Rastlose Weltgestaltung: Senecaische Kulturkritik in den Tragödien Gryphius' und Lohensteins [Reprint 2013 ed.] 9783110945546, 9783484365810

Study of the reception accorded to Stoic philosophy in major 17th century German tragedies reveals the conceptual founda

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Rastlose Weltgestaltung: Senecaische Kulturkritik in den Tragödien Gryphius' und Lohensteins [Reprint 2013 ed.]
 9783110945546, 9783484365810

Table of contents :
A EINLEITUNG
B DER BEGINN DER NEUZEIT IN GRYPHIUS’ TRAGÖDIEN IM LICHTE SENECAISCHER KULTURPHILOSOPHIE
I. Religion oder Politik
II. Gryphius’ Lyrik: Umwertung der Begriffe sapientia und scientia?
III. Wissenschaftskritik und Senecaische Kulturphilosophie im Leo Armenius
1. Der Reyen der Höfflinge: frühneuzeitliche Wissensordnung und die Grundzüge der Senecaischen Wissensphilosophie
2. Die Handlung: Die Inszenierung eines ideengeschichtlichen Streits im Spiegel von Senecas Oedipus
IV. Allegorese und stoische Naturbetrachtung als rastlose Weltgestaltung in Catharina von Georgien und Papinian
1. Stoische Erkenntnistheorie und Allegorese im Kontext der Lutherischen Hermeneutik: Senecas 41. Brief und Gryphius’ Gedicht Einsambkeit
2. Catharina von Georgien als Exempelfigur? Traditionelle Interpretation und Widersprüche
3. Papinian: Idealgestalt oder senecaischer occupatus?
V. Gryphius’ Dramen: Kritik an der Tradition?
C. REZEPTION DER SENECAISCHEN KULTURKRITIK IN DEN DRAMEN DANIEL CASPERS VON LOHENSTEIN
I. Gryphius, Lohenstein und die Barockforschung: Zwei Welten oder verborgene Einheit?
II. Lohenstein und die Natur: Versuch einer Annäherung
III. Cleopatra und Senecas Medea
1. Begründung für die Verwendung der Erstfassung
2. Der Reyen der Tiber, des Nilus, der Donau, des Rheins
3. Das Verhängnis
4. Zwischenbilanz: Das Problem des Konsenses bei Gryphius und Lohenstein
5. Tiphys und die emblematische Struktur der Cleopatra
IV. Das Seneca-Bild in den römischen Dramen Agrippina und Epicharis
1. Die Frage nach dem Zugang zur Senecaischen Philosophie
2. Lohensteins philologische und philosophische Stellungnahme zum Problem De dementia in der Agrippina
3. Seneca in der Epicharis: ein stoischer Philosoph?
Epilog: Es gibt keine Stoiker mehr
Literaturverzeichnis
Quellen
Darstellungen
Namenregister

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Frühe Neuzeit Band 81 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Stefanie Arend

Rastlose Weltgestaltung Senecaische Kulturkritik in den Tragödien Gryphius' und Lohensteins

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2003

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-36578-1

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2003 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Stefanie Arend, Marburg Druck: Guide-Druck G m b H , Tübingen Einband: Buchbinderei Heinr. Koch, Tübingen

Prolog

Vorliegende Untersuchung ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 2000 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen wurde. Prof. Dr. Peter J. Brenner danke ich für die stets aufmerksame, umsichtige und inspirierende Betreuung, für seine Geduld und für sein Vertrauen. Auch erfuhr die Arbeit in etlichen seiner Oberseminare zur Kulturphilosophie und -anthropologie durch rege Diskussionen Impulse. Prof. Dr. Walter Pape gilt mein Dank für die freundliche Übernahme des Zweitgutachtens, den Herausgebern fur die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Frühe Neuzeit. Nicht unerheblich hat Prof. Dr. Peter Frisch zur Realisierung der Arbeit beigetragen. Unvergeßlich bleiben seine gleichermaßen von Heiterkeit und tiefem Ernst geprägten Veranstaltungen zu Senecas Schriften. Für tatkräftige Unterstützung bei der Endredaktion danke ich besonders Amir Shaheen und Gerrit Kloss, schließlich Dagmar Schneider für die engagierte Hilfe bei der Herstellung der Druckvorlage.

Marburg, im Januar 2003

Stefanie Arend

Inhalt

Α

Β

I.

EINLEITUNG

1

D E R BEGINN DER NEUZEIT IN GRYPHIUS ' TRAGÖDIEN IM LICHTE SENECAISCHER KULTURPHILOSOPHIE

15

Religion oder Politik

15

II. Gryphius' Lyrik: Umwertung der Begriffe sapientia und sciential..

20

III. Wissenschaftskritik und Senecaische Kulturphilosophie im Leo Armenius

27

1.

2.

Der Reyen der Höfflinge: frühneuzeitliche Wissensordnung und die Grundzüge der Senecaischen Wissensphilosophie a) Gryphius' Reyen und Sophokles' Antigone: Aspekte hellenistischer Bildungskonzepte und die Senecaische Wissensphilosophie b) Umkehrung der Senecaischen Wissensordnung: Vorherrschaft der Naturwissenschaften und Transformation des stoisch-christlichen ins neue Naturrecht c) Die Historisierung der Natur und die Dichotomie von Natur und Kultur Die Handlung: Die Inszenierung eines ideengeschichtlichen Streits im Spiegel von Senecas Oedipus a) Anwendung der curiositas zur Vertreibung der Tradition b) Stufen der Wahrheitssuche: Inzenierung der Selbstbildes, mimetische Angleichung und Befriedigung der Neugierde durch Augenschein

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IV. Allegorese und stoische Naturbetrachtung als

rastlose Weltgestaltung in Catharina von Georgien und Papinian .. 70

VIII 1.

2.

3.

Stoische Erkenntnistheorie und Allegorese im Kontext der Lutherischen Hermeneutik: Senecas 41. Brief und Gryphius' Gedicht Einsambkeit Catharina von Georgien als Exempelfigur? Traditionelle Interpretation und Widersprüche a) Catharina als occupata b) Die Theorie: Paränese und philosophische Adhortatio im zweiten Chorlied des Thyestes und im Prolog der Catharina . . . c) Die Praxis: Thyestes' und Catharinas Abkehr von der Gesellschaft. Das hermeneutische Problem der Naturverhältnisse d) Allegorie und Wahrheit in Walter Benjamins Trauerspielbuch: Widersprüche, Möglichkeiten und Grenzen seines Allegoriebegriffs e) Die ,andere' Stoa: Imanculis Plädoyer für die neustoische constantia und den Pflichtgedanken der mittleren Stoa Papinian: Idealgestalt oder senecaischer occupatusl a) Die Funktion des Zuschauermotivs: Papinians sokratisch-epikureische Wendung b) Papinians Einsamkeit: Zur Sinnlosigkeit seiner Rechtsvorstellung

V. Gryphius' Dramen: Kritik an der Tradition?

C.

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97

110 117 124 127 139 146

REZEPTION DER SENECAISCHEN KULTURKRITIK IN DEN D R A M E N D A N I E L CASPERS VON LOHENSTEIN

I.

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149

Gryphius, Lohenstein und die Barockforschung: Zwei Welten oder verborgene Einheit?

151

II. Lohenstein und die Natur: Versuch einer Annäherung

159

III. Cleopatra und Senecas Medea 1. Begründung fur die Verwendung der Erstfassung

165 165

2.

167

Der Reyen der Tiber, des Nilus, der Donau, des Rheins a) Streit um die significatio: Der Mythos als Zugang zum Drama b) Der Mythos der Argonautenfahrt: Polyvalenz und Wahrheit

167 178

IX c) d) 3.

4. 5.

Die Lieder vom Fluch der Zivilisation: Tiphys, der Frevler an der Natur Augustus, der römische Tiphys

182 189

Das Verhängnis a) Die significatio des ersten Reyen und die Inhomogenität des Verhängnisbegriffs b) Die senecaischen occupati und die Simulaton des amor fati: Zur Funktion der Rhetorik im Hinblick auf die translatio-Idee

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212

Zwischenbilanz: Das Problem des Konsenses bei Gryphius und Lohenstein

223

Tiphys und die emblematische Struktur der Cleopatra

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203

IV. Das Seneca-Bild in den römischen Dramen Agrippina und Epicharis

228

1.

Die Frage nach dem Zugang zur Senecaischen Philosophie

228

2.

Lohensteins philologische und philosophische Stellungnahme zum Problem De dementia in der Agrippina a) Die Traumerscheinung des Britannicus b) Die Prätexte. Senecas sanftmütige Fürsten und die Rezeption von De dementia in Gryphius' Leo Armenius c) Lohensteins Antwort auf seine Vorbilder: Seneca in der Agrippina (i) Senecas Lebenswelt: Othos Rede (ii) Seneca als Konfiguration der Problematik stoischer Erkenntnistheorie: Die Divergenz von Theorie und Praxis der dementia d) Verlorene Natur: Das Bienengleichnis e) Inwiefern Stoakritik?

271 291 296

Seneca in der Epicharis: ein stoischer Philosoph?

300

3.

237 237 245 262 265

Epilog: Es gibt keine Stoiker mehr

318

Literaturverzeichnis Quellen Darstellungen

321 321 324

Namenregister

343

Α. Einleitung

Die Renaissance der stoischen Philosophie in der Frühen Neuzeit ist ohne die denkgeschichtlichen Anfänge der modernen Welt nicht zu verstehen. Umgekehrt schöpft die beginnende Neuzeit ihre Kräfte aus der Auseinandersetzung mit der Stoa. In dieser Begegnung der antiken mit der modernen Welt liegt die Ursache sowohl fur letztlich nicht aufzulösende Konflikte als auch für produktive Neuanfange. Im 17. Jahrhundert spiegelt die Tragödie die Konfrontation der Moderne mit der stoischen Philosophie auf eine besondere Weise, indem sie deren jeweilige Ideen in eine imaginäre menschliche Praxis stellt.1 Der Rezeption philosophischer Ideen nachzugehen bedeutet, einen rekonstruierten ideengeschichtlichen Kontext zu bemühen, aber gleichzeitig auch immer, zu dessen Konstruktion beizutragen. Die folgende Untersuchung beabsichtigt, die Fundamente der beginnenden Neuzeit im barocken Drama aufzudecken, wobei sie die antike Stoa, besonders wie sie sich im Werk Senecas als Kulturphilosophie manifestiert, fruchtbar verwenden kann. Diese wird sie unter dem Blickwinkel der Frühen Neuzeit ebenfalls neu betrachten.2

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Die Moderne und die Neuzeit bezeichnen im folgenden vor allem den denkgeschichtlichen Raum, in dem soziologisch und philosophiegeschichtlich der Beginn des ,neuen Denkens' verortet wird, das einhergeht mit der Entwicklung der neuen Naturwissenschaften. Der Zielpunkt dieser Moderae wäre die Dialektik der Aufklärung. Vgl. Peter V. Zima: Mod e r n e / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur. Tübingen und Basel 1997, S. 9-23. Gleichwohl müßte unter einem weiter gefaßten Begriff von ,Moderne' auch das berücksichtigt sein, was sich als korrektive Gegenströmung zu diesem Prozeß abzeichnet: Unter diesem Aspekt wäre auch die Stoa unter die .Moderne' zu subsumieren. Es wird sich zeigen, daß .Moderne' und .Neuzeit' nicht nur Begriffe sind, durch die wir Ordnung in die Vergangenheit bringen, sondern daß bereits im 17. Jahrhundert ein Bewußtsein für einen fast epochalen Neuanfang durchaus vorhanden war. Semantisch schließt so der Begriff ,Neuzeit' dieses Bewußtsein ein. Vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1979, S. 310. Es geht nicht darum, bloße .Einflußforschung' zu betreiben, d. h. einen genetischen Prozeß von Ursache und Wirkung des einen Autors auf einen anderen darzustellen (vgl. Maria Moog-Grünewald: Einfluss- und Rezeptionsforschung. In: Vergleichende Literaturwissenschaft. Theorie und Praxis. Hrsg. von Manfred Schmeling. Wiesbaden 1981 [AthenaionLiteraturwissenschaft 16], S. 49-72, hier S. 52). Mit Recht wurde der Terminus .Einflußforschung' durch ,Rezeptionsforschung' ersetzt, der mehrere Aspekte umfaßt: Eine rezeptionsgeschichtliche Analyse untersucht die jeweilige „Konkretisation" eines literarischen Werkes in einem anderen zeitgeschichtlichen auch außerliterarischen Umfeld, das ebenfalls ausgeleuchtet werden sollte (vgl. ebd., S. 52), und filtert die Fragen heraus, die diese neue Konkretisation stellt. Die Standortgebundenheit des jeweiligen Lesers wird aufgewertet.

2 Nimmt man die Senecaische Ethik als eine Philosophie des Lebens und Handelns ernst, die in den Tragödien mit ihrem Programm des naturgemäßen Lebens auftritt, des secundum naturam vivere, läßt sich die Modernität der barocken Dramen von der Warte der Antike aus, der Tradition, nachweisen. Leitfaden fur die Interpretation Senecaischer Ethik und deren Rezeption im 17. Jahrhundert bildete indes bisher nicht das Programm des naturgemäßen Lebens mit all seinen Implikationen, sondern vor allem der Begriff der constantia. Dieser gewann in der Frühen Neuzeit besonders durch die produktive Rezeption des Senecaischen Dialogs De constantia sapientis. Nec iniuriam nec contumeliam accipere sapientiem in Justus Lipsius' Traktat De constantia libri duo (1584) an Popularität. Schließlich lieferte Opitz' Vorrede zu den Trojanerinnen die Inauguralzündung fur eine bestimmte Auffassung von der Präsenz Senecaischer Ethik in den Trauerspielen. Die Tragödie solle den Zuschauern stoische „Beständigkeit", constantia, einpflanzen: „wir lernen [...] auch aus der stetigen besichtigung so vielen Creutzes und Uebels das andern begegnet ist / das unserige / welches uns begegnen möchte / weniger furchten und besser erdulden." 3 Fortan wurde die constantia für die Interpretationen der barocken Dramen zu einer bis heute zentralen Beschreibungskategorie. 4 Bereits Paul Stachel hatte in seiner stil- und motivgeschichtlichen Untersuchung Seneca und das deutsche Renaissancedrama auf sie verwiesen, die über die Renaissancedramatiker den Senecaischen Einfluß bei Gryphius bestimmt habe. 5 Hans-Jürgen Schings deckt in verschiedenen Darstellungen und besonders in seiner Arbeit Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius die Rezeptionswege der stoischen Philosophie durch die Wiederbelebung der Kirchenväterliteratur auf, wobei er vor allem den Zitatenschatz der Dissertationes funebres auswertet. Dreh- und Angelpunkt für die Stoa-Rezeption bildet für Schings die Patristik, wobei Lipsius' „Erneuerung der Stoa" eine „Reprise des patristischen Stoizismus" darstelle. 6 Eine „mögliche Konkurrenz" zwischen Stoa und Neustoizismus sei von der „Konkordanz", die Lipsius programmatisch verkündet habe, verdeckt worden. 7

