Film | Architektur: Perspektiven des Kinos auf den Raum 9783035614343, 9783035614374

Eine komplexe, inspirierende Beziehung „Ich bin das Kino-Auge. Ich bin ein Baumeister", schrieb der Filmregisseur

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German Pages 192 [250] Year 2017

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Film | Architektur: Perspektiven des Kinos auf den Raum
 9783035614343, 9783035614374

Table of contents :
Inhalt
Film / Architektur. Eine Einführung
I. Unsichere Fundamente: Zum (Un-)Verhältnis von Film und Architektur
Unerfüllte Sehnsucht. Über das bewegte Bild in Film und Architektur
Zwischenraum, Leib, Chronotopos. Das Erscheinen von Zeit auf der Treppe des Films
Verkörperte Zuschauerschaft: Zu Sergej Eisensteins Theorie architektonischer Montage
Die Straße runter – oben bleiben
Mit Viollet-le-Duc ins Kino: Über das Restaurative im Verhältnis von Architektur und Film
Prekäre Schauplätze: Der Film als das Unheimliche der Architektur
II. On Location: Schauplätze einer Architektur des Films
Ausstieg Frankfurt
Architektur und Film bei Pasolini und Godard: Ein metaphorisches Bordell!
„This Is Some Spooky Shit We Got Here“: Seltsame Topo/Logiken in David Lynchs Lost Highway
Stereovision. Raumformen des 3-D-Kinos von Sergej Eisenstein bis Jean-Luc Godard
In der Stadt der bewegten Bilder. Der öffentliche Raum als Kino der Attraktionen
Autoren
Nachweise der eingeschobenen Zitate

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Bauwelt Fundamente 160

Herausgegeben von Elisabeth Blum Jesko Fezer Günther Fischer Angelika Schnell

Johannes Binotto (Hg.) Film | Architektur Perspektiven des Kinos auf den Raum Mit Zeichnungen von Yves Netzhammer

Bauverlag

Birkhäuser

Gütersloh · Berlin

Basel

Die Reihe Bauwelt Fundamente wurde von Ulrich

Dieses Buch ist auch als E-Book (978-3-0356-1434-3)

­Conrads 1963 gegründet und seit Anfang der 1980er-

und E-PUB (ISBN 978-3-0356-1431-2) ­erschienen.

Jahre gemeinsam mit Peter Neitzke herausgegeben. Verantwortliche Herausgeberin für diesen Band:

Der Vertrieb über den Buchhandel erfolgt ausschließlich

Elisabeth Blum

über den Birkhäuser Verlag.

Gestaltung der Reihe seit 2017: Matthias Görlich © 2017 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel, Postfach 44, Vordere Umschlagseite: Fotografie, Johannes Binotto

4009 Basel, Schweiz, ein Unternehmen von Walter de

Hintere Umschlagseite: Collage, Johannes Binotto

Gruyter GmbH, Berlin/Boston;

[unter Verwendung von Screenshots aus Dziga Vertovs

und Bauverlag BV GmbH, Gütersloh, Berlin

Film „Mann mit der Kamera“ (1929)] Library of Congress Cataloging-in-Publication data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei Bibliografische Information der Deutschen Nationalbib-

gebleichtem Zellstoff. TCF ∞

liothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publi-

Printed in Germany

kation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte

ISBN 978-3-0356-1437-4

bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar.

9 8 7 6 5 4 3 2 1 www.birkhauser.com

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Inhalt

Film | Architektur. Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Johannes Binotto

I Unsichere Fundamente: Zum (Un-)Verhältnis von Film und Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Unerfüllte Sehnsucht. Über das bewegte Bild in Film und Architektur . . . . . . . . 30 Marcel Bächtiger Zwischenraum, Leib, Chronotopos. Das Erscheinen von Zeit auf der Treppe des Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Ulrike Kuch Verkörperte Zuschauerschaft: Zu Sergej Eisensteins Theorie architektonischer Montage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Martino Stierli Die Straße runter – oben bleiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Christoph Eggersglüß Mit Viollet-le-Duc ins Kino: Über das Restaurative im Verhältnis von Architektur und Film . . . . . . . . . . . . . . . 108 Vinzenz Hediger Prekäre Schauplätze: Der Film als das Unheimliche der Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Johannes Binotto

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II  On Location: Schauplätze einer Architektur des Films . . . . . . . . 149 Ausstieg Frankfurt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Rembert Hüser Architektur und Film bei Pasolini und Godard: Ein metaphorisches Bordell! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Andri Gerber „This Is Some Spooky Shit We Got Here“: Seltsame Topo|Logiken in David Lynchs Lost Highway . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Bernd Herzogenrath Stereovision. Raumformen des 3-D-Kinos von Sergej Eisenstein bis Jean-Luc Godard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Matthias Wittmann In der Stadt der bewegten Bilder. Der öffentliche Raum als Kino der Attraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Fred Truniger Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Nachweise zu den Zwischenzitaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

Die Bilder zwischen den Beiträgen stammen von Yves Netzhammer.

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„Es   gibt Bilder, weil es Wände gibt.“ Georges Perec

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Film | Architektur. Eine Einführung Johannes Binotto

Am Anfang ist ein Strich. „[…] eine einigermaßen horizontale Linie wird auf das weiße Blatt gesetzt, schwärzt den jungfräulichen Raum ein, gibt ihm einen Sinn, vektorisiert ihn: von links nach rechts, von oben nach unten. Vorher gab es nichts oder fast nichts, danach gibt es nichts Besonderes, ein paar Zeichen, die aber ausreichen, damit es ein Oben und ein Unten gibt, einen Anfang und ein Ende, eine Rechte und eine Linke, eine Vorderseite und Rückseite.“1 So beginnt Georges Perec sein Buch Träume von Räumen und beschreibt mit diesem Anfang seines Textes auch den Anfang von Architektur. Denn die wohl erste architektonische Geste war es, eine Linie durch den Raum zu ziehen, um damit diesen in Zonen zu teilen. Erst, wo solch eine Unterscheidung den Raum spaltet, lässt sich überhaupt von einem Hier und einem Dort sprechen. Was die Linie markiert, ist denn auch, was danach die Wand, diese basalste architektonische Form, leistet: Indem man eine Wand errichtet, wird ein Innen von einem Außen, ein Davor von einem Dahinter überhaupt erst getrennt. Die Wand ordnet den Raum, indem sie ihn teilt. Und doch kann es bei der Trennung allein nicht bleiben. Soll die Wand nicht zum schieren Kerker werden, müssen Öffnungen in sie eingefügt werden, so wie in E.T.A. Hoffmanns Erzählung vom verrückten Rat Krespel, der ein Haus baut, ganz ohne Türen und Fenster, danach aber lauter Löcher in die Mauern schlagen lässt.2 Die Wand, welche zwei Bereiche voneinander separiert, schafft gerade dadurch die Notwendigkeit eines Übergangs vom einen in den anderen. Mauern rufen alsbald auch Türen und Fenster auf den Plan. Wo Wand ist, wird Passage. Tatsächlich ist ja auch die Linie, welche den Raum in Zonen teilt, zwangsläufig der Ort, wo diese Zonen wieder aneinanderstoßen. Der trennende Strich entpuppt sich als Schnittstelle in der ganzen Paradoxie dieses Wortes: ebenso trennender Schnitt, wie offener Kanal. Der Strich ist demnach das, was man ein Medium nennt: etwas, das – wie es sein lateinischer 10

Name bereits sagt – in der Mitte, also zwischen zwei Positionen steht. Als dazwischen stehend ist das Medium Hindernis, Zäsur und zugleich doch Kontaktstelle, Ort der Vermittlung.3 In genau diesem Sinne wäre auch der Strich im Titel dieses Buches zu verstehen: als zugleich Trennungs- und Verbindungslinie. Unter dem Titel „Film | Architektur“ soll auf jenen Strich eingegangen werden, der das komplexe, mediale (Un-)Verhältnis zwischen Film und Architektur markiert: um in einem Zug sowohl die Zäsuren aufzuzeigen, wie auch die Verbindungen, über die sich Film und Architektur gegenseitig austauschen und aus dem Lot bringen. Dass es für den Film keinen Weg an der Architektur vorbei gibt, ist offensichtlich: Wo gefilmt wird, fängt die Kamera unweigerlich auch jene architektonisch gestalteten Räume ein, die sich vor ihrer Linse befinden, und sei es nur als Hintergrund. Doch begnügt das Kino sich nicht damit, den gegebenen Raum nur abzubilden, sondern baut diesen im Akt der medialen Übertragung sogleich um, erweitert und begrenzt ihn, zerschneidet ihn und setzt ihn neu zusammen. Architektur ist somit nicht einfach ein mögliches filmisches Sujet unter anderen, sondern betrifft den Film bereits in seinen basalen Verfahrensweisen. Dank filmischer Mittel wie Kameraperspektive, Bildausschnitt, Montage, Farbgebung oder Sounddesign werden neue Räume kreiert, die sich zwar an vorhandene Architekturen anlehnen mögen, aber niemals deckungsgleich mit diesen sein können. Der Kritiker und Regisseur Eric Rohmer hat denn auch den Film dezidiert als „Kunst der Raumorganisation“ bestimmt und zu diesem Zweck zwischen drei Formen differenziert, in denen sich Raum im Film manifestiert: Rohmer unterscheidet zwischen 1) einem espace pictural – also dem Raum des auf die Leinwand projizierten Bildes, 2) einem espace architectural – dem gefilmten architektonischen Raum mit seinen tatsächlichen Bauten, seien dies nun ­eigens für den Dreh hergestellte Sets oder bereits vorhandene Gebäude, und schließlich 3) einem espace filmique – jener virtuelle filmische Raum, der sich erst in der Wahrnehmung der Zuschauer aufgrund der gesehenen Bilder zusammensetzt.4 So hilfreich eine derartige Unterscheidung auch sein mag, erleben wir als ­Zuschauer indes, wie unauf lösbar verschränkt die drei von Rohmer 11

beschriebenen Raum-Formen sind: So wissen wir im Kino vom espace architectural nämlich nur, was uns der espace pictural davon zeigt, wobei in diesem „Zeigen“ freilich auch das mitgemeint ist, wovon der Film zwar kein Bild liefert, es aber als Abwesendes, als Off außerhalb des Bildrahmens spürbar macht. Die angeblich „objektive Existenz“ des espace architectural, der, laut Rohmer über eine „Realität [verfügt], mit der sich der Filmemacher beim Dreh misst, um sie zu verfälschen oder getreu wiederzugeben“5, ist, genau besehen, selber etwas, über das man nur vermittelt – mithilfe dessen, was uns davon gezeigt wird – spekulieren kann. Mithin ist auch die angeblich konkrete Erfahrung einer Architektur niemals objektiv, sondern immer nur phänomenologisch. Auch wenn wir durch ein tatsächliches Bauwerk spazieren, erleben wir dieses niemals als Bauwerk an sich, sondern immer nur so, wie es für uns erscheint,6 nur in Form fragmentierter, eigener Wahrnehmungen, die dann zu einem virtuellen Ganzen zusammengefügt werden müssen. Oder anders formuliert: Auch was man für eine konkrete Erfahrung eines architektonischen Raums hält, erlebt man eigentlich als einen erst im eigenen Kopf sich zusammenfügenden espace filmique. Über die Bauten des Films hat Frieda Grafe geschrieben: „Die neuen Räume, ohne Grundriss, setzen sich in Einstellungen zusammen und definieren sich über Zeit.“7 Dasselbe ließe sich aber auch über die Erfahrung realer Architektur sagen: Auch ein tatsächliches Gebäude wird nicht auf einen Blick, sondern über Zeit und in Form von Einzelheiten erfasst. So hält auch die Filmtheoretikerin Gertrud Koch fest: „Von emphatischer Architektur ließe sich sagen, dass sie dem Film darin ähnelt, dass ihre Werke sich erst im Betrachter strukturieren. Die architektonische Gesamtheit eines Gebäudes erschließt sich erst durch die verschiedenen perspektivischen Ansichten, die sich der Betrachter davon macht.“8 So können über die vermittelnde Schnittlinie zwischen Film | Architektur auch diese beiden hier zusammenstoßenden Phänomene plötzlich ihre Plätze tauschen: Nicht nur, dass Film als Kunst der Raumorganisation architektonisch verfährt, auch Architektur wird ihrerseits in einer Art filmischer Dynamik erlebt. Das soll jedoch nicht heißen, dass Film und Architektur damit schlicht austauschbar würden. Im Gegenteil sollen gerade die unterschiedlichen Mög12

lichkeiten von Film und Architektur fruchtbar gemacht werden, zur besseren gegenseitigen Bestimmung. Michel Foucault zufolge ist das Kino ein prominentes Beispiel dessen, was er „Heterotopien“ nennt – „wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen.“9 In diesem Sinne wären auch die Räume des Films als Heterotopien der Architektur zu sehen, in denen diese sich zugleich repräsentiert, aber auch umgewendet, weiter- und umgebaut findet. In der Heterotopie des Films erfüllt sich, was für die Architektur utopisch bleiben muss: Gesetze der Statik etwa oder die Regeln der euklidischen Geometrie, denen sich Architekten und Architektinnen unterworfen sehen, kann der Film mühelos überwinden. Dafür aber muss das Kino auf die Plastizität realer Architektur verzichten, ebenso wie auf die Möglichkeit, sich nicht nur mit den Augen, sondern mit dem ganzen Körper in den Räumen bewegen zu können. So gesehen, wäre umgekehrt auch die Architektur als Heterotopie des Films zu lesen, in der sich tatsächlich verwirklicht, was der Film sich nur hatte einbilden können. Diesem Verhältnis zwischen Film und Architektur als gegenseitiger Heterotopie wollen die folgenden Beiträge aus verschiedener Perspektive nachgehen. Somit soll hier denn auch weniger nach dem bloßen Auftritt von Architektur im Film gefragt werden.10 Die in diesem Band diskutierten Filme sind nicht „Architekturfilme“, deren Aufgabe darin besteht, Bauwerke möglichst „adäquat“ zu dokumentieren. Indes ist dies oft die Haltung, die Vertreter und Vertreterinnen der Architektur gegenüber dem Film einnehmen, indem sie diesen als bloßes Mittel zur Repräsentation ihrer Werke verkennen. Spricht man von ­A rchitektur im Film, so ist damit bereits eine Hierarchisierung impliziert, welche das eine als Hauptsache und das andere als nur dessen mögliche Darstellungsform aufzufassen droht. Die Architektur wird dann zum Inhalt erklärt, während der Film nur Vehikel sein soll, das diesen Inhalt zu sehen gibt. Eben diese Vorstellung will der vorliegende Band unterlaufen. Publiziert in einer Buchreihe, die ihren Fokus dezidiert auf die Bereiche der Architektur 13

und des Urbanismus legt, ist dieser Band darum durchaus auch als Provokation an deren Adresse zu verstehen, eben diese Vorrangstellung der Architektur im Vergleich zum Film infrage zu stellen. Statt Architektur im Film, will dieser Band vielmehr Film als Architektur untersuchen, will also aufzeigen, wie der Film als Medium selbst architektonisch verfährt, aber auch umgekehrt, wie Architektur als Film gedacht werden kann. Welches Wissen hat das Kino über die Architektur, was diese selbst nicht hat und nicht haben kann? Inwiefern durchkreuzt, kritisiert oder akzentuiert der Film unweigerlich die Vorstellungen der Architektur und des Städtebaus, um stattdessen ganz ­eigene Formen der Raumgestaltung zu versuchen? Und was ist wiederum für die Architektur und den Städtebau aus den Räumen des Films zu lernen? Dabei ist es nicht die Absicht, eine homogene Theorie des filmischen Raums zu entfalten, wie dies andernorts auf ganz unterschiedliche Weise bereits geleistet wurde.11 Auch ist dieser Band kein Handbuch, das in einer Serie von Überblickstexten den langen Dialog zwischen Film und Architektur aufzurollen versucht. Beides würde der grundlegenden These dieses Bandes widersprechen, der zufolge das Verhältnis zwischen Film und Architektur kein eindeutiges ist, sondern ein dynamisch widersprüchliches, unabgeschlossenes. Ebenso wurde bewusst darauf verzichtet, klassische Grundlagentexte zum Raum im Film mit in diesen Band aufzunehmen. Während einige von ihnen (zumindest in Auszügen) in den verdienstreichen neueren Textsammlungen zur Theorie des Raums zu finden sind,12 bleibt eine solche Sammlung von klassischen Texten zum Raum des Films ein Desiderat. Stattdessen stellt dieser Band den ungleich bescheideneren Versuch dar, verschiedene aktuelle und durchaus divergente Positionen zur problematischen Schnittstelle von Film und Architektur zu präsentieren – nicht um diese Schnittstelle zu schließen, sondern um sie noch weiter aufzureißen. Nicht ­zuletzt geht es darum, in die vonseiten der Film- und Medienwissenschaften ­a ktuell durchaus intensiv geführte Diskussion des filmischen Raums13 auch die Disziplinen der Architektur und des Städtebaus noch stärker zu invol­ vieren. Dies scheint umso notwendiger, als (post-)kinematografische Bewegtbilder mehr denn je Bestandteil des öffentlichen Raumes sind. So müsste man denn auch statt von der Architektur im Film heute vermehrt vom Film in der 14

Architektur sprechen: Werbebildschirme und Anzeigetafeln, aber vor allem die mobilen Displays, die wir alle mit uns herumtragen, durchsetzen mit ihren Clips heute schon jedes Bauwerk. Vilém Flusser hat bereits Anfang der 1990erJahre darauf hingewiesen, dass die Proliferation von Medien auch eine Perforation des Raums bedeutet und daraus abgeleitet: „Das zwingt die künftigen Raumgestalter […], nicht mehr über Dinge wie Mauern, Fenster und Türen, und auch nicht über Straßen, Plätze und Tore, sondern eher über Dinge wie Kabel, Netze und Information nachzudenken.“14 Flussers Aufforderung an die Adresse der Architektinnen und Urbanisten stellt sich heute nur noch nachdrücklicher, da nicht mal mehr via Kabel, sondern über Strahlen und Wellen direkt in jedes Zimmer gesendet wird. Tatsächlich ist es so, dass nicht etwa erst die hypermobilen digitalen Bewegtbilder der Gegenwart in die Architektur eingreifen. Vielmehr hat der Film immer schon, seit seiner Er­fi ndung am Ende des vorletzten Jahrhunderts, an unserem Lebensraum mit­gebaut und dessen Architekturen mit seinen eigenen, medialen Räumen erweitert. Angesichts der allgegenwärtig gewordenen Bewegtbilder wird nur offensichtlicher, was eigentlich immer schon Sache war: Um die Räume des Films kommt die Architektur nicht herum. Wie man, statt um sie herum zu kommen, sie sich im Gegenteil vor-nehmen könnte, will dieser Band skizzieren. In dessen erster, als „Unsichere Fundamente“ überschriebenen Sektion soll der Fokus auf einer (freilich nicht erschöpfenden) Liste von grundlegenden, theoretischen Begriffen liegen, die für den Film ebenso wie für die Architektur relevant sind und anhand derer sich das (Un)Verhältnis zwischen den beiden Disziplinen diskutieren ließe. Es sind dies die Begriffe der Bewegung, der Zeitlichkeit, der Montage, der Oberfläche, der Restauration und des Unheimlichen. Marcel Bächtiger geht in seinem Aufsatz auf die Bewegung als einem Phä­ nomen ein, das nicht für den Film, sondern auch für die Architektur der ­Moderne bestimmend ist: „So wie der Film anstelle eines einzelnen Bildes eine Sequenz von bewegten Bildern setzte, so befreite das Neue Bauen die Architektur aus der Starrheit der akademischen Zentralperspektive und verwandelte sie in eine fließende Folge räumlicher Ereignisse.“ Diese, freilich bekannte These zur Wahlverwandtschaft zwischen den bewegten Bildern des 15

Kinos und der bewegten Raum-Zeit, wie sie etwa Sigfried Giedion als Paradigma der Architektur beschrieben hat,15 wird indes sogleich einer Kritik ­u nterzogen, um die spezifisch unterschiedlichen Arten der Bewegung im Film bzw. in der Architektur herauszustellen: Denn wo der Film dem zuschauenden Auge die eigenen Bewegungen vorschreibt und aufzwingt, bewegen sich die Betrachtenden in Architekturen frei nach eigenen Interessen. Indes liegt vielleicht gerade darin, also nicht nur in der Bewegung an sich, sondern vielmehr im Vermögen, diese Bewegung exakt vorzuschreiben, eine unerfüllte Sehnsucht der Architektur genauso wie eine Limitiertheit des Mediums Film. Sind die motion pictures des Films durch ihre Bewegtheit definiert, ereignet sich diese zwangsläufig über Zeit. Die Mechanik des filmischen Mediums ist einerseits zeitbasiert – wie etwa in seiner Standardgeschwindigkeit von 24 Bildern pro Sekunde –, bildet aber zugleich eine Gegen-Zeit zur üblichen Chronologie. Wie es bei Friedrich Kittler heißt, ist der Film, „gerade weil er im Unterschied zu [anderen] Künsten in physikalischer Zeit arbeitet, [...] imstande, diese Zeit zu manipulieren“.16 Wie Ulrike Kuch in ihrem Essay ausführt, zeigt sich diese andere Zeitlichkeit des Films auch und gerade in Architekturen, insbesondere im Bauwerk der Treppe, welche über ihre Stufen nicht nur verschiedene Raumbereiche, sondern auch divergierende Zeitebenen vermittelt. So etwa in den Treppenszenen in Marc Forsters Film Stay (USA 2005) oder beim Auftritt der alternden Stummfilmdiva Norma Desmond auf der Treppe in Billy Wilders Sunset Blvd. (USA 1950). Auf den Treppen des Films läuft die Zeit anders. Im Wechsel von Stufe zu Stufe erscheint eine andere Chronologie. Damit aber wird wiederum der Film für die Architektur zu einem Labor, an dem sich die Möglichkeiten der Treppe als temporalem Zwischen-Raum, als Chronotopos erproben lassen. Geschieht die von Kittler beschriebene „Zeitachsenmanipulation“ im Kino nicht zuletzt über das Verfahren des Filmschnitts, welches erlaubt, mit nur einem Sprung nicht nur durch die Zeit, sondern auch von einem Ort zum ­a nderen zu springen, so ist diese Technik der Montage freilich nicht allein dem Film vorbehalten. Vielmehr hat das Kino vielleicht ausgerechnet von der Architektur gelernt, wie man schneidet. So beleuchtet Martino Stierli in sei16

ner ebenso medien- wie architekturhistorischen Untersuchung zum Dialog zwischen Filmtheorie und Architekturgeschichte die intensive Auseinandersetzung des Filmrevolutionärs und frühen Montage-Theoretikers Sergej Eisenstein mit der Montage in der Architektur. Die buchstäblich einschneidenden Lektionen, welche die Architektur für den Film bereithält, schlagen sich insbesondere in Eisensteins posthum erst veröffentlichtem und mithin noch immer kaum rezipiertem Essay „Montage and Architecture“ sowie in seinem unverwirklicht gebliebenen Filmprojekt „Glass House“ nieder. Und umgekehrt lässt sich zeigen, welchen Einfluss Eisensteins Forschung zur Montage auf die zeitgenössische Architektur, insbesondere etwa auf Le Corbusier und dessen Konzept der „promenade architecturale“ gehabt hat. Besteht doch leicht die Gefahr, beim Vergleich von Film und Architektur in oberflächlichen Analogien zu verharren, will Christoph Eggersglüß in seinem Text gerade die Oberfläche selbst als Phänomen und Denkfigur nehmen, anhand der sich das Verhältnis zwischen den Disziplinen denken lässt: „Was können wir der Oberfläche abgewinnen? Was macht die Oberfläche mit dem Film, wenn sie nicht nur umhüllt, abschirmt […], sondern architektonisch verfährt, indem sie Personen, Dinge und Zeichen organisiert und ordnet, also trennt, verbindet, leitet, filtert und anordnet?“ Dabei besteht für Eggersglüß das Potenzial der Oberfläche weniger darin, eine weitere „Superkategorie“ zu bilden, unter deren Dach sich Film und Architektur zusammenbringen lassen. Vielmehr ermöglicht die Oberfläche, winzigste „mikrologische“ Operationen in den Blick zu nehmen, welche subtilste Verschiebungen vornehmen: Wo treten im Film Oberflächen vom Hinter- in den Vordergrund? Wo hören Oberflächen auf, Abdichtungen zwischen zu trennenden Bereichen zu sein und werden stattdessen zu durchlässigen Membranen und überschreiten damit auch die für die Architektur so grundlegende Differenzierung von Innen und Außen. Die Oberfläche entpuppt sich dann (analog zum Strich in Film | Architektur) als Übergangszone und Zwischenzustand. Und es ist gerade die Oberflächlichkeit des Films, welche den Blick für diese verschwimmenden Übergangszonen frei macht: wie eine Pfütze auf der Straße, in der man die Bauwerke ringsum nicht nur gespiegelt, sondern zugleich neu moduliert sieht. 17

Als faszinierende Zwischenzustände ließen sich auch die mitunter irritie­ renden „Instandsetzungen“ mittelalterlicher Bauten des französischen Architekten und Denkmalpflegers Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc (1814–1879) beschreiben, in denen sich historische Bausubstanz mit moderner Stütztechnik verbindet. Restauration erweist sich hier weniger als Wiederherstellung eines ehemaligen Zustandes, denn vielmehr als Neuschöpfung einer sich alt gebenden Architektur, die in der Vergangenheit so gar nie existiert hat. In dieser, bereits die Ästhetik heutiger Steampunk-Bewegung vorwegnehmen­ den Vermischung von altem Baustil mit modernster Innovation, besteht indes eine verblüffende Gemeinsamkeit mit dem frühen Film, wie Vinzenz Hediger ausführt. Auch das Kino träumt seit seinen Anfängen von der historischen Vergangenheit, die es in Form von Historienfilmen wiederaufleben zu lassen versucht, um dabei genau derselben Paradoxie zu unterliegen: Im neuen ­Medium des Films geschieht jegliche Rückkehr zum Alten nur mithilfe von aller­neuesten technischen Mitteln. Wie in der Architektur erweist sich auch im Kino jede Restauration als „instauration“ – als Ins-Werk-Setzung eines merkwürdigen Zwischenwesens. Auch die Verachtung, mit welcher die Filmgeschichtsschreibung dem Historienfilm begegnet, ähnelt der Ablehnung, welche die Architekturgeschichte lange Zeit Viollet-le-Duc entgegenbrachte. Dabei wäre genau in diesem merkwürdig zwischen Historisierung und Science-­F iction schwankenden Zwischenzustand der Restauration ein überragender Modus der Erfahrungsstiftung in der Moderne zu finden. Einen ähnlichen Zwischenzustand, den Film und Architektur zu vermitteln vermögen, beschreibt auch der psychoanalytische Begriff des Unheimlichen. In meinem eigenen Beitrag geht es darum, die bereits von Sigmund Freud ­betonte und später von Jacques Lacan explizit ins Topologische gewendete Ambivalenz des Unheimlichen als Figur zu verstehen, welche auch die Beziehung zwischen Film und Architektur bestimmt. Die Art und Weise, wie der Film gegebene Räume reproduziert, dabei aber zugleich zu unmöglichen Architekturen umbaut (jede Restauration entpuppt sich als Instauration), findet in der psychoanalytischen Theorie des Unheimlichen sein präzises Konzept. Als Beispiele solch unheimlicher Architekturen des Films, die sich durch ­t opologische Verdrehungen und prekäre Instabilität auszeichnen, werden 18

einer­seits die Horrorfilme Dario Argentos und andererseits die filmischen Ar­ chitekturportraits von Heinz Emigholz untersucht. Insbesondere Emigholz’ eigenwillige Annäherungen an Bauwerke etwa von Louis H. Sullivan, Robert Maillart oder Rudolph Schindler sind dabei durchaus auch als Provokationen an die Adresse der Architektur zu verstehen, indem Emigholz in diesen ­F ilmen exponiert, was die Architektur über die eigenen Bauten nicht weiß. Statt im Sinne des „Architekturfilms“ Bauten „repräsentativ“ wiederzugeben, ­zeigen diese Filme vielmehr deren unbewusste Kehrseite. Und es ist gerade in diesem Un-Verhältnis des Un-Heimlichen, wo sich Film und Architektur entsprechen. Im Gegensatz zu diesem Versuch, über sechs Begriffe Ansätze einer Architekturtheorie des filmischen Raums zu skizzieren, versammelt die zweite, mit „On Location“ überschriebene Sektion Untersuchungen zu Einzelaspekten und Einzelbeispielen, die das Potenzial des filmischen Raums für Architektur (und umgekehrt) gleichsam im und am Detail untersuchen wollen. Eine solche, in ihrer Akribie geradezu detektivische Mikroanalyse stellt exemplarisch der Essay „Ausstieg Frankfurt“ von Rembert Hüser dar, in dessen Zentrum ein gerade mal 21 Sekunden dauernder Kameraschwenk aus Jacques Tourneurs wenig bekanntem Nachkriegsthriller Berlin Express ( USA 1948) nachvollzogen werden soll. Doch sind die Implikationen dieses scheinbar simplen Filmmoments überraschend weitreichend: In diesem Schwenk durch die Trümmer des zerbombten Frankfurt am Main, in welchem schließlich auch Hans Poelzigs I.G.-Farben-Haus seinen Auftritt hat, drängen sich in einem ­einzigen filmischen Raum-Zeit-Bild Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Kriegstrauma, Architekturgeschichte und Bildpolitik eng zusammen. Dabei lässt sich zeigen, wie der Film uns zwingt, sich das I.G.-Farben-Haus vorzu­ nehmen (im räumlichen ebenso wie zeitlichen Sinne). Architektur wird zum Testfall für das Nachkriegs-Kino-Publikum: Lässt sich die Bedeutung dieses Hauses umkodieren, kann man Gegenwart und Zukunft gestalten. Als kritische Intervention in die Visionen des Nachkriegs-Städtebaus hält demgegenüber Andri Gerber Pier Paolo Pasolinis Mamma Roma und Jean-Luc ­Godards 2 ou 3 choses que je sais d’elle gegeneinander, um dabei aufzuzeigen, auf welche Weise diese beiden Filmemacher sich prostituierende Körper und 19

perspektivlose Stadträume im Medium des Films metaphorisch verschränken. Der Film dient dabei dazu, eine gesellschaftliche „Realität“ ins Bild zu setzen, welche von der Architektur zwar (mit-)erzeugt wurde, mit der sie aber selbst nicht umzugehen weiß. Darum, wie sich eine andere Realität im Kino zu zeigen vermag, dreht sich auch Bernd Herzogenraths Lektüre von David Lynchs Film Lost Highway (USA 1996). In Auseinandersetzung mit der topologischen Figur des Möbiusbandes (welches auch für die Diskussion des Unheimlichen wesentlich ist) und im Dialog mit den philosophischen Konzepten von Gilles Deleuze soll Lynchs Film-Architektur nachgezeichnet werden, als Schauplatz eines Aus-­ den-Fugen-Geratens von Raum und Zeit, was nicht zuletzt auch einen neuen Blick darauf erlaubt, was die Architektur unter Fuge versteht. Dass der Raum nicht nur topologisch verdreht und zum zweidimensionalen Leinwandbild geplättet, sondern auch als plastisches, dreidimensionales ­Volumen im Kino erscheinen soll, ist das Versprechen aktueller 3-D-Produk­ tionen. Dabei droht man zu vergessen, dass das Kino nicht erst heute, sondern seit seiner Frühzeit mit stereoskopischen Verfahren experimentiert hat. Matthias Wittmann geht dieser Vision des 3-D-Kinos nach, die bereits 1947 von Sergej Eisenstein in seinem Manifest Über den Raumfilm skizziert wird. Interessanterweise geht es bei Eisensteins Raumfilm-Konzept jedoch keineswegs darum, eine homogene, kohärente Räumlichkeit zu evozieren, sondern vielmehr ein bis zum Zerreißen und Zerplatzen angespanntes Gefüge, das in isolierte Ebenen und Raumtranchen zerfallen und sich daraus wieder zu­sammen­ setzen soll. Wie weit man mit dieser Dekonstruktion der Dreidimen­sionalität gehen kann, zeigt etwa Godards eigenwilliger 3-D-Film Adieu au langage (F 2014). So ist denn auch die provokante Leitthese von Wittmanns Neukartografierung des 3-D-Kinos, dass es dabei gar nie um eine perfekte Nachbildung gewohnter räumlicher Erfahrung gegangen ist, sondern vielmehr um eine Technik der Sprengung zentralperspektivischer Kerkerwelten, also um eine ganz andere, höchst experimentelle Spielform des Kinos, die mit ganz anderen Rahmenbedingungen filmischer Bildräumlichkeit bzw. Raumbildlichkeit operiert und die uns damit auch in ein neues, auch analytisches Verhältnis zum architektonischen Raum und seinen Bestandteilen bringen kann. 20

Solch eine durch den Film induzierte Neupositionierung gegenüber dem Raum erfahren wir heute tagtäglich und nahezu unentwegt, indem wir uns Bewegtbilder nicht mehr im dunklen Vorführsaal von einst anschauen, sondern auf unseren Tablets und Smartphones, in Zugabteilen, Wartesälen und sogar während wir durch die Straßen spazieren. Mag die Heterotopie des ­K inos, verstanden als konkreter Vorführort, mit seinem spezifischen Wahrnehmungsdispositiv im allmählichen Verschwinden oder zumindest der Musealisierung begriffen sein – Lars Henrik Gass hat diesen Prozess und seine Folgen eindrücklich beschrieben17 –, ist damit aber zugleich das filmische Medium nur noch stärker in den öffentlichen Raum ausgewandert. In welchen Formen es dies tut, untersucht Fred Truniger in seinem Essay. Dabei inte­r ­ essiert ihn insbesondere, wie sich ob der veränderten räumlichen „Vorführ­ bedingungen“ auch die filmischen Darstellungsweisen verändern: Visuelle Komplexitätsreduktion, Serialisierung sowie Verkürzung der Laufzeit tragen dabei der Aufmerksamkeitsökonomie einer Gesellschaft Rechnung, die keine Zeit mehr zu haben glaubt, um Langfilme zu schauen. (In den Statistiken von Youtube wird ein Film bereits als „gesehen“ verbucht, wenn man nur zehn Sekunden darauf hängen geblieben ist. Bei Facebook ist der Leitwert gerade mal drei Sekunden.)18 Wie in diesen, unserer ebenso mobilen wie fraktalisierten Wahrnehmung angepassten Film-Formen gleichwohl ein Potenzial stecken könnte, den öffentlichen Raum anders zu erfahren und zu erzählen, will Truniger mit einem Blick in eine mögliche Zukunft des Film-Raum-Bildes zumindest skizzieren. Damit steuert der vorliegende Band bewusst auf ein in die Zukunft offenes Ende zu. Die Denklinie im Dazwischen, für welche der Strich im Titel Film | Architektur steht, kann nicht zu einem Schluss kommen. Die Linie, heißt es bei Perec, fungiert als Vektor. In diesem Sinne sind schließlich auch die 15 ­eigens für diesen Band kreierten Zeichnungen des Künstlers Yves Netzhammer zu betrachten: als Fluchtlinien, die das Nachdenken über den bewegten Bild-Raum noch weiter in Fahrt bringen sollen. Netzhammers Zeichnungen bilden den 13. Beitrag dieses Bandes (wenn man diese Einleitung mitzählt). Dieser Beitrag lässt sich aber weder in die eine noch in die andere Sektion, weder an den Anfang noch an den Schluss noch an irgendeine andere 21

bestimmte Stelle in der Abfolge der Texte einreihen. Stattdessen durchziehen Netzhammers Zeichnungen als Unterbrüche das ganze Buch. Gemeinsam mit den ihnen beigestellten Zitaten von Filmschaffenden und Theoretikern des filmischen Raums fungieren sie als iterierende Irritationen, deren Platz weder hier noch dort sein kann, sondern vielmehr immer im Dazwischen: Zwischen den Texten und zwischen den Disziplinen – auf Lage jenes Strichs in Film | Architektur. Dieses Buch wäre nicht zustande gekommen, ohne die überaus spontane Bereitschaft all jener, die auf den folgenden Seiten zu lesen und zu sehen sind. Ich danke ihnen, dass sie sich mit mir auf die Denklinie dieses Buches gewagt haben. Mein ganz besonderer Dank gilt Elisabeth Blum, welche mich überhaupt erst zu diesem Band herausgefordert und mir auch danach immer kritische, ermunternde, antreibende und beruhigende Gesprächspartnerin war, während des ganzen Baus dieses Buches. Danken möchte ich schließlich auch meinen Studenten der Hochschule Luzern Design+Kunst, von denen ein paar auch auf dem Titelblatt, zumindest schemenhaft, zu sehen sind. Ihnen und ihrem Blick auf die filmischen Räume der Zukunft ist dieses Buch gewidmet.

22

Anmerkungen

1

Perec 2013, S. 19–20

2

Hoffmann 1946

3

Siehe dazu Tholen 2002, S. 7–18

4

Vgl. Rohmer 2000, S. 6–7. Eine ähnliche Typologisierung schlagen später auch Gardies 1993 oder ­Paech 2000 vor. Siehe dazu auch: Hediger 2014, S. 61–64

5

Ebd. S. 7

6

Siehe dazu: Blum 2010, S. 25–35

7

Grafe 2004, S. 84–85

8

Koch 2005, S. 8

9

Foucault 2005, S. 935

10 In diese Richtung gehen z. B. Lamster 2000 und ­teilweise auch Keim/Schrödel 2015 11 Siehe z. B. Weihsmann 1995, Bruno 2002, Agotai 2007, Bredella 2009. 12 Etwa Günzel, Dünne 2006 und Günzel 2013. Siehe auch: Günzel 2010 und Günzel 2012 13 Siehe z. B. Beller/Emele/Schuster 2000, Koch 2005, Meurer 2007, van der Kooij 2010, ­Hediger 2014 14 Flusser 2006, S. 280 15 Vgl. Giedion 1976 16 Kittler 2002, S. 228–229 17 Gass 2017 18 Siehe dazu den Vortrag von Kevin B. Lee (dem ich an dieser Stelle für seinen Hinweis danke) im Rahmen der Konferenz „Post-Cinema and The Future of D ­ igital Images“ 6.3.2017 an der École normale supérieure, Paris. Nachzusehen unter: http:// www.ohnk.net/projet-190-postdigital-postcinema (ab Timecode 01:04:30).

23

Bibliografie

Günzel, Stephan (Hg.): Texte zur Theorie des Raums. Stuttgart 2013 Hoffmann, E.T.A.: „Rat Krespel“ (1816), in: Werke Bd. 4. Zürich 1946, S. 46–71

Agotai, Doris: Architekturen in Zelluloid. Der filmische Blick auf den Raum. Bielefeld 2007 Beller, Hans / Emele, Martin / Schuster, Michael (Hg.): Onscreen/Offscreen. Grenzen, Übergänge und Wandel des filmischen Raumes. Stuttgart 2000 Blum, Elisabeth: Atmosphären. Hypothesen zum Prozess räumlicher Wahrnehmung. Zürich 2010 Bredella, Nathalie: Architekturen des Zuschauens. Imaginäre und reale Räume im Film. Bielefeld 2009 Bruno, Giuliana: Atlas of emotion. Journeys in art, ­architecture, and film. New York 2002 Dünne, Jörg und Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie.

Film: Korrespondenzen zwischen Film, Architektur­ geschichte und Architekturtheorie. Bielefeld 2015 Khouloki, Rayd: Der filmische Raum. Konstruktion, Wahrnehmung, Bedeutung. Berlin 2007 Kittler, Friedrich: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin 2002 Koch, Gertrud (Hg.): Umwidmungen. Architektonische und kinematographische Räume. Berlin 2005 Lamster, Mark: Architecture and Film. New York 2000 Meurer, Ulrich: Topographien. Raumkonzepte in Literatur und Film der Postmoderne. München 2007

Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissen­

Perec, Georges: Träume von Räumen. Zürich, Berlin 2013

schaften. Frankfurt a. M. 2006

Rohmer, Eric: L’organisation de l’espace dans le Faust de

Flusser, Vilém: „Räume“ (1991) in: Dünne, Jörg und ­Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagen­ texte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2006, S. 274–285 Foucault, Michel: „Von anderen Räumen“ (1967) in: Dits et Ecrits. Schriften. Bd. IV: 1980–1988. ­Frankfurt a. M. 2005, S. 931–942 Giedion, Sigfried: Raum, Zeit, Architektur. Die Ent­ stehung einer neuen Tradition (1941). Zürich, München 1976 Hediger, Vinzenz: „Begehen und Verstehen. Wie der ­filmische Raum zum Ort wird“ in: Dorit Müller, ­Johannes Pause (Hg.): Wissensraum Film. ­Wies­baden 2014, S. 61–87 Paech, Joachim: „Eine Szene machen“ in: Hans Beller, Martin Emele, Michael Schuster (Hg.): Onscreen/ Offscreen. Grenzen, Übergänge und Wandel des ­filmischen Raumes. Stuttgart 2000, S. 93–121 Gass, Lars Henrik: Film und Kunst nach dem Kino (2. überarbeitete und erweiterte Ausgabe). Köln 2017 Grafe, Frieda: „Die saubere Architektur in Gefahr. Die Grandhotels in der Unterhaltungsindustrie“ in: Film/Geschichte. Wie Film Geschichte anders schreibt. Schriften Bd. 5. Berlin 2004, S. 78–111 Günzel, Stephan (Hg.): Raum: Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, Weimar 2010 Günzel, Stephan (Hg.): Lexikon der Raumphilosophie. Darmstadt 2012

24

Keim, Christiane; Schrödl, Barbara (Hg): Architektur im

Murnau (1977). Paris 2000 Tholen, Georg Christoph: Die Zäsur der Medien. Frankfurt a. M. 2002 van der Kooij, Fred: Über das Filmische. Zürich 2010 (http://www.vanderkooij.ch/Fred_van_der_Kooij/ Filmbuch.html) Weihsmann, Helmut: Cinetecture. Film, Architektur, ­Moderne. Wien 1995

„Das   Auge verfolgt die Richtung eines ­Elements. Behält den visuellen E ­ indruck, der sodann zusammenprallt mit der ­ Verfolgung der Richtung des zweiten ­Elements. Der Konflikt dieser ­Richtung bildet den d ­ ynamischen Effekt in der ­Wahrnehmung des Ganzen.“ Sergej Eisenstein

27

I Unsichere Fundamente: Zum (Un-)Verhältnis von Film und Architektur

29

Unerfüllte Sehnsucht. Über das bewegte Bild in Film und Architektur Marcel Bächtiger

Unter bestimmten Gesichtspunkten mag die Behauptung zutreffen, dass es sich beim Film, wie Anthony Vidler meint, um die „moderne Kunst par excellence“1 handelt. Dazu zählt historisch gesehen sein ebenso zwangsläufiges wie mirakulöses Erscheinen an der Schwelle zum 20. Jahrhundert; dazu zählt seine sprichwörtlich gewordene Reproduzierbarkeit, die den hundertfach kopierten, in Rollen verpackten und um den Globus versandten Filmstreifen zum prototypischen Kunstwerk des Massenzeitalters werden ließ; dazu zählt, dass die bilderproduzierende Maschine des cinématographe den schwelenden Konflikt zwischen Technik und Kunst spielend leicht aufzulösen versprach; dazu zählt schließlich, was den Film zumindest vordergründig als Stimulans für verwandte Tendenzen in der Modernen Kunst und Architektur erscheinen ließ: das Moment der Bewegung. Tatsächlich kann noch heute als einfachste Begriffsdefinition dienen, was schon das griechische Fantasiewort Kinematografie – das „(Auf-)zeichnen von Bewegung“ – suggerierte: Ein Film, das sind bewegte Bilder, aneinandergefügt und mittels der Montage in der Zeit organisiert. „Das Wesen des ‚Kino‘“, so hatte Georg Lukács 1911 formuliert, „ist die Bewegung an sich.“2 So banal diese Charakterisierung erscheinen mag, so bestimmend war sie für die frühe Filmtheorie, die Ende der 1910er-Jahre vage Konturen anzunehmen begann. Wenn der Essayist und spätere Filmemacher Jean Epstein vom Film als einer Kunst sprach, „mit der niemand gerechnet hat: vollkommen neu“,3 dann hatte diese Neuheit ihren ersten Grund in eben dieser Bewegtheit der Bilder, oder genauer: in der damit möglich gewordenen Ausdehnung des Raum-Bildes in die Zeit. Erstmals, so der Tenor früher cinephiler Denker, waren damit die Lessing’schen „Grenzen der Mahlerey und Poesie“ aufgehoben, erstmals war das Nebeneinander der visuellen Künste mit dem Nacheinander der erzählenden oder musikalischen Künste in eins gesetzt. Der selbster30

nannte poète-philosophe Ricciotto Canudo, einer der ersten Apologeten der Siebten Kunst überhaupt, erkannte in den bewegten Bildern des Films folgerichtig die „prachtvolle Vereinigung der Rhythmen des Raums und der Rhythmen der Zeit“,4 während sie für den Kunsthistoriker Elie Faure nichts we­n iger als die „konkrete Realisation der philosophischen Intuitionen der Jahrhundert­ wende“ darstellten: „Die Kinematographie projiziert die Dauer in die geraden Grenzen des Raums“, schrieb er mit Verweis auf den Bergson’schen Begriff der durée. „Was sage ich? Sie macht aus der Dauer eine Dimension des Raums. [...] Zumindest auf einer praktischen Ebene vereinigen sich zwei Ebenen, von denen die Philosophen immer geglaubt haben, sie blieben gegenseitig auf ewig undurchdringbar.“5 Es kann vor diesem Hintergrund kaum überraschen, dass die überschwänglichsten Stimmen im Film nicht bloß eine, sondern die moderne Kunst überhaupt am Werk sahen. „Alles lässt absehen“, lautete 1917 ein zeittypischer Kommentar des Dichters Blaise Cendrars, „dass wir auf eine neue Synthese des menschlichen Geistes zusteuern, auf eine neue Menschheit, und dass eine neue Spezies Menschen erscheinen wird. Ihre Sprache wird der Film sein.“6 Etwas nüchterner, aber in der Sache nicht weniger bestimmt, schrieb der Kunstkritiker Léon Moussinac 1925 in seinem Büchlein Naissance du cinéma: „Aus den großen Verwerfungen der modernen Zeit ist eine Kunst geboren, langsam wächst sie heran, entdeckt nach und nach ihre eigenen Gesetze und schreitet ihrer Vollendung entgegen. Eine Kunst, kühn, kraftvoll und eigenständig, Ausdruck des Ideals der neuen Zeit.“7 Ist es Zufall, dass die Rhetorik der Modernen Architektur jener der filmischen Avantgarde wie ein Ei dem anderen gleicht? „Die neue Architektur ist geboren“, liest man im gleichen Zeitraum bei Le Corbusier, „sie ist noch sehr jung, sie steckt in ihren Anfängen […]. Aber eine neue Architektur ist geboren: das Resultat des Geistes unserer Zeit.“8 Der fast identische Wortlaut kann insofern nicht überraschen, als ein Pathos des Neuen in den Zwanziger Jahren allgegenwärtig war, wie eben auch die Zeit selbst in den Augen der künstlerischen Avantgarden eine neue war, geboren aus der zur Katharsis umgedeuteten ­K atastrophe des Ersten Weltkriegs. Gleichwohl sollte man nicht darüber ­h inwegsehen, dass zwischen der Modernität der Architektur („Resultat des 31

Geistes unserer Zeit“) und derjenigen des Film („Ausdruck des Ideals der neuen Zeit“) ein signifikanter Unterschied bestand: So wie die Literatur, die Musik, die Malerei und die Bildhauerei war auch die Architektur eine tradierte Kunst, die nur über fundamentale Modifikationen ihrer Methoden und Formen den Anspruch erheben konnte, als wahrhaftige Manifestation des Zeitgeistes zu gelten, während dem Film als einziger tatsächlich neuer Er­ findung diese Ehre sozusagen ungefragt in den Schoss fiel. Die Verweise verschiedenster Avantgarden und deren Vertreter auf die Kinematografie waren darum auch (wenngleich nicht nur) rhetorischer Natur. Wenn Le Corbusier einem Journalisten Ende der Zwanziger Jahre ins Mikrofon diktierte, dass Architektur und Film „die einzigen beiden Künste unserer Zeit“ seien,9 dann wollte das auch heißen: Die Moderne Architektur war genauso neu, genauso unverbraucht, eben genauso modern wie der Film. Fraglos spielte der Film gleichzeitig eine bestimmende Rolle in der Suche nach einer zeitgemäßen Räumlichkeit: Experimente mit dem bewegten Bild waren am Bauhaus so selbstverständlich wie die Integration filmtheoretischer Texte in Zeitschriften wie De Stijl oder L’Esprit Nouveau. Der Chronist und unermüdliche Fürsprecher des Neuen Bauens, Sigfried Giedion, war jedenfalls schnell zur Stelle, um die Modernität des Films (die sich auch bei ihm im Phänomen des bewegten Bildes bündelte) als Charakteristikum der eigenen Disziplin in Anspruch zu nehmen: Mit „starren Aufnahmen“ sei deren Wesen gar nicht mehr vermittelbar, schrieb er 1928. „Man müsste den Wandel des Blickes begleiten: Nur der Film kann neue Architektur fassbar machen!“10 Da wäre man nun bei jener Parallelität angelangt, welche die Wahlverwandtschaft zwischen Moderner Architektur und Film aufs Augenscheinlichste zu belegen scheint: So wie der Film anstelle eines einzelnen Bildes eine Sequenz von bewegten Bildern setzte, so befreite das Neue Bauen die Architektur aus der Starrheit der akademischen Zentralperspektive und verwandelte sie in eine fließende Folge räumlicher Ereignisse. Das für diese These immer wieder herangezogene Beispiel ist natürlich die promenade architecturale, paradigmatische Verwirklichung der Giedion’schen „Raum-Zeit“ und scheinbar logischer Anknüpfungspunkt an den kontinuierlichen Bilderfluss des Films. „Man folgt einem vorgezeichneten Weg, und die Perspektiven entwickeln sich 32

in großer Mannigfaltigkeit“, schreibt Le Corbusier dazu.11 Die Argumentation wirkt bis heute nach: „Le Corbusiers Gebäude bieten komplexe Sequenzen von Aussichten, die als filmische Erzählstränge inszeniert sind“, meint beispielsweise die Architekturhistorikerin Beatriz Colomina, um dann in merkwürdig apodiktischem Duktus anzufügen: „Seine Architektur ist […] ohne Kino undenkbar.“12 So einleuchtend aber diese Parallelsetzung – und damit die Vorstellung einer „filmischen“ Inspiration der Architektur – auf den ersten Blick ist, so paradox, ja geradezu redundant erscheint sie auf den zweiten. Erst einmal sind die ­Unterschiede zwischen den beiden Medien (wenn man denn Architektur überhaupt als solches bezeichnen kann) derart offensichtlich, dass ihre Erwähnung fast schon trivial ist: Ein Bauwerk ist ein statisches, unbewegtes ­Objekt, während das kinematografische Bild per definitionem bewegt, also dynamisch ist; Architektur ist eine physikalische Realität, während wir auf der Filmleinwand Dinge sehen, die gerade nicht da sind und auf ewig ungreifbar bleiben; die filmischen Bilder sind deshalb ihrem Wesen nach Illusionen, während die Architektur im Grunde genommen nichts weniger (und nichts mehr) ist als die alltägliche Lebenswirklichkeit, die wir über alle Sinne wahrnehmen, die wir anfassen und auch manipulieren können. Für die Architektur kann der Ausdruck „Bild“ demzufolge nur beschränkt Gültigkeit besitzen, während auf der Leinwand wiederum nur eine flache und in ihrer räumlichen Ausdehnung beschränkte Reproduktion der Wirklichkeit zu sehen ist. Von all diesen Diskrepanzen gilt es erst einmal zu abstrahieren, will man in der oben beschriebenen Denkrichtung von der „Raum-Zeit“ des Films auf diejenige der Architektur schließen. Geht man dann aber konsequenterweise von der vereinfachten Modellvorstellung aus, dass erstens die Architektur nur ein Bild ist, das vom menschlichen Auge wie von einer Filmkamera aufgezeichnet wird, und dass sich zweitens das Bild, das die Netzhaut im Kino empfängt, von demjenigen, welches das Auge in der äußeren Realität aufzeichnet, nur in Nuancen unterscheidet, gelangt man zwangsläufig an einen toten Punkt der Argumentation. Es stimmt dann die filmische Raumwahrnehmung zwar mit der architektonischen Raumwahrnehmung wundersam überein, sie fügt ihr aber auch nichts Neues 33

hinzu. Wenn immer nämlich sich das menschliche Auge in einem Raum zu bewegen beginnt (was es eigentlich ständig tut), wird dieser Raum von den Betrachtenden auch als etwas Bewegtes („kinema“) aufgezeichnet („graph“). Dazu bedarf es aber weder der fließenden Räume eines Mies van der Rohe, noch der Wegrampen eines Le Corbusier oder der organischen Raumfolgen eines Frank Lloyd Wright, denn aus der Perspektive der Betrachtenden in ­m otion sind schlichtweg alle räumlichen Phänomene der äußeren Welt auch motion pictures. Statt auf den Film als Stimulans einer modernen Räumlichkeit zu schließen, müsste man also zur Folgerung gelangen, dass Architektur schon filmisch war, lange bevor so etwas wie Film überhaupt existierte. (Es sei diesbezüglich nur am Rande vermerkt, dass die Filmkunst zu keiner Zeit auf das Neue Bauen angewiesen war, um ihren Raumzauber erstehen zu ­lassen – im Gegenteil ist beispielsweise das mittelalterliche Schloss in Mur­ naus Nosferatu räumlich um einiges wirksamer als die modernistischen Film­settings von Robert Mallet-Stevens aus derselben Zeit.) Sicherlich kann man gleichzeitig vermuten, dass die Kinematografie ein zeitgemäßes Vokabular für die Beschreibung architektonischer Raumwirkungen zur Verfügung stellte, dass die bewegten Bilder des Films eine neue Sensi­ bilität für das Sehen in Bewegung geweckt und zu einer Wieder-Entdeckung von architektonischen Phänomenen geführt haben, die mit „starren Aufnahmen“ tatsächlich nicht zu fassen sind (die durch Le Corbusiers Aneignung ­berühmt gewordene Analyse der Akropolis von Auguste Choisy wäre hierfür ebenso beispielhaft wie August Schmarsows und Herman Sörgels Theorien der „Raumbildungen“ oder das „kinetisch-konstruktive System“ von László Moholy-Nagy)13. Dennoch: Wäre der Film bloß eine getreue Aufzeichnung und Wiedergabe von Bewegung, bloß ein mediales Analogon der menschlichen Seh-Erfahrung, dann wäre er wohl eine verblüffende technische Erfindung, aber schwerlich eine Kunst. Es ließen sich damit weder sein sofortiger und bis zum heutigen Tag ungebrochener Erfolg beim Publikum erklären, noch die offensichtliche Faszination, die er in einer ebenso erstaunlichen Permanenz auf Architektinnen und Architekten ausübt. Meiner Meinung nach kann man diese Faszination im Gegenteil nur begreifen, wenn man den Diskre­ panzen zwischen den beiden Disziplinen wieder zu ihrem Recht verhilft, kon34

kreter: wenn man den Film aus der Reduktion der oben beschriebenen Modellvorstellung herauslöst und stattdessen wieder in jenem architektonischen und sozialen Raum platziert, wo er (zumindest bis zum Aufkommen von Fern­sehern und digitalen Screens) zu Hause war: im Kino. Es gesellt sich dann nämlich zur Bewegung des filmischen Bildes die Unbewegtheit der ­Zuschauer, es treten, anders formuliert, die unbegrenzten Möglichkeiten des Mediums Films in ein dialektisches Verhältnis zur begrenzten Freiheit der Rezipienten. Über die merkwürdige Transformation der Wirklichkeit, die mit der Projektion im Kino einhergeht, ist viel und schon früh geschrieben worden. Den Beobachtungen von Louis Aragon und Jean Cocteau, wonach die alltäglichsten Gegenstände auf der Leinwand zu „Trägern bedrohlicher oder geheimnis­ voller Bedeutungen“14 werden und wir glauben, „die Dinge zum ersten Mal überhaupt zu sehen“15, ist im Grunde nichts hinzuzufügen, außer vielleicht der Feststellung, dass eben auch das Film-Bild ein Bild und damit von der Wirklichkeit verschieden ist, so bewegt und realitätsnah es auch sein mag. Es lohnt sich hingegen festzuhalten, dass die von Aragon und Cocteau konstatierte Fremdartigkeit der Dinge und Räume auf der Leinwand ursächlich mit der Wahrnehmungssituation im Kino zusammenhängt. So täuschend echt nämlich der Film die natürliche Wahrnehmung imitiert, auf so unnatürliche Weise wird der menschliche Blick im Kino arretiert. Die Augen auf ein leuch­ tendes Rechteck im Dunkeln fixiert, ziehen die Seheindrücke ohne unser ­eigenes Zutun (mitunter auch gegen unseren Willen) an uns vorbei (darum auch die Verweise auf den Traum, auf die Hypnose und die Trance, welche die Filmgeschichte seit ihren Anfangstagen begleiten). Eine Definition wie diejenige des Architekturpublizisten Adolf Behne von 1921 – „Was den Film zu einem neuen […] Mittel macht, ist die Möglichkeit, den Ablauf von Bewe­ gungen zu geben“16 – bedarf deshalb der genaueren Aufschlüsselung: Das „Novum, das der Film in die Kulturgeschichte bringt“17, besteht nicht in der Aufzeichnung von Bewegung allein, sondern stellt sich erst bei deren Projektion vor unbewegten Betrachtenden ein, die sich für zwei Stunden in eine Art freiwillige Gefangenschaft begeben um mit anderem Blick auf die Welt zu schauen. 35

