, entwickelte sich
bahnlinien, insbesondere entlang der Westbahn und der Süd-
auch der Wintersport. Durch die Erfindung der Seilbahn zu
bahn, wobei vollkommen neue Tourismusorte in den Bergen
Beginn des 20. Jahrhunderts konnten immer höher gelegene
gegründet wurden, mit sämtlichen Grandhotels und Villen,
Gebiete zugänglich gemacht werden. Bei der touristischen
wie am Semmering. Der Wintersporttourismus kam zu Beginn
Entwicklung der Alpen gab es von Anfang an ein Ungleich-
des 20. Jahrhunderts auf: 1908 wurde in Südtirol die Kohlerer
gewicht zwischen den einzelnen Nationen, die im Laufe des
Bahn bei Bozen errichtet, die erste öffentliche Personen-Luft-
20. Jahrhunderts in einen immer größer werdenden Konkurrenz-
seilbahn Mitteleuropas, wodurch der Startschuss für eine
kampf miteinander traten.
direkt von der Stadt aus mögliche Erschließung der Berge
Die Schweiz war das erste Alpenland, das bereits Mitte des
gegeben war. 1909 bis 1912 wurde die Vigiljochbahn bei
19. Jahrhunderts verstanden hatte, aus den Bergen eine tou-
Lana (bei Meran) gebaut, die erste alpine Seilbahn mit
ristische Attraktion zu machen; hier wurde der alpine Skisport
Stationsgebäuden.
ab etwa 1870 praktiziert. Renommierte Grandhotels wie auch
Nachdem das Habsburgerreich 1918 auf eine ‹Alpenrepublik›
kleinere Kurhotels in Villenform zogen die Hautevolee aus
reduziert worden war, suchte das nunmehr kleine Land nach
ganz Europa in die Berge. Gleichzeitig mit dem Bau der Südti-
einer neuen Identität, die im ‹Weißen Österreich› einen
roler Kohlerer Bahn wurde 1908 auch der Wetterhornaufzug
klingenden Namen fand.22 Nach den verheerenden Folgen
bei Grindelwald eröffnet. Mit dem Ausbruch des Ersten Welt-
des Ersten Weltkriegs kam es Ende der 1920er Jahre mit
kriegs war der Tourismusboom schlagartig gestoppt. 1915
dem wiederaufkommenden Wohlstand zu einem Bauboom
wurde in der Schweiz ein Baustopp für neue Hotelbauten auf-
im Bereich des Wintersporttourismus, wobei Tirol und Vorarl-
erlegt, um die bestehenden
berg zu den wichtigsten Provinzen der touristischen Entwick-
Hotels vor dem Konkurs zu
lung zählten. Es wurde intensiv in Hotels und Seilbahn-
retten. Zwischen 1920 und
anlagen investiert, um mit der Schweiz zu konkurrieren. 1928
1925 hieß das Gesetz offi-
bauten die jungen, damals noch weitgehend unbekannten
ziell ‹Hotelbauverbot›, das
Tiroler Architekten Hans Feßler und Franz Baumann die
aber (weil verfassungswid-
Patscherkofelbahn und die Nordkettenbahn bei Innsbruck
rig) 1926 gelockert wurde,
(Projekt 38), wodurch das Hochgebirge verkehrstechnisch
wodurch neue, ‹moderne›,
direkt an die Stadt angebunden war. Mit dem Seilbahnbau
dem Zeitgeist entsprechende
erfolgte auch die architektonische Besiedlung des Gebirges
Hotels gebaut werden
durch Berg- und Sporthotels und neue Bautypologien ent-
konnten, wie das Hotel
standen. Frankreich stand der Schweiz und Österreich hin-
Alpina von Arnold Itten, das
sichtlich der Entwicklung des alpinen Tourismus nach und
wegen eines Brandes zweier
begann erst in den 1920er Jahren mit dem Bau des ersten
bestehender Hotels errichtet
Wintersportresorts Megève, das allerdings mit denjenigen in
werden durfte. (Die Hotel-
der Schweiz und Österreich nicht konkurrieren konnte. Es
baurestriktionen wurden
diente vorwiegend dem französischen Publikum, insbeson-
erst 1952 durch ein Referen-
dere demjenigen, das die Schweiz aus unterschiedlichen
dum vollkommen abgeschafft,
Gründen meiden wollte. Die wohlhabende Baronin von Roth-
wie Marcel Just dokumen-
schild gab den ersten Anstoß für die Entwicklung von Me-
tiert. ) In Österreich war
gève, weil sie den Antisemitismus so mancher Schweizer
der Tourismus in der
Hoteliers nicht länger ertragen wollte. In den 1930er Jahren
21
38
Franz Baumann, Nordkettenbahn, Tirol, 1928 152
folgten einige avantgardistische Seilbahnprojekte: 1934 baute
konnte in der Architektur mit neuen Typen und Formen experi-
der französische Ingenieur André Rebuffel (der sich vor dem
mentiert werden. Als die ersten Seilbahnstationen zu Beginn
Ersten Weltkrieg im Mailänder Ingenieursbüro Ceretti Tanfani
des 20. Jahrhunderts gebaut wurden, stellte sich unweigerlich
auf Seilbahntechnik spezialisiert hatte) eine Seilbahn auf den
die Stilfrage: Einerseits waren sie funktionierende Maschinen,
Mont Revard bei Chambéry. Die Architektur der Talstation
die sämtliche technischen Elemente integrieren mussten, an-
hatte futuristischen Charakter mit ihrem schlanken Turm, der
dererseits waren sie aber auch Gebäude, denen eine architek-
wie ein Signal wirkte. Im Jahre 1935 baute Rebuffel eine
tonische Form gegeben werden musste. Vor dem Ersten
Seilbahn auf den Mont Veyrier, auf der Ostseite des Lac
Weltkrieg schrieben sie sich in die vorhandenen stilistischen
d’Annecy. Die Berg-station war ein eindrucksvoller Rundbau
Konventionen ein und glichen gewöhnlichen Häusern, wobei
aus Sichtbeton, der über den Steilhang auskragte. Beide
die technischen Elemente tunlichst versteckt wurden. Erst ab
Seilbahnen waren mit einer neuen Technik bezüglich der
der zweiten Hälfte der 1920er und den frühen 1930er Jahren
Kabelführung ausgestattet, bestehend aus einem stützenfreien
wurden Seilbahnstationen zu einem wahren architektonischen
Spannkabel mit doppelter Schleife. Dadurch konnte die Seil-
Thema. Karl Paulin beschrieb 1931 die neue Bauaufgabe wie
bahn, die eine freie Spannweite von 1.525 Metern aufwies, in
folgt: ‹Als die Nordkettenbahn bei Innsbruck gebaut werden
nur sieben Minuten einen Höhenunterschied von 1.300 Me-
sollte, […] wurde für das Hotel Seegrube der Mittel-station ein
tern überwinden, damals ein Weltrekord. Bemerkenswert ist
Wettbewerb ausgeschrieben, der die eigenartige Aufgabe
auch die 1931 bis 1932 gebaute Seilbahn auf den Mont Salève
stellte, einen modernen Zweckbau mitten in die […] Felsen-
des Genfer Architekten Maurice Braillard, die er in der Haute-
wildnis zu stellen.›23 Dabei gab es unterschiedliche Ansätze:
Savoie in unmittelbarer Nähe von Genf baute, in Zusammen-
In Franz Baumanns Entwurf für die drei Seilbahnstationen der
arbeit mit Rebuffel (Projekt 39). In Italien setzte sich Mussolini
Nordkettenbahn wird mit zunehmender Höhenlage eine Los-
unmittelbar nach der Machtergreifung zum Ziel, die neue
lösung von traditionellen Stilen und Bauformen ersichtlich.24
Provinz des deutschsprachigen Südtirol zu italianisieren, und
Dies hing auch mit den Bauvorschriften zusammen, die zwar
startete ein intensives Bauprogramm; denn die Berge sollten
für Städte und Dörfer stilistische Vorgaben festlegten, nicht
nun in erster Linie den Italienern zur Erholung dienen, wobei
aber für das Hochgebirge. So musste erst eine Form für die
insbesondere die Entwicklung des modernen Wintersports im
neue Funktion gefunden werden, wobei Baumann bei der
Vordergrund stand. Gio Ponti wurde 1941 von einem Großin-
Bergstation mit einer freien, organisch aus dem Felsen heraus-
dustriellen mit der Planung eines zusammenhängenden, weit
wachsenden Form antwortete (Projekt 38).
verzweigten, sich quer über die Dolomiten erstreckenden Seil-
Bewegung wurde zum avantgardistischen Sujet, wobei das auf
bahnnetzes beauftragt. Dabei diente ihm die Bergstation
Dynamik beruhende Prinzip der Neuen Welt (das maximale
Salève als Vorbild für die Architektur der Stationstypen, wäh-
Intensität versprach) den statisch-tektonischen Kompositionen
rend er sich für den Entwurf des Hoteltypus von der modernen
der Alten Welt entgegengestellt wurde. In der Architektur kam
Tiroler Sporthotelarchitektur inspirieren ließ. Beide charakteri-
Bewegung in der Dynamik der Form zum Ausdruck, die vor-
sierte er allerdings als ‹typisch italienisch›, im Versuch, den na-
zugsweise durch Kurven erzeugt wurde: Je nachdem, ob sie
tionalistischen Ansprüchen des Regimes entgegenzukommen
konkav oder konvex sind, wird die Landschaft entweder offen
(Projekt 40). Stil wurde im Kampf um eine nationale Identität
umarmt (bei konkaven Formen), oder als Panorama inszeniert
zum Propagandainstrument, wobei allerdings die nationale
(bei konvexen Formen). Durch die konvexe Form steht der in
Herkunft des Vorbilds nicht deklariert wurde.
sich geschlossene Baukörper im Zentrum der Bergwelt und inszeniert den Blick auf die umliegende Landschaft. Sie breitet
Bewegung und Dynamik in der Architektur
sich um den Baukörper herum aus und wird von einem zentralen Standpunkt aus betrachtet, ähnlich wie bei einer Panoramarotunde. Bei der konkaven Form hingegen dreht sich die
Durch das Aufkommen neuer körperorientierter Programme, wie Sporthotels, Seilbahnstationen und Skisprungschanzen,
153
Maurice Braillard, Seilbahn auf den Mont Salève, 1931–1932
39
Gio Ponti, Albergo Sportivo Paradiso del Cevedale, Val Martello,
40
1935; Seilbahnnetz in den Dolomiten, 1941–1942
Franz Baumann, ‹Wettbewerb für die Gaststube Seegrube Mitte «Rundsicht»›, ein konvex gekrümmtes Hotel, 1928 (o.)
Franz Baumann, konkav gekrümmtes Berghotel Monte Pana, St. Christina im Grödental, Entwurfsskizze, 1930 (u.)
wilden, weitgehend noch unberührten Alpen ungehindert ausgelebt werden. Durch die Entblößung des Körpers konnte man nackt, von jeglichen kulturellen Attributen befreit, mitten im Schnee eine Grenzerfahrung erleben: Der mit den rohen Elementen der Natur konfrontierte Körper löst auf ganz spezielle Weise die rauschartige Erfahrung des Sublimen aus, die mit einem Purifikationsprozess einhergeht, welcher der ‹Wildnis› bedarf, um vollzogen zu werden. Das Streben nach Purifikation kann als Gegenpol zum mondänen Leben der alpinen Grandhotels angesehen werden, wo die Natur, wie in einem Theater, die Rolle einer Kulisse spielte, vor der man sich diversen Unterhaltungen hingab. Der Anreiz starker, grundlegender Erfahrungen führte dazu, dass in den späten 1920er Jahren nicht mehr das Grandhotel, sondern die nackte Skifahrerin vor der Almhütte zum bevorzugten Motiv in der Kunst wurde, wovon Alfons Waldes Bilder zeugen (Projekt 42). Beim Bedürfnis, Körper und Bewegung nicht nur als sportliche Aktivität, sondern als etwas ‹Elementares› zu erfahren, konnte Nacktheit unterschiedliche Facetten haben: von einer rudimentären Naturverbundenheit bis hin zur Erotik. Während erstere auf einem Foto von Charlotte Perriand zum Ausdruck kommt, auf dem sie mit nacktem Rücken vor ihrem selbst Betrachtungsweise um: Im Zentrum steht nicht der Mensch,
gebauten Biwak steht und ins weite Tal blickt, (Porträt 43,
sondern die Landschaft. Der Baukörper bildet ein kreisförmiges
Projekt 44) tritt bei Alfons Walde vielmehr das Zusammenspiel
Segment eines virtuellen Rahmens, der die Berglandschaft um-
zwischen Nacktheit und Erotik in den Vordergrund. Bemer-
zirkelt und in sich einfasst. In den 1920er und 1930er Jahren
kenswert ist, dass sowohl Alfons Walde als auch Charlotte
wurden beide Formen alternierend eingesetzt, insbesondere
Perriand Architekten waren, die in diesen Jahren die Alpen
für den Entwurf von Sporthotels.
aufsuchten, um elementare Erfahrungen, fern vom Alltag, zu machen. Architektonisch gesehen artikulierte sich dieses
Rausch Eine andere Form des Rausches ist der Freiheitsrausch, der wiederum in den Alpen ein ideales Territorium gefunden hat.
Streben im Typus der Berghütte und des Biwaks, die beide Ausdruck dieser Sucht nach grenzenloser Freiheit sind.
Schwindel
Bereits im 18. Jahrhundert wurden die Alpen von Joseph
42
Addison, Albrecht von Haller und Jean-Jacques Rousseau mit
Schwindel vereint konträre Emotionen wie ‹Schauder› und
einem Freiheitsbegriff assoziiert, der sich im Erhabenen reflek-
‹Begeisterung›, ausgelöst durch eine furchterregende Grenz-
tierte. Die geistige Dimension einer ethischen und politischen
erfahrung. Das dem Schwindelbegriff inhärente Gegensatz-
Freiheit verlagerte sich mit der im 19. Jahrhundert aufgekom-
paar liegt auch dem Erhabenen zugrunde, dessen Grund-
menen Philosophie des Leibes zusehends auf eine körperliche
charakteristik auf der Kombination diametral entgegenge-
Freiheit, die mit der Einwirkung auf den Geist einhergeht.
setzter Gefühle basiert. Die Alpen sind aufgrund ihrer Topo-
Das um die Jahrhundertwende aufgekommene Streben nach
grafie ein ideales Terrain für diese Art von Grenzerfahrung,
Befreiung von gesellschaftlichen Konventionen konnte in den
wobei der Architektur eine wichtige Rolle zukommt: Sie kann,
Alfons Walde, Nacktheit und Erotik im Schnee 154
u.a. den Abhang in Szene setzend, Schwindel durch Auskra-
horizontalen, von einem schlanken Doppelpfeiler gestützten
gungen erzeugen. Ausblick alleine – wie etwa bei den Grand-
Bügel auszeichnet. Sie erhebt sich über die 800 Meter hohe,
hotels, wo die Landschaft zum Bild wurde – war in den
beinahe vertikale Felswand und konfrontiert den Menschen
1920er Jahren nicht mehr genug: Die Berglandschaft musste
durch eine imposante Auskragung mit dem ‹Nichts›. Dieses
in ihrer Wildnis unmittelbar erlebbar gemacht werden, sie
Projekt, das Bruno Reichlin treffend als ‹Prometheus der Mo-
musste körperlich spürbar und mit allen Sinnen erfahrbar
derne›27 bezeichnete, veranschaulicht den destabilisierenden
sein. Architektur diente als Vermittler zwischen dem Streben
Aspekt der Moderne, den Simmen in Vertigo hervorkehrt.
nach extremen Erfahrungen und der ‹wilden Natur›, die zur
Die Bergstation erinnert an El Lissitzkys ‹Wolkenbügel›, ein
Erfüllung dieser Sehnsucht aufgesucht wurde. Zur Inszenierung
utopisches Projekt eines horizontalen Wolkenkratzers28 aus
des Schwindelgefühls eigneten sich insbesondere Seilbahnen
den Jahren 1923 bis 1925, das er in Zusammenarbeit mit
und deren Stationen, weil diese allein schon durch ihre ausge-
dem jungen Schweizer Architekten Emil Roth entwarf. Johann
setzte, meist an Steilhängen befindliche Lage durch Auskra-
Christoph Bürkle hob hervor, dass dieses Projekt in Europa
gungen das Erlebnis des Ankommens inszenieren. Zahlreich
gut bekannt war.29 Die funktionale, direkte Verbindung von
waren die Seilbahnentwürfe, die dieses Potenzial der Span-
Verkehrsmittel und Nutzfläche mag Braillard möglicherweise
nungserzeugung zum architektonischen Thema machten.
inspiriert haben, als er Salève konzipierte. El Lissitzky war von
Die Seilbahn vermittelte das Gefühl des Schwebens. Der Blick
der ‹Überwindung der Schwerkraft› fasziniert. Im Zuge der
in die schwindelerregende Tiefe löste, wie der Zeitzeugenbe-
von der Oktoberrevolution ausgelösten Aufbruchsstimmung
richt von Joseph Kessel anlässlich der Eröffnung von Maurice
strebte er 1920 nach dem ‹schwebenden Körper›, nach einer
Braillards Seilbahn auf den Mont Salève im Jahr 1932 veran-
‹physisch-dynamischen Architektur›. Dabei ging es ihm um
schaulicht, reflexive Gefühle über Tiefe und Raum aus.
die ‹Überwindung des Fundaments, der Erdgebundenheit›,
‹Die Häuser wurden platter, die Landschaft erweiterte sich
mit dem Bestreben, die Alte Welt zu sprengen, und des
von Sekunde zu Sekunde, die Luftseilbahn fuhr auf dem
Schaffens einer neuen ‹Welt, die im Raume schwebt›.30 Die
unglaublich dünnen Seil, das unser Leben trug. […] Dies bot
Suprematisten sahen im Schweben eine neue Form von
sich mir dar, als ich auf ächzenden Brettern stehend – über
Freiheit, die auch auf das Erlebnis der Alpen übertragbar war.
einen tiefen Abgrund gebeugt, der jeden Moment größer
Braillard, der mit der russischen Avantgarde vertraut war, war
wurde – mir über Raum Gedanken machte.›25
nicht nur Architekt, sondern auch engagierter Politiker, setzte
Der angesichts der potenziellen Absturzgefahr erzeugte
sich in Genf für den sozialen Wohnbau und eine radikale
Schauder geht mit einer Faszination für die schwindelerregende
Bodenreform ein, wobei ihm das Seilbahnplakat indirekt als
Tiefe einher, wobei sich die Gedanken aber nicht verengen
Wahlwerbung diente: Die beliebte sonntägliche Attraktion der
(wie es bei reiner Angst der Fall wäre), sondern erweitern.
Genfer wurde zum ikonischen Symbol der Modernität und
Die Beschreibung dieses Gefühls erinnert an das Kant‘sche
des Fortschritts.
Dynamisch-Erhabene, bei dem sich der Mensch in Sicherheit wähnen muss, um die schreckenerregende Natur als erhaben
Schwindel im Bergfilm
empfinden zu können. Unter diesen Voraussetzungen ist der
Schwindel wurde nicht nur in der alpinen Architektur, sondern
Anblick ‹kühner, überhangender gleichsam drohender Felsen
auch im filmischen Schaffen der 1920er und 1930er Jahre
[…] um desto anziehender, je furchtbarer er ist›. Das Gefühl
zum gestalterischen Thema. Luis Trenker griff in seinem Berg-
der Erhabenheit liegt laut Kant in der Erhebung der ‹Seelen-
film ‹Der verlorene Sohn› (1933–1934) das Thema Schwindel
stärke›, die ‹uns Mut macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt
in einem kontrastreichen Berg-Stadt-Drama auf. Er verarbeite
der Natur messen zu können›.26
seine erschreckende Konfrontation mit der New Yorker Armut,
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Messen mit der
indem er der amerikanischen Metropole die heile Bergwelt
Gewalt der Natur durch die Technik herausgefordert. Das
seiner Heimat gegenüberstellte. Dabei arbeitete er bewusst
schwindelerregende Schweben wurde durch Braillards Architektur der Bergstation verstärkt, die sich durch einen
155
Charlotte Perriands entblößter Körper in der Berglandschaft
43
Charlotte Perriand und Pierre Jeanneret, Biwak, 1938
44
Luis Trenker, ‹Der verlorene Sohn›, Filmplakat 1934
mit der Sensation des Schwindels, indem er steile Häuser-
wobei der Körper durch eine extreme Vorlage maximale
schluchten mit vertikalen Felswänden überblendete, wodurch
Geschwindigkeit erzielte (Projekt 41).
er einerseits sein Unbehagen angesichts der Härte der Groß-
Werner Tscholls zeitgenössisches Projekt Timmelsjoch – die
stadt zum Ausdruck brachte und andererseits seine Vertraut-
Erfahrung (2009) illustriert, wie die Berge durch Architektur
heit mit den Felsen zeigte. Die Doppeldeutigkeit des Schwin-
zu einer intensiven Erfahrung gemacht werden können. Dabei
delgefühls thematisierte er durch die Gegensatzpaare Stadt–
sollte auf Wunsch der Bauherren nicht nur thematisiert wer-
Natur, Heimat–Fremdheit, Schrecken–Faszination. Das positiv
den, wie die Alpenpassstraße über das Timmelsjoch historisch
besetzte, erregende Schwindelgefühl konnte allein durch die
gesehen als Grenze und Schnittpunkt zweier Länder fungierte,
(heimatlichen) Berge erzeugt werden, während die Hochhäu-
vielmehr sollten die Berge schlechthin zum Erlebnis werden.
ser der (fremden) Metropole den schaurigen Part übernahmen.
Diese Aufgabe bewältigte Tscholl durch eindrucksvoll auskra-
Da Trenker nicht nur Filmemacher und Schauspieler, sondern
gende Gebäude und Stege, die den Besucher mit dem weiten
auch Bergführer war und außerdem Architekt, konvergieren
Rundblick auf die Landschaft konfrontieren, aber auch mit dem
in seinem Werk die unterschiedlichen Blickweisen auf die
schwindelerregenden ‹Nichts› unter ihm. Schwindel wird zum
Berge: Sein Architektenblick auf die Struktur der vertikalen
gestalterischen Thema einer Architektur, die eigens um des
Wolkenkratzer und Felswände fließt mit dem Blick des Filme-
Erlebnisses willen gebaut wurde (Projekt 45).
machers zusammen, der
Zaha Hadids Sprungschanze auf dem Bergisel in Innsbruck
darin ein Szenario schwindel-
inszeniert architektonisch die Bewegung des Skisprungs. Aus
erregender Kletterszenen
der Form der Absprungrampe entwickelt sich die Gebäude-
sieht, die er wiederum als
form, ausgehend von der Bewegung der Skispringer. Architek-
erfahrener Bergsteiger selbst
tur verkörpert und erzeugt zugleich Bewegung, Rausch und
verkörperte.
Schwindel durch eine dynamisch geschwungene Form, die in ihrer ikonenhaften Erscheinung Ausdruck eines bestimmten
Berge als ‹Experience›
Naturbezugs ist, der unser heutiges Verhältnis zu den Bergen
Die Berge wurden immer
illustriert. Das Gebäude könnte als ‹zeitgenössischer Totem›
mehr der starken Erfahrung
des Alpinsports angesehen werden (Projekt 46). Addisons und
wegen aufgesucht. Schwin-
Shaftesburys virtuelle Flugallegorien über die Alpen zu Beginn
delerregende Architektur
des 18. Jahrhunderts waren philosophischer Natur und
war auch nach dem Zweiten
dienten der Anschauung der Welt. Die Körper, die heute
Weltkrieg ein Entwurfsthema
stromlinienförmig ausgestreckt über die Berge fliegen,
und ist es bis heute. Carlo
befinden sich in einem Geschwindigkeitsrausch, der uns die
Mollinos Entwurf aus den
‹Anschauung der Welt› auf euphorische Weise vergessen lässt.
1950er Jahren für die Bergstation Furggen ist ein Beispiel dafür, weil hier auf exemplarische Weise der Abgrund durch drei übereinander angeordnete Aussichtsplattformen zelebriert wird. Mollino thematisierte das erregende Schwindelgefühl aber nicht nur in seiner Architektur, sondern stürzte sich selbst in den Rausch der Bewegung. Der begeisterte Sportflieger entwickelte eine eigene Skimethode, um eine schnellere Abfahrt zu ermöglichen, 41
Carlo Mollino, Seilbahn Plan Maison–Furggen, Val d’Aosta, 1950
45
Werner Tscholl, Timmelsjoch – die Erfahrung, 2009
46
Zaha Hadid, Sprungschanze auf dem Bergisel, 2002
156
Arnold Fanck, ‹Wunder des Schneeschuhs›, 1920
37 Arnold Fanck, Der weiße Rausch, 1920–1931
Skifahrer verfolgt werden
Der unter der Regie von Arnold Fanck gedrehte Film ‹Der
kann, während sie kurz da-
weiße Rausch› aus dem Jahre 1931 ist die dritte Auflage des
rauf in einem rasenden
Vorgängerfilms ‹Wunder des Schneeschuhs›, der 1920 zum
Rausch über Hüttendächer
ersten Mal uraufgeführt wurde. Der Film war in mehreren
springen und nach der Lan-
Auflagen erschienen, mit wechselnden Titeln: ‹Neue Wunder
dung unversehrt weiter über
des Schneeschuhs›, ‹Skiteufel im Alpenparadies›, ‹Die wei-
den unberührten Schnee
ßen Teufel›. Die erste Version spielt in St. Moritz und war ein
sausen.
Dokumentarfilm über das Skifahren und Klettern in der tief
Die Filmkritik reagierte ge-
verschneiten Landschaft des Engadin. 1923 kam ein zweiter
nerell begeistert, selbst
Teil heraus, ein Spielfilm, ‹Fuchsjagd im Engadin› genannt.
Siegfried Kracauer war von
‹Der weiße Rausch› wurde in St. Anton und Zürs am Arlberg
den Landschaftsaufnahmen
gedreht, die Illustrationsmusik wurde von Paul Dessau kom-
angetan: ‹Im Dokumentar-
poniert.
genre erreichten diese
Die Handlung ist einfach, im Zentrum stehen die Gebirgsauf-
Jeder wird sich an das glit-
nahmen und der Rausch der Bewegung: Die besten Skifahrer
zernde Weiß der Gletscher
Filme Unvergleichliches.
kämpfen um den Sieg im Skisprung und veranstalten nach
gegen einen dunkel kon-
der Preisverleihung eine Fuchsjagd. Hannes Schneider, der
trastierenden Himmel erin-
Sieger, wird zum Fuchs auserkoren und muss, von 25 Skifahrern
nern, an das großartige Schauspiel der Wolken, die sich als
verfolgt, bis Mitternacht eingefangen sein. Im dritten Teil
Berge über den Bergen auftürmen […]›. Allerdings zeigte er
spielt Leni Riefenstahl mit: Sie verbringt einen Skiurlaub am
sich wesentlich kritischer, was den allgemeinen Tonus der
Arlberg, bekommt von Hannes Schneider Unterricht und ge-
deutschen Bergfilme betrifft: Er sah sie als Versuch an, mit
winnt schließlich das Rennen der Anfänger gegen zwei toll-
der ‹bestehenden Zwangslage fertig zu werden›, in der sich
patschige Hamburger Zimmerleute. Im nächsten Jahr zählt
die deutsche Seele befand, die abwechselnd von den
sie bereits zu den Fortgeschrittenen: Sie bildet gemeinsam
‹Bildern tyrannischer Herrschaft und instinktbeherrschendem
mit Hannes Schneider ein Fuchspaar. Gejagt fahren die bei-
Chaos› heimgesucht wird und ‹vom Untergang auf beiden
den in wildem Tempo die weißen Hänge hinunter und steigen
Seiten› bedroht ist. Fanck würde sich laut Kracauer dafür
beinahe ebenso schnell wieder bergaufwärts. Zeitlupen und
interessieren, ‹Abgründe und Leidenschaften, unerreichbare
Zeitrafferaufnahmen verstärken die Geschwindigkeitseffekte,
Steilwände und unlösliche menschliche Konflikte zu verbin-
wobei in berauschender Langsamkeit jede Bewegung der
den›.31 Er kritisierte die Haltung der deutschen Wanderjugend, die auf einen heroischen Idealismus hinauslief, ‹der sich, aus Blindheit gegenüber substanzielleren Ideen, in touristischen Heldentaten austobte. Fancks Dramen trieben diese Haltung so extrem auf die Spitze, daß der Ahnungslose dieser Mischung aus glitzernden Eispickeln und hochtrabenden Gefühlen hilflos ausgeliefert war›.32
157
Arnold Fanck, ‹Wunder des Schneeschuhs›, 1920
Franz Baumann, Bergstation Hafelekar, Nordkettenbahn, Innsbruck, Südostseite (o.) und Eingang zur Wartehalle (u.)