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Martin Opitz: An den Leser. Vorrede: Trojanerinnen. In: Ders.: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 1-4. Hrsg. von George Schulz-Behrend. Stuttgart 1968-1990, hier Bd. 2: Die Werke von 1621 bis 1626. Teil 2. 1979 (Bibliothek des Literarischen Vereins 301), S. 430. Vgl. Dirk Niefanger: Barock. Stuttgart, Weimar 2000, S. 41, S. 146. Vgl. Paul Stachel: Seneca und das deutsche Renaissancedrama. Studien zur Literatur- und Stilgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. Berlin 1907, S. 204. Vgl. etwa Werner Welzig: Constantia und barocke Beständigkeit. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 35, 1961, S. 416— 432, hier S. 417. Vgl. auch Richard Alewyn: Vorbarocker Klassizismus und griechische Tragödie. Analyse der „Antigone"-Übersetzung des Martin Opitz. Darmstadt 1962, S. 6 - 8 . Hans-Jürgen Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Untersuchungen zu den Dissertationes funebres und Trauerspielen. Köln, Graz 1966, S. 208. Ders.: Seneca-Rezeption und Theorie der Tragödie. Martin Opitz' Vorrede zu den „Trojanerinnen". In: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972. Hrsg. von Walter Müller-Seidel u. a. München 1974,

3 Senecas Dialoge zeigten sich im Neustoizismus in christlich-patristischem Gewand, stoisch-christliche Tugenden bildeten die Grundausstattung der Gryphschen Märtyrer und inbesondere die constantia zu erlangen das Erziehungsziel der Tragödien. Die Tragödien sollten durch das Vorfuhren der praemeditatio malorum und der „Affekt-Askese" die Rezipienten in den Stand setzen, ihr eigenes Leid besser zu erdulden. 8 Im Zeichen der Glaubenskriege habe die stoische Philosophie als eine „Notstandsmoral" fungiert, 9 die in vorbildlicher Weise von den Märtyrern besonders der Gryphschen Dramen in Form der imitatio Christi praktiziert werde. Die Märtyrer bzw. diejenigen, die für eine höhere Gerechtigkeit und für das Gewissen kämpften, wie etwa Papinian, spiegelten das Schicksal der protestantischen Minderheit in Schlesien, die sich gegen den Zentralismus der katholischen Habsburger behaupten mußte. In Anlehnung an das Jesuitentheater, wenngleich unter umgekehrten Vorzeichen, hätten die in Breslau aufgeführten Schuldramen in einer konkreten historischen Situation eine pädagogische und paränetische Funktion erfüllt, indem sie im Geiste des Luthertums zum passiven Widerstand aufforderten. Abweichend von der Aristotelischen Definition sei es zu einer neuen konsolatorischen Funktion der Tragödie gekommen. 10 Im Zeichen der vanitas als Grundbedingung menschlichen Daseins überhaupt sei die stoische constantia über die konkrete historische Situation hinausgehend das empfohlene remedium gegen die Unwägbarkeiten des Daseins, die wankelmütige fortuna, gewesen. 11 Die Barockliteratur erscheint hier „als legitimes Endprodukt einer jahrtausendealten Tradition", als „Brücke zur Antike", in der „zum letztenmal [...] die Kontinuität der antiken, christlichen, europäischen Tradition bestimmend in Kraft" sei.12 Die constantia wurde in der Forschung zu einem zentralen Begriff, in dem sich die Seneca-Rezeption des 17. Jahrhunderts zu erschöpfen scheint, 13 obwohl die Definition der Gryphschen Tragödien als Märtyrerstücke längst in Frage gestellt ist und ein modernistischer Ansatz die an-

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S. 521-537, hier S. 532. Vgl. auch Peter Rühl: Lipsius und Gryphius. Ein Vergleich. Diss., Berlin 1967, S. 22. Schings: Seneca-Rezeption und Theorie der Tragödie, S. 535. Ebd., S. 534. Vgl. ebd., S. 536. Vgl. Wolf-Lüder Liebermann: Die deutsche Literatur. In: Der Einfluss Senecas auf das europäische Drama. Hrsg. von Eckard Lefevre. Darmstadt 1978, S. 3 7 1 449, hier S. 411 f. Vgl. Schings: Gryphius, Lohenstein und das Trauerspiel des 17. Jahrhunderts. In: Handbuch des deutschen Dramas. Hrsg. von Walter Hinck. Düsseldorf 1980, S. 48-60, hier S. 48-50. Vgl. so auch Marian Szyrocki: Die deutsche Literatur des Barock. Stuttgart 1994, S. 22-23. Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius, S. 4. Vgl. auch Xaver Stalder: Formen des barocken Stoizismus. Der Einfluss der Stoa auf die deutsche Barockdichtung - Martin Opitz, Andreas Gryphius und Catharina Regina von Greiffenberg. Bonn 1976, S. 107. Im Gegensatz zu Schings bestreitet Stalder mit Blick auf die christliche Schicksalsvorstellung, daß Lipsius die Christianisierung der Stoa gelungen sei (vgl. S. 23f.).

4 gebliche christlich-stoische Vorbildhaftigkeit der Figuren einer Prüfung unterzieht. 14 In der Lohenstein-Forschung findet die stoische Philosophie zwar weniger Aufmerksamkeit, wenn ihr jedoch Beachtung geschenkt wird, so gilt auch hier die Formel von der stoischen Welthaltung der constantia, an der sich die Figuren zu messen haben. Verhofstadts Arbeit Untergehende Wertwelt und ästhetischer Illusionismus, die einzige marginal ideengeschichtlich angelegte Studie, die sich umfangreicher mit der Stoa-Rezeption bei Lohenstein auseinandersetzt, kommt jedoch zu zweifelhaften Ergebnissen. Eine angebliche Entchristianisierung oder Säkularisierung führe dazu, daß in den Dramen die ausgehöhlte stoische Grundeinstellung als rein ästhetische Haltung zur Erzielung von Effekten abqualifiziert sei. 15 Wie auch im Verhältnis zu christlichen oder neuplatonischen Denkformen stellt Verhofstadt in bezug auf die Antike eine „ideologische Leere" fest. 16 Die stoische Philosophie wird auf den Begriff der constantia festgelegt, auch wenn sich ihre Funktion bei Lohenstein wandele: Nicht mehr gehe es um die beharrende Kraft einer höheren Gerechtigkeit oder um passives Erdulden von Leid, sondern um ebenso tugendhafte, aber nun aktive vernünftige Weltbewältigung durch erfolgsorientierte neustoische constantia bzw. prudential1 Die christliche constantia hingegen stellten die Lohen-

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Die Ursache fur das constantia-Ideal sieht Harald Steinhagen (Einleitung zu: Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock. 1572-1740. Hrsg. von Harald Steinhagen. Hamburg 1985 [Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 3], S. 9-17) nicht mehr in der Tradition. In der constantia formuliere sich vielmehr bereits das aufklärerische Ideal der autonomen Vernunft (vgl. S. 17). Vgl. auch Lothar Bomscheuer: Diskurs-Synkretismus im Zerfall der politischen Theologie. Zur Tragödienpoetik der Gryphschen Trauerspiele. In: Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts. Gedenkschrift für Gerhard Spellerberg (1937-1996). Hrsg. von Hans Feger. Amsterdam-Atlanta 1997 (Chloe 27), S. 489-529, hier S. 512. Vgl. ders.: Trauerspiele. In: Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock, S. 268-283, hier S. 274—276. Rüdiger Scholz (Dialektik, Parteilichkeit und Tragik des historischen-politischen Dramas Carolus Stuardus von Andreas Gryphius. In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 29, Heft 2, 1998, S. 207-239) spricht von einer nurmehr stilisierten imitatio Christi durch stoische constantia (vgl. S. 217). Vgl. Edward Verhofstadt: Daniel Casper von Lohenstein: Untergehende Wertwelt und ästhetischer Illusionismus. Fragestellung und dialektische Interpretationen. Brugge 1964, S. 201. Ebd., S. 202. Vgl. ebd., S. 210. Vgl. Friedrich Wilhelm Wentzlaff-Eggebert: Die deutsche Barocktragödie. Zur Funktion von „Glaube und Vernunft" im Drama des 17. Jahrhunderts. In: Ders.: Belehrung und Verkündigung. Schriften zur deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Hrsg. von Manfred Dick und Gerhard Kaiser. Berlin, New York 1975, S. 178-192, hier S. 190. Vgl. Hans-Jürgen Schings: Constantia und Prudentia. Funktionswandel des barocken Trauerspiels. In: Studien zum Werk Daniel Caspers von Lohenstein. Anläßlich der 300. Wiederkehr des Todesjahres hrsg. von Gerald Gillespie und Gerhard Spellerberg. Amsterdam 1983 (Daphnis 12, Heft 2-3), S. 4 0 3 ^ 3 9 , hier S.415. Vgl. ähnlich Michael Titzmann: „Verstellung". Semiotische, anthropologische, ideologische Implikationen im Drama des deutschen Barock. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Teil 1. Hrsg. von Wolfgang Adam. Wiesbaden 1997, S. 543-557, hier S. 544f. Zum aktiven Moment der

5 stein-Dramen nicht mehr als vorbildlich dar, sondern verurteilten sie als resignierende Apathie und als lähmende und geschichtsunwirksame Haltung.' 8 Eine ähnliche Tendenz ist auch in Wicherts materialreicher Studie Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert zu bemerken, die „Lohensteins Stoakritik" ein eigenes Kapitel widmet. Wiehert will in den Dramen eine Kritik am stoischen Ideal der Affektlosigkeit und extremer Rationalität ermitteln, das als „unmenschlich" gelte.19 Zweifelsohne ist die constantia nicht zu Unrecht eine wichtige und für die Interpretation barocker Dramen geeignete Terminologie, besonders wenn man sich auf einem literarischen Terrain bewegt, für dessen Verständnis die Berücksichtigung von Tradition unerläßlich ist. Die Reduzierung aber der stoischen Philosophie auf die weltverneinende Haltung der constantia oder Begriffe aus ihrem Umfeld verstellt den Blick auf mögliche Anknüpfungspunkte an die Moderne, ihre Anthropologie und Wissenschaftsgeschichte. In der folgenden Darstellung soll die genuine Stoa als Kulturphilosophie berücksichtigt werden, wobei Senecas gesamtes Werk in der Interpretation Beachtung finden wird. Denn die Rezeption der Stoa in der Frühen Neuzeit fand neben der christlichen Popularisierung des Senecaischen Werkes durch die Wiederbelebung der patristischen Literatur etwa in Florilegienform, der Schings besondere Beachtung schenkt, und Justus Lipsius', Pierre Charrons und Guillaume du Vairs neustoischen Schriften durch die Aufarbeitung des ,genuinen Seneca' statt: Hier ist vor allem an die Seneca-Ausgaben von Erasmus, Lipsius, Delrio, Gruterius und Gronovius zu denken, ohne die der authentische Seneca nicht bereits im 17. Jahrhundert maßgeblicher Schulautor hätte werden können. Dank der Arbeit der Humanisten und ihrer Bemühung, die authentischen fontes zu rekonstruieren, waren Senecas Schriften in Volltexten verbreitet. 20 Die heutigen modernen exzellenten

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neustoischen constantia vgl. auch Bernd Peschken: Andreas Gryphius aus neustoizistischer, sozialgeschichtlicher Sicht. In: Daphnis 6, 1977, S. 327-358, hier S. 330). Vgl. Elida Maria Szarota: Künstler, Grübler und Rebellen. Studien zum europäischen Märtyrerdrama des 17. Jahrhunderts. Bern, München 1967, S. 324-328. Vgl. Reinhart Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit. Affektenlehre und Affektdarstellung in Lohensteins Dramatik am Beispiel von Agrippina. Göttingen 1986 (Palaestra 279), S. 277. Adalbert Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert. Daniel Casper von Lohenstein und sein Werk. Eine exemplarische Studie. Tübingen 1991, S. 288. Zu den Stationen der Seneca-Rezeption von der Antike bis zu Erasmus vgl. zusammenfassend Winfried Trillitzsch: Seneca im literarischen Urteil der Antike. Darstellung und Sammlung der Zeugnisse. Bd. 1-2. Amsterdam 1971, hier Bd. 1: Darstellung, S. 251-265. Zur Rezeptionsgeschichte von Senecas Dramen vgl. insgesamt den Sammelband von Eckard Lefevre: Der Einfluss Senecas auf das europäische Drama. Zu Beginn der Wiederentdeckung von Senecas Dramen wurde immer wieder die Verfasserschaft bestritten. Man konnte sich nur schwer mit dem Gedanken anfreunden, daß so unterschiedliche Schriften wie die Episteln, Dialoge und Tragödien von ein und demselben Autor verfaßt sein sollten. Erste Zweifel an der Identität von Seneca tragicus und Seneca philosophus äußerten Petrarca und Coluccio Salutati (vgl. Hans-Jürgen Tschiedel: Die italienische Literatur. In: ebd., S. 78-131, hier S. 79f.) Der Zweifel an Seneca als Autor der Tragödien wurde schließlich auch durch philologische Untersuchungen genährt, und noch Justus Lipsius

6 Ausgaben berücksichtigen diese Überlieferung. Da die Analyse sich nicht als positivistische Einflußforschung, sondern als ideengeschichtliche Untersuchung versteht, darf sie auf diese zurückgreifen. Der ideengeschichtliche Gehalt wird durch meist nur geringfügig voneinander abweichende Lesarten nicht verändert. Neben den rein philologischen Gründen spricht weiteres dafür, mit dem Senecaischen Werk den Quellen der stoischen Philosophie in bewußter Abkehr vom Neustoizismus wieder stärkere Beachtung zu schenken. Außerliterarische ideengeschichtliche systematische und historische Analysen zum Stoizismus im 17. Jahrhundert stellen seit längerem nicht nur die Verwandtschaft zwischen Stoa und Neustoizismus, sondern die tragende Bedeutung des Neustoizismus überhaupt in Frage. Günter Abels ertragreiche ideengeschichtliche Darstellung Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik hebt den prinzipiellen Unterschied des neustoischen zum stoischen Denken hervor, dessen genuiner Gehalt, besonders der universale ethische Rigorismus, transformiert worden sei.21 Befindet sich Abel noch in Übereinstimmung mit

wollte dem Philosophen aus Stilgründen die Autorschaft einiger Dramen absprechen. Die philologischen Vorbehalte wichen jedoch einem erstarkenden inhaltlichen Interesse. Die Tragödien Senecas schienen ein geeignetes Vorbild abzugeben für christliche Märtyrerstücke. Ein Markstein fur die Rezeption in Deutschland ist Opitz' Übersetzung der Troades. Die Diskussion fur und wider Senecas Autorschaft beruhigte sich seit dem 17. Jahrhundert. Fanden die Tragödien dort die Achtung und Würdigung, die ihnen Scaliger in seiner Poetik im Vergleich mit den griechischen Vorbildern hatte zukommen lassen (vgl. Julius Caesar Scaliger: Poetices libri Septem. Faksimileneudruck der Ausgabe von Lyon 1561. Mit einer Einleitung von August Buck. Stuttgart, Bad Canstatt 1964, S. 323), so fielen sie in der Aufklärung dem Verdikt Lessings zum Opfer. Anläßlich der Analyse einiger Stücke bemängelt Lessing in seiner Abhandlung Von den lateinischen Trauerspielen welche unter dem Namen des Seneca bekannt sind (in: Ders.: Werke. Bd. 4: Dramaturgische Schriften. Hrsg. von Herbert G. Göpfert, bearbeitet von Karl Eibl. Darmstadt 1996, S. SSH I ) den „Pomp" (S. 125) und insgesamt den „Mangel der Kunst" (ebd., S. 126). Wilfried Barner hat nachgewiesen, wie es bei Lessing dennoch zu einer produktiven Rezeption' kommen konnte; dessen Vorurteil jedoch hatte Nachwirkungen auf das 19. Jahrhundert, das Senecas Tragödien als bombastische rhetorische Kunstübungen abtat (vgl. Wilfried Barner: Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas. Mit einem Anhang: Lessings Frühschrift Von den lateinischen Trauerspielen welche unter dem Namen des Seneca bekannt sind [1754]. München 1973, S. 13f.). Es scheint, als habe sich auch die Forschung lange nicht von einem stilistisch begründeten Vorurteil losgesagt. In der Altertumsforschung war es Otto Regenbogens Verdienst, zu einem neuen Verständnis zu gelangen; er wies auf das Vorbild der Senecaischen Tragödien fur die barocken Dramen als ,Affektgemälde' hin (vgl. Otto Regenbogen: Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas. In: Ders.: Kleine Schriften. Hrsg. von Franz Dirlmeier. München 1961, S. 409-462, hier S. 429). Besonders als psychologische Lehrstücke erregten seitdem die Tragödien Senecas Interesse, und in der stoischen Psychologie und der Affektdarstellung auf der Bühne sah man ihre ,Modernität' (vgl. Eckard Lefevre: Senecas Tragödien. In: Der Einfluss Senecas auf das europäische Drama, S. 1-11, hier S. 4-6). 21