Was ist das nun für eine Welt, die sich auf der Leinwand entfaltet? Am Anfang des Films Le Mépris von Jean-Luc Godard hören wir ein Zitat, das dieser André Bazin zuschreibt, in Wahrheit aber vom weniger bekannten Cahiers du cinéma-Autoren Michel Mourlet stammt: „Le cinéma substitue à notre regard un monde qui correspond à nos désirs.“18 Man könnte diesen Sachverhalt auch dezidierter formulieren: An die Stelle unserer alltäglichen Wahrnehmung tritt im Kino die Illusion einer kompletten Welt. Vielleicht nämlich trifft beim Film in besonderem Maße zu, was der Literaturwissenschaftler Jurij M. Lotman als Eigenheit des erzählenden Kunstwerks im Allgemeinen postuliert hat: dass es sich um ein künstlerisches Modell handelt, welches „in seiner Endlichkeit ein unendliches Objekt  – die im Verhältnis zum Kunstwerk ­äußere Welt – abbildet“.19 In den allermeisten Fällen (der klassische Spielfilm ist hier zweifellos das einleuchtendste Beispiel) schafft der Film ein Modell ­u niversalen Charakters, das die Wirklichkeit, wie sich Lotman ausdrücken würde, „mythologisiert“: „[…] [I]ndem es ein einzelnes Ereignis abbildet, bildet es gleichzeitig auch ein ganzes Weltbild ab, und wenn es vom tragischen Schicksal seiner Heldin erzählt, so berichtet es vom tragischen Wesen der Welt.“20 Dies gilt nun aber gleichermaßen für den auf dem Filmstreifen abgebildeten und auf der Leinwand versammelten Raum, der in der sinnhaften Verbindung von Handlung und Handlungsorten immer mehr ist als ein bloßer Hintergrund: nämlich die Verdichtung der äußeren Welt zu einer in sich geschlossenen Topologie symbolisch und atmosphärisch determinierter Orte. Innerhalb der durch Anfang und Ende des Filmstreifens definierten Grenzen ist diese fiktionale Welt so homogen wie vollständig. „Der Film fordert von sich aus, dass die von ihm gespiegelte Welt die einzige sei“, wusste Siegfried Kracauer schon 1926.21 Man muss dieser These nicht bedingungslos zustimmen, wird aber gleichzeitig nicht abstreiten können, dass die ganze Orchestration des Kino-Besuchs darauf ausgerichtet ist, vor unseren wachen Augen eine fiktionale Welt erstehen zu lassen, welche die Außen-Welt zur Gänze ersetzt. Das beginnt mit den verführerisch leuchtenden Eingangsfassaden der Kinos, die schon früh als Pforten in ein unbekanntes Zauberreich inszeniert wurden (daher auch die fantastischen Namen wie „Alhambra“, „Eden“, „Orion“, ja überhaupt der Be36

griff des „Filmpalastes“), und setzt sich fort im Kinosaal, der sinnigerweise ein höhlenartiges Raumgefäß ist, welches sich durch die komplette akustische und visuelle Entkopplung von der Außenwelt auszeichnet. Mit der langsamen Verdunkelung des Saals wird das Publikum, wie schon in einem Ratgeber für Kinobetreiber von 1928 zu lesen war, in einen „Zustand extremer Aufmerksamkeit“ versetzt.22 Aus dem beziehungslosen Dunkel, das die Zuschauer ihr körperliches Dasein im Kinosessel vergessen lässt, tauchen dann die Bilder und Töne des Films auf – jene andere, fremdbestimmte Wirklichkeit, der wir für die Dauer des Kinobesuchs bereitwillig Glauben schenken.23 Ich schreibe „andere, fremdbestimmte Wirklichkeit“, weil eine der erstaunlichsten Eigenheiten der Kunstform Film darin besteht, dass sie eigentlich immer eine gegenständliche ist. Der historische Widerstreit zwischen Formalismus und Realismus sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbst die artifiziellste Montage im Normalfall mit „realistischen“ Bildern arbeitet, so wie auch zwischen dem dokumentarischen (Lumière) und dem fantastischen Film (Méliès) hinsichtlich der Verpflichtung auf eine gegenständliche Darstellung im Grunde kein Unterschied besteht. So gesehen, war der Film nur äußerlich, d. h. im technischen Vorgang seiner Verfertigung und Präsentation überhaupt „modern“, während er seinem Wesen nach als vielleicht letzte traditionelle Kunst gelten muss, als späte Wiederkehr und ansatzweise Verwirklichung des uralten Menschheitstraum von der Wiedererschaffung der Welt nach ihrem eigenen Bild.24 Man muss Bazin zustimmen, wenn er in diesem Zusammenhang schreibt, „dass es absurd wäre, im Stummfilm eine Art urtümlicher Vollkommenheit zu sehen, von der sich der Realismus des Ton- und des Farbfilms nach und nach entfernte. […] Das wahre Ur-Kino, wie es nur in der Phantasie von einem Dutzend Menschen des 19. Jahrhunderts existierte, strebte nach vollständiger Imitation der Natur.“25 Anders formuliert: Die „prachtvolle Vereinigung der Rhythmen des Raums und der Rhythmen der Zeit“ war schon immer mehr als eine ästhetische oder technologische Errungenschaft, sie wies seit Anfang an über die Kunst heraus: „Es ist das Leben selbst, es ist Bewegung, die direkt aus dem Leben kommt“, schrieb gleich nach den ersten Vorführungen des Lumière’schen cinématographe im Dezember 1895 in erstaunlicher Weitsicht die Pariser Zeitschrift La Poste.26 37

Um auf die verschlungenen Verbindungen zwischen dem Film und der Architektur zurückzukommen, so gilt festzuhalten, dass die Überzeugungskraft der filmischen Illusion auf einer doppelten Determiniertheit beruht: Nicht nur unterliegt der gefilmte Raum – vom Szenenbild über die Beleuchtung bis hin zu den Menschen, die sich in diesem Raum bewegen – zur Gänze dem Gestaltungswillen des Regisseurs, auch kontrollieren Kamerabewegung, Tongestaltung und Montage, was, wann und wie die Zuschauer sehen und hören. Um ein naheliegendes Beispiel zu nehmen, ist ein beliebiges Haus in einem beliebigen Film eben mehr als die bloße mediale Abbildung dieses Hauses auf der Leinwand. Vielmehr sehen wir das Haus genau so, wie wir es gemäß dem Willen des Kinos sehen sollen: festgelegt sind die Blickwinkel, die bestimmen, was wir sehen und was wir nicht sehen, festgelegt sind die Geräusche und die Musik, die wir dabei hören sollen; festgelegt ist, in welcher Jahreszeit, bei welchem Wetter und zu welcher Tageszeit wir das Haus sehen, festgelegt ist die Dauer der verschiedenen Einstellungen und damit der Rhythmus unserer Empfindungen, festgelegt ist schließlich (der Zwangsläufigkeit eines jeden Dramas entsprechend), was in diesem Haus geschieht und warum. All dies konstituiert die spezifische Atmosphäre, unter welcher das Haus auf der Leinwand erscheint, und in der Folge die Bedeutung, die die Kino­ zuschauer ihm zuschreiben. Auf keine dieser Festlegungen hingegen hätten Architekten und Architek­ tinnen eines solchen Hauses irgendeinen Einfluss. Vielleicht also verbirgt sich hinter der Faszination, die Architekturschaffende dem Film seit Anfangstagen entgegenbringen, eine unterdrückte Sehnsucht der eigenen Disziplin: der Wunsch, eine Welt ganz nach der eigenen Vorstellung zu schaffen. Eine Welt, so vollständig und homogen, so atmosphärisch und gestimmt, wie sie das Kino in immer neuen Variationen allabendlich auf die Leinwand zaubert. Wenn das Kino aber ein Brennglas ist, unter dem die Utopie einer „filmischen Architektur“ sichtbar wird, dann offenbart dieses Brennglas den aufmerksamen Zuschauern gleichsam, was Architektur sinnvollerweise gar nicht zu sein braucht. So wenig nämlich die Architektur die Wirkungsmechanismen des Kinos eins zu eins zu kopieren vermag, so wenig stellt der Film in seiner Totalität ein wünschenswertes Modell für den alltäg38

lich gelebten Raum dar. Jener Mensch, von dem Le Corbusier sagt, dass sein Auge „ein Aufnahmegerät“ sei, bewegt sich nämlich frei. Er sieht und hört nach seinen eigenen Interessen, gemäß seinen eigenen Regeln und in seinem eigenen Rhythmus. Manches nimmt er wahr, anderes nicht. Wenn sein Auge eine Filmkamera ist, dann führt er selbst Regie. Manchmal, ja, geht dieser Mensch in die dunkle Höhle des Kinos, um für zwei Stunden mit fremden Augen zu sehen. Er lässt sich dann in jene traumgleiche Wirklichkeit entführen, die der Kino-Apparat auf der Leinwand erschaffen hat. Wenn er wieder auf die Straße tritt, ist sein Hunger nach Hypnose gestillt. Er hat kein Bedürfnis, die Welt durch die Augen und Ohren eines anderen wahrzunehmen. Wahrscheinlich folgt er nicht einmal dem von der Architektur vorgezeichneten Weg.

39

Anmerkungen

weniger in der klassischen Filmgeschichte als in ­derjenigen der Videokunst zu suchen. 25 Bazin 2004, S. 47 26 Zitiert in Elsaesser 2002, S. 56. Man vergleiche

1

Vidler 1992, S. 24

2

Lukács 2017, S. 191

3

Epstein 2008, S. 28

4

Canudo 1995, S. 62 (Übersetzung des Autors)

5

Faure 1933, S. 43 (Übersetzung des Autors)

6

Cendrars 1990, S. 39

7

Moussinac 1925, S. 7 (Übersetzung des Autors)

8

Le Corbusier 1964, S. 15

9

Le Corbusier, zitiert in Cohen 1987, S. 72

10 Giedion 2000, S. 92. 11 Le Corbusier 1964, S. 60 12 Colomina 2007, S. 257. Siehe dazu auch den ­Beitrag von Martino Stierli im vorliegenden Band. 13 Choisy 1964, Schmarsow 1914, Sörgel 1918, ­Moholy-Nagy 1929 14 Aragon 1990, S. 56 15 Cocteau 1989, S. 62 16 Behne 2012, S. 84–86. 17 Kreimeier 2011, S. 50 18 Der im Film verwendete Satz ist eine Verkürzung. Das Original lautet: „Le cinéma est un regard qui se substitue au nôtre pour nous donner un monde ­accordé à nos désirs.“ Mourlet 1959, S. 23 19 Lotman 1972, S. 311 20 Lotman 1972, S. 310 21 Kracauer 1963, S. 316. Von einer homogenen Welt der unbeschränkten Möglichkeiten, „der in den ­Welten der Dichtkunst und des Lebens ungefähr das Märchen und der Traum entsprechen“, schreibt auch Georg Lukács (Lukács 2017, S. 190–194). 22 Fred Cohendy, Comment lancer un cinéma et le ­conduire à la prospérité, Paris 1928, zitiert in ­Buxtorf 2005, S. 120 23 Jean Goudal beobachtete dazu treffend: „Notre corps lui-même subit une sorte de dépersonnalisation temporaire, qui lui ôte le sentiment de sa propre existence. Nous ne somme plus que deux yeux rivés à dix mètres carrés de toile blanches.“ Goudal 1925, S. 347 24 Auf einer ästhetischen Ebene war der Film nur in ­einer kurzen Phase seiner Existenz und nur in ­Ausnahmefällen „modern“. Die Stichworte hierzu wären „cinéma pur“, „abstrakter“ oder „absoluter Film“. Dessen etwaige Nachfolger wären allerdings

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dazu Béla Balázs Anmerkung zum Tonfilm: „Der Raum aber, den man nur sieht, wird nie konkret. Man erlebt nur den Raum, den man auch hören kann.“ Balázs 2001, S. 122

Bibliografie

Giedion, Sigfried: Bauen in Frankreich, Bauen in Eisen, Bauen in Eisenbeton (1928). Berlin 2000 Goudal, Jean: „Surréalisme et Cinéma“, in: La Revue ­hebdomanaire No. 8, 21 (Februar 1925)

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„Ein   Raum entsteht, wenn man Richtungs­ vektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten.“ Michel de Certeau

Zwischenraum, Leib, Chronotopos. Das Erscheinen von Zeit auf der Treppe des Films Ulrike Kuch

Der Film, die Architektur und die Zuschauenden Beginnen wir mit einem Film: In Sunset Blvd. (Billy Wilder, USA 1950) sehen wir in der letzten Szene die ältere Schauspielerin Norma Desmond (Gloria Swanson) eine Treppe hinabsteigen. Sie imaginiert sich als Salomé auf der Treppe ihres Palastes – die Kameras der Reporter sind die Kameras des Filmstudios, die Lampen der Fernsehteams die Lampen am Hollywood-Set, der Butler (Erich von Stroheim – selbst ebenfalls Regisseur –) wird zum Regisseur Cecil B. deMille. Es ist der letzte Auftritt einer geistig umnachteten Diva, ein Auftritt, der die sensationslüsternen Journalisten erstarren lässt. Dieses Starre wird kontrastiert mit der graziösen Bewegung auf der Treppe, eine Klimax im Herabschreiten, die den Blick auch von uns Zuschauenden im Kino bannt. Uns wiederum adressiert die Diva direkt, wenn sie sich an die Kamera wendet und „those wonderful people out there in the dark“ anspricht, schließlich sogar auf die Kamera zugeht. Die Großaufnahme wird von einem Nebelfilter aufgefangen, der das Gesicht der Diva überblendet und schließlich zum Schwarzbild wird. Die Szene zeigt, wie stark die Bewegung auf der Treppe mit dem Körper verbunden ist, wie diese Bewegung mit Eleganz, Grandezza und Starduktus konnotiert ist und welche Suggestionskraft dabei der Architektur der Treppe innewohnt. (Abb. 1) Ist die dispositive Anordnung von Kinosaal und filmischem Raum in Sunset Blvd. eng mit der Diegese verknüpft, zeigt ein anderes Beispiel, wie auch ohne diegetischen Bezug, allein aus der Schnittfolge, der Komposition der Bilder und architektonischen Fragmente eine intensive Referenz auf den Körper und seine Bewegung erfolgen kann: Dem Film Stay (Marc Forster, USA 2005) gelingt es, die Verwirrung des Protagonisten durch seinen Gang (oder Lauf) auf der Treppe erfahrbar zu machen. In der ersten Treppensequenz sehen wir 44

Abb. 1: Screenshot aus Sunset Blvd. (USA 1950)

eine moderne blaue Glas- und Stahl-Treppe, die in schnellen Bildern in Aufsicht und Untersicht gezeigt wird. (Abb. 2) Auch rasch laufende Füße sind zu sehen, dazu verhallende Rufe. Gerade die Unmöglichkeit des Blickwinkels und die rasante Abfolge der Bilder erzeugt Unbehagen. Die psychische Situation wird in eine fliegende Sequenz architektonischer Bilder übersetzt. Auch in der zweiten Treppensequenz in Stay wird die Bewegung auf der Treppe immer weiter gesteigert: Hier ist eine gemauerte Wendeltreppe mit ebenfalls gemauertem innen liegendem Geländer zu sehen. Die Fugen des gewendelten Geländers leuchten und stehen in starkem Kontrast zur Dunkelheit des burgähnlichen Treppenlaufs. Dr. Sam Forster (Ewan McGregor) wird durch eine diegetisch motivierte Beunruhigung und durch die Spiralbewegung der Treppe in Bewegung gesetzt: Erst geht er ruhig, dann immer schneller, schließlich läuft er, stolpert und fällt. Kurz danach sehen wir ihn noch einmal auf dieser Treppe, die Treppe selbst scheint sich zu drehen, zu schwindeln. (Abb. 3) Der Regisseur arbeitet also gleich zweimal mit diesen filmischen Mitteln und der Treppe, in beiden Fällen wird über die Wahrnehmung der filmischen ­Bilder der filmische Raum mit dem Körperraum der Zuschauenden verknüpft. 45

Abb. 2: Screenshot aus Stay (USA 2005)

Abb. 3: Screenshot aus Stay (USA 2005)

Das Zusammenspiel von Architektur, der Bewegung des Körpers auf der Leinwand und der Bewegung der Bilder wird also nur im Dispositiv des Kinos und nur in Zusammenarbeit mit den Rezipienten vollständig. Der Film denkt die Betrachtenden mit, die Betrachtenden denken sich in den Raum des Films ein. Der Raum zwischen Publikum und filmischem Raum birgt ein unendliches Feld der Imagination, den kinematografischen Raum. Dieser resultiert aus dem Prozess der Wahrnehmung des Films, er ist angedockt an den filmischen Raum, entsteht aber erst in der Imagination der Zuschauenden. Entwickelt man diesen Gedanken eines solchen Zwischenraums phänomenologisch weiter, so wird mit der Treppe der abstrakte „Körper“ zum viszeralen „Leib“, weil die Architektur des Films die Rezipienten nicht nur visuell, sondern auch haptisch affiziert. Die immersive Kraft des Films und insbe­ sondere des filmischen Raums wird mit dem Begriff des kinematografischen Raums greifbar: Über den kinematografischen Raum wird der filmische Raum ein Teil von uns, wir sind im Film.1 Stay und Sunset Blvd. zeigen, wie unterschiedlich der Film die Architektur einsetzen kann – immer aber „spielt die Architektur.“2 46

Das Erscheinen von Zeit 24 Bilder pro Sekunde. Die Geschwindigkeit der Bilder gibt den Rhythmus der Wahrnehmung des Films vor. Wird diese, wie in der Technik der Zeitlupe, verringert, so macht die Verlangsamung die Zeit im Film sichtbar. Dieses „Erscheinen von Zeit“3 (Anke Henning) ist es, das nicht nur die Zeitlichkeit des Films, sondern auch die Zeitgebundenheit des gesamten kinematografischen Dispositivs offenlegt. Eine Zeitlupe zeigt uns, dass wir im Kino sitzen und einen Film schauen. Die Illusion von Bewegung, die dem Film im „Normalfall“ eignet, wird dabei zerstört. Dennoch gehört es zur Magie des Kinos, diese ­Unterbrechung, diese Sichtbarmachung des Bildintervalls, nicht als Störung, sondern als besondere Qualität des Filmischen wahrnehmbar zu machen. Dass es gerade die Treppe ist, die sowohl in Stay als auch in Sunset Blvd. als Matrix für das Zeigen der Zeitlichkeit des Films fungiert, liegt an der ihr ­ohnehin schon innewohnenden Sequentialität: Die Treppe selbst gliedert die Bewegung des Körpers in Stufen, in Schritte, in Bewegungsintervalle (und das nicht nur visuell, sondern auch akustisch, wie besonders an Stay deutlich wird). Am klarsten zeigt sich dieser Zusammenhang, wenn wir an die Chrono­ fotografien von Eadweard Muybridge denken: Sie zeigen die Affinität zwischen Treppe und Körper, Sequentialiät und Fotografie. (Abb. 4) Die Bewegung des Körpers auf der Treppe bleibt fließend und ist doch aus Zwischenräumen zusammengesetzt. Die Treppe macht als architektonisches Element die Bildintervalle des Films sichtbar, ist somit kinematografisch im wortwörtlichen Sinn: Die Bewegung der Bilder ist ihr einbeschrieben. Schauen wir auf Sunset Blvd., so liegt die Grandezza der Diva gerade darin, über diese Sequentialität hinwegzutäuschen, aus der skandierten Zwischenräumlichkeit homogene Räumlichkeit zu produzieren. Das Fließen der Bewegung lässt die Treppe verschwinden – ihre räumliche und dramaturgische Kraft erfahren wir durch den gleitenden Körper Gloria Swansons.4 Und noch weiter: Der Bezug der Treppe im Film auf den Körper der Rezipienten bindet nicht nur die visuelle Wahrnehmung, sondern auch die somatische in die Filmerfahrung ein. Der phänomenologische „Leib“ wird durch die Treppe in der Filmerfahrung vollständig, es entsteht eine intensive Beziehung zwischen Kinosaal und 47

Abb. 4: Eadweard Muybridge: Woman walking downstairs (UK 1901)

Leinwand. Wir sehen die Stufen nicht, die Treppe wird für uns von Gloria Swanson beschritten – wir denken uns nicht nur in den Film ein, wir sind im Film. In Sunset Blvd. bestimmt die Diva Gloria Swanson die Wahrnehmung des filmischen Raums (und des Films selbst): Der Blick der Zuschauenden konzentriert sich auf sie und ihre fließende Bewegung auf den Stufen. Die Treppe ist hier die Matrix, die die Dramaturgie der Szene mit ihrer Verbindung von oben nach unten, die Änderung der Blickführung (der Diva und des Publikums) und die Bildkomposition hervorbringt. Mit der geringen Geschwindigkeit und der Fokussierung auf Gloria Swanson rekurriert Sunset Blvd. auf den Zauber der Zeitlupe, der seit dem frühen Film die Filmtheorie beschäftigt.5 Die Zeitlupe ist nach Elie Düring nicht nur ein Mittel, das entschleunigt und das Bild als solches wahrnehmbar macht, sondern sie verändert die Wahrnehmung selbst.6 In Sunset Blvd. werden die Journalisten zur unbelebten Staffage, während allein der bewegte Körper Gloria Swansons den Film zum Film werden lässt. In der Konzentration des Blicks auf sie und ihre Bewegung wird das Pub­ likum als Teil des Films unabdingbar. Denken wir an den Film als Labor für die Architektur, so wird deutlich, dass die Zeitlupe der Architektur die Möglichkeit bietet, die Kontinuität in der Architekturwahrnehmung auf den Prüfstand zu stellen: Was bedeutet eine absichtlich verlangsamte Wahrnehmung für die Architektur? Was passiert, wenn die Architekten die Implikationen der Zeitlupe in ihre Entwürfe aufnehmen? Diese Überlegungen, die mehrere grundlegende Fragen zum Verhältnis von Architektur und Film nach sich ziehen, wären es wert, an anderer Stelle diskutiert zu werden. 48

Es lässt sich also sagen, dass nicht nur die Zeitlichkeit des Films, sondern gar der Wahrnehmungsprozess und damit die Rezipienten selbst in der Zeitlupe sichtbar werden. Und diese „Störung“ zeichnet die imaginative Kraft des Films aus. Sunset Blvd. spielt mit diesen Implikationen der Zeitlupe, mit den unbewegten Journalisten auf der einen und der fließenden Bewegung Gloria Swansons auf der anderen Seite. Verstärkt wird die Sichtbarmachung der Zeitlichkeit, wenn die Treppe „mitspielt“: Ihr Bezug auf den Körper der Rezipienten bindet nicht nur die visuelle Wahrnehmung, sondern auch die somatische in die Filmerfahrung ein. In Stay ist die Rhythmisierung der Sequenz mit der blauen Treppe in der Schnittfolge, in der Struktur, der Materialität und dem Blick auf die Treppe, im Ton, der Farbigkeit der Bilder und in den sich bewegenden Gliedmaßen angelegt. Hier wird die Filmerfahrung „leiblich“: Der phänomenologische „Leib“, der durch die Treppe in der Filmerfahrung vollständig wird, lässt diese intensive Beziehung zwischen Kinosaal und Leinwand entstehen.

Imaginäre Zeitlichkeit „Kinofilme bewegen nicht nur durch zeitliche, räumliche oder narrative Entwicklungen. Filme bewegen durch einen inneren Raum. Sie reisen durch den Raum der Imagination, Gedächtnisorte und die Topographie der Affekte. Es ist diese mentale Reise, die meines Erachtens Film zu der Kunst macht, die der Architektur am nächsten steht.“7 In Stay ist es gar das „Nachleben“ der Architektur, das der Film uns mit der Treppe zeigt: Die innerdiegetische Labilität Dr. Sam Forsters, seine Wahrnehmungsstörung, die für uns in den Treppenraumbildern erfahrbar wird, zeigt eine imaginäre Architekturerfahrung. Der Protagonist ist tot, der Film zeigt Nahtodillusionen. Die Architektur dieses Films geht über die „natürliche“ Wahrnehmung hinaus. Stay zeigt so eine Überzeitlichkeit, die im Kontrast zur Flüchtigkeit der Licht-Bilder selbst und dem Ewigkeitsanspruch der Architektur gesehen werden muss. Und hier zeichnet sich das Potenzial des Films auf besondere Weise ab: Der Film zeigt uns eine Zeitlichkeit der Architektur, wie 49

wir sie in der außerfilmischen Welt niemals selbst erfahren könnten. Er ist im besten Sinne ein Spielraum8, ein Labor, ein Experimentierfeld für imaginäre Architekturen, wo nicht nur mit der physischen Beschaffenheit der Architektur experimentiert werden kann, sondern auch mit ihrer ontologischen, mit der Architektur und ihrem Sein selbst: Stay zeigt, dass Architektur nicht nur ist, sondern sein kann und trotzdem Architektur ist. Wir sehen das Paradoxon eines realen Möglichkeitsraums. Ein Film, der wie kein anderer diesen Topos besetzt, ist Inception (Christopher Nolan, USA 2010). Mittels Injektionen werden die Akteure dieses Films in andere Realitäten versetzt, in andere Zeitschichten. Die Aufgabe der „Architektin“ Ariadne (!) (Ellen Page) ist es, die Räume dieser Schichten zu imaginieren und so zu erschaffen. Der Freiraum, der sich ihr auftut, ist Chance und Gefahr zugleich. Für die architekturaffinen Zuschauenden bekommt hier die Praxis des Entwerfens eine völlig neue Dimension: Ohne mediale Vermittlung wird die Idee direkt zum Haus. Die Treppen in Inception dienen denn auch vor allem dazu, den imaginären, aber dennoch „realistischen“ Charakter der Architekturen und der Zeitschicht selbst zu demonstrieren (so etwa, wenn in einer Szene die Figuren auf einer sogenannten „Penrose stairs“ stehen, jener optischen Täuschung einer endlosen Treppe). (Abb. 5) Deutlich wird hier ein Phänomen, das sich auf die gesamte Architektur im Film übertragen lässt: Gewohnt, mit dem Film in eine andere Welt einzutauchen, akzeptieren wir als Zuschauende jegliche Art von Architektur als möglich. Und nicht nur das: Die filmische Architektur wird als tatsächliche Architektur akzeptiert: Eine Architektur, die in ihrer bildhaften Erscheinung ephemer ist – zweidimensional, bewegt, partiell – wird als vollständig, solide, stabil, verlässlich und ordnend wahrgenommen.9 Imaginäre Architekturen, die die Grenzen des euklidischen (Zeit-)Raums durchbrechen, erscheinen mitnichten als rätselhaft, sondern werden als paradoxe real-imaginäre Erscheinungen akzeptiert. Die Architektur verliert so einige ihrer konstitutiven außerfilmischen Eigenschaften und gewinnt eine neue Haltung, neue Gestaltungspielräume, eine neue Freiheit. Die Rezipienten nehmen die Architektur im Film in der ihr eigenen Zeitlichkeit wahr. Sie selbst bleiben jedoch konstitutiver Teil dieses Wahrnehmungsprozesses und werden so in den Bildraum 50

Abb. 5: Screenshot aus ­Inception (USA 2010)

einbezogen – und sei dieser noch so rätselhaft (oder unendlich, wie in Kubricks 2001 – A Space Odyssee). Dem Film gelingt es also mit seiner imaginativen Kraft, jegliche physikalischen und euklidischen Gegebenheiten zu ignorieren und dennoch als „realistisch“ wahrgenommen zu werden. Das Labor, das der Film für die Architektur darstellt, wird an Inception besonders anschaulich. Im Hinblick auf die Zeitlichkeit zeigt der Film, dass Architektur nicht notwendig als stabiles Ordnungssystem verstanden werden muss. Ein solcher Prozess des Umdenkens bringt jedoch nicht (nur) „phantastische“10 (Ulrich Conrads), dekonstruktivistische oder Blob-Architekturen hervor, sondern evoziert ein strukturelles Um­ denken in der Gestaltung von Architektur.

Der Film als Labor für die außerfilmische Architektur Ein Beispiel aus der Geschichte mag dieses „strukturelle Umdenken“ weg von einer an Vitruvianischen Prinzipien angelehnten Architektur an und mit der Treppe veranschaulichen: Das Haus Müller in Prag, entworfen von Adolf Loos. An diesem Beispiel soll eine kinematografische, eine an der Wahrnehmung des Films geschulte Zeitlichkeit der Architektur dargelegt werden. Loos (1870–1933) ist als Architekt und Architekturtheoretiker einer der wichtigsten Wegbereiter der Moderne.11 Dass seine Affinität zum Film den Entwurf des Hauses Müller beeinflusst hat, ist nicht mit Dokumenten zu belegen.12 Die Entwicklung des „Raumplans“ lässt jedoch vermuten, dass Loos’ Auffassung 51

der Wahrnehmung von Architektur durchaus durch seine eigene Filmrezeption beeinflusst worden ist, wie im Folgenden zu zeigen ist.13 Das Treppenhaus im Haus Müller gehört zu den interessantesten Treppenbauten der Moderne. Der „Raumplan“, die Hierarchisierung und Verbindung verschiedener Raumgrößen und Zimmertypen, wurde mittels eines Treppenhauses realisiert, welches das Rückgrat des Hauses14 bildet. Räume und Treppenraum sind als kommunikatives System ausgebildet. Die Treppe dient nicht allein der vertikalen Erschließung, sie gliedert die Bewegung durch das Haus, sie gibt mit ihren Läufen, der Steigungshöhe und Auftrittsbreite, den Podesten und Windungen den Rhythmus der Bewegung vor. In Bezug auf die Zeitlichkeit stellen wir fest, dass Loos’ Dramaturgie dieser Bewegung die Treppe selbst zu zitieren scheint: In cineastischer Manier changiert sie zwischen Ruhe und Bewegung; sie besteht aus Intervallen, Richtungswechseln, aus Räumen und Zwischenräumen. In der Bewegung auf der Treppe erleben die Besuchenden körperlich die Zirkulation im (Treppen-)Raum und in der Zeit. Der Blick fällt in unterschiedlichste Richtungen, verschiedene Raumschichten öffnen sich in den einzelnen „Zeitzonen“. Auch aus den Dimen­ sionen der Treppenräume selbst ergeben sich spannungsreiche Raumfolgen.15 (Abb. 6)

Hier lassen sich verschiedene Aspekte einer Zeitlichkeit der Architektur erleben: Der erste Aspekt ist die Bewegung der Rezipienten durch das Haus – über Treppen, Stufen und Schwellen, durch Türen, Flure, unterschiedliche hohe Räume in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Dabei wird nicht nur die ­A rchitektur, sondern sensomotorisch auch die Körperlichkeit der Rezipienten selbst und – dies ist entscheidend – in der Zeitspanne der „Wanderung“ die Dauer (Bergson) der Architektur wahrgenommen. Zugleich ist diese Wahrnehmung eingebunden in eine übergeordnete Zeitempfindung, die das Gebäude, die Rezipienten und den Akt der Wahrnehmung einschließt. Diese Schichtungen zeigen die Architektur als Bild – die Bildhaftigkeit der Architektur wird selten so deutlich wie in diesem Gebäude. Mit Wolfgang Kemp lässt sich das Haus Müller als „Chronotopos“ definieren: „Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit ver52

Abb. 6: Diagramm Haus Müller

dichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum; und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert. Diese Überschneidung der Reihen und dieses Verschmelzen der Merkmale sind charakteristisch für den künstlerischen Chronotopos.“ Damit wird deutlich, dass es Adolf Loos mit seinem Entwurf gelingt, über die gängige Auffassung einer Architektur hinaus, die Raum und Zeit getrennt denkt oder Zeitlichkeit allein im Sinne eines Gebäudelebenszyklus versteht, eine architektonische Konstellation zu schaffen, die Zeit und Raum auf geglückte Weise miteinander verbindet.16 53

Die Treppe zwischen Raum und Zeit Drei Filmtreppen haben uns geholfen, einen Einblick zu bekommen in den Umgang des Films mit seiner Zeitlichkeit (in der Referenz auf die Zeitlupe), mit den Rezipienten (ihrer wechselseitigen Einbeziehung) und mit der Architektur (als Matrix der filmischen Bilder). Filmische Bilder haben die Fähigkeit, ihre eigene Zeitlichkeit zum Erscheinen zu bringen. Eine Zeitlichkeit, für die das Publikum unabdingbar bist. Die Architektur, und insbesondere die Architektur der Treppe vermag es, mit dem Film diese Zeitlichkeit für den Körper erfahrbar zu machen. Die Sequentia­ lität, die die Treppe ontologisch bestimmt, trifft mit dem Film auf ein aus ­Einzelbildern und Intervallen zusammengesetztes Lichtspiel. Wenn beide zusammenkommen, zeigt sich das Film-Bild in seiner Körperhaftigkeit, wie mit Eadweard Muybridges Woman walking downstairs von 1901 anschaulich gezeigt werden kann. Umgekehrt wird der Film zum Labor für die außerfilmische Architektur. Denn die Imaginationskraft, die dem Film eignet, zeigt, wie die Zeitlichkeit der Architektur gedacht werden kann, wie also die Architektur aus dem sonst so starren Korsett von Ordnung, Stabilität, Zuverlässigkeit und Ganzheit ausbrechen und die Beziehung von Rezipienten und Architektur anders denken kann. Wie das aussehen kann, haben wir am Beispiel von Adolf Loos’ Haus Müller gesehen. Dort wird die Treppe zu einem Zwischen-Raum, der die verschiedenen Hierarchien der Zimmer, Aspekte der Gestaltung und vor allem Zeit-Räume erfahrbar macht und „mit Sinn erfüllt“, wie Wolfgang Kemp schreibt. Der Prozess der Wahrnehmung einer diskontinuierlichen Zeitlichkeit, wie er im Film selbstverständlich ist, wird im Haus Müller für die Architektur interpretiert.

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Anmerkungen

9

Mit dieser Illusion spielen Filme wie Inception, aber auch Stanley Kubricks Shining oder Science-­ Fiction-Filme wie Blade Runner.

10 Conrads, Sperlich 1983. 1

Für weitere Ausführungen zu diesem Thema möchte ich auf meine Dissertation (Kuch 2013) verweisen.

2

„L’architecture moderne ne sert pas seulement le décor cinématographique mais marque son ­empreinte sur la mise en scène, elle déborde de son cadre; l’architecture ‘joue‘.“ Mallet-Stevens 1946/1977, S. 288.

3

Hennig 2010, S. 7–13; und ebenda: „Nicht das ­Bewegungsbild an sich, sondern erst seine Unterbrechung durch ein Intervall lässt ein Zeitbild ­erscheinen.“ (mit Bezug auf den Beitrag „Der Film lacht“ von Christiane Voss im gleichen Band)

4

Vgl. dazu „In diesem [...] Sinne basieren die Erfahrung der Plastizität unbewegter Körper wie die Bauten der Architektur und die bewegten Bilder vor unbewegten Körpern im Kino auf einem gemeinsamen Fundament: Es sind Vorstellungen, die vom und im Raum entstehen. Die Dimension der Zeit wird als Metrisierung und Rhythmisierung, als Verweildauer oder Geschwindigkeit diesen Kunsträumen eingeschrieben.“ Koch 2005, S. 11.

5

Vgl. dazu den erhellenden Beitrag von Elie Düring (Düring 2013), den ich wegen der Schnittmenge zum „Architektur-Labor“ mit einem berühmten Zitat von Walter Benjamin ergänzen möchte: „Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der ­Zeitlupe die Bewegung. [...] An die Stelle eines vom

11 Zur Zwiespältigkeit der Person Loos‘ vgl. Rauterberg 2015. 12 Zumindest ist in der Literatur dazu nichts zu finden. 13 Loos schreibt in der Filmkritik zu Marcel L’Herbiers L’Inhumaine: „Der Architekt – es ist Frankreichs ­modernster Baukünstler Mallet Stevens, hat hiermit dem Filmkünstler atemraubende Bilder gestellt, ein hohes Lied auf die Monumentalität der modernen und – utopistischen Technik. … Diese Augenwirkung grenzt ans Musikalische, und Tristans Ausruf wird wahr: ‚Hör ich das Licht?‘ Die Wirkung dieser letzten Bilder war überwältigend. Man ging aus dem Theater und hatte das Gefühl, die Geburtsstunde einer neuen Kunst erlebt zu haben. Einer Kunst, die sich an einen Teil unseres Cerebralsystems wendet, dem bisher die Befriedigung seiner künstlerischen Bedürfnisse versagt war.“ (Loos 1924) 14 Vgl. Pallasmaa 2001. 15 Eine filmische Erkundung dieser Architektur hat Heinz Emigholz mit seinem Film Loos ornamental (D 2008) unternommen. Vgl. zur Bewegung durch das Haus Müller auch Alban Jansons Beitrag, ­Janson 2009. 16 Ulrich Müller beschreibt das Haus Auerbach in Jena von Walter Gropius als ein ähnlich erhellendes Beispiel in gänzlich anderer Architektursprache, Müller 2004.

Menschen mit Bewußtstein durchwirkten Raums [tritt] ein unbewußt durchwirkter. [...] Vom OptischUnbewußten erfahren wir erst durch [die Kamera], wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die ­Psychoanalyse.“ Benjamin 2007, S. 40 f. 6

Die Treppe trifft in der Zeitlupe auf eine Schwester im Geiste: Beide zerlegen die Bewegung in Intervalle. Mit der Zeitlupe stockt der Fluss der Bilder im Film. Interessanterweise ist mir kein Film bekannt, der die Treppe in Zeitlupe zeigt.

7 Bruno 2005, S. 119. 8

„[...] Bildern eignet ebenfalls eine spezifische ­Prozessualität: Sie räumen Zeit ein, eröffnen in der Abfolge selbstverständlicher Abläufe eine Kluft und entwickeln darin, zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, neue Spielräume.“ Alloa 2013, S. 13.

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Bibliografie

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DIE ZEIT (30. Juli 2015)

„Auf   der Leinwand gibt es kein Stillleben. Die Dinge verhalten sich. Die Bäume gestikulieren. Die Berge, wie dieser Ätna, bedeuten. Jedes Detail wird zu einer handelnden ­Person. Schauplätze lösen sich auf, und jedes Stück von ihnen nimmt einen eigenen Ausdruck an. Ein erstaunlicher Pantheismus ersteht wieder und erfüllt die Welt bis zum Platzen. Steppengras wird zum lächelnden und femininen Genie. Anemonen, voller Rhythmus und Persönlichkeit, ent­wickeln sich mit der Majestät von ­Planeten. Die Hand trennt sich vom Menschen, führt ein Eigen­leben, leidet und empfindet Vergnügen. Und der Finger trennt sich von der Hand. Ein ganzes Leben verdichtet sich auf einmal und findet seinen zugespitztesten ­Ausdruck in dieser Klaue, die ganz mechanisch einen Füllfederhalter, angefüllt mit einem Gewitter, traktiert.“ Jean Epstein

Verkörperte Zuschauerschaft: Zu Sergej Eisensteins Theorie architektonischer Montage1 Martino Stierli

Wenn der vorliegende Band vor allem die Frage aufwirft, inwiefern der Film als Medium architektonisch verfährt, lässt sich umgekehrt thematisieren, inwiefern Architektur strukturell mit dem Film verwandt ist und der architektonische Raum mithilfe filmischer Kategorien beschrieben werden kann. Um diese Frage zu klären, bietet sich ein Blick auf das theoretische Werk des sow­ jetischen Regisseurs Sergej Eisenstein (1898–1948) an, und zwar aus einem doppelten Grund: Einerseits arbeitete Eisenstein während seiner ganzen Karriere einer umfassenden Theorie filmischer Montage zu, nicht nur, um sein eigenes Filmschaffen kritisch zu reflektieren, sondern auch um seine Montage­ theorie den technischen Entwicklungen und Innovationen des noch jungen Mediums Film anzupassen. Andererseits bezieht sich Eisenstein regelmäßig auf Architektur und Urbanismus als vor-filmische Medien.2 Tatsächlich schreibt der sowjetische Theoretiker zwischen 1937 und 1940 einen Aufsatz mit dem Titel „Montage und Architektur“. Ursprünglich als Teil einer umfassenden Studie zur Montage geplant (welche indes nie fertiggestellt wurde), wurde der Aufsatz erst posthum 1989 veröffentlicht.3 Dass der Text schließlich in einer Zeitschrift für Architekturtheorie erscheinen sollte, ­u nterstreicht dessen Bedeutung für das Architektur- und Raum-Denken in Moderne und Gegenwart.

Eisenstein und die Architektur Der folgende Aufsatz zielt auf eine Kontextualisierung von Eisensteins grundlegenden Beiträgen innerhalb der Architektur-Kultur des 20. Jahrhunderts als einem der zentralen Momente, wo sich architektonische und filmische Montage-Theorie treffen. Eisenstein bezieht sich in seinen zentralen Texten 60

wiederholt und ausführlich auf die Architektur und den Städtebau sowie auf das Problem räumlicher Repräsentation. Und auch wenn Eisenstein häufig auf andere Künste wie Malerei, Bildhauerei, Literatur oder Musik eingeht, scheint doch aus seiner Sicht keine von diesen so eng verwandt mit der Ästhetik filmischer Montage wie die Architektur. Die folgenden Ausführungen sind mithin von zwei grundlegenden Annahmen geleitet: Erstens, dass Eisensteins Versuch, die Bedingungen und Möglichkeiten der neuen Repräsentationsform „Montage“ zu erfassen, maßgeblich durch Architektur und Urbanismus angeleitet sind. Und zweitens, dass Eisenstein in „Montage und Architektur“ (wie auch in gewissen anderen Texten) implizit eine Theorie einer verkörperten Zuschauerschaft auf Basis von Bewegungen im Raum entwickelt. Es ist diese Theorie, so meine These, welche Eisensteins Denken für die Theorie moderner Architektur Relevanz verleiht. Eisensteins Vorliebe für die Architektur als Repräsentationssystem und als Ort der Produktion von sozialer Bedeutung dürfte eigentlich nicht verwundern. Als Sohn eines Architekten – der Vater war Stadtbaumeister von Riga – durchlief Eisenstein zwischen 1916 und 1918 selbst eine Architektur- und ­I ngenieurausbildung am Institut für Bauingenieurwesen von St. Petersburg, bevor er im Nachgang der Oktober-Revolution im Bühnenentwurf für das Proletkult-Arbeitertheater tätig wurde. In den frühen 1920ern wandte sich ­Eisenstein schließlich dem Film zu, wobei er 1923 auch Unterricht beim Filmpionier Lev Kuleshov nahm.4 Indes beschäftigte Eisenstein die Architektur auch weiterhin und für den Rest seines Lebens, und so taucht diese verschiedentlich als Referenzpunkt in seinen theoretischen Arbeiten auf. Auch sein Ruhm als Filmregisseur basiert nicht zuletzt auf Szenen, in denen der Architektur eine ganz besondere Bedeutung zukommt, vielleicht am offensichtlichsten in der berühmten „Treppensequenz“ seines Klassikers Panzerkreuzer ­Potemkin von 1925. Darüber hinaus sollten sich zwei unausgeführt gebliebene Filmprojekte ganz spezifisch um Architektur-Fragen drehen, einerseits das Glashaus-Projekt (1926–30) sowie der Film „Moskau durch die Geschichte“.5 Indes wäre es zu vereinfachend, Eisensteins Interesse an der Theoretisierung architektonischer Montage bloß als Resultat einer biografischen Prädisposition zu sehen. Vielmehr fungiert die Architektur als fundamentale theoretische 61

­Kategorie für die filmische Konzeption von Raum und Zeit. Die besondere Rolle, welche Eisenstein der Architektur zuschreibt, erweist sich als Konsequenz seiner Einsicht, dass das Medium des Films wie auch das der Architektur intrinsisch durch das Prinzip der Montage bestimmt sind und dabei beide gleichermaßen als Anfangspunkt dienen, um traditionelle und statische Vorstellungen des Bildes wie auch der Repräsentation von Räumen zu überwinden. Eisenstein blieb zeitlebens in engem Kontakt mit Architekten der Avantgarde, und 1928 war er neben Moissei Ginsburg, Alexander Vesnin und anderen Gründungsmitglied der konstruktivistischen Gruppe „Oktjabr“.6 1926 engagierte er Andrei Burov, einen Architekten der OSA-Gruppe (Organisation Zeitgenössischer Architekten), einer von Ginsburg und Vesnin gegründeten Vereinigung konstruktivistischer Architekten: Burov, der später Le Corbusiers Kontaktarchitekt beim Bau des Centrosoyuz-Gebäudes in Moskau werden sollte, entwarf das Modell eines Kollektiv-Bauernhofs (sovkhoz) für Eisensteins Film Die Generallinie – ein Modell, das ebenso von Le Corbusiers Villa Savoye wie von den Getreidesilos in Nordamerika inspiriert war. Als Le Corbusier im Oktober 1928 Moskau zum ersten Mal besuchte, war es denn auch Burov, der Le Corbusier und Eisenstein einander vorstellte.7 In der Folge deklarierte sich Eisenstein als „großer Anhänger der Architektur-Ästhetik Le Corbusiers“.8 Es verwundert darum auch nicht, dass Eisenstein sich im Kreise konstruktivistischer Architekten in Russland bewegte, vor allem im Umfeld Ginsburgs, dessen Buch Stil und Epoche (1924) gerne als russische Antwort auf Le Corbusier’s Vers une architecture angesehen wird.9 Le Corbusier hegte seinerseits große Bewunderung für Eisensteins Arbeit. Nach einer privaten Vorführung des Panzerkreuzer Potemkin während seines Moskau-Besuches gab er dem Filmemacher ein mit persönlicher Widmung versehenes Exemplar seines Buches L’art décoratif d’aujourd’hui.10 Le Corbusier war der Meinung: „Architektur und Film sind die einzigen Künste unserer Zeit. In meiner Arbeit scheine ich so zu denken wie Eisenstein in seinen Filmen […] Seine Filme ähneln sehr dem, was ich in meiner eigenen Arbeit anstrebe.“11 Auch wenn er hier nicht näher ausführt, worin exakt sich seine Ästhetik mit jener Eisensteins trifft, ist, wie Jean-Louis Cohen aufgezeigt hat, 62

Le Corbusiers architektonische „Lyrik“ charakterisiert durch die beiden ­Elemente der (dialektischen) Gegenüberstellung (einzelner Baulemente) und der Aneinanderreihung – beides grundlegende Konzepte auch für Eisensteins Montage-Theorie.12 Darüber hinaus speist sich Eisensteins Theorie von denselben Quellen, die auch Le Corbusier in Vers une architecture für seine Konzeption einer promenade architecturale benutzte: Hier wie dort ist es Auguste Choisys Analyse der Akropolis von Athen in seiner 1899 erschienenen Histoire de l’architecture. Choisy – und in der Folge Le Corbusier und Eisenstein – verstehen den architektonischen Raum als bestimmt durch verkörperte und sich bewegende Betrachter. Diese Vorstellung des verkörperten Sehens wird meist der Phänomenologie, insbesondere jener von Edmund Husserl und Maurice Merleau-Ponty zugeschrieben.13 Die historische Verbindungslinie von Choisy zu Eisenstein und Le Corbusier stellt demgegenüber eine alternative genealogische Entwicklungslinie der Idee eines verkörperten Sehens dar, das grundlegend architektonisch gedacht werden muss und das Prinzip der Montage, wie auch der sinn-genierenden Abfolge von Bildern, umfasst.