38 Franz Baumann, Nordkettenbahn, Tirol, 1928 Die 1928 von Franz Baumann (1892–1974) errichteten Sta-
gegenläufiges zweites Pultdach die Bewegung der aufsteigenden Seilbahn.
tionsgebäude der Nordkettenbahn zeichnen sich durch die unterschiedliche Gestaltung der drei Gebäude aus, die in
Von Baumanns Trilogie zeichnet sich die Gipfelstation Hafele-
ihrer architektonischen Formensprache den Aufstieg themati-
kar (2.256 m), die sich organisch aus dem Felsen herausent-
sieren. Die Talstation Hungerburg (auf 863 m gelegen) weist
wickelt, als besonders unkonventionell aus, weil sie sich von
einen ausgeprägten regionalen Bezug auf, indem sie sich an
herkömmlichen stilistischen Merkmalen gänzlich loslöst. Ihre
den Typus eines Tiroler Bauernhauses anlehnt. Die Mittelsta-
markanten räumlichen Qualitäten machen den Bau zu einer
tion Seegrube (1.905 m) besteht aus einer komplexeren
begehbaren Plastik, die einen fließenden Übergang zwischen
Komposition, wobei die beiden unterschiedlichen funktiona-
innen und außen herstellt. Der Baukörper nimmt mit seiner
len Aufgaben des Baus betont sind: Während sich das Pult-
organisch geschwungenen Form die Ankommenden auf und
dach des Berghotels gegen den Steilhang neigt und den Blick
führt sie mittels einer Drehbewegung, die im Außenbereich
auf die gegenüberliegende Bergkette betont, begleitet ein
durch eine gekrümmte Natursteinmauer fortgesetzt wird, sukzessive ins Hochgebirge. Die Dachform folgt der Drehbewegung des Gebäudes und trägt zur dynamischen Wirkung bei. Im Speisesaal des Bergrestaurants, das an die Seilbahnhalle angrenzt, rahmt ein langes Bandfenster das Bergpanorama ein. Die raue Bergatmosphäre wird zu einem gestalterischen Thema, wobei das Rudimentäre und Kräftige betont werden: Der auffallend texturierte, weiß geschlämmte Rauputz, in dem sich die Spachtelstriche abzeichnen, verleiht den Fassaden der drei Stationen eine optische und haptische Tiefenwirkung, welche die kraftvolle plastische Ausprägung der Baukörper unterstützt. Auch die Möbel weisen einen bewusst bäuerlich-archaischen Charakter auf (den Moroder als ‹bergtrotzig› bezeichnet). Sie destabilisieren durch ihre ungewohnte Großmaßstäblichkeit, denn auf den massiven, überdimensionierten Holzstühlen fühlt man sich als Mensch verschwindend klein. Die Sitzflächen der Stühle bestehen teilweise aus betont grobem Flechtwerk, die Holzverbindungen sind nach traditionellen Handwerkstechniken angefertigt, wobei das Ineinanderstecken der Einzelteile betont wurde (und nicht etwa raffiniert versteckt, wie es damals bei städtischen Möbeln üblich war). Die Mischung aus traditionellen Elementen und avantgardistischem, Art-Déco-ähnlichem Design (das hier bewusst rudimentär, aufs Wesentliche reduziert ist), verleiht den drei Gebäuden (mitsamt der Innenausstattung) einen spezifischen Ausdruck, der charakteristisch für das innovative ‹Neue Bauen› der Tiroler alpinen Architektur der 1920er und 1930er Jahre ist.
Bewegung, Rausch und Schwindel
158
159
Südost-Ansicht, Plan,1928
Südwest-Ansicht, Plan,1928
Grundriss, Plan, 1928
Bergstation Hafelekar, Restaurant
Maurice Braillard, Bergstation Mont Salève, perspektivische Skizze (o.) und Grundriss Restaurant (u.), 1931
39 Maurice Braillard, Seilbahn auf den Mont Salève, 1932
für Seilbahnbauten, und den Ingenieur G. Riondel mit der
Auf den in der Haute-Savoie, am Stadtrand von Genf gelege-
Konzeption dieses ambitionierten Unternehmens.
nen Mont Salève wurde bereits 1893 die erste elektrisch
Der Entwurf für die aus Eisenbeton gebaute Bergstation besteht aus zwei übereinanderliegenden horizontalen Bauteilen, die auf der Talseite von 27 Meter hohen Doppelstützen gehalten werden, während sie auf der Bergseite in einem turmartigen, im Hang verankerten Querbau enden. Die in starker Schräglage ankommende Seilbahn wird im Zwischenraum der Stützen empfangen. Der untere, den Abhang überbrückende Bügel dient als Empfangshalle, die ursprünglich im Querbau münden sollte. Dessen Seitenflügel sollten die Nebenräume und ein Hotel mit 24 Zimmern beherbergen, das an beiden Enden mit vorgesetzten, dreiseitig verglasten Loggien ausgestattet war. Im Zentrum des Querbaus waren ein Treppenhaus und ein Aufzug, zum Panoramarestaurant führend, das im oberen, 32 Meter langen Bügel situiert war, geplant. Aufgrund seiner geringen Raumbreite von 8,30 Metern und dem horizontalen, durchgehend verglasten Fensterband, das lediglich von feinen Stahlstützen durchbrochen war, sollte es einen großzügigen Blick auf das Bergpano-
betriebene Zahnradbahn gebaut. Im Jahre 1931 konnte der
rama bieten.
Genfer Unternehmer Auguste Fournier 300 Aktionäre überzeugen, in ein gewagtes Seilbahnprojekt auf einem Steilhang
Auf Braillards Innenraumperspektive ist ein elegantes Restau-
in Veyrier zu investieren, mit einer auf 1.100 Meter Seehöhe
rant mit drei Tischreihen zu sehen, mit weißen Tischtüchern,
gelegenen Bergstation. Er beauftragte den Genfer Architekten
Kellnern im Frack und Damen mit dekolletierten Kleidern.
Maurice Braillard, den Ingenieur F. Decrock, einen Spezialisten
Der Querbau wurde aus Kostengründen nicht ausgeführt,
Bewegung, Rausch und Schwindel
160
Bergstation Mont Salève zum Zeitpunkt der Eröffnung, ohne den hinteren Trakt, das Restaurant blieb unvollendet, 1932
die Hotel- und Restaurantnutzung gestrichen. Stattdessen
großen, blinden Leuchtturm. Der Anblick dieses einmaligen
wurde eine zweite, im Hang verankerte Betonstütze errichtet,
Monuments war für mich wahrhaftig die Belohnung dieses
die beide Bügel trägt.
wunderbaren Tages.›33
Am 27. August 1932 wurde die Seilbahn eingeweiht. Auf dem
Das Erlebnis des gleitenden Aufstiegs wurde durch die
Werbeplakat stand geschrieben: ‹Für ein paar Francs, in
schwindelerregende Struktur der Bergstation gesteigert. Die
wenigen Minuten, eines der schönsten Panoramen der Welt›.
Architektur unterstrich die destabilisierende Sensation des
Der Mont Salève wurde sofort nach der Eröffnung der Seil-
sukzessiven Verlusts jeglichen Halts und trug zum befreienden
bahn zu einem beliebten Ausflugsziel; Gilbert Taroni schrieb:
Gefühl der Entgrenzung bei.
‹An manchen Tagen gibt es bis zu 2.500 Reisekandidaten, die auf den Moment des stillen Schwindels warten, der bei vier Meter pro Sekunde erlebt wird.› Mit atemberaubenden Schilderungen wurde das Ereignis kommentiert, wovon Joseph Kessels Artikel in der Zeitung Le Messager (29. Oktober 1932) zeugt: ‹Als wir näher zur Spitze des Salève kamen – die größte Festung über der Genfer Ebene, welche von den steilen, 800 Meter hohen Felsen überragt wird – sahen wir eine weiße Skulptur: Sie hob sich vom dunklen Hintergrund leuchtend ab und zeugte von der Kühnheit und Präzision, die nur von Menschenhand geschaffen werden kann; sie glich einem
161
Bewegung, Rausch und Schwindel
Gio Ponti, Albergo Sportivo Paradiso del Cevedale, Südseite, Val Martello, 1935
40 Gio Ponti, Albergo Sportivo Paradiso del Cevedale, Val
Pontis Einrichtungskonzept folgte einer Skala, die je nach
Martello, 1935; Seilbahnnetz in den Dolomiten, 1941–1942
Nutzung und Komfortstufe von einfachen Bergsteigerzimmern
Gio Ponti hatte 1935 in Zusammenarbeit mit Antonio Fornaroli
bis zu eleganten Zimmern reichte, welche eigene Badezimmer
und Eugenio Soncini das Sporthotel Albergo Sportivo Paradiso
und Balkone hatten. Trotz der Zweiteilung achtete Ponti auf
del Cevedale im Südtiroler Val Martello gebaut, das über
eine einheitliche gestalterische Linie, wobei das Farbkonzept eine wichtige Rolle spielte, wie er unterstrich: ‹Die unterschiedlichen Raumstimmungen weisen einen lebendigen Charakter auf und, bei stilistischer Einheit, ist jeder Raum unterschiedlich gestaltet, durch die Farbe oder eine spezifische Einrichtung.›35 Sein Hotel unterschied sich von den Tiroler Vorläufermodellen durch die unkonventionelle Bemalung: blaue, gelbe, rote, grüne, graue Streifen in verschiedenen Breiten und Richtungen, gekreuzte Linien, Punkte oder Kreise zierten die Wände und Decken. Sein Farbkonzept hatte auch eine Signalwirkung: Schräggestellte Streifen, die auf der Trenntüre zwischen dem West- und Ost-Trakt aufgemalt waren, sollten optisch eine Barriere andeuteten. Stilistisch gesehen musste der in Mailand arbeitende, an städtische Projekte gewohnte Gio Ponti erst nach einer architektonischen Sprache suchen und fertigte drei Vorentwürfe an. Der erste entsprach dem damals üblichen rationalisti-
eine neu angelegte Straße erschlossen wurde. Das vom italie-
schen Stil Italiens. Der zweite und dritte Vorentwurf glichen
nischen Fremdenverkehrsministerium initiierte Unternehmen
Baumanns Entwürfen: Ein geradliniger Baukörper, der gegen
erhielt unmittelbare Unterstützung durch die faschistische
Ende einen konvexen Schwung hat, mit einem gegen den
Partei.34 Auftraggeber war ein reicher Mailänder Geschäfts-
Hang steil abfallenden Pultdach. Der Sockel mit Panorama-
mann, der für den alpinen Tourismus ein modernes Sporthotel
terrasse befand sich nur vor dem gekrümmten (schicken) Bau-
errichten wollte, das zwei unterschiedlichen Gästegruppen
teil, wodurch gestalterisch die Asymmetrie unterstrichen
dienen sollte: Einerseits waren kostengünstige Schlafsäle und
wurde. Beim ausgeführten Bau wurde die Krümmung nach
Vierbettzimmer für Bergsteiger und Wanderer vorzusehen,
Südwesten verlegt, die schrägen Dachstreben weggelassen
andererseits sollte es großzügige Zimmer für die wohlha-
und die Fenster waren nicht mehr paarweise, sondern gleich-
bende Elite geben, die aus dem Finanz- und Industriekapital
mäßig angeordnet. Der Sockel war mit einem weißen Rau-
kam und sich in erster Linie aus Vertretern des Mussolini-
putz versehen, während die Obergeschosse glatt verputzt
Regimes zusammensetzte. Die Herausforderung, zwei unter-
waren, in einem waldgrünen Farbton.
schiedliche soziale Klassen in einem einzigen Baukörper unterzubringen, löste Gio Ponti geschickt durch eine interne
Seilbahnnetz in den Dolomiten, 1941–1942
Aufteilung des Hotels: Im Westflügel standen elegante
In den Jahren 1941 bis 1942 wurde Gio Ponti mit der Planung
Restaurants und eine Bar für die Elite im ersten Obergeschoss
einer zusammenhängenden touristischen Erschließung der
zur Verfügung, das von außen über eine Treppe erschlossen
Dolomiten beauftragt. Dass diese Großplanung ausgerech-
wurde. Die Bergtouristen waren im Ostflügel untergebracht,
net in Mussolinis Italien unternommen wurde, ist nicht ver-
der einen direkten Eingang im Erdgeschoss hatte. Dort gab
wunderlich, schließlich wurden die Südtiroler Berge als ein zu
es einen separaten Speisesaal, mit schlichten Holzmöbeln
erschließendes Neuland angesehen, das dem ‹uomo nuovo›
und Hockern ausgestattet.
dienstbar gemacht werden sollte, der idealerweise dynamisch
Bewegung, Rausch und Schwindel
162
Albergo Sportivo Paradiso del Cevedale, Leseraum mit Kamin (o.) und Bar im eleganten Trakt (u.), Val Martello
und motorisiert, sportlich, kräftig und kriegerisch war. Gio Ponti hatte 1941 Gaetano Marzotto in Mailand kennengelernt, dem ein großes Textilunternehmen in Valdagno gehörte. Ihm schwebte ein touristisches Großprojekt vor, das die Dolomiten von St. Ulrich bis Cortina mit einem ausgedehnten Seilbahnnetz verbinden sollte, und so beauftragte er Ponti, dessen Name ihm durch das Hotel im Val Martello bekannt war, mit der Studie. Ponti entwarf ein 160 Kilometer langes Seilbahnnetz und schlug für das gesamte Gebiet ein prototypisches System vor, das sich aus Hotels unterschiedlicher Größen zusammensetzte und aus einem deklinierbaren Seilbahnstation-Typus, der je nachdem Talstation, Mittelstation (zum Durchfahren), Kreuzungspunkt (für zwei aus unterschiedlichen Richtungen kommende Seilbahnen) oder Bergstation sein konnte. Als Modell für diesen Typus hatte ihm offensichtlich Maurice Braillards Bergstation Mont Salève gedient, die er abwandelte, um daraus einen multifunktionalen Prototyp zu erzeugen. Der vertikale Kern beinhaltete Nutzungen und im oberen horizontalen Teil war, wie in Salève, ein Panoramarestaurant vorgesehen. Aus Pontis Skizzen geht hervor, dass neben den Seilbahnstationen, die an den attraktivsten Lagen Aussichtspunkte auf die ‹neue italienische Bergwelt›36 bieten sollten, auch Hotels, Schutzhütten, Restaurants, Dienstleistungseinrichtungen, Skiund Kletterschulen mit einbezogen wurden, wodurch sich neben touristischen Möglichkeiten auch ein weites Spektrum für Architekten eröffnete. Ponti betonte bewusst die ‹italienische› Identität seines Entwurfs, schließlich hatte er Interesse, sich beim Regime beliebt zu machen, denn er nahm an öffentlichen Wettbewerben teil und bemühte sich um Aufträge. Um die ‹italienische› Identität herauszustreichen, erstellte er eine Skizze, auf der die traditionellen Südtiroler Hoteltypen mit Satteldach durchgestrichen waren, die er ‹schema non italiano› nannte, während er daneben sein Hotel im Val Martello als ‹schema italiano› bezeichnete. Die Argumentation beruhte auf praktischen Fakten, wie dem Unterhalt der Dächer und dem Entfernen von Schneelasten, die bei Satteldächern problematisch sind. Die Tatsache, dass er stilistisch an das ‹neue alpine Bauen› anknüpfte, das von den Tiroler Architekten bereits seit den 1920er Jahren praktiziert wurde, erwähnte er nicht, ebenso wenig, dass der Seilbahntyp jenen von Salève kopierte, den
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Bewegung, Rausch und Schwindel
Gio Ponti, prototypische Seilbahnstation mit Hotel, Grundriss, 1941–1942
Gio Ponti, prototypische Seilbahnstation mit Hotel, Mittelstation zum Durchfahren mit Kreuzung, Skizze, 1941–1942
der Schweizer Architekt Braillard zehn Jahre zuvor gebaut hatte. Es ging ihm, wie Bocchio vermutet, offensichtlich darum, rückwirkend seinen Hotelbau ins rechte Licht zu rücken und diesen, in Verbindung mit der avantgardistischen Seilbahnarchitektur, als Projekt des italienischen ‹Razionalismo› zu deklarieren – den stilistischen Anforderungen der faschistischen Regierung entsprechend. Dieses Großprojekt kam jedoch nie zur Ausführung. Mit Kriegsbeginn wurde der Betrieb des Hotels im Val Martello eingestellt, 1943 wurde es von der Wehrmacht und der SS besetzt. Nach dem Krieg wurde es kurzfristig in Betrieb genommen, ging aber bereits 1946 in Konkurs. 1951 wurde es von Benati, einem venezianischen Reeder gekauft und renoviert. Es wurde aufgestockt, um einen Trakt erweitert und rot verputzt, die Terrasse wurde verlängert. 1955 stand es wieder still. In den 1960er Jahren erfolgte ein weiterer Besitzerwechsel, allerdings keine Renovierung. Seitdem steht es leer und verfällt.
Gio Ponti, prototypische Seilbahnstation, Umsteigepunkt, Skizze (M.)
Carlo Mollino, Seilbahnstation Plan Maison– Furggen, Val d’Aosta, Skizze, 1950
41 Carlo Mollino, Seilbahn Plan Maison–Furggen, Val d’Aosta, 1950 Im Jahr 1950 beauftragte die Gesellschaft Cervino den Ingenieur Dino Lora Totino mit dem Bau einer Seilbahn, um die auf 2.500 Meter Seehöhe gelegene Alpe Plan Maison mit dem Furggen zu verbinden. Die 2.900 Meter lange Strecke hatte einen Höhenunterschied von 1.000 Meter zu überwinden und war zum Zeitpunkt der Eröffnung die längste Seilbahn der Welt. Mit dem Entwurf der Bergstation wurde der Turiner Architekt Carlo Mollino beauftragt, der sich auch als Fotograf und Sportflieger einen Namen gemacht hatte. Er hegte eine Passion für den Skisport und hatte in den 1930er Jahren eine eigene Skifahrttechnik entwickelt, discesismo genannt, wobei durch die extreme Vorlage des Körpers eine hohe Geschwindigkeit erreicht werden konnte. Er war wie besessen vom Rauschgefühl, das er durch rasende Bewegung und die Konfrontation mit schwindelerregender Höhe erzeugen konnte. Dies reflektiert sich in der architektonischen Konzeption der Bergstation, wo er die ausgesetzte Höhenlage durch auskragende Bauelemente inszenierte: Eine in einem Betonsockel verankerte Stahlstruktur, die aus vier Fachwerkträgern mit jeweils zwei Knicken bestand, überragte eine beinahe vertikale Felswand. Das Schwindelgefühl konnte bereits bei der Architektur gesteigert werden, durch drei übereinander angeordnete, über dem Abgrund auskragende Terrassen. Die Erschließung erfolgte von der Ankunftsebene der Gondeln aus, der untersten der drei Ebenen. Ein Warteraum sollte die Skifahrer empfangen, die einen Felsengang durchquerten, um auf den Gletscher zu kommen. Von der Piste aus sollte es einen direkten Zugang zum Restaurant geben, welches sich zur obersten Terrasse hin öffnet, mit einem fulminanten Ausblick auf die Berge. 1952 begannen die Bauarbeiten, allerdings gab es von Anfang an große technische Probleme, insbesondere wegen der ausgesetzten Lage des Steilhangs und des Problems der Anlieferung der Baumaterialen. Aus diesem Grund wurde das ambitionierte Projekt auf ein striktes Minimum reduziert: Ausgeführt wurde lediglich das Sockelgeschoss aus Beton, um den Betrieb der Seilbahn zu gewährleisten. Heute ist dieses bruchstückhafte Gebäude stillgelegt und der Erosion überlassen.
165
Bewegung, Rausch und Schwindel
Carlo Mollino, ‹Schema del Cristiana d’appoggio›, Skizze zur von ihm entwickelten Skimethode mit Abfahrtsmuster, (vor 1950)
Alfons Walde, ‹Nackte vor der Almhütte 1›, Ölbild, um 1925
42 Alfons Walde, Nacktheit und Erotik im Schnee
Alfons Walde, ‹Lacerta›, Aktfoto einer Skifahrerin, 1935
Teil der Landschaft: Der weiche, runde Schatten, den ihr
Der in St. Johann in Tirol geborene Alfons Walde (1891–
Nabel auf die glatte Haut wirft, gleicht demjenigen eines
1958) war Maler und Architekt. Er machte sich einen Namen
Schneelochs, welches unter ihren Beinen ein kraterförmiges
durch seine bewegten Win-
Relief in die Schneedecke gräbt. Die rosig-warme Haut und
tersportszenen, dörflichen
der kalte Schnee verschmelzen optisch zu einem Ganzen,
und Almhütten-Motive in
dessen demonstrative Unberührtheit eine erotische Ausstrah-
verschneiten Landschaften.
lung hat, die Eroberungsgelüste weckt. Diese beziehen sich
Sein fotografisches Werk,
sowohl auf die Schneelandschaft als auch auf den Frauenkörper.
das zwischen Erotik und Pornografie oszilliert, wurde erst spät entdeckt und 2015 in der Ausstellung ‹SchauLust› in der Wiener Galerie Westlicht präsentiert. Nun konnten Bezüge zwischen seinen Ölbildern und Fotografien hergestellt werden, die ihm oft als Vorbild dienten. Sämtliche seiner Aktszenen sind im Hochgebirge angesiedelt, meist im Schnee, vor einer Berghütte. Alfons Waldes Ölbild ‹Nackte vor der Almhütte› suggeriert Lust auf eine elementare Erfahrung im Schnee. Die splitternackte, en face abgebildete Frau steht entspannt auf ihren Skiern, mit einem in die Ferne gerichteten Blick. Hinter ihr die Almhütte, vor welcher eine zweite Frau von hinten zu sehen ist, die sich gerade entkleidet. Nicht die Landschaft steht hier im Vordergrund, auch nicht der Blick auf diese (wie etwa bei Caspar David Friedrichs ‹Wanderer›), sondern der nackte Körper als neuer Inbegriff ‹alpiner Grenzerfahrung›. Auf einem Schwarz-Weiß-Foto ist eine nackte Skifahrerin von hinten zu sehen, wobei die Rundungen ihres Körpers im weißen Licht des Schnees sich teilweise auflösen. Körper und Schneelandschaft verschmelzen zu einer untrennbaren Einheit, einhergehend mit einem neuen, erotischen Lebensgefühl in der freien Natur. Ein Farbfoto zeigt eine nackte Frau auf der Bank vor einer Almhütte liegend. Ihre Beine, mit kessen städtischen Schuhen bekleidet, ruhen elegant auf der Lehne. Auch ihr Körper wird
Bewegung, Rausch und Schwindel
166
Pierre Jeanneret (vermutl.), Charlotte Perriand bei einer Skitour, 1930er Jahre
43 Charlotte Perriands entblößter Körper in der
Charlotte Perriand mit Freunden bei einer Skitour, die Karte und die Berge studierend, 1930er Jahre
im Schnee der Fall war). In ihrer Nacktheit lag nicht die
Berglandschaft
Wollust anderer, sondern ihre enthemmte Weise, ihre Berge
Das bekannte Foto von Charlotte Perriands entblößtem
zu erfahren.
Oberkörper in den Bergen (das in diesem Buch leider nicht abgebildet werden darf) beruht nicht auf voyeuristischer Erotik, sondern ist Ausdruck ihrer elementaren Intimität mit den Bergen. Es zog sie immer wieder in die Berge, die den Menschen mit seinen Grenzen konfrontieren und ihn herausfordern, diese zu überschreiten: ‹Ich liebe die Berge zutiefst. Ich liebe sie, weil ich sie brauche. Sie waren immer schon das Barometer meiner körperlichen und geistigen Ausgeglichenheit. Warum? Weil die Berge dem Menschen die Möglichkeit der Grenzüberschreitung37 bieten, die er braucht. […] Man schwindelt nicht mit ihnen. Man bewältigt sie durch Ausdauer, sie ermöglichen uns die Konfrontation mit kalkulierten Risiken. Durch die Anstrengung eliminiert man die Giftstoffe der Stadt, einschließlich diejenigen der Gedanken.›38 Sie war eine begeisterte Tourengeherin und sah in der isolierten Einsamkeit einen Weg, sich zu regenerieren. Mit Skiern und Seehundfellen ausgerüstet, machte sie sich auf den Weg, um die unberührte Gletscherlandschaft, objet de mes rêves, zu erklimmen – ein rauschhaftes Erlebnis, das sie anschaulich beschrieb: ‹Mit dem Guide Bleu, «der Papst» genannt, weihte ich mich in das Hochgebirge ein; über Bonneval-sur-Arc, bei der Hütte Les Evettes, am Fuße der Gletscher – Gegenstand meiner Träume. Ich hatte soeben die unendliche Weite der Einsamkeit und der Weiße erlebt, die Überwindung meiner Grenzen, um auf den Gipfel zu kommen – dem Himmel und der Unendlichkeit gegenüberstehend; ein Rausch, von dem ich mich niemals trennen konnte – eine wahre Erholung.›39 Auf ihren Skitouren war sie meist mit ihrem Freund Pierre Jeanneret, Le Corbusiers Cousin, unterwegs. Er war es, der das Foto von ihr machte, als sie mit nacktem Oberkörper und ausgestreckten Armen die Berge betrachtete, wobei die Lederfäustlinge und die schwarze Wollskihose die einzigen Attribute waren, die ihren Körper bekleideten. Sie stand selbstbewusst halbnackt im Schnee, die Aussicht genießend, und wurde nicht als Modell von einem Künstler in Szene gesetzt (wie es etwa bei Walde mit seinen nackten Modellen
167
Bewegung, Rausch und Schwindel
Charlotte Perriand, Pierre Jeanneret und André Tournon in ihrem selbst gebauten Biwak ‹refuge Bivouac›, um 1937
44 Charlotte Perriand und Pierre Jeanneret, Biwak, 1938
Charlotte Perriand, Schnittzeichnung des tonnenförmigen Biwaks ‹refuge Tonneau›, 1938
eine polygonale Form, um dem Wind möglichst wenig
Charlotte Perriand (1903–1999) und Pierre Jeanneret (1896–
Angriffsfläche zu bieten. Es war vom Boden abgehoben, um
1967) bauten in Zusammenarbeit mit dem Ingenieur André
Schneeanhäufungen bei Sturm zu vermeiden. Die Aluminium-
Tournon 1936 ein Biwak
oberfläche sollte die Sonnenstrahlen reflektieren, um den
‹refuge Bivouac›, um län-
Bereich rund um das Biwak von Schnee freizuhalten.
gere Bergtouren machen zu können. Sie trugen die Ein-
Im Zentrum war ein kleiner Ofen vorgesehen, bei einem der
zelteile auf dem Rücken
Fenster war eine Spüle geplant mit einem darüber befindlichen
hinauf auf den Grat des
Schneeeimer. Als Einrichtung hatte Charlotte Perriand kom-
Mont Joly (bei Saint-Gervais
pakte, multifunktionale Möbel konzipiert: Die Holzbetten
in der Haute-Savoie), wo sie
konnten wie im Liegewagen hinaufgeklappt und tagsüber als
das Biwak zusammenbauten
Bänke genutzt werden, die würfelförmigen Hocker dienten
und mit Spannkabeln im
zugleich als Stauraum. Die polygonale Form mit reflektieren-
Gestein verankerten. Die
der Oberfläche verlieh dem Biwak einen zeitlosen, kristallinen
2 x 4 Meter große Alumi-
Charakter.
niumkiste aus Isotherm-Platten war auf vier Rohren aufgestelzt, um im Winter die Schneedecke zu überragen. Sie war für sechs Personen konzipiert, ausgestattet mit herunterklappbaren Betten, sechs Hockern, die zugleich Staufläche boten, einer zuklappbaren Abwasch, die zugleich als Tisch funktionierte, und einem Skischrank mit Entwässerung. Das Biwak diente als provisorischer Prototyp für ein tonnenförmiges ‹refuge Tonneau›, das 1938 fertig ausgearbeitet war, aber wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs nicht zur Ausführung kommen konnte. Dieses war die komplexere Weiterentwicklung des ersten Prototyps. Die Inspiration kam, laut Charlotte Perriand, von einem Karussell: Um eine zentrale, röhrenförmige Schirmtragkonstruktion waren vorgefertigte Wandelemente angeordnet, die mit drei Spannringen zusammengehalten wurden. Bei der Planung musste auf niedrige Herstellungskosten geachtet werden und auf ein geringes Gewicht, denn die einzelnen Bauteile durften nicht mehr als 40 Kilo wiegen, um den Transport auf dem Rücken zu ermöglichen; die Montage durfte wegen der ausgesetzten Höhenlage nicht mehr als drei Tage dauern. Um den klimatischen Bedingungen standzuhalten, war die Außenhülle in Leichtbau-Sandwichelementen, bestehend aus Aluminium, Duralumin, Glasfasergewebe, Hartfaserplatten und einer Bitumenfolie konzipiert. Das Biwak hatte
Bewegung, Rausch und Schwindel
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Biwak ‹refuge Tonneau›, sukzessive Montage und komplett montiertes Modell,1938
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Bewegung, Rausch und Schwindel
Werner Tscholl, ‹Fernrohr›, Timmelsjoch – die Erfahrung, 2009
45 Werner Tscholl, Timmelsjoch – die Erfahrung, 2009
Fünf skulpturale Architekturobjekte, die sowohl subjektive
Die Passstraße über das Timmelsjoch, die heute Nordtirol mit
Erfahrungen als auch Wissen vermitteln (Straßenbau im
Südtirol verbindet, wurde aus unterschiedlichen Beweg-
Hochgebirge, Schmuggler, Fernrohr und Ausblick, Flora,
gründen heraus erbaut: Während sie für Mussolini von militä-
Mineralien), prägen an verschiedenen Punkten die Passstraße.
rischem Belang war, wurde sie auf österreichischer Seite in
Das Thema Grenze wird auf unterschiedliche Weise angesprochen, wobei es aber nicht nur um die institutionelle Staatsgrenze geht, sondern auch um topografische wie psychische Grenzen, die bewusst durch die radikale Konfrontation mit der Landschaft herausgefordert werden. Zwei Baukörper wurden in Südtirol errichtet, zwei in Nordtirol, der fünfte steht auf der Passhöhe und ist Teil beider Länder. Die erste Station auf italienischer Seite, Granat genannt, ist ein Markierungspunkt, der aus zwei granatförmigen Baukörpern besteht, die die Gesteinsformation der Umgebung symbolisieren und inszenieren. Der eine besteht aus rohem Beton, der andere aus gläsernen Flächen. Am Rande des steilen Felshangs bietet er eine schwindelerregende Aussichtsplattform. In der Nacht leuchtet er rot und signalisiert den Beginn der
den 1950er Jahren aus touristischen Gründen angelegt. Erst
‹Erfahrung›, die psychischer, physischer und geistiger Natur
Ende der 1960er Jahre wurden die beiden Straßenzüge mit-
ist. Als nächste Station folgt das Fernrohr, das laut Werner
einander verbunden. Nachdem die Instandsetzungsmaßnah-
Tscholl eine destabilisierende Erfahrung provozieren soll: ‹Die
men der meist verschneiten Passstraße kostspielig sind,
seitlich geschlossenen Trichter saugen die Besucher hinein.
beschloss das Land Südtirol, ein Gesamtkonzept zu erstellen,
Beim einen wird der Blick erhoben: der Besucher geht die
um den Tourismus zu fördern, was auch auf österreichischer
Treppe hinauf, genau auf den Gletscher zu, während er beim
Seite auf Interesse stieß. 2008 wurde ein geladener Architek-
anderen ins Tal hinuntersteigt.› Auf einem sanft ansteigen-
tenwettbewerb zu Timmelsjoch – die Erfahrung ausgeschrie-
den, treppenförmigen Boden wird der Besucher bis in die
ben, mit dem Ziel, die Überquerung des auf 2.509 Metern
Mitte des Trichters hinaufgeführt, wo der Boden mit einem
gelegenen Passes zu einem bewussten Erlebnis zu steigern.