Vgl. Günter Abel: Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik. Berlin, New York 1978, S. 14 u. 84. Um den grundlegenden Unterschied zum Neustoizismus hervorzuheben, wird gerne darauf verwiesen, daß die neustoische Klugheitslehre im Sinne der Staatsräson den mittleren Betrug akzeptiert. Vgl. etwa Karl-Heinz Mulagk: Phänomene des politischen Menschen im 17. Jahr-

7 Gerhard Oestreich, wenn er den konstitutiven Charakter des Neustoizismus für die Herausbildung des frühneuzeitlichen Staatswesens unterstreicht,22 fordert van Gelderen eine grundsätzliche „Neubewertung der Bedeutung von Lipsius und seines Neustoizismus". 23 Lipsius folge „in seiner Rezeption des stoischen Denkens [...] ganz entschieden den Konventionen des Humanismus" 24 , und hier seien im Bereich der Ethik Seneca und im Bereich der Politik Tacitus die Leitfiguren gewesen. Van Gelderen weist darauf hin, daß der Stoizismus lange bevor Lipsius' Schriften erschienen wiederbelebt und im Bereich des ethischen und politischen Denkens aktualisiert worden ist.25 Außerdem bestreitet er die außerordentliche Wirksamkeit, die laut Oestreich Lipsius mit seiner Politico auf die Herausbildung des sogenannten modernen absolutistischen Machtstaates gehabt haben soll. Die Politico stehe eher in der Tradition der Fürstenspiegel der Renaissance mit Tacitus als Hauptquelle. 26

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hundert. Propädeutische Studien zum Werk Lohensteins unter besonderer Berücksichtigung Diego Saavedra Fajardos und Baltasar Graciäns. Berlin 1973, S. 88. Vgl. Abel: Stoizismus und Frühe Neuzeit, S. 18. Vgl. Gerhard Oestreich: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Berlin 1969, S. 187 u. 194. Oestreich steht im Gegensatz zu Abel in Diltheys Tradition, der eine problemlose Übernahme und Wiederbelebung der antiken Stoa in der Frühen Neuzeit annimmt. Vgl. Wilhelm Dilthey: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. Leipzig und Berlin 1914 (Gesammelte Schriften. Bd. 2), S. 93, 285, 317 u. 441. Vgl. im Sinne Oestreichs auch Christoph Deupmann gen. Frohues: Philosophie und Jurisprudenz. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hrsg. von Albert Meier. München, Wien 1999 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 2), S. 100-123, hier S. 104. Martin van Gelderen: Holland und das Preussentum: Justus Lipsius zwischen Niederländischem Aufstand und Brandenburg-Preussischem Absolutismus. In: Zeitschrift für historische Forschung 23, 1996, S. 29-56, hier S. 40. Ebd., S. 44. Ebd., S . 4 0 und 43. Vgl. zur Bedeutung des Tacitismus für die Herausbildung der politischen Klugheitslehre auch Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 3), S. 55-60. Vgl. ders.: Geschichte als Gegenwart. Formen der politischen Reflexion im deutschen Tacitismus des 17. Jahrhunderts. In: Res Publica Litteraria. Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Bd. 1-2. Hrsg. von Sebastian Neumeister und Conrad Wiedemann. Wiesbaden 1987 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 14), hier Bd. 1,S. 325-348. Vgl. van Gelderen: Holland und das Preußentum, S. 46. Insbesondere bezweifelt van Gelderen die tragende Rolle, die laut Oestreich Lipsius für den Niederländischen Späthumanismus gespielt haben soll. Diese Ethik der Anpassung und Unterwerfung unter den Fürsten habe der republikanischen Freiheitsidee im Aufstand gegen die spanische Macht widersprochen (vgl. ebd., S. 50-53). Zu einer Kritik an Oestreichs Terminologie vgl. insgesamt auch Reinhard Blänkner: „Absolutismus" und „frühmodemer Staat". Probleme und Perspektiven der Forschung. In: Frühe Neuzeit - Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen. Hrsg. von Rudolf Vierhaus u. a. Göttingen 1992 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 104), S. 48-74, hier S. 57-59. Wenn im folgenden vom ,Absolutismus' die Rede ist, so handelt es sich immer um dessen Idee. Der Begriff, der sich erst nach der Restaurationszeit als „Kunstbegriff' einbürgerte (Heinz Durchardt: Das Zeitalter des Absolutismus. München, 3., überarbeitete Aufl. 1998 [Grundriss der Geschichte 11], S. 159.), spiegelt unvollkommen die historische Faktizität. Realgeschichtlich stellte sich der absolutistische Machtstaat nicht als vollkommen absolut

8 Weder der Seneca christianus noch der neustoische Seneca sind Gegenstand meiner Untersuchung, sondern der genuine Stoizismus, der im 17. Jahrhundert in humanistischer Tradition wieder ins Blickfeld rückt. Daß die Stoa nun auftritt, ihr Programm des naturgemäßen Lebens ins Feld zu fuhren, und weit über eine Sterbekunst hinaus ein eminent kulturkritisches Potential bereit hält, das die Entteleologisierung von Natur mit all ihren Implikationen beklagt, zeigen die politischen Tragödien des 17. Jahrhunderts auf der Folie Senecaischer Philosophie. Das Programm des secundum naturam vivere wird gegen die modernen Selbstbehauptungsstrategien ins Feld gefuhrt, die den Menschen der Natur entfremden. Wenn Abel konstatiert, daß sich die Neuzeit „in Abstoßung von antikem Geist" etablierte und daß „gerade von der Antike her eine gehaltvolle Kritik an der Entwicklung zur und der Neuzeit selbst geleistet werden kann und muß", 27 handelt es sich um die genuin stoische Philosophie, die einer Profanisierung der Natur- und Rechtsauffassung im 17. Jahrhundert entgegenzutreten hätte. Was bedeutet nun die Formel des secundum naturam vivere? Die Genese der Stoa im Hellenismus wird auf den Zerfall der griechischen Polis zurückgeführt, auf Individualisierungsprozesse, die die Sophisten vorantrieben, auf einen Pluralismus der Werte, auf Verunsicherungen, die Neuorientierungen verlangten. Neben dem Epikureismus war es die Stoa, die das Leben des einzelnen in den Mittelpunkt zu rücken versprach und mit ihrer Prämisse des naturgemäßen Lebens Anhänger gewinnen konnte. Das Ziel des Lebens sah der alte Stoiker Kleanthes in der Telosformel όμολουγομέυως τ ή φύσει ζην: ,in Übereinstimmung mit der Natur leben'. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluß übte sein Schüler Chrysipp aus, da er die Stoa weiter systematisierte, die Formel präzisierte und ihren normativen Aspekt hervorhob. Aus dem ,in Übereinstimmung mit der Natur leben' wurde ein τ ό άκολούθως τ η φύσει ζην: ,der Natur folgend leben' 28 . Bereits

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men absolut dar, sondern in den Fürstentümern existierten weiterhin eigenständige Verwaltungen und Unabhängigkeitsbestrebungen, die in ihrem Innern jedoch ebenfalls starke Reglementierungstendenzen aufwiesen. Vgl. etwa Peter J. Brenner: Individuum und Gesellschaft. In: Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock, S. 44-59, hier S. 50. Abel: Stoizismus und Frühe Neuzeit, S. 9. Vgl. ebd., S. 8. Die Systematisierung der stoischen Lehre findet in dieser Formel ihren Höhepunkt. Zenon (etwa 333-262), der Lehrer der Stoa Poikile in Athen, von der die Schule ihren Namen hat, verfaßte ein Werk Über das naturgemäße Leben. Er überlieferte zunächst die Formel ομολογουμένως ζην. Sie ist schwer übersetzbar und bedeutet etwa ein Leben ,in Übereinstimmung mit dem Logos'. Die stufenweise Präzisierung des Begriffs durch Kleanthes (331-232) und Chrysipp (etwa 280-206; vgl dazu auch Art. ,Stoa, Stoizismus, Neustoizismus. In: Theologische Realenzyklopädie. Bisher Bd. 1-34. In Gemeinschaft mit Horst Robert Balz hrsg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller. Berlin, New York 1977-2002, hier Bd 32. Heft 2-3, S. 181-193, hier S. 189) führte nach Max Pohlenz (Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung. Göttingen, 2. Aufl. 1959) zu einer leichten „Verschiebung des Physisbegriffs. Die Natur wurde aus der Macht, die unser Wesen gestaltet, zu der Norm, an die wir uns anzuschließen haben" (S. 117). Zu den wichtigsten Persönlichkeiten der antiken Stoa vgl. die doxographisch wertvolle Darstellung

9 diese Formel macht deutlich, daß es den Stoikern vor allem um das Leben geht und nicht vorrangig um eine Kunst des Sterbens. Eine teleologisch strukturierte Allnatur vorausgesetzt, bedeutet das naturgemäße Leben die Übereinstimmung sowohl mit der eigenen Wesensnatur als auch mit dem Ganzen: „Das Gute für den Menschen besteht darin, diese Ordnung und seine Stellung in ihr zu erkennen und zu betrachten und sich ihr fühlend, strebend und handelnd einzufügen." 29 Die Telosformel verlangt nicht eine „ständige Parallelisierung zur Natur" als einem heteronomen Prinzip, 30 sondern ihrer Ordnung ist der Mensch von Geburt an teilhaftig. Durch den richtigen Gebrauch der Vernunft, der recta ratio, geht er ein ideales Naturverhältnis ein. In der Antike trat die Stoa mit ihrer Devise des naturgemäßen Lebens der sich öffnenden „Kluft zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft" entgegen, 31 die ihre ganzheitliche Naturauffassung zu zerstören drohte. Die Telosformel des naturgemäßen Lebens überdauerte die Jahrhunderte und wurde auch in Senecas Ethik leitend. Die Natur soll die Vernunft als Führerin gebrauchen, dies sei die Gewähr für ein glückliches Leben: „Natura enim duce utendum est; hanc ratio observat, hanc consulit. Idem est ergo beate vivere et secundum naturam" (De vita beata, 8. lf.). 32 Die Aufforderung, im privaten und öffentlichen Raum in sittlicher Verantwortung gegenüber sich selbst und anderen zu leben, ist gepaart mit einer massiven Kulturkritik an die Adresse der Rastlosen, der occupati (vgl. De brev. vit. 7. 1). Diese beschäftigen sich mit unnützen Dingen, reichern zuviel Wissen an und unterwerfen sich die Natur zum Zwecke ihrer Beherrschung, gestalten sie um und setzen die Kunst an ihre Stelle: „Non desiderabis artifices: sequere naturam" (Ep. 90. 16).33 Wie wir noch sehen werden, bedeutet dies jedoch nicht, daß jede theoretische wissenschaftliche Betätigung verworfen wird: Das Wissen über die Natur soll jedoch immer der ethischen Bildung dienen. 34

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von Eduard Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Bd. 3. 1: Die nacharistotelische Philosophie. Hildesheim 1963, S. 27^19. Maximilian Forschner: Ober das Handeln in Einklang mit der Natur. Grundlagen ethischer Verständigung. Darmstadt 1998, S. 8. Hans Blumenberg: Selbstbehauptung und Beharrung. Zur Konstiution der neuzeitlichen Rationalität. In: Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne. Hrsg. und eingeleitet von Hans Ebeling. Frankfurt am Main 1996, S. 144-207, hier S. 163. Vgl. Alfred Stückelberger: Einführung in die antiken Naturwissenschaften. Darmstadt 1988, S. 39. Zitiert wird nach: Lucius Annaeus Seneca: Dialogorum libri duodecim. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit L. D. Reynolds. Oxford, 3. Aufl. 1988. Zitiert wird nach: Lucius Annaeus Seneca: Ad Lucilium Epistulae morales. Bd. 1-2. Recognovit et adnotatione critica instruxit L. D. Reynolds. Bd. 1: Libri I—XIII (Ep. 1-88). Oxford 1965; Bd. 2: Libri XIV-XX (Ep. 89-124). Oxford, 10. Aufl. 1991. Insofern geht Seneca nicht so weit wie die Kyniker, die grundsätzlich die εγκύκλιος παιδεία ablehnten. Vgl. dazu Friedmar Kuhnert: Allgemeinbildung und Fachbildung in der Antike. Berlin 1961 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Schriften der Sektion fur Altertumswissenschaften), S. lOOf. Zur Haltung der alten und mittleren Stoa gegenüber den Fachdisziplinen vgl. Alois Stamer: Die έυγκύκλιοξ παιδεία

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Die neuere Forschung zur stoischen Philosophie schenkt ihrer Naturauffassung einige Beachtung. Dies mag in der zunehmend von Technik geprägten modernen Lebenswelt aus einer stärkeren Besinnung auf alternative Konzepte resultieren und aus der Auffassung, daß die modernen Naturwissenschaften kein ethisches Wissen oder Orientierung zu bringen vermochten." Im Medium des barocken Dramas nun findet eine Auseinandersetzung um verschiedene Naturverhältnisse statt, die Kritik an den occupati tritt wieder auf, die als Reflexion auf neue Sichtweisen über die Natur zu verstehen ist. Die Kulturphilosophie Senecas, verstreut in der Figurenrede, in Reyen, teils kryptisch in Mythen verhüllt, stellen jenen menschlichen Gestaltungswillen auf den Prüfstand, der auf der Basis der cartesianischen mathesis universalis Welt konstruiert und die Einheit der Erkenntnis in allen Wissenszweigen ermöglichen soll.36 Die barocken Dramen bezeugen die ideelle Auseinandersetzung mit dem Ideal des Mensch als maitre et possesseur de la nature, der sich mit Hilfe der geometrischen Methode seine Welt Untertan macht.37 Im fünften Abschnitt seines Discours beschreibt Descartes die Methode, mit der dieses Ziel erreicht werden könne. Er läßt gedanklich eine neue Welt aus einem angenommenen Chaos entstehen. Auch, wenn er sich immer wieder auf den Schöpfergott beruft,38 so ist doch deutlich, daß es in Wahrheit nun die eigenen vom menschlichen Geist nachvollziehbaren mathematischen Gesetze sind, die die Welt schaffen. Ein neuer Begriff von Weisheit kündigt sich an. Die Moderne tritt an gegen die Antike. In der Widmungsrede zu seiner Schrift De corpore verspricht Hobbes, die Empusa der Metaphysik zu vertreiben.39 Es sei die neue praktische Philosophie, die mit dem Licht der natürlichen Vernunft die dem Menschen nützlichen und deshalb angenehmen Künste hervorbringe.40 Ähnlich hatte

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in dem Urteil der griechischen Philosophenschulen. Kaiserslautern 1912 (Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht des K. Humanistischen Gymnasiums Kaiserslautem fur das Schuljahr 1911-12), S. 23f. Vgl. unten, S. 38. Vgl. Forschner: Über das Handeln im Einklang mit der Natur, S. 108. Vgl. Rene Descartes: Regulae ad directionem ingenii. In: Ders.: CEuvres. Bd. 1-11. 1622— 1638. Publiees par Charles Adam & Paul Tannery. Nouvelle presentation, en co-edition avec le Centre national de la recherche scientifique. Paris, 2. Aufl. 1974-1989, hier Bd. 10, S. 359-488, hier S. 362f. Ders.: Discours de la methode. CEuvres. Bd. 6, S. 1-78, hier S. 62. Vgl. auch Peter J. Brenner: Montaigne oder Descartes? Die Anfange der Neuzeit im Lichte einer Neuinterpretation. In: Archiv für Kulturgeschichte 75, 1993, S. 335-358, hier S. 351. Vgl. zur geometrischen Methode auch Descartes: Meditationes de prima philosophia. CEuvres. Bd. 7, S. 20. Vgl. Ders.: Discours de la methode. CEuvres. Bd. 6, S. 43—46. Thomas Hobbes: De corpore. In: Ders.: Opera philosophica quae Latine scripsit omnia. Bd. 1-5. In unum corpus nunc primum collecta studio et labore William Molesworth. Aalen, 2. Aufl. 1966, hier Bd. 1: Elementorum philosophiae. Sectio prima. Epistola dedicatoria (unpag.). Unter die Metaphysik sind die platonische Philosophie, die Lehre der Sophisten und vor allem die Scholastik subsumiert. Vgl. ebd., S. 7.