„Montage und Architektur“: Cinematism, verkörperter Zuschauer und Le Corbusiers promenade architecturale Unter den verschiedenen Beiträgen Eisensteins zur strukturellen Ähnlichkeit zwischen Architektur und Film entwickelt der zwischen 1937 und 1940 entstandene (aber erst 1989 veröffentlichte) Aufsatz „Montage und Architektur“ am ausführlichsten die Idee, Montage als eine Denkfigur zu begreifen, um die ­Visualität des (modernen) Raums zu verstehen. Das zentrale Argument des Textes ist, dass die grundlegenden Prinzipien des Films bereits implizit präsent sind in vorfilmischen Medien. Eisenstein nennt diese vor- oder proto-filmische Ästhetik „Cinematismus“.14 Das Ziel seines Arguments ist klar: Er will das noch junge künstlerische Medium des Films aufwerten, indem er es in eine genealogische Linie mit den etablierten Künsten stellt: „Es scheint, dass alle Künste durch die Jahrhunderte hindurch zum Film tendierten. Umgekehrt hilft der Film uns deren Verfahren zu verstehen.“15 Eisenstein ist weniger daran inter63

essiert, die medien-spezifischen Qualitäten des Films zu bestimmen. Vielmehr geht es, wie Antonio Somaini argumentiert hat, bei seinem Begriff des „cinematism“ darum, „in der Universalgeschichte der Repräsentationsformen“ – von der Kunstgeschichte, der Sprachgeschichte bis zu der Geschichte der Riten – all jene Formen vor- und außer-filmischer „Filmhaftigkeit“ zu finden, von denen sich das Kino hatte inspirieren lassen für seine Experimente mit immer wieder anderen und effizienteren Verfahren der Montage.16 „Montage und Architektur“ führt vor, wie solch eine alternative Konzeption von Visualität bereits in Architektur und Städtebau der Antike entwickelt worden war. Der Essay „Montage und Architektur“ lässt sich in zwei Sektion unterteilen. In der ersten diskutiert Eisenstein das Konzept des „Pfads“, wobei er sich auf Auguste Choisys Interpretation der Akropoplis als Schauplatz eines proto-­ kinematografischen Urbanismus bezieht. Im zweiten, deutlich längeren Teil macht Eisenstein eine ausführliche, ikonografische Lektüre der Wappen der Kathedrale von St. Peter in Rom, welche er als Momente einer „Montage-Technik der sequentiellen Gegenüberstellung“17 liest: „In sich sind die Bilder, die Phasen, die Elemente des Ganzen unschuldig und nicht entschlüsselbar. Sie treffen einen nur, wenn die Elemente einander gegenübergestellt werden in einem einzigen sequentiellen Bild.“18 Diese Aussage enthält, was für Eisenstein das charakteristische, wenn nicht gar definierende Prinzip der Montage wie auch des Mediums Film schlechthin darstellt: eine Kombination von ­Sequenzialisierung und Gegenüberstellung. In seinem Text „El Greco y el Cine“, in welchem er auf Choisys Lektüre der Akropolis zurückkommt, unterstreicht Eisenstein seinen Begriff architektonischer Montage folgendermaßen: „Ein architektonisches Ensemble [ist] […] eine Montage aus Sicht der sich bewegenden Betrachter. Können sich indes die Betrachter nicht bewegen, sind sie gezwungen, in einer einzigen Perspektive Elemente zusammenzubringen, die in Realität weit verstreut sind […]. Auch die kinematografische Montage ist ein Weg, um in nur einem Punkt – auf der Leinwand – verschiedene Elemente (Fragmente) eines in verschiedenen Dimensionen, von verschiedenen Blickwinkeln und verschiedenen Seiten her gefilmten Phänomens zusammenzubringen.“19 64

Eisensteins Interesse an Architektur und Urbanismus kreist um zwei Fragen: Wie verbinden sich in der Wahrnehmung des Publikums einzelne ­Bilder oder visuelle Eindrücke zu kontinuierlichen Sequenzen, und wie produ­ zieren Bildsequenzen eine Bedeutung, die über jene der einzelnen Bilder ­h inausgeht? Eisensteins Montage-Theorie basiert dabei zu einem wesentlichen Teil auf seinem Verständnis von Architektur als einem Raum, der physisch und/oder mental durchquert werden muss, um erfasst werden zu können. Eine ganz ähnliche Auffassung zum modernen Raum und seiner zeitlichen Wahrnehmung hat auch Le Corbusier, wie er ihn mit seinem Konzept der „Promenade“ vorführt. Das Konzept der „promenade architecturale“ taucht in mehreren der weißen Villen der 1920er-Jahre auf, etwa in der Maison La Roche-Jeanneret von 1923.20 Der Architekt beschreibt denn auch die Gestaltung des Gebäudes in einem gleichsam filmischen Spiel von Perspektiven und wechselndem Lichteinfall: „Dieses zweite Haus [das La Roche Haus] wird […] wie eine architektonische Promenade sein. Man tritt ein: das architektonische Spektakel bietet sich dem Blick sukzessive an; man folgt einem Weg und die Perspektiven entwickeln sich mit einem großen Variantenreichtum; man spielt mit dem Einströmen des Lichts, das die Wände erleuchtet oder Schatten kreiert.“21 Le Corbusiers Überzeugung, dass Architektur am besten in Bewegung wahrgenommen wird, durch sich bewegende Menschen, deren Raumerleben ­dadurch konstituiert wird, dass sie einzelne Ansichten im Geiste zu einer ­Sequenz zusammenfügen, kommt Eisensteins Verständnis von Architektur als proto-kinematografisch schon sehr nahe. Architektonisches und filmisches Denken konvergieren so in den späten 1920ern, und es scheint wahrscheinlich, dass Eisensteins Überlegungen zur architektonische Montage viel Le Corbusiers Ideen verdanken, so wie umgekehrt dessen Raumkonzepte durch seine Beschäftigung mit „bewegten Bildern“ bestimmt sind – verstanden sowohl als Film wie auch als Sequenzierung visueller Eindrücke entlang der Promenade durch architektonische Räume. 65

Aktive Zuschauerschaft und verkörpertes Sehen Eisenstein beginnt seinen Aufsatz „Montage und Architektur“ mit einem Verweis auf den Begriff des Pfads. Es ist hier, bereits am Anfang seines Textes, wo er zwischen bewegungslosen und sich bewegenden Zuschauern differenziert und damit auch zwischen einem filmischen und einem architektonischen ­Dispositiv des Sehens: „Das Wort „Pfad“ wird nicht zufällig benutzt. Heutzutage meint es den imaginären Pfad, dem das Auge folgt und die unterschiedlichen Wahrnehmungen eines Objekts, die davon abhängen, wie es dem Auge erscheint. Heutzutage kann es auch den Pfad meinen, dem der Geist folgt durch verschiedenste Phänomene hindurch, die, weit verstreut über Zeit und Raum, in einer bestimmten Abfolge zu einem bedeutsamen Konzept zusammengefügt werden; und diese unterschiedlichen Eindrücke ziehen an einem regungslosen Zuschauer vorbei. In der Vergangenheit indes war das Gegenteil der Fall: der Betrachter bewegte sich in [einer Serie von] sorgfältig angeordneten Phänomenen, die er sequentiell, der Reihe nach mit seinem Seh-Sinn aufnahm.“22 Nach Eisensteins Auffassung wird demnach die Architektur durch das Kino verdrängt, und an die Stelle der sich bewegenden Betrachter tritt das regungslose Kinopublikum. Die Reise durch Zeit und Raum benötigt nicht länger ­körperliche Bewegung, sondern kann auch durch die bloße Augenbewegung, beziehungsweise durch eine virtuelle Bewegung in der Imagination vollführt ­werden. Im Kontrast zu Eisensteins Betonung des starken Bezugs zwischen Architektur und Film hat Anne Friedberg diese Differenzierung zwischen regungs­ losem und bewegtem Zuschauen benutzt, um zwei unterschiedliche Regime des Sehens voneinander abzusetzen: „Für das Publikum der Architektur trifft sich die Materialität der Architektur mit der Mobilität ihres Betrachters; für das Publikum des Films trifft sich die Immaterialität des Filmerlebens mit der Immobilität seines Betrachters. Folglich funktioniert die körperliche, haptische, phänomeno­ 66

logische Wahrnehmung eines umherziehenden, wandernden Betrachters als ein gänzlich anderes visuelles System, wenn die Bewegung eingerahmt und fixiert wird als ein nur optischer „imaginärer Pfad“ mit klaren Rändern und Begrenzungen.“23 Friedberg scheint damit implizit für eine architektonische und gegen eine filmische Art der Zuschauerschaft einzutreten. Obwohl der Film die eigene Imagination in Gang setzt, bleibt der Geist gleichwohl „gebunden“ und „begrenzt“ durch den Ausschnitt des Bildes. Der Filmhistoriker David Bordwell hat aufgezeigt, wie sehr Eisensteins frühe Montage-Theorien durch Iwan Pawlows Konzept von Erregung und Reflex bestimmt sind.24 Gemäß einer solchen Auffassung wird die geistige Disposition der Zuschauer gesehen als Zielscheibe für die Manipulationen des Künstlers, der damit zu einem „calculator of stimulants“ wird. Dies ist freilich eine ziemlich pessimistische Auffassung des Publikums als eines willigen Versuchsobjekts, dessen emotionale Reaktionen vom Künstler gemäß seinen Intentionen vorausberechnet werden können. Anne Friedberg zufolge erlaubt demgegenüber die Architektur im Vergleich zum Film den „herumziehenden und wandernden“ Betrachtern eine ungleich größere Freiheit bei der Entscheidung, wie weit seine oder ihre Partizipation gehen solle. Mit anderen Worten: Den passiven Filmkonsumenten steht ihrer Auffassung nach ein aktiver Bewohner und Gestalter des architektonischen Raumes gegenüber. Indes wird diese Freiheit des Publikums durch das architektonische Dispositiv nicht zwingend unterstützt: So zutreffend es auch ist, dass ein Gebäude wie Le Corbusiers Villa Savoye es den Besuchern erlaubt, von dessen „Promenade“ abzuweichen, der entlang sich das räumliche Nar­ rativ des Baus entfaltet, ist die Villa doch gleichwohl und notwendigerweise so gebaut, dass sie den Besuchern mit ihren sorgfältig eingerichteten visu­ ellen Passagen und Höhepunkten nur eine begrenzte Anzahl von Optionen für räum­l iche Erfahrungen offeriert.25 Le Corbusiers Denken war bekannterweise bestimmt durch Theorien der Sozialtechnik und von Konzepten zur ­O rganisation von Arbeitskräften, Bewegung und Raum, wie sie bei Henry Ford oder Frederick Winslow Taylor ausgeführt sind. Deren Theorien waren in Frankreich durch einen Freund Le Corbusiers, den Ökonomen und Sozio67

logen Hyacinthe Dubreuil bekannt gemacht worden.26 Dubreuils Ideen einer Rationalisierung der Arbeitsprozesse hinterließ denn auch einen großen ­Eindruck auf den Architekten und seine Überlegungen zur Organisation des Raumes. Die „promenade architecturale“ und die damit verbundene Vorstellung vom Innenraum als durch visuelle Eindrücke und körperliche Bewegung struk­t uriert, muss bei Le Corbusier also im Zusammenhang mit einer soziokönomischen Theorie der Rationalisierung von Raum und Zeit gedacht werden. Sowohl Le Corbusiers wie auch Eisensteins Theorien (räumlicher) Wahrnehmung zielen demnach weniger auf eine Befreiung des Betrachters als vielmehr auf dessen Aktivierung innerhalb von klar vorgegebenen, räumlichen Strukturen. Entsprechend erweist es sich als fragwürdig, ob Friedbergs Diskussion von „Freiheit“ und „Wahl“ und die Vorstellung eines partizipatorischen Publikums Eisensteins filmischer Montage wie auch Le Corbusiers räumlicher Montage in der „promenade architecturale“ überhaupt angemessen sind. Beide versuchen, die Imagination der Betrachtenden zwar freizusetzen, indes notwendigerweise nur innerhalb von Grenzen, die der Künstler selber bestimmt.

Montage und Transparenz: Eisensteins Glashaus-Filmprojekt Wenn der Aufsatz „Montage und Architektur“ sozusagen eine theoretische Zusammenfassung von Eisensteins Überlegungen zum Verhältnis von Raum, Körper, Bewegung und Visualität darstellt, dann ist sein Interesse an der ­A rchitektur als theoretischer Kategorie ebenfalls evident in einer Reihe von ­u nverwirklichten Filmprojekten. Das vielleicht bedeutsamste in diesem Zusammenhang ist das Glashaus-Projekt, das Eisenstein in den späten 1920ern begann, dann aber mangels Finanzierung aufgeben musste. Trotz seines fragmentierten Zustandes zeigen die Notizen und Entwürfe des Projektes deutlich die Beschäftigung des Filmemachers mit den Fragen der Transparenz in der avantgardistischen Architektur und deren Implikationen für die filmische Montage. 68

Der Film sollte von einem alten Architekten erzählen, der einen Wolken­ kratzer baut. Obwohl alle Decken und Wände transparent sind, können sich die Bewohner offenbar gegenseitig nicht sehen, noch nehmen sie die Aktionen der anderen wahr. Ein Dichter öffnet ihnen schließlich die Augen, doch die neuen Erkenntnisse führen nur zu Intrigen und Katastrophen und am Ende zur Zerstörung des Gebäudes. Ein Roboter ist es, der den ersten Schlag gegen das Gebäude vollführt. Über den Ruinen stehend, nachdem das Haus zerstört ist, nimmt der Roboter seine Maske ab – der Roboter war niemand ­a nderes als der Architekt selbst.27 Hatte „Montage und Architektur“ versucht, filmische Kategorien der Montage und Sequenz auf antike Architektur zurück zu projizieren, kehrt Glashaus dieses Verhältnis um und positioniert das filmische Medium als Interpretation und kritische Begutachtung zeitgenössischer Architekturtheorie. Insbesondere will Eisenstein den Film nutzen, um mit Verfahren wie der Doppelbelichtung über architektonische Fragen der Transparenz nachzudenken. Einer Notiz Eisensteins vom 18. September 1927 zufolge notiert er zum „Thema“ des Films: „Entfremdung und Isolation sind notwendige Nebenprodukte ­eines Systems des chaotischen Konkurrenzkampfes. Im kapitalistischen Umfeld gibt es keine Solidarität, niemand entgeht dem ‚Fressen oder Gefressen-werden‘. Stelle am selben Ort das ideale kommunale Gebäude dem zerstörten Glashaus gegenüber.“28 Durch die totale Transparenz des Gebäudes und das Fehlen von schützenden Wänden wird jegliche Vorstellung von Privatsphäre infrage ­gestellt. Dies war indes nicht nur eine dystopische Vision modernistischer ­Ä sthetik oder des modernen (amerikanischen) Kapitalismus, sondern zugleich auch ein direkter Kommentar zur sowjetischen Theorie des Kollektivismus und der kollektivistischen Architektur – wie etwa Moissei Ginsburgs ­Nar­komfin-Gebäude für kollektives Wohnen in Moskau. Schließlich lässt sich Glashaus auch als selbst-reflexiver Kommentar über die Filmgeschichte ­lesen: wurden doch in der Anfangszeit des Kinos Filme in Studios gemacht, die – um genügend Licht für die Aufnahmen zuzulassen – ganz aus Glas gefertigt waren, ähnlich etwa wie ein Treibhaus.29 Eisenstein beginnt im Januar 1927 über sein Glashaus-Projekt nachzudenken. Frühe Notizen erwähnen, dass ihm die Idee zu einem „Glas-Wolkenkratzer“ 69

bereits Mitte April 1926 in einem Berliner Hotel kam, und zwar „unter dem Eindruck von Experimenten mit Glas-Architektur“.30 Tatsächlich erlebte ­Berlin zu der Zeit eine lebhafte Hochhaus-Debatte, nicht zuletzt im Zu­ sammenhang mit Mies van der Rohes Projekt für ein Hochhaus am Bahnhof Friedrichstraße. Ein paar Jahre später wird Eisenstein im New York Magazine eine Illustration für Frank Lloyd Wrights Hochhaus-Projekt für die Bowery in New York City entdecken – die St. Mark’s-in-the-Bouwerie Towers (1927–31). Eisenstein schreibt dazu in sein Tagebuch: „Frank Lloyd Wright schlägt einen Glas-Turm für New York vor, er hat seine Kunst dem Maschinen­ zeitalter angepasst.“31 Die Illustration klebt er ebenfalls in sein Tagebuch und schreibt dazu die Worte: „[D]as ist der gläserne Wolkenkratzer, wie er in Berlin ‚erfunden‘ wurde.“32 Eisenstein begegnete Mies van der Rohes Projekt für das Hochhaus am Bahnhof Friedrichstraße womöglich bei seiner ersten Publikation, nämlich in Bruno Tauts (post-) expressionistischer Zeitschrift Frühlicht im Sommer 1922. Im dort erschienenen Kommentar diskutiert Mies van der Rohe seine Experimente mit einem „Glasmodell“, um die neuen baulichen Möglichkeiten des Materials zu erproben: „Ich erkannte bald, dass es bei der Verwendung von Glas nicht auf eine Wirkung von Licht und Schatten, sondern auf ein reiches Spiel von Lichtreflexen ankam.“33 Und es waren präzise diese fotografischen Experimente mit der Reflexion von Licht auf durchsichtigen Flächen, welche Eisenstein fasziniert und sein Filmprojekt inspiriert haben.34 Eisenstein scheint so direkt in sein filmisches Denken zu übertragen, was Mies in seiner Publikation zum Friedrichstraße-Hochhaus diskutiert. Was die zeitgenössischen Architekten beschäftigt, wie Fragen der Transparenz und deren Auswirkung auf die Wahrnehmung von Architektur und Raum, beschäftigt auch den Filmemacher. Das Glashaus-Projekt erscheint somit als Weiterführung eines Diskurses über architektonische Ästhetik im Medium des Films. Wie aber hängt nun Eisensteins Interesse für Transparenz (in der Architektur) mit dem Problem der (filmischen) Montage zusammen? Für Eisenstein scheint die Verbindung recht klar: Montage, wie auch architektonische Transparenz, basiert auf der Aufhebung zweier einzelner, getrennter Wahrnehmungen und deren Verschmelzung zu einer einzigen, neuen Wahrnehmungs-­ 70

Synthese. Tatsächlich schlägt Eisenstein die Überblendung verschiedener Montage-Konzepte vor: zum einen die dialektische Gegenüberstellung heterogener Elemente, zum anderen ein Wahrnehmungsphänomen, das aus diesen unterschiedlichen Elementen ein einziges mentales Kompositbild zusammensetzt. Wie Antonio Somaini gezeigt hat, experimentiert Eisenstein in seinen Glashaus-Notizen mit Transparenz als einem Effekt, der sowohl verbindet als auch trennt.35 Der Effekt einer Überblendung zweier visueller Eindrücke auf einer Glasfassade war indes auch für die modernistische ­A rchitektur von zentraler Bedeutung. Es waren die moderne Großstadt und deren technologischer Fortschritt, welche solche visuellen Erfahrungen überhaupt erst ermöglichten. Doch gegen den Mythos der Aufklärung von der Transparenz als Äquivalent einer absoluten Offenheit und Rationalität schuf die Erfahrung transparenter Großstadt-Architektur alsbald das Bewusstsein, dass Transparenz durch ihre Spiegeleffekte mindestens so viel verbirgt wie sie preisgibt. Der Spiegeleffekt der Glasfassaden mahnt dabei an Jacques Lacans Theorie des „Spiegelstadiums“, in dem das sich spiegelnde Subjekt sich seiner selbst bewusst wird und sich dabei zugleich verkennt.36 Nach solch ­einem Verständnis hat auch die filmische Überblendung von Bildern den ­E ffekt, sowohl Innen- wie Außenraum als auch die Grenzen zwischen wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt zu verwischen. Während diese Ideen psychoanalytische Theorien des Raums bestimmen,37 scheint ­Eisensteins Gebrauch der Überblendung und sein Interesse an der gegen­ seitigen Durchdringung von Innen- und Außenraum direkt jene visuellen Erfahrungen auf die Leinwand zu bringen, wie sie erstmals von der (im)­ materiellen Glasarchitektur der modernen Großstadt eingeführt wurden. Es wäre somit die moderne Architektur, welche ein Modell bereithielt für jenen psycho-visuellen Apparat, welchen das aufkommende Medium des Films so kraftvoll vor unseren Augen installieren sollte. [Übersetzung aus dem Englischen: Johannes Binotto]

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Anmerkungen

18

„In themselves, the pictures, the phases, the ­elements of the whole are innocent and indecipher­ able. The blow is struck only when the elements are juxtaposed into a sequential image.“ Ebd.

1

Beim vorliegenden Aufsatz handelt es sich um eine gekürzte Erstübersetzung eines Kapitels aus dem Buch Montage and the Metropolis: Studies on the Conception and Representation of Space in Moder­ nity, welches 2018 bei Yale University Press, New Haven erscheinen wird.

2

Eisensteins Glaube an die ästhetische und epistemologische Affinität zwischen Architektur und Film war freilich keineswegs neu, vgl. Vidler 2000, S. 111–122

3

Vgl. Eisenstein 1989. Verschiedene Teile des ­großen „Montage“-Manuskripts wurden unter ­diversen Titeln bereits veröffentlicht, was die Navigation durch die Schriften Eisensteins einigermaßen schwierig macht. Zur Editionsgeschichte von ­Eisensteins Manuskript vgl. Bulgakowa 1996, S. 9–16

4

Für bibliografische Informationen zu Eisenstein: Lenz 2006, sowie Eisenstein 1996, S. 284–90

5

Bulgakowa 1996, S. 27

6

Albera 1992, S. 44

7

Zu Le Corbusiers Moskau-Besuch und seinen ­Kontakten mit der russischen Avantgarde siehe ­Cohen 1992

8

Vgl. Sergei Eisenstein 1991, S. 289

9

Vgl. Ginzburg 1982

10 Vgl. Cohen 1992, S. 48–49 11 Zitiert nach Cohen 1992, S. 49 12 Vgl. ebd. S. 122 13 Vgl. Husserl 2007, Merleau-Ponty 2003, S. 275–317 14 Eisenstein 1980 15 “It seems that all the arts have, throughout the centuries, tended towards cinema. Conversely, the cinema helps to understand their methods.“ Ebd., S. 7 16 „[…] à retrouver dans l’histoire universelle des ­formes de représentation – de l’histoire des arts a celle des langues et rites – toutes ces formes de ­cinématographicité pré- et extra-cinématographique d’où le cinéma aurait pu tirer son inspiration pour ­expérimenter des solutions de montage toujours plus différentes et efficaces.“ Somaini 2012, S. 162 17 „montage technique of sequential juxtaposition“, ­Eisenstein 1989, S. 128

19 “[U]n ensemble architectural [est] … un montage à ­partir d’un spectateur en mouvement. Mais si le ­spectateur ne peut se déplacer, il est contraint de ­ramener en un point unique les éléments de ce qui est dispersé dans la réalité … Le montage cinémato­ graphique est, lui aussi, un moyen de ‘relier‘ en un point — sur l’écran — divers éléments (fragments) d’un phénomène filmé dans divers dimensions, de ­divers points de vue et de divers côtés.“ Eisenstein 1980, S. 16–17 20 Siehe dazu auch: Blum 1987, S.31 ff. 21 “Cette seconde maison [La Roche House] sera … comme une promenade architecturale. On entre: le spectacle architectural s’offre de suite au regard; on suit un itineraire et les perspectives se développent avec une grande variété; on joue avec l’afflux de la lumière éclairant les murs ou créant des pénombres.“ Le Corbusier 1964, S. 60 22 “[T]he word path is not used by chance. Nowadays it is the imaginary path followed by the eye and the ­varying perceptions of an object that depend on how it appears to the eye. Nowadays it may also be the path followed by the mind across a multiplicity of phenomena, far apart in time and space, gathered in a certain sequence into a single meaningful concept; and these diverse impressions pass in front of an immobile spectator. In the past, however, the opposite was the case: the spectator moved between [a series of] carefully disposed phenomena that he absorbed sequentially with his visual sense.“ Eisenstein 1989, S. 116 23 “For the architectural spectator, the materiality of ­architecture meets the mobility of its viewer; for the film spectator, the immateriality of the film experience meets the immobility of its viewer. Hence, the bodily, haptic, phenomenological perception of an itinerant and peripatetic viewer operates as an entirely different visual system once the itinerary ­becomes framed, an optical ‘imaginary path‘ with boundary and limit.“ Friedberg 2006, S. 173 24 Vgl. Bordwell 1974 25 Vgl. Hilpert 1978 26 Vgl. Dubreuil 1929 27 Zur Zusammenfassung siehe Bulgakowa 1996, S. 114

72

28 “[A]lienation and isolation as necessary by-products of a system of chaotic competition. In the capitalist environment there is no solidarity, no one escapes the ‘eat or be eaten.’ Juxtapose at the same place the ideal communal buildings to the destroyed glass house.“ Sergei Eisenstein, „Glashaus,“ in Bulgakowa 1998, S. 17–38, hier: S. 22. 29 Vgl. Albera 1998, S. 125–126. Ich danke auch Jörg Schweinitz für den Hinweis auf diesen Aspekt. 30 Eisenstein 1998, S. 26 31 “Frank Lloyd Wright proposes a glass tower for New York, he has adapted his art to the machine age.“ Ebd. S. 35 32 „[T]his is the glass skyscraper ‚invented‘ in Berlin.“ ­Zitiert nach Albera 1998, S. 127 33 Mies van der Rohe 1922, S. 124 34 Vgl. Bulgakowa 1996, S. 115 35 Vgl. Somaini 2012, S. 87 36 Vgl. Lacan 1991, siehe dazu auch Vidler 1992, S. 217–225, sowie Binotto 2013, S. 263–265 37 Vgl. Binotto 2013, S. 19–54

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Bibliografie

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„Das   Lichtspiel erzählt uns die Geschichte vom Menschen, indem es die Formen der Außenwelt, nämlich Raum, Zeit und Kausalität überwindet und das Geschehen den Formen der Innenwelt, ­nämlich Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Phantasie und Emotion anpasst.“ Hugo Münsterberg

Die Straße runter – oben bleiben Christoph Eggersglüß

„The cinema seems to come into its own when it clings to the surface of things.“1 „Robinson believed that, if he looked at it hard enough, he could cause the surface of the city to reveal to him the molecular basis of historical events, and in this way he hoped to see into the future.“2

Architektur/Film „Alles ist Architektur“, der Wahlspruch des österreichischen Architekten Hans Hollein, der damit 1967 poppig die Architekturszene aufmischte, zieht eine gute Parallele zu jenem Komplex, dem sich der vorliegende Beitrag widmet: Der Ruf nach Entgrenzung des Untersuchungsgegenstandes und die Forderung, nicht mehr „nur in Materialien zu denken“, bringt ob der unübersicht­ lichen theoretischen Anschlüsse und Verzweigungen allerlei Definitionsprobleme mit sich, wenn man doch nach Haltepunkten in einem schier endlosen Feld sucht – da heißt es fast: alles oder nichts, was soll man noch sagen und unterscheiden, wenn alles alles ist.3 Ferner beruhigt es nur wenig, dass man unweigerlich und recht schnell immer wieder auf das Problem selbst stößt, buchstäblich immer wieder auf Oberflächen trifft, und damit beginnt, sich im Kreise zu drehen.4 Oberflächliche Ähnlichkeiten zwischen Film und Architektur und ihren visuellen Verfahren gibt es ohnehin zuhauf. Andererseits könnte man tiefergehend fragen, wo fängt Film an und wo hört Architektur auf: Die Lektüre und Meinung zur Architektur im Film, sei es über die Ausstattung oder die Montage von Studios, Schauplätzen, Skylines oder Häuserschluchten, ist vor allem unübersichtlich.5 Jene über die Architektur des Films hingegen noch immer spärlich.6 78

Man könnte nicht nur mit erhobenem Blick auf die Fassade, auf das Musterbeispiel architektonischer Oberflächenordnung als vermeintliche Beziehung zum Innern einer gebauten Struktur oder auf den vorgehängten Widerspruch und Schmuck verweisen. Ebenso könnte man meinen, mit dem gesenkten ­Kameraauge auf der Straße all die Normen und Standards des öffentlichen Tiefbaus geradezu ablesen zu können – egal wohin wir schauen, irgendwo ist Schluss, meist dort, wo ein mehr oder minder beschriebener Körper sein Ende und damit eine Oberfläche ihren Anfang hat.7 Es sei denn, man sucht ­v isuelle Workarounds, schaut in den Himmel, das Wasser oder den oberflächenarmen Weltraum, solange man ihn nicht gleich rahmt – selbst über Wolken kann man unendlich streiten, und der Horizont verweilt als ein schwacher Trost eines vermeintlichen Endes.8 Nun reicht es also nicht, festzustellen, dass beide Disziplinen und ihre Bilder von Medien abhängen und es mit Ober­fl ächen zu tun haben, die sie besonders behandeln. Es bleibt eine medien­t heoretische Suchbewegung nach operativen Anschlüssen. Was können wir der Oberfläche abgewinnen? Was macht die Oberfläche mit dem Film, wenn sie nicht nur umhüllt, abschirmt und relativ „außen“ zu etwas ist, sondern ­a rchitektonisch verfährt, indem sie Personen, Dinge und Zeichen organisiert und ordnet, also trennt, verbindet, leitet, filtert und anordnet?9 Könnte man mit der Oberfläche einen Stand- oder auch Angelpunkt für eine Verhältnisbestimmung von Film zu Architektur gewinnen? Hinderlich erscheint hier vor allem das Denken in Superkategorien, die nicht selten den Blick auf die mikrologischen Operationen verstellen.10 Ein solcher Versuch, Architektur und Film zuerst mittels ihrer Fähigkeiten zur Raumbildung und Bildgebung je für sich zu definieren und dann zueinander in Beziehung zu setzen, landet unweigerlich beim Rahmen, Fahren, Zoomen.11 Diese Bereiche sind nicht nur einfach zu groß, um sie hier einzeln zu durchschreiten, abzustecken oder vergleichend überschauen zu können, ihre Dispositive sind sich schlichtweg zu ähnlich, wobei Unterschiede zwischen Architektur und Film gerade in der körperlichen Erfahrung liegen.12 Bei ersten tentativen Begehungen der Diskursfelder stellt sich vielmehr heraus, dass sie in weiten Bereichen das gleiche Land bestellen, mehr als raumfüllende Nähe teilen, sich ihre Ursprünge, Techniken und Technologien nicht 79

so sehr widersprechen als vielmehr überlappen und bedingen – vor allem wenn man an einen medientechnischen Verbund mit den modernen Fortbewegungsmitteln wie Eisenbahn und Automobil denkt.13 Schließlich sind sie weder passive Produkte noch letzte Enden eines abgeschlossenen Diskurses, sicher ist nur, die beiden Raumkünste treffen sich wieder, im Bild: „Architecture begins and ends in pictures.“14 Legt man nun bildlich gesprochen diese überbordenden Untersuchungsfelder in Schichten übereinander und zerreißt den Stapel entlang der Markierungen ausgewählter Szenen punktueller Begegnung, so entsteht eine weitere Ebene: Wenn auch zerfranst, lassen sich hier Grenzflächen ausmachen, Oberflächen von Dingen, Körpern, Kubaturen, an denen sie sich mitunter mittels der Bilder schneiden und verständigen. Ziel der folgenden Betrachtungen ist es also, anstatt Film und Architektur gegeneinander auszuspielen, durch Architekturtheorie und Filmgeschichte mit einigen Bildern kleine Schnitte zu machen, die vorhandene Oberflächen nicht so sehr freilegen als verknüpfen. Analog zur Karte könnte man den Film, so offen und zugleich geschlossen diese Bezeichnung für das Bewegtbild auch sein mag, nicht allein als Repräsentation des Raumes lesen oder ihm per se Raumbildung unterstellen, sondern ihn vielmehr als Raum der Repräsentation sehen, der gewisse Prinzipen des Zusammenfügens von Elementen vollzieht.15 Die medientheoretischen Analogien zwischen Film und Architektur sind hier fließend. Textil und Tektonik, Funktion und Form kommen in Austausch, wenn man sich mit den Oberflächeneigenschaften im Einzelnen beschäftigt, mit Material, Licht, Farbe, Stofflichkeit, Textur, Reibung und Atmosphäre, ­gesteigert noch durch ihre kulturspezifische Symbolik und gesellschaftliche Bedeutung.16 Die Architekturtheorie hält mit Gottfried Sempers Schriften zur Entstehung der Architektur und in Bezug auf die äußere Hülle oder auch mit John ­Ruskins Betrachtungen zum Faltenwurf schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts zudem ausgewiesene „Bekleidungstheorien“ vor, die sich ausgiebig und erschöpfend mit der Rolle der Oberfläche auseinandersetzten.17 Weiterhin finden sich Diskurse, die sich vor allem kunst- und medienwissenschaftlich entweder d ­ irekt mit den mimetischen Praktiken, dem Trompe-l’œil, der Mimikry, C ­ amouflage, 80

Hygiene oder oberflächennahen, oberflächenanzeigenden Akteuren auseinandersetzen.18 Fotografierte Oberflächen bilden dabei einen spezifischen bildtheoretischen Korpus, der sich vor allem an Bauwerken, Schauplätzen, Fassaden und Typologien entlang buchstabiert. Gerade wenn es um die Anfänge und Zusammen­ hänge in der Fotografie der Neuen Sachlichkeit, im frühen Bewegtbild und Photogénie oder gar um den konstruktiven Einsatz der Architekturfotografie geht, muss auf die zahlreichen Studien verwiesen werden, anstatt darauf ­näher einzugehen.19 Die hier gewählte Sichtweise stellt also nur einen Ausschnitt aus der schier bedrohlich verallgemeinerten Oberflächenproblematik dar, möchte damit aber auch die alten Fallstricke universeller Definitions­ bemühen vermeiden. In einem textökonomischen Sprung über all jene Bewegungs- und Montagetheorien der anderen Beiträge hinweg und damit sicherlich lückenhaft, geht es hingegen um ein stellenweises Haftenbleiben und Vorantasten an die von Film und Architektur geteilten Oberflächen „kinematografischer Objekte“.20 Dies ermöglicht sowohl historisch technikaffine als auch ontologische Erschließungen, indem ein konzentrierter Blick auf kinematografische Konfigurationen gelegt wird und damit auf die „Übergänge zwischen vorfilmischem Raum, Filmbild und apparativem Feld“.21 Schnittflächen und Berührungspunkte werden von kinematografischen Dingen produziert, die sowohl in produktionstechnische als auch diegetische Operationen eingebunden sind, mitnichten aber immerzu im beabsichtigten Mittelpunkt des Geschehens ­stehen müssen: „They are deceptively similar to the things we encounter every day, but at the same time irreducibly separated from them. They are entities with their own temporality, with spatial qualities unlike those we deal with elsewhere, things that make up a world of their own, both material and ghostly, both realistic and oneiric.“22 Die methodologische Stärke der Oberfläche ist es dabei, gerade nicht gleich in den Raum und die Deutung zu müssen, dessen Tiefe die Sache unheimlich verkompliziert, sondern an den Oberflächen des Bildes, der Leinwand, des Rahmens, der Dinge und Körper zu verbleiben.23 81

Wie lässt sich also anhand der Oberfläche ein Verhältnis von Architektur und Film bestimmen, wenn nicht im Großen, dann wenigstens im Kleinen, in Einstellung und Szene, sachbezogen und mitunter Vorder- und Hintergrund vertauschend? Wann und wie ist eine Oberfläche nicht nur passiver Backdrop, Staffage, bemalter oder beschriebener Zeichenträger, sondern aktiver, relativierender Zeichengeber, also verknüpfender und die Verhältnisse verschiebender Handlungsträger? In welcher Lage ist punktuell bestimmt die Oberfläche nicht nur ein äußerer, trennender Teil von etwas (Ding, Wand, Wasser etc.), sondern ein verbindendes und damit Beziehungen störendes Element in einem beweglichen Rahmen: ein Element, das Wissen und Handeln von Personen, Dingen und Zeichen selbst in Operationsketten einspannt, sie einsetzt, versetzt, differenziert oder die Handlung und Bilder in Bewegung bringt?24 Die Oberfläche liefert den gemeinsamen Ort der Auseinandersetzung, an ihm treffen sich Architektur, Film, Bild und Ton. Sie bedingen sich an den Grenzflächen, der äußeren und zumeist sichtbaren, hörbaren Fläche von Kubatur und Körper, mit der sie ihr Wissen, auch voneinander, organisieren und somit „bloße Oberflächenzusammenhänge“ oder „unscheinbare Oberflächenäußerungen“ bieten.25 Was zeichnet sie aus und was spielt sich hier ab? Es gilt mithin, Szenen zu ­beschreiben, in denen die Oberfläche in den Vordergrund des Geschehens tritt, also eine „infrastrukturelle Inversion“26 des Settings vollzieht, die Konstel­lation aufzuschlüsseln hilft, und damit bestimmte Ordnungen und Technologien expliziert, die hier am Werke sind. Oberflächen sind nicht gleich zweidimensionale Flächen, wie man es von einem Bild erwarten mag, Rahmen und Fassaden produzieren Absätze, Falten, Kerbungen. Doch Begriffe, Konzepte und Modelle von Oberfläche, Oberflächlichkeit und Ober­ flächenerscheinungen sind weitreichend, wenn nicht selbst gar maßlos. Dahinter steht ein eigener Komplex von Ideen, Techniken und historischen Entwicklungen, der hier nur anhand einiger Verweise beleuchtet werden kann.

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Ausufernde Oberflächenprobleme Die Oberfläche ist mehr eine Oberflächenproblematik als ein abgeschlossener Diskurs, weniger eintönig als aus sich heraus konstruktiv. Sie ist ein Komplex, der sich gemeinsprachlich vor allem nach der Sattelzeit im 19. Jahr­ hundert durchschlägt und mit heterogenem Wissen verbindet, eng mit der Konstitution der Architektur als führende Raumdisziplin verbunden war und nicht zuletzt einen Diskurstransfer von Architektur und Literatur anleitete sowie schon früh im Sinne der Materialforschung die Eigenschaften neuer Stoffe, Produkte und Fertigkeiten diskutierte. Der Ideenkomplex der Oberfläche ist dabei ein Unbegriff, der oftmals weniger Leit- als Suchbegriff blieb, in den meisten Werken zwar kein eigenes Lemma erhielt, dafür aber in zahl­ reichen Komposita im Verlauf der Entwicklung insbesondere der Materialwissenschaften (Metallurgie etc.) auftauchte (Oberflächenbehandlung, Oberflächenstruktur, Oberflächenhärtung).27 Schließlich wurde der Begriff der Oberfläche vor allem auch in seiner „oberflächlichen“ Erweiterung der bürgerlichen Tiefenepisteme pejorativ gegenübergestellt, unter der Prämisse, dass gerade die Oberfläche den Zugriff auf die ersten Anzeichen eines darunter liegenden Wissen bieten mag. 28 Während die Oberfläche im 16. Jahrhundert lediglich als direkte Übersetzung aus dem Lateinischen superficies in den deutschen Sprachraum Einkehr hielt, wurde die Oberfläche, wie sie noch heute vordergründig oder augenscheinlich von Bedeutung ist, vor allem im 18. Jahrhundert durch die mathematische Fachsprache als Außenseite eines Körpers im Vergleich zu einer einfachen zweidimensionalen Fläche propagiert und weiterhin um den Gegensatz zur Tiefe ergänzt.29 Im einfachsten und dann doch lange Jahre bestimmenden Sinne, in Geo­ metrie, Geografie, Geologie, Agrarwissenschaft sowie Ästhetik, hergeleitet aus den mathematischen Beschreibungen, meint die Oberfläche „die obere, ­äuszere fläche, superficies“ und im erweiterten, abgeleiteten „die auszenseite (der äuszere schein) als gegensatz des innern, der tiefe“ (Grimm).30 Mit technisch-ökonomischen Enzyklopädien des frühen 18. Jahrhunderts kann man hier weiter differenzieren und zudem einen bedeutenden vertikalen Unter83

schied, gar eine hierarchische Qualität in der Wahrnehmung und Beschreibung der Dinge ausmachen, wenn es zur Oberfläche heißt „die obere oder oberste Fläche eines Dinges, im Gegensatze der Unter- oder Grundfläche“ (Adelung).31 Die naheliegenden optischen und visuellen Eigenschaften der Dinge, vor allem ihrer Oberseite, werden schließlich betont. Hinzu tritt ­später noch eine weitere Zuschreibung, die der Oberfläche als „Grenze eines geometrischen Körpers, durch welche derselbe sich von allen anderen sich unterscheidet“ (Ersch/Gruber).32 Für die Architektur spielt die Oberfläche neben der Oberflächenstruktur und den Verarbeitungseigenschaften verbauter Materialien vor allem im ausgreifenden Diskurs rund um Fassade, Ornament/Decorum und funktionelle Gestaltung eine besondere Rolle.33 Dabei ist zu beachten, dass man gerade nicht von einer allein zweidimensionalen Fläche, einem platten Bild ausgehen darf, die Fassade vielmehr selbst einen Raum bilden kann und somit vor allem auch bautechnisch einen Raum beansprucht, dies gilt insbesondere ebenso für die mitunter geschwungenen, gekrümmten, berechneten Flächen.34 Während das ehemals tragende und nun vermehrt vorgehängte Bauteil noch immer einen Großteil der Kosten ausmacht, hat es sich durch die im 19. Jahrhundert vorangetriebene Entwicklung von Glas, Stahlgerüst und Stahlbeton nicht so sehr „befreit“ als oftmals in die eigentlich tragende Struktur entwickelt und verbleibt in einem gewissen Anspruch, zwischen einer mehr oder minder ­gewollten funktionalen und ästhetischen Einbettung in den Baukontext sowie der Entwicklung aus den Funktionen des Baus zu vermitteln.35 Dabei sind die Definitionen, was nun eine Fassade ist oder zu sein hat, ebenso vielfältig wie die Standpunkte und Schnitte, die man vor ihr einnehmen und anlegen kann.36 Letztlich soll hier aber gerade nicht die vielfach diskutierte oder gar beschworene Fassadenphysiognomik, die eben bauliche, technische, pragmatische, traditionelle, informative oder rein ästhetische Gründe haben kann, im Vordergrund stehen, sondern vielmehr eine mikrologische Stellenlese der Oberflächenproblematik und ihre Bedingung im kinematografischen Komplex von Vorfeld/Film/Apparatur:37 „Oberflächen eröffnen eine Epistemologie des Horizontalen. Als lesbare Anordnungen benachbarter Strukturen stiften sie Relationen und Topolo84

gien, artikulieren Richtungen und markieren Zonen. Als Orte eines technisch und medial je anders bestimmten Handlungswissens konturieren sie die Bewegungen der Hand oder des Auges und spannen den Körper in die Gestaltung von und den Umgang mit Oberflächen ein. Dem Erkenn­ baren setzen sie Grenzen, entscheiden über Zugehörigkeiten, stiften abgeschlossene Identitäten und sind mithin politisch ebenso von Belang wie in Fragen der Liebe und des Glaubens. Dabei stellen sie als Wissensfigur diese Abschließbarkeit zugleich zur Disposition, erweist diese sich doch als abhängig von Modellen der Schichtung oder Körnung, von der Wahl der jeweiligen Auflösung, von den Vorstellungen über ihre Permeabilität und Undurchlässigkeit.“38 Somit stellen nicht allein „künstlerisch gestaltete Oberflächen“39 Transfers von kinematografischen und architektonischen Feldern her, vielmehr erhalten sie diese Qualität gerade durch ihre Begrenzung und Beschneidung. Daher soll nicht den ästhetischen Zuschreibungen und kulturellen Wertungen gefolgt werden, die Kunst- und Literaturwissenschaften an schöne oder hässliche Oberflächen herantragen. Eindrücklicher scheint hier auf grundlegende Operationen einzugehen, auf das Abstecken und Einschränken, Auf- und Abtauchen von Oberflächen. Oberflächen sind dann nicht nur Wissensträger, auf denen sich etwas abzeichnet, sondern Medien, die selbst zu Kristallisationspunkten werden, an denen sich Netzwerke und Strukturen bilden, Topologien streuen oder Blicke orientieren.40 Um diese ausufernde Bewegung fassen zu können, lassen sich Rahmen ziehen.

Im Rahmen bleiben In einer Gegenprobe ließe sich nicht zuletzt behaupten, dass es Architektur gar nicht gäbe, außer man redet darüber, wie es die Architekturkritik schon seit ihren Anfängen getan hat, um gute von schlechter beziehungsweise Nicht-Architektur zu scheiden: „Buildings may be constructed on the building 85

site, but architecture is constructed in the discourse.“41 Um die dafür hin­ reichenden Unterscheidungen zu treffen, könnte man dann aber auch die Kamera buchstäblich laufen lassen, also absichtlich oder apparativ annähernd wahllos Grenzen des Ein- und Ausschlusses setzen.42 Der Film wäre damit ein Mittel, mindestens Mengen von Material zu trennen, „flache Diskurse“43 zu erzeugen und Anschlüsse für Argumente und Handlungen zu liefern, indem er in Folgen von derart formatierten Oberflächen verfährt. Die Rahmung w ­ iederum findet sich annähernd essenziell ebenfalls in der Architektur und genauer im Fenster und der Abhängigkeit von der Perspektive, die hingegen geneigt ist, das Wichtige herauszustreichen.44 Die Architektur im Film wäre dann ein oszillierendes Schachtelspiel, sie verfängt sich in der Repräsentation und schließt sich kurz, man läuft unentwegt durch Rahmen, macht auf und zu, schließt, verdeckt und öffnet.45 Es gibt in diesem operativen Gefüge allerdings eine Unwucht: Im Gegensatz zur Architektur produziert und prozessiert der Film durch die unvermeidbare Kadrierung des Bildes eine zumindest stets verschiebbare Differenz von innen/außen – dabei kann er, muss jedoch keine Öffnungen und Schließungen evozieren, um zu funktionieren.46 Wie bei Fenster und Tür, ist es die Kadrierung oder auch der Rahmen im Rahmen, der hier schaltet und waltet, über ihn beziehen Film und Architektur eine analoge Anatomie, die kinemato­ grafische Körper und architektonische Dinge ein- und ausschließt, maskiert, ­erkundet und mehr oder minder anziehend und abstoßend in Beziehung ­zueinander setzt:47 „By framing views, architecture frames bodies, as, alas, does the art of ­motion pictures. The link of architecture and film is fundamentally anatomical. It is the door between interior and exterior. House, body, and the ‘film body’ are erotic surfaces. Their interior can be explored, analyzed, anatomized. Their exterior is clothed. They can be dressed (up or down) and undressed. Opening the viewing space of film to architecture opens the way to an incorporation of the erotic, to codes of fashion and design – to the body of architecture.“48

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Solange wir beim Film, der durch die Kamera und schließlich durch den Projektor läuft, bleiben, haben wir es immerzu mit gerahmten Ausschnitten und Flächen zu tun, die etwas in Perspektive setzen und wie durch ein Fenster nach außen blicken lassen oder die Bewegung durch die Stadt, den Raum und seine Bewegungsmittel mit der Bildproduktion verschweißen – dabei wäre ­jedoch gleichfalls zu beobachten, dass sich das Fenster ebenso mobilisieren lässt.49 Die erratischen Bewegungen und Schwenks der Kamera erzählen, ­h istorisieren oder haken nach, sie gehen den Prozessen im Raum auf den Grund:50 „Schwenks erzählen, ganz buchstäblich, Mikrogeschichten vom Werden und Verschwinden, von Antizipation und Vergessen. Mit anderen Worten: Sie sind ‚geschichtlich‘ im starken Sinne und begünstigen darin mög­l icher­ weise die Auseinandersetzung mit Geschichte und Geschichtlichkeit. Auch deshalb geht der Schwenk in so vielen Filmen eine Allianz mit investi­ gativen Formen ein, die sich ganz ausdrücklich der Geschichtsforschung verschrieben haben.“51 Die Kamera erzeugt daher einen Ort, der eine andere Dichte hat als sein vermeintliches Vorbild, sie kann ihn endlos dehnen oder zusammenziehen. Sie kann nicht nur Welten und Bilder fragmentieren, Objekte in den Blick nehmen und freistellen, das Beiläufige sortieren und ordnen, sondern ebenso von einem Bild aufs nächste vom Kleinen ins Große und zurück springen und ­damit so ziemlich in jedem Maßstab oder gar maßstabslos operieren.52 Wo der Film springen kann, so hat die Architektur doch ihre Probleme, mit Augen und Körpern zu folgen.53 Nimmt man schrittweise die Oberflächen in den Blick, füllt den Rahmen, das Auge, das Bild mit einem fokussierten Körper, so tritt man in einen flachen, maßstabslosen Raum ein – zumindest wenn man bei zwei Sinnen bleibt, Hören und Sehen, und andere Affekte herausstreicht.54 Während Architektur öffnet und schließt, schafft es der Film somit nicht ­a llein, in der Überblende Zwischenzustände einzunehmen, er zeigt vielmehr die Bedingungen und Verfahren auf, die solche Operationen und Schaltungen ermöglichen. Der Film kann weiterhin die Bedingungen des Türöffnens und den Schließvorgang verfolgen, anstatt lediglich Zustände offener oder 87

­geschlossener Öffnungen zu prozessieren oder wie die Tür im Grundriss als stellvertretendes Symbol immer offen sowie geschlossen zu sein. Der Film besitzt damit einen zur Architektur leicht verschobenen Modus der Raum­ organisation, der sich an den Dingen und ihrem Potenzial, Affekte und Aktio­ nen zu lenken, entlangtastet55: „The cinema seems to come into its own when it clings to the surface of things.“56 Für den Architekten, Schriftsteller und Journalisten Kracauer scheint mit dieser Formel nicht nur ein bodenloses Fass der Oberflächenforschung auf­ gemacht, sondern gar die Operationskette der technischen Übertragung und Bewahrung der Realität geschlossen zu sein. Seine Theorie scheint auf den ersten Blick ein wenig abgestanden, doch lassen sich hier in einer operativen Blickverschiebung mittels der Randerscheinungen produktive Bezüge zu ­a ktuellen kinematografischen Konzepten finden.

Schales Wasser Der Film ist, wie dargestellt werden sollte, zwar nur eine Möglichkeit unter vielen, Oberflächenphänomene vermittelt wahrzunehmen. Doch der Rückzug in die Kinopaläste um die Jahrhundertwende verschiebt die angestammten Episteme dabei deutlich, ersetzt sie und bedingt das Erlernen einer neuen Sicht auf die Dinge: „In the 20th century, photographic reality has taken the place of nature.“57 Der Film wird neben einem Medium der Faszination zugleich zu einem öffentlichen Instrument der wiederholten Betrachtung flüchtiger Vorkommnisse, indem er sie auf den Kopf stellt und immerzu versucht, dabei oben zu bleiben.58 Begeben wir uns abschließend in diese umstürzenden Welten des äußerst Flachen in einem Blick auf den Straßenrand. Architektur und Film stehen hier nicht nur in einem engen Verhältnis, indem sie rahmen und formatieren, sie fallen an der Oberfläche der Straße gar zusammen. So auch in einer Art Urszene der Filmtheorie, die sich bei Siegfried Kracauer als Erlebnis der Spiegelung einer Häuserfassade in einer dreckigen Pfütze finden lässt: 88

„What thrilled me so deeply was an ordinary suburban street, filled with lights and shadows which transfigured it. Several trees stood about, and there was in the foreground a puddle reflecting invisible house facades and a piece of the sky. Then a breeze moved the shadows, and the facades with the sky below began to waver. The trembling upper world in the dirty puddle – this image has never left me.“59 Autobiografisch kommt für Kracauer vor der Errettung der äußeren Wirklichkeit, die er in einer Theorie des Films begründete, seine eigene Erweckung in einem banalen Tritt vor die Tür – wobei nicht vollends geklärt ist, ob hier nun die Erfahrung mit den ersten Bewegtbildern im Kino um 1900 gemeint ist oder vielmehr eine tatsächlich erlebte Szene am Straßenrand nach Verlassen der Vorführung.60 Während damit gemeinhin die Begeisterung für die Bewegung und Verzerrung der Wasseroberfläche sowie die indexikalischen Eigenschaften des Bildes aufgerufen werden, also Prototypen für die Attraktion des frühen Kinos,61 lassen sich mit den in dieser Beschreibung fehlenden schmutzigen Rändern gleichfalls die eigentlichen operativen Stellen der Theorie benennen. Kracauer zufolge besitzt der Film eine gewisse, wenn auch oft beiläufige ­Aufmerksamkeit für Äußerlichkeiten, Randerscheinungen und Orte, an denen eigentlich nichts passiert: für den Boden, das Banale, Liegengebliebene, Gewöhnliche – womit auch auf die Beobachtungen und mathematisch-literarischen Versuche Georges Perecs verwiesen sei. Anstatt mit dem Rahmen der Kamera, durch den der Film immer neue Oberflächen generiert, gewinnt er durch Anweisungen des Aufschreibens selektierte und damit Ordnungen der Aufzeichnung und Wiedergabe.62 In der fortlaufend aufgezeichneten Oberflächlichkeit drückt sich zudem ein besonderes Verhältnis zur Umwelt aus, ein Blick, der auch die unscharfen Übergänge und Verläufe von vermeintlich eindeutig gesetzten, fest gefügten Zuständen und Nebensächlichkeiten aufnimmt und eine Sicht darauf anbietet, indem er sie in neue Raster drängt: Die Rede ist vom Infra-Ordinairen, dem Unter-Gewöhnlichen, das Georges Perec spielerisch im Auge hatte. Der Film mag eine geeignete Möglichkeit sein, diesem materiellen „Hintergrundgeräusch“63 nachzugehen, jenem, was schon 89

immer da ist, aber am Rande verweilt und gerade nicht durch ein großes ­E reignis (Musterbeispiel Unfall) in Erscheinung tritt. Man müsse, wie er schließlich vorschlägt, „[s]ich dazu zwingen, oberflächlicher zu sehen“.64 Kracauer findet dafür einfache Begriffe, die an der gerahmten Oberfläche haften, sie einfassen, beeinflussen und übersetzen: „Things normally unseen“65, heißt es unter anderem in einer Überschrift, es gilt „surface similarities“66 zu finden, und, genauer noch, mit Kamera und Film eine für ihn paradoxerweise präsente „unstaged reality“67 zu bewahren. Sehen und Wissen scheinen dabei eng miteinander verknüpft, geradezu abhängig voneinander, während das Bewegtbild die fotografischen Intervalle fülle: „life at its most ephemeral“.68 Ein solch gemeiner Blick auf die Oberfläche unterminiert nicht nur die sonst so festen Leitunterscheidungen der Architektur (innen/außen), indem hier das Flüchtige ins Bild kommt. Er lässt sie zugunsten unreiner, verschmutzter Ordnungen in den Hintergrund treten und scheint erst einmal alle Dinge gleichberechtigt, aber schließlich nicht vollends unterschiedslos oder werturteilsfrei anzuerkennen: da einige im und andere außerhalb des Rahmens liegen oder nacheinander kommen.69 Im Rahmen liegt bestenfalls ein heterarchisches Versprechen einer ersten Auswahl und damit vorerst, alles darin im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu halten, solange es sich nicht doch um einen Zoom oder Close-up handelt, der sich über die Reihe der Bilder hinweg entwickelt.70 Dinge, die eigentlich nur der Ausstattung oder Schmückung ­wegen in einer Szene platziert werden, erhalten dadurch beim wiederholten Sehen eigene Bedeutung, obwohl sich diese weniger im Skript als in den produktionstechnischen und zeithistorischen Bedingungen finden mag.71 Kracauer führt diese Gleichgültigkeit oder Unvoreingenommenheit der Kamera vor allem auf den Ursprung des Films aus der Fotografie zurück: Es gebe eine „photographic nature of film“72, die es erlaube, bisher Unerkanntes neu zu entdecken: „Many objects remain unnoticed simply because it never occurs to us to look their way. Most people turn their backs on garbage cans, the dirt underfoot, the waste they leave behind. Films have no such inhibitions; on the contrary, what we ordinarily prefer to ignore proves attractive to them precisely because of this common neglect.“73 90

Diese Unterstellung von Indexikalität und Evidenz ist jedoch mit Vorsicht zu genießen, nicht nur in einem abstrakten Raum, sondern gerade wenn konkrete Bilder produziert werden.74 Ebenso ist der Anspruch dieser Theorie ­g rößer als die fehleranfällige Praxis, die dann schon eine Deutung mit sich bringt, so gibt es auch bei Kracauer durchaus erhebliche Anteile von Hermeneutik, wenn er mit der Straße leider nicht so sehr den Asphalt als all das soziale Drumherum bespricht.75 In der Theorie des Films findet sich daher ein recht naives Verständnis von den Möglichkeiten der Apparate, die beinahe von sich aus aufdeckten, was verborgen sei, bewahrten, was zu erhalten sei, dabei jedoch die beteiligten Institutionen und Praktiken, die hier die aufnehmenden Rahmen setzten, ausblendet.76 Analog zur Diskussion um Sichtbares und Unsichtbares, der Sichtbarmachung sowie der medialen Grenzen und Ränder des Sehens verläuft ferner eine Diskussion der Oberfläche, die von ihrer Sichtbarkeit beziehungsweise der implizierten unsichtbaren Tiefe, und damit Ausdeutung, abhängig scheint und damit auf den erwähnten Dualismus des Begriffs abhebt.77 Mit der behaupteten „Unparteilichkeit“ wiederum folgt Kracauer aber einem mythisch eingespielten Erklärungsschema. Vor allem, wenn es um technische Vermittler geht, sitzt er eher dem Diskurs auf, sodass er nur ein wenig über die chemischen Anfänge der Fotografie hinauskommt.78 Für ihn gibt es nur geringfügige mediale Unterschiede, die mehr auf sich selbst verweisen als erklären: „In establishing physical existence, films differ from photographs in two respects: they represent reality as it evolves in time; and they do so with the aid of cinematic techniques and devices. Consequently, the recording and revealing duties of the two kindred media coincide only in part.“79 Was ist da für das Verhältnis von Architektur und Film medientheoretisch zu retten? Zuallererst der Fingerzeig auf die Oberflächlichkeit, oberflächliches Sehen wird zur Methode. Es gilt damit nicht so sehr eine Realität oder fragwürdige medientechnische Dispositive als vielmehr die Aufmerksamkeit für die buchstäblichen Umstände und Nebensachen, die ins Bild ragen, die in Raster, Karte, Plan und Skript gar nicht vorgesehen waren, aber durchaus vor einem liegen – so sensibilisiert der Film den Blick für die Verknüpfung der Austauschprozesse von Raum und Umraum, insbesondere für die Straße und den 91

ihr angegliederten Interieurs, die sich, so wieder Kracauer, am besten in Bildern nacheinander aus der Ferne mit zeitlichem Versatz studieren ­l ießen.80 Im Film erhält das gewöhnliche oder langweilige Treiben einen festen Rahmen, sich neu zu sortieren. In einer verflachten Beschreibung der Welt lassen sich die zurechtgeschnittenen Fragmente und Elemente vergleichen und mobilisieren. Mittels des Films lassen sich schließlich neue Nachbarschaften und Assoziationen herstellen, offensichtliche Verteilungen aufzeigen: „Film renders visible what we did not, or perhaps even could not, see before its advent. It effectively assists us in discovering the material world with its psychophysical correspondences. We literally redeem this world from its dormant state, its state of virtual nonexistence, by endeavoring to experience it through the camera. And we are free to experience it because we are fragmentized. The cinema can be defined as a medium particularly equipped to promote the redemption of physical reality. Its imagery permits us, for the first time, to take away with us the objects and occurrences that comprise the flow of material life.“81 Dieser Belag der Dinge, die eigentlichen Oberflächenphänomene, sollen abschließend noch ein Schlaglicht erhalten: Ließe sich das im Verlauf entfaltete naive Verständnis von der Oberfläche produktiv nutzen, um der Straße, der Fensterscheibe, dem Backdrop etwas abzugewinnen, ohne gleich in den Raum oder sozialhistorische Ausdeutungen abzudriften? Der Film fungiert letztlich nicht allein als Rekorder einer vorgefundenen Realität, sondern als Filter und Verstärker bestimmter Oberflächeneigenschaften und Texturen, indem er ­einige Sinneseindrücke fokussiert, andere reduziert oder bestimmte Details mitsamt dem Hintergrund zur Geltung bringt. Im Umkehrschluss können sich Filmbilder gegen den Film wenden, das Skript durchkreuzen und das Schauen über Genregrenzen hinweg ermöglichen. Mit der Pfütze wird schließlich nicht nur das Bild einer Welt auf den Kopf gestellt, sondern in viele Welten zerstreut, Eindrücke und Sichtweisen multipliziert: „Kracauer’s account of his experience has often been viewed as a description of the way in which film offers a very powerful kind of realist re­ presentation, an engagement with the world in a naturalistic sense; 92

­however, it might be more productively viewed as a description of the type of perceptual experience film offers to its viewers. ‘The trembling upper world in the dirty puddle’ offers a replication, but one that is muddied, obscured, kinetically altered – in a word, dispersed.“82 Die Welt steht Kopf, Häuserfassaden wabern mehr als dass sie klare Linien aufweisen, der Wind bewegt die Oberfläche, wirft kleine Wellen, der materielle Träger kommt ins Schwingen und scheint den Index des Bildes abschütteln zu wollen. Dabei kommen Ordnungen in Not: Skript, Narration, Diegese. Die Konturen der Bilder sind schmutzig, die unterschiedslosen Kameraaugen erlauben das Verzweigen von vermeintlich erster (vorfilmisch) und zweiter (diegetischer) Natur der Bilder. Kracauers Pfütze kann schließlich, über den Index hinaus gedacht, für die ­fi lmische Operation stehen, etwas in Bewegung zu setzen: Die Wasserober­ fläche schwankt, bildet nicht nur ab, sondern tastet die Umgebung, die Fassade, die Welt darüber, immer wieder in minimalen Winkelverschiebungen aufs Neue ab, schneidet nicht so sehr aus der immer gleichen Welt aus, sondern produziert eine Vielzahl an Welten, die für sich Geltung beanspruchen.83 Die Pfütze ist kein Spiegel, sie ist Modulator, der etwas neu ins Bild setzt und das alte sogleich verändert. So bleibt sie als stehendes Gewässer technisch ein paradoxes Medium der Stagnation, da hier selbst eigentlich nichts fließt:84 keine Zeit, in das dreckige, schmutzige Wasser einzutauchen, der Vertiefung des Pfuhls, der gemeinhin eher Unheil verkündet, auf den Grund zu gehen. Die Devise lautet eher: oben bleiben. Das oberflächliche, wackelnde Bild der Welt basiert auf schmutzigen Rändern, um zu schwingen. Wäre da nicht der Wind, würde das Bild verharren und einfach nur ein umgedrehtes Ebenbild der vermeintlich zu rettenden Wirklichkeit sein. Es braucht den Dreck und die Bewegung, ein Zusammenspiel aus schmutzigem Wasser und veränderlicher Druckverteilung, um die Oberfläche in Gang zu bringen und einen Prozess anzuschieben, der auch die Bedingungen der Bilder, die Ränder, mit in den Rahmen trägt. Während die Architektur im schmutzigen Oberflächenwasser ein negatives, lösbares Problem sieht, birgt es für den Film und die Sicht auf die Dinge ein Moment der produktiven Verschmutzung und Zerstreuung. 93

Zuletzt soll anhand dreier einschlägiger und bekannter Filme dieses poly­ valente Verhalten von Pfütze, Rahmen und Dreck gezeigt werden und wie ­damit die Existenzbedingungen dieser Filme ins Bild gesetzt werden – nicht irgendwo in der Tiefe, sondern gleich da, auf der Oberfläche, für alle zu sehen. Robinsons eingangs zitierte Methode aus Patrick Keillers London (1994), lang und eindringlich zu gucken, ist vielleicht simpel, wenn auch nicht ganz einfach: Wie kriegt man die Oberfläche dazu, mitzuteilen anstatt nur wiederzugeben? Nach dem vorangegangenen Blick in die medientheoretische Pfütze des Architekten sollen drei Szenen und Einstellungen dessen Ränder erkunden.