Glasgeländer abrupt endet – und ihn im Schwebezustand
Der Südtiroler Architekt Werner Tscholl gewann mit einem
verweilen lässt. Um auf das Tal zu blicken, muss er sich erst
radikalen Projekt, das auf architektonisch-kulturelle Referen-
zwei steile Stufen hinunterwagen, auf eine verglaste Brüstung
zen verzichtet und allein mit der Natur in Dialog tritt:
zugehend, hinter der sich die Landschaft preisgibt.
‹Ich wollte die Landschaft erfahrbar machen durch skulpturale Architektur. Man kann auf diese Landschaft nur mit Skulptu-
Auf der höchsten Stelle steht das Passmuseum, das die Lan-
ren reagieren, und nicht mit Gebäuden. Die Mautstation und
desgrenze thematisiert: Auf österreichischer Seite verankert,
Grenzposten, die dort standen, zeigten dieses Problem auf:
kragt es 13 Meter weit über die Grenze hinweg aus. Der ge-
Was soll dort eine Holzhütte? Dieser grandiosen Landschaft
knickte Baukörper nimmt den Schwung der Straße auf und
gegenüber ist man machtlos; es ist nicht so einfach, dort zu
lädt durch seine spektakuläre Form die Vorbeifahrenden zur
bestehen, ohne sich zu schämen.›40
Rast ein, die sich zu einem Erlebnis steigert: Der ‹rohe Findling›
Ihm stand es frei, das architektonische und inhaltliche Kon-
(Tscholl) ist innen mit weißem, fragmentiertem Glas ausge-
zept der Objekte zu entwickeln, wobei er auch die Standorte
kleidet, wodurch der Eindruck einer Eishöhle erweckt wird.
aussuchen konnte. Das ausschlaggebende Kriterium war das
Auf dem hinterleuchteten Glas wird gezeigt, wie und unter
Erleben von Landschaft durch gezielte Ausblicke.
welchen Umständen die Passstraße gebaut wurde.
Bewegung, Rausch und Schwindel
170
Werner Tscholl, ‹Passmuseum›, Timmelsjoch – die Erfahrung, 2009
Das spezifische Grenzerlebnis besteht bei diesem skulptura-
Die Erfahrung des Sublimen wird durch Grenzerfahrungen
len Gebäude in der mulmigen Frage: ‹Kippt es oder nicht?›
stimuliert, wobei die sinnliche Wahrnehmung von großer
Ein wichtiges Thema ist die ‹mythische Figur des Schmugg-
Bedeutung ist: Schwindel zum Beispiel, Angst vor dem
lers, denn der Pass ist der Kreuzungspunkt der Schmuggler-
Fallen, vor der Leere oder vor dem Unendlichen sind ebenso
wege›, so Tscholl. Aus einem windschiefen Monolith wurde
wichtig wie der überwältigende Eindruck der Naturbetrachtung.
die Figur des Schmugglers aus den ein Meter dicken Mauern
Werner Tscholls architektonische Skulpturen spielen mit
des Eingangsbereichs herausgeschnitten. Durch sie kann der
diesen extremen Erfahrungen (durch große Auskragungen
Besucher in den Stein eindringen, denn ‹er soll das Gefühl
über dem Nichts) und provozieren einen Gefühlszustand, der
bekommen, selbst ein Schmuggler zu sein›. Der Monolith
fälschlicherweise oft der Vergangenheit zugeordnet wird.
ist innen mit schwarzem Glas ausgekleidet, welches mit natürlichem Oberlicht beleuchtet wird, denn das Gebäude liegt fern von elektrischer Versorgung. Der Besucher wird hier über das Schmuggeln informiert. Kurz vor der österreichischen Mautstation befindet sich die letzte Station, ein elf Meter weit auskragender Steg, von dem aus das Panorama des hinteren Ötztals betrachtet werden kann. Tscholl betont, dass hier ‹das Hinausgehen in die Landschaft› wichtig ist.
171
Bewegung, Rausch und Schwindel
Zaha Hadid, Sprungschanze auf dem Bergisel, Modell, 2000
46 Zaha Hadid, Sprungschanze auf dem Bergisel, 2002
Zaha Hadid, Sprungschanze auf dem Bergisel, Nachtansicht, 2002
Verbindung zweier Punkte, sondern die Beschleunigung
Bereits 1926 wurde auf dem Bergisel über der Stadt Innsbruck
der Sportler, die durch dieses Dispositiv, wie Sven
eine Sprungschanze errichtet. Anstelle der alten, den interna-
Hannawald es gleich bei der Einweihung 2002 bravourös
tionalen Normen nicht mehr
demonstrierte, bis zu 134,5 Meter weit springen können.
entsprechenden Anlage,
(Der Schanzenrekord von Michael Hayböck von 2015 liegt
musste binnen eines Jahres
bei 138 Metern.) Die Schanze ‹abstrahiert die Geschwindig-
eine neue gebaut werden.
keit von Abfahrt und Skiflug, die eines der spektakulärsten
Der österreichische Skiver-
Wintersportereignisse auszeichnet›.42 Sie wird in ihrer
band wünschte ein Café
stromlinienförmigen Eleganz zu einem symbolischen Monu-
direkt über der Schanze,
ment der Geschwindigkeit.
schließlich ist das der beste Platz, um den Absprung und den darauf folgenden Flug der Skispringer zu beobachten. Zaha Hadid brachte die beiden Programmpunkte der Sprungschanze und des Cafés in einem einzigen, dynamisch geschwungenen Baukörper unter, der die funktionalen Notwendigkeiten nutzt, um ein skulpturales Landmark zu schaffen: Ein 48 Meter hoher Sichtbetonmast, in dem die Aufzüge und die Treppenanlage untergebracht sind, ist in einem Sockelgeschoss verankert, dessen Dach als untere Aussichtsplattform und Sonnendeck dient. Im oberen Bereich schmiegt sich die abfallende Sprungschanze an den Mast an und macht im Bereich der Antrittsplattform der Sportler eine elegante Gegenbewegung, um in die Horizontale überzugehen. Die Schanze wird von einer Freitreppe begleitet, die abrupt endet – über dem ‹Nichts›. Eine zweite, schmälere Plattform ist unmittelbar über dem Absprungbereich situiert und ermöglicht den Reportern das Filmen. Die Form der Schanze wird zum essenziellen Gestaltungselement: In einer Drehbewegung um 180 Grad schwingt sich das organisch gebogene, mit Stahlplatten verkleidete Volumen um den Mast herum und kragt zehn Meter höher über diesen weit hinweg. Die auf dem Mast thronende Auskragung beherbergt ein dreiseitig verglastes Café, das 150 Gästen einen Blick auf die darunterliegende Sprungschanze bietet. Zaha Hadid konzipierte ein ‹organisches Hybrid aus einem Turm und einer Brücke›:41 Während der Turm mit dem auskragenden Café die Vertikale betont, steigert die geschwungene, von einer bauchförmig gebogenen Fachwerkkonstruktion unterstützte 90 Meter lange Schanze die Dynamik der Bewegung. Die abfallende ‹Brücke› ermöglicht hier aber nicht die
Bewegung, Rausch und Schwindel
172
1 Roland Barthes, Mythologies, L’homme-jet,
Vorbilder, so musste aus der Funktion, der
30 El Lissitzky, Der Suprematismus des Welt-
Ed. du Seuil, Paris 1957, 94–96.
Lage und der Auffassung her eine Synthese
aufbaus (1920), zit. n.: Simmen 1990, 27
2 Price (1796) 1810, 86.
gefunden werden, die merkwürdigerweise in
31 Siegfried Kracauer, Von Caligari zu Hitler
3 Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung
dieser Phase des frühen alpinen Bauens viel
(1947 engl.), Suhrkamp Taschenbuch Verl.,
oder Wie man mit dem Hammer philosophiert
besser gelang, als unter den späten Zwängen
Frankfurt am Main 1984, 116.
(1888), Verlag von C. G. Neumann, Leipzig
des sogenannten «alpinen Stils», der zu einem
32 Kracauer (1947) 1984, 120
1889, Kap. 11: ‹Streifzüge eines Unzeitgemäs-
Trivialsymbol für bestimmte Inhalte des Skitou-
33 Le Messager, 29. Oktober 1932.
sen›, 10., zit. n.: Kritische Gesamtausgabe
rismus wurde.› Friedrich Achleitner, Österrei-
34 Gabriele Reiterer, ‹Gio Ponti, Val Martello›,
Werke, hg. von Giorgio Colli und Mazzino
chische Architektur im 20. Jahrhundert,
in: NZZ, 07.12.1998, zit. n.: nextroom.at,
Montinari, de Gruyter, Berlin-New York 1967ff.
Museum moderner Kunst Wien (Hg.) Bd. 1,
www.nextroom.at/building.
4 Jeannot Simmen, Vertigo. Schwindel der
Residenz Verl., Salzburg-Wien 1980, vergl.
php?id=1917&inc=artikel&sid=4157
modernen Kunst, Habilitationsschrift, Universi-
Moroder 1996 und 1998.
(23.06.2018).
tät Wuppertal, Klinkhardt & Biermann,
25 Joseph Kessel, in: Le Messager,
35 Gio Ponti, ‹Un nouvo albergo. Un nouvo
München 1990 [=Simmen 1990].
29.10.1932, 9.
stupendo centro turistico italiano›, in: Domus
5 Ibid, 23.
26 Kant (1790) 1963, Erster Theil: ‹Kritik der
Nr. 121, Januar 1938, 10f: ‹E’dotato di impianti
6 Nietzsche (1882/1887) 1982, 3. Buch, 125,
ästhetischen Urtheilskraft›, Erster Abschnitt:
perfetti e realizza anche novità nel campo al-
‹Der tolle Mensch›, 132.
‹Analytik der ästhetischen Urtheilskraft›, Zwei-
berghiero d’alta montagna, come la «guarda-
7 Ibid. Vgl. Simmen 1990, 23.
tes Buch: ‹Analytik des Erhabenen›, ‹B. Vom
roba calda» per gli skiatori. Gli ambienti sono
8 Filippo Tommaso Marinetti, ‹Manifeste du
Dynamisch-Erhabenen der Natur›, § 28. ‹Von
arredati con vivacità e carattere e, per conser-
Futurisme›, in: Le Figaro, 20.2.1909, zit. n.:
der Natur als einer Macht›, 160.
vare una unità di stile, ogni camera è diversa
Christa Baumgarth, Geschichte des Futuris-
27 Bruno Reichlin spricht sich gegen die ver-
per il colore o per la particolarità d`arreda-
mus, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1966, 221.
heerenden Folgen der Umbauarbeiten aus,
mento.›
9 Ibid., 221f.
die das Gebäude vollkommen denaturieren,
36 Ivan Bocchio, ‹Gio Pontis Vision: Die Ratio-
10 Simmen 1990, 160.
siehe: Bruno Reichlin, ‹Sauve qui peut›, in:
nalisierung und «Italianisierung» Südtirols›, in:
11 Ibid., 23.
Ursula Paravicini und Pascal Amphoux (Hg.),
Stacher, Hölz 2014, 73f.
12 Ibid.
Maurice Braillard. Ein Schweizer Pionier der
37 Dépassement, auch Selbstüberwindung.
13 Siegfried Kracauer, ‹Die Reise und der
modernen Architektur, Fondation Braillard
38 Charlotte Perriand, ‹Construire en mon-
Tanz› (1925), in: ders., Das Ornament der
Architectes, Genf 1993, 21.
tagne. Pour une prise de conscience de nos
Masse, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977,
28 Entlang des Moskauer Rings plante
responsabilités›, in : L’Architecture d’au-
40–49.
El Lissitzky eine Serie von acht ‹Wolkenbügeln›
jourd’hui, Nr. 126, Construire en montagne,
14 Ibid., 48.
mit signalhafter Wirkung. Ein Pfeiler, der als
juin/juillet 1966.
15 Ibid., 40.
überdachte Straßenbahnstation diente, bein-
39 Charlotte Perriand, Une vie de création,
16 Ibid., 43.
haltete die vertikale Erschließung, die sowohl
Ed. Odile Jacob, Paris 1998 [=Perriand 1998],
17 Ibid., 46.
die Metro mit der Straßenebene verband als
21.
18 Ibid., 49.
auch einen direkten Zugang zum horizontalen,
40 Werner Tscholl, Interview geführt mit Su-
19 Ibid., 43.
verzweigten Bürobügel schuf. Der ‹Wolkenbü-
sanne Stacher, 11.03.2013, publiziert unter
20 Franz Werfel, ‹Die Hoteltreppe› (1927), in:
gel› war eine dreistöckige, L-förmige Platt-
dem Titel ‹Timmelsjoch Experience, Tirol –
ders., Gesammelte Werke. Erzählungen aus
form, 50 Meter über der Straße, von drei
Das Sublime, reloaded›, in: Architektur Aktuell
zwei Welten, Bd. 2, S. Fischer, Frankfurt am
Pylonen getragen.
05/2013.
Main 1963, 169–180.
29 Noch bevor der ‹Wolkenbügel› 1926 im
41 Vgl. Philip Jodidio, Zaha Hadid Complete
21 Marcel Just, ‹Das ‹Hotelbauverbot›, in: Just
ASNOVA-Bericht publiziert wurde, wurde er in
Works, 1979–2013, Taschen Verl., Köln 2013,
2007, 24ff.
der Architekturausstellung der November-
122.
22 Susanne Stacher, Christoph Hölz (Hg.),
gruppe in Berlin und etwas später in Mann-
42 Ibid.
Dreamland Alps, Ausst.-Kat., ENSA-V, Archiv
heim ausgestellt. Er war auch auf dem
für Baukunst, Paris-Innsbruck 2014 [=Stacher,
Umschlag von Behnes Der modere Zweckbau
Hölz 2014], 77.
abgebildet, 1929 publiziert in Erich Mendels-
23 Joachim Moroder, BennoPeter , Hotelar-
sohns Russland, Europa, Amerika. Vgl. J. Chris-
chitektur, Bauten und Projekte für den alpinen
toph Bürkle, Werner Oechslin (Hg.), El
Tourismus, 1920–1940, Haymon, Innsbruck
Lissitzky, der Traum vom Wolkenbügel.
1996. [=Moroder 1996], 40.
El Lissitzky – Emil Roth – Mart Stam, Ausst.-
24 ‹Für Bauaufgaben dieser Art gab es keine
Kat., GTA Zürich, Zürich 1991, 55.
Marcel Breuer, Hôtel Le Flaine, über die Felskante auskragend, Arâches-la-Frasse, Haute-Savoie, 1969
Man musste verdichten und den kleinst-
6
möglichen Raster finden, der mit einer möglichst großen Tiefe kompatibel ist. Es ging darum, die Organisation des Lebensraums und des
‹Sublimieren› von 30.000 Betten
visuellen Raums von einer Zelle mit vier Betten und weniger als 30 m² zu «sublimieren». Man musste alles vorhersehen – bis zur Auswahl des kleinen Löffels – und zwischen dem 1. Mai und dem 30. November 500 bewohnbare Studios bauen: ein modernes Programm und eine wahre Herausforderung.
Il fallait densifier, définir la plus petite trame compatible avec la plus grande profondeur. […] Sublimer l’organisation de l’espace de vie et l’espace visuel dans une cellule de quatre lits de moins de 30 mètres carrés… Il fallait tout prévoir jusqu’au choix de la petite cuillère, et construire 500 studios habitables entre le 1er mai et le 30 novembre : programme moderne et véritable défi .1 Charlotte Perriand, Un art de vivre, 1985
Der Massentourismus, der seit den 1960er Jahren die Berge
‹Sublimen› auf, wobei der Masseneffekt, kombiniert mit kon-
erobert hat, gefährdet das, was noch von der ‹wilden Natur›
tinuierlichem Komfort, die ausschlaggebende Rolle spielt:
übriggeblieben ist. Die Problematik des Massentourismus
Er löst einen ‹schaurig-erregenden› Rausch kollektiver Macht
betrifft die Verdichtung im Bergland und die damit verbunde-
über die perfekt domestizierten Berge aus.
nen landschaftlichen Aspekte wie auch architektonische Fra-
Bereits in Bruno Tauts Buch Alpine Architektur (1919) tritt der
gen; gewissermaßen gehen sie Hand in Hand: Wie kann man
Architekt als Demiurg auf, der die Natur zu verschönern
für die Massen bauen? Wie mit dem ‹Terrain› der Natur um-
trachtet, indem er sie vervollkommnet. Tauts Utopie war mit
gehen? Verdichten oder Streuen – und bis zu welchem Grad?
einer menschlichen Intervention in den Alpen verbunden,
Die gewählten Strategien reflektieren das Verhältnis vom
wobei Ästhetik und kristalline Perfektion mit einer bestimmten
Menschen zur Natur, das sich im Laufe des 20. Jahrhunderts
Auffassung von Natur einhergingen, die der Mensch gestal-
rasch gewandelt hat.
tete, um Göttliches zu perfektionieren.
Dieses Thema könnte auch auf die Problematik ‹Wer domi-
Dieser demiurgische Schaffenstrieb verstärkte sich im Zeitalter
niert wen?› zurückgeführt werden oder, um den roten Faden
des Funktionalismus, allerdings wich die mystisch-transzen-
des Erhabenen weiterzuknüpfen, auf die Frage, inwiefern und
dentale Seite des Expressionismus einem gewissen
auf welche Weise sich der Mensch über die Natur erhaben
Pragmatismus, der sich auf das leibliche Wohl des ‹neuen
fühlt. Die ‹Erhabenheit› liegt nun nicht mehr im geistig-philo-
Menschen› konzentrierte. Die ‹wilde Natur› wurde nun
sophischen Sich-Erheben über die Kräfte der Natur (wie noch
schlechthin als ideales ‹Terrain der Erholung› betrachtet, das
bei Kant), sondern in ihrem physischen Bezwingen – was im
durch den Architekten ‹geordnet› werden musste, um es dem
20. Jahrhundert durch den Fortschritt der Technik immer besser
Menschen dienstbar zu machen. In diesem Kapitel wird die
gelang. Nun konnte sich der Mensch real über die Natur er-
‹Domestizierung› der ‹wilden Natur› thematisiert, veran-
heben und somit gänzlich über sie erhaben fühlen. Merkwür-
schaulicht durch die bauliche Entwicklung im 20. und
digerweise tritt auch hier noch eine neuartige Facette des
21. Jahrhundert.
175
‹Sublimieren› von 30.000 Betten
Giuseppe Riccobaldi Del Bava, Fiat, Werbeplakat mit spiralförmiger Rampe und dem Auto Fiat Balilla, 1928
Das Aufkommen des Massentourismus: vom Alpenhotel zum Superblock Dieser Wandel hatte, wie bereits erwähnt, gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit der infrastrukturellen Erschließung der Berge und den damit verbundenen Architekturen (Bergstraßen, Eisenbahnen, Zahnradbahnen und Grandhotels, etwas später Seilbahnen mitsamt Stationsgebäuden, Sporthotels und Berghütten) begonnen. In den späten 1920er Jahren, als die Alpen erstmals einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurden (woraufhin sie nicht mehr ausschließlich einer finanzkräftigen Elite als Erholungsgebiet dienten), kam die Problematik der touristischen Verdichtung auf. Damit stellte sich auch die Frage nach dem Typus und dem Stil (siehe Kapitel 5). In Tirol (punktuell auch in der Schweiz, sofern möglich, wegen des ‹Hotelbauverbots›) wurde in den 1920er und 1930er Jahren mit neuen Hoteltypen experimentiert, die, sofern sie in bestehenden alpinen Ortschaften angesiedelt waren, meist regionale Elemente übernahmen und uminterpretierten. In den Dörfern konnten sich aufgrund der Bauvorschriften stilistische Erneuerungen nur langsam und schrittweise durchsetzen. Daher wurde der traditionelle Bauernhaustypus für den Tourismus adaptiert, indem funktionsbedingt in erster Linie der Maßstab verändert wurde. Es entstanden überdimensionierte, mit Balkonen ausgestattete Bauernhäuser, oft bis zu neun Geschosse hoch. Bei Clemens Holzmeisters Hotel im Südtiroler Sesto (Sexten) wurde erstmals die Menschenmenge als alpine
47
Problematik gestalterisch thematisiert, indem ein herkömmli-
Das Terrain hatte er 1928 für einen Spottpreis von umgerech-
cher Typus nicht nur im Maßstab an die neuen Bedürfnisse ange-
net 40 Cent pro m2 gekauft. Diese Neustadtgründung bestand
passt wurde, sondern auch architektonisch einen eigenen
aus einer Kirche und zwei rampenförmigen Türmen, die der Ty-
Ausdruck fand. Anhand der typologischen Transformation
pologie der Kinderheime glichen (Projekt 34), nur gab es hier
eines Bauernhauses wird der Beginn der alpinen Massenpro-
geschlossene Zimmer mit raumhohen Wänden, wodurch mehr
blematik aufgezeigt (Projekt 47).
Intimität gegeben war. Es wurden Sportmöglichkeiten geboten,
Im fünften Kapitel wurde durch Gio Pontis Seilbahnprojekt ver-
die damals aus zwei Skiliften und einem Eislaufplatz bestanden,
anschaulicht, dass bereits in der Zwischenkriegszeit eine infra-
im Laufe der 1930er Jahre kamen eine Sprungschanze und für
strukturelle Vernetzung der Alpen als zusammenhängendes
die Nutzung im Sommer ein Golfplatz hinzu. 1934 erließ Mus-
Erholungsgebiet angedacht worden war, allerdings kam es da-
solini nachträglich das offizielle Gründungsdekret von Sestriere
mals nur zur Ausführung punktueller Projekte. Das erste Skiresort
und ließ ein Rathaus als Zeichen administrativer Autonomie er-
in den italienischen Alpen errichtete die Firma Fiat unter
richten. Die Skistadt war bestens gelegen, denn sie konnte
Mussolinis Herrschaft. Da Giovanni Agnelli, der Direktor des
von Turin aus schnell mit dem Auto erreicht werden. Zu diesem
Automobilkonzerns, selbst ein begeisterter Skifahrer und von
Zweck baute Fiat ein erschwingliches Volksauto, den Fiat Balilla
der Zukunftsträchtigkeit des aufkommenden Wintersports über-
(benannt nach der faschistischen Jugendorganisation). Auf den
zeugt war, baute er (mit seinem Sohn Eduardo) für seine Ange-
Werbeplakaten waren das Auto, die Türme von Sestriere und
stellten die ex nihilo gegründete Stadt Sestriere im Piemont.
die Rampe als ikonenhafte Bilder zu sehen.
Clemens Holzmeister, Hotel Drei Zinnen, Sexten, Südtirol (1926), 1929–1934
176
Fiat, ‹La 1500 invita al Sestriere›, im Hintergrund links die Turmhotels von Sestrière, Zeitschriften-Annonce um 1936
zur rauesten Natur entstehen kann. Daher ist es notwendig, bestimmte Zonen der «vollkommenen Freizeit» zu widmen und ihre Klassifizierung [als Freizeitzone] im Rahmen eines nationalen Plans festzulegen.›2 Um durch die ‹gewaltige Konfrontation› mit der ‹rauesten Natur› Energie für die Stadt aufzutanken, sollte das Terrain nach folgenden Gesichtspunkten ausgewählt werden: ‹Die Zonen, wo die Natur noch unberührt ist, werden bei der Auswahl bevorzugt; aber auch diejenigen, die die [bauliche] Unordnung noch nicht hoffnungslos kompromittiert hat, können genutzt werden, wenn die dafür nötigen Abbrucharbeiten vorgenommen werden.›3 Vorzugsweise wurde für die Neubauten (die sich im Gegensatz zum planlosen, ‹ungeordneten› Altbestand durch ein klares Ordnungsprinzip auszeichnen) die ‹unberührte Natur› aufgesucht. Wenn diese nicht mehr vorhanden war, sollte sie ‹gereinigt›, einem Purifikationsprozess unterzogen werden, damit der erholungssuchende Städter eine elementare Naturerfahrung machen konnte. Die Radikalität der Idee kommt in der Notwendigkeit von ‹Abbrucharbeiten› zum Ausdruck, damit die Naturerfahrung nicht beeinträchtigt werde: ‹Die Grundvoraussetzung für die Auswahl dieser Zonen wird das Panorama sein, damit der Mensch von der Emotion profitieren kann, angesichts des Werks der Natur. Man muss von diesen Zonen, sofern möglich, all das beseitigen, was an die heutige Stadt erinnert.›4 Nach diesen einführenden Worten der Sinnsuche folgte ein Freizeitzonen im Hochgebirge – Le Corbusier und der
sozial engagiertes und pragmatisches Programm: In einem
V. CIAM-Kongress
‹nationalen Plan› müsse die Infrastruktur und ein ‹Netz von
Parallel zu den regionalistischen, kleinmaßstäblichen Chalet-
schnellen Transportmitteln› festgelegt werden. Ein Gesetz
Bauten für wohlhabende Eliten (wie in Megève) wurde in
solle das Öffentlichkeitsrecht sichern, damit die schönsten
Frankreich die Notwendigkeit der Erholung in den Bergen für
Berggegenden nicht durch Privatunternehmer ausgebeutet
die Massen beim fünften Kongress der CIAM in Paris im Jahre
würden. Für jedes Gebiet müsse eine ‹adaptierte Baugesetz-
1937 thematisiert. Le Corbusier spielte dabei eine Schüssel-
gebung› etabliert und ein Detailplan entwickelt werden, der
rolle und war für die Pressekorrespondenz verantwortlich.
einen Aufenthalt (Wochenende und Ferien) für alle ermögliche.
Thema dieses internationalen Kongresses waren unter ande-
Verschiedenste Kriterien (klimatische, bergtechnische, Pano-
rem die Freizeitzonen im Hochgebirge. Der von Josep Luis
ramablick) seien in die Planung miteinzubeziehen und mit der
Sert (der von 1927 bis 1929 bei Le Corbusier gearbeitet hatte),
Architektur in Einklang zu bringen, die je nachdem im Winter,
Gino Pollini und Luigi Figini verfasste Bericht beginnt mit fol-
im Sommer oder das ganze Jahr über genutzt werden könne.
genden Worten: ‹Wir stellen fest, dass der Organismus – nach
Die ideale Höhe für die Anlage solcher Architekturen müsse,
dem Verbrauch der psychischen und physischen Energien in
um einen positiven Effekt auf die Gesundheit zu haben, dem
der Stadt – für eine schnelle Regeneration eine gewaltige
Alter und der physischen Kondition der zu erwartenden
Konfrontation braucht, die allein durch den direkten Kontakt
Touristenmassen gestaffelt angepasst werden.
177
‹Sublimieren› von 30.000 Betten
Marcel Breuer, Flaine Forum, großer Platz der Skistation Flaine, um 1970
Das Thema der idealen Höhenlage war nicht nur für Gesundheitszwecke von großem Reiz – schließlich waren es hier nicht Ärzte, sondern Architekten, die das Erholungskonzept in den Bergen erstellten –, woraufhin sie mit dem architektonischplanerischen Potenzial ihres Ziels abschlossen: ‹Es scheint auch, dass die unberührten Zonen in zwei- oder dreitausend Meter Höhe ein äußerst umfangreiches Studienund Experimentierfeld für den Städtebau und die Architektur eröffnen könnten.›5 In der ‹wilden Natur› zu experimentieren, ist für Architekten eine verlockende Herausforderung. Doch warnend wiesen sie darauf hin, dass reiner Pragmatismus den Umgang mit den Bergen nicht determinieren dürfe, denn die architektonische Konzeption solle durch Reglementierungen nicht eingeengt werden. Sie appellierten zum Schluss an die Poesie des Schaffenden: ‹[…] die poetischen Elemente entgehen – ihrer Natur gemäß – stets einer methodischen Untersuchung und müssen unbedingt in den Vordergrund gerückt werden.›6 Le Corbusier konzipierte 1939 eine Skistadt für die in den französischen Alpen gelegene Stadt Vars und bezeichnete den Architekten als ordonnateur der Natur, worunter er denjenigen verstand, der die Natur ordnet (organisiert) und dem Menschen den Bedürfnissen entsprechend dienstbar macht. Beim experimentum mundi nahm der Architekt die Rolle des
‹Die Dinge [Konsumgüter] sind weder Flora noch Fauna.