11 Bacon im Novum Organon die sapientia der Griechen als unnütze Beschäftigung verworfen. Sie tauge nur zum Reden, aber nicht zum Hervorbringen von Werken, unfähig, Künste entstehen zu lassen, die den eigentlichen Fortschritt des Menschengeschlechts vorantrieben. 41 Die Äußerungen Bacons und Hobbes spiegeln das zeitgenössische Bewußtsein vieler Denker und Naturforscher, in einer neuen Zeit zu leben, die der Antike überlegen sei.42 Die barocken Drama nehmen zu dieser Haltung Stellung: Die moderne Tendenz, die Welt durch konstruktive Vernunft und artes zu gestalten, wird von der Warte Senecaischer Kulturphilosophie deshalb hinterfragt, weil Künste und Wissenschaften jene ursprüngliche Natur verdecken, die der Mensch eher kontemplativ verstehen soll. Die senecaische Kulturkritik im barocken Drama tritt auf, die auch gesellschaftliche Relevanz der Instanz des Gewissens zu unterstreichen und die reine Natur als sittliche Orientierung aus der Herrschaft der occupati zurückzurufen. Die antike Tradition beweist die Feststellung Wiedemanns, daß die Barockliteratur eben nicht als „Abgesang des Mittelalters" verstanden werden kann,43 wie es vor nicht allzulanger Zeit im Gegenzug zu modernen Interpretationen noch einmal betont wurde. 44 Was Abel in seiner Ideengeschichte feststellt, daß es schon im 17. Jahrhundert keine echten Stoiker mehr geben könne, 45 demonstrieren nicht nur die Gryphschen Dramen, sondern auch die Lohensteins in einheitlicher Weise dann, wenn man nicht so sehr das Epiphänomen der constantia in den Blick rückt, sondern die stoische Naturauffassung, auf die die stoische Lebenshaltung zurückgeführt werden muß, die also jeder anderen Begrifflichkeit vorausliegt. Im Lichte stoischer Kulturphilosophie, die weniger konfiguriert, als vielmehr subtil vor dem Hintergrund Senecaischer Schriften ihre Ideen über dem Geschehen ausbreitet, erscheint die Rastlosigkeit der modernen Selbstbehauptungsstrategien, die Natur und Welt gestalten, in scharfen Konturen. Meine vergleichende und intertextuelle Interpretation soll nun diejenigen literarischen Verfahren aufdecken, die die Idee des secundum naturam vivere als „Horizont" 46 und alternative Lebens- und Handlungsform über den barocken Tragödien aufscheinen lassen. Mit dem problematischen Be41

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Vgl. Francis Bacon: Neues Organon. Lateinisch-deutsch. Hrsg. und mit einer Einleitung von Wolfgang Krohn. Teilband 1. Hamburg 1990, S. 15. Vgl. auch Engelhard Weigl: Instrumente der Neuzeit. Die Entdeckung der modernen Wirklichkeit. Stuttgart 1990, S. 12-18. Conrad Wiedemann: Barocksprache, Systemdenken, Staatsmentalität. Perspektiven der Forschung nach Bamers „Barockrhetorik". In: Internationaler Arbeitskreis fur Deutsche Barockliteratur: Vorträge und Berichte. Hamburg, 2. Aufl. 1976 (Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur 1), S. 21-51, hier S. 34. Vgl. Peter-Andre Alt: Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller. Tübingen 1995, S. 3If. Vgl. Abel: Stoizismus und Frühe Neuzeit, S. 14. Karlheinz Stierle: Werk und Intertextualität. In: Das Gespräch. Hrsg. von Karlheinz Stierle und Rainer Warning. München 1984 (Poetik und Hermeneutik 11), S. 139-150, hier S. 144.

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griff der ,Intertextualität' und Termini aus seinem Umfeld wird mit allem Vorbehalt gearbeitet, insbesondere gegenüber seiner strukturalistischen und dekonstruktivistischen Vereinnahmung.47 Die barocken Dramen werden als Zentren der Interpretation verstanden, zu denen die Senecaischen Schriften einen kulturphilosophischen Kommentar liefern und Antworten auf eine ideengeschichtliche Problemlage geben.48 Als Haupttexte sind von Gryphius Leo Armenius, Catharina von Georgien und Papinian, von Lohenstein Cleopatra sowie die römischen Dramen Agrippina und Epicharis ausgewählt worden. Von beiden Autoren wird zusätzlich, allerdings in geringem Umfang, die Lyrik herangezogen. Für die Analyse werden die Senecaischen Schriften als Prätexte zugrunde gelegt, die sich mit dem Verlust der Natur als hermeneutischer Grundlage des Handelns auseinandersetzen und mit der Übermacht der Kunst als typischer Erscheinungsform einer expandierenden Zivilisation. Während ihr paränetischer Gehalt zeitlos ist, spiegeln sie auch die römische Kaiserzeit nach Ende der Republik. Neben den Briefen, Dialogen und der Schrift De dementia werden die Dramen Oedipus, Thyestes und Medea als Referenztexte berücksichtigt. Die proptreptisch-philosophische Adhortatio, naturgemäß zu leben, ist vor allem den Chorliedern inhärent.49 47

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Mit der Kategorie einer karnevalesken Polyphonie der Stimmen und einer prinzipiell unabschließbaren Interpretationsvielfalt ist ohnhehin im Bereich frühneuzeitlicher Textauslegung nicht zu arbeiten [vgl. Wilhelm Kühlmann: Kombinatorisches Schreiben - „Intertextualität" als Konzept frühneuzeitlicher Erfolgsautoren (Rollenhagen, Moscheroch). In: Intertextualität in der frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann und Wolfgang Neuber. Frankfurt am Main u. a., 1994 (Frühneuzeitstudien 2), S. 111-139, hier S. 111-115]. Zur Problematik des Begriffs vgl. auch den Art. .Intertextualität'. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft Bisher Bd. 1-2. Hrsg. von Harald Fricke. Berlin, New York, 1997-2000, hier Bd. 2, S. 175-179. Zur Entwicklung der ,Intertextualität' vgl. auch den Überblick von Zoran Konstantinovic: Zum gegenwärtigen Augenblick der Komparatisitk. Der Weg zur Intertextualität. In: Beiträge zu Komparatistik und Sozialgeschichte der Literatur. Festschrift für Alberto Martino. Hrsg. von Norbert Bachleitner, Alfred Nose und Hans-Gert Roloff. Amsterdam-Atlanta 1997 (Chloe 26), S. 898-901, hier S. 898f. Vgl. auch Peter J. Brenner: Das Problem der Interpretation. Eine Einführung in die Grundlagen der Literaturwissenschaft. Tübingen 1998 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 58), S. 147-152. Vgl. Stierle: Werk und Intertextualität. S. 144. Da das Werk selbst die Mitte ist, „kann auch die Intertextualität das Werk nicht dezentrieren. Das dezentrierte, fremden Texten anheimgefallene Werk müßte seine ästhetische Identität verlieren" (ebd.). Seit einiger Zeit werden auch Senecas Dramen als Bestandteil seiner Philosophie gewürdigt. Vgl. etwa die einleitenden Bemerkung des Aufsatzes von Clemens Zintzen: Alte virtus animosa cadit. Gedanken zur Darstellung des Tragischen in Senecas Hercules Furens. In: Senecas Tragödien. Hrsg. von Eckard Lefevre. Darmstadt 1972, S. 149-209, hier S. 149-153. Vgl. auch Eckard Lefevre: Die philosophische Bedeutung der Seneca-Tragödien am Beispiel des Thyestes. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Bd. II. 32. 2, 1985, S. 1263-1283, hier S. 1266. Manfred Fuhrmann (Seneca und Kaiser Nero. Eine Biographie. Berlin 1997) betont zusätzlich die „politische Brisanz" der Tragödien, die in tyrannos gerichtet seien (S. 206). Nicht zuletzt deshalb, aber auch aus kompositorischen Gründen, geht man heute davon aus, daß die Seneca-Tragödien niemals aufgeführt wurden, sondern sie reine Lese-, bzw. Rezitationsdramen seien. Vgl. Otto Zwierlein: Die Rezitationsdramen Senecas. Mit einem kritisch-exegetischen Anhang. Meisenheim am Glan 1966 (Beiträge zur klassischen Philologie 20), S. 167.

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Die Sinnkonstitution findet auf vielfaltige Weise statt. Aus produktionsästhetischer Perspektive wird auffallen, daß Gryphius' Dramen kaum eindeutig Seneca-Texte markieren, wenn man unter ihnen Zitate, Mythen in Senecaischer Ausdeutung oder auch Anspielungen in den Kommentaren versteht. Die Verweise auf die entsprechenden Seneca-Texte ergeben sich durch allgemeine motivische Anleihen oder auch strukturelle Analogien zu Senecas Dramen. Lohensteins römische Dramen und seine Cleopatra bieten hingegen eine Fülle an direkten, bisweilen auch nicht markierten, jedoch unzweifelhaft Senecaischen Zitaten oder Allusionen, deren Bedeutungen in ihren jeweiligen Kontexten decodiert ein neues Licht auf die barocken Haupttexte zu weifen vermögen. Als bewußtes Spiel des Autors sind sie Teil der dissimulatorischen Redepraxis des frühneuzeitlichen rhetorischen Systems.50 Darüber hinaus sprechen sowohl Gryphius' als auch Lohensteins Tragödien den philosophischen und staatstheoretischen Diskussionszusammenhang der Frühen Neuzeit an, so daß auch Texte von Luther, Descartes, Hobbes und Grotius in die Interpretation einbezogen werden. Es gilt, die Gegenwärtigkeit auch dieser Texte zu berücksichtigen, so daß schließlich die Dramen ihren Sinn durch die Kopräsenz mehrerer chronologisch und gattungstypologisch unterschiedlichster Textsorten, antiker und frühneuzeitlicher, literarischer, philosophischer und staatsheoretischer, konstituieren.

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Zu diesem Blick auf Formen der Intertextualität in der Frühen Neuzeit vgl. Barbara Bauer: Intertextualität und das rhetorische System der Frühen Neuzeit. In: Intertextualität in der frühen Neuzeit, S. 31-61, hier S. 40.

Β. Der Beginn der Neuzeit in Gryphius' Tragödien im Lichte Senecaischer Kulturphilosophie

I. Religion oder Politik? Gryphius' Werk reflektiert zeitgenössische wissenschaftliche Entwicklungen und politische Theorien und ist nicht eindeutig der Heilsgeschichte verpflichtet. Es der beginnenden Neuzeit zuzuordnen erscheint einerseits fast als Normalität, andererseits als Wagnis; als Normalität, weil seit einiger Zeit beachtliche Forschungsansätze dem ,modernen' Aspekt der Dramen auf den Grund gehen, als Wagnis immer noch, weil dies bedeutet, den literaturgeschichtlichen Mythos vom Dichter zu demontieren, der als festgläubiger Lutheraner und als Landessyndicus von Glogau in der Nachfolge seines Vaters für seine protestantischen Landsleute kämpft und mit seinen Schuldramen das Ziel des Kampfes unzweideutig zum Ausdruck bringt, passiven Widerstand zu leisten gegen Unrecht und Unterdrückung. Auch wenn der radikale biographistische Rückschluß mittlerweile zu Recht methodisch als anfechtbar gilt und interpretatorisch kaum noch bemüht wird, so lebt der Mythos vom Dichter, der unberührt von den zeitgenössischen wissenschaftlichen Erkenntnissen in seinen Dramen eine heilsgeschichtliche Lehre vermittele, doch weiter und provoziert die unterschiedlichsten Reaktionen: sich von diesem Mythos zu befreien, den christlichen Gehalt der Dramen in Frage zu stellen, oder ihn weiter zwar nicht als das alleinige, aber doch als das unausgesprochen tragende Fundament für eine traditionelle Interpretation anzunehmen. Einen ersten Angriff auf die traditionelle Deutung der Gryphschen Dramen als christliche, auf die Heilsgeschichte ausgerichtete Märtyrerstücke aus dem Geist des Luthertums 1 unternahm Steinhagen mit seiner Untersu-

Vgl. neben den Arbeiten von Schings vor allem Albrecht Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrerssöhne. Göttingen 1958 (Palaestra 226), S. 43f. Vgl. in der Folge auch Gerhard Kaiser: Leo Armenius, Oder Fürsten=Mord. In: Die Dramen des Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen. Hrsg. von Gerhard Kaiser: Stuttgart 1968, S. 3-34, hier S. 23; Friedrich Gaede: Humanismus, Barock, Aufklärung. Geschichte der deutschen Literatur vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Bern, München 1971 (Handbuch der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. 2), S. 132f.; Wentzlaff-Eggebert: Die deutsche Barocktragödie, S. 186; Elida Maria

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chung Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama. Außer dem Leo Armenius zählt Steinhagen die von ihm besprochenen Stücke, vor allem Cardenio und Celinde und Papinian, zu den Märtyrerdramen. Diese aber ließen nicht, wie Schings argumentiert hatte, ungebrochen die patristische und mittelalterliche Tradition Wiederaufleben, sondern reflektierten eine Krisen- und Übergangszeit und den Zerfall eines heilsgeschichtlichen Weltbildes.2 Hatten Bacon, Descartes und Hobbes sich von der Tradition freigemacht, so bleibe Gryphius zwar „hinter diesem fortschrittlichsten Stand des Denkens im 17. Jahrhundert" zurück, jedoch inaugurierten seine Dramen doch einen noch realistischeren „Wirklichkeitsbegriff' als die neuen Naturwissenschaften.3 Während diese von einer immer unveränderlichen Natur auch des Menschen ausgingen, die durch das methodische Ideal der Geometrie auf Konstanten festgelegt werden könne, legten die Dramen ein Menschenbild zugrunde, das angemessener sei. Es trage der Einsicht Rechnung, daß der Mensch eine Sonderstellung einnehme, da an ihm die Methode und der Optimismus der neuen Erkenntnisweisen versagen müßten. Deshalb meine Geschichte im Drama den Bereich des „Unberechenbaren und Zufalligen, des Kontingenten und Veränderlichen".4 Von hier aus ergebe sich eine neue Bedeutung des bisher unbefragt auf christliche Vorzeichen hin ausgedeuteten vam'tas'-Begriffs. Nicht verweise er auf das erlösende Jenseits durch Negation des Diesseits, sondern auf die geschichtliche, dem Menschen nicht einsehbare und feindliche Diesseitigkeit.5 Die Programmatik der Gryphschen Dramen bestehe in der Darstellung der unbeständigen Praxis menschlichen, geschichtlichen Verhaltens, die von der naturwissenschaftlichen Methode, durch Berechnung und Kalkulation, nicht zu fassen sei. Die Dramen bewiesen ihre Modernität, indem sie den Überlebenskampf des einzelnen gegen die „Negativität dieser Welt" auf der Bühne darstellten.6 Steinhagens Arbeit zeigt, daß die Kunst die Schwächen philosophischer Abstraktionen offenlegt, indem sie menschliche Praxis zu ihrem Gegenstand macht. Anstoß erregt hat vor allem Steinhagens Methode, die auf der Basis Kritischer Theorie eine geschichtsphilosophische Perspektive einnimmt. Wentzlaff-Eggebert kritisiert in seinem Forschungsbericht die „Heranzie-

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Szarota: Geschichte, Politik und Gesellschaft im Drama des 17. Jahrhunderts. Bern, München 1976, S. 127-129. Vgl. Harald Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama. Historisch ästhetische Studien zum Trauerspiel des Andreas Gryphius. Tübingen 1977, S. 82f. Ebd., S. 85. Ebd., S. 84f. Ebd., S. 86. Vgl. ders.: Die Trauerspielform des Andreas Gryphius. In: Weltgeschick und Lebenszeit: Andreas Gryphius, ein schlesischer Barockdichter aus deutscher und polnischer Sicht. Hrsg. von der Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus. Düsseldorf 1993, S. 53-68, hier S. 60-62. Ders.: Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama, S. 301; vgl. S. 87.