Schmutzige Ränder Taxi Driver – Anrichten Travis Bickle fährt Mitte der 1970er-Jahre den menschlichen Abschaum durch die Stadt. Die Geschichte vom New Yorker Taxi Driver (Scorsese 1976), der zuerst desillusioniert und naiv der Wahlkampfmanagerin Betsy hinterherstellt, abgewiesen wird und schließlich seine eigene Reinigung in der Rettung der jungen Prostituierten Iris findet, indem er ihren Zuhälter und Freier tötet, handelt zu Beginn schlicht von Travis’ Verachtung und Hoffnung: dass ein großer Regen kommen möge, der all diesen Schmutz hinwegspüle. Beginnend mit ­einem langen Schwenk durch Travis’ kleines Apartment, der ihn schließlich schreibend am Tisch und dann in der nächtlichen Fahrt im Taxi zeigt, ist dieser Monolog gelegt. „May 10th. Thank God for the rain which has helped wash away the garbage and trash off the sidewalks. I’m working long hours now, six in the afternoon to six in the morning. Sometimes even eight in the morning, six days a week. Sometimes seven days a week. It’s a long hustle but it keeps me real busy. I can take in three, three fifty a week. Sometimes even more when I do it off the meter. All the animals come out at night – whores, skunk pussies, buggers, queens, fairies, dopers, junkies, sick, venal. Someday a real rain will come and wash all this scum off the streets. I go all over. I take people to the Bronx, Brooklyn, I take them to Harlem. I don’t care. 94

Abb. 1: „Thank God for the rain …“ Screenshots aus Taxi Driver, Martin ­Scorsese (USA 1976).

Don’t make no difference to me. It does to some. Some won’t even take spooks. Don’t make no difference to me.“ Der innere Tagebucheintrag begleitet die Bilder, solange Travis durch die Straßen Manhattans fährt, an Kinos, Clubs, leuchtenden Fassaden und Lichtspielhäusern vorbei, vor denen sich der von ihm angeprangerte Pöbel gesellt. Während das Oberflächenwasser für den Bauingenieur ein zu lösendes Rechenproblem darstellt, ist es für den Sozialingenieur Travis ein Mittel der ­äußerlichen und dann auch innerlichen Reinigung. Für den Cinematografen ist das Wasser auf der Straße gar ein Muss: Spiegelungen, gleißende Scheinwerfer, Kontraste, Licht- und Farbenspiel. Der Blick der Kamera schwankt hier maßgeblich zwischen Dead-pan und Close-up. Mal entlang der Häuserfront, mal einzelne Teile des Taxis absuchend, vor allem die Übergänge zu 95

den Scheiben und die Tropfen ins Auge nehmend, die sich darauf sammeln, dann ein paar Mal fast hüpfend, vielleicht von der Stoßstange aus gefilmt mit Blick auf den nassen Asphalt die Straßen runter. Bevor Travis die Dinge schließlich selbst in die Hand nimmt, Pillen und Junk-food abschwört, seinen Körper stählt und eigene Pläne der Veränderung schmiedet, hofft er auf das klärende Nass von oben, während er unterschiedslos durch die Massen der Misfits und „Tiere“ hindurchgleitet. Der Film ermöglicht es, den architektonischen Raum zu invertieren: ihn umzukehren, auf den Kopf zu stellen beziehungsweise das eigentliche Außen, den Kontext, zum Fokus zu machen. Die Pfütze ist nicht nur Spiegel oder looking glass, sie ist auch ein Mittel, um vom Kleinen ins Große, vom Kopf auf die Straße und gleich wieder zurück zu kommen, ohne dabei den fahrenden Ort zu wechseln. Playtime – Ausrichten In Jacques Tatis Playtime von 1967 probiert sich Monsieur Hulot durch ein fiktives, glattes, in Chrom, Beton und Glas erscheinendes Paris. Die Kulissenstadt befindet sich im Grunde in einem ständigen Testbetrieb, Hulot und andere reizen die Möglichkeiten und Abwegigkeiten der modernen Architektur aus. Dies führt letztlich immer wieder zu den amüsanten Missgeschicken, die meist das ästhetische Übergewicht der neuen Apparaturen und Einrichtungen, manchmal die verquere Beziehung von Nutzen und Intuition unterstreichen. Was der Film hier mit der Architektur macht, ist die Einrichtung von oftmals akustischen Experimentierfeldern, ein immerzu wiederholtes Testen der Möglichkeiten, nicht zuletzt mit überraschenden Ergebnissen, was der Slapstick des frühen Films mit Buster Keaton und Harold Lloyd schon einläutete: das Einbringen und Eindringen von menschlichen Akteuren, Inspektoren künstlicher Situationen, die die glatt geputzten und oft spiegelnden Flächen ablaufen, ­dagegen stoßen oder anfangen, sich eigentümlich zu bewegen. Eine für das Handlungspotenzial der Oberfläche einschlägige Szene ist, neben all den Einstellungen der sich im Glas spiegelnden und davor verirrten Gestalten sowie zahlreichen Durch- und Einsichten, die eines Fensterputzers: Von innen nach außen gerichtet, zeigt sie zuerst den einfahrenden Bus vor dem Fenster, dessen Rahmen sich schließlich durch das Herausfahren der Kamera und Erwei96

Abb. 2: Kippfunktion, Screenshots aus Playtime, Jacques Tati (FR 1967).

terung des B ­ ildes aufmacht, und den innen davor stehenden Reiniger mit Leiter. Er wischt und kippt dieses Fenster. In einer anderen Einstellung sehen wir von außen nach innen die Spiegelung des Busses im Glas und dahinter den Putzer, wie er das Fensterglas wischt und kippt. Indem das Glas seinen Winkel ändert und gen Himmel in die Wolken schaut, gerät der Bus mit seinen Insassen in Bewegung, scheinbar mitgerissen werfen sie den Kopf in den Nacken, was sich insbesondere auf der Tonspur in langen As und Os niederschlägt. Die Pfütze kippt und mit ihr ändert die Welt immerzu ihren Vektor. Back to the Future – Auslichten Der konzentrierte Blick auf die Oberfläche ermöglicht es nicht zuletzt, das ­Gerahmte zu untersuchen, auch bevor es zum Objekt oder gar Ding wird, bevor es vielleicht eigenes Potenzial erhält und als schon in sich geschlossenes 97

Fragment aus dem Bild herausgelöst werden kann. Somit können auch jene Potenziale der Flächen besprochen werden, die lediglich angeschnitten werden, in das Bild ragen, herausfallen oder eben zu groß sind, um überhaupt in Gänze erschlossen werden zu können. So auch am Ende des ersten Teils von Robert Zemeckis’ Back to the Future von 1985 und dem daran anschließenden beziehungsweise eigentlich entsprechenden Beginn des zweiten Teils von 1989. Die beiden Sequenzen sind nicht die gleichen und teilen nur wenige Bilder des hereinkrachenden oder abfliegenden Deloreans. Dort aber, wo Marty und seine Freundin Jennifer im Bilde sind, fallen die beiden Versionen jedoch auseinander. Das wiederholte, vergleichende Sehen und der konzentrierte Blick auf die Oberfläche lenkt die Aufmerksamkeit nach den nebensächlichen Gesten auf das Arrangement des Hintergrunds, der nun hervortritt. Nötig machte das dabei ersichtliche Nachstellen der ehemals mit offenem Ende gedrehten Szene und damit ein erzwungenes Reenactment die Verhinderung und Neubesetzung der Schauspielerin der ersten Jennifer im zweiten Teil.85 Handlung, räumliche Aufteilung und Verteilung, die meisten Farben, Dinge und Details mögen stimmen, doch im Hintergrund zeigt sich ein etwas anderes Bild, hier sind Büsche, Rabatten und Blumenbeet mal größer, mal kleiner, der Rasen nicht ganz so akkurat und vor allem hat sich am Nachbarhaus ­zumindest der Heimwerker zu schaffen gemacht: Tür und Fenster scheinen tiefer zu sitzen, haben Leisten verloren und der Anstrich minimal den Ton ­gewechselt, verstärkt durch das nunmehr anders einfallende Licht der Abendsonne. Noch offensichtlicher sind die fehlenden Aufkleber auf den Fenstern und bei längerem Studium auch der Schattenwurf und die Risse im Asphalt. Anders als beim klassischen produktionsbedingten Goof oder Anschluss­ fehler hat dieses Reenactment schlichtweg nicht mit dem Potenzial des Baumarkts gerechnet. Es scheint gar, als ob sich die fortgelaufene Zeit, die Veränderung im Hintergrund, nun an die Oberfläche und den Vordergrund zu drängen scheint. Bei allen Versuchen, die Anschlüsse zu montieren, überlappen sich die Bilder nur hinsichtlich ihrer offensichtlichen Geometrien. Das Bild der Oberfläche aber, die Oberwelt in der schmutzigen Pfütze, hat kurz gezittert und verraten, dass 98

Abb. 3: „Jennifer! Oh, you’re a sight for sore eyes! Let me look at you.“ Screenshots aus Back to the Future I und Back to the Future II, Robert Zemeckis (USA 1985/1989).

sich der Ort mit der Zeit ein wenig verändert und die Welt ein wenig verschoben hat. Die Architektur war hier schneller oder genauer als der Film. Die Rettung der äußerlichen Wirklichkeit stellt die Filmemacher auf eine unwillkommene Probe.

99

Anmerkungen

Funktio­nalismus eingegangen werden. Vgl. Semper 1851, Ruskin 1853, Muthesius 1902, Loos 1908, Sullivan 1924, Gleiter 2002. 18 Vgl. Connor 2006, Caillois 2007, Shell 2012,

1

Kracauer 1960, S. 285

2

Patrick Keiller, London 1994. Vgl. Keiller 2014

3

Hollein 1967

4

Vgl. Arburg 2008, Ingold 2007, Bruno 2014

5

Vgl. u. a. Weihsmann 1995, Neumann 1996, ­Lamster 2000, Bruno 2002, Schwarzer 2004, ­Agotai 2007, Seel 2008, Bredella 2009, Koeck 2012, Keim/Schrödl 2015

6

Hier sind es vor allem rezente Schriften, die an den Rändern Diskurse und Technologien verknüpfen, vgl. Pantenburg 2010, Girot/Truniger 2012, ­Truniger/Girot/Kirchengast 2013

7

Vgl. Ben-Joseph 2005

8

Vgl. Engell/Siegert/Vogl 2005, Ingold 2000, ­Damisch 2013

9

Hier wird also von einem prozessualen Verständnis der Architektur und Raumbildung ausgegangen, um damit nicht nur der codierten Hülle Rechnung zu ­tragen, vgl. Stalder 2009, Schäffner 2010, Siegert 2010, Kamleithner/Meyer/Weber 2015

10 Vgl. Stalder 2009 11 Vgl. Schwarzer 2004, Stierli 2010, Borden 2013 12 Auch wenn man damit gewisse Regime der Künste und damit unterschiedliche Ordnungen und Ver­ fahren kennzeichnen könnte, soll dieser langwierige Weg in diesem kurzen Text nicht allzu weit beschritten werden, vgl. Rancière 2006. Exemplarisch für die kunstwissenschaftlichen Debatten und zur hier nicht weiter verfolgten Diskussion der Atmosphäre, vgl. Schmarsow 1894, Jöchner 2004, Böhme 1995. 13 Vgl. Schivelbusch 1989, Vidler 2001, Bruno 2002, Schwarzer 2004 14 Evans 1995, S. 359; vgl. Elkins 1994, Vidler 1993, 2001, Cavell 1979, Koch 2005 15 Vgl. Siegert 2011 16 Vgl. Kruft 2013, Moravánszky 2015. Hier wären ­retrospektiv zahlreiche normative Setzungen oder Tugenden zur Hülle und Stofflichkeit zu nennen, wie schon bei Eugen Viollet-le-Duc, wenn man nicht ­geneigt ist, einen weiten Bogen darum zu machen, vgl. Viollet-le-Duc 1846. 17 Vgl. Arburg 2008, Chatterjee 2009. Hier soll nicht weiter auf die Gegensätze von Funktion und Form insbesondere in Bezug auf den späteren

100

­Wagner 2013 19 Vgl. u. a. Elwall 2004, Arburg et al. 2008, Jacobs 2011 20 Vgl. Pantenburg 2015 21 Böttcher et al. 2014, S. 10 22 Pantenburg 2015, S. 13 23 So vor allem auch in der französischen Bildtheorie und frühen Filmphilosophie, u. a. in Epsteins ­Photogénie, vgl. Epstein 2016. 24 Hier wird im weitesten Sinne auf die Operations­ ketten der Actor Network Theory und im Speziellen auf ihre medientheoretische Verwendung in der ­Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie ­abgehoben, vgl. Schüttpelz 2006. 25 Vgl. Kracauer 1927/1977a, S. 27, Kracauer 1927/1977b, S. 50, Koch 1996, 39 f. 26 Vgl. Bowker/Star, S. 34 27 Vgl. Arburg 2008, S. 16–20 28 Vgl. Foucault 1974, S.295. Reitz 2006 29 Vgl. Arburg 2008, S. 21. Krämer 2009 30 Grimm 1889, Sp. 1084–1086. Campe 1809, Sp. 533 31 Adelung 1811, Sp. 560. Krünitz 1806, S. 139 32 Ersch/Gruber 1830, S. 65 33 Vgl. Arburg 2008, Wagner 2013 34 Vgl. Evans 1995, Kittler 2007, Stephan 2009 35 Vgl. Giedion 2015 36 Vgl. Elkins 1994, S. 170 f. zur Fassadenmalerei und Fenster, Gleiter 2002 zum Ornament, oder Mitchell 1995 zur eher alten Geschichte der Fassade als ­Interface und Teil der urbanen Repräsentationslogik sowie Evans 1995, Carpo 2002 und Carpo/Lemerle 2008 zur Abhängigkeit der Perspektive und ­Konstruktion von den technischen Werkzeugen 37 Vgl. Martin 2010, Bruno 2012, Eggersglüß 2014 38 Lechtermann/Rieger 2015, S. 11 39 Arburg et al. 2008, S. 7 f. 40 Neben der spezielleren Anleihe bei der rezenten ­Entwicklung eines Denkens in Operationsketten ­sowie den Konzepten kinematografischer Dinge, sei weitergehend auch auf Lektüren verwiesen, die sich mit dem Wissen und der Ästhetik der Oberfläche auseinandersetzen, vgl. Bredekamp 2003, Arburg et al. 2008, Lechtermann/Rieger 2015. 41 Parnell 2016

42 Zum Paradox eines apparativen Objektivitäts­ versprechens vgl. Daston/Galison 2007 43 Vgl. Gumbrecht 1988 44 Vgl. Teyssot 2010; Siegert 2015 45 Vgl. Teyssot 2005, Stalder 2009, Siegert 2010

76 Vgl. Müller-Helle 2014, Barrenechea/Finke/ Schrumm 2016, S. 17 77 Vgl. Barrenechea/Finke/Schrumm 2016; Gunning 2012 78 Vgl. Talbot 1844/1981, Krauss 1977, Barthes

46 Vgl. Baecker 1990

1989, Bazin 1945/2004, Hediger 2005, Geimer

47 Vgl. Böttcher et al. 2014, Pantenburg 2015

2009, Daston/Galison 2007, weiterführend zu

48 Vgl. Bruno 1992, S. 110 49 Vgl. Cavell 1979, Schwarzer 2004, Jacobs 2011, Bruno 2014

­Kracauer, vgl. Gerstner 2014, S. 143 ff. 79 Kracauer 1960, S. 41 80 Vgl. Vidler 1993, S. 52. Zwar dreht es sich bei

50 Vgl. Sobchack 1982, S. 330, Bordwell 1977

dieser Straße, die er sich insbesondere aus eigenen

51 Pantenburg 2016, S. 59–60

Be­obachtungen und Spaziergängen erklärte, oft-

52 Dorrian 2015, Gaetano 1997

mals um sogenannte „Straßenfilme“ der 1920er und

53 Ganz/Neuner 2013

1930er-Jahre, doch landete Kracauer nicht weniger

54 Sehen wir hier einmal von dem riesigen Korpus

in ihren Er­weiterungen, in Detektivgeschichten und

der medienwissenschaftlichen Feinheiten, kultur­

oftmals im bürgerlichen Interieur, anstatt auf dem

histo­rischen Unterschiede oder theoretischen

Asphalt, vgl. Koch 1996, Kracauer 2009, Kracauer

Ambi­valenzen von Blick und Auge einmal ab, vgl. u. a. Mulvey 1985, Silverman 1997, Blümle 2005. 55 Der Tastsinn hat im Sinne eines „taktilen Auges“ auch eine medientheoretische Basis in der Zerstreuung bei Benjamin und findet eine Erweiterung durch Taussig, vgl. Benjamin 1936, Taussig 1997.

1960, S. 62. 81 Kracauer 1960, S. 300 82 Curtis 2012, S. 435 83 Es verbleibt ein Hinweis auf Eduardo Viveiros de ­Castros Ausführungen zu einer relativen Ontologie, Vgl. Viveiros de Castro 2015, S. 11–12.

56 Kracauer 1960, S. 285

84 Butis Butis 2007

57 Schlüpmann/Levin, S. 111

85 Siehe den Eintrag unter Trivia zu Back to the Future

58 Man denke hier an die fotografischen Versuche von Helmholtz und Muybridge, vgl. Braun 2010.

II, URL: http://www.imdb.com/title/tt0096874/ (01.02.2017)

59 Kracauer 1960, S. xi 60 Vgl. Curtis 2012 61 Vgl. Gunning 1996 62 Vgl. Perec 2011 63 Perec 2014b, S. 6 64 Perec 2014a, S. 86 65 Kracauer 1960, S. 46 66 Kracauer 1960, S. 207 67 Kracauer 1960, S. 18 ff. 68 Kracauer 1960, S. ix 69 Dies gilt nicht nur gemeinhin für die Unterscheidung von cache, cadre und hors-champ, sondern auch für den „Point of View“, vgl. Aumont 2007. 70 Vgl. die entsprechenden Lemmata im Wörterbuch der kinematografischen Objekte, Böttcher et al. 2014. 71 Vgl. Rappaport 2009 72 Kracauer 1960, S. ix 73 Kracauer 1960, S. 54 74 Vgl. Weihsmann 1995 75 Kracauer 1960, S. 62, 72

101

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Mit Viollet-le-Duc ins Kino: Über das Restaurative im Verhältnis von Architektur und Film Vinzenz Hediger

En attendant les monuments nouveaux, conservons les monuments anciens. Victor Hugo, Notre Dame de Paris Jede „Restauration“ ist auch eine „Instauration“: Mehr als nur eine Wiederherstellung, ist jede Restaurierung auch eine Herstellung, eine Ins-Werk-Setzung von etwas Neuem. Mit diesem Gedanken leitet Hubert Damisch eine Ein­ führung in das Werk von Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc (1814–1879) ein, einem der einflussreichsten, aber auch umstrittensten Architekten des 19. und 20. Jahrhunderts. Mit seinen Restaurierungen mittelalterlicher Bauten prägt Viollet-le-Duc bis heute die Wahrnehmung der mittelalterlichen und vor allem der gotischen Architektur im 19. und 20. Jahrhundert, von der Abteikirche in Vézélay – einer ursprünglich romanischen Kirche, die für ihn den Übergang zur Gotik in Frankreich markierte und die er mit einer gotischen Fassade versah – über die Kathedralen von Paris, Saint-Denis, Amiens, Reims und Clermont-Ferrand bis zu seinem wohl bekanntesten Werk, der Wiederherstellung der Befestigungsanlage von Carcassonne. Viollet-le-Ducs Dictionnaire raisonné de l’architecture française, erschienen zwischen 1854 und 1868, diente Generationen von Architekten als Lehrbuch und zählt zu den bedeutendsten Texten der Architekturtheorie. Zu den Leistungen Viollet-le-Ducs gehört, dass er den Begriff der „Restauration“ geprägt und in die Terminologie der ­A rchitektur und Kunstgeschichte eingeführt hat, der im Deutschen mit Re­ staurierung übersetzt wird und nach der etablierten Definition des interna­ tionalen Museumsverbands ICOM die Wiederherstellung eines materiellen Kulturguts bezeichnet.1 108

„Restaurer“ und „instaurer“ gehen beide auf die latenische Wurzel „staurare“ zurück, die sich wiederum vom griechischen „stauros“ herleitet, was „aufgerichteter Pfahl“ bedeutet und im Neuen Testament jenes Gerät bezeichnet, an dem Christus hingerichtet wird und das im dritten Jahrhundert zum Symbol des Christentums wird, das Kreuz.2 Die „Instauration“ ist demnach die erste Aufrichtung, die „Restauration“ die zweite, die Wiederaufrichtung. In der Restaurierung verkehrt sich die Abfolge noch einmal: Die Wiederaufrichtung wird zur Neu-Aufrichtung, wie auch zur Neu-Einrichtung. Gedacht ist Damischs Spiel mit den beiden Komposita der Wurzel „stauros“ zugleich als Auslegung von Viollet-le-Ducs Verständnis von Restaurierung und als Rechtfertigung. Denn dem Zweifel und damit dem Zwang zur Rechtfertigung unterliegt Viollet-le-Ducs Arbeit aus Sicht seiner Kritiker aus zwei Gründen: weil sie uns an eine Vergangenheit kettet, die den Raum für wirklich Neues verstellt, und weil es sich dabei überdies um eine verfälschte, auf einer von Interessen der Gegenwart geleitete Interpretation handelt. „Restoration“, schreibt etwa John Ruskin, Viollet-le-Ducs großer englischer Widersacher und der andere große Propagator der Gotik im 19. Jahrhundert, in seinem Essay The Seven Lamps of Architecture von 1849, „is a lie from beginning to end“.3 Noch weiter geht Le Corbusier, der in seinem einflussreichen Manifest Vers une architecture von 1923 immer wieder vom „Schmutz der Vergangenheit“ spricht, den es abzuwaschen gelte, eine Formulierung, die in ihrer Hygienefixierung seiner Schweizer Herkunft geschuldet sein mag, die aber hauptsächlich auf Viollet-le-Duc und seine von ihm inspirierten Nachfolger zielt (nicht von ungefähr bezeichnet Corbusier die gotische Kathedrale, die paradigmatische Bauform für Viollet-le-Duc, als „Drama, nicht als Architektur“).4 Die Kritik an Viollet-le-Duc erinnert dabei in ihren Argumentationsweisen in auffälliger Weise an die Kritik, die im Bereich des Films am Historienfilm immer wieder vorgebracht wird. In der Filmwissenschaft etwa wird die Ausein­ andersetzung mit dem Historienfilm fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Ideologiekritik geführt und nicht im Rahmen von Diskussionen über Kunstwert und künstlerische Innovation. Die Geschichtswissenschaft wiederum nimmt sich des Historienfilms mit den Instrumenten der Quellen109

kritik an und moniert in einem bisweilen etwas monotonen Refrain, der an Ruskins Lügenvorwurf gemahnt, die (vermeintlichen) Abweichungen von der historisch gesicherten Faktenlage. Zur Randständigkeit in der kritischen Würdigung steht die kulturelle Wirkmacht sowohl des Historienfilms wie der Praxis der Restaurierung in Kon­ trast. Der Historiker Robert Rosenstone hielt vor einigen Jahren fest, dass die meisten Leute, aber auch die meisten Historiker, so sie denn nicht Spezia­ listen für die Geschichte der Dekolonisierung sind, das, was sie über Gandhi wissen, aus Richard Attenboroughs historischem Epos Gandhi von 1982 wissen.5 Analog lässt sich behaupten: Was wir über Gotik wissen, wissen wir, so wenig es Ruskin und seinen Schülern gefallen mag, im Wesentlichen von und durch Viollet-le-Duc.6 Analogien zwischen Restauration und Historienfilm möchte ich im Folgenden erproben. Ausgehend von Viollet-le-Ducs eigenem Begriff von Restauration gilt es zunächst, Architektur und Film als Medien der historischen Erfahrung zu begreifen. Ferner liegt es nahe, die spannungsgeladene Gleichzeitigkeit von restaurativer Geste und technologischer Innovation in den Blick zu nehmen, die sowohl das Werk von Viollet-le-Duc als auch den Historienfilm kennzeichnet. Schließlich lässt sich die Analogie genealogisch verstehen. Viollet-­ le-Ducs Konzept der Restaurierung wäre demnach eine kulturelle Matrize für den Film als Medium der historischen Rekonstruktion im 20. Jahrhundert, ein Zusammenhang, der aktuell in den Praktiken des „virtual heritage“, der Restauration im Medium der digitalen Animation, neue Konkretion und Evidenz gewinnt.

I „Ein Gebäude zu restaurieren“, so schreibt Viollet-le-Duc am Anfang seines Artikels über „Restauration“ im Dictionnaire raisonné, „bedeutet nicht, es zu unterhalten, zu reparieren oder umzubauen. Es bedeutet, das Gebäude in einem Zustand vollständig wiederherzustellen, der möglicherweise zu keiner Zeit so existierte.“7 Statt im Geiste des Historismus auf die Konservierung 110

­eines spezifischen historischen Moments in allen seinen Details, zielt Restauration in diesem Sinne auf ein anders Ganzes: Auf die Architektur als System von Lösungen baulicher Probleme, und auf das einzelne Gebäude als Idealtyp der Realisierung dieses Systems. Nicht von ungefähr stellt Hubert Damisch in seiner Apologie Viollet-le-Ducs, die er 1978 schrieb, diesen als Proto-Strukturalisten dar: Wenn schon nicht als Zeitgenossen, so doch als Ahnherr eines Zeitgeistes, der nicht auf die Partikularismen, sondern auf die Struktur kultureller Bedeutungen und die Regeln ihrer Genese zielt. Aus dem Abstand zwischen dem vorfindlichen historischen Zustand und der Restaurierung macht Viollet-le-Duc keinen Hehl. Rechts neben dem Hauptportal vom Innenraum der Kathedrale von Reims sind einige Figuren an der Säulenbasis in dem Zustand belassen, in dem sie sich vor Beginn der Restaurierung befanden. Die Gesichtszüge sind nicht zu erkennen, die Faltenwürfe der Kleidung sind nur mehr angedeutet. Der Stein wirkt teils verwittert, teils sind Spuren gewaltsamer physischer Einwirkung zu sehen. In diesem Zustand möchte Ruskin das Monument belassen. Für Viollet-le-Duc setzt hingegen genau hier die Arbeit der Restaurierung an. Die Figuren an der Außenfassade der Kathedrale von Reims stammen entsprechend alle aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert und bestehen aus neu behauenem Sandstein und aus Gussbeton. Schon aus bautechnischen Gründen haben wir es mit einem Zustand zu tun, den es in dieser Form nie gegeben hat. Restauration ist für Viollet-le-Duc ohnehin etwas genuin Modernes. Die Römer, so fährt er in seinem Artikel über „Restauration“ fort, kannten weder den Begriff noch den Vorgang selbst. Die lateinischen Verben instaurare, reficere und renovare bedeuten nicht renovieren im Sinne der Wiederherstellung eines idealtypischen historischen Zustandes. Die römische Architektur besteht für Viollet-le-Duc aus einer Reihe von Grundelementen und Gebäudetypen, die unter Aufwendung großer personeller und technischer Ressourcen in der ganzen römischen Einflusssphäre in vergleichbarer Weise realisiert werden. Sie ist ein System, das im Grunde keine Entwicklung zulässt und keine Geschichte kennt. Eine Architektur ohne Fortschritt und Geschichtsbewusstsein kennt aber auch keine Restauration, sondern nur unterschiedliche Varianten des Neubaus nach bekanntem Plan. 111

Abb. 1: Eugene Viollet-­ le-Duc: Entwurf für eine Konzerthalle im gotischen Stil (datiert 1864), abgedruckt in: Viollet-le-Duc 1872, S. 95

Die romanische Architektur stuft Viollet-le-Duc als im Grunde unbeholfenen Versuch ein, mit stark reduzierten personellen und bautechnischen Ressourcen das System der römischen Architektur neu zu beleben. Mit der gotischen Architektur hingegen beginnt für Viollet-le-Duc etwas Neues. Der spitz zulaufende gotische Bogen und das daraus resultierende statische System, in dem eine Balance von Druckverhältnissen die Konstruktion von großen umbauten Räumen unter relativ geringem Aufwand an Material und Personal er112

laubt, ist für Viollet-le-Duc eine bedeutsame Innovation und eine der großen Erfindungen der Architekturgeschichte.8 Sie macht die gotische Architektur zum eigentlichen Paradigma des Fortschritts und damit auch des neuzeit­ lichen, an die Idee des Fortschritts geknüpften Geschichtsbewusstseins.9 Viollet-le-Duc bringt diese architektonische Innovation mit der urbanen bürgerlichen Kultur des Hochmittelalters in Verbindung und schreibt sie einer anonymen Gruppe von Baumeistern zu, denen er eine dezidiert weltliche, dem konservativen Klerus gegenüber kritische Grundhaltung attestiert. Diese namenlosen Erfinder eines neuen, bürgerlichen Geistes der Innovation macht Viollet-le-Duc zugleich zu den Repräsentanten des „peuple“, des französischen Volkes und damit zu Protagonisten einer nationalkulturellen Großerzählung. Die Architektur, die sie entwickeln, ist für Viollet-le-Duc aufs engste verknüpft mit der Geschichte Frankreichs, mit den „conquêtes intellectuelles de notre pays“, den intellektuellen Errungenschaften des Landes, und dem französischen „caractère national“, einem Nationalcharakter, dessen Züge, Tendenz und Stoßrichtung sie wiedergebe.10 Damit fügt er dem Begriff der „Restau­ ration“ eine weitere Bedeutungsschicht hinzu, die über den architekturtheoretischen und kunsthistorischen Gebrauch hinausgeht. Begriff und Praxis der Restaurierungen zielen bei Viollet-le-Duc darauf, die Gotik als genuin französischen Beitrag zur Architekturgeschichte auferstehen zu lassen (um auch einmal die eschatologische Dimension des Begriffs ins Spiel zu bringen). „Restauration“ meint für ihn mithin auch, dass diejenigen, die die restaurierten Monumente begehen, eine Erfahrung der Geschichte der französischen ­Nation gewinnen.11 „Geschichte“ und „Nation“ sind, wie Reinhart Koselleck es formuliert, Kollektivsingulare, die an der Schwelle vom 18. Zum 19. Jahr­ hundert erstmals in ihrer modernen Bedeutung auftreten. Sie dienen als „Er­ fahrungsstiftungsbegriffe“, also als Begriffe, die überhaupt erst möglich und ­erfahrbar machen, was sie benennen.12 Zum Lexikon der Erfahrungsstiftungs­ begriffe des 19. Jahrhunderts gehört in diesem Sinne auch „restauration“ im Sinne von Viollet-le-Duc. Über Fragen der Kultur- und Gedächtnispolitik äußert sich Viollet-le-Duc in seinem umfangreichen theoretischen Werk, abgesehen von der zitierten Charakterisierung der Gotik als genuin französischer Baukunst, nicht ausdrücklich. 113

Gleichwohl koordiniert er seine Arbeit stets mit den Institutionen und In­ stanzen der Kulturpolitik seiner Zeit.13 Viollet-le-Ducs Restaurierungen sind Beispiele für das, was der Historiker Pierre Nora als „lieux de mémoire“, als Erinnerungsorte bezeichnet: Dispositive der Herstellung von kollektivem ­Gedächtnis, die einem genunin modernen Bedürfnis entsprechen, die lebensweltlichen Veränderungen, die der technologische und gesellschaftliche Fortschritt mit sich bringt, mit Formen der symbolischen Auseinandersetzung mit den Resten der Vergangenheit aufzufangen. Viollet-le-Ducs Theorie und Praxis der Restaurierung, die Vergangenheit als Idealtypus einem Interesse der Gegenwart entsprechen lässt, ist gleichsam so etwas wie eine Theorie der Erinnerungsorte avant la lettre, wie der Architekturhistoriker Kevin Murphy argumentiert.14 Vergangenheit zum Gegenstand der Erfahrung zu machen, ist aber auch eine basale Leistung des Films. Der Film ist, als Medium der Bewegung, auch ein Medium der Speicherung und Wiedergabe von Zeit. Filmaufnahmen sind technisch reproduzierbare „Zeitobjekte“, um einen Begriff aufzugreifen, den Husserl für musikalische Motive und Melodien prägte und den Bernard Stiegler auf den Film adaptiert.15 Auf einer medientheoretischen Ebene lässt sich argumentieren, dass der Film die Vergangenheit gerade durch den Vorgang der Speicherung und Wiedergabe von Zeit in einem Hegel’schen Sinne aufhebt: also zugleich als Vergangenheit darstellt und ihres Vergangenheits­ charakters entkleidet, nämlich auf Dauer in einer jeweils neuen Gegenwart verfügbar macht.16 In der Fotografie- und Filmtheorie wird gerne der Aspekt betont, dass das fotografische Bild wiedergibt, was im Moment der Aufnahme gerade vor der Kamera war. So meint etwa Roland Barthes mit seinem Begriff des „punctum“ einen Kern historischer Kontingenz, der sich in die Fotografie vor aller Konventionen der Darstellung einträgt und die Fotografie zum „Bild ohne Code“ macht.17 Für Siegfried Kracauer steht die Fotografie zunächst unter dem Verdacht, das Medium par excellence der schlechten Unendlichkeit des Historismus zu sein, ein Medium, das wahllos festhält, was gerade der Fall ist, wie er in einem berühmten Essay von 1927 schreibt.18 In seiner Theorie des Films von 1960 wendet er diese Eigenschaft positiv und schreibt dem Film zu, das Medium einer Errettung der physischen Realität zu sein.19 114

Der Fokus liegt aber weiterhin auf der Fotografie als Index, als Zeichen, das zugleich etwas zeigt und auf seine physische Ursache hinweist, um es in der Taxonomie der Zeichen von Charles Sanders Peirce zu formulieren. Nicht im Vordergrund steht in diesen Theorien die Tatsache, dass die Fotografie Bild und Gegenstand immer auch trennt. Die Vergangenheit, die Fotografie und Film in der Gegenwart verfügbar und zum Gegenstand der Erfahrung machen, hat es, wenn man das Bild als Bild gelten lässt, vor der Aufnahme nie gegeben. Es gibt sie nur und erst als Fotogramm.20 Einen Film zu verstehen und einen restaurierten umbauten Raum zu begehen, sind in diesem Sinne zwei in ihrer Struktur verwandte, unter bestimmten Gesichtspunkten isomorphe Erfahrungen.21 Vollends gilt dies, wenn die profilmische Realität ihrerseits schon eine Form der Restaurierung voraussetzt, wie im Historienfilm.

II Der Kunstsoziologe Pierre Francastel war der vielleicht wichtigste Apologet Viollet-Le-Ducs in der Hochzeit des Modernismus (und zugleich ein Verächter von Le Corbusier, den er als „faschistischen Kleinbürger“ abkanzelte). In seinem Buch Art et Technique aux XIX et XX siècles von 1958 stellt Francastel Viollet-le-Duc selbst in die Tradition jener Erfinder, denen wir die Innovation des gotischen Spitzbogens zu verdanken haben.22 Weit davon entfernt, eine rein rückwärtsgewandte Auffassung der Architektur zu vertreten, ist Viollet-­ le-Duc in bautechnischer Hinsicht ein Innovator, der zur Entwicklung von ­Eisen- und Stahlarmierung und Gussbeton wichtige Beiträge geleistet hat. ­Viollet-le-Ducs Funktionalismus zählt für Francastel denn auch zu den Voraussetzungen und direkten Vorläufern der architektonischen Moderne, ein Zusammenhang, der Architekten wie Victor Horta und Frank Lloyd Wright durchaus nicht entgangen war (Wright etwa nannte Viollet-le-Duc den „einzigen Theoretiker, den ich lesen kann“), der von zeitgenössischen Theore­t ikern der modernen Architektur wie Sigfried Giedion aber unterschlagen wird.23 Für Viollet-le-Ducs modernistische Kritiker steht dieser auch im Verdacht, ein 115

romantischer Reaktionär zu sein, der die Restaurierung als Restauration betreibt, also auch auf die Wiederherstellung eines früheren gesellschaftlichen Zustandes zielt. Für Francastel hingegen steht er in einer direkten Kontinuität mit der Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Die vermeintliche Spannung von Restaurierung und technologischer Innovation in Viollet-le-Ducs Werk versteht Francastel entsprechend auch als dynamische Gleichzeitigkeit. Diese beiden divergierenden Sichtweisen lassen sich so auch auf den Historienfilm anwenden: Der Film ist ein klassisches Beispiel von Innovation als Re-Kombination präexistenter Elemente, wie sie Joseph Schumpeter in seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung untersucht hat.24 Der Film entspringt einer Assemblage von Techniken und Verfahren der Ingenieurswissenschaften und der industriellen Chemie des 19. Jahrhunderts (Zelluloid zum Beispiel ist ein Nebenprodukt der Herstellung artifizieller ­Billard-Kugeln). Das technische Grundprinzip des Films – die fotochemische ­F ixierung von Bewegung und deren Wiedergabe in einer Abfolge von Einzel­ bildern – bleibt für mehr als ein Jahrhundert stabil; das 35-mm-Format bildet ebenfalls für mehr als ein Jahrhundert, bis zum Übergang zur digitalen Distribution, einen der wenigen dauerhaften globalen Standards der Medientechnik. Wie Stahlgerüstbau und Gussbeton stellt der Film eine Technik des ausgehenden 19. Jahrhunderts dar, welche die Lebenswelt des 20. Jahrhunderts wesentlich prägt. Von Anfang an aber wird der Film für eine Wiederherstellung von Vergangenheit genutzt. „Placing the spectator on the scene of history“ ist eine Strategie schon des frühen Films, wobei sich um die Wende zum 20. Jahrhundert etwa gefilmte Nachstellungen berühmter Schlachten, am besten unter Beteiligung der Original-Akteure, großer Beliebtheit erfreuen.25 Die ersten abendfüllenden Spielfilme, die in den frühen 1910er-Jahren zunächst in E ­ uropa und ab 1913 auch in den USA produziert werden, sind zumeist Verfilmungen historischer Stoffe und dabei oft Restaurationen im Sinne einer Rekon­struktion von historischen Welten, die es in dieser Form nie gegeben hat. Giovanni Pastrones Epos Cabiria von 1913 etwa basiert lose auf Gustave Flauberts Roman ­Salammbô von 1862 und versetzt sein Publikum in die Zeit der punischen Kriege, wobei die architektonischen Monumente von Karthago einen der 116

Abb. 2: Screenshot aus ­Intolerance (USA 1916)

wichtigsten Schauwerte des Films bilden. Birth of a Nation von David Wark Griffith von 1914, der gemeinhin als erster abendfüllender Spielfilm amerikanischer Produktion gilt, erzählt die Geschichte des amerikanischen Bürgerkriegs als Familiengeschichte und wartet dabei unter anderem mit ­einem historischen „facsimile“ des Ford Theater in Washington auf, in dem Präsident Lincoln Opfer eines Attentats wurde. Wie der Titel von Griffiths Film schon anzeigt, gliedert sich die Strategie des „placing the spectator on the scene of history“ immer auch in den Horizont nationalhistorischer Narrative ein. Erzählt wird die Geschichte einer Nation, einer Gruppe mit gemein­ samer Zukunft, die sich im Kino mit einer gemeinsamen Vergangenheit ­ausstattet. „Placing the spectator at the scene of history“ ist dabei wie die Restaurierung immer zugleich eine „Instauration“: Der Historienfilm stiftet eine Erfahrung historischer Gegenstände, die es so ohne den Film nicht geben könnte. Und in gleicher Weise wie Viollet-le-Ducs Theorie und Praxis der Restaurierung fällt auch der Historienfilm dafür der Kritik anheim. Griffiths Film ist ein Paradebeispiel der Kombination einer restaurativen – in diesem Falle: offen rassistischen – Gesinnung und technologischer Innovation. Er beschäftigt die 117

Abb. 3: Screenshot aus The Ten Commandments (USA 1923)

Filmwissenschaft bis heute, weil Griffith in diesem Film Techniken wie die Großaufnahme und die Parallelmontage perfektioniert, wobei Stil und Inhalt beziehungsweise Gesinnung und Technik in der Diskussion jeweils gerne ­getrennt diskutiert werden: Der Inhalt ist reaktionär, wofür sich Griffith ja auch zwei Jahre später mit seinem Opus magnum Intolerance beim Publikum gleichsam entschuldigt; der Stil aber gehört zu den Marksteinen einer progressiven Stilgeschichte des Kinos.26 Weil er für eine progressive Stilgeschichte des Kinos weniger unverzichtbar ist, wird dagegen der Historienfilm-Spezialist Cecil B. DeMille, der kom­ mer­z iell mit Abstand erfolgreichste Regisseur der ersten Hälfte des 20. Jahr­ hunderts, in der Filmgeschichte in ähnlicher Weise mit Nichtbeachtung ­gestraft, wie dies die Architekturgeschichte lange Zeit mit Viollet-le-Duc gemacht hat. DeMille zählte zu den wenigen Regisseuren, deren Name einem breiten Publikum bekannt war – seine Zugkraft galt der eines großen Stars als vergleichbar. In seinen öffentlichen Auftritten stellte er sich stets als gelehrten Künstler dar, der seine Filme auf seriösen historischen Recherchen aufbaut, so etwa auch, wenn er sich am Anfang seiner zweiten Verfilmung von The Ten Commandments direkt an das Publikum wendet, um als Experte in seinen eigenen Film einzuführen.27 118

Abb. 4: Die Setbauten für The Ten Commandments (USA 1923), Screenshots aus dem Dokumentarfilm Cecil B. DeMille: American Epic von Kevin Brownlow (USA 2004)

Er etablierte damit einen Modus der Legitimierung historischer Darstellung, der im amerikanischen Kino bis heute verwendet wird. Gleichwohl gelten DeMilles Verfilmungen biblischer Stoffe und historischer Epen der akade­ mischen Filmgeschichtsschreibung als Ausdruck einer künstlerisch wie ­politisch restaurativen Geisteshaltung, die es verdient, in Vergessenheit zu geraten.28 In ähnlicher Weise wie bei Viollet-le-Duc fällt DeMilles Kombination von restaurativem Gestus und produktionstechnischer Innovation durch den Raster einer Kritik, die einer Avantgarde den Vorzug gibt, welche alle Tradition mit revolutionärer Geste verabschiedet und sich stattdessen einer Auseinandersetzung mit der Essenz des jeweiligen künstlerischen Mediums zuwendet. Geschichte gilt dieser Kritik nur dann als angemessen dargestellt, wenn sie nicht im Modus der Restaurierung heraufbeschworen, sondern als Problem der Form reflektiert wird.29 Die eigentliche Frage ist aber nicht, ob der Historienfilm Kunst sein kann. Die Frage ist vielmehr die, welche Vivian Sobchack in einer phänomenologischen Studie des Hollywood-Historienfilms zu Beginn der 1990er-Jahre in einer ersten Skizze aufgeworfen hat:30 nämlich die Frage nach der „Restauration“ als Modus der Erfahrungsstiftung in der Moderne, ein Modus, der in der Architektur und im Film gleichermaßen seine Medien findet. 119

Abb. 5: Cecil B. DeMille als Geschichtslehrer, Screenshot aus The Ten Commandments (USA 1956)

III Der Pont Saint-Bénézet, die Brücke aus dem 14. Jahrhundert über die Rhône, von der nur noch ein Fragment von vier Bogen steht und die neben dem Papstpalast die wichtigste Sehenswürdigkeit der südfranzösischen Stadt Avignon darstellt, wurde jüngst vollständig restauriert und kann nun wieder besichtigt werden. Im Brückenkopf, der an die alte Stadtmauer anschließt, befindet sich ein kleines Museum mit einem Raum, in dem ein rund 20-minütiger Film gezeigt wird. Der Film dokumentiert ein archäologisches Forschungsprojekt, bei dem im Gelände zwischen dem Brückenfragment und dem ursprüng­ lichen Endpunkt der Brücke, einem Wehrturm in Villeneuve-les-Avignon, die verbliebenen Spuren der ursprünglichen Brücke lokalisiert und dingfest gemacht wurden. Hubschrauber, Sonare und andere avancierte Grabungstechniken kommen dabei zum Einsatz. Man sieht die Wissenschaftler bei der ­A rbeit und verfolgt ihren Forschungserfolg Etappe für Etappe. Schließlich werden die Ergebnisse zusammengeführt: in einer digitalen 3-D-Ani­mation der historischen Brücke, in der eine virtuelle Kamera sich über die Brücke und an dieser entlang bewegt und das restaurierte Bauwerk für die Zuschauer begehbar macht. 120

Abb. 6. Cecil B. DeMille (Mitte) am Set von The Ten Commandments (USA 1956), in: Engelmeier 1993, S. 57

Ein solcher Film ist mehr als nur eine Dokumentation einer Restauration: Er ist zugleich ein „Making of“ und die Restauration selbst. Statt in stahlarmiertem Gussbeton mit einer Zierschicht aus Mörtel und Stein in der physischen Realität, wird der Zustand, den es historisch so vielleicht nie gegeben hat, hier mit den Mitteln des Computer Aided Design als virtuelle Realität realisiert. „Virtual heritage“ hat sich als Begriff für solche Animationen etabliert, die mittlerweile zum Standardrepertoire archäologischer Museen und Stätten gehören und auch in Carcassonne im Museumstrakt eingesetzt werden.31 „Virtual heritage“ lässt sich beschreiben als Fortsetzung der Restauration mit den Mitteln des digitalen (Historien-)Films. Auch diese Restauration ist aber immer noch eine „Instauration“, eine Wiederaufrichtung als Neueinrichtung, und sie verweist gerade dadurch auf die genealogische Dimension der Analogie von Restauration und Historienfilm. Kann „virtual heritage“ als Beispiel für das gelten, was derzeit unter der Rubrik „post-cinema“ thematisiert wird, also für das Kino jenseits des Kino-Dispositivs,32 so fällt Viollet-le-Duc in den Zusammenhang dessen, was in der Forschung „pre-cinema“ heißt: also dessen, was vor dem Kino kommt und dieses vorbereitet und möglich macht. Das Kino hat Viollet-le-Duc nicht erfunden, aber er hat mit seinem Verständnis von Restauration einen Modus der historischen Erfahrung gestiftet, in dessen Horizont so etwas wie das Kino überhaupt erst denkbar wird. 121

Anmerkungen

blem medientheoretisch greifbar, an dem Oakeshott sich abarbeitet. Oakeshott 1999

1

„Restoration: all actions directly applied to a single and stable item aimed at facilitating its appreciation, understanding and use. These actions are only carried out when the item has lost part of its significance or function through past alteration or deterioration. They are based on respect for the original material. Most often such actions modify the appearance of the item.“ http://www.icom-cc.org/242/about/ terminology-for-conservation/#.WQRl13f5zwc (zuletzt besucht am 29. April 2017)

2

Unterberger 2012

3

Ruskin 1849, S. 186

4

Le Corbusier 1995, S. 19

5

Rosenstone 1995, S. 5

6

Zum Verhältnis von John Ruskin und Viollet-le-Duc vgl. auch Pevsner 1969

7

„Restaurer un édifice, ce n’est pas l’entretenir, le réparer ou le refaire, c’est le rétablir dans un état ­complet qui peut n’avoir jamais existé à un moment donné.“ Viollet-Le-Duc 1854–68, https://fr.wikisource.org/wiki/Dictionnaire_raisonné_de_l’architecture_française_du_XIe_au_XVIe_siècle/Restauration (letzter Zugriff 1.6.2017)

8

Viollet-le-Duc 1978, S. 95

9

Ebd. S. 72

10 Ebd. S. 147 11 Vgl. dazu auch Bressani 2014 12 Kosselleck 2006 13 Murphy 1999, S. 13 14 Ebd. S. 22 15 Stiegler 2001 16 Vgl. Hediger 2015 17 Barthes 2009 18 Kracauer 1963 19 Kracauer 1985 20 Der konservative britische Philosoph Michael ­Oakeshott kritisiert den Begriff der historischen ­Erfahrung genau aus dem Grund, weil in diesem ­immer schon eine Verstrickung der Vergangenheit in die Gegenwart angelegt sei, die letztlich auf eine Ent-Historisierung der Geschichte hinauslaufe. Die Aufgabe des Historikers hingegen sei es, die ­Geschichte unter Absehung von den Interessen der Gegenwart darzustellen. Der Film , so könnte man sagen, macht das geschichtsphilosophische Pro-

122

21 Zum Verhältnis von Begehen und Verstehen vgl. auch Hediger 2014 22 Francastel 1988 23 Bekaert 1980, S. 51–53; 67 24 Schumpeter 1913, S. 163 25 Whissel 2002 26 Robert Sklar etwa argumentiert in seiner für die amerikanische Filmwissenschaft grundlegenden Kulturgeschichte des amerikanischen Kinos, dass der Stil sich vom Inhalt bei Grifffith nicht trennen lasse. Sklar 1975 27 Hediger 2004 28 Nach wie vor beschränkt sich die filmwissenschaft­ liche Literatur über DeMille im Wesentlichen auf eine Monografie über sein Stummfilmwerk. Vgl. Higashi 1992 29 Die Leitgrößen einer solchen Kritik sind für die ­Malerei im 20. Jahrhundert Clement Greenberg und für die Musik Adorno. 30 Sobchack 1990 31 Vgl. für eine kritische Diskussion die Beiträge in Falser/Juneja 2013 32 De Rosa/Hediger 2017

Bibliografie

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Barthes, Roland: Die helle Kammer – Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt 2009 Bekaert, Geert: A la recherche de Viollet-le-Duc. Brüssel 1980 Bressani, Martin: Architecture and the Historical Imagina­ tion. Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc, 1814–1879. Farnham 2014 Le Corbusier (Pierre Jeanneret): Vers une architecture. Paris 1995 Damish, Hubert: „Introduction“, in: Viollet-Le-Duc, Eugène Emmanuel: L’architecture raisonnée. Paris 1978, S. 7–29 De Rosa, Miriam, Hediger, Vinzenz: „Post-what? Post-when? A Conversation on the ‚Posts’ of Post-media and Post-cinema“, in: Cinema & CIe, Vol. 15, No. 26/27 (2017) Engelmeier, Peter W.: Hinter den Kulissen. Stars bei der Arbeit, Augsburg 1993 Falser, Michael, Juneja, Monica (Hg.): „Archeologizing“ Heritage? Transcultural Entanglements between Local Social Practices and Global Virtual Realities. New York 2013 Francastel, Pierre: Art et technique au XIXème et XXème sciècle. Paris 1988 Hediger, Vinzenz: „The Equivalent of an Important Star. Zur Rhetorik der Selbstpromotion in den Kinotrailern Cecil B. DeMilles“, in: Montage AV Vol. 13, No. 2 (2004), S. 127–147 Hediger, Vinzenz: „Begehen und verstehen. Wie der filmische Raum zum Ort wird“, in: Dorit Müller, Johannes Pause (Hg.): Wissensraum Film. Wiesbaden 2014, S. 61–87 Hediger, Vinzenz: „Aufhebung. Geschichte im Zeitalter des Films“, in: Lorenz Engell, Oliver Fahle, Vinzenz Hediger, Christiane Voss: Essays zur Filmphiloso­ phie. München 2015, S. 169–249 Higashi, Sumiko: Cecil B. DeMille and American Culture. The Silent Era. Berkeley 1994

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Koselleck, Reinhart: „Die Geschichte der Begriffe und Begriffe der Geschichte“, in: Begriffsgeschichten. Frankfurt a. M. 2006, S. 56–76 Kracauer, Siegfried: „Die Photographie“, in: Das Orna­ ment der Masse. Frankfurt a. M. 1963, S. 21–39

123

„Zwischen   zwei Aktionen, zwischen zwei Affekten, zwischen zwei Wahrnehmungen, zwischen zwei visuellen Bildern, zwischen zwei akustischen Bildern, zwischen dem Akustischen und dem Visuellen: das Un­unterscheidbare, das heißt die Grenze sichtbar machen.“ Gilles Deleuze

Prekäre Schauplätze: Der Film als das Unheimliche der Architektur Johannes Binotto

„All architecture is what you do to it when you look upon it, (Did you think it was in the white or gray stone? or the lines of the arches and cornices?)“1 Walt Whitman Wo Film ist, muss Raum werden. Selbst dort, wo die Kamera sich nur für die Charaktere des Films zu interessieren scheint, schleicht sich der Raum trotzdem immer mit ins Bild – sei es als Umgebung und Abstand zwischen den Akteuren oder sei es auch als bloße Entfernung, die zwischen den Darstellern und dem Objektiv liegt. Gerade dieser Zwischen-Raum aber ist für das Kino nicht zufällig, sondern konstitutiv: Würde nämlich die Kameralinse unmittel­ bar auf der Haut der Schauspieler kleben, wäre später auf dem entwickelten Film alles dunkel. Wo es an Raum fehlt, gibt es nichts zu sehen. Sichtbarkeit hingegen benötigt minimale Distanz. So zeigt sich der Raum im Film als Schau-Platz im doppelten Wortsinn: Nicht nur, dass er selbst als Szenerie und Handlungsort sichtbar wird, er ermöglicht zugleich erst, dass man überhaupt etwas erkennen kann. Obwohl selber so oft übersehen, bildet der Raum in Wahrheit die unabdingbare Grundlage des Sehens selbst.