Schöpfers ein (Projekt 48).
Dennoch vermitteln sie den Eindruck einer wuchernden Vegetation eines Dschungels, wo der neue wilde Mensch der
Die Konsumgesellschaft erobert die Alpen
Moderne Mühe hat, die Reflexe der Zivilisation wiederzufinden. Diese Fauna und Flora, die der Mensch selbst produziert hat und die sich nun gegen ihn wendet, ihn einkreist und be-
48
Die funktionalistische Naturauffassung kam baulich erst nach
herrscht wie in schlechten Science-Fiction-Romanen, muss
dem Krieg zum Durchbruch, als der notwendigste Wiederauf-
man versuchen, kurz so zu beschreiben, wie wir sie sehen und
bau vollzogen war und das Thema Erholung wieder aufgegriffen
erleben – ohne jemals zu vergessen, dass sie in ihrem Ausmaß
werden konnte. Mit dem Aufkommen der Konsumgesellschaft
und in ihrer Überfülle Produkte menschlicher Aktivität sind
in den 1960er Jahren entwickelte sich auch der Massentouris-
und dass sie nicht von natürlichen ökologischen Gesetzen
mus. Dabei gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen
beherrscht werden, sondern vom Gesetz ihres Verkaufswerts.›7
der Konsumhaltung der Gesellschaft und deren Bezug zur
Baudrillard bezieht sich auf den von Montaigne und Rous-
Natur, die davon ebenfalls betroffen ist.
seau geprägten Begriff des bon sauvage (eines in der Natur
Der französische Soziologe Jean Baudrillard verglich in seinem
lebenden, von Grund auf ‹guten Wilden›8), indem er den
1970 erschienenen Buch La société de consommation (Die
‹neuen wilden Menschen der Moderne› (nouvel homme
Konsumgesellschaft, 2015) die Schnelllebigkeit der Alltagsge-
sauvage des temps modernes) nicht mehr mit der nackten
genstände mit der wilden Natur, da die Konsumgüter den
Natur, sondern mit dem Dschungel der Konsumgüter konfron-
Menschen ebenso bedrohen wie die wuchernde Vegetation
tiert, wodurch er die Zivilisation und den Fortschritt hinterfragt.
eines Dschungels:
Er sieht in der Behauptung, dass der Konsum die Menschheit
Le Corbusier, Skistadt in Vars, Hautes-Alpes, 1939 178
gleichschalte und ihr Freiheit verleihe, eine gefährliche Täu-
Wohnmaschinen im Hochgebirge für den ‹universalen
schung; vielmehr höhle der Konsum seiner Ansicht nach die
Menschen›
Menschen aus und lenke sie von wesentlichen Zielen ab: ‹Der
Mit der aufkommenden Konsumgesellschaft setzte sich der
Diskurs über den Konsum ist darauf ausgerichtet, aus dem
großmaßstäbliche ‹Ordnungsprozess› der Natur durch: Ent-
Konsumenten einen universalen Menschen – die ideale und
wickler und Architekten wurden zu ‹Organisatoren› der Natur
endgültige Verkörperung des Menschengeschlechts – und
und bezwangen diese zur Gänze. Baudrillards ‹universaler
aus dem Konsum die Voraussetzung für eine ‹Befreiung der
Mensch› hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die
Menschheit› zu machen, die sich anstelle und trotz des Miss-
Alpen erobert und konsumiert die letzten noch zur Verfügung
erfolgs der politischen und sozialen Befreiung vollzieht.›9
stehenden Terrains unberührter Natur, und dies im großen
Es handle sich demnach um eine Konfusion des Freiheitsbe-
Maßstab: 30.000 Betten wurden zum Norm-Maß der französi-
griffs, den man nunmehr im Konsumpotenzial sah, und nicht
schen Investoren, welche sich die Alpen in einer wohlkalkulierten
mehr in essenzielleren Inhalten. Um diese zu erkennen, braucht
Berechnung hinsichtlich des zahlungskräftigen Prozentsatzes
es eine kritische Distanz zum Alltagsgeschehen. Als Joseph
der Gesamtbevölkerung untereinander aufteilten.
Addison 1710 Frankreichs Politik kritisieren wollte, verpackte er
Die so genannten stations intégrées10 (mit jeglichem Komfort
seine Gesellschaftskritik in eine Allegorie vom Fliegen, ange-
ausgestattete Resorts) sind Ausdruck dieses, vor allem in
siedelt in den französischen und Schweizer Alpen, um der
Frankreich stark verbreiten Phänomens: Zahlreiche ‹Retorten-
fruchtbaren Landschaft der freien Schweiz das karge Gebirge
städte› wurden in noch vollkommen unerschlossenen Berg-
Frankreichs gegenüberzustellen, das symbolisch für den un-
gegenden aus dem Boden gestampft. Selbst in den höchsten
terdrückerischen Absolutismus stand (siehe Kapitel 1). Durch
Gebirgsregionen umgab sich der Mensch mit Konsumgütern,
das Sich-Erheben über das Hier und Jetzt konnte er einen kri-
nichts durfte fehlen: Shoppingmalls wie in der Stadt, mit zahl-
tischen Blick auf die politische Landschaft werfen. Kritische
reichen Geschäften, Restaurants, Apotheken, Ärzten, Kinder-
Distanz zum Alltag wurde oft in der Natur gesucht, vorzugs-
krippen und Discos – ein perfekter Komfort, als stolzer Ausdruck
weise in der unberührten Natur, insbesondere in den Bergen,
menschlicher Errungenschaften. Trotz der ausgesetzten Lage
wo sich der Mensch über alltägliche Dinge erheben kann und
konnten beinahe dieselben Alltagsrituale fortgesetzt werden
zum Nachdenken kommt. In der Konsumgesellschaft ist diese
wie in der Stadt; bloß ersetzte die Seilbahn die Metro und
Art reflexiver Dimension schwer möglich, weil man überall mit
das Skifahren die Arbeit.
Produkten, Informationen und Werbeplakaten überschwemmt
In einem Dokumentarfilm über das 1967 eröffnete Skiresort
wird, denen man sich kaum entziehen kann. Inzwischen hat
Avoriaz erläutert der junge Investor stolz sein Konzept der
aber die Vermarktung nicht nur die vom Menschen produzier-
zentralen Organisation und bezeichnet die Anlage als ‹funk-
ten Konsumgüter, sondern auch die Natur selbst ergriffen. Sie
tionierende Maschine›:
ist zu einer konsumierbaren Ware geworden, die einen ähnli-
‹Eine einzige Telefonnummer und alle Probleme – ob es sich
chen Status bekommen hat wie alle anderen Konsumartikel.
um ein krankes Kind handelt oder um eines, das beaufsichtigt
Auch sie ist zum ‹Objekt› geworden, das nicht mehr rein ‹von
werden soll, um ein zu putzendes Zimmer oder um einen auf-
natürlichen, ökologischen Gesetzen bestimmt› wird, sondern
zubauenden Kasten – werden sofort gelöst.›11
durch das ‹Gesetz ihres Verkaufswerts›. Mit dem Verkaufswert
Dann wird ein junges Ehepaar interviewt und gefragt, was
hängt das Ausmaß des Erholungswerts zusammen, den Bau-
ihm besonders gefalle. Das in ihrer städtisch ausgestatteten
drillard mit dem Begriff bien-être (Wohlbefinden) umschreibt.
Designwohnung sitzende Paar zeigt sich zufrieden mit dem
Allerdings nimmt, meiner Ansicht nach, mit der zunehmenden
Angebot: Die Dame mit makellos zurückgebundenem Haar
Konsumhaltung die Intensität der Naturwahrnehmung propor-
und blaugeschminkten Augenliedern, einen weißen Chihuahua
tional ab, weil die Konsumhaltung von der unmittelbaren Kon-
mit spitzen Ohren streichelnd, sagt mit doppeltem Augenauf-
frontation mit der ‹nackten Natur› ablenkt. Der Begriff des bien-
schlag und blasiertem, näselndem Tonfall, dass es hier so
être umfasst weit eher die quantitativ messbare, wertschätz-
angenehm sei, weil ihr Kleinkind den ganzen Tag von einer
bare und verkaufbare Dimension als die subjektive Intensität.
Kinderdame betreut werde und sie ungestört Skifahren könne.
179
‹Sublimieren› von 30.000 Betten
Ihr sportlich aussehender Ehemann, im modischen Rollkragen-
‹aufteilten›, die in der Entwicklung des Tourismus eine wirt-
pullover, gebräunt, mit Sonnenbrille und weiß blitzenden
schaftliche Dynamik erhofften, um der Abwanderung entge-
Zähnen, nickt lächelnd und streicht die Autofreiheit des Re-
genzuwirken (der Anteil der bäuerlichen Bevölkerung betrug
sorts hervor, während das Kleinkind (das nicht im Bildaus-
in den 1960er Jahren nur mehr elf Prozent, während sie in
schnitt ist) im Hintergrund aufquietscht.
der Zwischenkriegszeit noch 50 Prozent ausmachte).
Dieser Film vermittelt sinnbildlich das bien-être, das Wohlbe-
Der Staat bot für die Entwicklung des Wintersports eine
finden, das in den Skiresorts der 1960er und 1970er Jahre
fruchtbare Grundlage, indem er 1958 ein Gesetz erließ (Loi 58
durch ‹integrierten Komfort› erzeugt wurde: Die Pisten mussten
genannt), das einem privaten Investor freie Hand über ein
direkt von den Wohnungen aus zugänglich sein, ohne Autos;
großes Gebiet gewährte. Es ermöglichte die totale maitrise
alle Gäste hatten Ausblick auf die Berge, um den Effekt der
du terrain, worunter die rechtliche Inbesitznahme eines Grund-
Erholung zu maximieren (der bereits laut CIAM-Bericht im
stücks verstanden wurde (einhergehend mit der Enteignung
Panorama lag). Das ‹Terrain› dieser makellos funktionieren-
der Bergbauern), inklusive des Rechts auf eine gesamtheitliche
den Maschinenstädte wurde den Bedürfnissen entsprechend
Projektentwicklung. Der Rahmen für die Entwicklung war
ausgewählt (Skipistentauglichkeit) und den Plänen gemäß
gesetzlich festgelegt: Die Erschließungsstraßen waren von den
adaptiert.
Regionen und Gemeinden zu finanzieren, die Gebäude, Liftanlagen und Infrastruktureinrichtungen von den Investoren, die
Bergstädte ex nihilo
auch für den Betrieb und Vertrieb zuständig waren. Mit dem zunehmenden Wohlstand war in den trente glorieuses eine finanzkräftige Jugend herangewachsen, die erst seit
49
Es werden in der Folge drei Skiresorts in Frankreich näher
einer Generation in der Stadt lebte und eine ambivalente
beleuchtet, da sie die radikalsten Beispiele für den Massen-
Beziehung zum urbanen Leben hatte, wie Roger Godino,
tourismus der 1960er und 1970er Jahre sind. Frankreich
der Entwickler des Skiresorts Les Arcs, schrieb:
stand bis dahin in der Entwicklung des Skitourismus weit hin-
‹Der wirtschaftliche und soziale Fortschritt brachte leider
ter der Schweiz und Österreich zurück. Der rasch wachsende
auch ein neues Problem mit sich: die überfüllte Stadt. Offen-
Wohlstand in den so genannten trente glorieuses (so werden
sichtlich waren unsere Großstädte, deren Städtebau aus dem
in Frankreich die 30 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ge-
letzten Jahrhundert datiert, nicht dazu gemacht, um binnen
nannt, die dank des Marshallplans von einem Bauboom ge-
so kurzer Zeit einen dermaßen großen Zufluss ländlicher
kennzeichnet waren) führte zur Errichtung unzähliger
Bevölkerung zu absorbieren. Zusammengedrängt in baufälligen
Großprojekte – auch in den Alpen. Frankreichs Rückstand
Häusern oder in sozialen Wohnbau-Riegeln – die in aller Eile
wurde als Chance für eine besonders schnelle Entwicklung
gebaut wurden, ohne Rücksicht auf Ästhetik – hatte die junge
erkannt, denn es musste nicht lange mit Vorhandenem ver-
Generation, deren Eltern einst das Land verlassen hatten, nur
handelt werden, wodurch auch radikale Lösungen für die ex
ein einziges Bedürfnis: flüchten.›12
nihilo gebauten Städte im Hochgebirge möglich waren.
Nachdem an den Küsten bereits die maximale Aufnahmeka-
Dabei wurde Le Corbusiers Ordnungsprinzip der Natur –
pazität erreicht war, sollte der Wintersport in den Bergen
rational nach A, B, C, D, E eingeteilt – zur bestimmenden
ausgebaut werden. Dem Beispiel des unmittelbar nach dem
Vorlage. Die Idealvorstellung, die Berge allen zugänglich zu
Krieg gebauten Skiresorts Courchevel folgten beinahe zeit-
machen, blieb zwar eine Utopie, aber die wohlhabende Mit-
gleich die Großprojekte Flaine, Avoriaz, La Plagne und kurz
telschicht der jungen Generation konnte erreicht werden.
darauf Les Arcs. Bevor sich Roger Godino auf die Großin-
Auch die CIAM-Maxime, dass das Öffentlichkeitsrecht durch
vestition einließ, erstellte er eine Kapazitäten-Studie:
den Staat gewährt werden müsse, um die Berglandschaft vor
‹Frankreich hatte 60 Millionen Einwohner. Davon konnten
privater Spekulation zu schützen, blieb eine Utopie; in Frank-
sich zehn Prozent der reichsten Mittelschicht einen Zweit-
reich waren es meist private Investoren, die sich die Berge im
wohnsitz in den Bergen leisten [also 1 Promille der Gesamt-
Einverständnis mit den jeweiligen Regionen und Gemeinden
bevölkerung]; das machte 60.000 Betten aus. In den bereits
Marcel Breuer: Flaine, Haute-Savoie, 1960–1977 180
Marcel Breuer, Hôtel Le Flaine, runder, offener Kamins aus Beton, um 1969
errichteten Resorts waren bereits in etwa 30.000 gebaut, es blieben also noch 30.000 übrig. So stürzte ich mich als junger Mann ins Abenteuer.›13 Bei diesen gigantischen Bauvorhaben stellte sich wiederum die Frage der Form, welche die ‹Organisatoren der Natur› ihren Kreationen geben sollten. Stilistisch wurde nicht mehr an das traditionelle alpine Bauen angeknüpft; nicht das rückwärtsgewandte, sondern das Mondäne, Vorwärtsstrebende als Symbol des Fortschritts wurde anvisiert. Genau jener Komfort im städtischen Wohnblock sollte auf den noch zu kreierenden ‹Alpenblock› transferiert werden. Drei französische Beispiele mit unterschiedlichen Lösungsansätzen werden illustrieren, wie eine solche Bauaufgabe bewältigt werden konnte: die 10.000-Betten-Stadt Flaine (Projekt 49), das unausgeführte Projekt der 25.000-Betten-Stadt Belleville (Projekt 50) und die 30.000-Betten-Stadt Les Arcs (Projekt 52). Flaine: ‹ein Prototyp der Moderne› Eric Boissonnas, der Entwickler des Resorts Flaine, hatte den Anspruch, einen ‹Prototyp des Städtebaus der Moderne›14 inmitten der Berge zu errichten. Gerard Chervaz, ein junger Bergführer, suchte mit ihm nach einem geeigneten Grundstück
Zögern ein, bei der Planung als Koordinatorin mitzuwirken
und brachte ihn zu einem auf 1.600 Höhenmetern gelegenen
und stürzte sich mit der eigens dafür gegründeten Architekten-
Gebirgskessel hinauf, den Boissonnas als idealen Standort
gruppe Atelier d’Architecture des Arcs in die Arbeit.
anerkannte. Er sah in dem völlig isolierten Ort eine einmalige
Auch sie war mit der Frage des Umgangs mit dem unberührten
Chance für sein pädagogisches Projekt der Moderne:
Gelände konfrontiert, das in diesem Fall ein kontinuierlich
‹Äußerst selten profitieren Projekte von einer außergewöhn-
ansteigender steiler Hang war: ‹Wie das Gelände einteilen?
lichen Lage. […] Damit ein der idealen Lage entsprechendes
Wie bauen auf den großen Almwiesen?› Über die Bebauungs-
Projekt verwirklicht werden kann, ist der Unternehmer bereit,
strategie des Terrains schrieb Perriand:
auf sofortige Gewinne zu verzichten, die mit einer wohlüber-
‹Guy Rey-Millet, der eine gewisse Sensibilität besaß, kam auf
legten architektonischen Planung nicht vereinbar sind.›15
folgende Idee: «Wir bauen nicht auf der Hochebene, wo die
Für sein ambitioniertes Projekt beauftragte er einen ‹Star-
Maiensäße angesiedelt sind; wir platzieren uns dahinter, um
Architekten› aus Amerika: Marcel Breuer. Dessen renommier-
sie zu betrachten; wir verbauen nicht den schönsten Ort.»
ter Name sollte helfen, die regionalen Politiker von diesem
Seine Vision interessierte mich.›17
Großprojekt zu überzeugen.
Die vom Atelier d’Architecture de Montagne (AAM) ursprünglich (vor Perriands Mitwirken) konzipierte Vertikalausrichtung
Les Arcs: ‹Sublimieren› von 30.000 Betten
der Anlage wurde zugunsten einer horizontalen Lösung auf-
Roger Godino, der Entwickler von Les Arcs, war bestrebt, einen
gegeben. Das Resort wurde auf drei unterschiedliche Lagen
modernen Skiresort-Typus zu kreieren, der im Gegensatz zu
in einem Abstand von je 200 Höhenmetern aufgeteilt. Der
Flaine weder städtisches Ambiente noch ‹regionalistisches
erste Block, Les Arcs 1600 genannt, war entlang der untersten
Dekor› aufweisen sollte.16 Charlotte Perriand, die 1962 bereits
Höhenschichtlinie auf 1.600 Metern angesiedelt und bestand
an der Konzeption von Belleville beteiligt war und Berghotels
aus 4.200 Betten. Um die Urlauber vor Lärm zu schützen, wurde
im kleinen Maßstab geplant hatte, willigte nach anfänglichem
der Parkplatz unterhalb der Skistadt angeordnet, während die Candilis, Prouvé, Perriand, Woods, Josic, Piot, Suzuki,
181
Skistadt Belleville, Savoie, 1962
50
Charlotte Perriand und Gaston Regairaz, Ferienwohnanlage Versant Sud, Les Arcs 1600, Südseite, 1969–1974
Zugänge zu den einzelnen Gebäuden über Gehwege erfolg-
zur Auswahl des kleinen Löffels – und zwischen dem 1. Mai und
ten. Was die Anordnung der Gebäude betrifft, suchte
dem 30. November 500 bewohnbare Studios bauen: ein mo-
Charlotte Perriand nach Möglichkeiten, den Ausblick so auf die
dernes Programm und eine wahre Herausforderung.›18
Berge zu orientieren, dass keine anderen Wohnblocks den ge-
Um dem engen Zeit- und Kostenrahmen gerecht zu werden,
wünschten Erholungseffekt störten. Verdichtung statt Streuung,
schlug Charlotte Perriand vor, mit Vorfabrikation zu arbeiten.
uneingeschränkter Panoramablick und maximale Besonnung
Vom Schiffsbau inspiriert, entwarf sie zweiteilige Polyesterschalen für die Küchen und Bäder, in die Waschbecken, Badewanne, Spiegel und WC wie auch Spülbecken und Kochfelder bereits integriert waren. ‹Dem Imperativ des Programms – konzentrierter Städtebau und kurze Bauzeit: sieben Monate «vom Beton bis hin zum kleinen Löffel» – folgend, musste ich vorfertigen lassen, um die Konstruktionszeit zu reduzieren: an erster Stelle der Sanitär- und Kochbereich, an einen vertikalen Schacht angeschlossen. […] So wurden ab 1975, planungsgemäß jeden Morgen sieben Badezimmer angeliefert – vollkommen ausgestattet und bereit, mit dem Kran versetzt zu werden. Dieses gelungene Experiment sollte bald 3.000 Einheiten betreffen.›19 Das Konzept der station intégrée, basierend auf komplettem Komfort, sollte perfektioniert werden, angefangen mit dem direkten Zugang von den Wohnungen zur Piste, bis zu einem
waren die wichtigsten Entwurfskriterien, woraus neue architek-
breiten Angebot sämtlicher öffentlicher Einrichtungen, beste-
tonische Typologien entstanden, wie es die Projekte
hend aus Einkaufszentrum, Kindertagesbetreuung, Ärztezen-
La Cascade, Versant Sud und La Nova illustrieren (Projekt 51).
trum, Skischulen etc. wie auch aus einem 40 Hektar großen
Die erste Bauetappe Les Arcs 1600, die aus einem Ensemble
Golfplatz, um das Resort auch in den Sommermonaten
von drei- bis viergeschossigen Gebäuden bestand, wurde
attraktiv zu machen.
nach nur einjähriger Bauzeit zu Weihnachten 1969 eingeweiht. Bei der zweiten Bauetappe, Les Arcs 1800, musste alles opti-
Charlotte Perriands kritischer Rückblick
miert werden: die Wohnungsgrößen, die Bauzeit und die
Als am Fuße des Gletschers die dritte Bauphase mit Les Arcs
Kosten. Godino führte hier ein neues, aus der Schweiz kom-
2000 begann, bei welcher Jean Prouvés innovativer Entwurf
mendes Touristenwohnmodell ein, das Parahotel (Mietwoh-
(Projekt 52) zugunsten konventionellerer und immer stärker
nungen mit Hotelkomfort, inklusive Bettwäsche, Reinigung
‹optimierter› Lösungen (im Sinne des Entwicklers) nicht reali-
und einer Rezeption). Die Wohneinheiten waren wesentlich
siert wurde, zog sich Charlotte Perriand zurück. Resigniert
kleiner, um die Mietkosten zu reduzieren, und die Wohnzellen
schrieb sie: ‹Und dennoch wurde dieser Ort, der ursprünglich
wurden immer länger und schmäler (10,40 Meter Tiefe auf
sublim war, vollkommen zerstört.›20 Sie hatte erlebt, wie sich
2,96 Meter Breite), um teure Fassadenkosten zu meiden.
der Skitourismus mit rasanter Geschwindigkeit entwickelte,
Rentabilität bestimmte Konzeption und Konstruktion. Hier
wodurch sich auch der Bezug der Menschen zu den Bergen
wurden 18.000 Betten gebaut, mit bis zu 13-geschossigen
verändert hatte. In ihren Memoiren schrieb die 95-jährige
Gebäuden: ‹Man musste verdichten und den kleinstmöglichen
Frau kritisch über ihr ambitioniertes Vorhaben, ihre geliebten
Raster finden, der mit einer möglichst großen Tiefe kompatibel
Berge mit den Massen, die sie als ‹robotisierte Horden›21
ist. Es ging darum, die Organisation des Lebensraums und des
bezeichnete, zu teilen:
visuellen Raums von einer Zelle mit vier Betten und weniger
‹Heute schmücken achtundzwanzigtausend Betten das Tal für
als 30 m zu «sublimieren». Man musste alles vorhersehen – bis
die Horde von Feriengästen, die in der Winterurlaubszeit die
2
51
Charlotte Perriand: La Cascade, Versant Sud, La Nova, Les Arcs 1800, 1968–1981
182
Gegend überschwemmt. Lifte erwarten sie, Pisten ohne Steine,
Mensch durch den grenzenlosen Komfort, den er durch die
ohne Mugel, ohne Hindernisse, von den Einheimischen im
moderne Bautechnik erreichen konnte, über die Natur erhaben.
Sommer und Winter umschmeichelt; neue Hotels und Ge-
Das schaurig-schöne Gefühl entsteht nicht mehr angesichts der
schäfte für dieses gestopfte Manna von Städtern, die genug
Schluchten, Gipfel, Gletscher und Lawinen, sondern angesichts
Geld haben, um es frisch und fröhlich in acht, zehn, fünfzehn
der Bagger, Brücken, Straßen, Tunnels, Kräne, Häuser, Liftanla-
Tagen auszugeben, bevor sie wieder in die Stadt zurückkehren,
gen und Lawinenverbauungen. Der Demiurg Mensch erschau-
um «im Schweiße ihres Angesichts» wieder aufzutanken – bis
dert nun vor der Macht seines eigenen Werks.
zum nächsten Jahr.›
22
Sie fragte sich, ob das eigentliche Problem nicht der Mensch sei, der sich verändere, weil er ‹zu sehr verwöhnt› sei. Charlotte
Das Ende der Massentourismus-Euphorie
Perriand kritisierte den Komfort einer Konsumgesellschaft, die in der Natur etwas anderes suchte als die Natur selbst.
Mit dem Ölschock der 1970er Jahre und dem Aufkommen
Die ‹Sublimierung› der Wohnzelle sollte es ermöglichen,
der ökologischen Bewegung erfolgte wiederum ein Wandel
30.000 Menschen einen Rahmen zu bieten, von dem aus sie
im Verhältnis des Menschen zur Natur. Der Fortschrittsglaube
die Natur betrachten konnten; ein letzter Rest des einstigen
und die Technik wurden infrage gestellt und die hemmungs-
Sublimen, dessen Verlust Charlotte Perriand beklagte, im
lose, konsumorientierte Ausnutzung der letzten Naturreserven
Versuch, noch etwas davon zu retten – sei es auch nur der Aus-
kritisiert. Auch die Beziehung zu den Bergen wurde hinter-
blick auf die Berge.
fragt, insbesondere in Hinblick auf die Menschenmassen, die saisonal in die Berge strömen. Die Konstruktion von städtischen
Schaudern durch Menschenhand
Ensembles im Hochgebirge wurde zusehends vermieden. Eine neue Form des Regionalismus kam Ende der 1970er und in den 1980er Jahren auf, im Streben nach nachhaltigeren
Euphorisch hatte der Massentourismus die Berge erobert.
Umgangsformen mit der Landschaft und dem kulturellen
Nichts stand den menschlichen Errungenschaften mehr im
Erbe der Dörfer und Siedlungen. Allerdings kann dabei nur in
Wege; die Berge wurden für die Menschenmassen zugäng-
manchen Fällen von einem ‹kritischen Regionalismus› gespro-
lich, ‹erlebbar› und städtisch-komfortabel gemacht. Aus die-
chen werden, denn oft folgte den verpönten Großformen ein
sem Gefühl heraus hatte sich auch die Wahrnehmung der
unkritischer Regionalismus, der sich rückhaltlos konventioneller
Berge verändert: An die Stelle der kontemplativen, sensori-
Formensprachen bediente (bis hin zum Kitsch), um Gäste
schen und körperlichen Erfahrung des Erhabenen haben sich
anzulocken: Holzchalets in allen Größen und Formen ‹koloni-
die Menschen kollektiv der Natur bemächtigt. Eine Verlage-
sierten› zusehends die noch unberührte Berglandschaft. In
rung von der Ehrfurcht vor der Natur zur Ehrfurcht vor dem
den 1990er Jahren erfolgte wiederum eine Wende: verdichten,
menschlichen Werk in der Natur hat stattgefunden: Nun fühlt
aber im menschlichen Maßstab, lautete das Motto.
sich der Mensch nicht nur geistig über die Kräfte der Natur erhaben (angesichts seiner physischen Ohnmacht, wie noch
Strategien zwischen Analogie und Abstraktion
zu Kants Zeiten), sondern auch physisch, denn er kann sich
Während die Berge in den 1960er Jahren zu einem Konsum-
mittels der Technik vollkommen über die Naturkräfte erhe-
artikel für die Massen wurden, wird heutzutage auf Luxus
ben. Nicht die Macht der Natur ist es, die in ihm ein erregen-
gesetzt, der zusehends den herkömmlichen alpinen Tourismus
des Gefühl erzeugte, sondern die menschliche Technologie,
verdrängt. Bei der Planung zeitgenössischer Luxus-Resorts
die die wilde Natur zu bezwingen vermag. Das Erhabene
will man sich einerseits vom städtischen Flair der Skiorte der
liegt nun im stolzen Menschenwerk: in der Baugeschwindig-
1960er Jahre klar distanzieren und andererseits der zunehmen-
keit, in der ausgeklügelten Maximalausnutzung des ‹Terrains›
den Ausdehnung der Chalet-Siedlungen Einhalt gebieten. Es
und in der Optimierung einer intelligent designten Wohn-
soll zwar eine hohe Dichte erzeugt werden, jedoch ohne ein
zelle. In den Massensiedlungen im Hochgebirge fühlt sich der
städtisches Ambiente zu schaffen. Auf der Suche nach neuen Jean Prouvé, Reiko Hayama, Serge Binotto, Hotel Les Arcs 2000,
183
1970
52
Domenig Architekten, Rocks Resort Laax, Graubünden, Schweiz, 2007–2010
räumlichen Anordnungen und Formensprachen wird häufig auf
‹elementaren Sehens› gezählt werden, weil sie, indem man
eine analoge Bauweise zurückgegriffen: Die in Chur ansässigen
sich über die Grenzen der Anschauung hinweghebt, das
Schweizer Architekten Thomas und Jon Domenig konzipierten
Bewusstsein zu erweitern vermag. Der Mensch wird mit sich
die Gebäude des Rocks Resort in Laax im Kanton Graubünden
selbst konfrontiert, wodurch er, gemäß Kant, seiner ‹eigenen
in Form von überdimensionierten Felskuben am Abhang des
Bestimmung› gewahr werde. Dieser Bewusstwerdungsprozess
Berges, die abgelagerten Findlingen gleichen. Trotz der
durch eine Elementarerfahrung, die im 18. und 19. Jahrhun-
großen Bebauungsdichte wurde bewusst ein nicht städtischer
dert durch die hohen Berge ausgelöst wurde, wird auch
Charakter der Gebäudeformen angestrebt, wobei durch die
heute noch gesucht – aber durch das Faktum des omniprä-
Steinanalogie ein betont ‹natürliches› Ambiente erzeugt
senten Tourismus immer weniger gefunden. Das ‹Wiederer-
werden sollte, das sich auch in der Materialität der grobstruktu-
lernen des Sehens› und tiefen Empfindens wird durch
rierten Steinfassaden artikuliert.
spezifische Architekturen angestrebt, wobei mitunter die Isolation des Einzelnen inmitten der Berge eine wichtige Rolle spielt. Interessanterweise wird dabei wieder auf kristalline oder polymorphe Abstraktionen zurückgegriffen, wovon beispielsweise Ross Lovegroves Alpine Capsule zeugt (Projekt 53): Er konzipierte für einen Südtiroler Hotelier eine autarke, allseits verglaste Panorama-Blase für ein bis zwei Personen auf einem Hochplateau der Dolomiten, gegenüber dem Piz La Ila. Sie soll laut Lovegrove ein ‹Prototyp für eine neue Art insularen Lebens off-grid›, basierend auf einer ‹zeit-
Miroslav Šik hingegen lehnte sich bei der Konzeption des
lich begrenzten Erfahrung›, sein.24 Die Betonung liegt auf der
neuen Dorfkerns des (von einem ägyptischen Investor geschaf-
einmaligen Erfahrung: allein inmitten des Hochgebirges im
fenen) Resorts Andermatt Swiss Alps an die historisch
Bett liegend durch eine Glaskuppel die Berge und den
gewachsene Dorfstruktur an und ahmte diese nach, indem er
Sternenhimmel betrachten. Dieser universelle ‹kosmische Ein-
bewusst mit Verfremdung und Verformung arbeitete. Dieses
zeller› soll dem Menschen eine vollkommene Isolation wie auch
Beispiel veranschaulicht, wie ein analoger Entwurfsansatz eine
ein meditatives Eintauchen in die Bergwelt ermöglichen,
‹künstliche Kultur› zu erzeugen sucht, im Gegensatz zu Laax,
wobei die amorph-kristalline Blase als formale Inspiration
wo die Erschaffung einer ‹künstlichen Natur› anvisiert wurde.
dient. Der Modus der Analogie beruht hier nicht auf Bergdorf-
Artifizielle Dörfer, Stein- und Kristallinformen helfen uns, auf
romantik, sondern auf reinen, perfekten, ‹vollkommen regel-
illusionistische Weise die Tatsache zu überwinden, dass wir
mäßige[n] Formen der Natur›, wie Semper sie bezeichnete.