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hung der modernen geschichtsphilosophischen und sozialgeschichtlichen Thesen Adornos und Horkheimers u. a.".7 Noch eindeutiger bemängelt Schings die „großzügige Konstruktion einer Sozial- und Ideologiegeschichte der frühen Neuzeit aus zweiter Hand", die die zeitgenössischen Quellen zu wenig beachte.8 Steinhagens Arbeit ist methodisch und besonders in ihrer Zuspitzung auf die These, daß sich in Gryphius' Dramatik die Genese des bürgerlichen Kapitalismus andeute,9 singulär geblieben, gab jedoch den ersten Anstoß zu weiteren Versuchen, das Paradigma vom christlichen noch auf die Heilsgeschichte ausgerichteten Märtyrerstück zu hinterfragen. Fortan haben sich heterogene Forschungsansätze entwickelt. Folgende Fragen kristallisieren sich gegenwärtig heraus: Machen die Gryphschen Dramen die Religion in Gestalt der Lutherischen Theologie zum Thema,10 oder sind sie politische Stücke bzw. säkularisierte Geschichtsdramen, die einen metaphysischen Zweifel formulieren?" Vereinigen sie Religion und Politik, indem sie entweder der Lutherischen Orthodoxie verpflichtet sind, die sich aber gerade im Politischen zu beweisen habe,12 oder lassen sie eher

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Friedrich-Wilhelm und Erika Wentzlaff-Eggebert: Andreas Gryphius: 1616-1664. Darmstadt 1983 (Erträge der Forschung 196), S. 92. Schings: Constantia und Prudentia, S. 408f. Vgl. Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama, S. 59-70. Ferdinand van Ingen (Andreas Gryphius' Catharina von Georgien. Märtyrertheologie und Luthertum. In: Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts [Chloe 27], S. 45-70) plädiert dafür, den „starken Traditionsstrang der lutherischen Theologie und Frömmigkeit fruchtbar zu machen" (S. 50). Vgl. ders.: Die schlesische Märtyrertragödie im Kontext zeitgenössischer Vorbildliteratur. In: Text und Konfession. Neue Studien zu Andreas Gryphius. Beiträge zur ersten Tagung der Internationalen Andreas Gryphius-Gesellschaft. Konrad Gajek zum Gedenken (Daphnis 28, Heft 3-4, 1999), S. 483-528, hier S. 525. Vgl. Peter J. Brenner: Das Drama. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts, S. 539-574, hier S. 548; Bernhard Budde: Vom anhaltenden unrecht der Palaeste und vom unsicheren Trost der Religion: Andreas Gryphius' Fürsten-Moerderisches Trawer-Spiel /genant Leo Armenius. In: Germanisch romanische Monatsschrift 48, 1998, S. 27^45, hier S. 27-29. Hinsichtlich einer funktionalisierten Religion spricht Werner Lenk (Absolutismus, staatspolitisches Denken, politisches Drama. Die Trauerspiele des Andreas Gryphius. In: Studien zur deutschen Literatur im 17. Jahrhundert. Hrsg. von Heinz Etner u.a. Berlin, Weimar 1984, S. 253-351) von einem „Ausverkauf von überlieferten Wertvorstellungen" (S. 276). Vgl. auch Klaus Reichelt: Das Protestantische Schuldrama in Schlesien und Thüringen. Dokumente der zeitgenössischen Sicht des Absolutismus. In: Daphnis 7, Heft 1-2, 1978, S. 215-233, hier S. 230-232. Diese Tendenz verfolgt Eberhard Mannack im Kommentar zu seiner Ausgabe der Dramen (Andreas Gryphius: Dramen. Hrsg. von Eberhard Mannack. Frankfurt am Main 1991 [Bibliothek der Frühen Neuzeit 3]). Er betont, daß die „in der Forschung oft als Alternativen angesehenen Interpretationen [...] durchaus vereinbar" seien, hebt aber den ungebrochen martyrologischen Aspekt der Dramen hervor (S. 933, vgl. auch ebd., S. 891 f. u. 1019). Vgl. ähnlich Hans Feger: Zeit und Angst. Gryphius' Catharina von Georgien und die Weltbejahung bei Luther. In: Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts (Chloe 27), S. 71-100, hier S. 76. Vgl. mit stärkerer Betonung des heilsgeschichtlichen Aspektes James A. Parente, Jr.: Religious Drama and the Humanist Tradition. Christian Theater in Germany and in the

18 den politischen Gehalt hervortreten, womit aber keine Abweisung der religiösen Tradition oder eine reine Verpflichtung auf die Immanenz verbunden sei?13 Macht es sich das Drama geradezu zur Aufgabe, die Spannungen zwischen politischem und martyrologischem ,Diskurs' offenzulegen? 14 Mit dem Anspruch, zwischen den Positionen zu vermitteln, tritt die Gryphius-Monographie von Kaminski auf. Kaminski versucht, eine „auf einer Metaebene" angesiedelte Perspektive einzunehmen, 15 die Frage nach der „Erkennbarkeit und Darstellbarkeit von Transzendenz" zwar in den Mittelpunkt zu stellen, aber den politischen Aspekt nicht zu vernachlässigen. 16 Als durchgehendes Thema in den Tragödien erkennt Kaminski die Suche nach dem verborgenen Gott. Die Lutherische Hermeneutik impliziere eine Welt, deren Zeichen grundsätzlich vom Menschen nicht zu entziffern seien. Der rätselhaften Zeichenhaftigkeit seien sowohl die Figuren auf der Bühne als auch die Rezipienten im Zuschauerraum ausgesetzt. Die Programmatik der Dramen bestehe darin, die Suche nach dem verborgenen Gott als das „hermeneutische Dilemma", 17 das die Welt als theatrwn mundi aufgebe, offenzulegen. Kaminski strapaziert den Gedanken, daß sich die Welt in unverständlichen Zeichen repräsentiere, über und löst ihren Anspruch, auch den politischen Aspekt zu berücksichtigen, kaum ein. Jedoch kommt ihr das Verdienst zu, das theologiegeschichtliche Faktum des deus absconditus für die Verstehensfrage fruchtbar gemacht zu haben. Die folgende Untersuchung unternimmt einen Brückenschlag. Es fallt auf, daß seit Steinhagens Arbeit möglichen Reflexionen in den Tragödien auf wissenschaftliche Entwicklungen keine Beachtung mehr geschenkt worden ist. Alts These, daß man „generell [...] vom Konservatismus der Barockautoren auszugehen und ein traditionelles Weltbild vorauszusetzen" habe, das „die Innovationen der neuen Naturwissenschaften" kaum aufnehme, 18 ist zu prüfen. Die Rezeption der Senecaischen Kulturkritik beweist sehr wohl ein Bewußtsein fur jene Entwicklungen, die innerhalb der Naturwissenschaften stattgefunden haben. Sie sind eng mit der politischen Thematik verbunden. Die Präsenz der senecaischen Kulturphilosophie impliziert Fragen, die das Menschenbild und das Politikverständnis der Frühen Neuzeit betreffen. Dabei wird sich zeigen, daß die Konstruktion des neuen

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Netherlands 1500-1680. Leiden u. a. 1987, S. 160 und ders.: Andreas Gryphius and the Jesuit Theater. In: Daphnis 13, 1984, S. 525-551, hier S. 550f. Vgl. etwa Gerhard Spellerberg: Narratio im Drama oder: Der politische Gehalt eines „Märtyrerstückes". Zur Catharina von Georgien des Andreas Gryphius. In: Wahrheit und Wort: Festschrift fur Rolf Tarot zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Gabriela Scheuer und Beatrice Wehrli. Bern u. a. 1996, S. 437-461, hier S. 444 und S. 461. Vgl. Bomscheuer: Diskurs-Synkretismus, S. 496. Nicola Kaminski: Andreas Gryphius. Stuttgart 1998, S. 78. Ebd., S. 80. Ebd., S. 89. Alt: Begriffsbilder, S. 148f„ Anm. 345.

19 modernen Naturrechts zur Diskussion steht, das einer Ablösung der Theologie vom Recht das Wort redet. Es ist zu ermitteln, inwiefern die Dramen dieser Entwicklung gegenüber eine kritische Position zeigen und so die Ansprüche des stoisch-christlichen Naturrechts in Erinnerung rufen. Damit soll ein neuer Blick auf jene juristischen Auseinandersetzungen der Zeit geworfen werden, die der Leo Armenius wie auch Gryphius' andere Dramen reflektieren. Üblicherweise werden die für die Tragödien relevanten juristischen Positionen mit den Namen der Gelehrten verbunden, mit denen Gryphius im Laufe seines Lebens zusammentraf: Schönborner, Salmasius und Boeder gelten als die wichtigsten Persönlichkeiten der zeitgenössischen Rechtsdiskussion. Der zum Katholizismus konvertierte kaiserliche Rat Schönborner, dessen zwei Söhne Gryphius als Hauslehrer betreute, vertrat eine streng absolutistische Staatsauffassung. 19 Einen ähnlichen Standpunkt nahm Claudius Salmasius (1588-1653) ein, dem Gryphius an der Leidener Universität begegnete. 20 Dort hörte der Dichter außerdem den Gegenspieler von Salmasius, Marcus Boxhornius (1602-1653), von Haus aus Professor der Rhetorik, der in seinen Schriften Emblemata politica und Dissertationes politicae die Volkssouveränität verteidigt. Einen beträchtlichen Einfluß dürfte in Straßburg der Historiker Johann Heinrich Boeder ausgeübt haben, ein Vertreter der absoluten Souveränität des Fürsten. Im Jahre 1642 verfaßte er seine Dissertatio de Politicis Lipsianis, in seinen Programmata academica von 1643 spricht er sich allerdings gegen die machiavellistische Staatsräson aus. Mit dem Inhalt seines damals im Entstehen begriffenen staatsrechtlichen Hauptwerkes Institutiones Politicae dürfte Gryphius vertraut gewesen sein. Daß der Dichter fünfundzwanzig Jahre später seinen Sohn Christian zum Studium zu Boeder schickte, beweist die Hochschätzung, die er dem Gelehrten entgegenbrachte. Zweifelsohne reflektieren die Dramen jene Einflüsse, ungelöst bleibt freilich die Frage nach ihrer Intention: Eine deutliche Parteinahme für eine absolutistische Staatsrechtslehre, wie sie vor allem Schönborner und Boeder vermittelten, lassen sie vermissen und weisen eher ihre Aporien auf. Im folgenden ist zu zeigen, daß die Dramen mit dem überkonfessionellen stoisch-christlichen Naturrecht ein Recht diskutieren, das über die genannten Positionen hinausreicht. Herkunft und Bedeutung dieser lex aeterno 19

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Eine paralleles Verhältnis findet sich zwischen Martin Opitz und dem ebenfalls zum katholischen Glauben übergetretenen Burggrafen von Dohna. Dieser war es übrigens, dem Schönborner 1627 seine Ernennung zum Fiscal von Niederschlesien zu verdanken hatte, was ihn schließlich zur Konversion zwang. Vgl. Willi Flemming: Andreas Gryphius. Eine Monographie. Stuttgart u. a. 1965 (Sprache und Literatur 26), S. 31 f. Salmasius' Position wird später besonders in seiner Auseinandersetzung mit John Milton ersichtlich. Bei dem Streit um die Hinrichtung Karls I. von England setzt er sich mit seiner 1649 erschienenen Schrift Defensio regia für den verurteilten König ein. Milton verfaßt daraufhin eine Gegenschrift Pro populo Anglicano Defensio.

20 ist bisher kaum erkannt worden. Zwar konstatiert Hildebrandt, daß Gryphius als „Metaphysiker [...] die Wirklichkeit des Staates [...] allein unter dem Anspruch der ewigen und unwandelbaren Rechtsidee" gelten lassen wolle.21 Spellerberg stellt die These auf, daß Gryphius in seinen Trauerspielen den Konflikt „zwischen der politisch-geschichtlichen Ordnung der Zentralgewalt auf der einen, der ewigen Ordnung des Rechtes Gottes, der Natur und der Völker auf der anderen Seite" ausnahmslos und konsequent „zugunsten der letzteren" entscheide.22 Die Interpreten definieren dieses Recht allerdings nicht näher. Daß mit dieser ,ewigen Ordnung' das christlich-stoische Naturrecht gemeint ist, wird dann ersichtlich, wenn man sich der Rezeption der Senecaischen Kulturphilosophie im Drama zuwendet. Es wird sich zeigen, wie aus der Perspektive der Senecaischen Wissensphilosophie die zeitgenössischen wissenschaftlichen Entwicklungen kritisch betrachtet werden, die das neue profane Naturrecht auf den Weg brachten. Insofern wäre die Frage, ob Gryphius' Dramen religiöse oder politische Tragödien sind, genauer zu formulieren: Wie wird von der Warte eines überkonfessionell stoisch-christlichen Standpunktes das zeitgenössische Politik- und Wissenschaftsverständnis in den Blick genommen und seine Aporien aufgezeigt? Eine weitere Frage schließt sich an: Formulieren die Dramen eine eindeutige Alternative zu diesen Aporien, oder wie ernsthaft wird der christlich-stoische Standpunkt vertreten, die Tradition gegen die Moderne ausgespielt? Den Zugang zu dieser Thematik sollen zunächst einige Beobachtungen zur Lyrik eröffnen. Eine besondere Bedeutung kommt dem offenbar emphatischen Gedicht Uber Nicolai Copernici Bild zu, anhand dessen zu überlegen ist, wie sich der Lutherische Protestantismus zu den Naturwissenschaften verhielt. Das Kapitel spricht Fragen an, die für die Drameninterpretationen grundlegend sind.