Baumeister Kino-Auge Und doch begnügt sich der Film nicht damit, den Raum als schiere Notwendigkeit einfach in seine Gestaltung zu integrieren. Der Film baut vielmehr die von ihm gefilmten Räume laufend um. Im Film wird aus jedem gegebenen Schauplatz unvermeidlich ein anderer.

126

„Ich bin das Kino-Auge. Ich bin ein Baumeister. Ich habe dich, heute von mir geschaffen, in die wunderbarste, bis zu diesem Augenblick nicht existierende und ebenfalls von mir geschaffene Kammer gesetzt. Diese Kammer hat 12 Wände, die ich in verschiedenen Teilen der Welt aufgenommen habe. Indem ich die Aufnahmen der Wände […] untereinander verbunden habe, ist es mir gelungen, sie in eine Ordnung zu bringen, [...] die nichts anderes als diese Kammer ist.“2 So schreibt 1923 der russische Regisseur und Filmtheoretiker Dziga Vertov in seinem Kinomanifest Kinoki und definiert damit das filmische Medium als eines, das den physischen Raum im selben Zug übersetzt, wie auch negiert: Der filmische Raum, so Vertov, setzt sich zwar aus Raumteilen der Realität zusammen – die zwölf Wände, welche die Kamera aufnimmt, haben irgendwo auf der Welt tatsächlich gestanden –, in ihrer Kombination aber wird aus diesen Wänden eine Kammer gebaut, die es in dieser Form einzig im Kino geben kann. Damit beschreibt Vertov das Verhältnis von filmischem Raum zur Realität als ein genuin unheimliches: Die Kammer des Films ist weder bestens bekannt noch völlig unbekannt, weder nur Abbildung, noch komplette Neuschöpfung, sondern vielmehr beides zugleich. Eben solche Doppeldeutigkeit aber ist es, welche Sigmund Freud sieben Jahre vor Vertov in seinem Aufsatz über „Das Unheimliche“ als dessen eigentliche Definition präsentiert hat.3 So arbeitet Freud anhand zweier ausführlicher Wörterbuchauszüge zum Wort „heimlich“ dessen merkwürdige Widersprüchlichkeit heraus,4 kann dieses doch sowohl „heimelig“/„vertraut“ als auch „versteckt“/„verborgen“ bedeuten. Daraus folgert er, „heimlich“ sei „ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.“5 Das Unheimliche ist weder heimelig vertraut noch völlig fremd, sondern oszilliert vielmehr zwischen diesen Gegensätzen. Und genauso verfährt auch der Film, wenn er vormals vertraute Raumteile zu irritierend fremdartigen Gebilden zusammenbaut. Auch und gerade im Kino gilt: Der heimelige Schauplatz ist irgendwie eine Art von unheimlich.

127

Die Des-Orientierung des Unheimlichen Zeichnet sich das Unheimliche durch seine Instabilität aus, bedeutet dies mithin auch, dass sich seine Wirkung nicht auf bestimmte Objekte oder Figuren fixieren lässt.6 Nicht die angeblich furchterregenden Dinge selbst sind unheim­ lich, sondern ihr andauernd sich veränderndes, räumliches Arrangement. Wenn Freud das unheimliche Gefühl beschreibt, das einen beschleicht, wenn man im dunklen Zimmer immer wieder mit demselben Möbelstück zusammenstößt oder man im nebligen Wald immer wieder auf dieselbe Lichtung tappt,7 dann rührt das Unheimliche weder vom banalen Möbelstück noch von der Waldlichtung her, sondern steckt vielmehr in der rätselhaften räumlichen Situation selbst, die einen in Schlaufen und Drehungen immer wieder an dieselbe Stelle zurückführt. So wäre denn das Unheimliche als Problem der Lokalisation zu verstehen: Weder hängt das Unheimliche an einem bestimmten Subjekt (und dessen subjektiver Empfindung) noch an einem bestimmten, angeblich furchteinflößenden Objekt. Das Unheimliche besteht vielmehr in der ungewissen, sich laufend verschiebenden Stellung, welche Subjekt und Objekt zueinander einnehmen.8 Das Unheimliche entpuppt sich als Phänomen eines sich drehenden und sich verformenden Raumes, wo man am Ende einer Gasse unversehens nur wieder an ihrem Anfang steht, wie dies Freud an einer Stelle beschreibt,9 und wo die Dinge, die man hinter sich gelassen glaubt, plötzlich wieder vor einem auftauchen. Das Unheimliche erweist sich mithin als topologisches Gebilde, wie die Möbiusschlaufe10 oder die Klein’sche Flasche, deren Unter- zugleich deren Oberseite ist und wo Innen zugleich auch Außen ist. Als sogenannte „nicht-orientierbare Flächen“ widersprechen diese topologischen Gebilde der gewohnten euklidischen Geometrie und entziehen sich der eindeutigen Positionsbestimmung. Jacques Lacan, der sich in seinem Seminar der Jahre 1962/63 über die Angst extensiv dem Unheimlichen widmet, wird in diesem Zusammenhang denn auch die Figur des Möbiusbandes einführen.11 In einem solchen nicht-orientierbaren Raum des Unheimlichen ist denn auch Freuds „Wolfsmann“ gefangen, dessen Fall Freud in derselben Periode zu Papier bringt, in der er sich auch mit dem Unheimlichen beschäftigt. Im Zent128

Abb. 1: Zeichnung des Wolfmannes, aus Freud 1947a, S. 55

rum dieser Patientengeschichte steht ein unheimlicher Angsttraum, in welchem der Patient aus dem Fenster blickt und sieht, wie von dort eine Gruppe weißer Wölfe zu ihm ins Zimmer starrt. (Abb. 1) Doch dieser bedrohliche Blick von außen ist eigentlich nur wieder der eigene, wie Freud in seiner Analyse festhält: „Das aufmerksame Schauen, das im Traum den Wölfen zugeschrieben wird, ist vielmehr auf ihn [den Wolfsmann] zu schieben. [...] Vertauschung von Subjekt und Objekt, Aktivität und Passivität, angeschaut werden anstatt anschauen.“12 Was den Angsttraum so unheimlich macht, ist demnach weniger die Bedrohung durch die Wölfe als vielmehr die irritierende räumliche Situation, von welcher er Zeugnis ablegt. Es ist, als befinde sich der Träumer an zwei Orten zugleich, sowohl hinter, wie auch vor dem Fenster. Außen- und Innenbereich werden über das plötzlich sich öffnende Fenster zu einem einzigen, in sich verschlungenen Raum kurzgeschlossen. Unheimlich ist weder nur, was draußen lauert, noch allein, was drinnen wartet. Unheimlich ist vielmehr der nicht-orientierbare Raum selbst, in dem sich die Positionen von Schauendem und Angeschautem unversehens vertauschen und wo außen immer auch innen ist. Das Unheimliche ist mithin das, was ­L acan als „extimité“13 bezeichnet – ein Neologismus, der aus den Wörtern 129

„­i ntimité“ und „exterieur“ gebildet ist: In den Raumparadoxien des Unheimlichen zeigt sich Intimstes draußen, und das Externe entpuppt sich immer auch als Inneres.

Dario Argentos extime Räume An Lacans extimité mag denken, wer in Dario Argentos Film Suspiria (1977) die Wörter entziffern kann, die an der Wand jenes Geheimganges im Herzen der unheimlichen Ballettschule stehen, in welcher der Film zur Hauptsache spielt: „Interiora occultum“. Unmittelbar über diesen Lettern aber steht geschrieben: „Metamorphosis“. Damit ist das Motto dieses Films, wie auch des ganzen Œuvres Argentos und mithin des raumbildenden Potenzials des filmischen Mediums per se prägnant formuliert: Was angeblich okkult im Inneren verborgen ist, durchläuft laufende Metamorphosen. Interiorität verwandelt sich, stülpt sich unvermittelt um ins Außen, und wer sich tief drin in diesen extimen Architekturen zu verkriechen sucht, der wird sich gerade dadurch preisgeben. Das musste schon jene Figur erkennen, die sich in einer Szene zu Anfang von Argentos Film auf ihrer Flucht vor einem namenlosen Grauen im Zimmer ihrer Freundin verbarrikadiert. Gerade hier aber, in der scheinbaren Sicherheit der vier Wände, ist sie ihrem Verfolger schutzloser ausgeliefert als je ­z uvor. Die Fenster des Zimmers sind allesamt blind ob der Dunkelheit, die draußen herrscht. In ihnen sieht man nichts, außer dem eigenen Spiegelbild. Wenn die Verängstigte schließlich nahe an die Scheibe herangeht, um an­ gestrengt nach draußen zu spähen, erblickt sie im Schein ihrer gegen die Scheibe gehaltenen Lampe nur das eine: ein rasch auftauchendes und wieder verschwindendes Augenpaar wie von einem Tier, das von da draußen zu ihr hinein starrt. (Abb. 2) Die Beobachterin erkennt sich plötzlich als Beobachtete, das Subjekt wird zum Objekt unter dem grausamen Blick eines namenlosen Monstrums. ­Aus-Sicht verkehrt sich schockartig in Ein-Sicht. Damit liefert Argento ganz ­nebenbei auch einen interessanten Kommentar zur Glasarchitektur der 130

Abb. 2: Aussicht/Einsicht: Screenshots aus Suspiria (IT 1977)

­Moderne: War es die Ambition von Architekten wie Walter Gropius oder Mies van der Rohe, mit der Verwendung von Glas eine transparente, buchstäblich aufgeklärte Architektur zu schaffen, schlägt diese bei Nacht im Sinne einer unheimlichen Dialektik der Aufklärung in ihr Gegenteil um. In die sogenannte „rationalistische Architektur“14 kehrt spätestens mit Einbruch der Dunkelheit das Irrationale umso vehementer zurück. Frappant ähnelt diese Szene, in welcher der Blick aus dem Fenster dort nur wieder den Blick von draußen nach drinnen erkennt, jenem bereits beschriebenen Angsttraum von Freuds „Wolfsmann“. Und so wie das Fenster des Wolfsmannes plötzlich aufgeht und der Außenraum sich mit dem Inneren vermischt, so brutal bricht auch in Suspiria das, was vor dem Fenster wartet, ins Zimmer ein: Der haarige Arm eines Wesens durchstößt von draußen die Scheibe, um dann das Gesicht der Frau von innen gegen die Scheibe zu pressen, bis sie endgültig birst. In diesem grausigen Moment werden räumlich entgegengesetzte Bewegungen zu einem Kontinuum verschmolzen: Die Hand, die von außen hineinkommt, drängt sogleich wieder von innen heraus. (Abb. 3) 131

Abb. 3: Hinein/hinaus: Screenshot aus Suspiria (IT 1977)

Es ist eine gewaltsame Zirkelbewegung, eine blutige extimité, wo das Externe ins Intime bricht, um sogleich das Innere nach draußen zu stoßen. Doch nicht nur der Arm des Monstrums, auch der Filmapparat selbst erweist sich als Werkzeug solch verstörender Desorientierung: Zum einen, indem die Kamera abrupt zwischen Außen- und Innensicht und zwischen der Perspektive des Opfers und jener des Angreifers wechselt. Zum andern wird ins­ besondere mittels Tongestaltung an diesem paradox-unmöglichen Raum ­m itgebaut: Wenn zu Beginn der Szene die Kamera von draußen durchs geschlossene Fenster ins Zimmer blickt, hören wir gleichwohl die Frau mit ihrer Freundin ganz klar und deutlich sprechen. Das Objektiv der Kamera ist zwar draußen vor dem Fenster, das Mikrofon aber ist drinnen im Zimmer. Bild und Ton, die beiden basalen Bestandteile des audio-visuellen Mediums, vermögen bei Argento komplementäre Orte zu besetzen. Der filmische Apparat als Ganzes wird damit von Argento als einer verwendet, der an zwei O ­ rten zugleich sein kann, innen und außen im selben Moment. Wie ein Kommentar auf diese Raum-Paradoxien mutet dabei die Tapete an, die das Zimmer schmückt, zeigt sie doch ein Ornament aus Fischen und ­Vögeln, wie man es von den Grafiken des niederländischen Künstlers M. C. Escher kennt. (Abb. 3) Tatsächlich ziehen sich Eschers Zeichnungen und insbesondere seine Bilder unmöglicher Bauwerke leitmotivisch durch den ganzen Film. Nicht umsonst liegt die Tanzschule von Suspiria an der „Escherstraße“. Und ausgerechnet hinter einer Wandmalerei, welche die unheimliche Architektur aus Eschers Bild Belvedere zitiert, befindet sich der anfangs erwähnte Geheimgang. So wie auf den Bildern Eschers die Menschen unmögliche Treppen hochsteigen, 132

Abb. 4: Escher-Räume: Screenshot aus aus Suspiria (IT 1977)

deren Ende nur wieder deren Anfang ist, so sind auch Argentos filmische ­A rchitekturen solche, in denen die Gesetze der Statik und Geometrie nicht greifen. Doch als Labyrinth, das sich wie das Möbiusband in Schlaufen dreht, wird der filmische Raum zum unentrinnbaren Gefängnis. So auch in Argentos ­Inferno von 1980, in dem unheimliche Architekturen zugleich das explizite Thema Handlung wie auch die den Film bestimmende Form darstellen. ­Unablässig durchstreifen die Figuren des Films auf der Suche nach verschwundenen, ermordeten Personen ein imposantes Wohnhaus, studieren dessen Pläne und lesen im obskuren Buch seines Architekten, als liege im Bau die Lösung für die wahnwitzigen Verbrechen, die in ihm geschehen. In der Tat: Wenn der Architekt des Hauses behauptet, der Schlüssel zu seinem Geheimnis liege „unter den Schuhsohlen“ seiner Bewohner, so sind diese Worte ganz wörtlich zu verstehen: Im Bau selbst liegt sein Geheimnis verborgen. Wie sich im Laufe des Films herausstellt, befindet sich ein geheimer Raum zwischen den Etagen, ein verborgenes Stockwerk, in dem das tödliche Grauen nistet. Das ist der Raum, aus dem der Mörder kommt, und zugleich der Raum, in dem die Opfer verschwinden. Die verborgene Etage ist ein unnützer, überflüssiger Raum und gerade dadurch eine ideale Lokalität für all das, was über die Alltagsrealität hinausgeht: ein Stauraum gleichsam für alles Verdrängte – mithin jener „andere Schauplatz“15 als den Freud das Unbewusste bezeichnet. Dieser andere Schauplatz des Unbewussten aber ist nicht ein in den angeblichen Tiefen der Psyche Verborgenes, sondern entäußert sich laufend, in endlosen Gängen, irreführenden Treppen und einbrechenden Wänden. (Abb. 5) 133

Abb. 5: Ein/Bruch: Screenshot aus Inferno (IT/USA 1980)

Der Wahn, der die Bewohner dieses Hauses befällt, hat seine Ursache in der Architektur. Die geistige Verwirrung der Figuren wird provoziert durch einen Bau, der nicht verstehbar ist, sondern der von Schichten und Zwischenräumen durchzogen ist, die in keinem Plan eingezeichnet sind. Nicht erst die Figuren, der Bau selbst ist gleichsam außer sich, psychotisch verdreht, und wer ihn bewohnt, den macht er vollends wahnsinnig. Freilich kann es bei dem Wahn nicht bleiben. Die geistige Versehrtheit ist nur die Vorstufe körperlicher Traumata. Auch dafür liefern die filmischen Räume von Inferno die Vorlage. Die Risse und Brüche in Argentos Architekturen manifestieren sich direkt physisch in den Körpern ihrer Bewohner. Wird schon bei Vitruv die Baukunst als anthropomorph verstanden, so übernimmt Argento diesen zentralen Gedanken, um freilich sogleich dessen unheimliche Kehrseite auszustellen: Wenn sich für Vitruv die idealen Maße eines Gebäudes aus den Größenverhältnissen der Körperglieder ableiten lassen,16 liegt es für Argento nur nahe, die Fragmentierungen des Raums entsprechend mit der Zerstückelung des Körpers engzuführen. So wie Anthony Vidler in seinen Studien zum architektonischen Unheimlichen gezeigt hat, dass die Analogisierung von Körper und Bauwerk, welche die Architekturgeschichte von Vitruv über Alberti und Filarete bis zu Le Corbusiers Modulor dominiert, schließlich in die „dismembered architecture“ von Coop Himmelb(l)au umschlägt,17 verspricht auch bei Argento der Vergleich zwischen Leib und Bau nur gemeinsame Zerstörung. So mag man denn auch einige der rätselhaftesten Sequenzen in diesem Film entsprechend erklären. Das Bild eines Gewirrs aus Holzbalken 134

etwa, das uns Argento im Laufe von Inferno zeigt, hat keinerlei narrative ­Motivation. Eine Verortung dieses buchstäblichen Un-Ortes ist nicht möglich, weder in Hinsicht auf seine Bedeutung für die Erzählung noch in Hinsicht auf den diegetischen Raum. Was man hier sieht, ist vielmehr ein Denkbild, gleichsam eine Ikone der Zerstückelung – sowohl des Raumes wie des menschlichen Körpers. In einer anderen Sequenz betritt eine Figur ein verwüstetes Zimmer. Und auch wenn sie hier nicht zu Tode kommt, so fungiert die Unordnung im Zimmer doch bereits als Vorwegnahme jener Verwüstungen, welche die Figur am eigenen Leib erfahren wird. Doch so wie sich räumliche Destruktion im und am Körper der Figuren niederschlägt, so fungiert umgekehrt der menschliche Körper als Raum, den die Kamera zu (de-)montieren sucht. Einige der verstörendsten Sequenzen in Argentos Œuvre sind Aufnahmen wie jene, wo die Kamera einer Schlaftablette auf ihrem Weg durch die Speiseröhre folgt (in La sindrome di Stendhal von 1996) oder wo die traumatischen Erinnerungen des Mörders mit einem Bild von dessen zuckendem Hirn eingeleitet werden (in Opera von 1987). Eingeweide und Bauwerk bilden in solchen Szenen nicht nur Analogien, sondern werden vielmehr direkt miteinander identifiziert. Die Kamera dringt übergangslos vom einen ins andere vor – Mikro- und Makrokosmos, Zellgewebe und Bausubstanz vermischen sich. Dass Argento seine Kamera mit der gleichen Selbstverständlichkeit Außenräume wie auch menschliche Eingeweide trassieren lässt, zeigt nur, wie konsequent er den Raum inszeniert als sowohl in- wie auswendige extimité. Die Kollision von Exteriorität und Interiorität, die so kennzeichnend ist für das Unheimliche, erweist sich demnach bei Argento immer auch als gewaltsames Aufeinandertreffen von Außenwelt und Körperinnerem. So ist denn auch der für manchen Zuschauer abstoßende Detailreichtum von Argentos Gewaltdarstellungen kein bloßer Selbstzweck, sondern notwendige Konsequenz seiner Inszenierung von Räumen. Der Nachdruck, mit dem Argento Verletzungen des Körpers zeigt, ist von der Faszination für unheimliche Architekturen nicht zu trennen. Wie sagt doch in Inferno der Architekt Varelli über sein unheimliches Wohnhaus: „Dieses Gebäude ist mein Körper geworden, seine Steine meine Zellen, seine Gänge meine Adern und sein Schrecken mein eigenes Herz.“ 135

Der Baumeister Varelli entpuppt sich ob solcher Worte endgültig als spiegelbildliche Verkehrung seines antiken Kollegen Vitruv: Wo Vitruv die Architektur als Projektion menschlicher Körperproportionen in den Raum präsentiert, schlägt bei Varelli das Gebäude auf den Körper zurück und ersetzt diesen. Nicht Körperzellen werden zu Steinen, sondern Steine zu Körperzellen. Bestand wird freilich beides nicht haben.

Heinz Emigholz’ prekäre Architekturen Als letzte ihrer sieben Hypothesen zur räumlichen Wahrnehmung rückt die Architekturtheoretikerin Elisabeth Blum das Phänomen des „Prekären“ in den Fokus: „Prekäre Erfahrungen machen wir, wenn etwas zum Vorschein kommt, das eigentlich im Verborgenen bleiben soll. Damit einher geht eine – oft nur minimale Verschiebung von Schwellen: vom Unsichtbaren zum Sichtbaren, vom Unhörbaren zum Hörbaren. Physische Grenzen und Grenzen der Wahrnehmung verwischen sich, werden unsicher, unzuverlässig, ja riskant. Wir drohen die Kontrolle zu verlieren. Wir bemerken, dass wir eine räumliche Wirklichkeit unterschätzt haben. Erst wenn wir uns in einer unausweichlichen Situation befinden, stellen wir fest, dass wir mit der jeder räumlichen Wirklichkeit innewohnenden Dimension des Prekären nicht gerechnet haben. Schrecken stellt sich ein. Wir verlieren den Boden unter den Füßen.“18 Natürlich ist auch das Freud’sche Unheimliche einer der Namen für diese Erfahrung eines Prekär-Werdens des Raums. Blum verweist denn auch explizit auf Freuds Text, und auch der erste Satz des obigen Zitats lehnt sich an dessen Formulierung an, „das Unheimliche sei etwas, was im Verborgenen hätte bleiben sollen und hervorgetreten ist“.19 Während Blum festhält: „Für Architekten und Planer rückt die Dimension des Prekären in der Regel weit in den Hintergrund“20, kann der Film schlechterdings nicht anders, als eben dieses Prekäre in den Vordergrund zu holen. Denn die Schwellenverschiebung, welche das Prekäre auszeichnet, ist beim filmischen Medium bereits über seine Technik vorgegeben. Wie ihr Name bereits sagt, definieren sich die motion pictures über ihre Beweglichkeit. Das 136

Unsichere und Prekäre ist ihre wahre Natur – wie es denn auch Jean Epstein betont hat, wenn er den Film als „fluides Universum“ beschreibt: „Allein schon durch seine Konstruktion ist es dem Kinematografen vorbehalten, das Universum als eine immerzu und allseits bewegliche Kontinuität darzu­ stellen [...]. Sogar für einen Heraklit wäre diese Instabilität aller Dinge nicht vorstellbar gewesen; eine solche Inkonsistenz der Kategorien, die ineinanderfließen; diese Auflösung von Materie, welche sich, kaum wahrnehmbar, von Gestalt zu Gestalt wandelt.“21 Der Film reproduziert demnach nicht bloß Bewegung, er versetzt in Bewegung. Auch die vormals reglosen Gegenstände, so schreibt Edgar Morin, werden im Kino zu beseelten Lebewesen.22 Alles beginnt sich zu regen. Wollte der Film hingegen Statik anstreben, würde er dabei unweigerlich aufhören, Film zu sein: Alte Zelluloid-Filme brannten bekanntlich durch, wenn man sie nicht weiter durch den Projektor laufen ließ, aber auch in neuen Formaten ist der Film keiner mehr, wenn man ihn anhält. Die Pausentaste macht aus dem Bewegtbild ein Standbild, aus Film wird Fotografie. Doch vielleicht rührt genau daher die Vorliebe der Architekten und Architektinnen für das Medium der Fotografie: Denn das stehende Bild gibt dem abgebildeten Gebäude zusätzliche Statik. Aufgenommen mit Vorliebe zum Zeitpunkt des ­a ngeblichen „Idealzustands“, „zur Stunde Null“ wenn das Gebäude zwar ­fertiggestellt, aber noch nicht bezogen wurde,23 hilft die Fotografie, in den Hinter­g rund zu rücken, was an der Architektur prekär, unheimlich sein könnte. (Dass es freilich auch andere fotografische Strategien gäbe, die genau einem Unheimlichen der Architektur zum Ausdruck verhelfen würden, hat Ossip Brik dargelegt – sprechend aber ist, dass er dazu ausgerechnet die von Vertov beschriebenen Möglichkeiten des Films als Vorbild heranzieht.)24 ­Walter Benjamins Hinweis, „wieviel leichter ein Bild, vor allem aber eine Plastik, und nun gar Architektur, im Photo sich erfassen lasse“,25 bezeichnet demnach gar keinen Vorteil, sondern vielmehr ein Problem der Fotografie: Die „Leichtigkeit“, mit welcher das Einzelbild die Architektur zu erfassen vorgibt, ist e ­ igentlich nur eine Täuschung, hinter der sich das Prekäre der Architektur umso besser verbergen lässt. Der Film hingegen, als Medium des Unheim­l ichen par excellence, kann schlechterdings nicht anders, als eben 137

dieses verdrängte Prekäre in seinen fluiden Raumbildern hervortreten zu ­lassen. Dario Argento ist, neben Regisseuren wie Michelangelo Antonioni (auf den Argento sich denn auch immer wieder zitierend bezieht) oder David Lynch (der seinerseits durch Argento beeinflusst ist), wohl der Filmemacher, welcher das unheimliche Potenzial filmischer Raumbildung am virtuosesten (und auch aggressivsten) ausstellt. Ihm zur Seite zu stellen wären aber auch die subtilen Architektur-Filme des deutschen Künstlers Heinz Emigholz. Dessen ab 1993 unternommenen fil­ mischen Befragungen des Raums unter dem Serientitel „Photographie und ­jenseits“ und dabei insbesondere die Filme der Unterserie „Architektur als ­Autobiografie“ geben sich, ihren Titeln und vielleicht auch ihrem ersten Anschein nach, als Portraits von Bauwerken aus, sind aber weit mehr als das. Filme wie Sullivans Banken (1993/1999), Maillarts Brücken (1995/1999), D’Annunzios Höhle (2002/05) oder Schindlers Häuser (2006/07) haben denn auch nichts mit dem zu tun, was Emigholz im Gespräch mit Marc Ries als die u ­ nter gewissen Architekturtheoretikern „verbreitete Unsitte, ‚repräsentative‘ Ansichten obligatorisch machen zu wollen“ bezeichnet.26 Die „inszenatorischen Raffungen und Beschränkungen auf das angeblich Wesentliche“27, wie es die Architekturfotografie offeriert, wollen diese Filme gerade unterlaufen. Statt die gefilmten Gebäude zu idealisieren, indem man sie isoliert und so ihrer widersprüchlichen Beziehung zur Umgebung enthebt, will Emigholz sie gerade in ihren prekären Verschränkungen zeigen. „Irgendwo auf diesem Bild ist ein Haus von Rudolph Schindler versteckt“, hört man Emigholz aus dem Off der ersten Einstellung von Schindlers Häuser sagen. (Abb. 6) Versteckt und doch auf dem Bild zu sehen, verborgen und ausgestellt zugleich, schwankt die Architektur unheimlich zwischen An- und Abwesenheit. Sie wird einem auch später, wenn sich Emigholz’ Kamera ihnen ganz intim nähert, nicht vertrauter werden. Stattdessen bleibt sie auch und gerade in Großaufnahme eine prekäre, unsichere, sich im Rutschen befindende Erscheinung. ­Establishing Shots, wie man sie aus dem Erzählkino kennt, die einem zu Beginn der Handlung einen Überblick über den Ort des Geschehens vermitteln sollen, wird man hier nicht finden, beziehungsweise sie sind – wie in Schind138

Abb. 6: Irgendwo auf diesem Bild …: Screenshot aus Schindlers Häuser (D/AT 2006/07)

lers Häuser – als Blickfallen ausgelegt. Die Einstellungen sollen nicht etablieren, sondern gerade destabilisieren. Was man für solide Architektur gehalten hat, entpuppt sich als prekär. Dazu gehört auch Emigholz’ Vorliebe, die Kamera jeweils leicht schief zu platzieren, sodass alles, was im Bau lotrecht sein müsste, sich zu neigen und zu kippen scheint. Das Bild ist aus dem Lot, die Statik gerät ins Wanken. In seinem Film Maillarts Brücken verlaufen die im Titel angekündigten Bauten nicht horizontal über Schluchten und Flüsse, sondern schief von schräg unten nach quer oben und umgekehrt. Es sind eher schlingernde Möbius­bänder als sichere Übergänge. Auch die Abfolge, in der Emigholz etwa die Aufnahmen von Robert Maillarts Brücke über den Schwandbach bei Schwarzenburg in Bern aneinanderreiht (Abb. 7), ist verwirrend, je länger man sie betrachtet. Mal ist man irritiert, weil der Wechsel von Einstellung zu Einstellung zu klein (von Abb. 7 oben links zu Abb. 7 oben rechts), dann wieder weil der Sprung zwischen ihnen zu groß ist (von Abb. 7 oben rechts zu Abb. 7 unten links). Je intensiver man zuschaut, umso mehr stellt sich einem ein Gefühl des Schwindels ein. Der angeblich feste Boden beginnt zu schwanken. Dazu ragen Äste ins Bild. Artefakt und Naturerscheinung beginnen zu verwachsen, wie in Epsteins Beschreibungen des fluiden Universums des Films. Und was an ­Umgebung über die Tonspur ins Bild lappt, Vogelgezwitscher oder Wasserstrudel, Automotoren oder Windbrausen, macht die Orientierung nicht einfacher, 139

Abb. 7: Schwankungen: Screenshots aus Maillarts Brücken (D 1995/1999)

­sondern nur noch verwirrender. Schweben wir mit den Vögeln oder treiben wir auf dem Wasser davon? Und doch wäre es falsch, Emigholz’ eigenwillige Einstellungen auf Gebautes, mit denen er dieses in neue Bewegung versetzt, es umbaut und aus dem Lot bringt, als Negierung der Architektur misszuverstehen. Vielmehr rücken diese Filme ins Bewusststein, was an den Bauten immer schon unheimlich war: „Bei Maillart war es für mich das Dach des Bahnhofs in Chiasso. Das habe ich nicht begriffen. Das, was trägt, dachte ich, hängt.“28 So beschreibt Emigholz im Gespräch mit Hanns Zischler seine Verblüffung beim Anblick konkreter gebauter Architektur. Das, was trägt, hängt, und was hängt, trägt, und so kann man auch auf den Aufnahmen des Filtergebäudes bei Rorschach am Bodensee nicht begreifen, was hier oben und was unten ist (Abb. 8) . Das Wasserreservoir entpuppt sich als topologisches Gebilde im Stile einer Klein’schen Flasche, die auszugießen nur wieder bedeutet, Wasser in sie einzufüllen. Emigholz’ Filme entstellen Architektur zu unheimlicher Kenntlichkeit: Sie decken auf, was an diesen immer schon prekär gewesen war. Wenn er mit seinem wahrhaft überbordenden D’Annunzios Höhle die mit Objekten überquellenden Privaträume des protofaschistischen Dichters Gabriele D’Annunzio als klaustrophobisches Labyrinth zeigt, in dem man sich unrettbar zu verlieren und zu ersticken droht, dann deckt er damit nur auf, wie sehr hier Architektur und Inneneinrichtung verstrickt sind mit menschenverachtender Ideologie. 140

Abb. 8: Upside down: Screenshot aus Maillarts Brücken (D 1995/1999)

Wie in Edgar Allan Poes Erzählung „Ligeia“, wo die exzessive Inneinrichtung eines Zimmers dazu dient, die Frau, welche sich in diesem Zimmer befindet in eine Tote zu verwandeln,29 ist auch D’Annunzios Interieur bereits jene Vernichtungsmaschinerie, welche die von ihm mitinspirierten Führer dereinst in Gang setzen werden. Unheimlich und prekär aber ist die Architektur auch schon diesseits solcher Extrembeispiele. Die Verschiebung von Schwellen und das Durchlässig-­ Werden von Grenzen, so hält Elisabeth Blum fest, ist der Architektur eingeschrieben, egal, wie sehr man es zu verleugnen sucht. So weist denn auch Heinz Emigholz im Zusammenhang mit seinem Maillart-Film darauf hin, wie nur schon das Bauwerk einer Brücke eigentlich eine Manifestation der Verunsicherung ist: „Eine Brücke ist auch immer eine Metapher, eine Zeitmaschine. Sie kürzt ab, überbrückt, transformiert einen Zustand in einen nächsten. Sie ist zugleich Straße und Tunnel. Sie realisiert einen Qualitätssprung.“30 Nicht erst Angstträume, wie jener des Wolfmannes, setzen eine unheimliche Vermischung von Hier und Dort, von Anschauen und Angeschaut-werden ins Spiel, sondern bereits die sattsam bekannten architektonischen Elemente wie Brücken und Straßen, Tunnel und Türen. Auch das Fenster, welches im Traum des Wolfsmannes plötzlich aufgeht, ist nicht nur hier, sondern an sich schon ein prekärer Schauplatz, insofern jedes Fenster die Unterscheidung von Innen und Außen zugleich markiert und durchkreuzt. 141

So macht das Kino von Argento und Emigholz klar: Architektur, egal wie anheimelnd sie sich zu präsentieren versucht, war immer schon unheimlich. Vielleicht ist sie das auch deswegen, weil der Raum, mit dem die Architektur umzugehen hat, nie ganz bei sich ist. In einer seiner letzten, posthum erst veröffentlichten Notizen kommt Freud erneut auf das Verhältnis von Psyche und Unbewusstem zu sprechen und gibt ihm seine wohl radikalste Fassung: „Räumlichkeit mag die Projektion der Ausdehnung des psychischen Apparats sein. Keine andere Ableitung wahrscheinlich. Anstatt Kants a priori Bedingungen unseres psychischen Apparats. Psyche ist ausgedehnt, weiß nichts ­davon.“31 Der Raum, den – nach einer Formulierung Jean Baudrillards – die Architektur erst zu „erzeugen“ glaubt,32 ist selber nur die Ausdehnung jenes prekären, unheimlichen Raums des Unbewussten. Und es ist das Kino, das davon weiß.

142

Anmerkungen

1

Whitman 1982, S. 359

2

Vertov 1990, S. 32–33

3

Freud 1947b

4

Ebd. S. 232–235 und 236–237

5

Ebd. S. 237

6

Dieser, wie auch der nächste Abschnitt basieren auf meinem Buch zum Raum des Unheimlichen, vgl. Binotto 2013.

7

Ebd. S. 249–250

8

Vgl. Binotto 2013, S. 19–54

9

Freud 1947b, S. 249

10 Zur Möbiusschlaufe als Prinzip des (unheimlichen) filmischen Raums siehe auch den Beitrag von Bernd Herzogenrath in diesem Band. 11 Vgl. Lacan 2010 12 Freud 1947a, S. 61 13 Vgl. Lacan 1996, S. 171 sowie Miller 1994, S. 74–87 14 Vgl. Sharp 1978, S. 1–5 15 Freud 1942, S. 541 16 Vitruv 2004, S. 91–95 17 Vidler 1999, S. 69–83 18 Blum 2010, S. 223 19 Freud 1947b, S. 254 20 Blum 2010, S. 230 21 Epstein 2008, S. 83–84 22 Morin 1956, S. 72–76 23 Vgl. Stahel 2013, S. 6 24 Vgl. Brik 1989 25 Benjamin 1963, S. 60–61 26 Emigholz 2007, S. 7 27 Ebd., S. 8 28 Emigholz 2013 29 Siehe dazu: Binotto 2013, S. 91–103 30 Emigholz 2001 31 Freud 1941, S. 152 32 Baudrillard 1999, S. 11

143

Bibliografie

Sharp, Dennis (Hg.): The Rationalists. Theory and Design in the Modern Movement. London 1978 Stahel, Urs: „Vorwort“, in: Daniela Janser, Thomas Seelig, Urs Stahel (Hg.): Concrete. Fotografie und Architek­

Baudrillard, Jean: Architektur: Wahrheit oder Radikalität? Graz 1999 Benjamin, Walter: „Kleine Geschichte der Photographie“ (1931), in: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner tech­ nischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M. 1963, S. 45–64 Binotto, Johannes: TAT/ORT. Das Unheimliche und sein Raum in der Kultur. Zürich / Berlin 2013 Blum, Elisabeth: Atmosphäre. Hypothesen zum Prozess der räumlichen Wahrnehmung. Zürich 2010 Brik, Ossip: „What the Eye Does Not See“ [1926], in: Christopher Phillips (Hg.): Photography in the ­Modern Era. European Documents and Critical ­Writings, 1913–1940. New York 1989, S. 219–220 Emigholz, Heinz: „Maillarts Brücken“ 2001 (http:// pym.de/de/content/maillarts-bruecken (letzter Zugriff 1.6.2017)) Emigholz, Heinz: Presseheft Schindlers Häuser. Berlin 2007 Emigholz, Heinz: „Interview zu PARABETON von Hanns Zischler mit Heinz Emigholz am 9. Januar 2012“ http://www.filmgalerie451.de/filme/parabeton/ (1.6.2017) Epstein, Jean: „Die Regel der Regeln“ (1946), in: Bonjour Cinéma und andere Schriften zum Kino. Hgg. von ­Nicole Brenez u. Ralph Eue. Wien 2008, S. 83–86 Freud, Sigmund: Schriften aus dem Nachlass. Gesam­ melte Werke. Bd. 17. London 1941 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. Gesammelte Werke. Bd. 2/3. London 1942 Freud, Sigmund: „Aus der Geschichte einer infantilen Neurose“ (1918), in: Gesammelte Werke. Bd. 12. London 1947a, S. 27–157 Freud, Sigmund: „Das Unheimliche“ (1919), in: Gesam­ melte Werke. Bd. 12. London 1947b, S. 227–268 Lacan, Jacques: Das Seminar. Buch VII (1959–1960): Die Ethik der Psychoanalyse. Weinheim 1996 Lacan, Jacques: Das Seminar. Buch X (1962–1963): Die Angst. Wien 2010 Miller, Jacques- Alain: „Extimité“, in: Mark Bracher (Hg.): Lacanian Theory of Discourse: Subject, Structure, and Society. New York 1994, S. 74–87 Morin, Edgar: Le cinéma ou L’homme imaginaire. Paris 1956

144

tur. Zürich 2013, S. 5–7 Vertov, Dziga: „Kinoki – Umsturz“ (1923), in: Franz-Josef Albermeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart 1990, S. 32–33 Vidler, Anthony: The Architectural Uncanny. Essays in the Modern Unhomely. Cambridge MA 1999 Vitruv: De architectura libri decem. Zehn Bücher über ­Architektur. Übers. u. m. Anmerkungen versehen v. Franz Reber. Wiesbaden 2004 Whitman, Walt: „A Song for Occupations“ (1855, 1881), in: Complete Poetry and Collected Prose. New York 1982, S. 355–362

„Diese   verschachtelten Räume umschließen nicht einen Inhalt, der durch das sukzessive Öffnen der Türen erreicht würde, sondern die innerste Tür ist auch diejenige, die nach außen führt hin zum Ursprungsort des Films, dem Meer. Signifikate können in diesen Parcours der Räume, diese Art Initiationsreise, ein­fließen. […] Aber wie er zur Sinnerzeugung fähig ist, kann der Raum den Sinn auch ver­ wirren, kann er ihn in ironische Klammern ­setzen. Wie für die japanischen Pakete bilden Öffnen und Entdecken eines noch auszu­ packenden Gegenstands das Vergnügen und nicht das Geschenk, der Inhalt selbst.“ Thierry Kuntzel

„When   I was a child, I always thought north was the way I was facing.“ Vivian Sobchack

II On Location: Schauplätze einer Architektur des Films

149

Ausstieg Frankfurt Rembert Hüser

Hat jemand auch nur die leiseste Ahnung, wohin sie uns bringen werden, fragt der Engländer in der zweiten Reihe hinter dem Amerikaner in der ersten, aber noch vor dem „dubious character of unknown nationality“1 und dem Russen ganz hinten? „Does anybody have the remotest idea where they are taking us?“ Jacques Tourneurs Berlin Express ist eine 86-minütige Produktion der RKO -Filmstudios aus dem Jahre 1948, die im Grunde genommen aus nur

­einem einzigen Schwenk von 21 Sekunden Länge besteht. Ein Schwenk von einer zerstörten Struktur über eine Schranke zu einer intakten Struktur. Eine gleichmäßige, ununterbrochene Bewegung von einem Vorher zu einem Nachher von Architektur. Eine Szene der Architektur. Ein Augenblick von Trance in der Erzählzeit. Die Zuschauer im Bus und außerhalb vom Bus werden an zwei Orte zugleich mitgenommen, die an einem unsichtbaren Faden, ­einer virtuellen Kopfbewegung, eine Verbindung eingehen. Ich werde alle Seiten dieses Textes brauchen, um mit diesem Dreh halbwegs mitziehen zu ­können. Der Engländer in der ersten US -Studiotour der Nachkriegszeit, der zwei Jahre zuvor noch als Bob in Powell/Pressburgers A Matter of Life and Death als erster im Himmel angelangt war, bevor dort die Verhandlung über Leben und Tod und eine mögliche Zukunft losging, hatte also in die Runde gefragt, ob jemand wisse, wohin die Reise geht. „Does anybody’ve the remotest idea where they’re taking us?“ Es ist der Film höchstpersönlich, welcher der Figur antwortet. Und sie dabei direkt aus dem Off adressiert: „ONLY THE ARMY, MR. STERLING. YOU APPROACH THE ENTRANCE GATE TO THE UNITED STATES ARMY COMPOUND, UNDERGO THE RIGOROUS EVER-VIGILANT ­I NSPECTION AND PROCEED TO SOMETHING YOU WON’T FORGET FOR A WHILE. Wir sind am Ende der Welt angelangt und stehen am Eingang zu ei-

ner neuen. Ein Armeehauptquartier. Das klingt erst einmal nicht sonderlich 150

aufregend. Eigentlich haben wir unterwegs doch auch schon sehr viel gesehen, das wir so bald nicht vergessen werden. Der Bus, der in diesem Film nach dem Krieg vier Mächte zielstrebig durch all die Ruinen und den Schutt Frankfurts zum Eingangstor des US Compounds fährt, ist ein Kinobus. Die drinnen sitzen, sehen durch ein Fenster einen Film ablaufen. Die Welt ist gerahmt. Das Kino hält an einem Schlagbaum an. Die Fahrt wird unterbrochen, bevor man angelangt ist. Links im Bildfeld herrscht noch ziemliches Chaos und Durcheinander. Rechts, auf der anderen Seite des Zaunes, ist deutlich mehr Platz und Struktur. Sogar ein Stück gepflegter Rasen ist zu sehen. Schutt, der sich eben noch ohne Ende rechts und links in allen Fenstern der Geisterbahn durch THE BIGGEST GHOST-TOWN YOU’VE EVER SEEN allgegenwärtig aufzutürmen schien, scheint es in dieser Welt hinter

dem Zaun jedenfalls nicht mehr zu geben. Irgendetwas hält ihn ab. Die Löcher in den Wänden der Häuser, die Filme, die da mal liefen, und die Gespenster, die da hausen, sind weg. Erstmal weg. Die Aufsicht auf den Bus hatte am Schlagbaum gewechselt. Wir werden ge­ erdet. Auf den Boden geholt. Aufs Genaueste inspiziert, ob wir auch tatsächlich für den nächsten Schritt bereit sind. Noch haben wir nichts erreicht. Wir können jederzeit noch von den Wachhabenden aus dem Film herausgeholt werden. Aber die Armee hat ein Nachsehen und winkt uns durch. Gibt grünes Licht. Wir hatten die Ansage zuvor bereits aus dem Off gehört: Erst wenn die höchsten Standards erfüllt, die „gründlichste Einsichtnahme“ erfolgt, die „größtmögliche Aufmerksamkeit“ gewährleistet ist, erst wenn man lange genug auf der Schwelle verharrt hat, um auch zu spüren, dass wir uns mit ihrer Überschreitung, von hier an, verändern werden – was die Kamera mit der Aufnahme einer neuen Perspektive dramatisiert und kommentiert –, erst dann können wir fortfahren. Die Schranke passieren. Die erste Prüfung wäre bestanden. SCHNITT! Der Weg ist frei. Der Bus wird kleiner, während die Kamera mit ihm mitzieht. Das Überschreiten der Grenze durch die bewegliche(n) Figur(en) löst das Ereignis aus. Das ist klassische Erzähltheorie, Jurij Lotman, Strukturale Methode. Der Blick der Kamera immer an der Wand entlang, dem Zaun, der nur Blicke zulässt, macht deutlich: Wohin wir uns bewegen werden, hat mit dem 151

Raum links nicht mehr viel zu tun. Lässt ihn erstmal hinter sich. Die Grenze wird zum Akteur, der Zaun zum Bildrand. Das hier ist ein grundlegend neuer Raum. Ein neuverfasster Raum. Mit neuem Recht und Gesetz. In der Mitte der Mitte des besetzten Deutschland befinden wir uns auf amerikanischem Boden. Ein Gebäude hat gerufen. Die Fahrgemeinschaft wird angefahren. Und blickt nach vorne. Wir atmen auf und halten den Atem an. Mit diesem Zwischenstopp im Zwischenstopp hatte niemand gerechnet. Dabei hatte der Reiseprospekt, den der Film zum Anlass nimmt, über den Atlantik einen ersten Blick auf Europa nach seiner Zerstörung zu werfen, die Marschrichtung bereits vorgegeben. Am 15. April 1946 war im Life Magazine eine Fotoreportage mit dem Titel Berlin Express erschienen: „A special train, operated by U.S. army, weaves and winds romantically between Paris and Berlin. […] Life’s photographer on the trip saw brassy figures from the Allied military and political world traveling to conferences. There was a German professor returning from the Nürnberg trials, a French resistance leader, an American rabbi and a Polish officer from the Warsaw government who would not speak with a London Pole. There were young combat veterans flirting hopefully with girls freshly arrived from the States to serve as secretaries to occupation officials.“2 Ein Kammerspiel wird durch Infrastrukturen und ­A rchitekturen hindurch bewegt. Man könnte noch etwas an den Figuren basteln, aber der Film war damit eigentlich schon gedreht. Murder on the Orient Express war ein noch nicht verfilmter, überaus populärer Kriminalstoff, der seit 1934 in mehreren Auflagen in verschiedenen Verlagshäusern in den USA und England für Furore gesorgt hatte; Paramounts Shanghai Express hatte 1932 drei Academy Award Nominations eingeheimst. Der Plot musste für die Stoffentwickler so sehr auf der Hand liegen, dass es schon beinahe keine Überraschung mehr war, dass man jetzt einen von der Armee betriebenen Express durch die Geheimnisse des neuen Nachkriegs-Orients vor unserer Tür fahren lassen konnte, von denen so viele Heimkehrer erzählten, dessen bizarre Steinwüsten mit ihren entstellten und identifizierbaren Resten, Provisorien und Pseudo-Aufbauten aber noch keiner je auf der Leinwand gesehen hatte. Nun ist das bisschen Text zwischen den Bildern gar nicht so wichtig – das gilt gleichermaßen für den Life-Beitrag wie für den RKO -Film, der 152

sich aus ihm entwickeln wird. (Curt Siodmak wird wie bei Frankenstein Meets The Wolf Man schon irgendeine schöne Geschichte fabrizieren.) Wichtig ist vielmehr festzuhalten, dass Berlin Express erst einmal kein Film ist, sondern eine Fotoreportage. Die Überlegungen, die RKO Radio Produzent Bert Granet, der auf die Geschichte vom Army-Zug im Life Magazine aufmerksam geworden war, und Dory Schary, der Produktionsleiter von RKO, anstellten, drehten sich denn auch in erster Linie um die verschiedenen Möglichkeiten, die Bildstrecke der Zeitschrift in einen Film aufzunehmen. Wie würden diese Fotos sich in Bewegung setzen lassen? Klar war beiden, dass die Kraft des Films davon abhängen würde, ob man ihn an Ort und Stelle, on location, im bereits Gebauten, würde drehen können. Kein anderes Hollywoodstudio hatte bislang den Versuch unternommen, im Nachkriegsdeutschland ohne Infrastruktur einen Film zu drehen. Was würde man dort vor Ort antreffen? Ließe sich womöglich zwischen all den ausradierten Bildern und Karten das geheime, neue Zentrum finden? Und falls ja, könnte man seine Energie loka­ lisieren? Was müsste man tun, um im Nachkriegsdeutschland im Bilde zu sein? Es ist der Produzent, der in der Folge selbst zum Location Scout und ersten Testregisseur wird. Berlin Express, der Film zur April-Ausgabe des Life Magazines, beginnt entsprechend unorthodox mit wichtigen Dreharbeiten vor den Dreharbeiten, ihrer Funktion nach eine Mischung aus Index Cards, Treat­ ment und erstem Storyboard: „In October of 1946, [Bert] Granet – with the approval of RKO and the U.S. Army – rode the Berlin Express armed with a 16mm ciné camera. […] Intending to film a visual information guide, Granet photographed people on the trains and in the streets, the unbelievable devastation of the cities, and even the bulletin boards with their hundreds of messages addressed to missing persons. He filmed the area around the great I.G. Farben […] building […] as it stood, unscathed, in the midst of utter de­

struction. (Precision bombing had spared it for future use as the U.S. occupation headquarters.) The film also details a barter system in which an American cigarette had an exchange value of one dollar.“3 Das hält sich noch eng an die Vorgaben des Artikels – die personalisierten, neuen Kommunikationssysteme und Ökonomien – und zugleich an deren Verankerung in einer Struktur 153

alter und neuer Monumente. Reeducation, touristischer Blick und Architekturdiskurs gehen in diesem Visual Information Guide eine eigentümliche Mischung ein, in der sich die einzelnen Teile wechselseitig kommentieren. In dem schließlich ein Gebäude gegen ein anderes getauscht werden wird. Später im Film klingt das dann so: „AND IN THIS HEADQUARTER CITY FOR THE AMERICAN OCCUPATION ZONE THERE WAS NO SUCH THING AS THE CAS­ UAL SIGHT-SEEING TRAVELER FOR NO ONE WAS HERE WITHOUT A PURPOSE. THERE WERE OTHER MODERN TOUCHES IN THIS VERY ANCIENT CITY. THE ARCHITECTURE FOR INSTANCE. NEW LINES, NEW SHAPES, ­GEN­E RALLY REFERED TO AS EARLY 20TH CENTURY MODERN WARFARE.“

­Sieben Jahre nach Berlin Express werden Jean Cayrol (und sein Übersetzer Paul Celan) in Alain Resnais’ Film Nuit et bruillard die Bestandsaufnahme der Errungenschaften des Nationalsozialismus ähnlich sarkastisch in Termini der Architektur beschreiben: „Ein Konzentrationslager, das wird gebaut wie ein Stadion oder ein großes Hotel; dazu gehören Unternehmer, Kostenanschläge, Konkurrenz, sicher auch Bestechungsgelder. Kein vorgeschriebener Baustil, Alpenhüttenstil, Garagenstil, Pagodenstil, ohne Stil.“ Granets Visual Information Guide hatte den Ausschlag gegeben. Mit der endgültigen Entscheidung für logistisch aufwendige Dreharbeiten vor Ort war es im Fall von Berlin Express klar, dass dem Dokumentarfilmmaterial ein eigenständiger dramatischer Anteil am Spielfilm eingeräumt werden würde. „Ob man nicht den Kostenaufwand sparen und den Film im Atelier drehen könne? ‚Nein‘, sagt sein Produzent, ‚man kann sich ja in Amerika keine Vorstellung machen, wie es in Deutschland wirklich aussieht!‘“4 King Vidor hatte drei Jahre zuvor mit American Romance, einem epischen Film über die europäische Immigration und den Kriegseinsatz, schon etwas in dieser Richtung ausprobiert, aber nicht so recht die Balance gefunden. Die in Hollywood nach­ gefragte Ästhetik des Neorealismus nach dem überwältigenden Erfolg von Rossellinis Roma, Città Aperta sowie RKO s, insbesondere seines Executive Producers Dory Scharys Interesse an einem politisch engagierteren Nachkriegsauftritt des Studios mit Filmen wie zum Beispiel Dmytryks Noir Film Crossfire aus dem Jahr 1947, dessen Thematisierung von Antisemitismus ihm geradewegs eine Vorladung vor das Committee for Unamerican Activities ein154

gebracht hatte,5 spielte dem Interesse an der Integration von Dokumentaraufnahmen in den Spielfilm jedoch in die Hände. Zu einer entscheidenden Frage der Produktion wird, wie man in der politischen Übergangszeit den Wechsel der Architekturen, den Aufbau von neuen Bedeutungen für die alten Gebäude, als Wechsel auf Zukunft filmen könne. Wie man das Dokumentarische als Teil des Set Design eines Spielfilms zum Tragen kommen lassen kann, ohne diesen in ein Ruinen-Märchenland zu verwandeln. Da kommt es nicht zuletzt gerade auch auf die Hintergründe an. „Late in July of 1947, a total of 27 cast and crew members were dispatched to Paris, Frankfurt and Berlin for seven weeks of mostly exterior photography. […] Key technological personnel included Granet, Tourneur, cinematographer Lucien Ballard, ASC , special cinematographer Harry Perry, ASC […]. The filmmakers brought along Mitchell cameras, 100,000 feet of negative stock and some grip and lighting equipment. […] Knowing that there would be an un­ usual number of process backgrounds in the finished production, Ballard insisted on bringing Perry along. The background projections in the finished film were superior because Perry was able to match lenses, camera positions, lighting and exposures precisely.“6 Die Dreharbeiten in Frankfurt begannen am 2. August 1947. Die Arbeit war dadurch erschwert, dass das belichtete Filmmaterial aufgrund fehlender Qualitätskontrollen nicht vor Ort entwickelt werden konnte, sondern zum Entwickeln in die USA geschickt werden musste. Kontaktabzüge konnten so nicht in den Dreh einbezogen werden. „Considerable work was done inside and outside the I.G. Farben Building, where American soldiers worked without pay as themselves. In appreciation, RKO made a large donation to the Army’s welfare fund. German extras asked for a standard fee of two American cigarettes per day. […] Ballard quickly found that ruins which have been exposed to the elements for several years were difficult to photograph as anything more than shapeless grey masses. He also discovered that ruins caused by artillery bombardement were more photogenic than those blown apart by aerial bombing. Even these posed a problem, because under most lighting conditions, the black holes often resembled dark windows. Careful crosslighting was necessary to show the magnitude of the destruction and the desolation of the buildings. Ballard requested, and got, a 155

revised shooting schedule to fully utilize the crosslighting of the sun. Fill light was mostly obtained with reflectors, with occasional use of one of two flood lights.“7 Vor allem in Frankfurt lässt man sich eine Menge Zeit. Das zahlt sich aus. Der Rezensent der New York Times schreibt am 21. Mai 1948: „[I]t is the ­panoramic and close views of life amid the ‘new architecture’ of Frankfort and Berlin—‘early Twentieth Century modern warfare’ architecture—which gives the adventure the authentic impact of a documentary.“8 Variety assistiert: „Most striking feature of this production is its extraordinary background of war-ravaged Germany. With a documentary eye, this film etches a powerful, grim picture of life amidst the shambles. It makes awesome and exciting cinema.“9 Ich hatte den Bus auf seiner Fahrt durch die Schranke hindurch auf neues Terrain gleich hinter dem die Lage verändernden Schnitt zurückgelassen. Hier hatten wir kurz innegehalten. Uns gesammelt. Auf seiner Weiterfahrt ins Unbekannte, lange noch Unvergessliche, beginnt die Kamera nun mit einem Schwenk. Wir hören wieder den Off-Kommentar: „… AND [YOU] PROCEED TO SOMETHING YOU WON’T FORGET FOR A WHILE: THE I.G. FARBEN BUILDING, MONUMENT TO GERMAN INGENUITY AND MIGHT.“ Dieser