Eindringlinge sind in der Natur, die wir sehnsuchtsvoll aufsuchen. Das analoge Dorf, das eine künstliche Welt schafft, schmiegt sich in das ‹illusionistische Kaleidoskop des Touris-
Intensität
mus› ein, um einen Ausdruck des französischen Anthropologen
53
Marc Augé zu verwenden, der 1997 feststellte:
Sind die Berge vollkommen bezwungen, langweilt sich der
‹Die Welt existiert noch in ihrer Diversität. Aber diese hat
Mensch angesichts der einst ‹wilden Natur›. Dennoch bleibt
wenig mit dem illusionistischen Kaleidoskop des Tourismus zu
das Bedürfnis bestehen, starke, grenzüberschreitende Erfah-
tun.› Man müsse ‹das Reisen wiedererlernen, um das Sehen
rungen zu machen, die wir im Erhabenen finden. Der franzö-
wiederzuerlernen›23.
sische Philosoph Tristan Garcia beschreibt das Erhabene als
Reisen als intensive Erfahrung soll das Bewusstsein erweitern
ein unberechenbares Erlebnis, das wir unser Leben lang er-
und zum ‹Sehen› anregen, so wie es noch vor dem 20. Jahr-
sehnen und fürchten: ‹Wenn wir wie vom Blitz getroffen sind,
hundert der Fall war. Die Konfrontation mit der ‹wilden Natur›
können wir einen Augenblick lang den höchsten Grad unseres
und die dadurch ausgelöste Erfahrung kann zu dieser Art des
Daseins berühren; es handelt sich hierbei um ein erratisches
Ross Lovegrove, Alpine Capsule, Dolomiten, 2008 184
Erlebnis. Von der Geburt an bis zum Tod entwickeln wir uns
In unserer heutigen Welt entsteht Angst nicht mehr durch
mit den Variationen dieser Entladung, die wir erwarten und
mangelnde physische Sicherheit (wie noch zu Kants Zeiten),
fürchten, die wir zu erwecken suchen, wenn wir sie missen –
da wir diese als selbstverständlich ansehen (es gibt immer
und jeder von uns findet eine Möglichkeit, die Amplitude
eine schützende Hütte in der Nähe oder zumindest ein
und Frequenz einzuschätzen.›
Handy in der Tasche, für den Fall, dass wir Rettung brauchen).
25
Garcia stellt fest, dass wir, im Gegensatz zu unseren Vorfahren,
Unser zeitgenössischer Nervenkitzel besteht vielmehr in der
schon seit langem weit mehr nach ‹Intensivierung› streben
Vorstellung von kompletter Isolierung, die uns von jeglichen
denn nach Transzendenz. Seine These ist, dass in unserer
Stimulationen des Alltags (permanente Erreichbarkeit, visuelle
heutigen Welt ‹so intensiv wie möglich zu leben› der höchste
Medienflut, Informationsüberschuss etc.) befreit – aber auch
Wert unseres Daseins ist: ‹Wir werden gelehrt, nicht auf
erschreckt. Solange wir wissen, dass wir wieder verbunden
etwas Absolutes, Ewiges oder Perfektes zu warten: Wir werden
sein können (ein Knopfdruck und der Schrecken endet), fühlen
ermutigt, die Maximierung unseres ganzen Wesens als unseren
wir uns in Sicherheit; dies scheint die Voraussetzung dafür
26
höchsten Willen anzusehen.› Die klassischen Werte der
zu sein, dass wir unser temporäres Leben off-grid als erhaben
Ethik wurden ersetzt durch das Fetischisieren von Intensität:
erleben können (und nicht bloß als Schreckvorstellung), wenn
‹[…] in dieser Idee von Intensität gibt es, aus der Ferne be-
wir versuchen, Kants Theorie des Dynamisch-Erhabenen
trachtet, weder Rettung noch Weisheit. […] Die Intensität, die
bezüglich der Sicherheit und Angst auf unsere heutige Welt
uns überall in der heutigen Welt versprochen wird, ist ein
zu übertragen. Unser ‹Vermögen zu widerstehen› macht uns
ethisches Programm, das in all unsere Freuden und in all
Mut, nicht weil wir uns mit ‹der scheinbaren Allgewalt der
unsere Leiden mit leiser Stimme hineinflüstert: «Ich verspre-
Natur›29 messen können, sondern mit der Allgewalt einer
che dir mehr vom Gleichen. Ich verspreche dir mehr
vernetzten Welt, der wir uns für eine Zeitlang entziehen.
27
Leben.»›28 Intensität ist ein verführerisches zeitgenössisches Ideal, aber auch eine Falle, so Garcia, denn sie produziert möglicherweise das Gegenteil von dem, was sie verspricht: Die konstante Steigerung unseres Selbst bricht zusammen, wenn nichts mehr gesteigert werden kann. Unser Streben nach Intensität neutralisiert sich somit von selbst und führt zu einem emotionalen Vakuum (bar jeglichen Sinnes). Bevor wir aber in eine existenzielle Krise stürzen, suchen wir anderswo nach anderen Intensitäten, die wir im alltäglichen Leben unserer mediatisierten Welt nicht finden können. Dies ist der Moment, in dem die Berge attraktiv werden, weil sie starke Erfahrungen in völliger Isolierung (off-grid) versprechen. Während Geschwindigkeit und Schwindel eine radikale Intensivierung des Lebens bieten (mit viel an Adrenalin, aber wenig an Transzendenz), konfrontiert uns die Erfahrung off-grid mit unserem inneren Wesen. Ross Lovegroves transparente, vollkommen isolierte Kapsel in den Bergen erregt den Geist und die Sinne der Wahrnehmung angesichts des ‹Nichts› rundum. Setzen wir uns diesem aus, konfrontieren wir uns mit uns selbst. Dies ist eine starke Erfahrung in einer Welt, in der es keine Zeit, keine Ruhe und keinen Raum mehr dafür gibt.
185
‹Sublimieren› von 30.000 Betten
Clemens Holzmeister, Hotel Drei Zinnen, Sexten, 1929–1934
47 Clemens Holzmeister, Hotel Drei Zinnen, Sexten, Südtirol
nach einem nicht einsehbaren Zimmer fordert Lösungen,
(1926), 1929–1934
die in ihrer Erscheinung weder beim Herrenschloß, noch
Clemens Holzmeister setzte sich mit der Entwicklung eines
beim Bauernhaus zu finden sind. […] Mit Mut muß die neue
neuen Tiroler Bauernhauses auseinander, wobei er typologi-
Form für die neuen Erfordernisse gesucht werden. Vornehmer,
sche und stilistische Innovationen suchte, um den Anforde-
geschlossener Charakter bei gediegener Werksarbeit, und Ver-
rungen einer touristischen Nutzung gerecht zu werden.
wendung von heimischen Baustoffen, tadelloses Funktionieren
Nachdem er bereits 1913 anlässlich seiner 2. Staatsprüfung
des Grundrisses vorausgesetzt, sichern dem Alpenhotel auch
einen ‹Alpenhof für Tirol› entworfen hatte, der aus einem
in schönster Landschaft das Daseinsrecht. Das Gesunde und
dreigeschossigen, lang gestreckten Baukörper mit Satteldach
Zeitgebundene, allem Modischen Abholde setzt sich auch hier
bestand, entwickelte er diesen Typus später weiter: 1927 bis
unaufhaltsam fort.›30
1929 baute er an das Hotel Post in St. Anton ein neungeschossiges Holzhaus mit Satteldach an, die Dimensionen des
Bei dem Projekt in St. Anton übernahm er in der Suche nach
Altbaus überragend. Folgende Überlegungen motivierten
typologischer Erneuerung zahlreiche traditionelle Elemente,
seinen Entschluss, mit traditionellen Elementen zu arbeiten
indem er sie ‹diskret› mit der geforderten Größe des Bauvo-
und dennoch einen neuen Ausdruck zu suchen:
lumens verband. ‹Gesund und zeitgebunden› bauen, musste
‹Das Alpenhotel […] bereitet schon ob seiner besonderen
laut Holzmeister nicht unbedingt ‹modisch› sein, vielmehr lag
Baumasse Verlegenheiten bei der Einbindung ins einfache
die Lösung in der Weiterentwicklung und moderaten Moder-
Ortsbild. Aber auch der berechtigte Wunsch des Hotelgasts
nisierung traditioneller Bautypen.
‹Sublimieren› von 30.000 Betten
186
Beim Hotel Drei Zinnen (Tre Cime) in Sexten ging er einen Schritt weiter, indem er den Urtypus des Bauernhauses abstrahierte und kubistisch interpretierte: Der siebengeschossige Bau wird von einem imposanten Satteldach geprägt, unter dem die Südfassade stufenweise zurückversetzt ist, wobei eine Komposition kubischer Formen entstand. Mit diesem Gestaltungselement übernahm er die Funktion traditioneller Erker, verfremdete aber deren plastische Ausbildung. Sein etwa gleichzeitig erstellter Entwurf für das Hotel Seegrube auf dem Hafelekar (1927), das weit oberhalb der Stadt liegend sich den dörflichen Konventionen und Anforderungen des Heimatschutzes entzog, war von anderer Formensprache: Der konvex gebogene Baukörper war mit einem zum Hang abfallenden Pultdach ausgestattet, ähnlich den Entwürfen von Welzenbacher und Baumann, die das damalige ‹neue alpine Bauen› verkörperten. Holzmeister sprach beide Sprachen und setzte sie je nach Anforderung und Möglichkeit gewandt ein. In der Nachkriegszeit, noch stark vom ‹Heimat-Begriff› (der in der NS-Zeit zum Sinnbild des ‹Deutschtums› geworden war) geprägt, setzte sich nicht der avantgardistische Stil mit Pultdach durch, sondern das bodenständige Bauernhaus mit Satteldach – und dies teilweise noch bis heute. Dass darunter neun oder mehr Geschosse untergebracht sind, scheint die ‹Heimatschützer› nicht zu stören; Hauptsache, der umhüllende ‹Bauernhausmantel› ist vertraut, wenn auch in XXL. Grundlegende Neuerungen, wie Holzmeister sie eingebracht hatte, sind dabei allerdings selten auszumachen.
187
‹Sublimieren› von 30.000 Betten
Le Corbusier, Projekt für eine Ski-Stadt in Vars, publiziert in: La Maison des Hommes, Juli 1942
48 Le Corbusier, Skistadt in Vars, Hautes-Alpes, 1939
In der Stadt Vars installiert er ein rigoroses Programm einer
Le Corbusier befasste sich seit dem V. Kongress der CIAM
Ski-Hauptstadt, der Topografie und der Sonne entsprechend:
intensiv mit dem Thema einer ‹Freizeitzone› in den Alpen.
A: Der Hügel der Hotels.
1939 erstellte er Pläne für eine Skistadt in der Stadt Vars
B: Das Einkaufszentrum und die Schlittschuhbahn. C: Die privaten Chalets. D: Die Seilbahnen. E: Der Skisprung. Das Terrain ist besetzt, das Terrain ist geschützt, die Landschaft ist veredelt durch Architektur: Das Tal hat nun den «TerrainStatus».›31 Der ‹Terrain-Status› soll dem Planer freie Hand ermöglichen. Auf dem ‹Hügel der Hotels› ist ein lang gestrecktes, elfgeschossiges Gebäude mit spiralförmigem Parkhaus, an dem die Straße endet, zu sehen, während auf dem Hang private Chalets – für ‹eine andere Nutzergruppe› – angeordnet sind. Mit dieser Art ‹Charta des Wintersports› sollte die Natur den menschlichen Bedürfnissen entsprechend eingeteilt, ‹geordnet› und nutzbar gemacht werden: ‹Doktrin, Technik, Klarheit, Ordnung, Strenge, Programm und Status› sind die immer wiederkehrenden Schlagworte seines Diskurses für die Dienstbarmachung der Natur. Architektur hat die Aufgabe, die Landschaft zu ‹veredeln› (ennoblir). Der ‹Veredler› ist der Architekt, der Demiurg des Zeitalters der Technik. Skistadt der Vichy-Regierung Nach Hitlers 1940 erfolgter Invasion war der Süden und Südosten Frankreichs bis 1942 die zone libre, die unbesetzte
(Hautes-Alpes), die auf 1.850 Metern gelegen ist. Auf einer
Zone. Sie wurde von Général Petains faschistischer Vichy-
Handzeichnung vom Lageplan sind die Buchstaben A, B, C,
Regierung in Kollaboration mit Hitlers Besatzungsregime
D, E vermerkt und im Begleittext wie folgt erklärt:
verwaltet. Vichy war an der Entwicklung des Wintersports aus
‹Der Ordnende interveniert mit humanistischer Doktrin, sich
zweierlei Gründen interessiert: Einerseits gehörte Sport im
auf die Technik stützend.
Faschismus zum Erziehungs-, Erholungs- und Kräftigungs-
Er schlägert das unentwirrbare Gebüsch, liest mit Klarheit,
programm für das Volk, andererseits ermöglichte es der
misst, verfügt, befiehlt.
Wintersport, an Devisen heranzukommen, sofern es gelang,
Ordnung wird bestimmend für den Plan und das Handeln.
dem schweizerischen und österreichischen Tourismus Konkur-
Er bestimmt den «Terrain-Status» für jedes bebaubare Gebiet
renz zu machen.
der Umgebung, wobei er hier Vermögen schafft, um dort die notwendigen Verluste auszugleichen.
So beauftragte die Regierung noch 1942 Ingenieure der
Er erkennt die Landschaft.
Pariser Hochschule École Nationale Ponts et Chaussées mit
Der Ordnende studiert die Problematik des Wintersports,
der Studie der Wintersport-Entwicklung der Region Trois
sucht die Abhänge mit gutem Schnee, aber noch innerhalb
Vallées in der Haute-Savoie; Maurice Michaud und Laurent
des südländischen Himmels.
Chappis waren für die Überarbeitung zuständig. Parallel dazu
‹Sublimieren› von 30.000 Betten
188
Le Corbusier, Einrichtung einer Wintersport- und Sommerstation, Vars, Frankreich, schattierter Grundrissplan, 1939
wollte auch Le Corbusier sein Projekt für Vars reaktivieren und veröffentlichte im Juli 1942 seine Studie in dem Buch La Maison des Hommes, das er mit François de Pierrefeu, einem Mitbegründer der CIAM, herausgab. Die Vichy-Regierung zeigte Interesse an seinen hygienistischen Ansätzen und radikalen großmaßstäblichen Planungen und auch sein Plan Voisin beispielsweise stieß auf offene Ohren, konnte jedoch ebenso wie sein Vars-Projekt nicht realisiert werden, zumal Hitler am 11. November 1942 auch die zone libre besetzte. Unter diesen Voraussetzungen konnte an Freizeitplanung nicht mehr gedacht werden, fortan musste jegliches Geld in den Krieg investiert werden.
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‹Sublimieren› von 30.000 Betten
Marcel Breuer, Blick auf die Wintersportstation Flaine in den 1970er Jahren
Marcel Breuer, Flaine Forum, um 1970
49 Marcel Breuer, Flaine, Haute-Savoie, 1960–1977
des Prinzips von Licht und Schatten. Die Fassaden der Ge-
Flaine gehört zu den radikalsten Beispielen einer städtischen
bäude sind wie Diamant-Spitzen geformt. Die Sonnenstrahlen
Neugründung im Hochgebirge. Eric Boissonnas wählte für
fallen in verschiedenen Winkeln auf die Facetten, wodurch
die Entwicklung seines ‹Prototypen des modernen Städte-
Lichtreflexionen entstehen. Somit wird die Horizontale der
baus› die Berge aus, weil es dort keine stilistischen Vorschrif-
Höhenschichtlinien gebrochen, welchen sich die
ten gab.
Gebäude unterordnen – menschliche Kreationen, die mit dem
Flaine wurde in einem Gebirgskessel auf 1.600 Meter ex
chaotischen Relief der Berge kontrastieren – Zeugnis der All-
nihilo gegründet, mit Blick auf den Mont Blanc und die
macht der Natur. Die Gesamtkomposition wird in die wunder-
Aiguilles de Chamonix. Um den genauen Standort festzule-
bar wilde Landschaft von Flaine integriert, mit der sie
gen, flog Boissonnas mit Marcel Breuer am 30. November
verschmilzt und sie dadurch vermenschlicht.›33
1960 mit dem Hubschrauber über das Gebiet. Breuers unmittelbare Reaktion war: ‹Was für eine wunderbare Gegend!
Die proklamierte Mimesis angesichts der morphologischen
Was tun, um sie nicht zu zerstören?› Er schlug vor, das Re-
und geologischen Beschaffenheit der Landschaft und die als
sort auf drei Geländekanten vor einer langen Kalkfelswand,
notwendig angesehene ‹Vermenschlichung› der Natur könnten
die prägend für die Struktur und Morphologie des Terrains ist,
als Widerspruch angesehen werden: einerseits die Strategie
zu errichten. Der dominanten Geometrie der vertikalen Kalk-
des Verschwindens, andererseits das Bestreben, die wilde
felsen setzte Breuer einen gestalterischen Kontrapunkt durch
Natur durch ‹menschliche Kreationen› zu ordnen und zu ‹hu-
horizontale Betonriegel, deren diamantförmige Facetten Ab-
manisieren›. Architektur wurde, wie bereits bei Le Corbusier,
wechslung und Vibration in die langen Fassadenfronten brin-
als ‹Veredelung› der Landschaft angesehen, da sie die Wildnis
gen sollten. Die Betonfassade sollte optisch mit der Farbe der
‹ordnet› und dem Menschen dienstbar macht.
Felsen verschmelzen, ‹somit muss das Terrain nicht geschützt
Dass bei diesem demiurgischen Schaffensprozess der Diamant
werden, weil die Bauten durch das Prinzip der Mimesis optisch
als Referenz herangezogen wurde, ist nicht uninteressant;
beinahe verschwinden›, wie Breuer argumentierte. Die Anord-
schließlich erlaubt das abstrakt-zeitlose Prinzip des Kristallinen,
nung der Gebäude rechtfertigte er mit der Topografie des Ge-
der wilden Natur gegenüber standzuhalten und formal einen
ländes, die kristalline Fassadengestaltung mit dem Lichteinfall:
sprachlichen Ausdruck zu finden. Dazu kommt die Reduktion
‹Die Architektur von Flaine ist ein Beispiel für die Anwendung
der Gestaltungselemente auf das Wesentlichste: Sichtbeton
32
‹Sublimieren› von 30.000 Betten
190
Marcel Breuer, Flaine Forum, um 1970
für die Fassaden, Naturholzfenster, grobes Bruchsteinmauer-
Hôtel Le Flaine
werk im Sockelbereich. Das Kristallmotiv kam durch die Ver-
Das Hôtel Le Flaine ist ein viergeschossiger Riegel, dessen
wendung von zwölf vorfabrizierten Betonelementen in
stirnseitige Plattform über eine Felskante auskragt – ein kräfti-
redundanter Weise zum Einsatz.
ges Symbol, das zur Ikone des Skiortes wurde. Es ist das einzige Gebäude mit Ost-West-Orientierung, wodurch es sich von den
Konstruktion
anderen abhebt. Es steht auf Stützen, um einen Durchblick
1961 begannen die Bauarbeiten der Straße, die von der Ge-
vom Ortseingang zum Forum zu ermöglichen. Im erhöhten
meinde Arâches durchzuführen waren. Aufgrund administrati-
Erdgeschoss befinden sich die mit Designermöbeln ausgestat-
ver und finanzieller Uneinigkeiten verzögerte sich die
teten Gemeinschaftsräume: Salon, Bar und Restaurant mit of-
Fertigstellung um zwei Jahre, und mit dem Bau des Resorts
fenem Kamin, von Breuer entworfen. In den vier weiteren
konnte erst 1963 begonnen werden. Um dem Problem der
Geschossen sind die Hotelzimmer mit ihren auskragenden
Anlieferung am Straßenweg zu entgehen, schlug Breuer vor,
Balkonen angeordnet. 1977 zog sich Marcel Breuer aus dem
im Tal eine Betonfabrik und eine Lastenseilbahn einzurichten,
Projekt zurück und überließ seinen Mitarbeitern die Ausfüh-
wodurch die Betonelemente vorfabriziert und direkt auf das
rung der letzten Bauphase: Flaine Forêt. So kam unter anderem
Hochplateau angeliefert werden konnten. Letztendlich dau-
Gérard Chervaz zum Zug. Im Jahr 1991 wurde das Hôtel Le
erte es sechs Jahre bis zur 1969 erfolgten Eröffnung der ers-
Flaine auf die Liste der schützenswerten Baudenkmäler aufge-
ten Phase und mehr als zehn bis zur Fertigstellung des
nommen, was allerdings die nach dem Rückzug der Boissonnas
gesamten Masterplans der ‹utopischen Stadt der Moderne›
erfolgten Umbaumaßnahmen in den Jahren 1992/1993 nicht
im Hochgebirge.
verhindern konnte: Der offene Erdgeschossbereich wurde geschlossen und die Designermöbel verkauft, wodurch vom
Organisation
ehemaligen Flair auch im Inneren wenig zu spüren ist.
Ein städtisches Ensemble gruppiert sich um das Flaine Forum (1.600 m), das dreiseitig von niedrigen Gebäuden eingefasst
Flaine wirkt heute, wie die meisten Skiresorts der 1960er
ist, immer mit Rücksicht auf den freien Ausblick der dahinter-
Jahre, veraltet und abgelebt. Andere Orte ziehen die wohl-
liegenden höheren Apartmentriegel. Das Forum bildet das
habenden Schichten Frankreichs an, während Flaine den
Zentrum des Ortes mit Geschäften, einem Kunstforum und
betrunkenen (oft auch randalierenden) Massen überlassen
einer am Waldrand gelegenen ökumenischen Kapelle, einem
wurde. Doch werden neue Strategien entwickelt, um den Ver-
skulpturalen schwarz geschindelten Bau.
fallsprozess zu stoppen, es wird erneuert und weitergebaut:
Direkt vor der Piste liegt eine Reihe niedriger, länglicher Baukörper, Flaine ‹front de neige› (1.580 m) genannt. Knapp hundert Höhenmeter weiter oben befindet sich entlang einer Geländekante eine Gruppe von Wohnbauten, Flaine Forêt (1.675 m) genannt. Sie sind südlich der Straße angesiedelt und so in den Hang gebaut, dass von der Straße her nur ihre Dachfläche, über Holzbrücken erschlossen, zu sehen ist. Dieses Wohnensemble ist durch einen Schrägaufzug direkt mit dem tiefer liegenden Flaine Forum verbunden. Eric Boissonnas und seine Frau Sylvie ließen einen Konzertsaal für klassische Musik errichten, um auch außerhalb der Skisaison touristisches Leben anzuregen. Großformatige Skulpturen von Victor Vasarely und Jean Dubuffet wurden im Gelände aufgestellt, 1991 kam eine Skulptur von Pablo Picasso hinzu.
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‹Sublimieren› von 30.000 Betten
Marcel Breuer, Ansicht der Station Flaine im Gelände, 1960
Marcel Breuer, Flaine Forum, perspektivischer Gebäudeschnitt, 1960
Christian Hauvette konzipierte hinter dem Flaine Forum einen schicken Appartementblock mit integriertem Hallenbad, wobei zumindest beim Sockel des Schwimmbads auf Breuers kristalline Fassadenarchitektur referiert wird. Der leicht geknickte Baukörper, südseitig mit einer Holzfassade ausgestattet, scheint vor der modernen Strenge Breuers zu kapitulieren.