II. Gryphius' Lyrik: Umwertung der Begriffe sapientia und sciential Der Polyhistor Andreas Gryphius zeichnet sich in Leiden zwar durch ein reges Interesse an den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften aus und hält selbst einige Kollegien in den verschiedenen Fächern, etwa in 21

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Heinrich Hildebrandt: Die Staatsauffassung der schlesischen Barockdramatiker im Rahmen ihrer Zeit. Diss., Rostock 1939, S. 96. Gerhard Spellerberg: Das Bild des Hofes in den Trauerspielen Gryphius', Lohensteins und Hallmanns. In: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Hrsg. von August Buck u. a. Hamburg 1981 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 10), S. 569-578, hier S. 570; vgl. ders.: Barockdrama und Politik. In: Studien zum Werk Daniel Caspers von Lohenstein (Daphnis 12, Heft 2-3), S. 127-168, hier S. 153. Vgl. ähnlich Hildebrandt: Die Staatsauffassung der schlesischen Barockdramatiker im Rahmen ihrer Zeit, S. 96.

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Geographie, Astronomie, Pflanzenkunde und Anatomie.23 Dem Wissenschaftsoptimismus seiner Zeit antwortet seine Lyrik auf den ersten Blick aber heterogen. Einige Gedichte bringen die Ablehnung von Wissenschaft und Weisheit angesichts der letzten Dinge zum Ausdruck. Diese scheint mit der emphatisch anmutenden Verehrung des Kopernikus in dem Gedicht Uber Nicolai Copernici Bild unvereinbar. Auf der einen Seite heißt es im Gedicht mit dem bezeichnenden Titel Scire tuum nihil est Was hilft die Wissenschaft? wenn vor deß Herren Throne Die Seel erscheinen muß? Da Witz und Unverstand / da Hirten Stab und Krone Zu gleicher Wage geht / Da Pflug und Zepter eins! da alle Weisheit schwindet Und dieser nur besteht Den in des Lebens Buch der strenge Richter findet; Im Buch der Seligkeit. 24

Weder „viel gelehrter Sinnen" noch „der wehrten Bücher Lust" kann verhindern, daß „ein unverhofftes nu" alle „Weißheit" zunichtemacht.25 Im Angesicht des Todes gelten auch fur Gryphius die Worte seines Freundes Daniel von Czepko. Dessen Gedicht auf den eigenen Tod stellt er einer Gedichtsammlung voran: Ihr die ihr Kunst und Wissenschaft Erfunden und beschriben: Von deren Sinnen weisen Kraft Nichts unentdecket bliben: Sehr wenig hab ich nicht gewust Und doch an disen Ort gemust. 2 6

Auffallig ist in beiden Gedichten die Identifikation von Weisheit und Wissenschaft. Die sapientia erscheint hier nicht im stoischen Sinne als eine Tugend, die mit Gelassenheit in den Tod gehen läßt, sondern hat ebenfalls die Konnotation eines gelehrten Wissens, mit dem aber weder der wahre Ruhm erworben noch der Augenblick des Todes bestanden werden kann.27 23

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Vgl. dazu den Bericht des Biographen Baltzer Siegmund von Stosch in seiner Danck= und Denck=Seule des Andreae Gryphii. In: Text und Kritik. Heft 7 - 8 : Andreas Gryphius. 2., revidierte und erweiterte Aufl. 1980, S. 2-11 (Wiederabdruck), hier S. 7f. Zitiert werden die Gedichte nach der Seitenzahl in den Anmerkungen, die Dramen nach Akt und Verszahl im laufenden Text entsprechend der Ausgabe: Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Bd. 1-8. Hrsg. von Marian Szyrocki und Hugh Powell. Tübingen 1963-72, hier Bd. 2: Oden und Epigramme, S. 72. Ebd., S. 73. Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke Bd. 3: Vermischte Gedichte, S. 36f. ,Wissenschaft' hat in den Gedichten jene „objektive Bedeutung" eines gelehrten Wissens bzw. eines Faktenwissens, die sie erst seit Beginn des 17. Jahrhunderts statt eines subjektiven Wissens erhält (vgl. Waltraud Bumann: Der Begriff der Wissenschaft im deutschen Sprach- und Denkraum. In: Der Wissenschaftsbegriff. Historische und systematische Un-

22 Wissenschaft und Weisheit erweisen im Sterben ihre Nichtigkeit und versagen als ars moriendi ihren Dienst. Gryphius' berühmtes und angesichts Luthers und Calvins Ablehnung der Kopernikanischen Lehre bemerkenswertes Gedicht Uber Nicolai Copernici Bild1'1' spricht eine ähnliche und doch auch ganz andere Sprache. Gryphius verfaßte den Hymnus auf Kopernikus, dessen Hauptwerk De revolutionibus orbium coelestium 1543 veröffentlicht wurde, etwa drei Jahre vor der Niederschrift seines ersten Dramas Leo Armenius während seines Aufenthaltes in Leiden. Sapientia und scientia werden auch hier als Einheit betrachtet, aber positiv gewertet. Im Vergleich zu ihnen erscheint die Tradition gleichbedeutend mit dem Aberglauben, der die Sinne des Menschen trügt. Vom Versagen gelehrten Wissens in der Todesstunde ist nicht die Rede: Uber Nicolai Copernici Bild Du dreymal weiser Geist / du mehr denn grosser Mann! Dem nicht die Nacht der Zeit die alles pochen kan / Dem nicht der herbe Neyd die Sinnen hat gebunden / Die Sinnen / die den Lauff der Erden new gefunden. Der du der alten Träum und Dunckel widerlegt: Und Recht uns dargethan was lebt und was sich regt: Schaw itzund blüht dein Ruhm / den als auff einem Wagen / Der Kreiß auff dem wir sind muß umb die Sonnen tragen. Wann diß was irrdisch ist / wird mit der Zeit vergehn / Soll dein Lob unbewegt mit seiner Sonnen stehn 2 9

Der sapiens und der Naturwissenschaftler bilden eine Person. Auffällig ist das affirmative Pathos, das die Leistung der Sinne und ihre Gestaltung eines neuen Weltbildes preist: Der ,weise Geist' hat aus eigener Kraft „den Lauff der Erden new gefunden". Nicht ist es die Aufgabe des weisen Wissenschaftlers, scientia in den Ursachen der Dinge und in einer absoluten und ewigen Wahrheit zu finden, in der Antike und Mittelalter noch das echte Wissen sahen. Aristoteles definiert die Weisheit als das Wissen um die ersten Gründe und Ursachen: „[...] ή σοφία περί τινας α ρ χ ά ς και αιτίας

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tersuchungen. Vorträge und Diskussionen im April 1968 in Düsseldorf und im Oktober 1968 in Fulda. Hrsg. von Alwin Diemer. Meisenheim am Glan 1970, S. 64-75, hier S. 65). Im Laufe des 17. Jahrhunderts ist eine Annäherung an den Begriff .Weisheit' zu beobachten. Er impliziert zunehmend, etwa ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, auch ethische Qualitäten, insofern gelehrte Bildung und Tugend als komplementär gedacht werden (vgl. ebd., S. 66). Gelehrtes Wissen und vernünftig-praktisches Urteilsvermögen harmonisch vereinigen zu können, ist gegen Ende des 17. Jahrhunderts das Ideal des homme galant. (vgl. Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983 [Studien zur deutschen Literatur 75], S. 363-375). Vgl. Stephen F. Mason: Geschichte der Naturwissenschaft in der Entwicklung ihrer Denkweisen. Deutsche Ausgabe unter Mitwirkung von Klaus M. Meyer-Abich, besorgt von Bernhard Sticker. Stuttgart 1961, S. 213. Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke Bd. 2: Oden und Epigramme, S. 186f.

23 έστιυ ε π ι σ τ ή μ η [...]" (Arist. Met. 982a). 30 Der Kommentator beschreibt diese Weisheit als die „scientia, quae considerat primas et universales causas." 31 Seneca bezeichnet wahres Wissen als die Kenntnis des ewig Guten und Bösen: „Una re consummatur animus, scientia bonorum ac malorum inmutabili; nihil autem ulla ars alia de bonis ac malis quaerit" (Ep. 88. 29). Wird in Gryphius' Gedicht aber die Suche nach jenen ersten und allgemeinen Gründen nicht als „Traeum und Dunckel" qualifiziert, an deren Stelle nun verheißungsvoll jenes von der Tradition emanzipierte Denken treten soll, das mit Hilfe der Sinne die Welt neu gestaltet? Kündigt sich etwa hier schon jene Vorstellung Hobbes' an, der im Widmungsschreiben seiner 1647 erschienenen Schrift De cive das Wissen um die Wahrheit „auf jedem Gebiet" als Weisheit bezeichnet: „Sapientia vera nihil aliud est quam in omni materia veritatis scientia." 32 Mit ,der Wahrheit' meint Hobbes aber nicht die ewige und göttliche Wahrheit im platonischen Sinne, sondern eine, die der Mensch selbst konstruiert. Tatsächlich erscheinen Weisheit wie Wissenschaft aufgefordert, sich allen ihnen zugänglichen Dingen zu widmen, die sich als grenzenloses Betätigungsfeld den Sinnen darbieten: den Naturgesetzen, die der menschliche Geist aber, wie es die Lehren Bacons, Descartes und Hobbes' verkünden, selbst,erfinden' muß. 33 Es besteht die Frage, ob die sapientia und scientia im Kopernikus-Gedicht von ihrer antiken und mittelalterlichen Verpflichtung auf die metaphysische Sphäre entbunden sind und entlastet von einer Aufgabe, die der Mensch, der Lutherischen Orthodoxie entsprechend, nicht lösen kann: den Ratschluß Gottes zu ermitteln. Dann zeigte sich im Hymnus auf Kopernikus im Vergleich zu den anfangs zitierten Versen eine erstaunlich moderne Haltung. Sapientia und scientia, die in den beiden anderen Gedichten fast topisch unter dem vaw/tas-Aspekt betrachtet werden, dienten der Abwehr längst überkommener Vorstellungen und der Gestaltung von Welt. Der Kontrast zwischen einem eher konservativ anmutenden Wissenschaftspessimismus, wie er in ersteren Gedichten anklingt, und dem Hymnus auf Kopernikus hat die Forschung irritiert. Wollte man Gryphius nicht uneingeschränkt als emphatischen Begrüßer des neuen Weltbildes akzeptieren, mußte man eine Lösung finden, die seinen Glauben in Rechnung stellt. Gryphius' scheinbar unvereinbare Stellungnahmen zu dem Wert des Wissens erklärt Powell, indem er den Dichter zu einem Anhänger der Trennung

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Zitiert wird nach: Aristote: Metaphysica. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit W. Jaeger. Oxford 1957. Thomas von Aquin: In duodecim libros Metaphysicorum Aristotelis expositio. Editio iam a Μ. R. Cathala, exarata retractata cura et studio, P. Fr. Raymunda M. Spiazzi. Rom 1950, hier Lectio I. 1. 2, S. 15. Hobbes: De cive. Opera omnia. Bd. 2, S. 136. Vgl. oben, S. 10.

24 zwischen Glaubenswahrheiten und wissenschaftlicher Erkenntnis erklärt.34 Powell äußert sogar Vermutungen über die öffentliche Verbrennung der angeblichen Dissertation Gryphius' De igne non elemento, da sie sich der neuen Kosmologie verschrieben habe.35 Bei den Anhängern eines traditionellen Gryphius-Bildes hat diese Lösung kaum Anklang gefunden. Ohne sich explizit zum Kopernikus-Gedicht zu äußern, bestreitet Schings aufgrund seiner Befunde in den Dissertationes funebres Powells These, daß bei Gryphius eine „Entzweiung von christlicher Lehre und moderner Wissenschaft" vorliege, die schließlich auf die Akzeptanz eines doppelten Wahrheitsbegriffs hinauslaufe, 36 und konstatiert, daß Gryphius trotz seines Polyhistorismus dem Zeitgeist der Fortschrittsgläubigkeit „fremd" gegenübergestanden habe.37 Von einer „prinzipiellen Wissenschaftsfeindlichkeit" könne zwar nicht die Rede sein, allerdings herrsche die religiöse „Einsicht in die Hinfälligkeit und Unzulänglichkeit alles Wissens" vor. 38 Ebenso weist Schings Schöfflers These zurück, Gryphius sei der „erste lutherische Cartesianer" gewesen. 39 Tief verhaftet bleibe der Dichter der Lutherischen Orthodoxie, einer theologia negativa, welche die absolute Transzendenz Gottes erkläre, den das menschliche Erkenntnisvermögen nicht zu fassen vermag. 40 Die Frage nach der modernen Konnotation der Begriffe sapientia und scientia, die Gryphius' KopernikusGedicht nahelegt, bleibt offen. Mauser geht einen eigenen Weg. Er fuhrt Gryphius' Verehrung des Naturwissenschaftlers vor allem auf den Einfluß Peter Crügers zurück, der am Danziger Gymnasium Mathematik, Astronomie und Poesie lehrte und ein

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„For Gryphius", so die These Hugh Powells (Andreas Gryphius and the ,New Philosophy'. In: German Life & Letters 5, 1951-1952, S. 274-278), „as for many European contemporaries, there were most probably two kinds of truth - one of faith or religion, the other of reason or science" (S. 276). Vgl. auch ders.: Observations on the Erudition of Andreas Gryphius. In: Orbis Litterarum 25, 1970, S. 115-125, hier S. 118. Vgl. ders.: Andreas Gryphius and the ,New Philosophy', S. 274; vgl. auch ders.: Probleme der Gryphius-Forschung. In: Germanisch romanische Monatsschrift 38, 1957, S. 328-343, hier S. 331. Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius, S. 63. Ebd., S. 67. Ebd., S. 69. Herbert Schöffler: Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung. Von Martin Opitz bis zu Christian Wolff. Frankfurt am Main, 2. Aufl. 1956, S. 134. Vgl. Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius, S. 55 u. S. 75. Gryphius hat Descartes wahrscheinlich nicht persönlich gekannt, aber seine Schriften, den Discours, die Meteore, die Dioptrique und die Geometrie zur Kenntnis genommen (vgl. ebd., S. 71 f.).Während seines Aufenthaltes in Leiden lehrte dort Descartes, dessen Philosophie die Pfalzgräfin Elisabeth verbreitete, die in Holland im Exil lebte, mit Descartes korrespondierte und entweder bereits dort oder später in Schlesien mit Gryphius in Kontakt stand (vgl. Eberhard Mannack: Andreas Gryphius. Stuttgart, 2., vollständig neu bearbeitete Aufl. 1986, S. 13; Hugh Powell: Gryphius, Princess Elisabeth and Descartes. In: Germania Wratislaviensia 4, 1960, S. 62-76, hier S. 62-65). Vgl. Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius, S. 61.