Schwenk ist Berlin Express in 21 Sekunden. Der Film dreht sich um die Herstellung dieses einen, aus Anfang und Ende des Schwenks sich zusammensetzenden, unmöglichen Bildes hier: Nach all den Ruinen, plötzlich das Raumschiff. Intakte Gebäude und Abläufe. Architektur und Macht können wieder neu zusammengesetzt werden. So etwas geht allerdings nicht einfach so, sondern gilt, sorgsam vorbereitet zu werden. Ein Sprung dieser Qualität braucht ein bisschen Zeit. Eine Verzögerung. Das Gebäude darf auf keinen Fall zu früh zu sehen sein. Muss sich langsam erst in unser Bildfenster, in unseren Blick hineinschieben. We do not want to give it away. Aber halt! Monument deutscher Größe und Macht? Das kann es doch nicht sein. Der Film erklärt: FORMER ADMINISTRATIVE HOME OF THE GIGANTIC FARBEN INDUSTRIES . Ganz so problemlos können wir uns

anscheinend auch wieder nicht aus dem Bezirk der formlosen grauen Masse, schwarzen Löcher und fehlenden Wohnungen herausstehlen. Wir hatten uns zu früh gefreut. Die Kamera hatte in einem Schnitt die Perspektive auf das 156

Abb. 1: Screenshots aus Berlin Express (USA 1948)

Gebäude beibehalten, aber ein Stück weit zurückgezogen. Der linke Bild­ rahmen und der Vordergrund werden von Steinhaufen und Betonstahl gerahmt. Auch jenseits der Grenze hält der Film die Zerstörung im Bild präsent. Dieses mächtige Konzerngebäude hier ist schließlich nicht zuletzt gerade bekannt dafür, Schutt und Asche zu produzieren. All das, was wir bislang ge­ sehen h ­ aben und wovor wir uns schon sicher fühlten, die Trümmer der ­Geschichte, das kaputte Deutschland, hat die I.G.-Farben im Rücken, als Hintergrund. Und als Zukunft zugleich. Der Film fährt fort: „… MANUFACTURERS OF THE TOOLS OF WAR .“ Die Idylle der Parkanlage mit ihren kleinen Bäum-

chen im Vordergrund soll uns nicht täuschen. Unschuldig ist hier gar nichts. Es sind die Werkzeuge, die aus diesem Gebäude mit diesen Vorzeichen kommen, die die friedliche Parkanlage mit einer Anlage zu Krieg und Massenmord ausstatten. Da kann man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, auf den Bus in der Anfahrt schneiden. Aber, bleiben wir nicht ausschließlich beim Blick zurück, wir sollten auch ­z usehen, wie wir von hier aus weitermachen. Nähern wir uns nun selbst ­f rontal dem Gebäude an. Nehmen wir es uns vor. THE BOYS IN THE ALLIED BOMBERS ALSO LOOKED AFTER THIS SPOT, darauf hatte ich die ganze Zeit

gewartet, die Bombercrews der Allierten hatten es also schon fest ins Auge gefasst, kümmerten sich darum, das Gebäude war Chefsache, TO SEE THAT IT WASN’T TOUCHED. Das jetzt ist wiederum erstaunlich. Ich hatte eine

­a ndere Reaktion erwartet. Der Bus fährt den Hügel hoch zum Gebäude, das lange schon ausgeguckt worden war. Das unberührt bleiben, beschützt 157

­werden muss. Das eine Aufgabe geworden ist. Beim Aussteigen schauen die Passagier-Nationen an der Fassade hoch. Berlin Express liefert uns vier Ansichten von der Fassade des von Hans Poelzig entworfenen I.G.-Farben-Baus. Zwischen dem Ende des Schwenks und dem Ende der Reise sind zwei Einstellungen zur Erklärung dazwischengeschoben, die sich formal gleichen. Wo kommen sie her? Lässt sich etwas über ihre Ästhetik sagen? Erinnern wir uns an die Zeit des Übergangs von der Konzeption zur Produktion von Berlin Express. Bert Granet hat die touris­ tischen Vorabdreharbeiten für seinen Visual Information Guide im zerstörten Deutschland abgeschlossen. „After two months, Granet returned with his foot­age, a collection of postcard photos and a lot of ideas.“10 Jetzt im Film sind zwei dieser Ansichtskarten als Memo dazwischengeschoben. Vom Film simulierte und stilisierte Ansichtskarten zwar, Ansichtskarten, die es so nicht geben kann – Häusertrümmer und Betonstahl oder Schattenzonen mit Bäumen dürfen niemals den Blick auf das Gebäude versperren –, aber deutlich als Ansichtskarten, als eine Spielart von Glamourfotografie erkennbar. Um das besser zu verstehen, habe ich mich einmal für einen Augenblick in die Rolle des Produzenten begeben und auf Ebay historische Ansichtskarten vom I.G.-Farben-Gebäude ersteigert. In knapp zwei Jahren hatte ich 68 unterschiedliche Motive seit 1931 zusammen; eine aktuelle Ansichtskarte des I.G.-Farben-Gebäudes gibt es leider nicht. (Der Andenken-Goethe-Shop im

Hörsaalgebäude ist auf melancholische Kleine-Freunde-Stofftier-Motive spezialisiert.) Verblüffend ist, dass alle Ansichtskarten der letzten 80 Jahre, vor und nach Berlin Express, sich im großen Ganzen für dieselbe Einstellung entscheiden. Die Hauptdifferenz ist links oder rechts. Das Gebäude wird ausschließlich von vorne und in der Regel als Totale gezeigt. Die Halbnahaufnahme bei Nacht ist ein deutlicher Ausreißer. Mit den Ansichtskarten haben wir das kulturelle Bildgedächtnis des I.G. Farben-­Gebäudes. In dieser Form ist das Poelzig-Gebäude in alle Welt verschickt worden. Diese Ansicht hat sich uns allen über die Jahre eingeprägt. Und ­genau so wollen wir den Bau dann auch wiedersehen, wenn wir ihm gegenübertreten. Um das Gleiten ins Archiv zu verdeutlichen und die Einstellungen 158

Abb. 2: Ansichtskarten I.G.-Farben-Gebäude, Frankfurt am Main

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von den anderen Einstellungen abzuheben, sind die beiden gestellten Ansichtskarten des Gebäudes in Berlin Express nicht einfach Teil des Schnitts, sondern werden sorgfältig in die Abfolge der Bilder überblendet. Es gibt keinen Bruch. Stattdessen gibt es die Gleichzeitigkeit von zwei Räumen. Einen Moment von Trance. Nicht-Vergessen und Umschreiben gehen als Aufgabe zusammen. Das Gebäude wird mit zwei unmöglichen Ansichtskarten überschrieben. Warum sollten wir dieses Gebäude aufgeben? Erst wenn diese Arbeit getan wird, der Blick in Vergangenheit und Zukunft bruchlos vonstatten gehen kann, ohne dass die Fahrt nach vorne zusammenbricht, können wir mit der Bedeutungszuweisung loslegen. Grandios ist ab sofort nicht mehr das Gebäude, sondern der Prozess seiner Umcodierung. Der macht es zur zentralen Architektur für die Zukunft Europas. Seine Foto­ grafie ist damit nicht mehr bloß dokumentarisiend, sondern übt das jederzeit mögliche Umschalten in den fiktivisierenden Beobachtermodus sogleich ein.11 Der Off-Kommentar gerät an dieser Stelle des Films richtig in Fahrt. Spürbar ins Schwärmen. Wir haben sie gefunden. Hier ist die Energie. Ganz anders als man es sich je hätte träumen lassen. Dieses Gebäude mit seinen einschneidenden historischen Layern kann etwas, was kein anderes Gebäude kann. BECAUSE HERE WHERE THE MUNITIONMAKERS PERFORMED THEIR PAPERWORK FOR THE CONQUEST OF THE WORLD, HERE WOULD BE IDEAL OFFICES FOR THE ENFORCEMENT OF THE PEACE. HERE WOULD BE HEADQUARTERS FOR USFET: UNITED STATES FORCES EUROPEAN THEATER. HERE THE AMERICAN SOLDIERS [ARE] HELPING TO FORM THE HISTORY OF THE WORLD TODAY. TO KEEP THE PEACE IN GERMANY, TO MAKE IT POSSIBLE FOR THE PEOPLE TO RESUME THEIR PLACES IN SOCIETY, THE ARMY OF OCCUPATION IS ON CONSTANT DUTY. AND NO CITY IS MORE IMPORTANT THAN FRANKFURT. CLEARING HOUSE, NERVE CENTER AND MAIN HUB FOR THE ENTIRE AMERICAN ZONE. THIS WAS CONGRESS, THE WHITE HOUSE, AND THE DEPARTMENT OF JUSTICE COMBINED UNDER ONE ROOF. HERE ­P OLICY WAS MADE AND EXECUTED. WORK PERMITS GRANTED TRAVEL

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ORDERS REWRITTEN, CHECKS, AND ENEMIES OF THE GOVERNMENT WILL CALL TO ACCOUNT

Es würde zu kurz greifen, den Off-Kommentar von Berlin Express als eine ­A neinanderreihung bloßer Reeducation-Formeln zu begreifen. Hier passiert etwas weitaus Gravierenderes. Das Dokumentarmaterial erzeugt in seiner Anordnung, in seiner laufenden Sichtung ein bestimmtes Sprechen. „Die Prämisse lautet. Wer [das Grosse Ganze der Zukunft,] das Haus, mit seiner Rede umfassen will, muss sich mit seinen Imponiergesten auch immer selbst imponieren, sonst könnte er gar nicht weiterreden.“12 Der Poelzig-Bau prägt sich der Rede selbst auf. Wie kann es aber weitergehen, wenn man mit einem einzigen Gebäude so hoch pokert? Im Film sind wir ja auch erst in Minute 26:01. Und haben das Entscheidende bereits gesehen. Wie kommt man aus der amerikanischen Zone, die, wie wir erfahren haben, ja nichts anderes ist als das umgewandelte I.G.-Farben-Gebäude, in die anderen Zonen? Weiter nach Europa? Schließlich

war man doch in Paris losgefahren. Folgt man dem Off-Kommentar, haben sich die Zeiten geändert. Keine Stadt ist so wichtig wie Frankfurt. Das muss man zuallererst begriffen haben. Frankfurts Bau ist das Fundament für alles, was kommt. Das exotische „Berlin“, das im Film eine nachgeordnete Rolle spielt, taugt allenfalls noch für reißerische Titel. Während der Plot von Berlin Express auf die alte Paris-Berlin-Achse der 1920er-Jahre anspielt, ist das Zentrum des Films, sein eigentlicher Kern – da, wo man aussteigt, die Fehlentwicklung korrigiert, da wo die Zukunft beginnt – Frankfurt. Ganz ohne große Umschweife, kurz und knapp aus dem Off, die wichtigste Stadt: „And no city is more important than Frankfurt.“ Zu einer Zeit, in der es ausgemachte Sache zu sein schien, dass Frankfurt die neue Hauptstadt der Bundesrepublik werden würde, war das, was der alten Hauptstadt des Dritten Reiches blieb, ihre Insellage, die Monumente von gestern und der Viermächtestatus. Ironischerweise verlor Frankfurt 1949, im Jahr, nach welchem Berlin Express in die Kinos kommt, die Hauptstadtabstimmung eben wegen seiner Schuttberge und des I.G.-Farben-Hauses. „Zum eklatanten Büro- und Wohnraummangel in der stark zerstörten Stadt, kam die Frage, ob man die Amerikaner dazu bewegen könne, ihr militärisches Hauptquartier im I.G.-Farben-Haus für ihre 161

Besatzungszone zu verlegen, denn der neue Regierungssitz sollte besatzungsfrei sein.“13 In den bereits gebauten Plenarsaal für das Parlament zog dann der Hessische Rundfunk. „Wegen der offenen Hauptstadtfrage blieb es auch bei der Verfügung der amerikanischen Militärregierung, dass Wiesbaden und nicht Frankfurt am Main die Landeshauptstadt von Hessen blieb.“ Als sich die kleine Gruppe der Zeugen in Berlin Express daran macht, weiterzufahren, „Frankfurt“ zu verlassen, wird schnell deutlich, dass das ganz so einfach nicht geht. Dass man so ohne Weiteres nicht fort kann. Als der Friedens-Emissär, den man eben noch am Bahnhof rauchen sah, plötzlich spurlos im Gedränge verschwunden ist, nur sein Koffer steht noch da, ist klar, dass man auf dem Brett der Strategien wieder einen Zug zurück machen muss. ­Zurück auf Start. Das Netz, das vom I.G.-Farben-Gebäude aus gespannt und gesteuert wird, lässt nicht locker. Der Film geht im Kopf noch einmal seine Bilder durch. Er muss zum Gebäude zurück, das die neuen zentralen Anforderungen stellt. In einem ersten, abstrakten Déjà-vu – keine der Figuren fährt in der Diegese dort wieder hin – wird in Minute 41:03 die Neuanlage der Demokratie noch einmal ins Gedächtnis gerufen. Das Bild aus dem Nichts, aus heiterem Himmel, ist irgendwie seltsam, auch wenn man in der Routine der Ansichtskarte bleibt. Merklich ist eine minimale Verrückung der Perspektive. Statt zuvor von rechts, nähert man sich dem Gebäude nun von links an. Schaut man genauer hin, sieht man, dass es sich um exakt dieselbe Einstellung handelt, die wir eine Viertelstunde zuvor schon gesehen hatten, nur horizontal gespiegelt. Das Negativ ist umgedreht. Herausgelöst und wieder eingefügt. Ein Einzelbild im Fluss der Bilder. Auf dieses Gebäude kann man nicht zugehen. Diesen I.G.-Farben-Komplex gibt es nicht. Er ist reines Prinzip. Ein Denkbild. Eine Visitenkarte Poelzigs I.G.-Farben-Komplex verkörpert die umgestaltende Kraft des Zentrums im Zentrum der europäischen Nachkriegsordnung. Um den Kongress, das Weiße Haus und den Obersten Gerichtshof unter einem Dach bauen zu können, aus Stein wie auch aus Zelluloid, war eine gewisse Distanz von­nöten. Hinter der Schwelle erstreckte sich die Zone. Alle drei Gewalten auf einmal kann man nicht einfach so dastehen lassen. Um die Fassade des Poelzig-Baus richtig zur Geltung kommen zu lassen, wird es zur Aufgabe, den Raum vor 162

dem Gebäude zu denken und mit zu inszenieren. Mit dem leeren Raum vor dem Gebäude beginnt die Architektur. Das wurde schon Anfang der 1930erJahre in den ersten Analysen betont: „Die sehr große Rasenfläche vor der Front des Hauses ist notwendig, um die scheinbare Höhe des Gebäudes gegenüber seiner Ausdehnung nicht zu verflachen. Höhere Bäume würden zudem das Bild zerschneiden, die gewollte Klarheit der Architektur trüben und Unruhe hineinbringen. Um aber die Fläche nicht zu monoton wirken zu lassen, geben niedrige Rosen, Sträucher und Rhododendron breite Einfassungen ab.“14 Nur so lässt sich dieses Nachkriegswunder in unserer Welt internalisieren und als Antrieb der Vorwärtsbewegung nehmen. Der Schwenk in Berlin Express hatte die Antwort auf das magische Verbotene Zone-Schild in Deutsch und Russisch am Ende der Life-Fotoreportage gegeben. Er hatte sich über die Verbote, die trennenden räumlichen und zeitlichen Grenzen, hinweggesetzt und die Bewegung weiterlaufen lassen. Ein Ende ist erstmal nicht abzusehen. Als der Film als Anzeige in das Life-Magazine ­zurückkehrt, ist das Buzzword Teil der Tagline geworden. Im Filmstreifen unter der aufgeblätterten Karte wird Frankfurt als einzige Stadt aufgeführt: „They dared invade forbidden zones.“ Die Etablierung der Zone errichtet den Raum der Differenzen. An der Schranke zu ihr tummeln sich die Binarismen: wir/sie, außen/innen, unsicher/sicher, Gewalt/Frieden, Anarchie/Ordnung, Barbarei/Zivilisation, Trümmer/Architektur, Ausnahmezustand/Normalität, Unrecht/Recht. Was hier zu beobachten ist, ist das „dialektische Auf und Ab“15 zwischen rechtsetzender Gewalt und rechterhaltender Gewalt. Und die Reflexion auf die Schuttberge der Geschichte. Wie sich die Binarismen der Zone der Architektur und ihre Macht weiter dekonstruieren lassen, führt eine Ansichtskartenserie von 1931 vor, die aus dem Rahmen der Karten des Ansichtskartenpools spürbar herausfällt. Sie nimmt den monolithischen Gebäudekomplex um einiges differenzierter, uneingeschüchterter, neugieriger, investigativer in Augenschein und löst ihn im Prozess in bearbeitbare Teile auf. Es handelt sich um eine mindestens elfteilige Fotoserie von Paul Wolff16 aus dem Umfeld des Neuen Frankfurt:

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Abb. 3: Ansichtskarten I.G.-Farben-Gebäude, Frankfurt am Main, Paul Wolff, 1931

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Freigelegt werden Interaktionen des Gebäudekomplexes mit seiner Umgebung. Die Auffahrt am Eingang, die Rückseite, die Verbindung zum Anbau, die Seitenwand des Kasinos, der Zwischenraum, der Weg zwischen den ­Gebäuden. Architektur wird fragmentarisiert. In erste Stellen zur weiteren Bearbeitung zerlegt. Der Weg am Gebäude entlang als Erinnerung an das ­Gebäude kommt gut ohne das gewohnte Pathos aus. Aus solch einer Anwendung des Werkzeugkastens, einem anderen, primär zukunftsorientierten Verständnis von Architekturfotografie heraus, lässt sich auch das Ende von Berlin Express begreifen, das in seinem Kern eine Wiederholung ist. Training Berlin. Was haben wir in Frankfurt gelernt? In Minute 1:17:35 des Films Berlin Express läuft der Berlin-Express in Berlin ein. Der Bahnsteig sieht überraschend kleinstädtisch aus: „ BERLIN. WELL, NOT QUITE. WANNSEE IS AS CLOSE AS YOU CAN BRING THE BERLIN EXPRESS TODAY. […] THE CITY ITSELF IS SOME 15 MILES OFF BY WAY OF THE AUTOBAHN. WHEN YOU GET THERE, YOU WONDER HOW YOU CAN CALL IT A CITY. BERLIN, THE CAPITAL OF THE THIRD REICH, THE FOCAL POINT OF THE RISE AND FALL OF A DICTATOR IS TODAY A MONUMENT OF RUINS. OTHER CITIES LIKE HIROSHIMA HAVE BEEN OBLITERATED. BUT NO OTHER CITY SO MIGHTY AS BERLIN HAS FALLEN SO LOW. LESS THAN FOUR YEARS OF WIND, RAIN AND SUN HAS LEFT A DRAB, COLORLESS, DEAD CITY IN ITS WAKE. THIS WAS ONE CASE WHERE JUSTICE HAD MADE THE PUNISHMENT FIT THE CRIME .

Die Fahrt durch die Stadt als Trümmerfeld-Lehrstück mit den Monumenten von gestern, selbst nun ein einziges Monument aus zahllosen Ruinen, nimmt die Fahrt durch Frankfurt wieder auf. Das I.G.-Farben-Gebäude als Endpunkt der Reise gibt es hier nicht. Wir haben es in unseren Köpfen mitgebracht. Unsere Aufgabe ist es nun, seine neue Bedeutung an anderer Stelle wieder zusammenzupuzzeln. Berlin Express vorangestellt ist ein Vorspann, der aus acht Architekturaufnahmen vom Pariser Palais de Justice zusammengesetzt ist. Fragen von Architektur und Recht werden damit dem Film von Anfang an auf den Weg gegeben. In seinen 86 Minuten läuft die Diegese von Paris mit Zwischenstopp im neuen europäischen Frankfurter Justizpalast zum Pariser Platz in Berlin, der 1814 165

seinen Namen in Erinnerung an die Eroberung von Paris durch preußische Truppen erhalten hatte. Berlin Express ist damit auch eine Retourkutsche. Im Kreis der Viermächtereisegruppe werden gerade die Möglichkeiten des Wiedersehens diskutiert, als das US-Polad [Foreign Policy Advisor Program]-­24Sammeltaxi in Unter den Linden, die Straße zum Brandenburger Tor, einbiegt. Die Straße mündet in der unausweichlichen Postkarte von gestern, die wir von vor dem Krieg noch als Schauplatz der Fackelzüge kennen. Dieses Bild wird man nicht ohne Weiteres los. Hier haben die Deutschen Adolf Hitlers Machtergreifung gefeiert. Auf dem Pariser Platz als Endstation nehmen die befürchteten Auflösungserscheinungen, Dreh- und Wendemanöver, ihren Lauf. Der Film ist vorbei, die verschiedenen Richtungen fordern ihr Recht. Die Gruppe zerfällt in Individuen, die zu unterschiedlichen Befehlen in verschiedene Fahrzeuge umsteigen. Jede Macht zieht sich in ihr Viertel zurück. Aus der Perspektive der Westmächte gibt der sowjetische Soldat das größte Rätsel auf. Aber auch er steht schließlich doch weiterhin im Bann der internationalen Gemeinschaft. Er bricht das aufziehende Eis, geht zurück und hebt die Visitenkarte des Amerikaners, die er auf dem Weg zum Auto fallen gelassen hatte, wieder vom Boden auf. Man bleibt im Kontakt. Der Friedens-Emissär und seine französische Mitarbeiterin, die die Interaktionen des gemischten Zukunftslabors beobachtet hatten, stehen die ganze Zeit über vor dem nicht ohne Weiteres erkennbaren Brandenburger Tor, dessen Durchfahrt und Blickachsen nicht mehr selbstverständlich sind. Im verkappten Architekturfilm Berlin Express ist es ein von der Seite aus aufgenommenes Gebäude­ ensemble, dessen Elemente allererst neu zu besetzen oder besser gesagt zu ­definieren sind. Der Hintergrund, die Rückprojektion, ist in diesem Falle entscheidend. Hat man die Idee des neukodierten I.G.-Farben-Gebäudes einmal in das Brandenburger Tor eingelesen, den Dreierschritt vom französischen Tor mit Säulen am Palais du Justice, über den Eingangsbereich des I.G.-Farben-Gebäudes mit seinen Säulen jetzt hin zu den Säulen des einstigen Nationaldenkmals hinter sich gebracht, muss das Versprechen auf eine friedliche, europäische Politik in Zukunft nicht aufgegeben werden. Man kann in die Zukunft schwenken.

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Abb. 4: Screenshot aus ­Berlin Express (USA 1948)

Als fast anderthalbstündiger Mitfahrer im I.G.-Farben-Kinobus von Berlin Express habe ich tatsächlich etwas gesehen, dass ich so schnell nicht vergessen werde.

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Anmerkungen

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com/movie/review?res=9804E0D6133CEF33A-

13 Ennen 1967, S. 278.

25752C2A9639C946993D6CF (letzter Zugriff

14 Kirchner 1934. 15 Agamben 1999, S. 190. 16 Zwei der Aufnahmen sind in den Band Moderne Grüße. Fotografierte Architektur auf Ansichtskarten 1919–1939 aufgenommen worden, vgl. Baumann 2004, S. 50–51.

1.6.2017) Baumann, Kirsten; Sachsse, Rolf (Hg.): Moderne Grüße. Fotografierte Architektur auf Ansichtskarten 1919– 1939. Stuttgart 2004 Ennen, Edith; Höroldt, Dietrich: Kleine Geschichte der Stadt Bonn. Bonn 1967 Kirchner, H., Troitzsch, O. (Gartenbauinspektor Frankfurt a. M.): „Rund um die Grüneburg“, in: Der Maingau. Werkszeitung der I.G. Farbenindustrie AG, Be­ triebsgemeinschaft Mittelrhein Nr. 12 (Dezember 1934) Odin, Roger: „Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre“, in: Eva Hohenberger (Hg.): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentar­ films. Berlin 1998 Review: „Berlin Express“, in: Variety (31.12.1947), http://variety.com/1947/film/reviews/berlin-express-1200415887/ ( letzter Zugriff 1.6.2017) Schatz, Thomas: Boom and Bust. American Cinema in the 1940s. Berkeley, Los Angeles, London 1997 Schüttpelz Erhard: „Kollege kommt schon“, in: Ästhetik und Kommunikation 36. Jg., Heft 131: Our own ­medial Jesus. Religion und Visual Culture (Winter 2005), S. 122–124 Turner, George: Life and Death on the Berlin Express, in: American Cinematographer 78 (August 1997), S. 92

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„Während   wir einen Film anschauen, ist der kontinuierliche Akt des Wiedererkennens, in den wir involviert sind, wie ein unterhalb der Bilder des Films sich entrollender Erinnerungsstreifen, der die unsichtbare untere Schicht einer noch nicht entwickelten Doppelbelichtung bildet.“ Maya Deren

Architektur und Film bei Pasolini und Godard: Ein metaphorisches Bordell! Andri Gerber

„La metafora è essenzialmente una figura linguistica e letteraria del discorso che è difficile rendere nel cinema se non in casi estremamente rari: per esempio, se volessi dar l’idea della felicità potrei farlo mostrando degli uccelli in volo nel cielo. Non era che risentissi la difficoltà di non potere ­usare la metafora, anzi ero contento non doverla usare, perché, come ho già detto, il cinema rappresenta la realtà con la realtà; è metonimico, non ­metaforico. La realtà non ha bisogno di metafore per esprimersi.“ Pier-Paolo Pasolini1 „Schwesternkünste“ ist ein heute kaum noch gebrauchter Begriff, der vor ­a llem in der Romantik Konjunktur hatte, wo er auf die Möglichkeit eines Gesamtkunstwerkes verwiesen hat. Ein Kunstwerk also, das aus der Synthese verschiedener Künste entstehen könne. Das Verhältnis zwischen Schwestern – aber natürlich auch unter Brüdern – ist nicht frei von Konflikten, und auch zwischen den (Schwester-)Künsten herrschen Spannungen, nicht nur formaler und inhaltlicher Natur, sondern auch Spannungen, ja Streit und Eifersucht zwischen den Künstlern selbst. Schwestern haben natürlich auch eine Mutter, und diese Rolle hat immer wieder die Architektur für sich in Anspruch genommen. Die Architektur sowohl als Gefäß, in dem alle anderen Künste Platz hätten, als auch als Tätigkeit, die im Entwerfen alle anderen Formen der Gestaltung in sich aufnehme. Es ist dies ein Anspruch, den die Schwestern – die anderen Künste – immer wieder hinterfragt haben, was zu zahlreichen Po­ lemiken geführt hat, nicht nur zwischen Architekten und Nicht-Architekten, sondern auch innerhalb der Architektenschaft selber. So stellte der deutsche Architekt Hermann Pfeifer 1904 lakonisch fest, dass die einstige Mutter aller Künste mittlerweile zu einer „feilen Dirne erniedrigt“ worden sei.2 172

„Mutter aller Künste“ oder „Schwesternkünste“ – das klingt heute altertümlich und ist aus dem Sprachgebrauch fast gänzlich verschwunden, obschon natürlich die Kunst heute mehr denn je auf technischen und medialen Synkretismus – sprich Transdisziplinarität, Interdisziplinarität etc. – gründet.3 „Mutter“ und „Schwester“ sind in diesem Kontext Metaphern, und was für eine Rolle Metaphern in der Vermittlung zwischen Architektur und Film spielen, soll hier diskutiert werden. „Mutter“ und „Schwester“ verweisen in diesem Fall auf eine Verwandtschaft, auf einen gemeinsamen Stammbaum, der sie in Beziehung setzt und aus dem sie gemeinsame Eigenschaften geerbt haben. Es geht also an erster Stelle um ein In-Beziehung-Setzen, das über Metaphern organisiert wird. Dass Metaphern in der Vermittlung zwischen Kunstgattungen eine wichtige Rolle spielen, kann kaum überraschen. Ihrer Natur nach verbinden sie einen „Bild­ spender“ und einen „Bildempfänger“, die im Grunde nicht zusammenpassen: „Architektur ist Film“ wäre eine solche Metapher. Architektur ist zwar nicht dasselbe wie Film, verbindet man diese beiden Kunstformen aber über eine solche Metapher, dann eröffnet der Vergleich einen neuen Blick vor allem auf den Bildempfänger (hier die Architektur), in zweiter Linie aber auch auf den Bildspender Film. Die Metapher überträgt Eigenschaften des einen auf den anderen, sodass Film doch ein wenig Architektur und Architektur ein wenig Film wird. Damit wird klar, dass Metaphern mehr als nur rhetorisches Or­ nament sind, vielmehr ein Dispositiv, das über die Text-Ebene hinaus als wichtiges Bindemittel der Sprache, der Gedanken und der Disziplinen wirkt. ­Metaphern in Text, Bild, Raum oder Film dienen also – mehr oder weniger bewusst – als Vermittler, zeigen aber gleichzeitig gerade dadurch auch die Spannungen und Leerstellen, welche diese metaphorische Verbindung überhaupt erst überbrücken soll.

Film, Architektur, Realität? Architektur und Film sind zweifelsohne „Schwesternkünste“ in dem Sinne, dass sie über zahlreiche Ebenen – und davon zeugt der vorliegende Band – 173

­Beziehungen aufbauen, welche sich vornehmlich über Metaphern artiku­ lieren. Dabei drehen sich diese Beziehungen primär um die Vorstellung von „Realität“.4 Das Verhältnis von Architektur und Film in diesem Zusammenhang könnte man, grob vereinfacht, wie folgt umschreiben: Architektur versucht, mit ihren Projekten eine neue „Realität“ zu schaffen, bleibt aber zu deren Vermittlung auch auf Beschreibungen, auf Texte und Bilder verwiesen. Entsprechend weist auch Stanislaus von Moos hin: „Der Umgang mit Dingen, die man noch nicht ganz versteht, auch mit gebauter Realität, geschieht auf dem Umweg über Bilder und Metaphern.“5 Filme dagegen reproduzieren und vermitteln „Realität“, transformieren sie aber dadurch unweigerlich. Die Architektur benutzt den Film, um die eigenen Räume anders erfahrbar zu machen – der Film benutzt die Architektur, um sich deren Räume aneignen zu können. Beide lassen sich also von der jeweils andere Disziplin inspirieren. „Realität“ existiert mithin im Dialog der beiden Disziplinen, gleichsam zwischen ihnen als Effekt ihres Aufeinandertreffens. Weder Architektur noch Film „besitzen“ dieses Dazwischen, beide brauchen vielmehr die andere Disziplin, um erst darauf hinzuweisen und dieses Dazwischen – auch wenn nur für kurze Zeit – erfahrbar zu machen. Dieses Dazwischen könnte man auch als eine „semantische Lücke“ bezeichnen. Metaphern füllen solche „semantischen Lücken“, indem sie Begriffe schaffen für das, was keinen Namen hat (siehe Zitat von Moos, oben). Die Architektur nutzt den Film – ähnlich wie sie Bilder oder Texte nutzt –, um das zu vermitteln, was sonst nur in der konkreten individuellen Erfahrung des Raumes, in der eigenen, leibhaftigen Anwesenheit in einem Gebäude erfahrbar wäre. Doch während solche konkrete Erfahrung ideosynkratisch bleibt, sollen Metaphern, Bilder und Begriffe uns helfen, die Erfahrung der Architektur über diese flüchtige, individuelle Wahrnehmung hinaus zu vermitteln. Dabei ist freilich auch diese Verbindlichkeit, welche Metaphern zu ermöglichen scheinen, nur eine fragile. Wie bereits Jacques Derrida hingewiesen hat, sind auch die Metaphern selbst zu ihrer Beschreibung auf immer neue Metaphern angewiesen. Eine letztgültige Bedeutung der Metapher kann es nicht geben, so wenig wie es eine absolute „Realität“ geben kann. Stattdessen 174

­befinden sich die Metaphern im Zustand eines andauernden „skiddings“, also des „Ausrutschens“ – nicht zufällig selbst wieder eine Metapher.6 Zwei Filme – Mamma Roma von Pier-Paolo Pasolini (I 1962) und 2 ou 3 choses que je sais d’elle von Jean-Luc Godard (F 1967) – sollen diese rutschenden metaphorischen Verschränkungen von Architektur, Stadt und Menschen zeigen und wie sich diese zu einer bestimmten „Realität“ verbinden.

Realität = Kino in Natur Der italienische Dichter, Schriftsteller, Regisseur und Kritiker Pier-Paolo Pasolini ist ein gutes Beispiel, um die metaphorische Verschränkung von Architektur und Film zu beobachten, hat er doch mit seiner Arbeit die Reibungsflächen zwischen den Disziplinen sehr bewusst ausgelebt und ausführlich ­reflektiert hat. Pasolini, dessen polyedrische und zum Teil auch sehr wandelbare Theorie sich kaum vereinfachen lässt, war der festen Überzeugung, dass die Realität „Kino in Natur“ sei, das heißt, dass Film sich immer auf eine Realität bezieht und diese mittels einer bestimmten Haltung zum Ausdruck bringt.7 Oder wie es bei Deleuze heißt: „Er [Pasolini] lehnt es ab, von einem Realitätseindruck zu sprechen, den das Kino vermittelt: was das Kino liefert, ist die Realität schlechthin.“8 Dem Film weist Pasolini entsprechend eine besondere Bedeutung innerhalb seiner umfangreichen Produktion zu, nicht zuletzt, weil dieser über eine eigene Sprache verfüge, die nicht mit jener der ­L iteratur und der Dichtung zu verwechseln sei.9 Diese andere Sprache des Films ist darum besonders wichtig, weil sie, im Gegensatz zu den „konventio­ nellen“ Sprachen, die durch die kapitalistische Gesellschaft vollkommen vereinnahmt und verflacht worden seien, noch einen gewissen Spielraum für Kritik beinhaltet. 10 Indem Film die Realität a posteriori über eine eigene Sprache schafft, öffnet sich hier der Raum für eine neue, realistischere Darstellung der kapitalistischen Gesellschaft in der Stadt. Was nun aus unserer Sicht besonders spannend an der Theorie von Pasolini ist, ist die Tatsache – was er auch deutlich im Einführungszitat zum Ausdruck bringt –, dass für ihn der Film, um diese Übersetzung von Realität 175

zum Film zu vollziehen, angeblich keine Metaphern braucht. Die Übersetzung, oder besser: Rückkoppelung vom Film zur Realität, geschehe unmittelbar, ohne die Vermittlung der Metapher.11 In den Worten von Pasolini: „Nel cinema è come se la realtà esprimesse se stessa attraverso se stessa, senza metafore.“ – „Im Kino ist es, als ob die Realität sich selbst ausdrücke, ohne ­Metaphern.“12 Pasolini geht es in seinen Filmen um die Menschen, ihre Nöte, ihre Triebe, ihre meist unerfüllten Ansprüche und um ihre gesellschaftlichen Milieus. Diese Realität, die Pasolini in seinen Filmen beschreibt, zeigt sich auch als ­a rchitektonischer Hintergrund der Filmhandlung: Es sind die sogenannten Borgate ufficiali di Roma, am Rande der Stadt, die sich aufspannen zwischen dem, was man heute „informellen Städtebau“ nennt und den Palazzine – ­modern-hässlichen Spekulationsobjekten. Wobei das Ganze umgeben ist von den allgegenwärtigen Ruinen einer längst vergangenen Zeit. Rom war in der Nachkriegszeit durch die Spekulation besonders an seinen Rändern betroffen und Opfer zahlreicher Profiteure und Spekulanten, den sogenannten Palazzinari, die, mangels gesetzlicher und baurechtlicher Einschränkungen sowie dank großzügiger „Spenden“ an die Democrazia Cristiana (DC) mit keinem Widerstand zu rechnen hatten. (Der Film Le mani sulla città von Francesco Rosi aus dem Jahre 1963 ist diesbezüglich ein besonders bemerkenswertes Zeitzeugnis dieses Phänomens, auch wenn er von Neapel und nicht Rom ­handelt.) Dennoch – und das widerspricht den Behauptungen von Pasolini – wird diese „Realität“ erst dann Film, wenn sie über metaphorische Verknüpfungen artikuliert wird. Schon über den Titel des Filmes Mamma Roma, der auf den ­Kosenamen der Hauptfigur (gespielt von der Schauspielerin Anna Magnani – eine seltene Ausnahme bei der Besetzung seiner Filme, bei denen er sonst lieber mit Laiendarstellern gearbeitet hat) verweist, wird die Protagonistin einerseits mit der mythologischen Wolfsmutter Roms, vor allem natürlich – aufgrund ihrer Arbeit als Prostituierte – mit der Figur der Puff-Mutter assoziiert. Damit aber wird die Eigenschaft „Prostituierte“ auch auf die Stadt Rom übertragen. Hier benutzt also Pasolini eine Figur und ihren Beruf, um deren Züge auf die gesamte Stadt zu übertragen, womit wir diese in einem neuen 176

Abb. 1: Screenshot aus Mamma Roma (IT 1967)

Licht/Bild sehen. Dazu trägt auch der nicht mehr jugendliche und nicht mehr so begehrenswerte Körper von Magnani bei, womit auch der Stadt als alternder Prostituierten ein körperlicher Niedergang zugesprochen wird. Man ist hier an die Worte des florentinischen Gesandten in Rom, Poggio Bracciolini, erinnert, der 1430 die Stadt wenig schmeichelhaft als einen „gigantei cadaveris corrupti“ beschrieben hat, also als den verwesenden Leichnam eines Riesen. Neben der Prostitutions- und Körpermetapher kommen hier zwei weitere zum Tragen: Es sind jene der leeren und kargen Landschaften der Borgata und der sich darin befindenden Ruinen. Beides, die Leere und das Ruinenhafte, werden als Eigenschaften auf die von der Schauspielerin gespielte Figur übertragen: Die Leere steht für die Unerreichbarkeit ihrer Träume wie auch für die Distanz, die trotz all ihrer Bemühungen zwischen ihr und ihrem Sohn bleiben wird. Die Ruinen, die diese Landschaft säumen – meist vertikale Findlinge aus der römischen Zeit – untermauern noch diese Hoffnungslosigkeit. In der Tat hat das Wort „rovina“ im Italienischen (im Gegensatz zum deutschen „Ruine“) eine doppelte Bedeutung: sowohl Ruine als auch persönlicher Untergang. Mangnanis Figur wird mit zahlreichen architektonischen und landschaft­ lichen Metaphern in Verbindung gebracht, und dies schafft (natürlich neben Magnanis großartiger schauspielerischer Leistung) unsere starke Anteilnahme an ihrem Schicksal. Damit gewinnt aber nicht nur die Protagonistin 177

an neuen Facetten, auch Architektur und Landschaft werden für uns ganz neu erfahrbar und gewinnen neue Bedeutung. Auch der „Realist“ Pasolini kommt also nicht ohne Metaphern aus. Im Gegenteil sind es gerade diese, die über die Verschränkung von Menschen und Architektur/Landschaften beide erst so unmittelbar erfahrbar machen.

2 oder 3 Sachen, die ich über die Realität weiß … Auch bei 2 ou 3 choses que je sais d’elle geht es um eine Prostituierte, auch wenn sich diese nur gelegentlich prostituiert. Der Film von Godard ist im Vergleich mit Mamma Roma experimenteller und verzichtet auf eine eigentliche Geschichte. Der Film zeigt 24 Stunden im Leben von Juliette, unterbrochen durch eine Stimme im Off und durch Monologe von Personen, denen ­Juliette zufällig begegnet. Diese Art der Darstellung, die stark an einen Dokumentarfilm erinnert, erzeugt erste Irritationen bei den Betrachtern, weil der Film zwischen verschiedenen Erzählmodi wechselt, keinem aber wirklich entspricht. Der Ort, an dem der Film gedreht wird, spielt wie bei Pasolini eine große Rolle. Juliette lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in einem modernistischen grand ensemble in der Pariser Banlieue, genauer gesagt, in der Cité des 4000, bei la Courneuve, im Norden von Paris. Auch hier haben wir es mit einer prägenden räumlichen Leere zu tun, aber es ist nicht die karge Landschaft der Borgata, sondern es sind die idealistischen Grünräume der Moderne, die sich zwischen geometrischen Blöcken aufspannen, das Versprechen von Freiheit, Großzügigkeit und natürlich Licht, Luft und Sonne geben, jedoch längst nicht immer einhalten können. Dieses städtebauliche Modell geht vordergründig auf die Visionen Le Corbusiers zurück, welche dieser selber aber nie verwirklichen konnte. Als nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen des Wiederaufbau sein enormer Bedarf an Wohnungen bestand, haben viele Regierungen den notwendigen Neuanfang bewusst mit der Stadtplanung der Moderne ideologisch verknüpft. Nach dem Krieg waren zudem nicht mehr die Stadtverwaltungen mit ihren zum Teil mühsamen Aushandlungsprozessen für 178

die Stadtplanung zuständig, sondern die Staaten, die eine größere Handlungsfreiheit besaßen. Dazu kam das allgemeine Bestreben nach Dezentralisierung von großen Städten, die nicht weiter polypenhaft wachsen sollten. All das hat sich im Errichten zahlreicher Cités oder grands ensembles als soziales Experiment niedergeschlagen. Indes ist kaum verwunderlich, dass viele dieser Experimente gescheitert sind, sei es aufgrund politischer Fehlplanung, fehlender Anbindung zur Stadt, fehlender Infrastrukturbauten oder tatsächlich auch aufgrund der Architektur der großen Leerräume, die keine Identifikation ermöglicht haben.13 Familien, wie jene von Juliette in Godards Film, sind in der Realität bald ausgezogen und haben ihre Räume Menschen aus den ehemaligen französischen Kolonien überlassen, die hier perspektivlos strandeten.14 Auch Jane Jacobs, die wohl luzideste Kritikern solcher Wohnformen, hat in ihrem Standardwerk The Death and Life of Great American Cities betont, wie „tötend und nutzlos“ und wie „langweilig“ diese in Nachahmung Le Corbusiers errichteten Siedlungen ausfallen können.15 Es sei in dem Zusammenhang anekdotisch auf César Abins großartige Karikatur von Le Corbusier aus dem Jahr 1933 verwiesen, der diesen in einer Glasglocke inmitten einer idyllischen grünen Landschaft zeigt: Le Corbusier macht einen blasierten Gesichtseindruck und raucht eine Zigarette, ist aber vollkommen getrennt von dieser schönen Landschaft. Gleichzeitig wird in dieser Zeichnung Le Corbusier selber zu einem der Wohnblöcke aus seinen eigenen Städtebauvisionen – wieder eine Metapher. Und obschon der Le Corbusier-Block in einer schönen Landschaft zu stehen kommt, kann er dazu keinen Bezug aufbauen. Und wie die tatsächlichen Bewohner solcher Blöcke, langweilt er sich. Godard, im Gegensatz zu Pasolini, ist sich der Bedeutung von Metaphern für den Film sehr wohl bewusst und baut in seinem Film zahlreiche metaphorische Verknüpfungen ein. Man denke hier nur an die letzte Sequenz von 2 ou 3 choses que je sais d’elle, wo in einer Totalen, ausgehend von einem Kaugummipack, eine Reihe von Produkten auf einer Wiese gezeigt werden, die zusammen das Architekturmodell einer Wohnanlage zu bilden scheinen. Damit überlagert Godard das kapitalistische Konsumversprechen mit der verfüh­ rerischen Ästhetik der Produkte metaphorisch mit der Stadtplanung der 179

Abb. 2: César Abin: Karikatur Le Corbusier, in: Abin 1933, Tafel 32

­Moderne, wo anstelle der großen Wohnblöcke nur noch Verpackungsschachteln stehen. Während uns diese metaphorische Verschränkung ein starkes Bild liefert, fällt zugleich ein fundamentaler Unterschied auf: Während die Verpackungen sehr bunt sind, waren die meisten Wohnblöcke grau. Bereits das „elle“ in Godards Filmtitel – das stellt auch die Vorschau des Filmes klar – steht nicht nur für Juliette, sondern vor allem auch für die „région parisienne“, für die Vororte von Paris, mithin aber auch für die Prostitution. Godard dreht also scheinbar einen Film über eine Frau, im Grunde geht es ihm aber vor allem um die Darstellung jener Vororte, in denen Juliette lebt. Die „elle“ des Titels ist also gleichzeitig ganz vieles – eine multiple metapho180

Abb. 3: Screenshot aus 2 ou 3 choses que je sais d’elle (FR 1973)

rische Verschränkung. Wobei die von Marina Vlady gespielte Juliette auch die Einwohner dieser Region repräsentieren soll: „Est-ce que Marina Vlady incarne une héroïne représentative des habitantes des grands ensembles?“ – „Verkörpert Marina Vlady eine repräsentative Heldin für die Bewohner der Großwohnsiedlungen?»16 Juliette prostituiert sich gelegentlich, und diese Charakterisierung wird damit natürlich auch auf die „région parisienne“ und auf Paris selbst – wo sie ihr Gewerbe treibt – übertragen. Godards Paris, wie schon Pasolinis Rom, gewinnt damit Züge einer Prostituierten. In einem Fernsehinterview, das 1966 ausgestrahlt wurde, behauptete Godard denn auch, dass Paris ein „großes Bordell“17 geworden sei: „On aménage la région parisienne, et moi, ce qui me frappe dans cette région parisienne, c’est qu’on l’aménage comme un grand bordel“ – „Man erschließt die Pariser Umgebung, und was mich bei dieser Region verblüfft, ist, dass man sie erschließt, als wäre sie ein großes Bordell.“ 18 Dabei sind freilich Bordell und Prostitution im weitesten Sinne zu verstehen: Es geht darum, wie Godard festhält, dass jeder, um zu überleben, sich prostituieren muss.19 Der Körper von Juliette gehört dabei jedoch nicht einer alten, nicht mehr begehrten Frau, wie jener in Mamma Roma, sondern einer Frau, die so jung ist, wie die Versprechen der modernistischen Stadtplanung. Wir haben es hier mit einer metaphorischen Verschränkung zu tun, zwischen der Inhaltlosigkeit des Lebens von Juliette, die durch die Prostitution lediglich das Geld verdient, 181

das sie für besondere Konsumgüter braucht, und der Leere der Grünräume modernistischer Siedlungen. Juliette wirkt gelangweilt und scheint ziellos durch ihr Leben zu treiben. Sie wirkt genauso gelangweilt, wie Le Corbusier in der Karikatur. Die langweilige Monotonie der Siedlungen, wie sie Jane Jacobs kritisiert, lassen auch Juliette ohne Motivation zurück. Ziellos driftet sie durch eine Welt identitätsloser Zwischenräume Die „Realität“ ist hier ein „ensemble“, das in den grands ensembles wörtlich manifest wird: „Comme je l’ai dit, l’histoire de Juliette dans 2 ou 3 choses que je sais d’elle ne sera pas racontée en continuité, car il s’agit de décrire en même temps qu’elle, les événements dont elle fait partie. Il s’agit de décrire un ‚ensemble‘.“ – „Wie ich gesagt habe, wird die Geschichte von Juliette in 2 ou 3 choses que je sais d’elle nicht kontinuierlich erzählt, weil es darum geht, zur selben Zeit die Ereignisse zu schildern, von denen sie ein Teil ist. Es handelt sich darum, ein Ensemble zu beschreiben.“20

Vive la realité? Sowohl Pasolini wie Godard greifen auf die metaphorische Verschränkung von Architektur, Stadt, Gesellschaft und Individuen zurück, um über Prostitutions-, Körper- und Sprachmetaphern eine Kritik der kapitalistischen Gesellschaft zu formulieren. Sie machen das auf eine sehr subtile Art und Weise, gerade wenn wir sie mit anderen Filmen der Zeit vergleichen, wie Themroc von Claude Faraldo von 1973 oder Touche pas à la femme blanche von Marco Ferreri von 1974. Im ersten befreit sich der Protagonist, gespielt von Michel Piccoli, von seinen gesellschaftlichen Fesseln, indem er zu einer Art Höhlenmensch regrediert und dabei seine Wohnung wörtlich aufbricht, in Form eines wunderbaren Zerstörungs-Happenings. Im zweiten wird die Schlacht um Little Big Horn von 1876 zwischen Indianern und amerikanischer Kavallerie auf das zeitgenössische Paris übertragen und findet in der riesigen Baugrube statt, wo Les Halles gebaut werden. Der Film lebt von der absurden Gleichzeitigkeit der historischen Figuren in ihren Kostümen und dem Paris Anfang der 1970er-Jahre. Ferreri formuliert mittels sol182

Abb. 4: Screenshot aus Themroc (FR 1973)

cher Überlagerung eine Kritik am Vietnamkrieg, aber auch an der Vertreibung der Menschen aus der Innenstadt von Paris in die Peripherie. Auch diese Filme arbeiten mit Metaphern, aber die Architektur und die Stadt bleiben in ihnen Hintergrund und verschmelzen nicht mit den Figuren. Vor allem aber negieren sie die vorgefundene „Realität“ zugunsten der filmischen Fiktion. Godard und Pasolini dagegen arbeiten mit der „Realität“, verlassen diese nicht, sondern überhöhen sie vielmehr ästhetisch durch ihre Metaphern. Während indes Pasolinis Kritik der Realität keine wirkliche Hoffnung er­ öffnet – sondern höchstens seine Liebe für die unterdrückten Gesellschaftsschichten und deren Räume offenbart –, scheint Godard doch eine gewisse Hoffnung auf eine Umkodierung des Gegebenen zu setzen, ganz im Sinne der Situationisten und ihrer dérive. In einem Kleiderladen hält Juliette folgenden Monolog: „Kein Mensch kann wissen, wie die Stadt von Morgen aussehen wird. Einige von den vielen Bedeutungen, die sie früher hatte, wird sie sicher verlieren. Ganz sicher. Ganz sicher. Vielleicht. Die bildnerische, schöpferische Rolle der Stadt wird übernommen von anderen Systemen der Kommunikation. Vielleicht. Fernseher, Radio. Satzbau und Wortschatz bewusst und entschieden. In einer neuen Sprache wird konstruiert werden müssen.“21 Es ist klar, dass Godard diese Umkodierung vor allem dem Medium Film und seiner eigenen Sprache zutraut. 183

Abb. 5, Marco Ferreri, Touche pas à la femme blanche (FR 1974)

Dass 2 ou 3 choses que je sais d’elle einen gewissen Widerstand gegen den status quo erhebt, lässt sich denn auch an einem Detail erkennen: Bei allen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Filmen fällt auf, dass die Architektur, mit der die Protagonistinnen der beiden Filme assoziert werden, bei Mamma Roma eher vertikal ist (sowohl die Ruinen, wie auch die Palazzine), während sie bei 2 ou 3 choses (die „barres“ der grands ensembles) eher horizontal ausgerichtet ist. Dadurch entsteht in Godards Film eine Spannung zwischen der Vertikalität der Menschen (allen voran Juliette) und der Horizontalität der sie umgebenden Architektur.22 Diese Spannung steht einer vollständigen metaphorischen Verschmelzung zwischen Architektur und Körper, wie sie in Mamma Roma zu finden ist, im Weg. Wenn, dann ist die Metapher, welche ­Juliette und die grands ensembles verschmelzen lassen, eher in der Physiognomik und dem entsprechenden Zustand der Langeweile der beiden zu ­fi nden, in ihrem Unbeteiligtsein und ihrer Borniertheit. Bezeichnenderweise sagt ­Juliette an einer Stelle im Film: „Die Landschaft ist wie ein Gesicht.“23 Architektur und Film bei Pasolini und Godard sind weniger „Schwestern“ als vielmehr „Prostituierte“, die sich ihre Körper – verstanden als Medien, Charaktere, Bauwerke, Stadt –gegenseitig feilbieten. So findet die Architektur zu einer Sprache der Raumerfahrung, einer ihrer „Realitäten“, die sie in keinem anderen Medium auf diese Weise findet. Und erst so findet der Film zu einer Tiefe und Vielschichtigkeit, die es ihm erlaubt, die „Realität“ in spezifisch 184

­fi lmischer Weise zu reproduzieren. Die Sprache des Films wird dann zur Sprache der Architektur und umgekehrt. In den Worten von Juliette: „Die Sprache ist das Haus, in dem der Mensch wohnt.“ Dass dazu die „gewöhnliche“ Sprache nicht ausreicht, sondern es die besondere Bildsprache des Films braucht, betont hingegen die Sprache aus dem Off im Film: „Bild und Sprache durchdringen sich immer mehr. Wenn man das Leben heute in der Gesellschaft beschreiben will, kann man sagen, dass es jedenfalls so ist, als ob man in einer ungeheuren Zeichengeschichte leben würde, in einem Comic-strip, doch die Sprache reicht nicht aus, um ein Bild wirklich ganz zu erfassen.“24 Dazu braucht es den Film und seine Metaphern.

Coda Was aus Pasolinis und Godards Drehorten geworden ist, ist bekannt. Die Borgate von Rom sind mittlerweile mehr oder weniger im Gewebe der wachsenden Stadt eingegliedert worden und ihre Einwohner entweder abgewandert oder glückliche Mitglieder der piccola borghesia geworden. Die grands ensembles von Paris hingegen sind in jeder Hinsicht am Rand der Stadt geblieben: Ihre sozialen Probleme und Spannungen versucht man, insbesondere bei der Cité des 4000, schon seit 1986 durch die Sprengungen einzelner ihrer Blöcke zu lösen. Denkt man so Godards Film weiter, würde Juliette in diesem Prozess, in einer etwas unheimlichen Umwandlung, allmählich die Gesichtszüge von Carla Bruni, der späteren Madame Sarkozy annehmen, deren Gatte 2005 als Innenminister die Einwohner jener banlieue als „racaille“ – als „Gesindel“ apostrophierte. Kein Film mehr, der die grands ensemble zu retten versucht, nur die Realität, die mit sich selbst nicht klarkommt.