‹Sublimieren› von 30.000 Betten
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Candilis, Prouvé, Perriand, Woods, Josic, Piot, Suzuki, Wettbewerbsprojekt Skistadt Belleville, Modell (o.) und perspektivische Skizze (u.), 1962
50 Candilis, Prouvé, Perriand, Woods, Josic, Piot, Suzuki,
landschaftsplanerischen und infrastrukturellen Lösungs-
Skistadt Belleville, Savoie, 1962
ansätzen befasst. Die Skistadt Belleville kam nicht zur
Das Hochtal Vallée des Belleville gehörte zum touristischen
Ausführung, es wurden aber beinahe zeitgleich sämtliche
Entwicklungsprogramm der französischen Nachkriegsregie-
anderen Skistädte gebaut – allerdings nicht von staatlichen
rung. Die staatliche Caisse des dépôts schrieb einen interna-
Investoren, sondern von privaten.
tionalen Wettbewerb für eine 25.000-Betten-Stadt im Gebirge aus. Die im Vorfeld angefertigte Geländestudie definierte die Lage der Skipisten und Lifte wie auch die Standorte der nach Süden orientierten Gebäude. 7.000 Parkplätze waren für die Hochsaison auf einer Fläche von 50 Hektar vorzusehen. Das Architektenteam, bestehend aus Georges Candilis, Jean Prouvé, Charlotte Perriand, Shadrach Woods, Alexej Josic, Henri Piot und Ren Suzuki, machte einen utopisch-radikalen Entwurf mit originellem Erschließungskonzept: Da die Zufahrt über die Straße im engen, lawinengefährdeten Tal problematisch war, schlugen die Architekten den Bau einer Einschienenbahn vor, welche das Skigebiet an das öffentliche Bahnnetz (in den Stationen Moûtiers und Modane) anbindet; von der Bahnstation aus wird die entlang der Höhenschichtlinien angeordnete Skistadt direkt erreicht – die weit verstreuten Gebäude werden über steile, in den Hang eingeschriebene Wege mittels Rolltreppen erschlossen, während Personenbeförderungsbänder bei der weitläufigen Horizontalerschließung behilflich sind. Entlang der Wege befinden sich soziale und kulturelle Einrichtungen sowie Geschäfte. Für die Unterkünfte entwickelte das Architektenteam unterschiedliche Typologien, für kleine Budgets oder wohlhabende Gäste: Die Schlafsäle und die günstigeren Hotelzimmer befinden sich in sechs- bis achtgeschossigen Gebäuden mit Aufzügen, die Studios, Appartements und Hotelzimmer sind in eingeschossigen linearen Strukturen angeordnet, die in einer sukzessiven Terrassierung der Hangneigung folgen. Die tragenden Bauteile sollten in Hinblick auf die kurze Bauzeit, die in dieser Höhenlage auf fünf Monate beschränkt ist, vorgefertigt werden. Der Entwurf wurde von der Jury ‹als zu fortschrittlich für seine Zeit› beurteilt. Dennoch ist er aufgrund seines utopischen Charakters beachtenswert, weil er sich über das architektonische Bebauungskonzept hinaus auch mit
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‹Sublimieren› von 30.000 Betten
Charlotte Perriand, Guy Rey-Millet, La Cascade, Nordfassade, Les Arcs 1600, 1968–1969
51 Charlotte Perriand, La Cascade, Versant Sud, La Nova,
Gebäudes ‹La Cascade› (1968–1969, mit Guy Rey-Millet
Les Arcs 1600 und 1800, 1968–1981
geplant) besteht in der Terrassierung der Geschosse, die
Bei der Planung des Skiresorts Les Arcs bestand die Heraus-
Perriand folgendermaßen erklärt:
forderung in der Entwicklung innovativer Typologien, um
‹Der Schnitt des Gebäudes zeigt, dass sich die zwei Meter
allen Besuchern einen freien Ausblick auf die Berge zu bieten.
tiefen Terrassen auf der Südfassade nicht überlagern, um sich
Die Verwendung traditioneller Architekturelemente
nicht gegenseitig zu beschatten. Sie sind daher genau um diese Distanz nach Norden verschoben, was zu einer Neigung des gesamten Gebäudes führt; durch die Schräglage wird auf der Nordseite der Weg im Erdgeschoss geschützt, der somit stets schneefrei ist.›34 Im Gegensatz zu einem herkömmlichen Terrassenhaus konnte durch die Schräglage die Reduktion der Wohnfläche mit zunehmender Höhe vermieden werden. Charlotte Perriand entwickelte die Gebäude stets von innen nach außen, um den Menschen einen möglichst angenehmen Wohnraum zu bieten. Nicht nur die Anordnung der Gebäude, sondern auch die Inneneinrichtungen waren darauf ausgerichtet, den Ausblick auf die Berge zu inszenieren: Die Balkone wurden um 40 cm erhöht, damit sie der darunterliegenden Wohnung nicht störend im Blickfeld lagen und
(wie Dachdeckungen aus Schieferschindeln, Fassadenver-
keine Sonneneinstrahlung wegnahmen. Im Innenraum war
kleidungen aus Lärchenholz, Bruchsteinmauerwerk im Sockel-
eine Fensterbank der vollverglasten Balkonfront vorgelagert,
bereich) sollte die Integration in die Landschaft erleichtern
wodurch eine Sitzmöglichkeit mit Ausblick entstand. Darunter
und der Einsatz moderner Konstruktionsmethoden (insbeson-
waren die Heizkörper versteckt. Die Balkone waren großzügig
dere die Vorfabrikation) eine kurze Bauzeit ermöglichen.
zum Sitzen im Freien angelegt, seitliche Abschirmungen
Die typologische Erneuerung des auf einem Osthang situierten
sorgten für eine private Atmosphäre. Perriand plante auch
La Cascade, Innenraum einer Wohneinheit, 1968–1969
Charlotte Perriand, Guy Rey-Millet, La Cascade, Grundriss einer Wohneinheit, Les Arcs 1600, 1968
La Cascade, Südfassade, das schräg geneigte Gebäude folgt dem abfallenden Gelände
alle Details – die gesamte Möblierung für einen minimalen Wohnraum, wobei abgerundete Ecken eine fließende Bewegung trotz der räumlichen Enge ermöglichen. Das auf einem Südhang gelegene Ensemble Versant Sud (1969–1974, mit Gaston Regairaz geplant) schreibt sich terrassenförmig in den Hang ein. Von oben gesehen scheint die Bebauung zu verschwinden, scheinen die begrünten bzw. verschneiten Flachdächer mit dem Berg zu verschmelzen. Nur von der Seite oder von unten gesehen, ist die reale Größe dieser 1.000-Betten-Siedlung erfassbar. Erschlossen wird sie von oben, indem die Bewohner über eine dem Hang folgende Treppenanlage auf ihre jeweilige Wohnebene geführt werden. (Dieser Entwurf erinnert in seiner räumlichen Anordnung an den Entwurf der Skistadt Belleville, obgleich dieser in seinem Ausmaß wesentlich größer ist).
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‹Sublimieren› von 30.000 Betten
Charlotte Perriand, Roger Godino und Gaston Regairaz vor der Station Les Arcs 1600, 1990
La Nova schwingt sich mit einer Kurve aus dem Hang heraus und endet mit zehn Geschossen, Les Arcs 1800, 1977–1981
Das Dach von La Nova beginnt ebenerdig und bietet eine Art Freitreppe zum Himmel, 1977–1981
Auf der 200 Meter höher gelegenen Station Les Arcs 1800 schwingt sich in einer dynamischen Kurve der Baukörper des Parahotels La Nova (1977–1981, mit Gaston Regairaz geplant) aus dem Steilhang heraus. Er beginnt ebenerdig mit einer Dachterrasse und wächst durch das steil abfallende Gelände bis zu zehn Geschosse hoch an. Zwischen den Gebäuden blieb das Weideland erhalten; allerdings wirken die Kühe vor der Großmaßstäblichkeit der Massensiedlungen etwas verloren.
‹Sublimieren› von 30.000 Betten
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Jean Prouvé, Hotel Les Arcs 2000, perspektivische Zeichnung, Schnittzeichnung und Modell, 1970 (von oben)
52 Jean Prouvé, Reiko Hayama, Serge Binotto, Hotel Les Arcs 2000, 1970 Im Jahr 1970 suchte der Projektentwickler Roger Godino nach neuen Typologien für die dritte und höchste, am Fuße des Gletschers gelegene Bauetappe ‹Les Arcs 2000›. Er veranstaltete einen internen Wettbewerb, zu dem er, Perriands Anregung folgend, auch Jean Prouvé einlud. In Zusammenarbeit mit Reiko Hayama und Serge Binotto schlug Prouvé ein unkonventionelles Projekt für ein Appartementhotel vor: Es handelte sich um eine Serie isolierter, kreiselförmiger Gebäude, die auf einem Hochplateau, an der Flanke eines Abhangs so positioniert waren, dass sie nur zu Fuß erreichbar waren. Als großer Verfechter der industriellen Bauweise schlug Prouvé eine vorgefertigte Stahlstruktur vor, um die Bauzeit, die bei den klimatischen Bedingungen im Hochgebirge sehr kurz ist, zu optimieren: Jeder ‹Kreisel› wird von verstellbaren Stahlstützen getragen, die sich an die Topografie des Geländes anpassen. Das bewohnte Volumen ist von einer armierten Polyesterhaut umhüllt. Im Zentrum befindet sich ein großer, offener Kamin mit einer kreisförmigen Plattform für geselliges Zusammensein, ähnlich wie in einer Jurte. Um den Kern herum sind 15 Appartements angeordnet, die sich in der Größe unterscheiden und eine Vielzahl von unterschiedlichen Raumanordnungen ermöglichen, einige sind mit einem Zwischengeschoss für Kinder ausgestattet. Obwohl dieses innovative und funktionelle Projekt mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde, war es ‹zu utopisch, um realisiert zu werden›, wie Roger Godino erklärte. Nach der Durchführung einer Wirtschaftlichkeitsstudie konstatierte er, mit einem den Bauträgern eigenen Pragmatismus, dass ‹diese Art von Hotelresidenz zu dieser Zeit nicht funktioniert hätte›35
197
‹Sublimieren› von 30.000 Betten
Ross Lovegrove, Alpine Capsule, Piz La Ila, Alta Badia, Rendering, 2008
Alpine Capsule, Konstruktionsschema
53 Ross Lovegrove, Alpine Capsule, Dolomiten, 2008 Das bisher nicht realisierte Projekt Alpine Capsule wurde zwi-
Die isolierte Lage der Kapsel ist ein wichtiger Bestandteil
schen 2008 und 2010 von Ross Lovegrove auf einem Hochpla-
des Konzepts, wie auch ihre potenzielle Vervielfältigung:
teau der Dolomiten geplant,
‹Das Projekt ist ein Prototyp für eine neue Art «off-grid»
auf 2.100 Metern, gegen-
[abseits vom Netz] zu leben, auch nur als vorübergehende
über dem im Alta Badia
Erfahrung; eine neue Ambition für das 21. Jahrhundert, die
gelegenen Piz La Ila. Die
in so vielen Umgebungen umgesetzt werden kann.›36
für einen Hotelier entwi-
Ross Lovegroves ‹kosmische Utopie› ist bewusst in einer
ckelte Wohnzelle sollte
autarken, hochalpinen Region situiert. Auf einem der
Gästen eine Übernach-
Computerbilder wird das Innere als eine fließende, in sich
tungsmöglichkeit inmitten
geschlossene Landschaft in Weiß dargestellt, in der ein
der Berge, unmittelbar
nackter, embryoartig zusammengerollter Frauenkörper liegt.
unter dem Sternenhimmel,
Haut und Lederoberfläche verschmelzen optisch zu einem
bieten: Da vollkomme Autonomie die Voraussetzung für das
untrennbaren Ganzen. Die aus der Romantik stammende
Funktionieren dieses Projekts ist, wird der Standort so gewählt,
kosmische Dimension der ‹Einswerdung› mit der Natur
dass die Wind- und Sonnenenergie optimal genutzt werden
artikuliert sich hier in einer amorph-kristallinen37 Blasenform,
können. In unmittelbarer Nähe der Kapsel ist ein vom britischen
wobei der Blick aus dem Kristallinneren durch eine ‹pure›
Designer eigens konzipiertes Energiesystem geplant, beste-
Formensprache und Materialität zelebriert wird.
hend aus vertikalen Windrädern in Form von kleinen Turbinen, und aus Sonnenkollektoren, die bei Schlechtwetter eingeklappt werden können. Der Durchmesser der Kapsel beträgt acht Meter. Das konstruktive Prinzip besteht aus einer zweischaligen, aus 13 Elementen zusammengesetzten Kuppel, die durch Acrylaussteifungen stabilisiert wird, welche zwischen den beiden Membranen angebracht sind. Die Außenhülle ist aus reflektierendem Polyacryl, um durch die Filterung der Infrarotstrahlung einen guten Wärmeschutz zu gewähren. Während die spiegelnde Oberfläche der Kapsel eine optische Verschmelzung mit der Landschaft bewirkt, herrscht von innen her vollkommene Transparenz, um bei Tag und bei Nacht Bergpanorama und Himmel betrachten zu können. Die Alpine Capsule bietet Platz und Komfort für zwei Personen. Das Innere besteht aus ineinanderfließenden Bereichen zum Schlafen, Entspannen, Essen und Baden, wobei letzterer abgetrennt etwas tiefer, auf dem Eingangsniveau (1 Meter über dem Boden) liegt, um den Panorama-Ausblick im Hauptraum (1,6 Meter über dem Boden) nicht zu beeinträchtigen. Der Wohnbereich ist mit weißem Leder überzogen; das weiche Raumambiente wird durch kleine, indirekte Leuchtkörper akzentuiert, um Reflexionen zu vermeiden.
‹Sublimieren› von 30.000 Betten
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Alpine Capsule, Innenraum mit einer embryoartig liegenden nackten Frau, unterhalb Schnittzeichnung, 2008
199
Alpine Capsule mit Ross Lovegrove, ganz in Weiß, und seinem Bauherrn, der die Kapsel berührt, Rendering
Modell, eine organische Innenlandschaft mit erhöhtem Bett und versenktem Badebereich
Modell aus unterschiedlichen Perspektiven
1 François Mathey (Hg.), Charlotte Perriand,
24 Ross Lovegrove, zit. n.: Rose Etherington,
Eugène Petit-Claudius, Yvonne Brunhammer,
‹Alpine Capsule by Lovegrove Studio 2›,
Guillemette Delaporte, Charlotte Perriand :
dezeen, December 23, 2008, www.dezeen.
Un art de vivre, Ausst.-Kat., Musée des Arts
com/2008/12/23/alpine-capsule-by-lovegrove-
décoratifs, Flammarion, Paris 1985, 67.
studio-2 (08.04.2013) [=Lovegrove 2008]
2 Josep Lluis Sert, Gino Pollini und Luigi
25 Tristan Garcia, La Vie intense. Une
Figini, Auszug aus dem Bericht des 5. Kongress
obsession moderne, Autrement, Paris 2016, 9.
der CIAM 1937 ‹Habitat et loisir›, in: Archi-
26 Ibid., 12.
tecture d’aujourd’hui, 6–7/1966, Nr. 126, 11.
27 Ibid.
3 Ibid.
28 Ibid., 24f.
4 Ibid.
29 Kant (1790) 1963, Erster Theil: ‹Kritik der äs-
5 Ibid.
thetischen Urtheilskraft›, Erster Abschnitt:
6 Ibid.
‹Analytik der ästhetischen Urtheilskraft›, Zwei-
7 Jean Baudrillard, La société de consomma-
tes Buch: ‹Analytik des Erhabenen›, B. ‹Vom
tion, Denoël, Folio Essais, Paris 1970, 18.
Dynamisch-Erhabenen der Natur›, § 28. ‹Von
8 Ibid.
der Natur als einer Macht›, 160: Das Gefühl
9 Ibid., 121.
der Erhabenheit liegt laut Kant in der Erhe-
10 Die Bezeichnung station intégrée ist eine
bung der ‹Seelenstärke›, die ‹uns Mut macht,
gesetzlich festgelegte Kombination zwischen
uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur
einer staatlichen und einer privaten Investi-
messen zu können›.
tion. Während der Staat das Grundstücksrecht
30 Clemens Holzmeister, Bauten, Entwürfe
und die Subventionierung garantiert, hat der
und Handzeichnungen, Salzburg-Leipzig 1937,
alleinige Investor die Aufgabe, das Terrain zu
317, zit. n.: Georg Riegele, in: Riegele, Loewitt
bebauen und zu veräußern, wie auch die Ver-
(Hg.), Clemens Holzmeister, Ausst.-Kat.,
waltung und den Unterhalt zu garantieren.
Haymon Verl., Innsbruck 2000, 317.
11 Filmarchiv INA: Avoriaz, 1967, 6:12 min.
31 Le Corbusier 1939, in: Le Corbusier,
12 Roger Godino, Construire l’imaginaire, ou
François de Pierrefeu (Hg.), La Maison des
le management de l’innovation, Presses de la
Hommes, éd. Librairie Plon, Paris 1942,
Cité Solar, Paris 1980,15.
Kap. VII, 193 (Ausschnitt), in: L'Architecture
13 Roger Godino, Interview geführt mit
d'aujourd'hui, Vol. 36, juin/juillet, Nr. 126,
Susanne Stacher, Frühling 2012 [=Godino
1966, 11.
2012].
32 Marcel Breuer, in: Boissonnas 1994, 67ff.
14 Eric Boissonnas, Flaine, la création,
33 Ibid., 68.
Editions Du Linteau, Saint-Mandé 1994
34 Perriand 1998, 338.
[=Boissonnas 1994], 8f.
35 Godino 2012.
15 Ibid., 12f.
36 Ross Lovegrove, 2008.
16 Godino 2012.
37 Vgl. Kap. 2, Semper 1860 1878, XXVIII: ‹Bei
17 Perriand 1998, 335f.
dem Kreise […] und der Kugel als Polyeder
18 Ibid.
von unendlich vielen Seitenflächen wird diese
19 Roger Aujame, Pernette Perriand-Barsac
Regelmäßigkeit zu absoluter allseitiger Gleich-
(Hg.), Charlotte Perriand, Carnet de mon-
förmigkeit, wesshalb diese Formen seit Urzei-
tagne, ed. Maison des Jeux olympiques
ten als Symbole des Absoluten und in sich
d’hiver, Albertville 2007, 70.
Vollkommenen gelten.›
20 Perriand 1998, 376. 21 Ibid., 412. 22 Ibid. 23 Marc Augé, L’impossible voyage. Le tourisme et ses images, Payot & Rivages, Paris 1997, 14.
‹Sublimieren› von 30.000 Betten
200
Resümee
Berge ‹implantiert›. Sie können in ihrer Art, die Alpen zu ‹besetzen›, als Monumente der Städter betrachtet werden. Sie
In dieser Arbeit habe ich versucht aufzuzeigen, wie der aus der
wurden errichtet, um die Landschaft als Attraktion einzurah-
lateinischen Rhetorik stammende Begriff des Sublimen, des
men und damit den Gästen das ersehnte Gefühl des Erhabenen
Erhabenen, im Zeitalter der Aufklärung auf die Wahrnehmung
zu vermitteln. Allerdings entstand durch dieses Einrahmen der
der Gebirgswelt, im Speziellen der Alpen, übertragen wurde
Aussicht der Effekt des Pittoresken, der durch die Anlegung
und wie diese Art der Naturbetrachtung zum Grundstein für die
von Landschaftsparks ringsum verstärkt wurde. Die Grandhotels
Eroberung der Berge, den alpinen Tourismus wurde. Auch wenn
schufen hermetische Enklaven inmitten der Alpen, wobei auf
im Laufe der Jahrhunderte die Beweggründe der Städter, die
das Erhabene als Referenz einer fernen Sehnsucht lediglich
Alpen aufzusuchen, durchaus unterschiedlich waren, kann das
angespielt wurde (‹Die Entstehung des Erhabenen›).
Erhabene nicht nur als Grundmotiv für die im 19. Jahrhundert
Im Kristallinen wird ein radikaler Naturbezug gesucht – bis zur
entstandene ‹Alpensucht› angesehen werden, sondern auch
Gegenwart. Bruno Tauts Begriff vom Schönen und Erhabenen
als Leitgedanke für die daraus entstandenen Architekturen.
kommt im Verhältnis zwischen dem Menschen und der von
Durch die Aufbereitung der Geschichte des Erhabenen und
ihm zu errichtenden Kristallarchitektur auf den höchsten
die Untersuchung, inwiefern ein Transfer auf die alpine Archi-
Gipfeln der Alpen zum Ausdruck, wobei der Opfergedanke
tektur stattgefunden hat, kam ich darüber hinaus zur Einsicht,
eine wichtige Rolle spielt: Der Mensch solle sich der ‹hohen
dass die Architektur selbst dazu beiträgt, das ‹Sublime› zu
Aufgabe› unterziehen, die nur durch ‹ungeheure Opfer an
erzeugen: durch räumliche Dispositive, die dem Menschen
Mut, Kraft und Blut›1 zu erfüllen sei. Diesen Kristallvisionen
dazu verhelfen, geistig wie körperlich eine Grenzerfahrung zu
liegt etwas Gewaltiges zugrunde,wobei das Verhältnis zwischen
machen – vom Panoramablick bis hin zu Lovegroves ‹Alpine
Mensch und Natur neu definiert wird: einerseits durch die kris-
Capsule›. In Bezug auf die alpine Architektur interessierte mich
talline Perfektionierung der Natur und andererseits durch das
das Erhabene weniger als abstraktes philosophisches Konzept
Einschreiben des Körpers in die perfekte Form des Kristalls.
denn als operativ wirkende Figur, die Fiktionen eröffnet.
Das Sublime artikuliert sich in den Kristallarchitekturen in der
Die hier durchgeführten Analysen betonen den visionären und
visionären Vereinigung von Mensch und Natur, von Berg und
utopischen Charakter der alpinen Architektur, wobei die aus-
Technik (‹Kristall, Kristallisation›).
gesprochene Radikalität der verschiedenen Ansätze bemerkenswert ist. Das Bauen in den Alpen hat durch die Konfrontation
Die Sanatorien zeichnen sich, was die Beziehung zwischen
mit der ‹wilden Natur› selbst etwas Gewaltiges, Gewalttätiges
dem Körper und den Naturelementen betrifft, durch eine
an sich, das sich in unterschiedlichen Facetten artikuliert. Allein
andere Form von Radikalität aus. Die Architektur trat in den
mit der Positionierung eines Bauwerks isoliert inmitten der
Dienst der Medizin und wandelte sich in eine ‹therapeutische
Berglandschaft ist immer auch ein Kraftakt verbunden – der
Maschine der Hygiene›.2 Ihr Funktionieren basierte auf dem
auf einer Reihe von Prämissen aufbaut: auf die Erschließung,
Zusammenspiel von Sonne, Kälte und Höhenluft, um den Körper
die Schaffung von Infrastrukturen, die Konfrontation mit klima-
zu konditionieren: Stundenlang, bei jedem Wetter und bei
tischen wie geologischen Bedingungen. All dies muss der
jeder Temperatur waren die Patienten auf den Kurgalerien
rauen Natur erst abgerungen werden.
dem Klima ausgesetzt. Das Gewaltige lag hier im permanenten Überlebenskampf eines kranken Körpers, der programmatisch
Sechs unterschiedliche Zugänge und Zwecke
dem rauen Klima der Berge ausgesetzt wurde.
Die Grandhotels des 19. Jahrhunderts waren imposante Blöcke,
Beim Solarium von Dr. Saidman artikulierte sich die Dimension
die als städtische Exportprodukte in die wilde Natur gestellt
des Gewaltigen in einer sich mit der Sonne drehenden Archi-
wurden. Ihre Positionierung in der Landschaft kann als ‹Akt der
tektur – mehr Maschine als ein Gebäude. Die auf kippbaren
Gewalt› angesehen werden, denn sie wuchsen nicht etwa aus
Liegen eingespannten Körper der Patienten sind Ausdruck
der Topografie heraus (wie später Baumanns Bergstation
eines extremen Bezugs zur Sonne, die für Gesundheit stand.
Hafelekar), sondern wurden als fertiger ‹Superblock› in die
Auch beim Monte Verità beeindruckt die Gewalt, die sich die
201
Resümee
Bürgersöhne und -töchter freiwillig antaten, um mithilfe
definiert. Die Radikalität einer solchen Einrichtung besteht in
extremer Grenzerfahrungen inmitten der Natur, nackt und vege-
der totalen Unterjochung der Natur durch den ‹universalen
tarisch ernährt, zu einem gesünderen Leben und zu radikalem
Menschen›; sie wird genutzt wie jeder andere Konsumartikel
Neubeginn zu finden.
auch. Die Massen durch architektonische Strategien auszu-
Die Sonne spielte bei all diesen ‹Wegen zur Gesundheit› eine
blenden, die den Einzelnen wenigstens optisch von den
zentrale Rolle und wurde zum Mythos erhoben. Das Sublime
anderen isolieren, um visuell mit der Natur in Kontakt zu
lag hier in der direkten Konfrontation des Körpers mit den
treten, ist ein Versuch, der touristischen Kolonisierung der
Elementen der Natur (‹Therapeutische Landschaft›).
Berge einen Augenblick lang zu entkommen. Dabei soll etwas vom alten Erhabenen gerettet werden, während das neue im
Die Architekturen der Kinderheime der 1930er Jahre illustrie-
stolzen Werk des Menschen verankert ist, vor dem wir nun
ren die Unterschiedlichkeit der Erziehungskonzepte, je nach
erschauern (‹Sublimieren von 30.000 Betten›).
Land, politischem System und kulturellem Kontext – zwischen Reform und Diktatur. So zeichnen sich insbesondere die Türme
Anregungen für die Zukunft alpiner Architektur
der Kinderheime von Fiat durch ihre Radikalität aus. Sie gingen
Wird Architektur als ‹Generator des Sublimen› angesehen,
keinerlei Kompromisse mit dem Ort ein; ob in den Bergen
dann kann das Bauen in den Bergen in keiner Weise neutral
oder am Meer standen sie als universelle Prototypen zeichen-
sein – auch nicht das zukünftige Bauen. Gehen wir mit diesem
haft in der Landschaft, als Ikonen einer bestimmten Ideologie.
Bewusstsein an das Thema Tourismus heran, so ist ein Nach-
Diese Radikalität definierte auch ihr Inneres, wo die Kinder auf
denken über die aktuelle Entwicklung nötig. Die Alpen als
einer um ein Atrium angeordneten Spirale aufgereiht lebten.
einstiges utopisches Territorium, als heile Gegenwelt zur Stadt,
Der Blick auf die Landschaft wurde durch den Blick ins Zentrum
laufen heute Gefahr, durch die kontinuierliche Verstädterung
ersetzt. Erhaben war nicht mehr die Natur draußen, sondern
und die zunehmenden Touristenmassen zu einer Dystopie zu
die Politik der Erziehung im Inneren. Der Turm kann als
werden, denn Ursprünglichkeit und wilde Natürlichkeit sind
‹Maschine der Erziehung› angesehen werden, die nach innen
im Verschwinden begriffen. Die Alpen haben sich sukzessive in
und außen kompromisslos war (‹Kampf um das Kind›).
einen gigantischen ‹Erlebnispark›, in einen ‹Central Park Europas›3 verwandelt und sind als eine vom Menschen
Auf einer vollkommen anderen Ebene beeindrucken die
bedrohte Naturreserve in Betracht zu ziehen. Den unterschied-
Seilbahnprojekte in ausgesetzter Höhenlage, welche die Fels-
lichen Bedürfnissen von 120 Millionen Feriengästen zu dienen
wände inszenieren. Radikalität äußert sich hier in Form von
ist ein Anspruch, der mit Sorgfalt überdacht werden muss,
gewaltigen Auskragungen, die Schwindel provozieren. Dynami-
wenn das erhalten bleiben soll, weswegen sie eigentlich
sche Formen unterstreichen Bewegung und Geschwindigkeit,
kommen: die ‹wilde Natur›.
sie versetzen den Menschen in eine Art Schwebezustand. Das
Shaftesbury hatte 1704 die Schönheit der ‹wilden Natur› den
Gewaltige artikuliert sich hier in physischer Weise: Nun ist es
‹künstlichen Prinzenparks› entgegengestellt; diese haben sich
der Körper, der sich Hals über Kopf in beinahe vertikale
mittlerweile inmitten der einst wilden Berge installiert und
Abhänge stürzt, um den Rausch der Geschwindigkeit auszu-
konfrontieren uns seither mit der Frage, wie unser Verhältnis
kosten. Das Sublime liegt hier in einer extremen körperlichen
zur Natur denn eigentlich aussehen soll. Architekten und
Erfahrung, die durch Architektur nicht nur ermöglicht, sondern
Planern obliegt es nun, unseren Aufenthalt in den Bergen zu
bewusst gesteigert und zelebriert wird. (‹Bewegung, Rausch
gestalten, zu organisieren und zu definieren. Wird Architektur
und Schwindel›).
als ‹Generator des Sublimen› betrachtet, könnte die Akzeptanz der Radikalität eine Öffnung zu neuen Visionen ermöglichen.
Auch in der schieren Zahl von 30.000 Betten liegt eine gewisse Form von Gewalt: sechs Betten auf 38 m2, 5.000 Mal multipli-
1 Taut (1919) 2004, Blatt 16.
ziert, ergibt eine ‹Skifabrik›, eine gigantische Maschine der
2 Dr. Louis Landouzy, 1900, zit. n.: Grandvoinnet 2014, 13.
Massen, die das Verhältnis zwischen Mensch und Natur neu
3 Barth-Grössler, Deutinger 2004, 128ff.
Resümee
202
Paolo Amaldi – Nachwort: Sublime Maschinen
Vorstellung der ‹Selbstentäußerung› in Verbindung gebracht werden, von der Worringer in Abstraktion und Einfühlung
Am Ende der Lektüre von Susanne Stachers Buch können wir
sprach oder vor ihm Nietzsche, Schopenhauer oder
ohne allzu große Bedenken feststellen, dass das Erhabene
Augustinus, der die Anziehungskraft der Natur der Fähigkeit
eine hochmoderne ästhetische Erfahrung ist (die mit dem
des Menschen entgegenstellte, sich der Introspektion zu
Aufkommen der Theorie der Ästhetik zu einer autonomen
widmen, der Meditation. Letztendlich ist das Heraustreten
Disziplin geworden war). Diese findet mehr denn je ihre Re-
aus sich selbst auch eine Erfahrung, der die Architekten der
sonanz in den heutigen kognitiven und neurowissenschaftli-
Moderne eine räumliche und zeitliche Form gegeben haben.
chen Forschungen, die den sechsten Sinn des Menschen –
Aber bevor wir auf diesen Punkt näher eingehen, ist ein kurzer
laut Ernst Mach die Fähigkeit, sich selbst zu orten und somit
begrifflicher Exkurs nötig.
auch von den Voraussetzungen der eigenen Wahrnehmung
Indem Susanne Stachers Buch die Erhabenen-Erfahrung
zu lösen – in die Krise stürzen.
durch moderne Maschinen der Naturbetrachtung umreißt,
Das Erhabene entspringt einer neuen Haltung eines Betrach-
führt es uns zur Erkenntnis, dass diese berauschende Alpen-
ters, der zugleich an einer Situation teilnimmt und ganz in sie
erfahrung in Wirklichkeit sehr zerbrechlich ist, dass sie immer
versunken ist (sagte nicht Diderot, dass ‹unsere Sinne […]
Gefahr läuft, in die untere, ‹mindere› Kategorie des Pittores-
soundso viele Tasten [sind], die von der uns umgebenden
ken zu kippen oder abzudriften. Das Pittoreske ist in der Tat
Natur angeschlagen werden›?). Diese kontrastiert mit der
eine Art ‹Fall› des Erhabenen. Als William Gilpin in Three
kontemplativen Haltung der Distanzierung, die – wie wir
essays: On picturesque beauty und Uvedale Price in A Dialo-
sagen würden – der klassischen platonischen Kultur eigen ist,
gue on the Distinct Characters of the Picturesque and the
die aber auch den Theorien formaler manieristischer Anmut
Beautiful diese Kategorie auf halbem Wege zwischen dem
und allen Effekten der barocken Theatralik entgegensteht.