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Anhänger der Kopernikanischen Lehre war.41 Daß ein überzeugter Lutheraner Kopernikus hochschätze, erkläre sich nicht aus der Neuartigkeit dessen Erkenntnisse, sondern aus der Haltung des Gelehrten, die eine besondere „Tugendleistung" darstelle.42 Der „mutige, auf eigene Einsicht gegründete Ausgriff ins Ungewöhnliche"43 sei nur „ethisch bewertbar."44 Gryphius habe, so Mauser, Glaube und wissenschaftlich-mathematische Erkenntnisse problemlos in seine „Ordnungsvorstellungen" integrieren können. Naturwissenschaftliches Erkenntnisstreben habe nicht auf einen Bruch mit dem alten Glauben hinauslaufen sollen, sondern sei in erster Linie ein Ausweis der Tugend gewesen.45 Laut Mausers Interpretation wäre das Gedicht nicht im Sinne der neuen Denker als eine Vertreibung der Metaphysik zu verstehen. Der Hymnus widerspräche nicht den anderen kritischen Äußerungen zum Wissen, da grundsätzlich nicht von einer Abweisung der Lutherischen Orthodoxie, die das Heil nur sola fide in Aussicht stellt, ausgegangen werden könne, geschweige denn von der Einsetzung eines neuen Wissensideals. Bei genauerem Hinsehen erweist sich das Gedicht tatsächlich für einen Lutheraner als weit weniger revolutionär, als es scheint. Der Lobpreis auf Kopernikus ist angesichts der Ablehnung seiner Lehre durch Luther und Calvin zwar bemerkenswert. Allerdings kann beobachtet werden, daß gerade die Protestanten den neuen Wissenschaften sehr aufgeschlossen gegenüberstanden. Unter den bedeutenden Gelehrten im frühneuzeitlichen Europa befanden sich weitaus mehr Protestanten als Katholiken, was nicht allein mit der fehlenden Inquisition in protestantischen Ländern, wie in Holland, erklärt werden kann.46 Auf den ersten Blick scheint es, als habe man sogar in Luthers engstem Umkreis Kopernikus' Lehre unterstützt. Der Reformator und Mathematiker Rheticus aus Wittenberg begann mit der Drucklegung erster Kopernikanischer Schriften; in seiner Nachfolge gab Oslander, lutherischer Geistlicher, das Hauptwerk des Kopernikus heraus, und auch andere Glaubensgenossen beweisen ein reges Interesse an der neuen Naturwissenschaft. Ob diese Tendenz unter den protestantischen Gelehrten jedoch tatsächlich zu den Anfangen jener frühaufklärerischen Physikotheologie gezählt

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Wolfgang Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. Die ,Sonnete' des Andreas Gryphius. München 1976, S. 54f.; vgl. Marian Szyrocki: Andreas Gryphius. Sein Leben und Werk. Tübingen 1964, S. 22. Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert, S. 22. Streng genommen ist Mausers Befund erstaunlich, denn für einen echten Lutheraner wirken sich die guten Taten sich prinzipiell auf das Heil nicht aus. Ebd., S. 56. Ebd., S. 57. Zur Einschätzung von Gryphius' naturwissenschaftlichen Kenntnissen vgl. ähnlich Flemming: Andreas Gryphius, S. 120f. Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert, S. 56. Vgl. Mason: Geschichte der Naturwissenschaft in der Entwicklung ihrer Denkweisen, S.210f.

26 werden kann, wie Philipp vermutet, ist höchst zweifelhaft.47 In keinem Fall nämlich bedeutete die Aufgeschlossenheit gleichzeitig, daß man der Meinung war, der Mensch könne mit seinen Sinnen die Wahrheit über das Göttliche aus der Natur ermitteln. Eine Erkenntnisweise, die das Prinzip sola fide ersetzen könnte, wurde nicht akzeptiert. Dies belegen Oslanders Äußerungen in der Praefatio seiner KopernikusAusgabe: Die Vorwürfe gegen Kopernikus, er bringe die alten Wahrheiten in Verwirrung, seien unangebracht. Die Hypothesen, die ein Naturwissenschaftler aufstelle - was nun einmal seine Arbeitsmethode sei - müßten nicht der Wahrheit, noch nicht einmal der Wahrscheinlichkeit entsprechen, es genüge, daß sie mit den Beobachtungen und den geometrischen Berechnungen, die man auf ihrer Basis anstelle, übereinstimmten.48 Die wahren Anfangsgründe blieben dem Wissenschaftler jedoch verschlossen, denn das wahre Wissen erschließe sich nur durch Offenbarung. Ursachen erdichte und erfinde der Naturwissenschaftler. Nicht müßte er einen anderen von ihrer Wahrheit überzeugen, sondern er setze sie fur seine Berechnungen zweckmäßig ein.49 Aus dieser Perspektive wäre das Kopernikus-Gedicht die recht unspektakuläre Verehrung eines Naturwissenschaftlers, der ohnehin keine allein bei Gott liegenden Wahrheiten erforschen kann. Der emphatische Ton, der sapientia und scientia als erfinderisch preist, wäre nicht überraschend. Dem Bereich des Glaubens bliebe weiter allein die venia vorbehalten. Alles andere, den Sinnen Zugängliche, ist dem Forschergeist zwar ausgeliefert: Echte Wahrheit aber ergründet er ohnehin nicht. Der Tenor des Kopernikus-Gedichtes steht offenbar gar nicht im Widerspruch zu den anderen Äußerungen im lyrischen Werk, die das menschliche Wissen im Angesicht des Todes eher skeptisch beurteilen. Auf der einen Seite geht es um Wahrscheinlichkeiten, die aber praktikabel und für das menschliche Leben von Nutzen sein können, auf der anderen Seite um die Einsicht, daß Wissenschaft und Weisheit nicht helfen, die Todesstunde zu bestehen, weil hier allein der Glaube zählt. Mit Kühlmann ist anzunehmen, daß das Gedicht eine „Antwort auf die Frage nach der Legitimation der theoretischen Neugierde" nicht geben „will",50 da der Wissensdurst ja kei47

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Vgl. Wolfgang Philipp: Das Werden der Aufklärung aus theologiegeschichtlicher Sicht. Göttingen 1957 (Forschungen zur systematischen Theologie und Religionsphilosophie 3), S. 55. Vgl. Nicolaus Copernicus: Das neue Weltbild. 3 Texte. Lateinisch-deutsch. Übersetzt, hrsg. und mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von Hans Günter Zekl. Im Anhang eine Auswahl aus der Narratio prima des G. J. Rheticus. Hamburg 1990, hier die Vorrede: [Osiandri] ad lectorem de hypothesibus huius operis, S. 60 - 63, hier S. 61. Vgl. ebd., S. 62. Wilhelm Kühlmann: Neuzeitliche Wissenschaft in der Lyrik des 17. Jahrhunderts. Die Kopernikus-Gedichte des Andreas Gryphius und Caspar Barlaeus im Argumentationszusammenhang des frühbarocken Modernismus. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 23, 1979, S. 124-153, hier S. 151.

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ner Rechtfertigung bedarf, berührt er doch nach Lutherischer Auffassung vom menschlichen Wissen, die Oslanders Rede an die Hand gibt, nicht den Bereich der ewigen Wahrheiten. Finden sich also doch harmonisch nebeneinander zwei Formen der Erkenntnis, die ein Lutheraner vereinbaren konnte, wie Powell es andeutete? Ist mit Wiedemann letztlich davon auszugehen, daß „der moderne Leidener Wissenschaftsgeist" Gryphius „nicht tiefer zu beeindrucken" vermochte?51 Ein ergänzender Blick auf Gryphius' Tragödien möge weitere Perspektiven eröffnen. Die Frage ist, auf welche Weise in der Dramatik Stellungnahmen zu Tendenzen der zeitgenössischen Wissenschaften ermittelt werden können. Leitend sei die Frage, wie die Tragödien eine neue Vorstellung von Wissen, die Faktenwissen und Weisheit nicht unterscheidet und davon ausgeht, daß Wissen vorerst vom Menschen produziert wird, diskutieren. Inwiefern plädieren sie, vor dem Hintergrund der Senecaischen Wissensphilosophie, fur einen traditionellen Begriff von Weisheit, der den Menschen ermächtigt, Gott zu erkennen, und auf das Gewissen nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch verpflichtet? Das Plädoyer fur einen solchen Begriff von sapientia würde die Lutherische Gnadenlehre hinterfragen und auch die Funktion der Naturerkenntnis anders bewerten, als Oslanders Rede es tut: Sie müßte dazu dienen, eine objektive Wahrheit aus der Natur zu erkennen, und nicht, Welt, d. h. Natur und Recht, eigenmächtig zu gestalten.

III. Wissenschaftskritik und Senecaische Kulturphilosophie im Leo Armenius Sein erstes Drama verfaßte Gryphius in Straßburg, nach seiner Kavalierstour durch Frankreich und Italien, zu der er im Jahre 1644, nach sechsjährigem Aufenthalt in Leiden, aufgebrochen war. Das Drama Leo Armenius ist eine Frucht der langen Reise- und Bildungsjahre, die der Forschung wohl mehr Fragen aufgegeben hat als die weiteren Dramen und die unterschiedlichsten Interpretationen provozierte. Stofflich geht das Drama auf ein Ereignis zurück, das die byzantinischen Historiker Georgios Kedrenos und Johannes Zonaras in ihrem Compendium historiarum berichten. Angeregt wurde Gryphius vor allem durch das Stück Leo Armenius seu Impietas punita des Jesuiten Joseph Simon, das er aber umformt.52 Qualifiziert die Vorlage den Kaiser als bilderfeindlichen Tyran-

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Conrad Wiedemann: Andreas Gryphius. In: Deutsche Dichter des Leben und Werk. Hrsg. von Harald Steinhagen und Benno von S. 435-471, hier S. 442. Es besteht die Vermutung, daß Gryphius das Stück während seines gesehen hatte (vgl. Kaminski: Andreas Gryphius, S. 34-37 und S.

17. Jahrhunderts. Ihr Wiese. Berlin 1984, Aufenthaltes in Rom 94). Simons Vorlage

28 nen und seinen Tod als Strafe für den Ikonoklasmus, so verschwimmen in Gryphius' Version die Grenzen zwischen Gut und Böse, und man zweifelt, ob die Umformung zu einem reinen Märtyrerstück aus protestantischem Geist gelungen ist oder überhaupt intendiert war. Während Walter Benjamin grundsätzlich im Märtyrer- und Tyrannenstück keinen Widerspruch sah, sondern eher notwendige Äquivalente, 53 versucht die traditionelle Forschung heute, an der Kategorie Märtyrerstück festzuhalten, während modernere Interpreten das Stück als ein Dokument eines Glaubenspessimismus betrachten. Im Gegensatz zu einer Tradition, die im Leo Armenius ein „Schicksalsdrama",54 ein Märtyrerstück oder zumindest ein Drama der Gnade und eine noch unvollkommene Vorform der späteren Märtyrertragödien betrachtet,55 nennt Szondi den Leo Armenius einen „kühnen Gegensatz" zu Gryphius' späteren Märtyrerstücken.56 Es handele sich um eine Tragödie des Glaubens, dem Kaiser und Kaiserin letztlich ihren Tod verdankten: „Die Glorie des Martyriums erhellt weder den Kaiser noch die Kaiserin, die doch beide ihrer Religion zum Opfer fallen."57 Der Glaube müsse sich „dazu hergeben [...], die Mörder dessen zu schützen, der ihm treu geblieben" sei. 58 Szondi idealisiert den Kaiser, indem er ihn zu einem streng gläubigen Menschen erklärt, allerdings läßt das Drama seiner Ansicht nach den Glauben nicht mehr als substantiellen Wert hervortreten.

stellt Leo Armenius eindeutig als bilderfeindlichen Tyrannen dar (eine intensive Auseinandersetzung mit der Quelle bietet Willi Harring: Andreas Gryphius und das Drama der Jesuiten. Halle 1907). Dem Leo Armenius haben als Vorlagen außerdem die holländischen Vorbilder der Dramatiker Pieter Comeliszoon Hooft und Joost van den Vondel gedient, Hoofts Geerardt van Velsen und Vondels Gysbregt van Aemstel. Mit Vondel war Gryphius besonders vertraut, da er dessen De Gebroeders 1640 in Die Sieben Brüder / Oder Die Gibeoniter ins Deutsche übertrug. 53 Vgl. Walter Benjamin: Der Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1-7. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1974-1989, hier Bd. 1.1, S. 203-430, hier S. 253. 54 Erik Lunding: Das schlesische Kunstdrama. Kopenhagen 1940, S. 78. 55 Vgl. etwa Kaiser: Leo Armenius, Oder Fürsten=Mord, S. 23f; vgl. Peter Rusterholz: Nachwort: Andreas Gryphius: Leo Armenius. Trauerspiel. Hrsg. von Peter Rusterholz. Stuttgart 1987 (zuerst 1971), S. 127-146, hier S. 141; vgl. Szarota: Geschichte, Politik und Gesellschaft im Drama des 17. Jahrhunderts, S. 65f.; vgl. Gerhard F. Strasser: Andreas Gryphius' Leo Armenius·. An Emblematic Interpretation. In: The Germanic Review 51, 1976, S. 5-12, hier S. 11 f.; vgl. Parente: Religious Drama and the Humanist Tradition, S. 185f; Mannack, Kommentar: Gryphius. Dramen, S. 891; Andreas Solbach: Politische Theologie und Rhetorik in Andreas Gryphius' Trauerspiel Leo Armenius. In: Wahrheit und Wort. Festschrift für Rolf Tarot, S. 4 0 9 ^ 2 5 , hier S. 424. Vgl. auch Jean Louis Raffy: Leidenschaft und Gnade in Gryphius' Trauerspielen. In: Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit. Hrsg. von Jean-Daniel Krebs. Bern u. a. 1996 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A, 24), S. 189-206, hier S. 195f. 56 Peter Szondi: Versuch über das Tragische. Frankfurt am Main, 2. Aufl. 1964, S. 234. 57 Ebd., S. 232. 5 « Ebd.

29 Den traditionellen Interpretationen, die Leos Tod auf seinen Glauben zurückfuhren, stehen differenziertere Deutungsmuster gegenüber. Wegen mangelnder Kontraste in den Figuren beurteilt South das Drama als „das Emblem einer radikal diesseitigen Weltsicht", die Gottes Güte klar verneine.59 Auch Szyrocki sieht in Leo keinen Märtyrer, der Tod sei die Strafe fur die irdischen Verbrechen, die er begangen habe.60 Für Steinhagen verbietet sich die Subsumierung unter die Kategorie ,Märtyrerdrama', da keine Schuldzuweisungen oder moralischen Indikationen gegeben seien. Das Drama verurteile eher „eine Einrichtung der Welt, deren Gesetz der permanente Kampf um Macht und Herrschaft" sei,61 und desavouiere auch im Tod des Kaisers die radikale Diesseitigkeit, indem das Heilsversprechen Gottes das Sterben zu seiner Voraussetzung mache. 62 Im Anschluß an South und Steinhagen geht Budde so weit zu behaupten, daß Leos im Botenbericht geschilderter Sterbegestus, das Ergreifen und Küssen des Kreuzes, selbst noch „irdischer Berechnung" entstamme. 63 Einen Mittelweg wählt Bornscheuer, der beide ,Diskurse' im Text eingeschrieben sieht: den religiösen, indem Leo durch imitatio Christi den Martertod auf sich nehme, den machtpolitischen, weil Leo das Kreuz entweihe und es als Waffe im Dienst der Selbstbehauptung verwende. Das Drama erweise die Unverträglichkeit der beiden,Diskurse'. 64 Die Forschungslage zeigt, daß der Leo Armenius, wie kein anderes Gryphius-Drama, fur heterogene Deutungen offen ist. Versuche, den Kaiser zu idealisieren oder an ihm Züge eines prudentistischen Herrschers zu sehen, stehen nebeneinander. Analysiert man Leos Handeln vor der Folie des stoisch-christlichen Naturrechts, das die senecaische Kulturkritik im Drama auf verschiedene Weise thematisiert, dann wird sich zeigen, daß er weder eine ideale Figur ist, die wegen ihres Glaubens stirbt, wie etwa Szondi meint, noch eindeutig, selbst im Sterben, aus prudentistischem Kalkül handelt, wie Budde konstatiert. Auch treten der religiöse und der machtpolitische Diskurs einander nicht unversöhnlich gegenüber, sondern der Kaiser hat an dem ideengeschichtlichen Streit zwischen dem alten und dem neuen Naturrecht, zwischen der traditionellen sapientia und einem neuen Wissensbegriff teil, indem sein Handeln diesen Streit reflektiert und ihn gleichzeitig sogar inszeniert.

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Marie S. South: Leo Armenius oder die Häresie des Andreas Gryphius. Überlegungen zur figuralen Parallelstruktur. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 94, Heft 2, 1975, S. 161183, hier S. 162. Szyrocki: Andreas Gryphius, S. 83. Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln, S. 42. Vgl. ebd., S. 125. Budde: Vom anhaltenden „unrecht der Palläste" und vom unsicheren Trost der Religion, S. 35. Vgl. Bomscheuer: Diskurs-Synkretismus, S. 502f.