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Anmerkungen

pragmatica, a identificare le parole con le cose e le azioni, a riconoscere come ‘lingue per eccellenza‘ le ‘lingue delle infrastrutture‘ ecc. Non si può insomma ignorare il fenomeno di una specie di esautoramento

1

„Pasolini su Pasolini, Conversazione von Jon Halliday“ [1968–1971] in: Pasolini 1999, S. 1307–8, (Hervorhebungen AG)

2

Pfeifer 1904, S. 97

3

Es bleibt das Sprichwort, die „Mutter aller ...“ im Sinne von „dem Besten“, „dem Größten“ etc.

4

Angesichts der Komplexität des „Realitätsbegriffes“, auf den ich hier nicht eingehen kann, verwende ich den Begriff in Anführungszeichen.

5

Siehe Interview mit Stanislaus von Moos: https:// vimeo.com/10746113 sowie zitiert in: Blum 2010, S. xix. Zur Bedeutung der Metaphern für die Architektur siehe Gerber 2012, S. 29–106

6

Vgl. Derrida 1978, sowie Derrida 1972

7

„Da ciò deriva inevitabilmente l’idea – nata per l’appunto dal cinema, ossia dallo studio dei modi che il cinema ha di riprodurre la realtà – che la realtà non sia, infine, che del cinema in natura. Il cinema, ­intendo, non come convenzione stilistica, ossia, ­tendenzialmente come cinema muto, ma il cinema in quanto tecnica audiovisiva. Se dunque la realtà non è che cinema in natura, ne deriva che il primo e principale dei linguaggi umani, può essere considerata l’azione stessa: in quanto rapporto di reciproca rappresentazione con gli altri e con la realtà fisica.“ ­Pasolini, Pier-Paolo: „La lingua scritta della realtà“ [1966], in: Pasolini 1999, S. 1505

8

Deleuze 1991, S. 368

9

„Le mie idee circa il rapporto tra lingua italiana e cinema le ho esposte assai meglio di quanto non potrei fare adesso nei saggi che ho scritto sull’argomento, ma molto semplicemente diciamo questo: in principio, ho creduto che il passaggio dalla letteratura al cinema comportasse un semplice cambiamento di tecnica; e io ho cambiato tecniche abbastanza spesso. Poi man mano, lavorando nel cinema, entrandoci dentro sempre di più, sono arrivato a capire che il cinema non è una tecnica letteraria; è un ­linguaggio a sé stante.“ „Pasolini su Pasolini, ­Conversazione von John Halliday“ [1968–1971], in: Pasolini 1999, S. 1301–2

10 „Non possiamo sfuggire alla violenza esercitata su di noi da una società che, assumendo la tecnica a sua filosofia, tende a divenire sempre più rigidamente

186

della parola, legato al deperimento delle lingue umanistiche delle élites, che sono state, finora, le lingueguida.“ Pasolini, Pier-Paolo: „La lingua scritta della realtà“ [1966], in: Pasolini,1999, S. 1505 11 „Così il cinema mi ha obbligato a restare sempre al ­livello della realtà, ‘dentro‘ la realtà; quando faccio un film sono sempre dentro la realtà, fra gli alberi e fra la gente come me e lei; non c’è fra me e la realtà il filtro del simbolo o della convenzione, come c’è nella letteratura. Quindi in pratica il cinema è stato un’esplosione del mio amore per la realtà.“ „Pasolini su Pasolini: Conversazione von John Halliday“ [1968–1971], in: Pasolini: S. 1302–3. 12 „Pasolini su Pasolini, Conversazione von Jon Halliday“ [1968–1971], in: Pasolini,1999, S. 1308. 13 Vgl. Le Goullon 2014 14 Siehe dazu auch Gerber 2014, S. 110–111 15 Jacobs 2015, S. 24 16 Godard 1971, S. 11–12 17 ORTF, 25 Oktober 1966 18 Godard 1971, S. 14 19 Ebd., S. 12 20 Ebd., S. 15 21 Godard 1971, S. 40 22 Die Entsprechung von Körper und Architektur hat natürlich eine lange Tradition in der Architektur­ theorie, u. a. über den Begriff der „Einfühlung“. Robert Vischer schreibt: „Worauf beruht nun angesichts von festen Formen und abgesehen von ihrer Helligkeit und Farbe die Verschiedenheit der Zuempfindung? Ich glaube, man darf dreist antworten: Auf der Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit des Objektes zunächst mit dem Bau des Auges, weiterhin aber mit dem Bau des ganzen Körpers.“ Vischer 1873, S. 8. Siehe diesbezüglich: Gerber & Joanelly 2017. 23 Godard 1971, S. 97 24 Godard 1971, S. 63

Bibliografie

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187

„Von   heute an werden wir die Kamera befreien und werden sie in entgegengesetzter Richtung, weit entfernt vom Kopieren, arbeiten lassen. Alle Schwächen des menschlichen Auges an den Tag bringen! Wir treten ein für Kinoglaz, das im Chaos der Bewegungen die Resultante für die eigene Bewegung aufspürt, wir treten ein für Kinoglaz mit seiner Dimension von Raum und Zeit, wachsend in seiner Kraft und in seinen Möglichkeiten bis zur Selbst­ behauptung.“ Dziga Vertov

„This Is Some Spooky Shit We Got Here“: Seltsame Topo|Logiken in David Lynchs Lost Highway Bernd Herzogenrath

In David Lynchs Lost Highway (USA 1996) sind Zeit und Raum buchstäblich aus den Fugen geraten – und mit ihnen das Gedächtnis, das als Kitt beides zusammenhält (oder zusammenhalten sollte). Lost Highway ist ein Erinnerungs­ palast, in dem sich das Subjekt – im Film, als auch im Publikum – verläuft, verliert, und wenn es nach langem Irren durch die Korridore wieder an der Orientierungstafel auftaucht und sich an dem roten Punkt (‚Sie befinden sich HIER‘) festhalten will, ist es ein anderes geworden.

Auch in Gilles Deleuzes beiden Kinobüchern Das Bewegungs-Bild und Das Zeit-Bild ist die Zeit nicht (mehr) linear. Seit seinem Beginn hatte der Film eine ganz besondere Beziehung zum Phänomen der Zeit. Der klassische Holly­ wood-Film, den Deleuze der Logik des „Bewegungs-Bildes“ zugehörig erklärt, arbeitete mit einer räumlichen Kontinuität, die der Bewegung der Protago­ nisten folgte. Zeit wurde (und wird) hier räumlich dargestellt: linear, logisch nachvollziehbar – diese Logik des „Bewegungs-Bildes“ entspricht mithin dem, was man in der Filmsprache „continuity-editing“ nennt.1 Deleuze zufolge fiel nach 1945 und angetrieben vom europäischen Nachkriegs­ kino diese filmische Logik zunehmend in eine Krise, mit dem Ergebnis, dass sich Linearität und Kausalität auflösten und die daraus erfolgenden Dis­ kontinuitäten es erlaubten der Zeit selbst, „in reinem Zustand“2 und nicht als ­Derivat des Raumes, als „Zeit-Bild“ auf der Leinwand zu erscheinen. In Henri Bergsons Zeitphilosophie, die Deleuze in seinen Büchern auf den Film bezieht, ist die Gegenwart das zeitliche Aggregat der Materie: Gegenwart wird somit als Aktualisierung, als absolute Identität von Bewegung, Materie und Bild gesetzt. Doch die Gegenwart spaltet sich in jedem Moment in zwei heterogene Richtungen auf, von denen eine in die Zukunft schreitet, und die andere jeden Moment der Vergangenheit aufbewahrt. 190

Abb. 1: Schema aus Deleuze 1991, S. 380

Bergsons Idee einer Vergangenheit, die koextensiv mit der Gegenwart ist, konstituiert eine „ontologische Vergangenheit“, welche die unendlichen virtuellen Potenziale und (noch) nicht aktualisierten Aggregatzustände beinhaltet, ein dynamisches Gedächtnis, das keinem konkreten Subjekt eignet, eher ein „allgemeines Gedächtnis“, das auf das Subjekt trifft, von ihm aber nicht besessen werden kann.3 Während das „Bewegungs-Bild“ das Gegenwärtige fokussiert und so dem Aktuellen zugeordnet werden kann, manifestiert sich im „Zeit-Bild“ (insbesondere in den von Deleuze so genannten „Kristallbildern“) das Virtuelle – „Das Zeitbild ist verschieden von dem, was in der Zeit abläuft – es besteht in neuen Formen der Koexistenz, der Serialisierung, der Transformation.“4 So viel in aller Kürze als Voraussetzung zu Deleuze und Bergson. Deren Konzepte sollen im Folgenden auf die Architektur von Lynchs Film bezogen werden. Obwohl jeder Versuch, Lost Highway „erklären“ zu wollen, unweigerlich in einer Simplifizierung der komplexen Struktur des Films resultiert, muss dazu trotzdem kurz die Handlung des Films skizziert werden: Auf den ersten Blick erzählt Lost Highway die Geschichte von Fred Madison, einem Jazz-Musiker. Seine Frau Renee ist eine seltsam unterkühlte Schönheit. Der erste Teil des Films, die verstörende Studie einer Ehe-Hölle, konzentriert sich auf Freds Ängste und Unsicherheiten, die aus dem Ruder zu laufen drohen, als er argwöhnt, dass Renee ein Doppelleben führt. Renee steht im Zentrum von Freds Paranoia, ist sowohl Objekt der Begierde als auch Auslöser seiner Albträume. Im Verlauf des Films finden beide eine Reihe von Video­ kassetten vor ihrer Haustür, von denen die erste lediglich die Ansicht ihres ­Hauses zeigt. Die zweite zeigt das Paar aus einem nahezu unmöglichen Auf­ nahmewinkel im Ehebett. Das dritte und letzte Video schließlich zeigt Fred schreiend und blutüberströmt über Renees zerstückelten Leichnam gebeugt. 191

Urplötzlich findet sich Fred des Mordes angeklagt und zum Tode durch den elektrischen Stuhl verurteilt, obwohl er sich an nichts erinnern zu können scheint. In seiner Todeszelle wird Fred immer wieder von heftigen Kopfschmerzen und Halluzinationen übermannt. In diesem Moment „verwandelt“ sich Fred in Pete Dayton, einen jungen Automechaniker, der wegen Autodiebstahls im Gefängnis sitzt. Pete lebt mit seinen Eltern in einer für Lynch typischen Vorstadt, einer fast identischen Kopie des Ortes Lumberton aus Lynchs früherem Film Blue Velvet. Petes Leben ist überschattet von seiner Verbindung zum ortsansässigen Unterweltsboss, Mr. Eddy. Irgendwann trifft er auf Alice Wakefield, Mr. Eddys Geliebte. Unversehens findet sich Pete, obwohl er selbst eine Freundin namens Sheila hat, in einer heißen Affäre mit Alice wieder, die Renee aus dem ersten Teil des Films bis aufs Haar gleicht (wer wäre hier nicht an Hitchcock’s Vertigo und dessen verdoppelter weiblicher Hauptfigur erinnert). Wie Renee, so führt auch Alice zwei Leben: Mit mehr als nur einem Fuß in der Porno-Unterwelt verhaftet, verführt sie Pete, in klassischer Film-Noir-Femme-Fatale-Manier, Verrat und Mord zu begehen, bis sich am Ende in einer seltsamen Begegnung in einer Hütte in der Wüste der Kreis wieder schließt: Pete verschwindet spurlos, Fred erscheint. Selbst diese bloße Nacherzählung, macht bereits klar, dass die Architektur des Filmes alles andere als eine einfache ist. Dieser angemessen, können deren Themen denn auch nur über verschiedene Umwege – asymptotisch – eingekreist werden.

UMWEG 1: Über „Suture“/Suture Das Rätsel, das Lost Highway anhaftet, konfrontiert uns mit der Frage: Was tun wir, wenn wir einen Film sehen? Wie lesen wir Filme? Bildet die Rea­l ität auf der Leinwand eine äußere Realität ab, oder geht es da um etwas ­a nderes? Letzten Endes dreht sich alles um die grundlegende Frage, ob ein Film notwendigerweise ein Film über etwas sein, von etwas handeln, etwas ab­bilden muss. Lynch selbst hat vor dem Versuch eindeutiger Interpretationen ­gewarnt, 192

auch und gerade angesichts der Frage nach der „versteckten Botschaft“ oder Bedeutung von Lost Highway: „[…] the beauty of a film that is more abstract is everybody has a different take. […] When you are spoon-fed a film, people instantly know what it is […] I love things that leave room to dream […].“5 Lynch bleibt vage in Bezug auf die Frage nach der „Bedeutung“, betont den Film vielmehr als eigenständige Kunstform. In diesem Zusammen­hang mag es auch nicht unwichtig sein, dass Lynch ausgebildeter Maler ist. Entsprechend zeichnen sich seine Filme durch die Betonung des Visuellen aus, zuweilen sogar, wie ihm manche Kritiker vorwerfen, auf Kosten von Charakterzeichnung und Handlungslogik. Solche Kritik ignoriert jedoch Lynchs malerischen, ikonografischen und selbstreferenziellen Gebrauch von Motiven in seinen Filmen. Das immer wiederkehrende Motiv des Samtvorhangs, zum Beispiel, suggeriert sowohl Oberfläche als auch ein Dahinter, etwas, das der Vorhang verbirgt. Der Vorhang weckt somit die Vorahnung einer Enthüllung, stellt aber nicht notwendigerweise „Bedeutung“ her. Gerade weil Lynch die malerischen, nicht-narrativen Aspekte des Films betont, der eben nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern sich in Form eines Medium entfaltet, das vor allem gesehen werden will, muss neben der Lesart des Film-­Textes immer auch eine stärker visuell ausgerichtete Annäherung erfolgen. Dabei spielen neben Farbe, Kamerawinkel etc. hier insbesondere auch Fragen der Struktur und Architektur eine besondere Rolle. Was tun wir, wenn wir einen Film sehen? – So lautete die Ausgangsfrage und soll neu umformuliert werden: Wie lassen sich die Zuschauer in ihrer Beziehung zum Film verorten? Im Normalfall identifizieren sich die Zuschauer mit der Hauptfigur im Film – wobei es sich letzten Endes um eine Identifizierung mit einer bestimmten Kameraperspektive handelt. Die Zuschauer nehmen daher die Position eines Voyeurs ein, wie dies in sehr vielen Filmen thematisiert worden ist, etwa in Alfred Hitchcocks Psycho, Michael Powells Peeping Tom, John Carpenters Halloween, aber auch und vor allem in Lynchs Blue ­Velvet. Die Filmtheorie bezeichnet die Beziehung zwischen der Zuschauerperspektive und der filmischen Erzählung mit dem Begriff „Suture“.6 Dabei ist „Suture“ eigentlich ein medizinischer Begriff, der „Naht“ bedeutet und sich auf das Vernähen einer Wunde bezieht. 193

Bei dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan bezieht sich der Begriff der „Suture“ auf die Vernähung der Register des Symbolischen und des Imaginären,7 das heißt , vereinfacht gesprochen, der Worte und der Bilder, die letzten Endes das konstituieren, was wir „Realität“ nennen. Dies aber geschieht auf Kosten eines „Realen“, des Bereichs der „Dinge an sich“ und des Unbewussten, die durch diese Vernähung den strukturellen Platz eines „inneren Ausschlusses“ einnehmen. Diese „Suture“, diese Vernähung ermöglicht, dass das Subjekt seinen Status als Subjekt behält, dass es nicht dem Wahnsinn und der Psychose verfällt. Die Art und Weise der Identifizierung des Subjekts mit dem Film hängt mithin ganz fundamental von dieser Architektur des Imaginären (vereinfacht: den Bildern) und des Symbolischen (vereinfacht: der Erzählung) im Film selbst ab. Normalerweise, das heißt in den meisten Hollywood-Filmen, ist diese Verknüpfung logisch und ausgewogen: Die Bilder laufen parallel zur Narration ab, in einem gegenseitigen und fortlaufenden Kommentar – das „Bewegungs-Bild“ in Reinkultur. Ein schönes Beispiel, wie „Suture“ als – hier im wörtlichen Sinn – „Vernähung“ funktioniert, bietet John Woos Film Face/Off (1997): Die „Suture“, die den Film zusammenhält, ist wortwörtlich die Naht, die Nicolas Cages Gesicht auf John Travoltas Schädel vernäht (und umgekehrt) – der Film entfaltet seine Wirkung nur dann, wenn die Zuschauer dies akzeptieren – und diese „Naht“ oder „Narbe“ dann vergessen. Wenn die „Suture“ denn letztlich die Zuschauer erfolgreich in den Film „einvernäht“, indem die visuellen/akustischen Re­ präsentationsmittel einen Raum verfugen, der die Handlung des Films be­ heimatet, dann resultiert folgerichtig aus dem „Auseinanderreißen“ dieser Naht eine Problematisierung, wenn nicht gar Unterminierung von Identifi­ kation. Ein Film von Scott McGehee und David Siegel aus dem Jahre 1993 gibt hier ein gutes Beispiel. „Unsere Ähnlichkeit ist verblüffend“, sagt Vincent zu seinem Zwillingsbruder Clay. Auf der Repräsentationsebene werden die ­Zuschauer konstant in einem Prozess des De-Suturing gehalten (also einer ­Verweigerung von „Suture“), da der Filmdialog ständig die Ähnlichkeit der beiden Brüder betont. Die beiden könnten sich jedoch nicht unähnlicher sein: Vincent ist weiß, während Clay ein Afro-Amerikaner ist. Diese perverse L ­ ogik 194

wird konsequenterweise durch den Titel des Films noch verstärkt: Der Film heißt Suture, verweigert aber letztendlich den beruhigenden, Sicherheit schaffenden Prozess der „Suture“, und die damit einhergehende stabile Verräumlichung der sowohl extradiegetischen als auch der intradiegetischen Realität. Wenn die „Suture“ als ein unverzichtbares Mittel in der Konstituierung von Deleuzes „Bewegungs-Bild“ angesehen werden darf, dann gehört das De-­ Suturing, das Auftrennen der Naht oder Fuge, zum „Zeit-Bild“. In seiner Betonung von Inkommensurabilitäten funktioniert Lost Highway ähnlich dem „Zeit-Bild“ in Bezug auf die Fragen von Identität und Identifi­ zierung. Um diesen Fragen nahezukommen, soll im Folgenden auf einige ­Aspekte des Films eingegangen werden, die für den Zugang des Films von ­besonderer Wichtigkeit sind. Zum Ersten wäre da die Struktur des Films. Nach dem Vorspann – passend untermalt von David Bowies Song „I’m De­ ranged“ (gewissermaßen tonangebend für den gesamten Film) – beginnt die erste Szene damit, dass Fred Madison alleine rauchend vor einem Fenster sitzt. Man sieht ihn als reflektiertes Bild (bereits hier: Spiegelung, Doppelung), als plötzlich eine Nachricht aus der Gegensprechanlage ertönt: „Dick Laurent is dead!“ Fred weiß – noch (?) – nicht, wer dieser mysteriöse Dick Laurent ist (oder war?), noch weiß er, wer die Nachricht übermittelt hat. Genauso geht es auch den Zuschauern. Kurz vor Ende des Films werden wir Zeuge der Szene, in der Pete nun seinerseits die mysteriöse Botschaft durch eben diese Gegensprechanlage übermittelt. Viele frühe Filmkritiken von Lost Highway haben diese seltsame Struktur nicht wirklich angesprochen und stattdessen versucht, den Film als eine lineare Geschichte nachzuerzählen. Selbst Kritiker, die diese seltsame Struktur aufmerken ließ, haben nicht wirklich erkannt, was hier passiert, so etwa wenn Reni Celeste festhält: „ […] when Fred returns to his home to deliver the message that will set the whole narrative in motion again, a new element has entered the script that was not there the first time around in the form of the cop cars waiting outside the home. This illustrates well that repetition is never identical, and that at the core of sameness is difference.“8 Demgegenüber wäre die Anfangsszene noch einmal genau anzuschauen – oder besser noch: anzuhören. Gleich nach der Nachricht „Dick Laurent is 195

dead!“ hört man Sirenen und einen Wagen, der mit quietschenden Reifen davonfährt – tatsächlich hören wir hier die gleichen Sirenen und quietschenden Reifen wie am Ende des Films. Zwar hat Reni Celeste recht – Wiederholung ist niemals identisch mit dem, was sie wiederholt –, nur ist das neue Element nicht der Polizeiwagen, sondern die Position von Fred! Es ist jedoch nicht so einfach, dass Fred nur die Position des Empfängers mit der eines Senders vertauscht hätte: Fred ist sowohl Sender als auch Empfänger, und das zur selben Zeit und im selben Raum. Um diesem Rätsel beizukommen, bedarf es einer anderen Topologie, einer Topologie, die eine andere Zeit und einen anderen Raum zulässt, als es der euklidische Raum und die lineare Zeitauffassung erlauben. Eine topologische Figur, die dies ermöglicht, ist das Möbiusband, und sowohl Lynch als auch sein Ko-Autor Barry Gifford haben diese Figur mehrfach in Interviews erwähnt.9 Was also ist ein Möbiusband?

UMWEG 2: Wie man ein Möbiusband bastelt 1. Man nehme einen Papierstreifen. 2. Vergewissern Sie sich, dass dieser Streifen zwei Seiten hat (Vorder- und Rückseite). 3. Nehmen Sie ein Ende des Streifens, machen Sie eine 180-Grad-Drehung damit, und führen Sie beide Enden zusammen. 4. Kleben – oder noch besser, weil es hier auch um „Suture“ geht – nähen Sie die beiden Enden zusammen. 5. Nun halten Sie statt einer zweiseitigen eine einseitige Figur in Händen. Das Möbiusband unterläuft die „geläufige“, das heißt euklidische Raum-Zeit-­ Organisation. Scheinbar zweiseitig, aber in der Tat nur einseitig, können an jedem lokalen Punkt beide Seiten voneinander unterschieden werden – betrachtet man jedoch den Streifen als Ganzes, indem man an ihm entlangfährt, so wird man gewahr, dass die beiden Seiten ein Kontinuum bilden. Binäre Oppositionen wie Innen/Außen; Vorher/Nachher; Fred/Pete; Renee/Alice; Dick Laurent/Mr. Eddy etc. existieren hier nicht. 196

Abb. 2: Möbiusband

Diese topologische Figur kommt Lynchs Stil sehr zupass, situieren sich seine Filme doch an dem Punkt, wo „violence meets tenderness, waking meets dream, blond meets brunette, lipstick meets blood, where something very sweet and innocuous becomes something very sick and degrading, at the very border where opposites becomes both discrete and indistinguishable“.10 In Lost Highway ist das Zusammenlaufen von Gegensätzen entscheidend, und die Problematisierung der Opposition Innen/Außen ist von äußerster Bedeutung. Tatsächlich ist dies auch ein wichtiger Faktor in Lynchs Gesamtwerk – man denke nur an die Szene in Blue Velvet, in der die Kamera in das von ­Jeffrey gefundene, abgetrennte Ohr einzutauchen scheint, um einerseits in Lumberton wieder aufzutauchen, andererseits, um am Ende des Films aus Jeffreys Ohr wieder herauszufahren. In Lost Highway wird die Frage nach dem Innen und dem Außen und ihrer Vermischung wiederholt gestellt. Dies geht sogar so weit, dass die filmische Realität – das, was wir auf der Leinwand sehen – aus Bausteinen und Versatzstücken anderer Filme zusammengesetzt wirkt: Lynch benutzt verschiedene Genres und Klassiker Hollywoods (etwa Hitchcocks Vertigo als wichtigen Subtext) wie eine Art Steinbruch. Darüber hinaus schlachtet Lynch aber auch geradezu gewaltsam seinen eigenen Bilder­ fundus aus, fast jede Einstellung birgt den Schock des Wiedererkennens – so kann Bill Pullman durchaus als eine in die Jahre gekommene Version des früheren Lynch Alter Egos Kyle MacLachlan aus Blue Velvet gelten. Manch e ­ iner 197

mag dies als ewiges Selbstzitat und reine Wiederholung abtun, doch eine Sprache – auch und gerade eine Filmsprache – wird erst durch Wiederholung und Wiederholbarkeit zu einer Sprache. Ein weiteres Beispiel für die Vermischung von Innen und Außen bietet die Szene, in der Fred bei einer Party auf den geheimnisvollen Mystery Man trifft. Der Mystery Man – der behauptet, zugleich an der Party und bei Fred zu Hause zu sein, befindet sich gleichzeitig hier und dort, sowohl innen wie außen. Er selber kann daher geradezu als Ort gelesen werden, an dem die Gegensätze ineinander übergehen, er ist sozusagen der Schnitt/die Drehung/die Fuge im Möbiusband. Wir haben gesehen, dass die gleichseitige Vernähung (von Wort und Bild) und der Ausschluss des Realen (des Unbewussten) die Realität für das Subjekt als kohärente Illusion konstituiert und dadurch verhindert, dass das Subjekt psychotisch wird. Demgegenüber steht der Mystery Man für die Auflösung der Kohärenz. Kein Wunder, dass der Mystery Man immer dann auftaucht, wenn sich ein Persönlichkeitswechsel ankündigt. Das Möbiusband behandelt also diese binären Gegensätze nicht als solche – als Gegensätze nämlich –, sondern als Phasen oder Punkte des Übergangs. Anders als der traditionelle Hollywood-Film, in dem sich die Erzählung meist ­l inear vorwärtsschreitend entfaltet (Flashbacks oder Film-im-Film-Strukturen seien dahingestellt) präsentiert uns Lost Highway mit einer multiplen Erzählung. Umso mehr, als beide Handlungsstränge – Freds Geschichte und Petes Geschichte – keineswegs durch bloße Prequel/Sequel-Struktur und/oder Auflösung aufeinander bezogen sind. Und obwohl es definitive Ankerpunkte gibt, die die beiden Handlungsstränge miteinander verbinden: Der eine geht nicht ohne Rest im anderen auf. Was also ist die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Aktuellem und Virtuellem, Wahrnehmung und Gedächtnis in Lost Highway? Die Gegenwart vergeht, doch die Vergangenheit nicht – sie ist kein Abspulen von verglühenden Momenten, sie wächst an, dehnt sich aus. Bergson findet hierfür das Bild des Kegels: An dessen Spitze steht das aktuell und gegenwärtig wahrnehmende (und diesbezüglich handelnde) Subjekt (ohne Gedächtnis). Je mehr das Subjekt in Richtung Basis des Kegels taucht, umso „traumhafter“ wird es, und umso tiefer fällt es in den Bereich des Virtuellen und der 198

Abb. 3: Schema aus Deleuze 1991, S. 379

­Erinnerung. Das Subjekt ist somit (in der) Zeit: „Zeit ist […] die Innerlichkeit, in der wir sind und leben, in der wir uns bewegen und uns verändern.“11 Lynch übersetzt nun Bergsons Figur des Kegels in die Topologie des Möbiusbandes. Die aktuell-gegenwärtige Wahrnehmung (die als Realität bezeichnete aktualisierte Version der ontologischen Vergangenheit, die als Gedächtnis dann zur unmittelbaren Vergangenheit wird) faltet sich in eine „Gegen-Aktualisierung“12, in eine andere Version der ontologischen Vergangenheit, die nicht aktualisiert wurde: „I like to remember things my own way […] How I remembered them. Not necessarily the way they happened.“ (Fred Madison in Lost Highway). Solche Gegen-Aktualisierungen wurzeln im Virtuellen, nicht in der individuellen Erinnerung, und hier macht Lynchs möbiale Architektur des Innen und Außen besonderen Sinn: Sie verfugt auf ver|rückte Weise individuelles Gedächtnis (Innen) und ontologische Vergangenheit (Außen): „Das Gedächtnis ist nicht in uns, wir sind es, die wir uns in einem Seins-Gedächtnis, 199

in einem Welt-Gedächtnis bewegen.“13 In Lynchs ein-seitiger Topologie laufen sowohl Aktualisierung als auch Gegen-Aktualisierung durch das Feld des Virtuellen – es ist die Drehung im Möbiusband, der Ort der Fuge|Falte. Beide „Erinnerungen“ laufen parallel und Rücken an Rücken, jedoch ohne das Versprechen einer gegenseitigen (oder gar einseitigen) Auflösung des Geschehens: Keine Erinnerung ist „realer“ als die andere und könnte somit als Referenzpunkt dienen – vielmehr ist es gerade die Koexistenz der Gegensätze, die laut Deleuze das Feld des Virtuellen konstituiert.14 Die Architektur des Möbiusbandes weist sowohl eine räumliche, als auch eine zeitliche Dimension auf – man könnte sogar behaupten, sie übersetzt eine räumliche Dynamik in einen zeitlichen Prozess (und umgekehrt). Was im räumlichen Register als Koexistenz der Gegensätze, als Simultaneität zweier Seiten erscheint, funktioniert aus zeitlicher Perspektive als Sequenz, sozusagen als Sukzession zweier Narrative, sodass das eine Narrativ (die eine Seite des Bandes), das eigentlich parallel und gleichzeitig mit dem zum anderen Narrativ (der anderen Seite des Bandes) abläuft, aufgrund der speziellen Architektur des Möbiusbandes erst beim zweiten Durchlauf auf das andere folgt.15 Lynch spielt diese Differenz und Duplizität der spatio-temporalen Register (und von Sequenz und Simultaneität, Kontinuität und falscher Kontinuität, und mithin auch von „Bewegungs-Bild“ und „Zeit-Bild“) auf seine eigene, idiosynkratische Fusion dieser beiden Register aus. Die Architektur der falschen Kontinuitäten und irrationalen Schnitte ent|bindet die sorgfältig verfugte und logisch-lineare Kontinuität des „Bewegungs-Bildes“, sodass, Lynch zufolge, manche Zuschauer Probleme haben werden, dem Narrativ zu folgen – „For those people, the intellect has blocked the little area between nerves, the synapse. And the spark does not jump across.“16 Um diesen von Lynch erwähnten „Funken“ dennoch überspringen zu lassen, nutzt Lynch die bekannten Strategien des „Bewegungs-Bildes“ (Montage, Schuss/Gegenschuss, Genre-­ Strukturen etc.) und dekonstruiert sie gleichsam, indem er sie in den Dienst des „Zeit-Bildes“ stellt17 und sie mit spezifischen Strategien des „Zeit-Bildes“ (akustische und optische Situationen, Durchbrüche in reine Lichtsituationen etc.) verbindet (vgl. die „illuminierte“ Liebesszene zwischen Pete und Alice in der Wüste). 200

Des Weiteren fügt Lynch einige strukturelle „Verbindungswege“ oder „Abkürzungen“ in den Film ein, die quasi die Oberfläche des Möbiusbandes durchstoßen: Im Zusammenhang mit jener mysteriösen Nacht, auf die im Film des Öfteren hingewiesen wird, gibt es zwei Szenen, die wiederholt auftauchen: Fred, in einem dunklen Korridor (während man Renee seinen Namen rufen hört) sowie Pete vor dem Haus seiner Eltern (und hier ist es seine Freundin Sheila, die ihn ruft). Diese beiden Szenen bilden eine Art „Wurmloch“18, welches die verschiedenen (aktuellen und virtuellen) Ebenen des Films durchquert, sodass der Effekt entsteht, dass Fred in Petes Welt „hinübergeht“ (und umgekehrt). Und was passiert mit Fred am Schluss des Films? Die letzte Einstellung zeigt Fred wieder im Prozess der Transformation. Lynch hat fast dieselbe Szene in seinem Film The Elephant Man benutzt, wo sie den Effekt einer traumatischen Erfahrung auf die Geburt eines „neuen Subjekts“ zeigen sollte. Was mag das Ergebnis von Freds neuerlicher Transformation sein? Eine gänzlich neue, andere Persönlichkeit? Oder wird er sich wieder in Pete zurückverwandeln und der Erzählung damit eine weitere zeitliche Drehung hinzufügen? Wir erinnern uns, dass Pete schon einmal im Gefängnis saß, nicht wegen Mordes, sondern wegen Autodiebstahls. Was die Polizisten in dem Wagen, den sie verfolgen, finden werden, wird dann Pete sein, in eben einem gestohlenen Auto, nur dass sich Pete nun, da die Polizei seine Fingerabdrücke überall in der Wohnung des ermordeten Andy findet, wegen Mordes zu verantworten haben wird. Wie auch immer dem sei – erklärt dies alles? Verstehen wir nun? Im US Remake des Thrillers Nightwatch philosophiert der ehemalige (und immer noch aktuelle) Serienkiller, der sein Brot nun als Polizeikommissar verdient: „Erklärungen sind nur eine Erfindung, damit wir uns sicher fühlen. Ohne Erklärungen bekommen wir Angst vor einem völlig sinnlosen Chaos, das jeden von uns jederzeit treffen kann. Was ja auch der Fall ist.“ Lost Highway ist somit als ein Film zu verstehen, der sich eben nicht erschließt, der „keinen Sinn macht“ (wobei die lineare „Sinnsuche“ hier auch vielleicht die falsche Strategie ist), oder aber der Film vermittelt uns profunde Einsichten in die raumzeitliche Architektur von Realität, Begehren und Gedächtnis, 201

Abb. 4: Das „Wurmloch“ zwischen Fred und Pete, Screenshot aus Lost Highway (USA 1996)

sodass es keine einzige Wahrheit oder Erklärung des Filmes geben kann: Wenn Alice Pete in der Wüste die Worte „You’ll never have me“ ins Ohr flüstert, so ist dies auch an uns, die Zuschauer von Lost Highway, gerichtet. So löst Lynch in Lost Highway meisterhaft die „Suture“-Nähte des klassischen Hollywood „Bewegungs-Bildes“ auf und ersetzt sie durch eine möbiale Verschaltung von Zeit, Raum, und Gedächtnis – Lynchs „Kunst der Fuge“.19

202

Anmerkungen

Bibliografie

1

Bergson, Henri: „Die Erinnerung des Gegenwärtigen

Zum Prinzip des „continuity editing“ siehe Bordwell, Thompson 1990, S. 218–230

und das falsche  Wiedererinnern“, in: Die seelische

2

Deleuze 1991, S. 112

Energie. Aufsätze und Vorträge.  Übers. v. Eugen

3

Vgl. Bergson 1928

4

Deleuze 1993b, S. 178

5

Szebin und Biodrowski 1997

6

Vgl. Dayan 1974, Heath 1978, Oudart 1978

7

Vgl. Miller 1966

Brick Road“, in Cineaction 43 (Summer 1997).

8

Celeste 1997

http://www.thecityofabsurdity.com/papers/ce-

9

Vgl. Giffort 1997, und Official press Kit

10 Celeste 1997 11 Deleuze 1991, S. 113 12 Deleuze 1993a, S. 189. In der deutschen Über­

Lerch. Jena 1928, S. 98–136 Bordwell, David; Thompson, Kristin: Film Art. An Intro­ duction. New York 1990 Celeste, Reni: „Lost Highway: Unveiling Cinema’s Yellow

leste8.html (letzter Zugriff 12.03.2017) Dayan, Daniel: „The Tutor-Code of Classical Cinema“, in Film Quarterly 23:1 (1974), S. 22–31 Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt a. M. 1991

setzung von Logique du sens wird der Begriff

Deleuze, Gilles: Logik des Sinns. Frankfurt a. M. 1993a

„­contre-effectuation“ mit „Gegen-Verwirklichung“

Deleuze, Gilles: Unterhandlungen 1972–1990. Frankfurt

übersetzt – ich benutze stattdessen den Begriff „­Gegen-Aktualisierung“, weil die Bezugnahme auf das Begriffspaar „aktuell|virtuell“ so deutlicher ­hervortritt. 13 Deleuze 1991, S. 132 14 Siehe z. B. Deleuze 1991, S. 19 15 Lynch illustriert diese Duplizität in einem Bild, das des Öfteren in Lost Highway zu sehen ist – der Straßenmittelstreifen: einmal als zwei parallele ­Linien (Simultaneität), einmal als durchbrochene ­Linie (Sukzession). Man beachte, dass hier der ­Mittelstreifen fast wie eine Naht aussieht – ein ­Hinweis auf die Funktion der Suture? 16 Kermode 1997 17 Vgl. Neofetou 2012

a. M. 1993b Gifford, Barry: „Lost Highway Interview“, in Film Threat (Februar 1997) http://www.lynchnet.com/lh/lhgifford.html (letzter Zugriff 12.03.2017) Heath, Stephen: „Notes on suture“, in Screen 18:4 (1978), S. 48–76 Hofstadter, Douglas: Gödel, Escher, Bach. An Eternal ­Golden Braid. New York 1979 Kermode, Mark: „Weirdo,“ in: Q Magazine (September 1997), http://www.thecityofabsurdity.com/losthighway/intlhqmag.html (letzter Zugriff 12.03.2017) Miller, Jacques-Alain: „Suture. Elements pour une logique du signifiant“, in: Cahiers pour l’analyse 1 (1966), S. 37–49 Morris, Michael; Thorne, Kip; Yurtsever, Ulvi: „Worm­

18 Vgl. Morris e. a. 1988

holes, Time Machines, and the Weak Energy Condi-

19 Douglas Hofstadter geht in Gödel, Escher, Bach

tion“, in: Physical Review Letters 61 (13) (1988),

auch auf die Fugen Johann Sebastian Bachs ein, die zu ihrer Zeit berühmt-berüchtigt waren. Wie Lynchs Filme hielten manche Zeitgenossen sie für Meisterwerke, andere wiederum taten sie als pompös und konfus ab. Für Hofstadter sind Bachs Fugen besonders wichtig aufgrund ihrer Struktur, jener Struktur, die Hofstadter als selbstbezügliche und „seltsame Schleifen“ bezeichnet. Ein besonders

S. 1446–1449 Neofetou, Daniel: Good Day Today. David Lynch Destabi­ lises The Spectator. Winchester & Washington 2012 Official Press Kit für Lost Highway http://www.lynchnet. com/lh/lhpress.html (letzter Zugriff 12.03.2017). Oudart, Jean-Pierre: „Cinema and suture“, in Screen 18:4 (1978), S. 35–47 Szebin, Frederick; Biodrowski, Steve: „A surreal medita-

herausragendes Exemplar solcher Schleifen ist –

tion on love, jealousy, identity and reality“, in Cine­

das Möbiusband. Vgl. Hofstadter 1979

fantastique (April 1997) http://www.lynchnet.com/ lh/cinelh.html (letzter Zugriff 12.03.2017)

203

„Mit   einem Stereokopfhörer hört man in einen akustischen Raum hinein, in dem man sich selbst nicht befindet und der nirgendwo existiert außer in den Ohren. In gleicher Weise schauen wir in den Film hinein. Das Bild steht über den dunklen Rahmen der Leinwand über und setzt sich im Unsichtbaren fort. […] Wir setzen das Nötige, was an den Bildern, am Spiel, am Sichtbaren fehlt, hinzu – unsere ­Aufregung, unseren Weitblick, unsere Hoffnung und unsere Beteiligung.“ Hartmut Bitomsky

Stereovision. Raumformen des 3-D-Kinos von Sergej Eisenstein bis Jean-Luc Godard Matthias Wittmann

Ein Spinngewebe mit einer gigantischen Spinne hängt irgendwo zwischen Leinwand und Zuschauer … Sergej Eisenstein, Über den Raumfilm (1947)

New Early Cinema Die Stereovision ist zuallererst eine Division. Aufnahmetechnisch zerteilt sie den Standpunkt, von dem aus gesehen wird, in die zwei unterschiedlichen Perspektiven der beiden Objektive der Stereokammer und eröffnet so ein divergentes und diskretes Wissen vom Gegenstand. Als Di-Vision ist die Stereo­ skopie eine hochgradig diskursive Technik: Es geht um ein Hin- und Her­laufen (dis-currere)1 zwischen zunächst auseinanderlaufenden, im Idealfall wieder zusammenlaufenden Halbbildern, die zu einem dritten Bild fusionieren sollen. In Jean-Luc Godards Adieu au langage (2014) findet sich eine Sequenz, die dem zuschauerseitigen Wahrnehmungsbewusstsein genau dies verweigert. „Le difficile c’est de faire rentrer le plat dans la profondeur / Die Schwierigkeit besteht darin, die Fläche in den Raum wieder eintreten zu lassen“, sagt ­Godard, sehr frei nach Louis-Ferdinand Céline, in seinem Film. Dementsprechend treiben Godard und sein Stereograf, der Kameramann Fabrice Aragnos, die Stereobasis der Objektive und somit die Parallaxe2 der Halbbilder derart auf die Spitze, dass sie im Kopf des Publikums nicht mehr zu einem dritten Bild fusionieren können. Während Mann und Frau im Bild auseinandergehen, gehen auch die Objektive und Perspektiven eigene Wege. Sie beginnen zu streiten. Aus Vision wird Division. Die Tiefenillusion bricht zusammen und löst sich in ein fröhlich-flächig-flackerndes Übereinander, Nebeneinander 206

und Ineinander auf. Der Kopf schmerzt, weil die Augen schielen müssen. Die Stereoskopage der Psyche, wie sie Godard vornimmt, ergibt ein bis zum Zerreißen gespanntes, zwischen Innen und Außen aufgespanntes, eben nicht mehr „rein mentales“ Bild. Die Folge ist eine Friktion von menschlichen und nicht-menschlichen Anteilen an der Wahrnehmung. Im Gewirr des flickernden Doppelbildes als Folge dieses mismatch müssen sich die Betrachter für ein Bild entscheiden: „Il faut fermer un œil. Quand c’est trouble, tu fermes un œil. / Man muss ein Auge schließen. Wenn Gefahr droht, schließt du das Auge.“3 Das stereoskopische digitale 3-D (D3D) bedeutet für Godard nicht nur ein neues Labor ohne Regeln – „La technique est au tout début, comme un enfant, il n’y a pas de règle! / Die Technik ist noch ganz am Anfang, wie ein Kind, es gibt keine Regeln“4–, sondern auch die Möglichkeit, ein new early cinema zu verwirklichen. Während Martin Scorsese und seine Stereografen in Hugo Cabret (2011) die Frühfilmgeschichte wiederbeleben, indem sie die dort angelegten kulissenhaften Staffelungs- und Schichtungsprinzipien mit den Mitteln der D3D-Technik weiter ausfalten, versucht Godard, aus den etablierten Codes der Raumkonstruktion – vor allem den wohldefinierten Komfortzonen – auszubrechen und die Regellosigkeit der frühen Kinematografie mithilfe der Stereografie wiederzubeleben. Il n’y a pas de règle!

Der hergestellte Raum Es war Noël Burch, der in Life to those Shadows (1990) aufgezeigt hat, dass die haptic spaces des frühen Films trotz monokularen Kamerablickfelds keineswegs kohärent waren, sondern eher mittelalterlichen Raumvorstellungen ­g lichen als den homogenen, zentralperspektivisch codierten Renaissance­ räumen.5 Es wimmelte von Details und Inkohärenzen. Insbesondere Georges Méliès ließ nichts unversucht, um die Illusion räumlicher Kohärenz durch Hybridformen zwischen Fläche und Raum, durch Kompositbilder zu stören, welche die Codes der prospettiva legittima zwar teilweise berücksichtigten, hierbei jedoch weiterhin mit dem Kontrast zwischen dreidimensionalen Objekten und gemalten Erweiterungen operierten. Im Kontrast dazu standen die 207

Tiefeninszenierungen der Brüder Lumière, die sich stärker den Repräsentationsformen der Renaissance verpflichtet sahen.6 Entscheidend ist, dass die zentralperspektivisch codierte Raumillusion vom monokularen Objektiv der Kamera und den Effekten der Projektion keineswegs „automatisch“ produziert wurde, wie oftmals angenommen wird, sondern dass das Publikum erst allmählich, mit Kalkül und Anstrengung daran gewöhnt werden musste, dort Tiefe und Homogenität zu sehen, wo in die Tiefe gestaffelte Flächen und hete­ rogene Ensembles waren. Zu den Mitteln der allmählichen Konstruktion eines homogenen Raumes wurden Schwenks, Kamerafahrten und Außenaufnahmen, Chiaroscuro-Effekte (welche die Figur-Grund-Relationen betonten), Schärfeund Unschärfezonen, Farbdramaturgien, Verfolgungsjagden in die Tiefe des Raums oder aus dieser heraus. So wurden auch Raucheffekte benutzt, um kon­t inuierliche Übergänge zwischen den Ebenen zu schaffen und Kohärenz ins heterogene Bild einzutragen – ein Trick, der sich auch in der Geschichte des 3-D-Kinos findet, etwa, wenn Schneegestöber scheinbare Kohärenz zwischen den Bildebenen herstellen und darüber hinaus den Kinoraum vor der Leinwand mit einbeziehen soll. In ähnlicher Weise wie Burch für den frühen Film hat Sean Cubitt in Making Space für die aktuelle Blockbuster- und Screenculture aufgezeigt, welcher Kalkulationen und Strategien es bedarf, um das Publikum in einen homogenen, kohärenten Raumeindruck einzubilden, die schismatischen Qualitäten des Raums zu glätten und insbesondere für das 3-D-Kino eine Komfortzone zu definieren: „In Avatar, the layers, intended to stack up as a believable world, introduce schisms between foregrounds and backgrounds. Avatar handles this by training viewers to watch ‚correctly‘.“7 – Nur wenige Filme nutzen die Möglichkeit, einen Dialog zwischen gestaffelten, voneinander ­separierten Bild­ebenen aufzubauen und aus der Dramaturgie im Raum, gleichsam zwischen den Schichten, eine Dramaturgie in der Zeit zu machen. Tendenziell wird a ­ lles getan, um die Risse im Raum zu verfugen: mittels arithmetischer Strukturen und geometrischer Hilfsmittel, Raster- und Vektorgrafiken, Zu­ sammen­setzung hintereinanderliegender Schichten (layer compositing) und Farbkorrektur (color grading), mit Fokusebenen (focal planes) und Vernebe­ lungen, virtuellem Licht (global light) und Schattierung (­shading). Es bedarf 208

folglich eines erheblichen technischen Aufwandes, die Fläche – als Konstituens des Raums – vergessen zu machen.

Glas. Splitter Wenn also Hugo Münsterberg in seiner frühen Kinoschrift The Photoplay. A Psychological Study (1916) von den Raum-einbildenden Kräften des Kinos schwärmt, dann sind diese Effekte dem Medium keineswegs selbstverständlich inhärent, im Sinne einer von Anfang an mitgegebenen Eigenschaft, sondern Produkt einer Geschichte der allmählichen Vertiefung des Raums, die bei den Brüdern Lumière beginnen könnte und in Méliès einen Gegenspieler hat. Es ist bemerkenswert, dass Münsterberg die Illusionierung räumlicher Tiefe – neben dem Bewegungseindruck – zu den zentralsten, ja aufdringlichsten Einbildungsgrößen des Kinos zählt und damit Godard in seinem anarchischen Vergnügen, genau diesen Aspekt aus dem Kino wieder zu vertreiben, ein Motiv gegeben haben wird. Im Zuge seiner Beschäftigung mit dem „psychische[n] Erscheinungsbild des gesamten Lichtspiels [the mental make-up of the whole photoplay]“8 und seinen rekursiven Effekten, der funktionalen Ausdifferenzierung der Psyche in der Erfahrung des Films, nimmt Münsterberg auch Bezug auf das anaglyphe 3-D-Verfahren.9 Er zieht diese Technik zwar heran, um aufzuzeigen, dass wir bei der stereoskopisch induzierten Raumillusion genauso zwischen „Objekt unseres Wissens“ (Fakt) und „Objekt unseres Eindrucks“ (Symbol)10 unterscheiden müssen wie bei der Einbildung von Bewegung – kinema und stereos kommen auf dieser Ebene gut miteinander aus –, doch sind für Münsterberg letztendlich die Techniken des nicht-stereoskopen Films ausreichend, um eine Illusion räumlicher Tiefen zu schaffen. Angesichts der Bewegung könne man sich dem „Gefühl von Tiefe“ ohnehin nicht „entziehen“. Hinzu kommen andere Indikatoren für räumliche Tiefe (Tiefencues): „Größenunterschiede“, „perspektivische Beziehungen“, „Schatten“, Vordergrund-Hintergrund-Beziehungen und Handlungen, die in die Tiefe des Raums führen.11 Demnach benötige der Film das stereoskopische Bewegtbild nicht, seine technischen Mängel sowie seine körperlichen 209

Zumutungen erst recht nicht, um Raumillusionen zu generieren. Wenn Münsterberg die kinematografische Raumillusionierung mit dem Blick durch eine Glasscheibe vergleicht,12 dann wird an Stellen wie diesen deutlich, dass er trotz beweglichen Kameraauges von jenem monokularen, souveränen Standpunkt der zentralperspektivischen Codierung des Bildes, von jenem statischen Schnitt durch die Sehpyramide, wie ihn Leon Battista Alberti in Über die Malkunst (Della Pittura, 1435/36) beschrieben hat, nicht loskommen will.13 Nicht ohne Grund werden Scorseses Stereografen in Hugo Cabret (2011) die Scheibenblicke stören, indem sie einen Zug auf die bildparallele Scheibenfront des Bahnhofs Montparnasse zurasen und die Glasfassade zerbersten lassen.14 Münsterberg ahnt, dass die Stereovision, viel stärker noch als der Bewegungs­ eindruck, sein Festhalten an einer letztendlich doch stabilisierbaren Subjekt-­ Objekt-Struktur kollabieren lässt. Zwar basieren sowohl Bewegungssehen als auch stereoskopisch eingeleitetes Raumsehen auf somatischen Involvierungen, doch bedeutet die Stereoskopage der Psyche eine zusätzliche Auslieferung an die Suggestionskraft der Technik. Zu der Sukzession von Momentaufnahmen in der Zeit tritt die simultane Darbietung von divergierenden Perspektiven im Raum. Der Betrachter sieht sich nicht nur zwischen Vorher und Nachher aufgespannt, sondern auch zwischen perspektivisch divergierende Halbbilder eingespannt und durch die Brille – diese neue Rahmen­ bedingung – in einen imaginären Raum versetzt. Schon im 19. Jahrhundert bedeutete der Blick durch das prä-kinematografische Stereoskop eine Praxis des Sehens, die den Körper der Sehenden in ganz anderer Weise in die Raumbilder und Bildräume involvierte als monokulare Techniken der Raumkonstruktion. Folgt man Jonathan Crarys Buch Techniken des Betrachters (1990), so ist das Stereoskop, wie es von Sir David Brewster, Oliver Wendell Holmes und Charles Wheatstone im Laufe des 19. Jahrhunderts im wissenschaftlichen Kontext entwickelt und dann in verschiedenen Ausformungen zum Unterhaltungsmedium wurde, Bestandteil eines paradigmatischen Gefüges aus Diskursen und Geräten, das den Betrachtern einen neuen Platz zuwies.15 Der Blick durch das Stereoskop erforderte in erster Linie körperliche Nähe zum Gerät. Die Betrachter mussten sich einem apparativen Doppelgänger ihrer eigenen anatomischen Voraussetzungen ausliefern und 210

wurden in eine verstörende Drehtür zwischen Raum und Fläche, Realitätsund Surrealitätseffekt, Ferne und Nähe versetzt.16 Dass die stereoskopisch generierte Raumerfahrung die Projektionsverfahren der geometrischen Optik in vielerlei Hinsicht unterwanderte, das hat schon Sir Oliver Wendell Holmes (1809–1894), der Poet der Stereographie,17 in seinem Manifest Stereoskopie und Stereographie (1859) in detailverliebter Form erfasst, wenn er sich von der ­i mmanenten Unordnung aus Raumteilen, Tranchen und Details, von diesem Verlorengehen-im-Raum fasziniert zeigt. „[D]urch zwei Linsen“ „die gleichsam für uns schielen“, auf fotografische „Zwillingsbilder“ zu schauen, bedeutet für Holmes, sich in einen Raum vorzutasten, der angefüllt ist mit „Zufällen des Lebens“, hierin einem Wimmelbild vergleichbar: „[…] die Stereoskopie erspart uns nichts – alles muss da sein, jeder Stock, jeder Strohhalm, jeder Kratzer […].“18 Der Blick geht nicht nur verloren, er sieht sich jedes Mal durch andere Details gefesselt und hat keine Möglichkeit mehr, den Raum in souveräner, koordinierter Weise zu überblicken. Das Glas in Albertis Fenster zersplittert. Der Raum zerfällt in Details. Und die Details gehen wie Glassplitter unter die Haut. Die Raumeigenschaften und taktilen Konnexionen, die H ­ olmes beschreibt, ergeben das, was mit Deleuze als Riemann’scher Raum bezeichnet werden kann: als rhythmischer, amorpher Raum, bestehend aus manchmal verbundenen, oft unverbundenen Raumpartikeln.19