Erhabenen – das von Burke theoretisch eingeführt worden
Wenn die Kulturgeschichte aufzeigt, dass die Entstehung
war – und dem klassisch Schönen einordneten, haben sie sich
neuer Schlüsselkonzepte die Ordnung und Hierarchie der bis-
nicht geirrt.
herigen Auffassungen, die ihnen vorangegangen waren, um-
Tatsächlich hat die Zeit des Erhabenen nur so lange ange-
wirft, dann war das Erhabene ein höchst diskriminierender
dauert, bis die imposanten Landschaften infrastrukturell er-
Begriff, der die meisten bis dahin ausgearbeiteten ästheti-
schlossen waren. Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts die
schen Konzepte ans andere Ende des Spektrums verdrängt
nun domestizierten Berge als Gärten betrachtet wurden,
hat, obwohl diese ursprünglich im Gegensatz zueinander
die vor der technologischen Invasion bewahrt werden müssen,
konstruiert worden waren. Die Modernität des Erhabenen
wurde diese Landschaft als ‹hübsch› oder ‹angenehm› ange-
liegt in seiner Authentizität und Unmittelbarkeit. Diese fallen
sehen. Es ist daher kein Zufall, dass der Begriff ‹pittoresk› in
in der Literatur mit einer neuen Sensibilität des Lesers zusam-
den Reiseführern des frühen 19. Jahrhunderts im Zusammen-
men, mit einer intensiven Aneignung von Texten wie
hang mit einer spezifischen Reiserfahrung wiederkehrt, die
Rousseaus La Nouvelle Héloïse, Bernardin de Saint-Pierres
für eine kosmopolitische Bevölkerung charakteristisch ist, die
Paul et Virginie oder Goethes Die Leiden des jungen Werther –
von der rousseauistischen Mode der Rückkehr zur Natur
von Romanen, die immer wieder gelesen und wiedergelesen,
getragen ist und einfach – und somit modern – reist.
zitiert und rezitiert werden, die in den Leser eindringen, der
Als Napoleon im Jahre 1807 die Simplon-Passstraße bauen
von diesen Initiationsgeschichten erfüllt wird.
ließ, um die alten Maultierpfade über die Alpen zu ersetzen,
Der psychophysiologische und kognitive Ausdruck dieser
veränderte sich die Beziehung der Reisenden zur Landschaft.
Erfahrung ist die Erweiterung des Selbst, die Verstärkung der
Die Überquerung der Alpen war nicht mehr gefährlich; die
Gefühle, die Kontraktion aller Fasern, die Expansion – eine
wohlhabende Klasse konnte sie leicht zu Pferd bestreiten und
Verschmelzung des Individuums mit den tauben und telluri-
regelmäßig anhalten, um die Landschaft zu bewundern. Die
schen Kräften der Natur. Diese Bewegung kann daher mit der
Bilder von Gabriel Lory in seinem Buch Voyage pittoresque
203
Nachwort
de Genève à Milan par le Simplon illustrieren diese Infrastruk-
Status der monumentalen, ihn umzirkelnden Berglandschaft
tur, die für den Zuschauer im Gehrock zu einem fortlaufenden
verstärken, so wie seine Küsten-Version den Bezug zum un-
Balkon wurde, zu einer Terrasse mit Blick auf die Landschaft.
endlichen Horizont des Meeres dramatisiert. Die Radikalität
Infrastrukturen haben die Alpenüberquerung in eine Montage
der Form, die typisch ist für die Grundsätze der Moderne,
von Blickpunkten oder ‹Einzelteilen› verwandelt, die weitge-
kann in den drei Begriffen zusammengefasst werden, die im
hend von der Straßenführung abhängen. Diese Aufsplitte-
Vorwort des ersten Giedion-Manifests von 1929 erwähnt sind:
rung der Realität in aufeinanderfolgende Szenen erinnert an
‹Licht, Luft, Öffnung›.
die Landschaftstheorien, die Humphry Repton im 18. Jahr-
Diese Begriffe sind ein Aufruf, den häuslichen Ort zu spren-
hundert in seinen Red Books entwickelte. Es ist ganz klar,
gen, ihn nach außen zu projizieren, die bürgerlichen Lebens-
dass die Eisenbahn und dann das Auto als visuelle Einrich-
weisen zu durchbrechen, um die Bewohner in eine wesentliche
tungen diese Art der Zergliederung der Erfahrung weiter ver-
und radikale Beziehung zu atmosphärischen Elementen zu
stärkt haben, und somit auch deren Zerstückelung in Hinblick
versetzen. Denken wir nur an die Kurgalerien der lichtthera-
auf eine bessere Konsumierbarkeit.
peutischen Sanatorien oder an die Kinderferienkolonien:
Diese Degradierung, die sozusagen vom Erhabenen zum
Dies sind sicherlich Orte, an denen wir natürlich genesen
Pittoresken erfolgte, war das Resultat des menschlichen
sollten, allerdings konnten die extremen Wetterbedingungen
Eingriffs in die Natur und der aufkommenden Infrastruktur.
auch tödlich sein. Was die neuen architektonischen Installa-
Um den berühmten marxistischen und Engels’schen Aus-
tionen von heute betrifft, so sind auch sie Teil dieses Ansatzes:
spruch aufzugreifen, sind es die neuen Formen von ‹infra›,
Sie versuchen durch Technologie den Bezug zum Schwindel-
die seit dem 19. Jahrhundert sowohl neue Wertesysteme her-
gefühl zu verstärken, das uns die alpine Landschaft vermittelt;
vorgebracht und bestimmt haben als auch eine neue Form
allerdings ist diese nun weitgehend urbanisiert und zu einem
von sozialem und ästhetischem Bewusstseins mit seinen
pittoresken oder ‹hübschen› Ort degradiert worden. Wenn
neuen Praktiken der Aneignung und des Landschaftsgenus-
diese These aktuell ist, dann gerade deshalb, weil sie die
ses. Die von der erobernden Infrastruktur erzeugten Reprä-
Fragilität dieses Gefühls des Absoluten infrage stellt, das
sentationssysteme stehen in Zusammenhang mit der
neue, immer mächtigere visuelle Maschinen der Betrachtung
Beschleunigung und Sequenzierung der Erfahrung und tra-
einfordert, die versuchen, den Betrachter weiterhin in
gen zur Ästhetisierung der Landschaft bei.
Spannung, in eine erhabene Isolation zu versetzen – in der
Daraus ergibt sich folgende Hypothese: Die architektonischen
Hoffnung, dass er dieser so kraftvollen wie zerstörerischen
Mittel, die als Beispiele in diesem Buch präsentiert werden,
Beziehung nie müde wird.
sind in ihrer Radikalität visuelle und sensorische Maschinen, die – bewusst oder unbewusst – versuchen, der ästhetischen
Paolo Amaldi, Professor an der École nationale supérieure
Degradierung der alpinen Landschaft entgegenzuwirken.
d’architecture de Versailles
Diese Architekturen bringen den Körper des Betrachters oder des Nutzers in Gefahr: Sie setzen ihn den Elementen der Natur und der Bergatmosphäre aus, die in ihrer Gesamtheit wirken. Das Erhabene ist – wie Kant in seiner dritten Kritik bemerkt – nicht das Ding an sich, sondern die Beziehung, die der Mensch zu diesem Ding hat. Es verlangt nach einer Radikalität, die sehr gut zur sogenannten funktionalistischen Architektur passt. Der FIAT-Turm, das Produkt einer exaltierten Ideologie, die Kinder militärisch in einem riesigen Kontinuum anordnet, ist ein aufsteigender Raum, in ein dramatisches Zenital-Licht getaucht. Dieser Bau kann nur den
Nachwort
204
Bildnachweis
S. 513, Tafel 1, Blatt 8, Google Books. 30 v Lane, Werbeplakat für das Panorama Leicester Square in London:
Angaben nach Seitenzahl Hinweis auf die Platzierung der Abbildung mit folgendem Zeichen: ^ oben | < links | > rechts | v unten WmC = Wikimedia commons n. d. = nicht datiert
18 John Closterman (1660–1711), ‹Maurice Ashley-Cooper und
‹Battle of Trafalgar›, 1806, kolorierter Stich nach H. A. Barker, Wellcome Images CC BY 4.0. 32 ^ Christian Mechel (Kupferstich), Marquard Wocher (Skizze), Voyage de M. de Saussure à la cime du Mont-Blanc au mois d’août 1787, La descente (der Abstieg), 10. Tafel, Kupferstich mit Deckfarbenkolorierung, um 1790, Wellcome Collection. 32 v Christian Mechel, Marquard Wocher, Voyage de M. de Saussure à la cime du Mont-Blanc au mois d’août 1787, 2. Tafel, Kupferstich mit
Anthony Ashley-Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury›, Öl auf Leinwand,
Deckfarbenkolorierung, um 1790.
24,3 x 17 cm, ca. 1700–1701, National Portrait Gallery, London, Primary
33 ^ William McGregor, ‹Ersteigung des Mont Blanc›, um 1850,
Collection, Inv.-Nr.: NPG 5308, WmC.
gedruckt von George Baxter (1804–1867), Aquatinta, n.d., Alpenverein-
21 Altichiero da Zevio, ‹Francesco Petrarca und Lombardo della Seta›,
Museum Innsbruck, Inv. N. 2807.
um 1376, Ausschnitt aus einem Fresko im Oratorio di San Giorgio in
33 v William McGregor, ‹Ersteigung des Mont Blanc›, um 1850,
Padua, WmC.
gedruckt von George Baxter (1804–1867), Aquatinta, n.d., Alpenverein-
22 Tobias Stimmer, ‹Portrait von Conrad Gessner› (1516–1565), 1564,
Museum Innsbruck, Inv.-Nr. 2807.
Öl und Tempera auf Leinwand, 48,2 x 36,8 cm, Museum zu Allerheili-
35 Sir Thomas Lawrence (1769–1830), ‹Sir Uvedale Price, 1st Baronet›
gen, Schaffhausen, WmC.
(1747–1829), um 1799, Öl auf Leinwand, 76,2 x 63,5 cm, Museum of
23 Conrad Gessner, Zeichung aus der ‹Historia Plantarum›: ‹Fragaria
Fine Arts, Boston, WmC.
vesca›, 1542, Erstveröffentlichung 1750, Universität Zürich, alter
36 Johann Gottfried Jentzsch, Wilhelm Rothe, ‹Blick von der
botanischer Garten Zur Katz (Gessner-Garten), WmC.
sogenannten Teufelsbrücke›, bei Gestinen, Kanton Uri, Schweiz, um
25 < Thomas Burnet, Zeichnung ‹Ovum mundi› (lat. 1681), aus: ‹The
1810, Radierung koloriert, ÖNB, Inv.-Nr.: Z110326006.
Theory of the Earth›, 4. Bd., 3. Aufl., gedruckt von R.N., London 1697,
38 < Friedrich Studer, ‹Giessbach – Am Brienzersee – Au Lac de Brienz –
46, 92, Google Books.
Beleuchtung der Fälle jeden Abend›, Werbeplakat, 1912, (CH, 1880–
25 > John Faber, ‹Thomas Burnet, Master of the Charterhouse› (1635–
1943), Bildquelle: Otto Haberer-Sinner (CH/DE, 1866–1941), Auftrag-
1715), nach einem Gemälde von Sir G. Kneller (1697), 1752, Mezzotinto
geberIn: Anonym, Druckerei: Hubacher & Cie. AG, Bern, CH,
(Schabtechnik oder Schwarzkunst), Wellcome Collection.
Lithografie, 100 x 70 cm, Museum für Gestaltung Zürich, Plakat-
26 John Vandergucht, ‹Mr John Dennis›, 1734, Radierung, National
sammlung, Inv.-Nr. 03-0945.
Portrait Gallery London, WmC.
38 > Karl Bickel (CH, 1886–1982), ‹Trümmelbach – Lauterbrunnen –
27 ‹Anthony Ashley-Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury, ein englischer
Schweiz, Werbeplakat für die Wasserfälle von Trümmelbach›, 1929,
Politiker, Philosoph und Schriftsteller›, 1702, Falkensteinfoto/Alamy
Auftraggeber: Kur- und Verkehrsverein Lauterbrunnen, Druckerei:
Stock Foto.
Graphische Anstalt J. E. Wolfensberger AG, Zürich, CH (gegründet
28 Anonym, ‹The R.t Honble Joseph Addison Esq., one of his
1902), Lithografie 128 x 90,5 cm,Courtesy: Karl Bickel-Stiftung.
Majesty’s Secretary’s of State› (1672–1719), Kupferstich nach dem
39 Otto Baumberger (1889–1961), Höll-Grotten Baar bei Zug –
Ölbildnis von Sir Godfrey Kneller, um 1712, ÖNB, Inv.-Nr.:
Wundervolle Tropfsteinhöhlen, Werbeplakat, um 1931, Auftraggeber:
PORT_00092088_01.
Höllgrotten Baar, Baar, CH, Druckerei: Art. Institut Orell Füssli AG,
29 Charles-Simon Pradier (1786– 1847), ‹Horace-Bénédict de Saussure
Zürich, CH, Lithografie, 127 x 90 cm, Museum für Gestaltung Zürich,
[1740–1799], Professeur de philosophie à Genève, Membre de plusieurs
Plakatsammlung, Inv.-Nr. 50-0169.
Académies, Dédié à la société des Arts de Genève›, 1810, Strich-
42 Anonym, ‹Fête de l’Être suprême› vom 8. Juni 1794. Blick auf den
radierung nach Ölgemälde (1796) von Jean-Pierre Saint-Ours (1752–
Berg, der auf dem Champ de la Réunion aufgezogen wurde: für die
1809), gedruckt von Durand, Genf, 21,5 x 15,5 cm, ÖNB, Inv.-Nr.:
Feier zu Ehren des Höchsten Seins der 20. Prairial des 2. Jahres der
PORT_00136619_01.
Französischen Republik, Radierung, Bibliothèque Nationale de France,
30 ^ Marc-Théodore Bourrit (1739–1819), ‹Rundblick auf die Berge, die
Gallica.
man vom Gipfel des Buet Gletschers aus sieht›, in: Horace-Bénédict de
43 Alexandre-Théodore Brongniart (der Vater, 1739–1813), Projekt
Saussure (1740–1799), Voyage dans les Alpes, précédés d'un essai sur
eines Berges für die ‹Fête de la Raison› in der Kathedrale Saint-André,
l'histoire naturelle des environs de Geneve, Neuchâtel, 1779, Bd. I,
Bordeaux, 1793, Musée du Louvre, Paris, D.A.G., Nr. Inv.: RF50432-
205
Bildnachweis
recto, © RMN-Grand Palais (musée du Louvre), Michèle Bellot.
60 ^ Bruno Taut (1880–1938), Glashaus-Pavillon, Kölner Werkbundaus-
44 Johann Huber (nach Johann Peter Krafft, 1817), ‹Erzherzog Johann
stellung, 1914, WmC.
am Hochschwab›, 1839, Öl auf Leinwand, 41,3 x 29,4 cm, Neue Galerie
60 v Bruno Taut (1880–1938), Glashaus-Pavillon, unterer Innenraum mit
Graz – Universalmuseum Joanneum, Inv.-Nr.: I/2638, © J. Koinegg.
Kaskadentreppe, Kölner Werkbundausstellung, 1914, Wikiarquitectura.
45 Thomas Ender, Josef Kuwasseg, ‹Wildbad Gastein›, Sammelblatt
62 Ernst Haeckel (1834–1919), Zeichnung einer Radiolaria marine
von Bad Gastein und Umgebung, 1850, ÖNB, Inv.-Nr.:12838903.
protozoa, Acanthophracta, Titelbild von ‹Kristallseelen›, Kröner Verl.,
46 ^ Robert Mitchell, Panorama Leicester Square (1792), in: ‹Plans, and
Leipzig 1917.
views in perspective, with descriptions of buildings erected in England
63 Rudolf von Laban (1879– 1958), Tänzer im Kristall, Skizze, n.d., Ar-
and Scotland›, 15. Mai 1801, London, kolorierter Aquatinta, Quer-
chiv Univ. Leipzig.
schnitt, British Library, Inv.-Nr.: 56.i.12. (Plate 14), WmC.
65 Ross Lovegrove, ‹Alpine Capsule› auf dem Piz La Ila, Alta Badia,
46 v Johann Baptiste Isenring, (1796–1860), Panorama Gäbris, Aussicht
Rendering, 2008, © Ross Lovegrove Studio
vom Gäbris bei Gais im Kanton Appenzell auf den Thurgau, den nord-
66 Wilhelm Fechner, Foto von Paul Scheerbart (1863–1915), 1897,
westlichen Teil des Kantons St. Gallen, den Bodensee, das Rheintal, auf
WmC.
die Vorarlberger Alpen und auf die Säntiskette, n.d., Druckgrafik,
67 ^ Paul Scheerbart (1863–1915), Zeichnung, Tafel 5, Jenseits-Galerie,
Schweizerische Nationalbibliothek, Grafische Sammlung, WmC.
Berlin, 1907, Houghton Library, Harvard University, WmC.
47 Alexis Donnet, Architectonographie des théâtres de Paris, mise en
67 v Paul Scheerbart (1863–1915), Zeichnung, n. d., Buchcover der Hol-
parallèle entre eux: Recueillis et dessinés a une échelle commune,
ländischen Ausgabe ‹Glasarchitectur›, Klondyke, Rotterdam 2000.
gravés par Orgizzi, gedruckt v. Didot l’Ainé, 1837-40, Blatt 23: Diorama
68 < und 69 Bruno Taut (1880–1938), ‹Alpine Architektur›, Folkwang
und Waxhall, © Susanne Stacher.
Verl., Hagen 1919, Blatt 14.
48 ‹Le Village Suisse› mit Riesenrad im Hintergrund, Pariser Weltaus-
68 > Bruno Taut (1880–1938), ‹Alpine Architektur›, Folkwang Verl.,
stellung 1900, Brooklyn Museum archives, WmC.
Hagen 1919, Blatt 10.
49 ^ Anonym, Foto von Giovanni Segantini, 1898.
70 und 71 < vier Bilder | Laban-Tanzschule: Tanzübungen im Ikosaeder,
49 v Giovanni Segantini (1858–1899), Alpentriptychon ‹La Natura›
70 v Foto von Rudolf von Laban in dem von ihm entworfenen Ikosa-
(Sein›), 1898–1899, Öl auf Leinwand, 235 × 400 cm, © Segantini
eder, n. d., Archiv Univ. Leipzig.
Museum, St. Moritz, WmC.
71 > Foto von Rudolf von Laban (1879–1958) vor der von ihm entwi-
50 ^ Dreamland, ‹Luna's Mountain Torrent›, Coney Island, New York,
ckelten Tanzschrift mit einer Kristallstruktur in der Hand, n.d., Archiv
1906, Privatsammlung.
Univ. Leipzig.
50 v Dreamland, ‹Touring the Alps›, Coney Island, New York, 1907–
72 Arnold Fanck (Regie), ‹Der heilige Berg›, 1926, Szenenfoto von der
1911, Privatsammlung.
Kletterszene vor dem tödlichen Absturz, Courtesy: Archiv Matthias
51 < Valerio Olgiati mit Bonzi Verme Peterli ‹Panorama
Fanck Stiftung, Deutsche Kinamathek Inv.-Nr.: F1036_3.
Gornergrat›, Schaubild, 2011, © Meyer Dudesek Architekten.
73 Arnold Fanck (Regie), ‹Der heilige Berg›, 1926, Szenenfoto aus dem
51 > Valerio Olgiati, mit Bonzi Verme Peterli ‹Panorama Gornergrat›,
Inneren des Eispalasts, Courtesy: Archiv Matthias Fanck Stiftung, Deut-
Schnitt, 2011, © Archiv Olgiati.
sche Kinamathek Inv.-Nr.: F1036_4
54 Andrea Deplazes mit Monte Rosa Studio ETH Zürich, Monte-Rosa-
74 Leni Riefenstahl (Regie), ‹Das blaue Licht›, 1932, Szenenfoto von
Hütte, 2009, © Tonatiuh Ambrosetti
Junta in mystischer Pose in der leuchtenden Kristallhöhle, Deutsches
55 Arnold Fanck, Karl (Luis Trenker) im Eissturm, Szenenfoto, aus: ‹Der
Filminstitut Frankfurt, © Walter Riml, Courtesy: Dr. Christian Riml
heilige Berg›, 1926
75 ^ Richard Buckminster Fuller (1895–1983), ‹Laminar Geodesic Dome
56 ^ Jacopo de’Barbari (vermutlich), Bildausschnitt aus Fra Luca Pacioli
from the Inventions: Twelve Around One portfolio›, 1981, Bildschirm-
bei einer Kristallstudie, um 1495, Pinacoteca di Capodimente, Neapel,
druck auf Transparent und Zweiton-Bildschirmdruck auf Lenox 100 %
99 × 120 cm, WmC.
rag paper, 76,2 × 101,6 cm, Courtesy: Carl Solway Gallery, Cincinnati.
56 v Jacopo de’Barbari (vermutlich), Fra Luca Pacioli bei einer Kristall-
75 v Richard Buckminster Fuller (1895–1983), ‹Non-Symmetrical,
studie, um 1495, Pinacoteca di Capodimente, Neapel, 99 × 120 cm,
Tension-Integrity Structure from the Inventions: Twelve Around One
WmC.
portfolio›, 1981, Bildschirmdruck auf Transparent und
58 Leonardo da Vinci (1452–1519), Die erste gedruckte Illustration
Zweiton-Bildschirmdruck auf Lenox 100 % rag paper, Courtesy:
eines Rhombicuboctahedron, in: ‹De divina proportione›, 1509, WmC.
Carl Solway Gallery, Cincinnati.
Bildnachweis
206
76 Gerhard Garstenauer (1925–2016), kristalline Kugel neben der dom-
Cornelia Gaes Gouba und Mini Sohr, Archiv Monte Verità.
förmigen Skiliftstation in Sportgastein, 1972.
95 v Mary Wigman tanzend vor dem Lago Maggiore, Monte Verità,
plan Erdgeschoss der Monte-Rosa-Hütte, 2009.
n. d., Archiv Monte Verità.
77 v Andrea Deplazes mit Monte Rosa Studio ETH-Zürich, Monte-
96 Johann Adam Meisenbach, Fotografie von Rudolf von Laban mit
Rosa-Hütte, 2009, © Tonatiuh Ambrosetti.
seiner Tanzschule auf dem Monte Verità, 1914, v. r. n. l. Betty Baaron
78 ^ < Die Monte-Rosa-Hütte bei Nacht. ^ > Über den Fels kragendes
Samoa, Totimo, Isabelle Adderley, Rudolf von Laban, Maja Lederer,
Volumen mit ansteigender Treppe. v < Schlafzimmer im Obergeschoss,
Suzy Perrottet, Katja Wulf, Courtesy: Estate of Suzanne Perrottet,
mit Holzverschalung, v > Treppenraum mit durchlaufendem Fenster-
© Johann Adam Maisenbach.
band, © T. Ambrosetti.
97 Tanzszene auf dem Monte Verita, n. d., Archiv Monte Verità.
80 Otto Morach (CH, 1887–1973), Plakat ‹Der Weg zur Kraft u. Gesund-
98 Hotel Monte Verità von Emil Fahrenkamp (1927-1928), 2015,
heit führt über Davos›, um 1926, Auftraggeber: Verkehrsverein Davos,
© Susanne Stacher.
CH, Druckerei: Graphische Anstalt J. E. Wolfensberger AG, Zürich,
99 Juraj Neidhardt, Entwurf I: ‹Baumasten› im Wandelhallensystem für
Lithografie, 128 x 90,5 cm, Kunstmuseum Olten, Plakatsammlung
ein Sanatorium in Davos, 1930, Das Werk, Bd. 17, 1930, Heft 4.
Museum für Gestaltung, Nr. 80-0019.
100 Atelier Muchsel-Fuchs (Robert Fuchs, 1896–1981), Plakat ‹Alpen-
82 Alfred Soder, Exlibris für Friedrich Berthold Sutter: nackter Mann
strand Semmering. In direkter Verbindung mit dem Grandhotel
(Nietzsche) im Hochgebirge auf einem Fels sitzend, 1907, Stadtge-
Panhans›, 1933, Auftraggeber: Verkehrsverein Semmering, Grand Hotel
schichtliches Museum Leipzig, Exlibris Sh 51.
Panhans, Wagner Druck, Wien, Private Sammlung.
84 Caspar David Friedrich, ‹Der Wanderer über dem Nebelmeer›,
101 Anonym, Plakat ‹Semmering – Austria – 1000 m›, 1928, Lithogra-
1818, 98 x 74 cm, Kunsthalle Hamburg, WmC
phie, Druck: Paul Gerin Verl., Bildarchiv Austria, Inv.-Nr.: PLA16305602.
85 Ferdinand Hodler, ‹Blick ins Unendliche›, 1903–1906, Öl auf Lein-
102 ^ Foto von der Deutschen Heilstätte vor dem Umbau, n.d., in: Das
wand, 100 x 80 cm, Musée Cantonal des Beaux-Arts, Lausanne,
Werk, Bd. 17, 1930, Heft 4.
Schweiz, WmC.
102 v Foto von der Deutschen Heilstätte nach dem Umbau von Rudolf
86 Anonym, ‹Sonnenanbeter› auf dem Monte Verità, n. d., Archiv
Gaberel, 1929, in: ibid.
Monte Verità.
103 ^ Rudolf Gaberel, Schnittzeichnung der Deutschen Heilstätte nach
88 Johann Adam Maisenbach, Rudolf von Laban (rechts) und seine
dem Umbau mit vorgesetzten, individuellen Kurbalkonen, in: ibid.
Tänzer, Choreografie am Ufer des Lago Maggiore, Ascona, Monte Ve-
103 v Rudolf Gaberel, Umbau der Deutschen Heilstätte mit dreige-
rità, 1914, Courtesy: Estate of Suzanne Perrottet, © Johann Adam Mai-
schossigen Kurgalerien, in: ibid.
senbach.
104 R. Soubie, Schaubild für das Sanatorium Plaine-Joux von Pol
89 ^ Anonym, Haupthaus Monte Verità, n. d., Archiv Monte Verità.
Abraham und Henry Jaques Le Même, 1929, in: ‹L’Architecte›.
89 v Anonym, Teehaus Monte Verità, n. d., Archiv Monte Verità.
105 ^ Grundriss einer Zimmereinheit mit Balkon und Bad des Sanato-
90 Martin Peikert (CH, 1901–1975), ‹Vorbeugen – Heilen – Verjüngen –
riums Plaine-Joux von Pol Abraham, Henry Jacques Le Même,
durch Schweizer Heilbäder›, 1948, Auftraggeber: Schweizerische
(neu gezeichnet), in Roger Poulain, Hôpitaux, sanatoria, Paris, ‹Biblio-
Verkehrszentrale, SVZ, Zürich, CH (gegründet 1917), Druckerei: J. C.
thèque de l’architecture›, Fréal et C., 1931.
Müller AG, Zürich, CH (gegründet 1908), Lithografie, 127 x 90 cm (x 3),
105 v< Pol Abraham und Henry Jaques Le Même, Innenraumperspek-
Museum für Gestaltung, Inv.-Nr. : 00-0855
tive eines runden Balkons mit Zimmer im Hintergrund, Bibliothèque
91 Martin Peikert (CH, 1901–1975), ‹Sanrocco – Maison de cure et de
Kandinsky, © RMN, Inv.-Nr.: Pol Abraham_04-004245.
repos – Das moderne Kurhaus – Lugano›, 1948, Auftraggeber: Kurhaus
105 v> Pol Abraham und Henry Jaques Le Même, Außenperspektive
Sanrocco, Lugano, CH, Druckerei: Lithographie Klausfelder S.A., Vevey,
eines runden Balkons mit Zimmerecke des Sanatoriums Plaine-Joux, in:
CH, Lithografie, 102 x 63,5 cm, Museum für Gestaltung, Inv.-Nr. 76-
Revue Médicale, n. d, in Crembitzer 2005.
0454.
106 Pol Abraham und Henry Jaques Le Même, Südostseite des Sana-
92 Foto von Jean Saidman im Solarium von Aix-les-Bains bei der
toriums Roc des Fiz vom Dach eines Pavillons, mit Verbindungsgalerie,
Bestrahlung eines Patienten, um 1930, Archiv Saidman.
die zum Hautgebäude führt, Plateau d’Assy, Passy, 1930, Archives dé-
94 ^ Südseite des Haupthauses, Monte Verità, n.d., Archiv Monte
partementales 74, Inv.-Nr.: 74, FRAD074_142J_903_1.
Verità.
107 ^ Pol Abraham und Henry Jacques Le Même, perspektivische
94 v Südseite der Casa Anatta, Monte Verità, n.d., Archiv Monte Verità.
Skizze des Kindersanatoriums Roc des Fiz, Plateau d’Assy, Passy, 1930,
95 ^ Tanzreigen auf dem Monte Verità, um 1910, v. l. n. r.: Henri
Bibliothèque Kandinsky, © RMN Pol Abraham_49-003142-02.
Oedenkoven, Ida Hofmann, Anni Pracht, Raphael Friedeberg (Hut),
107 v Pol Abraham und Henry Jaques Le Même, Innenraumfoto eines
207
Bildnachweis
Pavillons des Kindersanatoriums Roc des Fiz, Plateau d’Assy, 1930,
Inv.-Nr.: 20-2609-6.
Archives départementales 74, Inv.-Nr.: FRAD074_142J_903_2.
131 Briefmarken, gedruckt anlässlich der Ausstellung der Kinderkolo-
108 Villaggio Sanatoriale di Sondalo, Viadukte mit Krankenpavillon,
nien ‹Colonie estive›.
2015, © Stacher
132 Adolf Loos, Modell des Wintersporthotels auf dem Semmering,
109 Villaggio Sanatoriale di Sondalo, Viadukte mit Zentralhaus (re.)
ausgesellt im ‹Salon d’automne› in Paris, 1920.
und Kirche (im Hintergrund), 2015 © Stacher.
133 ^ Foto auf die Aiguilles de Varan, mit der Kinderpension Chez
110 Jean Saidman, Bestrahlung einer Patientin im Solarium von Aix-
Nous im Hintergrund, 1938, Région Rhône-Alpes, Inventaire général du
les-Bains, 1930, Archiv Saidmann.
patrimoine culturel.
111 ^< Jean Saidman, Drehendes Solarium in Aix-les-Bains, 1930, Ar-
133 v Henry Jacques Le Même, Kinderpension Chez Nous, Megève,
chiv Saidmann.
1935, Archives départementales de la Haute-Savoie 74.
111 ^> Fernand Ottin, Entwurf eines Nachfolgeprojekts für das dre-
134 Henry Jacques Le Même, Höhenschule mit Internat Le Hameau in
hende Solarium in Vallauris, 1946, Archiv Saidmann.
Megève, Ansicht von Süd-Westen, Archives départementales de la
111 v Jean Saidman, Pläne des Patents für ein drehendes Solarium,
Haute-Savoie 74.
1929, Archiv Saidmann.
135 ^ Alfons Rocco und Jakob Licht, Jugendkurhaus Prasura mit aus-
112 Peter Zumthor, Therme in Vals, Graubünden, 1996, © Helene
kragenden, verglasten Erkern, 1928, Heimatmuseum und Kulturarchiv
Binet.
Arosa.
114 Vittorio Bonadé Bottino, Colonia montana Tina Nasi Agnelli, Fiat,
135 v Jugendkurhaus Prasura, Kinder auf der Liegeterrasse mit Glas-
Sauze d’Oulx, 1937, Archivio storico Fiat.
bausteingeländer, 1928, Heimatmuseum und Kulturarchiv Arosa.
116 Anonyme zeitgenössische Illustration von Émile ou De L'Education
136 Hannes Meyer, Kinderheim Mümliswil, Rundbau von der Südseite
von Jean-Jacques Rousseau, der Lehrer lässt seinen Schüler entdecken
aus gesehen, 1939, Gta-Archiv/ETH Zürich, Stadtarchiv Zürich, Inv.-Nr.:
und erkennen und lehrt ihm, der Natur zu folgen, n.d, WmC.
VII.271, © Michael Wolgensinger.
119 Kinderkolonie der SNCF in Méribel-les-Alloués, um 1956.
137 ^ Hannes Meyer, Kinderheim Mümliswil, Rundbau des Gemein-
121 Diagramm des Sonnenverlaufs in Arosa, ‹Prasura, Sonnenbahn im
schaftsraums mit kreisförmigem Tisch, 1939, in: Das Werk, Bd. 40, 1953,
Winter›, n.d., Heimatmuseum und Kulturarchiv Arosa.
Heft 7, 216, © Michael Wolgensinger.
122 ^ Adolf Loos (1870–1933), um 1920, ÖNB, Inv.-Nr.: NB 524.972-B.
137 v Hannes Meyer, diagrammatischer Plan des Kinderheims
122 v Eugenie Schwarzwald (1878–1940), 1923, Foto: Atelier
Mümliswil, mit Blickachsen und Aussichtsmotiven, 1937, Gta-
D’Ora-Benda, ÖNB, Inv.-Nr.: 204.456-D.
Archiv/ETH Zürich.
124 ^ Kinder der italienischen Jugendorganisation Balilla bei einer
138 < Vittorio Bonadé Bottino, Westseite der Colonia montana Tina
Begrüßungszeremonie anlässlich eines Staatsbesuchs, n. d., Archivio
Nasi Agnelli, Sauze d’Oulx, 1937, Archivio storico Fiat, Inv.-Nr.:
storico Fiat.
ASF114ATP1
124 v Kinder der Balilla vor dem Turm der Kinderferienkolonie von Fiat
138 > Atrium des Turms der Colonia montana Tina Nasi Agnelli, mit
in Marina di Massa, n. d., Archivio storico Fiat.
spiralförmiger Rampenanlage und salutierenden Kindern, 1938,
125 ^ Kinder beim didaktischen Lernen in einer Montessori-Schule,
Archivio storico Fiat.
n.d., montessoricentenary.org.
139 ^ Vittorio Bonadé Bottino, Grundriss Rampengeschoss Colonia
125 v Gymnastikübung einer italienischen Ferienkolonie, Kinder als
montana Tina Nasi Agnelli, mit 64 Betten pro Geschoss, 1937, in:
Teil einer ornamentalen Masse, n. d., in: ‹Cities of Childhood›, AA,
Domus Nr. 659, März 1985.
1988.
139 v Schlafsaal der Colonia Tina Nasi Agnelli, bestehend aus einer
126 Bonadé Bottino, Colonia montana Tina Nasi Agnelli, Türe zum
achtgeschossigen Rampe mit niedrigen Abtrennungen, 1937, Archivio
Speisesaal mit Mussolinis Inschrift: ‹Credere, obbedire, combattere›
storico Fiat, Inv.-Nr-: ASF114ATP1.
(Glauben, gehorchen, kämpfen), Archivio storico Fiat, Inv.-Nr.: ASF 114
140 ^ Gino Levi-Montalcini, Eingangsseite (Südseite) der Kinderferien-
AT P1.
kolonie Colonia montana IX Maggio in Bardonecchia, 1937, Archivio
127 Plinio Codognato, ‹Fiat – Pneumatici Pirelli›, Werbeplakat für das
Politechnico di Torino.
Automobil ‹508 Balilla›, 1932, 400 x 280 cm, Archivio storico Fiat.
140 v Schlaftrakt der Colonia montana IX Maggio mit Balkonen, Blick
129 ^ Kinder sitzen auf der Brüstung der Terrasse des Kinderheims
gegen den Turm, 1937, Archivio Politechnico di Torino.
Ehlert von Lois Welzenbacher, Vorderhindelang, 1933, aus einer Bro-
141 Gino Levi-Montalcini, perspektische Skizze der Colonia montana
schüre des Kinderheims, Archiv für Baukunst, Innsbruck.
IX Maggio, 1937, Archivio Politechnico di Torino.
129 v Lois Welzenbacher, Entwurfsskizze für drei Erweiterungspavillons
141 v< Gino Levi-Montalcini, Erdgeschossgrundriss der Colonia
des Kinderheims Ehlert, Kohlezeichnung, 1934, Archiv für Baukunst,
montana IX Maggio, 1937, Archivio Politechnico di Torino, in:
Bildnachweis
208
Architettura Italiana, Juli 1937, S. 191.
kar, Nordkettenbahn, 1928, Zeichnung, Archiv für Baukunst,
141 v> Ostseite der Colonia montana IX Maggio mit Eckturm, der zum
Inv.-Nr.: 1-387-11. Grundriss Obergeschoss der Bergstation Hafelekar,
dreiseitig geschlossenen Hof einen vertikalen Akzent setzt, 1937, Archi-
Nordkettenbahn, 1928, Ausführungsplan, Archiv für Baukunst, Inv.-Nr.:
vio Politechnico di Torino.
1-387-2. Restaurant der Bergstation Hafelekar von Franz Baumann,
142 ^ Lois Welzenbacher, Kinderheim Ehlert, Westseite mit Holzlatten-
Nordkettenbahn, Innsbruck, n. d., Foto, Archiv für Baukunst, Inv.-Nr.: 1-
fassade, Vorderhindelang, 1933, Archiv für Baukunst, Inv.-Nr.: 20-2609-4.
387-70.
142 v Kinder bei Kreisspielen auf der Terrasse des Kinderheims Ehlert,
160 ^ Maurice Braillard, perspektivische Skizze der Bergstation Mont
1933, in: Broschüre des Kinderheims Ehlert, Archiv für Baukunst, Inv.-
Salève, 1931, Fondation Braillard.
Nr.: 20-2609-5.
160 v Grundriss – Maurice Braillard, Grundriss des Restaurants, Berg-
143 ^ Blick auf die halbrunde ostseitige Terrasse des Kinderheims
station Mont Salève, 1931, Fondation Braillard.
Ehlert, mit Flugdach, 1932, Archiv für Baukunst, Inv.-Nr.: 20-2609.
161 Bergstation Mont Salève zum Zeitpunkt der Eröffnung, ohne den
143 v< Gemeinschaftsraum mit schwellenlosem Übergang zur Ter-
hinteren Trakt, das Restaurant blieb unvollendet, 1932, Foto, Fondation
rasse, mit spielenden Kindern, 1933, Foto: Letzer, Archiv für Baukunst,
Braillard.
Inv.-Nr.: 20-2609-5.
162 Gio Ponti, Südseite Albergo Sportivo Paradiso del Cevedale, Val
143 v> Lois Welzenbacher, Kinderheim Ehlert, Grundriss Erdgeschoss
Martello, 1935, in: Domus Nr. 121, Januar 1938, 10.
und erstes Obergeschoss, 1931, in: Broschüre Kinderheim Ehlert, 1933,
163 ^ Gio Ponti, Leseraum mit Kamin, Albergo Sportivo Paradiso del
Archiv für Baukunst, Inv.-Nr.: 20-2609-7.
Cevedale, Val Martello, 1935, in: Edilizia moderna Nr. 27, April–Juni
146 Arnold Fanck, ‹Wunder des Schneeschuhs›, Szenenfoto, 1920,
1938, 16.
Foto: Matthias Fanck, Archiv Matthias Fanck.
163 v Gio Ponti, Bar im eleganten Trakt der Albergo Sportivo Paradiso
148 Carlo Mollino, beim Testen neuer Skifahrtechniken mit maximaler
del Cevedale, Val Martello, 1935, in: Edilizia moderna Nr. 27, April–Juni
Geschwindigkeit, hier mit Flugumhang für das Springen, 1939–1944,
1938, 16.
Archiv, Carlo Mollino, Politecnico di Torino, Inv.-Nr.: ACM.6.3.2.324.
164 < Gio Ponti, Grundrisszeichnung einer prototypischen Seilbahn-
149 Arnold Fanck, ‹Wunder des Schneeschuhs›, Szenenfoto, 1920,
station mit Hotel, 1941–1942, Archivio Gio Ponti, in: Moroder 1996.
Foto: Matthias Fanck, Archiv Matthias Fanck.
164 >^ Gio Ponti, prototypische Seilbahnstation mit Hotel: Mittelsta-
150 Arnold Fanck, ‹Der weiße Rausch›, 1931, Foto: Matthias Fanck,
tion zum Durchfahren mit Kreuzung, 1941–1942, Skizze, Archivio Gio
Deutsches Filminstitut.
Ponti, in: Bolzoni.
152 Carl Moos (CH, 1878–1959), Werbeplakat ‹St. Moritz – Engadin –
164 > Gio Ponti, Seilbahnstation Umsteigepunkt, Skizze, 1941–1942,
1856 m›, 1924, Auftraggeber: Verkehrsverein St. Moritz, Druckerei:
Archivio Gio Ponti, in: Bolzoni.
Gebrüder Fretz AG, Zürich, CH (1860–1980), Lithografie, 101 x 63,5 cm,
164 >v Gio Ponti, Seilbahnstation Endpunkt, Skizze, 1941–1942,
Museum f. Gestaltung, Inv.-Nr.: 83-2206.
Archivio Gio Ponti, in: Luciano Bolzoni, Architettura moderna nelle Alpi
154 ^ Franz Baumann, ‹Wettbewerb für die Gaststube Seegrube Mitte
italiane: das 1900 alla fine degli anni Cinquanta, Priuli & Verlucca, Ivrea
«Rundsicht»›, ein konvex gekrümmtes Hotel, Nordkettenbahn, 1928,
(TO), 2000.
Archiv f. Baukunst, Inv.-Nr.: 1-454-2.
165 ^ Carlo Mollino, ‹Schema del Cristiana d’appoggio›, Skizze von
154 v Franz Baumann, Entwurfsskizze für das konkav gekrümmte Berg-
seiner eigens entwickelten Skimethode mit Abfahrtsmuster, n.d.,
hotel Monte Pana (1930), St. Christina im Grödental, Südtirol, Aquarell,
(vor 1950), Archiv Carlo Mollino, Politecnico di Torino, Inv.-Nr.: ACM-
n.d., Foto, Archiv f. Baukunst, Inv.-Nr.: 1-359-3.
P9D. 99.38.
156 Luis Trenker, ‹Der verlorene Sohn›, 1934, Filmplakat, Plakatsamm-
165 v Carlo Mollino, Skizze der Seilbahnstation Plan Maison–Furggen,
lung Deutsche Kinemathek, Rechte: Stadtmuseum Bocholt.
Val d’Aosta, 1950, Archiv Carlo Mollino, Politecnico di Torino, Inv.-Nr.:
157 ^ Arnold Fanck, ‹Wunder des Schneeschuhs›, Szenenfoto, 1920,
ACM-P13C-9-21.
Foto: Matthias Fanck, Archiv Matthias Fanck.
166 ^ Alfons Walde, ‹Nackte vor der Almhütte 1›, Ölbild, um 1925,
157 v Arnold Fanck, ‹Wunder des Schneeschuhs›, Szenenfoto, 1920,
Courtesy Walde Verlag.
Foto: Matthias Fanck, Archiv Matthias Fanck.
166 v Alfons Walde, ‹Lacerta›, Aktfoto einer Skifahrerin, 1935, Courtesy
158 ^ Franz Baumann, Bergstation Hafelekar, Nordkettenbahn,
Walde Verlag.
Innsbruck, Südostseite, n. d., Foto, Archiv für Baukunst, Inv.-Nr.: 1-387-76.
167 ^ Foto von Charlotte Perriand mit Freunden bei einer Skitour, die
158 v Eingang zur Wartehalle der Bergstation Hafelekar, n. d., Foto,
Karte und die Berge studierend, 1930er Jahre, Archiv Charlotte Perriand.
Archiv für Baukunst, Inv.-Nr.: 1-387-67.
167 v Pierre Jeanneret (vermutl.), Foto von Charlotte Perriand bei einer
159 von links oben nach rechts unten: Franz Baumann, Südostansicht
Skitour, das Bergpanorama betrachtend, 1930er Jahre, Archiv Charlotte
der Bergstation Hafelekar, Nordkettenbahn, 1928, Zeichnung, Archiv
Perriand.
für Baukunst, Inv.-Nr.: 1-387-10. Südwestansicht der Bergstation Hafele-
168 ^ Foto von Charlotte Perriand, Pierre Jeanneret und André Tournon
209
Bildnachweis
in ihrem selbst gebauten Biwak ‹refuge Bivouac›, um 1937, Archiv
Zeichnung, Special Collections Research Center at Syracuse University
Charlotte Perriand.
Libraries, Inv.-Nr.: TB-001_013.
168 v Charlotte Perriand, Schnittzeichnung des tonnenförmigen Biwaks
193 ^ Candilis, Perriand, Prouvé, Woods, Josic, Piot, Suzuki, Modell-
‹refuge tonneau›, 1938, Archiv Charlotte Perriand.
foto vom Wettbewerbsprojekt der Skistadt Belleville, 1962, Archiv
169 Charlotte Perriand, Modellfotos der sukzessiven Montage des
Charlotte Perriand.
tonnenförmigen Biwaks ‹refuge Tonneau›, 1938, Archiv Charlotte
193 v Candilis, Perriand, Prouvé, Woods, Josic, Piot, Suzuki, perspekti-
Perriand.
vische Skizze der Skistadt Belleville, 1962, Archiv Charlotte Perriand.
169 >v Charlotte Perriand, Modellfoto des komplett montierten
194 ^ Charlotte Perriand und Guy Rey-Millet, Nordfassade von La
tonnenförmigen Biwaks ‹refuge Tonneau›, 1938.
Cascade, Les Arcs 1600, 1968–1969, Archiv Charlotte Perriand.
170 Werner Tscholl, ‹Fernrohr›, Timmelsjoch – die Erfahrung, 2009,
194 v< Innenraum einer Wohneinheit von La Cascade, 1968–1969.
© Alexa Rainer.
194 v> Charlotte Perriand, Guy Rey-Millet, Grundrisszeichnung einer
171 Werner Tscholl, ‹Passmuseum›, Timmelsjoch – die Erfahrung,
Wohneinheit von La Cascade, Les Arcs 1600, 1968, Archiv Charlotte
2009, © Alexa Rainer.
Perriand.
172 ^ Zaha Hadid, Modellfoto der Sprungschanze auf dem Bergisel,
195 ^ Charlotte Perriand, Roger Godino und Gaston Regairaz, vor der
2000, © Atelier Zaha Hadid.
Station Les Arcs 1600, 1990, Foto: Pernette Perriand-Barsac, Archiv
172 v Zaha Hadid, Sprungschanze auf dem Bergisel, 2002, © Helene
Charlotte Perriand.
Binet.
195 v Südfassade ‹La Cascade›, das schräg geneigte Gebäude folgt
174 Marcel Breuer, Hôtel Le Flaine, über die Felskante auskragend,
dem abfallenden Gelände, Charlotte Perriand, Guy Rey-Millet, Les Arcs
Arâches-la-Frasse, Haute-Savoie, 1969, in: Techniques et Architecture,
1600, 1968–1969, Foto, Archiv Charlotte Perriand.
1969, n° 4.
196 ^ Das Dach des Apartmenthauses La Nova beginnt ebenerdig
176 Giuseppe Riccobaldi Del Bava, Fiat-Werbeplakat mit spiralförmi-
und bietet eine Art Freitreppe zum Himmel, 1977–1981, Foto: Sebas-
ger Rampe und dem Auto Fiat Balilla, 1928, Archivio storico Fiat.
tien Duport, Ensa-Versailles.
177 Zeitschriften-Annonce Fiat, ‹La 1500 invita al Sestriere›, im Hinter-
196 v Das Apartmenthaus La Nova schwingt sich mit einer Kurve aus
grund links die Turmhotels von Sestrière, um 1936, Archivio storico Fiat,
dem Hang heraus und endet mit zehn Geschossen, 1977–1981, Foto,
Inv.-Nr. ASF-SPS 12468-289.
Archiv Charlotte Perriand.
178 Foto von Flaine Forum, dem großen Platz der Skistation Flaine
197 von oben: Jean Prouvé, Entwurf für das Hotel Les Arcs 2000,
von Marcel Breuer, um 1960, Centre culturel de Flaine.
Perspektivische Zeichnung, 1970, Archiv Bibliothèque Kandinsky, in:
181 Foto eines runden, offenen Kamins aus Beton im ‹Hôtel Le Flaine›,
Peter Sulzer, Jean Prouvé, Œuvre complète/Complete Works, Vol. 4,
von Marcel Breuer designt, um 1970, Centre culturel de Flaine.
2008. Jean Prouvé, Entwurf für das Hotel Les Arcs 2000, Schnittzeich-
182 Charlotte Perriand und Gaston Regairaz, Südseite der Ferien-
nung, 1970, Archiv Bibliothèque Kandinsky, RNM Prouvé Inv.-Nr.: 11-
wohnanlage Versant Sud, Les Arcs 1600, 1969–1974, Archiv Charlotte
549287.
Perriand.
Atelier Jean Prouvé, Modell Hotel Les Arcs 2000, 1970, Collection cen-
184 Domenig Architekten, Rocks-Resort Laax, Graubünden, Schweiz,
tre Pompidou, Foto: © Susanne Stacher.
2007–2010.
198 ^ Ross Lovegrove, Alpine Capsule auf dem Piz La Ila, Alta Badia,
186 Clemens Holzmeister, Hotel Hotel Drei Zinnen, Sexten, Südtirol
Rendering, 2008, © Ross Lovegrove Studio
(1926), 1929-1934, © Chistoph Hölz
198 v Konstruktionsschema der ‹Alpine Capsule›, 2008,
188 Le Corbusier, Projekt für eine Ski-Stadt in Vars, publ. in: La Maison
© Ross Lovegrove Studio
des Hommes, Juli 1942, Fondation Le Corbusier.
199 von links oben nach rechts unten: Ross Lovegrove, Innenraum der
189 Le Corbusier, schattierter Grundrissplan ‹Einrichtung einer Winter-
Alpine Capsule mit einer embryoartig liegenden nackten Frau,
sport- und Sommerstation› (Aménagement station de sport d’hiver et
Rendering, 2008. Eine organische Innenlandschaft mit erhöhtem Bett
d’été, Vars), Frankreich, 1939, Fondation Le Corbusier.
und versenktem Badebereich, Rendering, 2008. Schnittzeichnung der
190 < Marcel Breuer, Flaine Forum, um 1970, Archiv Arâches.
Alpine Capsule, 2008. Rendering der Alpine Capsule mit Ross Love-
190 > Marcel Breuer, Blick auf die Wintersportstation Flaine in den
grove, ganz in Weiß, und seinem Bauherrn, der die Kapsel berührt,
1970er Jahren, Archiv Arâches.
2008. Modell aus unterschiedlichen Perspektiven, 2008, © Ross Love-
191 Marcel Breuer, Flaine Forum, um 1970, Archives G. Chervaz.
grove Studio
192 ^ Marcel Breuer, perspektivischer Gebäudeschnitt Flaine Forum, 1960. 192 v Marcel Breuer, Ansicht der Station Flaine im Gelände,
Bildnachweis
210
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Price, Uvedale - Seite 34, 35, 36, 37, 197, 203.
Megève - Seite 120, 133, 134, 152, 177.
Fahrenkamp, Emil - Seite 90, 98.
Prouvé, Jean - Seite 182, 193, 197.
Mont Blanc - Seite 14, 29, 30, 34, 39, 50, 93,
Fanck, Arnold - Seite 63, 72, 93, 157.
Regairaz, Gaston - Seite 195, 196.
104, 120, 190.
Fechner, Gustav Theodor - Seite 57.
Rey-Millet, Guy - Seite 181, 194.
Mont Salève - Seite 153, 155, 160, 161.
Foucault, Michel - Seite 40, 128.
Riefenstahl, Leni - Seite 63, 72, 74, 157.
Monte Rosa - Seite 51, 65, 77.
Fuller, R. Buckminster - Seite 64, 75, 76.
Rocco, Alfons - Seite 135.
Monte Verità - Seite 8, 9, 16, 87, 88, 89, 90, 96,
Gaberel, Rudolf - Seite 91, 102, 103, 122.
Rousseau, Jean-Jacques - Seite 13, 14, 15, 42,
98, 201.
Garstenauer, Gerhard - Seite 64, 76.
81, 82, 86, 90, 115, 116, 117, 118, 120, 121, 123,
Mümliswil - Seite 122, 128, 136.
Giedion, Siegfried - Seite 95, 204.
124, 125, 154, 178, 203.
Paris - Seite 37, 42, 47, 48, 49, 70, 92, 99, 110,
Godino, Roger - Seite 180, 181, 182, 197.
Saussure, Horace Bénédict de - Seite 14, 29,
111, 117, 118, 119, 132, 148, 177, 188.
Goethe, Wolfgang von - Seite 66, 150, 203.
30, 31, 32.
Piz La Ila - Seite 65, 184, 198.
Hablik, Wenzel - Seite 61, 62, 63.
Scheerbart, Paul - Seite 59, 60, 61, 66, 67, 68.
Plateau d’Assy - Seite 92, 104, 106, 120.
Hadid, Zaha - Seite 156, 172.
Schiller, Friedrich von - Seite 34, 56.
Haeckel, Ernst - Seite 62, 63.
Schopenhauer, Arthur - Seite 44, 57, 61, 82,
Saint-Gervais - Seite 120, 168.
Hagenauer, Wolfgang - Seite 44.
83, 84, 203.
Haller, Albrecht von - Seite 116, 121, 122, 154.
Schwarzwald, Eugénie - Seite 123, 132.
Hofmann, Ida - Seite 88, 89, 94, 98.
Segantini, Giovanni - Seite 37, 49.
Holzmeister, Clemens - Seite 176, 186, 187.
Semper, Gottfried - Seite 55, 58, 59, 64, 184.
Kant, Immanuel - Seite 11, 32, 33, 34, 56, 57,
Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, 3rd Earl
58, 147, 155, 175, 183, 184, 185, 204.
of - Seite 14, 24, 26, 27, 28, 31, 41, 81, 84, 149,
Kracauer, Siegfried - Seite 38, 40, 72, 73, 74,
156, 202.
150, 151, 157.
Šik, Miroslav - Seite 184.
Laban, Rudolf von - Seite 63, 70, 71, 89, 90, 96,
Taut, Bruno - Seite 16, 59, 60, 61, 62, 63, 66,
97.
68, 69, 75, 76, 175, 201.
Le Corbusier - Seite 99, 167, 177, 178, 180,
Trenker, Luis - Seite 155, 156.
188, 189, 190.
Tscholl, Werner - Seite 156, 170, 171.
Le Même, Henry Jacques - Seite 92, 104, 105,
Twain, Mark - Seite 39, 150.
106, 120, 133, 134.
Walde, Alfons - Seite 154, 166, 167.
Levi-Montalcini, Gino - Seite 127, 140.
Welzenbacher, Lois - Seite 128, 142.
Licht, Jakob - Seite 135.
Werfel, Franz - Seite 151.
Lipps, Theodor - Seite 57, 58.
Worringer, Wilhelm - Seite 58, 61, 64, 65, 203. Zumthor, Peter - Seite 93, 112.
221
Register
Sauze d’Oulx - Seite 16, 138. Semmering - Seite 100, 101, 123, 132, 152. Sestriere - Seite 138, 176. Sexten - Seite 176, 186, 187. Sondalo - Seite 91, 108. Sportgastein - Seite 64, 76. Timmelsjoch - Seite 156, 170. Val d’Aosta - Seite 165. Val Martello - Seite 162, 163. Vallée de Belleville - Seite 193, 195. Vals - Seite 93, 112. Vars - Seite 178, 188, 189. Villard-de-Lans - Seite 120. Vorderhindelang - Seite 128. Wien - Seite 6, 87, 123.
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Dank Ich möchte mich bei der Universität für angewandte Kunst Wien
sehr geschätzte Lektorin Anna Mirfattahi hat sich eingehend mit
bedanken für die Aufnahme meines Buches in die Reihe der Edition
dem Inhalt auseinandergesetzt und mir wertvolle Anregungen
Angewandte und für die großzügige Finanzierung dieses Projekts,
gegeben; Esther Pirchner hat sehr engagiert mitgeholfen, das Buch
insbesondere bei Rektor Gerald Bast und Anja Seipenbusch, die mich
fertigzu-stellen. Auch bei den französischen und englischen
bei der Umsetzung begleitet hat. Auch beim Birkhäuser Verlag möchte
Übersetzern (Aurélie Duthoo, Camilla Nielsen, Brian Dorsey, Abigail
ich mich herzlich bedanken, insbesondere bei Angela Fössl für ihre
Prohaska, Roderick O’Donovan) und Korrektoren (François Mortier,
engagierte Begleitung.
Simon Cowper und Nadjeschda Morawec und ) möchte ich mich
Mein Dank geht auch an die École nationale supérieure d’architecture
herzlich bedanken, denn durch ihre feinfühlige Arbeit und unentwegte
de Versailles, insbesondre an Direktor Jean-Christophe Quinton und
Ausdauer durfte ich mein Werk in anderen Sprachen nochmals neu
Catherine Bruant, Direktorin des Forschungslabors LéaV, an das
erleben, wodurch sich mir ganz andere Denkräume eröffnet haben;
Centre national du livre, das Ministère de la Culture und an Amaldi
denn eine Sprache ist schließlich weit mehr als bloß eine Sprache.
Neder Architectes, die mit vereinten Kräften die französische Ausgabe dieses Buches mitfinanziert haben.
Ich möchte mich auch herzlich bei denjenigen Institutionen und Privat-
Matthias Boeckl, der meine Dissertation begleitet hat, konnte mir mit
personen bedanken, die uns großzügigerweise Bilder kostenlos bzw.
gezielten Fragen helfen, Themen auf den Punkt zu bringen und meine
ermäßigt zur Verfügung gestellt haben. Ohne sie wäre die Publikation
Gedanken zu strukturieren. Philippe Potié, mein zweiter Doktorvater,
des Buches in dieser Form nicht möglich gewesen.
konnte in seiner ruhigen, aber perseverierenden Art mich zu theoretischen Fragestellungen bewegen. Paolo Amaldi unterstützte mich mit
Zuletzt möchte ich mich auch bei meiner Familie bedanken, insbeson-
klaren Fragen und hilfreichen Referenzen aus seinem umfangreichen
dere bei meiner Mutter Gerda Lettner, die als Historikerin wertvolle
Wissen. Ich danke ihnen von Herzen, sie ließen mich wachsen.
Anregungen einbrachte, bei meinem Mann Guy Conand und meinen
Den Personen, die mich bei der Erstellung dieses Buches begleitet
lieben Kindern Floris und Raphaël, die mit viel Geduld meine jahre-
haben, ist ebenfalls tiefer Dank ausgesprochen. Es war mir eine große
lange Arbeit ausgestanden haben und mich auf sämtlichen Alpen-
Freude, mit solch einem engagierten Team zu arbeiten. Ich danke
reisen und Architekturbesuchen begleiten – und sich dabei wohl viel
Katharina Erich für die wunderbare grafische Gestaltung und ihre
zu viele Gebäude ansehen mussten; denn eines wissen sie nun:
kreative Auseinandersetzung mit der Struktur dieses Buches. Meine
Architekten werden sie nie!
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