Eisensteins Sprengung zentralperspektivischer Kerkerwelten Dass wir es angesichts der Raumeigenschaften, wie sie von der Stereoskopie oder anderen 3-D-Techniken produziert werden, mit Mischphänomenen aus Flächen- und Raumteilen zu tun haben, dass die Kunst der Stereoskopie vielleicht sogar darin besteht, den Raum als Fläche auszulegen, das hat lange vor Godard der Regisseur und Theoretiker Sergej Eisenstein kurz vor seinem Tod in seinem Manifest Über den Raumfilm (1947) betont. Mit raumgreifender, anthropologischer Geste stellt Eisenstein den Raumfilm als Zukunft des Kinos und Realisierung eines menschheitsgeschichtlichen Traums vor.20 Es ist nicht einfach, zu rekonstruieren, welche Techniken der Raumeinbildung Eisen211

stein genau vor Augen hatte. Der Begriff des stereoskopischen Films – ja sogar der stereoskopischen „feelies“21 – fällt zwar hin und wieder, allerdings bleibt unklar, ob Eisenstein hierbei Autostereoskopie oder brillengestütztes 3-D meinte und ob es andere technische Finessen gab, die für ihn zukunftsweisend waren. In einer jüngst erschienenen Publikation von Margarete Vöhringer wird der Nachweis erbracht, dass Eisensteins letzter Aufsatz unter dem Eindruck des russischen 3-D -Films Robinson Crusoe von Aleksandr N. Andriyevsky (1946) entstand, einem stereoskopischen Film, der ohne Brille gezeigt wurde: „Es lässt sich zwar nachvollziehen, dass auf 16-mm Film zwei Teilbilder nebeneinander lagen und das Feld eines quadratischen Filmbildes einnahmen. Welche Kamera und welche Optik dafür verwendet wurde, ist unklar. Projiziert wurde auf eine so genannte Drahtrasterleinwand bestehend aus 30.000 feinen Kupferdrähten, deren Reflexionen eine 3-D-Illusion entstehen ließen, ohne dass eine Brille notwendig war. Das Publikum musste allerdings in einem ganz bestimmten Winkel zur Leinwand positioniert sein, um den Effekt wahrzunehmen.“22 Wofür sich Eisenstein angesichts von Raumfilmen wie Robinson Crusoe interessiert, ist ein bis zum Zerreißen und Zerplatzen angespannter Raum, der in Raum-Tranchen zerschnitten und sich daraus wieder zusammensetzen soll, „über eine wechselseitige kompositorische Berücksichtigung der Gestaltung einer jeden Ebene; […] Eine Einstellung vom Typ der Vordergrundkomposition, wie ich sie sehe, ist eigentlich diejenige Extremstufe der Spannung innerhalb der Einstellung, nach welcher ihr nur noch übrigbleibt, in zwei selbständige […] neue Einstellungen ‚zu zerplatzen‘.“23 Eine Vorform dieser zerplatzenden Einstellung, wie sie hier theoretisch vorgestellt wird, hatte Eisenstein in seinem Beitrag für Friedrich Markowitsch Ermlers Kriegsheimkehrer-Drama Der Mann, der sein Gedächtnis verlor / Trümmer des Imperiums (Oblomok imperii, 1929) experimentell schon längst verwirklicht. Dort ließ er in einer siebenminütigen Erinnerungssequenz divergierende Perspektiven montagetechnisch derart rasch alternieren, dass sich bei den Zuschauern, auch ohne Brille, quasi als drittes Bild, ein 3-D-Erlebnis qua Überblenderfahrung einstellen sollte. Auch hier ging es um ein Raumgefüge zwischen Riss, Fuge und Naht.24 Eisensteins viel später verfasstes 3-D-Manifest ist an dieses Wahrnehmungsexperiment erstaunlich produk212

tiv anschließbar: Während er in seiner früheren Montagepraxis und -theorie die Konflikte und Spannungen noch als zwischenbildliches Phänomen dachte und inszenierte, finden sich diese Risse nun in innerbildliche Konflikte, „­dynamische, ja dramatische (!) Wechselwirkungen“25 zwischen Bild­ebenen, Vorder- und Hintergründen übersetzt. In Eisensteins expanded cinema wird Albertis Schnitt durch die Sehpyramide zum multiplen Aufschnitt des Bild­ raums. Wenn sich das plane Bild als Schichtung bildparalleler Tranchen auslegt, übereinander stapelt, wenn sich der Bildvordergrund ablöst und als Oberfläche entlang der z-Achse in den Publikumsraum verschoben wird, outof-the-screen gerät, während sich andere Objekte auf Oberflächen behind-thescreen zurückziehen, ist nicht mehr klar, wo Onscreen endet und Offscreen beginnt. Eisenstein ahnt, dass sich mit dem Raumfilm auch die Montagetechnik und die Dramaturgie der Filmform wird ändern müssen. Tatsächlich ist im D3D-Kino nach Avatar – etwa in Filmen wie Pete Travis’ Dredd (2012) – eine deutliche Entschleunigung der Montage im Bild und zwischen den Bildern anzumerken, auch in Form von langsamen Kamerafahrten und Plansequenzästhetiken, die verhindern sollen, dass der Schnitt die Bildräume allzu gewaltsam zusammenbrechen lässt. Ein weiterer Grund für die zeitweise „Verlangsamung der Erzählung“26 in D3D-Filmproduktionen ist der motion blur-Effekt, die notorische Bewegungsunschärfe, die erst mit einer High Frame Rate von 48 Vollbildern pro Sekunde, wie sie in The Hobbit: An Unexpected Journey (2012) zum Einsatz kam,27 vermeidbar wurde und sich mittlerweile zu 120 Frames pro Sekunde – etwa in Ang Lees Billy Lynn’s Long Halftime Walk (2016) – gesteigert hat. Es ist bemerkenswert, dass sich in Eisensteins 3-D-Manifest bereits all jene Raumformen thematisiert finden, die bis heute zum integralen Bestandteil des 3-D-Effektrepertoires zählen: „Es gibt drei Arten des Raumeffekts: Entweder verbleibt die Abbildung in den Grenzen des normalen Films als flaches Hochrelief, das irgendwo in der Fläche des Leinwandspiegels balanciert. Oder die Abbildung drängt in die Tiefe der Leinwand, wobei sie das Publikum in einen zuvor von ihm nie gesehenen Abgrund zerrt. Oder schließlich (und darin besteht der verblüffendste Effekt des Raumfilms): die als reale Dreidimensionalität emp213

fundene Abbildung ‚ergießt‘ sich von der Leinwand in den Zuschauerraum. Ein Spinngewebe mit einer gigantischen Spinne hängt irgendwo zwischen Leinwand und Zuschauer […] Vögel fliegen aus dem Zuschauerraum in die Tiefe der Leinwand. Oder sie setzen sich gehorsam auf einen Draht, hoch über den Köpfen der Zuschauer.“28 Eisenstein interessiert sich insbesondere für das trompe-l’œil: für alles, was scheinbar hervortritt, aus dem Rahmen fällt, die Grenze zwischen Bild und Nicht-Bild verunsichert. Wurden 3-D-Filme in den Jahren 1922–1955 noch vorrangig mit diesen Into-the-Face-Effekten beworben, so wird im gegenwärtigen 3-D-Blockbusterkino alles getan, um jene gläserne vierte Wand wieder einzu(-be-)ziehen, von der sich auch Münsterberg im Jahr 1916 nicht wirklich verabschieden konnte. James Cameron etwa legte in Avatar peinlich viel Wert darauf, immersionsstörende Pop-outs zu vermeiden und die Handlung hinter dem Stereofenster, wie in einem Aquarium, sich in die Tiefe des Raums erstrecken zu lassen.29 Alles, was aus dem Rahmen tritt, könnte irgendwann abgeschnitten wirken, Diffusionen verursachen, in den Augen schmerzen und diese in rivalisierende räumliche Tiefencues verwickeln. Deshalb wird durch gezielte, partielle und dynamische Maskierung an den Rändern des Bildes ein virtuelles Fenster (floating window) und ein virtuelles Proszenium geschaffen, das nicht unbedingt mit der Screen-Ebene zusammenfallen muss und Wahrnehmungsartefakte (aufgrund divergierender Tiefeninformationen) zu vermeiden hilft. Genau dieses virtuelle Fenster, diese unsichtbare Wand zwischen Bild- und Zuschauerraum sucht Eisenstein mit allen Mitteln zum Bersten zu bringen. Seine Vorstellung vom 3-D-Effekt als Spinngewebe, das sich zwischen Leinwand und Zuschauer aufspannt, richtet sich entschieden und explizit gegen jene vierte Wand,30 wie sie das bürgerliche Theater errichtete und das künftige 3-D-Kino mit seinen Komfortzonen re-etabliert haben wird. Letztendlich betreibt Eisenstein utopische Medienarchäologie: Was er sich vom Raumfilm erhofft, ist die Wiedergeburt der kommemorativen Dithyramben des Dionysos-­ Kults. In ähnlicher Weise wie Platons halbierte Kugelwesen sich nach Wiedervereinigung sehnen, wird bei Eisenstein die Wiedervereinigung der 214

­getrennten Hälften Publikum und (Schauspieler-)Aktion zu einer Sehnsuchtsfigur, die in kollektiven Ritualen, Zeremonien und Massenspektakeln (Zirkus, Kino etc.) an partieller Realität gewinnt. Handlungselemente sollen in den Publikumsraum treten, sich „hineinbohren“, und umgekehrt soll das Publikum in die Tiefe des Raums einbezogen, „verschluckt“ und umzingelt werden.31 Wie Werner Herzog Jahrzehnte später in Cave of Forgotten Dreams (2010) die Stereoskopie dazu verwenden wird, die ältesten Bilderzeugnisse der Menschheitsgeschichte samt ihrer reliefartigen Bildträger, der Wände in den Höhlen von Chauvet, auf einen anderen Bildträger, die Kinoleinwand, zu übertragen, versucht Eisenstein, eine verschüttete Theaterform, den Dithyrambus, in den Kinoraum zu tragen. Entscheidend ist jedoch, dass Eisensteins Konzept des Raumfilms keine totale Immersion heraufbeschwört, sondern eine Kommunikationsutopie: die Einbeziehung des Publikums in „emotionale Klänge“32 und Wechselgesänge. Eisensteins expanded cinema meint keine Immersion in einen homogenen, kohärenten Raum und keinen ungetrübten Aquariumblick in einen transparenten Raum, sondern eine Anordnung von Widerständen und Spannungen, kommunizierenden Oberflächen und Rissen, Reliefstrukturen und Zwischenräumen. „Das visuelle Bild wird archäologisch, stratigraphisch und tektonisch“,33 ließe sich mit Deleuze schreiben. Für Eisenstein, den Architektensohn, hat Film eine stratigrafische Ordnung, er ist eine Realität der Relation. Lange vor seinem Raumfilm-Manifest, in seinen Tagebüchern, träumte Eisenstein schon von einem kugelförmigen, dreidimen­ sionalen Buch, das mittels Montage, Simultanität und Überlagerung einen neuen, non-linearen Raum freier Assoziier- und Beziehbarkeit hätte eröffnen sollen: „Es ist schwer ein Buch zu schreiben. Weil jedes Buch zweidimensional ist. Ich wollte aber […] die Möglichkeit schaffen, daß jeder Beitrag unmittelbar mit einem anderen in Beziehung tritt… Solcher Synchronizität und ­gegenseitigen Durchdringung der Aufsätze könnte ein Buch in Form … einer Kugel Rechnung tragen.“ (5. August 1929)34 In den Installationen der gegenwärtigen Kunsträume sind an die Stelle von Eisensteins Bildebenen multiple Screens und Displays getreten. Eisenstein möchte diese stratigrafische Ordnung, dieses Layering von Oberflächen, noch mit den Mitteln des Raumfilms und der Stereoskopie verwirklichen. Aus 215

„dem, was einst ‚Leinwandfläche‘ war“,35 sollen multipel gestaffelte Screens werden, die das ersetzen, was bei Eisenstein einst Kontrast- und Kollisionsmontage hieß. Bei Godard wird dieses Projekt gleichermaßen seine Fortsetzung wie Überwindung gefunden haben: Zwar sucht auch die eingangs beschriebenen Sequenz aus Adieu au Langage, Risse, Kontraste und Kollisionen zu produzieren, doch finden die Konflikte auf einer Ebene statt, die – anders als bei Eisenstein – das Zustandekommen eines dritten Bildes, einer men­t alen Fusion und Synthese des linken und rechten Bildes verweigern. Somit hat Godard, ganz nebenbei und spielerisch, eine neuartige Form der Kontrastmontage und des Splitscreen geschaffen. Aus Vision wird stereoskopische ­Division.

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Anmerkungen

24 Wittmann 2016, S. 197 25 Eisenstein 1988, S. 201 26 Seeßlen 2012, S. 125 27 Rothöhler 2013, S. 43

1

Vgl. Barthes 1984, S. 15

2

Der Begriff Parallaxe bezieht auf die technisch ­hergestellten, stereoskopischen Halbbilder, ­während Disparität meistens die perspektivische Differenz der Netzhautbilder meint. Mit der technischen Stereobasis lässt sich die Parallaxe, d. h. die Betrachtungs- und Sehwinkeldifferenz zwischen den Halbbildern regulieren.

3

28 Eisenstein 1988, S. 198 29 Klinger 2013, S. 187 30 Eisenstein 1988, S. 229, 239 u. 247 31 Ebd., S. 209 u. 216 32 Ebd., S. 203 33 Deleuze 1997, S. 312. 34 Zit. nach Bulgakowa 1996, S. 31 35 Eisenstein 1988, S. 200

Vgl. Godard, Jean-Luc: „Exclusive Interview in ­Cannes 2014 (Part I)“, unter: https://www.youtube. com/ watch?v= Bou1w4LaqMo [09.11.2015].

4 Ebd. 5

Burch 1990, S. 164

6

Ebd., S. 173

7

Sean Cubitt, Making Space, unter: http:// sensesofcinema.com/2010/feature-articles/ making-space/#7 (10.01.2016)

8

Münsterberg 1916, S. 45

9

Auch wenn der Begriff nicht explizit auftaucht, so beschreibt Münsterberg jenes stereoskope Verfahren, das seit dem 19. Jahrhundert unter dem Begriff „anaglyphes“ 3-D firmierte. Gemeint sind damit Verfahrensweisen, bei denen die Bilder mittels Farbfiltern (grün/rot; rot/cyan) codierbar und trennbar werden. – Münsterberg 1996, S. 42 f.

10 Ebd. 11 Ebd., 43ff. 12 „Wenn die Bilder gut aufgenommen worden sind und die Projektion scharf ist, und wenn wir in der richtigen Entfernung vom Bild sitzen, dann müssen wir den gleichen Eindruck haben, als blickten wir durch eine Glasscheibe in den realen Raum.“ (Ebd., S. 42 f.) 13 Alberti 2014, S. 83 f. 14 Vgl. hierzu Kuhn 2016 15 Crary 1996, S. 123, 133 16 Vgl. Crary 1996, S. 123 17 Zone 2007, S. 11 ff. 18 Ebd., S. 21f. 19 Deleuze 1997, S. 172. vgl. Crary 1996, S. 130 20 Eisenstein 1988, S. 196 f. 21 Ebd., S. 253 22 Vöhringer 2015, S. 122 f. 23 Eisenstein 1988, S. 200 u. 205

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Bibliografie

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„In   keiner der anderen visuellen Künste ver­suchen die Bilder, welche den Rahmen des künstlerischen Raums ausfüllen, so aktiv mit eben diesem Rahmen zu brechen und über dessen Begrenzungen hinaus zu schwappen. Dieser konstante Konflikt ist eine grundlegende Komponente der Illusion filmischer Raum-Realität.“ Juri Lotman

In der Stadt der bewegten Bilder. Der öffentliche Raum als Kino der Attraktionen Fred Truniger

Mobilität ist nach Henri Lefebvre die wirksamste „urbane Praktik“ der „Produktion von Raum“.1 Sie beeinflusst maßgeblich, wie wir unsere Umgebung wahrnehmen. Der Standardmodus dieser urbanen Mobilität ist die Eile. Täglich bahnen sich Menschen ihre Wege durch die an Knotenpunkten zusammenströmende Menge, den schnellsten Weg zum Ziel im Auge. Sie nehmen auf diesem Weg dutzende Reize wahr, die in ihren Nahraum eindringen. Routiniert verarbeiten sie sie, unterscheiden dabei Wichtiges von Unwichtigem oft ohne bewusste gedankliche Prozesse. Infolge der ständigen Anbindung an das Internet durch die Mobiltelefone scheint sich das Verhalten der Benutzerinnen des öffentlichen Raums inzwischen aber umgekehrt zu haben: Während früher der Wahrnehmung und ­Bewältigung des Weges das Hauptaugenmerk galt, scheinen heutige Pendler ihre Konzentration mehrheitlich auf das mobile Display zu richten. Das Gehen in der Stadt ist zu einer weiteren Gelegenheit geworden, professionelle oder soziale Kommunikation aufrecht zu halten. Sichtbar wird das nicht nur an in Telefongespräche vertiefte Passantinnen, sondern zunehmend auch dar­a n, dass, den Blick auf das mobile Display geheftet, viele von ihnen die notwendigen Wege nur noch mit beiläufiger Aufmerksamkeit auf das periphere Gesichtsfeld und unter gelegentlichem Aufblicken hinter sich bringen. Seit bald zehn Jahren kann eine Zunahme von handybedingten Unfällen festgestellt werden.2 Audiovisuelle Medien haben als stationäre und mobile Bildschirme den öffentlichen Raum grundlegend neu definiert. In der Stadt erwartet uns nicht mehr nur die Präsenz des Unmittelbaren, sondern auch eine medial vermittelte Naherfahrung. Stationäre und mobile Displays unterschiedlicher Technologien bieten uns virtuelle Realitäten an. Nähe, wie sie ehedem die Öffentlichkeit im urbanen Raum bestimmte, kann nicht mehr nur physisch, sondern 222

auch mediatisiert entstehen. 3 Man fühlt sich auf den täglichen Pendler-Kursen der Empfängerin von Textnachrichten oder dem Absender von Bildbotschaften näher als der Sitznachbarin, mit dem die Kommunikation auf das Allernotwendigste beschränkt bleibt. Stadtbewohner entscheiden angesichts der medialen Reize des Stadtraums nicht mehr nur zwischen zerstreuter Aufmerksamkeit und (zeitlich begrenzter) situativer Konzentration, sondern muten sich zusätzlich und gleichzeitig die Wahl zwischen der Teilhabe am öffentlichen oder an einem halbprivaten Raum zu, in dem Nähe gleichzeitig ein Erlebnis von Distanz bedeutet. Filmische Bewegtbildmedien im öffentlichen Raum machen uns also zwei unterschiedliche Kommunikationsangebote: Da ist zum einen die soziale Kommunikation, meist basierend auf den eigenen, kleinen, mobilen Bildschirmen, entwickelt über Text- und Bildnachrichten. Sie folgt gemeinhin dem übergreifenden Narrativ des in Fragmenten erzählten eigenen Lebens. Die zweite Form der Kommunikation, auf die ich mich in diesem Beitrag hauptsächlich beziehe, unterscheidet sich davon vor allem durch die nicht-­ intrinsische Motivation ihrer Inhalte. Sie umfasst heute mehrheitlich Werbung, News und Unterhaltung, setzt je nach Ort und Kontext Texte, Bilder, ­bewegte Bildmedien ein und verwendet als Kanal vor allem öffentliche Displays – in Zukunft aber vermehrt wohl auch Handybildschirme. Eine weitere, formal wichtige Unterscheidung zwischen beiden Medienformen ist das Fehlen einer Tonspur bei den Bewegtbild-Displays im öffentlichen Raum – anders als jene berühmten, riesigen Displays in Ridley Scotts Film Blade Runner (USA 1982) sind diese Out-of-home-Displays oder stationären Urban Screens in unseren Stadträumen unter anderem aus sicherheitstechnischen Gründen und im Interesse der Lärm-Hygiene ihrer potenziellen Audio-Spur beraubt. Rein akustische Signale sind als Warnhinweise dem Verkehr vorbehalten. Eine (Ab-)Lenkung durch Geräusche ist im Zusammenhang mit öffentlichen Bewegtbildmedien also in den meisten Fällen ausgeschlossen. Wenn im Folgenden danach gefragt werden soll, wie bewegte Bilder auf dem umkämpften Feld der Aufmerksamkeitsökonomie im urbanen Raum erfolgreich sind und das Erlebnis von Stadt bedeutend mitprägen, kann die Tonspur meist außer Acht gelassen werden – im Bewusstsein, dass damit ein Teil der 223

audiovisuellen Kommunikation über Mobilgeräte aus der Diskussion ausgeblendet wird. Im „virtuellen Konversationsraum“ des von Joachim Höflich als „abwesende Anwesenheit“4 bezeichneten täglichen Pendlerstroms ist die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden zu einem begehrten Gut geworden. Um sie bemüht sich eine zunehmende Zahl von stationären Displays, die mit den mobilen in Konkurrenz treten: Wir nehmen es inzwischen als gegeben hin, dass die visuelle Kommunikation im öffentlichen Raum der Stadt die Stadtbevölkerung mit Werbung und auf Kürzestformeln reduzierte Information beschießt. Die Kürze der Aufmerksamkeit für digitale Displays wurde empirisch nachgewiesen. Sie beträgt im Normalfall lediglich 1–2 Sekunden und erreicht nur in seltenen Fällen 7–8 Sekunden.5 Wenn also eine Stadtbewohnerin kurzzeitig durch ­bewegte Bilder von der komplexen Aufgabe gleichzeitiger Konzentration auf ­d istanzierte Kommunikation und Wegfindung abgelenkt wird und aus dem Flow ihrer Routine fällt, ist es offenbar gelungen, Aufmerksamkeitsfilter durch einen präzise gelenkten Reiz zu überwinden. Medien verfügen über eine Reihe von Möglichkeiten, um die Aufmerksamkeit kurzzeitig auf sich zu lenken. Am besten gelingt dies offenbar den Displays, die Videoinhalte zeigen. Wenn wir auch nur in den seltensten Fällen anhalten, um bewegte Bilder länger anzuschauen, so scheint unsere Bereitschaft, die Inhalte im Vorbeigehen zu konsumieren, doch höher zu sein als angesichts von Displays mit unbewegten Inhalten oder Texten.6 Bereits das frühe Kino verwendete direkte Appelle an die Aufmerksamkeit des Publikums. Das bekannteste Modell zur Benennung der Skopophilie, die der Film auszulösen vermag, ist das „Cinema of Attractions“, wie es der Filmhistoriker Tom Gunning mit Rücksicht auf den frühen Film und in Anlehnung an Sergej Eisensteins „Montage der Attraktionen“7 entwickelt hat: Angriffe auf das Auge auf direktestem Weg, wie ihn beispielsweise jene bewusst als Schock konzipierte Einstellung aus The Great Train Robbery von Edwin S. Porter (USA 1903) darstellt, in der ein Räuber seinen Revolver direkt in unser Gesicht abfeuert. (Abb. 1) Die Einstellung verwirklicht jenes primäre Programm des frühen Films zur spektakulären Visualisierung, der sich der Blick kaum entziehen kann. Nach 224

Abb. 1: Screenshot aus The Great Train Robbery (USA 1903)

über einhundert Jahren Seh- und Medienerfahrung sind die Mittel dieses „Cinema of Attractions“ im öffentlichen Raum präsenter als je in der Geschichte des Films. 3-D- oder 360°-Filme bedienen sich ebenso dieses, dem frühen Film verwandten Bild-Repertoires, wie auch die im öffentlichen Raum vorherrschenden ultrakurzen Bewegtbildformate: Auch hier sollen die Bilder ob ihrer besonderen ästhetischen Wirkung als Attraktionen dienen. Bilder von großer Schönheit oder im Gegenteil abgründiger Hässlichkeit, Momente von überwältigender Farbigkeit oder aus ungewöhnlicher (Kamera-)Perspektive gedrehte Einstellungen ziehen das Auge des zerstreuten, mobilen Publikums heute noch ebenso zuverlässig an, wie das ihre Vorläufer im geschützten Raum des Vaudeville oder des Kinos taten, indem sie überraschen oder gar überwältigen und gleichzeitig die Faszination für das technisch Machbare und Neue dieser Bilderproduktion bedienen. Nicht ohne Grund zeichnen sich die Displays im öffentlichen Raum durch eine erhöhte Brillanz und Farb-­Saturiertheit aus. Beides dient nicht nur der optimierten Sichtbarkeit in der Tageslichtsituation, sondern soll auch im Zusammenspiel mit einer Art ­L arger-than-life-Effekt eine optische Unausweichlichkeit des Eindrucks ­garantieren. 225

Abb. 2: Passage Sihlquai im Bahnhof Zürich, Fotografie: Fred Truniger

Die Gehilfen dieses neuen Kinos der Attraktionen sind Innovationen wie die von Erkki Huhtamo als „gulliversiert“8 bezeichneten Bild(schirm)-Oberflächen, die ganze Fassaden füllen und sich dem Blick der Passantinnen aufdrängen. Ihre Technik reicht von lichtstarken Projektoren bis zu mehr oder weniger flexiblen, auf Gebäudehüllen applizierbaren Netzstrukturen, in denen LED -Lampen in drei Farben (2 × Rot, 2 × Grün und 1 × Blau) eingearbeitet sind und die auch bei Tageslicht realistische Videobilder darzustellen vermögen.9 Auch die Platzierung solcher Bildschirme ist signifikant: Nicht nur durch das Bespielen hoch frequentierter Plätze und Passagen mit riesigen ­Displays wird mit bewegten Bildern Aufmerksamkeit zu generieren versucht, sondern auch durch das strategische Arrangement von kleineren Displays an Orten, die den eigenen Weg kurzzeitig unterbrechen oder die eine hauptsächliche Bewegungsrichtung provozieren: Wie Überwaschungskameras mit Gesichtserkennungssystemen die kurzzeitige, relative Immobilisierung der Personen auf einer Rolltreppe nutzen, so werden auch Bildschirme vermehrt an und über diesen Förderbändern angebracht, wo sie die wenigen Sekunden körperlicher Inaktivität und daher kognitiver Entlastung ablenkend nutzen können. Auch Stirnseiten längerer Flure und Passagen gelten als bevorzugte Standorte für Bildschirme, weil die Vorübergehenden diese während einer relativ langen Zeit in ihrem Blickfeld behalten. Tom Gunning entwickelte sein Konzept des „A Cinema of Attractions“ an den Formen des Films vor 1906 als Gegenentwurf zu den vorherrschenden, am 226

narrativen Kino orientierten Modellen. Er beschrieb frühe filmische Formen und deren unbeachtetes Fortwirken – namentlich in gewissen Tendenzen des experimentellen Films – als in der Geschichtsschreibung vernachlässigt, verdrängt durch die hegemonial gewordenen narrativen Gattungen und Genres. In den letzten Jahren erhält diese auf die Dialektik von Spektakel und Narration bezogene Diskussion durch die Tendenz, gemeinhin nicht als erzählerisch geltende filmische Gattungen zu narrativisieren, neue Relevanz. Vor allem populäre dokumentarische Formate sind in den vergangenen Jahren vermehrt unter dem Gesichtspunkt entwickelt worden, dass sie komplexe Inhalte in Form von Geschichten vereinfachend und kohärenzstiftend vermitteln können. Die Entwicklung hat als „narrativist turn“10 alle Bereiche der professionellen und wissenschaftlichen Kommunikation erfasst und wird in der Praxis normalerweise als „Storytelling“ referenziert. Insbesondere gilt dies für Marketing und Werbung, die für den Großteil der Inhalte auf öffentlichen Mediendisplays verantwortlich sind. Sie müssen insofern heute auch unter dem Gesichtspunkt ihrer narrativen Eigenschaften betrachtet werden. Gegenüber anderen Möglichkeiten, kommunikative Inhalte zu organisieren, hat das Geschichtenerzählen Vorteile. Hayden White bezeichnet es als eine Art Universalcode, der beinahe verlustfrei über (kulturelle) Grenzen hinweg einsetzbar ist und die Möglichkeit verschiedener Perspektivierungen derselben Inhalte bietet. Narrationen sind in der Lage, den Ereignissen der Realität eine formale Kohärenz einzuschreiben und den Eindruck von Kontinuität zu vermitteln, auch wo keine solch eindeutigen Zusammenhänge gegeben sind.11 Diese Kohärenz der Vermittlung schafft einen starken Anreiz, einer Erzählung zu folgen. Sie ist daher ein wichtiger Faktor für die „Nutzungsverlängerung“ medialer Emissionen im öffentlichen Raum. Die bereits erwähnte Aufmerksamkeitsökonomie der Zielpersonen medialer Emissionen im urbanen Raum schränkt die erreichbare Nutzungsverlängerung jedoch drastisch ein. Clips und Spots auf öffentlichen Displays haben deshalb im Regelfall eine Dauer von nur wenigen Sekunden; innerhalb dieser Zeitspanne muss eine Botschaft möglichst vollständig übermittelt werden. Das bedingt eine besondere mediale Form ultrakurzer filmischer Kommunikation, in der Narrationen auf ein Grundgerüst reduziert und Botschaften so vereinfacht erscheinen, 227

dass sie in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeitspanne verstanden werden können. Die Form dieser „Ultrashorts“ ist vielgestaltig. Sie passt sich jeweils den kommunikativen Funktionen und den Gegebenheiten der Emission an. Es lassen sich jedoch Strategien identifizieren, die für die Aufgabe, ultrakurz zu kommunizieren, offenbar besser als andere geeignet sind und daher häufig eingesetzt werden. Darunter fallen unter anderem Formen der Verkürzung, aber auch die Serialisierung von Botschaften. Besonders deutlich wurde das mit der Smartphone-App Vine, welche die Möglichkeit gab, über ein ebenfalls vereinfachtes Interface Handy-Clips von exakt sechs Sekunden Dauer zu produzieren und direkt online zu schalten. Der Dienst, von Twitter 2013 gekauft und lanciert, wurde Ende 2016 eingestellt, die Archiv-Webseite ist jedoch heute noch online abrufbar.12 Bereits ein Blick in die Überblicksseiten, auf welchen die einzelnen Vines als Vorschaubild dargestellt werden, zeigt Tendenzen der Bildgestaltung: meist deutliche Figur-Grund Unterscheidungen, extreme Close-ups, enge Kadragen, reduzierte Bildhintergründe, Konzentration auf Gesichter und Figuren sowie teilweise stark reduzierte Farbpaletten oder die Verwendung von leuchtenden Farben für das zentrale Bildelement. Die Clips weisen darüber hinaus in der Eröffnungsphase oft eine Kamerafahrt oder einen Zoom auf die Handlungsträgerin (Person oder Ding) auf, mit welcher die Konzentration und Fragmentierung der Bildinformation noch erhöht werden. Natürlich ist es die radikal reduzierte Rezeptionszeit, die es im Regelfall notwendig macht, Bilder so zu gestalten, dass sie auf einen Blick erfasst werden können. Der hauptsächliche visuelle Inhalt wird zentral ins Bild gesetzt und durch wenige Hintergrundreize begleitet, weil ansonsten die Aufmerksamkeit abgelenkt würde. Im Realfilm geschieht dies beispielsweise durch Unschärfe oder die Wahl eines monochromen Hintergrunds. Animierte Filme generieren ihre Bilder dagegen von Grund auf. Sie reduzieren die visuelle Komplexität, indem sie den Hintergrund möglichst einfach halten.13 Die Tendenz zur Zentralisierung der Bildinhalte und zum Close-up wird durch die Verwendung von Ultrashorts auch auf Plattformen, die wir auf unseren Mobiltelefonen konsumieren, noch verstärkt, denn auf kleinen Displays sind allzu detailreiche Bilder kaum mehr lesbar. 228

Abb. 3: Screenshot der Übersichtsseiten von www.vine.co mit den „Editor’s Picks“

229

Abb. 4: Unscharfer und ­vereinfachter Hintergrund: Screenshot aus dem ­Ultrashort Fliege von Renée Del Missier (AT 2011)

Eine weitere ästhetische Strategie der ultrakurzen Clips ist die Verwendung von Abstraktionen und Symbolbildern sowie von Text im Bild.14 Der Film Alles in Butter? von Karin Willimann (CH 2009, 10 Sekunden)15 zeigt einen Top-Shot auf eine Bratpfanne, in der die drei Buchstaben „A“, „H“ und „V“, die in der Schweiz eine allgemein bekannte Abkürzung für die Alters- und Hinterbliebenen-Versicherung darstellt. In der Hitze des Gasfeuers schmelzen die drei Buchstaben in weniger als zehn Sekunden bis zur vollständigen Auflösung dahin. Der Ultrashort bedient sich damit eines Text-Inhalts, der in Sekundenbruchteilen die ganze Komplexität des Pensionswesens der Schweiz konnotiert, sowie der Metapher des Dahinschmelzens der Buchstaben in Analogie zu den schwindenden finanziellen Reserven dieser zentralen schweizerischen Vorsorgeeinrichtung. Die Verknüpfung der beiden abstrakten und symbol­ haften Kommunikate ist für eine extrem schnelle, aber auch weitgehend von Kontextwissen abhängige Evokation eines außerordentlich komplexen Sachverhaltes verantwortlich. Die Kommunikationsleistung obliegt hier zu einem guten Teil dem Publikum selbst: Wir sind aufgefordert, die Leer- oder Unbestimmtheitsstellen16 selber zu komplettieren.17 Rasch fassbare Inhalte stellen den Regelfall ultrakurzer Bewegtbild-Kommunikation im öffentlichen Raum dar. Doch auch eine umgekehrte Strategie ist denkbar: Ein in der verfügbaren Zeit eigentlich unlesbares Wimmelbild kann beispielsweise durch einen Claim, der zu mehr Übersichtlichkeit oder Vereinfachung auffordert, nachträglich narrativ aktiviert werden. Der Claim verein230

Abb. 5: Screenshots aus Alles in Butter von Karin Willimann (CH 2009)

facht in diesem Fall durch eine eindeutige Leseanweisung das Entschlüsseln des Wimmelbilds, indem er nicht den Bildinhalt, sondern nur die augenblicklich spürbare Überforderung durch den Informationsexzess adressiert. Die häufigste Strategie der Reduktion basiert jedoch auf der Überraschung, die ein plötzlicher Wechsel im Skript einer Geschichte bei uns hervorruft – eine narrative Form, die in der Theorie des Humors als Inkongruenz bekannt geworden ist. Der Umschlagspunkt fällt in diesem Fall meist mit der Pointe des Witzes zusammen, die zuvor narrativ etablierte Situation wird plötzlich grundlegend verändert oder gar in ihr Gegenteil verkehrt. Diese auf zwei ­A kten basierende narrative Form kommuniziert in extrem kurzer Zeit, kann ­jedoch gleichzeitig die Erzählzeit – beispielsweise mit hintergründigem Humor – über die Dauer eines Clips verlängern: Das Publikum entschlüsselt die Pointe oft erst, nachdem der Blick bereits vom digitalen Display abgewendet wurde, und trägt die kurze Narration so auf ihrem alltäglichen Gang von der Rezeptionssituation in einen erweiterten Erfahrungsraum. Im öffentlichen Raum verspricht diese Form der „Nutzungsverlängerung“ augenblicklich die höchste Form der erfolgreichen Kommunikation, da sie die Botschaft nicht nur über die Dauer des Clips hinaus, sondern bis zum nächsten Kontakt mit 231

dem intendierten Inhalt verlängern kann. Vor allem große Werbekampagnen streben diesen Effekt an, weil er in Verbindung mit Wiederholung der Botschaft zur effektiven Markenbildung betragen kann. Mit der Wiederholung von Botschaften ist der letzte Aspekt der gegenwärtigen Mediatisierung des urbanen Raums genannt, mit dem ich meine Überlegungen zu den bereits beobachtbaren und den zukünftig zu erwartenden Formen der bewegten Bilder abschließen möchte. Die Vernetzung der Displays, wie sie in Anfängen bereits heute feststellbar ist, verändert das Mediensystem öffentlicher Bildschirme grundlegend, weil sie eine neue Form der Serialisierung von Medienkontakten ermöglichen. Die Diskussionen über die von Haydee Wasson als „Networked Screens“ bezeichneten Displays als Knoten in komplexen Netzwerken behandeln meist zwei Aspekte, die ich durch einen dritten ergänzen möchte: Gesellschaftlich am brisantesten ist wohl jener Aspekt, dass vernetzte Systeme für neue Formen der Überwachung verwendet werden. Nicht mehr nur kriminelles Handeln steht im Fokus derselben, sondern das alltägliche Verhalten von Konsumentinnen und Usern, das sich zunehmend über die mitgetragenen Mobilgeräte aufzeichnen lässt. Mit RFID -, iBeacon oder anderen für die Warenlogistik und die Abwicklung von Handelsbeziehungen entwickelten Sender-Empfänger-­ Technologien sind unsere Mobiltelefone (und damit unsere Identität) jederzeit nicht nur im Mobilfunknetz geolokalisierbar, sondern auch an jedem entsprechend ausgerüsteten Punkt, dem wir uns bis auf wenige Meter nähern. Erste Systeme, die Ähnliches leisten, sind bereits installiert worden: Die Firma Echion hat Mitte 2017 in 40 Testsupermärkten des deutschen Detailhändlers REAL Bildschirme eingerichtet, die unser Geschlecht und Alter feststellen, um

die gezeigte Werbung entsprechend zu steuern. Die Übertragung der Technik von stationären Displays auf mobile ist nur mehr eine Frage der Zeit, bis die Vernetzung der vor Ort gesammelten Informationen mit dem Content von Werbeanbietern im Internet oder auf mobilen Apps geschafft ist. Eine ausreichend dichte Streuung der Display-Netzknoten im öffentlichen Raum eröffnet die Möglichkeit, uns auf unseren täglichen Wegen auch außerhalb des Telefonnetzes individuell zugeschnittene Informationen in Serie zuzuleiten – und solche auch umgekehrt von uns zu erhalten. 232

Ein zweiter Fokus der Diskussionen um vernetzte Bildschirme liegt auf der daraus resultierenden formalen Veränderung der audiovisuellen Medien. Die notwendige Versorgung der Netzknoten und ihrer nicht mehr standardisierten Displays – am offensichtlichsten die jüngst sich im öffentlichen Raum ausbreitenden Bildschirme im Portrait-Format – sowie die Teilhabe der sogenannten Prosumern (zugleich Produzenten und Konsumenten) am Netzwerk, haben eine technische als auch inhaltliche Flexibilisierung zur Folge: Medieninhalte werden zunehmend plattformübergreifend konzipiert und produziert. Dieser Aspekt der Vernetzung umfasst mehrere Faktoren, darunter die Entwicklung immer besserer Komprimierungsstandards, die den Datenaustausch ermöglichen und ganze Mediensysteme revolutionieren können, bis hin zur Übertragung von Qualitätsstandards, wenn beispielsweise Handyclips von Amateur-Reporterinnen zum Standardrepertoire der abendlichen Nachrichtensendungen im Fernsehen werden. Beide Diskussionen behandeln narratologische Fragen der Vernetzung jedoch nur kollateral, obwohl durch sie genuine Formen der Kommunikation möglich werden, die sich über die Reihung von Inhalten über zeitliche und räumliche Distanzen plattformübergreifend entwickeln. Unter den Voraussetzungen ­einer eindeutigen Identifizierbarkeit von Personen und von plattformüber­ greifend produzierten Inhalten sind nicht nach dramaturgischen Prinzipien ge­ordnete Sequenzen ultrakurzer Episoden denkbar, die auf öffentlichen Großbildschirmen, kleinen Informationsdisplays in Bussen und der U-Bahn, digitalen Werbesäulen am Wegrand aufgeschaltet oder – anstelle von Werbebannern – beim Lesen der Zeitung auf dem eigenen Mobiltelefon und auf dem Display im Fahrstuhl „ausgestrahlt“ werden: Serialisierte, a ­ mbulatorische Narrative, die auf unserem täglichen Weg in Zeit und Raum gestaffelt und auf öffentlichen und dem eigenen Mobilen Display erzählt w ­ erden. Wie solch fragmentarische, akkumulative Erzählungen in Zukunft aussehen könnten, kann vorerst nur angesichts von verwandten Formen spekuliert werden: Zu denken ist hier etwa an jene Stadtrundgänge, die an vorher festgelegten Stationen Halt machen, um diese mit einer ortsspezifischen Geschichte zu verknüpfen und in der Bewegung eine sich allmählich zusammensetzende Teilgeschichte der Stadt ergeben. Ein anderes Beispiel sind 233

Theaterproduk­t ionen wie jenes „Live Alternative Reality Game“ mit dem Titel „Der Polder“ der Künstlergruppe 400asa, das ab 2012 seine Theaterabende mittels einer Smartphone-App in den öffentlichen Raum verschiedener Schweizer Städte verlegte und die fiktive Handlung mit realen Räumen ­verknüpfte. Aufschlussreich ist aber auch das in die bestehenden Mobilfunk-Netzwerke integrierte Online-Spiel Pokémon Go, das gleichsam ein Epos von Gruppenverhalten und Eroberungszügen auf realen ebenso wie virtuellen Territorien bietet, die sich nur innerhalb eines geolokalisierten Netzwerks und mit jederzeit voll identifizierbaren Teilnehmerinnen verwirklichen lässt.  – Drei Beispiele, wie mit (audio)visuellen Medien en passant Geschichten erzählt werden können. Den Unterschied von linearen und nicht linearen, raumbasierten Narrationen haben – im geschützten Raum des Museums – auch Kunstprojekte früh bereits erprobt. Eija-Liisa Ahtila produzierte in den 1990er-Jahren Videoarbeiten gleichzeitig sowohl als Single-Screen-Versionen als auch als Rauminstallationen. Dieselbe Basis-Erzählung wird in diesen Arbeiten einmal einer festen Chronologie unterworfen, in der anderen, auf mehrere Screens verteilten Version, jedoch der Bewegung und gerichteten Aufmerksamkeit der je einzelnen Besucherin, des je individuellen Betrachters anheimgestellt. Der narrative Kontrollverlust auf der Seite der Produktion wird in der künstlerischen Installation durch einen Kontrollgewinn aufseiten des Publikums ausgeglichen, das die Erzählung nicht mehr nur audiovisuell, sondern auch räumlich und körperlich und damit fragmentiert und akkumulativ wahrnehmen und steuern kann. Wie auch immer die zukünftigen narrativen Medien im öffentlichen Raum aussehen mögen, von ihnen wird eine bemerkenswerte Doppelung ausgehen: Zum einen werden sie die Fragmentierung von Geschichten weitertreiben und so neue Formen der Serialisierung von Narrationen generieren, die es den Rezipienten anheimstellen, aus unvollkommenen, möglicherweise auch scheinbar zusammenhangslosen Informationen eine Erzählung zu bilden. Zum anderen ist es bemerkenswert, dass sich Millionen von Usern bei mobilen Online-Spielen nicht um die zugrundeliegenden Datenflüsse kümmern, die nicht nur den Fortgang des Spiels, sondern jederzeit auch die Überwachung 234

von Position und Bewegung der einzelnen Spielerinnen ermöglichen. Denn im Hintergrund der Netzwerke werden die kontinuierlich gesammelten Nutzer-Daten zu immer totaleren seriellen Erzählungen unserer Existenzen ­zusammengesetzt. Das Repertoire der narrativen Formen scheint noch lange nicht erschöpft.

235

Anmerkungen

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„Die   alten Bilder bauen immer von neuem ein illusionäres Subjekt auf, ein Bild, das nur die halbe Wahrheit zeigt. Und deshalb muss man sie zerstören, zerstückeln und ­vervielfältigen. Den Spiegel spiegeln und ­auseinanderlegen, wie aus den Film­ bildern ein neues Labyrinth, ein mauerloses Ge­fängnis hat werden können.“ Frieda Grafe

Autoren

Johannes Binotto ist Medien- und Kulturwissenschaftler an der Universität Zü-

rich und Dozent für Filmtheorie an der Hochschule Luzern Design+Kunst ­sowie Redaktor der Zeitschrift Filmbulletin und freier Publizist. Er hat mit einer Studie zur Räumlichkeit des Unheimlichen in bildender Kunst, Literatur und Film promoviert, die 2011 mit dem Jahrespreis der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich ausgezeichnet wurde, erschienen als TAT/ORT. Das Unheimliche und sein Raum in der Kultur (Diaphanes 2013). Daneben zahlreiche Publikationen zu den Schnittstellen zwischen Filmgeschichte, ­Medientheorie, Technikphilosophie und Psychoanalyse. Das aktuelle Forschungsprojekt widmet sich dem Unbewussten und/als Filmtechnik. www. medienkulturtechnik.org Christoph Eggersglüß ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen

Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM ) der Bauhaus-Universität Weimar. Zuvor war er Stipendiat im DFG -Graduiertenkolleg Mediale Historiographien und studierte Europastudien, Science and Technology Studies sowie Medienkultur in Bremen, Weimar und Göteborg. Er forscht und schreibt zur Technopolitik von Mikroarchitekturen, Kultur- und Mediengeschichte fußläufiger Infrastrukturen, Gestaltung von Anthropotechniken, Historiografie der Straßenmöblierung und Geschichte von Pollern und Blumenkübeln. Andri Gerber studierte Architektur an der ETH Zürich. Von 2000 bis 2002 war

er als Architekt in New York bei Peter Eisenman tätig. 2008 promovierte er an der ETH Zürich, seine Arbeit wurde mit der ETH Medaille ausgezeichnet. Von 2008 bis 2011 war er Assistenzprofessor an der Ecole Spéciale d’Architecture in Paris. Seit 2011 ist er Dozent für Städtebaugeschichte an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur und leitet dort seit 2016 ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zum räumlichen Wissen von Architekten. 2017 habilitierte er mit einem Ambizione-Stipendium des Schweize­ 240

rischen Nationalfonds (SNF ) an der ETH Zürich; zurzeit ist er dort Gast­ professor für Geschichte des Städtebaus. Vinzenz Hediger ist Professor für Filmwissenschaft an der Goethe-Univeristät

Frankfurt a. M. Forschungsschwerpunkte: Filmtheorie, Filmgeschichte, Geschichte der Filmtheorie, marginale Formen des Films (Industriefilm, Wissenschaftsfilm). Publikationen u. a. Films That Work. Industrial Cinema and the Productivity of Media (Amsterdam University Press 2009, gem. mit Patrick Vonderau) und Essays zur Filmphilosophie (Fink 2015, gem. mit Lorenz Engell, Oliver Fahle, Christiane Voss). Mitbegründer von NECS – European Network for Cinema and Media Studies (www.necs.org) und Gründungsherausgeber der Zeitschrift für Medienwissenschaft (www.zfmedienwissenschaft.de). Bernd Herzogenrath ist Professor für American Studies an der Goethe-Univer­

sität Frankfurt a. M. Er ist Autor von An Art of Desire: Reading Paul Auster (Rodopi/Brill 1999) und An American Body|Politic: A Deleuzian Approach (Dartmouth College Press, 2010) sowie Herausgeber mehrerer Bücher zur Philosophie Deleuzes, zum amerikanischen Film und zur amerikanischen Musik, und zuletzt von Film as Philosophy (University of Minnesota Press, 2017) und sonic thinking (Bloomsbury, 2017). Momentan plant er ein Projekt mit Namen cinapses: thinking|film, welches Forscher aus Filmstudien, Philosophie und Neurowissenschaften an einen Tisch bringen soll – Mitglieder sind u. a. António Damásio and Alva Noë. Zusammen mit Patricia Pisters ist er Herausgeber der medienphilosophischen Buchreihe thinking | media bei Bloomsbury. Rembert Hüser ist seit 2014 Professor für Medienwissenschaft am Institut

für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt a. M. Im Frühling 2016 unterrichtete er als Max Kade Professor an der Brown University. Davor war er von 2003 bis 2013 Associate Professor für Kultur- und Medienwissenschaft an der University of Minnesota in den Departments  German, Scandinavian & Dutch und Cultural Studies & Comparative Literature. Einschlägige Texte zum Thema u. a.: „Fünf Freunde und die 241

­falsche Wand“, Navigationen, 14.2.2014; „Mit der Tür ins Haus“, Populärkultur und Gegenwartstheater, Berlin 2012; „Frankfurt Canteen“, The Auto/Biographical Turn in German Documentary and Experimental Film, Rochester N. Y. 2012. Ulrike Kuch ist Architekturtheoretikerin und Filmwissenschaftlerin. Seit 2015

lehrt und forscht sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät Architektur und Urbanistik der Bauhaus-Universität Weimar zum Verhältnis von Architektur und Film, zur Bildlichkeit der Architektur und zu Bauhaus und Film. 2016 erhielt sie auf Vorschlag der Studierenden den Lehrpreis der Bauhaus-Universität Weimar. Mit der Arbeit Die Treppe im Film wurde Ulrike Kuch 2014 an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität promoviert. Die interdisziplinäre Promotion folgte dem Studium der Architektur, das sie in Weimar, Berlin und Helsinki absolvierte. Neben ihrer universitären Tätigkeit arbeitet Ulrike Kuch in der Vermittlung des Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung in Berlin. www.ulrikekuch.de Yves Netzhammer arbeitet als Künstler an einem weitverzweigten, poetischen

Bilderkosmos. Seine Zeichnungen, Rauminstallationen und mit dem Computer errechneten Videofilme faszinieren durch ihre körperhafte Ausstrahlung und bildnerische Erzählweise. Grundiert von der spielerischen Energie des Re-Kombinierens tasten sie sich vor zur Nachtseite unserer Existenz. Diverse internationale Ausstellungen, darunter 52. Kunstbiennale Venedig 2007, SFMOMA San Francisco 2008, Palazzo Strozzi 2009, Biennale Liverpool 2010,

Minsheng Art Museum in Shanghai 2012, Kunstmuseum Bern 2012, MONA Tasmanien 2013, Biennale Kiew 2015. Zahlreiche Kataloge und Publikationen. www.netzhammer.com Martino Stierli ist seit März 2015 Philip Johnson Chief Curator of Architecture

& Design am New Yorker Museum of Modern Art (MoMA). Davor hatte er eine SNF-Förderprofessur für Architektur- und Kunstgeschichte am Kunsthisto-

rischen Institut der Universität Zürich inne und war 2012 Fellow am Getty ­Research Institute, Los Angeles. Organisation und Ko-Kuratierung zahlreicher Ausstellungen. 2008 Promotion mit der Studie Ins Bild gerückt. Ästhetik, 242

Form und Diskurs der Stadt in Venturis und Scott Browns Learning from Las Vegas, die mit der Medaille der ETH Zürich sowie dem Theodor-­F ischer-Preis des Zentralinstituts für Kunstgeschichte, München, ausgezeichnet wurde. Zahlreiche Publikationen etwa zu Mies van der Rohes Fotomontagen, Verhältnis von Dadaismus und architektonischer Montage, Urbanismus in Brasilien oder der Stadtfotografie bei Edward Ruscha. Aktuelles Forschungsprojekt zum „Prinzip Montage/Collage in der Architektur“ www.moma.org/about/senior-staff/martino-stierli Fred Truniger ist gelernter Filmwissenschaftler und Germanist (Zürich und

Berlin). Während und nach dem Studium Mitglied der Programmkommissionen von VIPER Luzern, der Kurzfilmtage Oberhausen und der Duisburger Filmwoche. Daraufhin Assistent an der Professur für Landschaftsarchitektur der ETH Zürich und Dozierender an der Zürcher Hochschule der Künste. Doktorat zum Landschaftsfilm an der ETH Zürich und verschiedene Forschungsprojekte zu Landschaft und experimentellem Film. Heute Leiter des Master of Arts in Film der Hochschule Luzern – Design & Kunst. Matthias Wittmann, Film- und Medienwissenschaftler, Filmkurator und Essay-

ist, derzeit Assistent am Seminar für Medienwissenschaft der Universität ­Basel. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Filmästhetik, mediale Mnemographien, (D-)3-D-Kino und das Iranische Kino. Er forscht derzeit im Rahmen des vom SNF geförderten Projektes Nachbilder von Revolution und Krieg. Trauma- und Memoryscapes im postrevolutionären iranischen Kino. Zahlreiche Buchbeiträge, schreibt u. a. für die Zeitschrift Cargo. Autor des Buches MnemoCine. Die Konstruktion des Gedächtnisses in der Erfahrung des Films (Zürich/Berlin: diaphanes 2016). Preisträger des Karsten-Witte-Preises (2016).

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 „Die Architektur projiziert einen Raumentwurf in die dreidimensionale Welt. Der Film nimmt diesen Raum und übersetzt ihn in zweidimen­ sionale Bilder, die uns in der Zeit vorgeführt werden. Im Kino erfahren wir so etwas Neues: einen Gedankenraum, der uns über Gebäude meditieren lässt.“ Heinz Emigholz

Nachweise der eingeschobenen Zitate:

Georges Perec: Träume von Räumen. Zürich 2013, S. 66 Sergej Eisenstein: „Dramaturgie der Filmform“ (1929) in: Jenseits der Einstellung. Frankfurt a. M. 2006, S. 93-94 Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Berlin 1988, S. 218 Jean Epstein: „Der Kinematograph vom Ätna betrachtet“ (1926) in: Bonjour Cinéma und andere Schriften zum Kino. Wien 2008, S. 45 Hugo Münsterberg: „Die Mittel des Lichtspiels“ (1916), in: Helmut H. Diederichs: Geschichte der Filmtheorie. Frankfurt a. M. 2004, S. 302 Louis Aragon: „Dekor“ (1918) in: Karlheinz Barck (Hg.): Surrealismus in Paris, 1919-1939. Leipzig 1990, S. 587 Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild: Kino 2. Frankfurt a. M., S. 234 Thierry Kuntzel: „Die Filmarbeit 2“ (1975) in: montage a/v 8/1 (1999), S. 28 Maya Deren: „Cinematography: The Creative Use of ­Reality“ in: P. Adams Sitney: The Avant-Garde Film: A Reader of Theory and Criticism. New York 1978, S. 64 Dziga Vertov: „Kinoki - Umsturz“ (1923) in: Helmut H. Diederichs: Geschichte der Filmtheorie. Frankfurt a. M. 2004, S. 228 Hartmut Bitomsky: Die Röte des Rots von Technicolor. Neuwied und Darmstadt 1972, S. 53–54 Juri Lotman: Semiotics of Cinema. Ann Arbor 1976, S. 83 Frieda Grafe: „Panoptikum. Ulysses, ein Film von Werner Nekes“: Schnittstellen. Schriften. Bd. 10. Berlin 2006, S. 55 Heinz Emigholz: „Schindlers Häuser“, http://pym.de/de/ filme/schindlers-haeuser (29.6.2017)

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Bauwelt Fundamente (Auswahl)

  1 Ulrich Conrads (Hg.), Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts   2 Le Corbusier, 1922 – Ausblick auf eine Architektur   4 Jane Jacobs, Tod und Leben großer amerikanischer Städte  12 Le Corbusier, 1929 – Feststellungen  16 Kevin Lynch, Das Bild der Stadt  21 Ebenezer Howard, Gartenstädte von morgen (1902)  41 Aldo Rossi, Die Architektur der Stadt  50 Robert Venturi, Komplexität und Widerspruch in der Architektur  53 Robert Venturi / Denise Scott Brown / Steven Izenour, Lernen von Las Vegas 118 Thomas Sieverts, Zwischenstadt 126 Werner Sewing, Bildregie. Architektur zwischen Retrodesign und Eventkultur 127 Jan Pieper, Das Labyrinthische 128 Elisabeth Blum, Schöne neue Stadt. 131 Angelus Eisinger, Die Stadt der Architekten 132 Wilhelm / Jessen-Klingenberg (Hg.), Formationen der Stadt. Camillo Sitte weitergelesen 133 Michael Müller / Franz Dröge, Die ausgestellte Stadt 134 Loic Wacquant, Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays 135 Florian Rötzer, Vom Wildwerden der Städte 136 Ulrich Conrads, Zeit des Labyrinths 137 Friedrich Naumann, Ausstellungsbriefe Berlin, Paris, Dresden, Düsseldorf 1896–1906 138 Undine Giseke / Erika Spiegel (Hg.), Stadtlichtungen. 140 Yildiz / Mattausch (Hg.), Urban Recycling. Migration als Großstadt-Ressource 141 Günther Fischer, Vitruv NEU oder Was ist Architektur? 142 Dieter Hassenpflug, Der urbane Code Chinas 143 Elisabeth Blum / Peter Neitzke (Hg.), Dubai. Stadt aus dem Nichts 144 Michael Wilkens, Architektur als Komposition. Zehn Lektionen zum Entwerfen 145 Gerhard Matzig, Vorsicht Baustelle! 146 Adrian von Buttlar et al., Denkmalpflege statt Attrappenkult 147 Andre Bideau, Architektur und symbolisches Kapitel 148 Jörg Seifert, Stadtbild, Wahrnehmung, Design 149 Steen Eiler Rasmussen, LONDON, The Unique City 150 Dietmar Offenhuber / Carlo Ratti (Hg.), Die Stadt entschlüsseln 151 Harald Kegler, Resilienz 152 Günther Fischer, Architekturtheorie für Architekten 153 Bodenschatz / Sassi / Guerra (Hg.), Urbanism and Dictatorship 154 Dellenbaugh / Kip / Bieniok / Müller / Schwegmann (Hg.), Urban Commons 155 Anja Schwanhäußer (Hg.), Sensing the City. A Companion to Urban Antropology 156 Neil Brenner, Critique of Urbanization: Selected Essays 157 Turit Fröbe, Inszenierung eines Mythos 158 Nikolai Roskamm, Die unbesetzte Stadt 159 Alexander Stumm, Architektonische Konzepte der Rekonstruktion Alle Titel sind auch als E-Book erhältlich: degruyter.com