30 Vor der Analyse der Figurenhandlung stehe eine ausfuhrliche Betrachtung des ersten Reyen. Denn an der Praxis der Figuren exemplifiziert das Drama eine Wissensordnung, die der erste Reyen vorführt. Dieser wird zunächst ausfuhrlich diskutiert und nachvollzogen, wie sich die Spuren der Sophokleischen Antigone und der Senecaischen Wissensphilosophie in ihn und sein näheres Umfeld einschreiben. Eine detaillierte Untersuchung dieses Reyen empfiehlt sich deshalb, weil er wissenschaftliche Entwicklungen der Zeit spiegelt. Schließlich soll ein intertextueller Vergleich des Leo Armenius mit Senecas Oedipus strukturelle und thematische Analogien der Figurenhandlung aufdecken. Es besteht die Frage, wie die Protagonisten von der Warte Senecaischer Kulturphilosophie zu beurteilen sind und inwiefern im Leo Armenius das Handeln des Kaisers die Wissensordnung kommentiert, die der erste Reyen präsentiert.

1. Der Reyen der Höfflinge: frühneuzeitliche Wissensordnung und die Grundzüge der Senecaischen Wissensphilosophie Lohenstein bezeichnet Gryphius in seinem Grabgedicht Die Höhe des Menschlichen Geistes. Über das Absterben Herrn Andreae Gryphii des glogauischen Fürstentums Landes-Syndici als „in Sprüchen Senecen" gleich und als „der Deutschen Sophocles".65 Die Affinität zu Seneca reicht wohl bei weitem über die Spruchfertigkeit hinaus und ist, wie auch die zu Sophokles, ideeller Natur. Der erste Reyen des Leo Armenius liefert für diese These die ersten Indizien. Er nimmt zum einen antikes Gedankengut auf, zum anderen ist er auch Spiegel der frühneuzeitlichen Wissensordnung. Wie sich Antike und Moderne im Reyen begegnen, sei Gegenstand des folgenden Kapitels. Barner hat bereits in der bislang wichtigsten Interpretation zum Thema auf die Verwandtschaft des ersten Reyen im Leo Armenius mit dem ersten Stasimon der Sophokleischen Antigone hingewiesen. Er untersucht vor allem die Rolle, die Martin Opitz bei der Vermittlung des griechischen Dramenstoffes eingenommen hatte. Einen Vergleich, der die Stellung des Menschen vor einem ähnlichen kulturgeschichtlichen Hintergrund im 5. Jahrhundert vor und im 17. Jahrhundert nach Christus berücksichtigt, deutet er nur an. Entscheidend ist dabei, wie Barner treffend bemerkt, daß es um „Grundfragen des Menschenbildes" gehe, um „die Einsicht in die Zwiespältigkeit der geistigen Macht", die die Dichter Gryphius und

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Daniel Casper von Lohenstein: Lyrica. Die Sammlung „Blumen" (1680) und „Erleuchteter Hoffmann" (1685) nebst einem Anhang: Gelegenheitsgedichte in separater Überlieferung. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Gerhard Speilerberg. Tübingen 1992, S. 403.

31 Sophokles miteinander verbinde. 66 Am vollendetsten drücke sich die geistige Macht, die ratio, in der Sprachfähigkeit, der oratio, des Menschen aus, ratio und oratio seien einander zugeordnet. Die Ambivalenz der Sprache, die der Reyen thematisiere, meine dann gleichzeitig diejenige der Vernunft. 67 Im Anschluß an Barner liest Gaede aus dem Reyen die „Widersprüchlichkeit der das Verstandesdenken repräsentierenden Urteilshaltung" und sieht darin eine Reflexion auf den Cartesianismus. 68 Diese vorsichtigen geistesgeschichtlichen Ansätze erfahren derzeit heftige Angriffe. Bogner unterstellt, daß sie der „historischen Überprüfung" nicht standhielten, 69 da Barner die vermeintliche „Systemreferenz" auf die Rhetorik nicht durch Textbelege und -vergleiche nachweise. 70 Daß Bogner vehement und aggressiv gegen die .gelehrte Forschung' polemisiert, 71 macht seinen Standpunkt ebensowenig überzeugender wie die Quantität der angeführten Prätexte. Nach einer Auflistung sogenannter frühneuzeitlicher lingua-Texte, die die ethisch positiven Aspekte einer guten Redegestaltung behandeln, folgt die Feststellung, daß der Reyen nicht mit einer „MetaReflexion auf Sprache" befaßt sei, die Kunst der Rhetorik nicht „kritisch befrage", sondern die „Sprache als System der Kommunikation" aktualisiere.72 Ähnlich konstatiert Brinker-von der Heyde, daß es in dem ersten Reyen nicht, wie Barner behauptet, darum gehe, das rhetorische Sprechen zu problematisieren. 73 Die erste Strophe preise die „Entdeckung der Schöpfung", des Buches der Natur, das der Mensch durch Benennen der Dinge lesen könne. 74 Dieses Lesen bedeute nie „Er-findung", sondern immer „Finden". 75 Die Sprache schlage die Brücke zur „unsichtbaren Instanz" des Göttlichen. 76 66

Wilfried Barner: Gryphius und die Macht der Rede. Zum ersten Reyen des Trauerspiels Leo Armenius. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 42, 1968, 3 2 5 - 3 5 8 , hier S. 354. Vgl. ebd., S. 334. Vgl. zustimmend Solbach: Politische Theologie und Rhetorik in Andreas Gryphius' Trauerspiel Leo Armenius, S. 409. Solbach erweitert aber Barners Interpretation und sieht eine zweite Funktion der Sprache besonders in der dritten Strophe angesprochen, die v o m Nutzen der Worte als des Schwertes Christi handele, das nicht verletze, sondern beschütze (vgl. S. 418). 68 Friedrich Gaede: Poetik und Logik. Zu den Grundlagen der literarischen Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert. Bern, München 1978, S. 64. 69 Ralf Georg Bogner: D i e Bezähmung der Zunge. Literatur und Disziplinierung der Alltagskommunikation in der frühen Neuzeit. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 31), S. 4. ™ Ebd., S. 5. 71 Vgl. ebd., S. 9. 72 Ebd., S. 43. 73 Claudia Brinker-von der Heyde: Freundschaft und grimmer Haß Oder: Die Macht des Wortes im Leo Armenius von Andreas Gryphius. In: Ars et amicitia. Beiträge zum Thema Freundschaft in Geschichte, Kunst und Literatur. Festschrift für Martin Bircher zum 60. Geburtstag am 3. Juni 1998. Hrsg. von Ferdinand van Ingen und Christian Juranek. A m sterdam-Atlanta 1998 (Chloe 28), S. 2 5 3 - 2 6 9 , hier S. 257. 74 Ebd., S. 261. 75 Ebd., S. 260. 76 Ebd., S. 261. 67

32 Die zweite Strophe behandele die Auswüchse der menschlichen Rede, die der Plan der Schöpfung nicht vorgesehen habe. Michael verkörpere „in all seinem Sprechen und Tun die pervertierte Schöpfung", indem er nicht nur entdecken, sondern erfinden wolle, in die Vorsehung eingreife und die Treue zu Leo zerstöre. 77 Die Kommunikation mißglücke, Gryphius gehe es „ausschließlich um den heilsgeschichtlichen Aspekt des gesprochenen Wortes". 78 Sowohl Bogners als auch Brinker-von der Heydes Interpretation weisen den geistesgeschichtlichen Ansatz, den Barner und Gaede gewählt haben, zurück. Bogner liefert stattdessen eine Unzahl von Referenzen auf zeitgenössische Texte über Sprache. Brinker-von der Heyde unterstellt dem Reyen ein traditionelles Weltbild, das ein Subjekt impliziert, dem die Entdeckung der objektiven Welt und überdies der göttlichen Wahrheit durch Sprache aufgegeben ist. Die zu diesem Zweck von Brinker-von der Heyde angeführten Bibel- und Lutherzitate wollen nicht überzeugen. Nicht wieder aufgegriffen wurde die von Barner angedeutete Systemreferenz zur Antike, die aber für die aufgeworfenen Fragen und die Entschlüsselung der significatio aufschlußreich, wenn nicht sogar unabdingbar ist. Neben dem ersten Stasimon der Antigone, auf das Barner bereits hingewiesen hat, kommt hier die senecaische Wissensphilosophie zur Sprache. Es wird sich zeigen, wie diese die moderne Wissensordnung im Reyen aus traditioneller Sicht kommentiert. Zunächst sei überlegt, auf welchen wissenschaftsgeschichtlichen und kulturhistorischen Hintergrund das barocke und das antike Chorlied anspielen. Es ist notwendig, den ideengeschichtlichen Standort des AntigoneLiedes näher zu bestimmen, weil in seiner Thematik die Wurzeln für die Senecaische Wissensphilosophie zu suchen sind. Schließlich sei untersucht, auf welche Weise sich die Senecaische Wissensphilosophie dem barocken Chorlied einschreibt und ebenfalls die Sophokleische Vorlage transportiert. Auch wenn nicht von einer offenen „Rezeptionslenkung" durch den Autor gesprochen werden kann, 79 sondern die Erkenntnis, welche Prätexte zugrundeliegen können, in hohem Grade rezipientenabhängig ist, ist die Auswahl dennoch nicht beliebig. Erst aus dem Blickwinkel der Senecaischen 77 78

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Ebd., S. 264. Ebd., S. 265. Brinker-von der Heyde beruft sich auf die Feststellung von Andreas Gardt (Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme und Leibniz. Berlin, New York 1994 [Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker. Neue Folge 108]), daß im 17. Jahrhundert , j e d e Art der Beschäftigung von Sprache mehr oder weniger religiös begründet" werde (S. 7). Gardts facettenreiche Darstellung stellt allerdings fest, daß hinsichtlich der Problematik „Sprache-Denken-Wirklichkeit" schon das 17. Jahrhundert eine Fülle von möglichen Positionen biete, wobei die Idee „einer auf Göttliches verweisenden Entsprechung von Sprache und Wirklichkeit" nur eine, in der Mystik beheimatete Vorstellung sei (S. 21). Jörg Heibig: Intertextualität und Markierung. Heidelberg 1995 (Beiträge zur neueren Literaturwissenschaft 141), S. 13.

33 Prätexte ist jene Problematik der Wissensordnung des ersten Reyen und der ihm inhärente Streit zwischen Antike und Moderne genauer zu skizzieren.

a) Gryphius' Reyen und Sophokles' Antigone: Aspekte hellenistischer Bildungskonzepte und die Senecaische Wissensphilosophie Thema des Reyen ist die Ausnahmestellung des Menschen in Natur und Geschichte aufgrund seiner Sprachfahigkeit und damit seiner Vernunftbegabtheit. Als ein „Wunder der Natur" erscheint deshalb der Mensch {Leo Arm. I. 509), weil er es durch Vernunft vermag, den gesamten Bereich menschlichen Lebens zu gestalten. Die Sprache sei hier, in der Folge Barners, mit der Vernunft identifiziert.80 War es das Verdienst der älteren Barockforschung, auf die für die barocke Rhetorik typische ,Distanzhaltung' des Sprechens hinzuweisen,81 und zeigt sich in diesem Reyen deutlich eine Reflexion über diese Haltung, so impliziert eine solche Reflexion über das Sprechen zweifelsohne diejenige über das Denken - über das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit schlechthin. Die significatio geht über die heil-

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Vgl. oben, S. 30f. Vgl. Wilfried Bamer: Barockrhetorik, Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 76. Vgl. Karl Otto Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1962, S. 47; vgl. schon Günter Müller: Höfische Kultur der Barockzeit. In: Hans Naumann / Günter Müller: Höfische Kultur. Halle, Saale 1929 (Deutsche Vierteljahrsschrift. Buchreihe 17), S. 81-154, hier S. 83. Die .Distanzhaltung' als eine zentrale Kategorie des Sprechens erkannt zu haben bedeutete in der Barockforschung einen Paradigmenwechsel (vgl. auch Herbert Jaumann: Die deutsche Barockliteratur. Wertung-Umwertung. Eine wertungsgeschichtliche Studie in systematischer Absicht. Bonn 1975, S. 551-555). Tendenzen des Expressionismus wurden radikal in Frage gestellt, die durch die kunstgeschichtliche Analyse Heinrich Wölfflins ausgelöst und besonders von Fritz Strich bestätigt wurden. Wölfflin (Die Gründe der Stilwandlung. In: Der literarische Barockbegriff. Hrsg. von Wilfried Barner. Darmstadt 1975, S. 14-31) trennt das Barockzeitalter streng von der Renaissance und läßt hier eine neue barocke Formenwelt beginnen, die er von einer psychologischen Sichtweise aus erklärt, wobei diese Welt tendenziell als ein Verfallsprodukt gesehen wird. Der barocke Stil zeichne sich in scharfer Abgrenzung zur formvollendeten Renaissance durch „Berauschung", durch das „Unendliche" und durch „Ekstase" aus (S. 29). Anknüpfend an diese Analyse betonte Fritz Strich (Der lyrische Stil des 17. Jahrhunderts. In: Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche. Hrsg. von Richard Alewyn. Köln, Berlin 1966, S. 229-259) im Gegensatz zur Objektivation des Gegenstandes, die seine rationale Durchformung aus der Distanz erst ermöglicht, die freie und persönliche Gestaltung der Dichtung aus momentaner Unmittelbarkeit (vgl. S. 231 f.) Die „objektive Welt" werde „zerbrochen und aufgelöst" (S. 233), Sprunghaftigkeit und Dissonanzen prägten laut Strich den antithetischen Stil der Dichtung (vgl. S. 237). Fortan wurde die Antithetik zum Charakteristikum des barocken Lebensgefuhls erklärt. Zu einer kritischen Analyse der Wölfflinrezeption bei Strich vgl. etwa Hans-Harald Müller: Barockforschung: Ideologie und Methode. Ein Kapitel deutscher Wissenschaftsgeschichte 1870-1930. Darmstadt 1973, S. 118-122. Der Begriff „Antithetik" als Bezeichnung des Weltverständnisses der Zeit ist längst angefochten. Vgl. etwa die Kritik an Strich von Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert, S. 152-157.

34 same oder unheilvolle „Kraft des Wortes" in der Kommunikation als ihr „Zentralthema" hinaus. 82 Der Reyen setzt selbst Sprache und Vernunft gleich, indem er die Existenz des Menschen, der sich seine Wirklichkeit mit ihrer Hilfe gestaltet, beschreibt. Thema ist das Verhältnis des Menschen zur Welt. Dies zeigt schon die erste Strophe: Das Wunder der Natur / das überweise Their Hat nichts das seiner Zungen sey zugleichen Ein wildes Vieh' entdeckt mit stummen zeichen Deß innern hertzens sinn; mit Worten herrschen wir! Der Türme Last / und was das Land beschwert. Der Schiffe baw' / und was die See durchfahrt / Der Sternen grosse krafft / Was Lufft und flamme schafft / Was Chloris laest in jhren gärtten schawen / Was das gesetzte Recht von allen Völckem wil. Was Gott der weit lies von sich selbst vertrawen; Was in der blütte steht was durch die zeit verfiel Wird durch diß werckzeug nur entdecket. Freundschafft / die todt und ende schrecket / Die Macht / die wildes Volck zu sitten hat gezwungen / Deß Menschen leben selbst; beruht auf seiner zungen. (Leo Arm. I. 509-534)

Die Erkenntnisse in unterschiedlichen Wissensbereichen, Natur- und mechanischen Wissenschaften sowie Geisteswissenschaften, dienen dem Menschen zur Gestaltung seiner Lebenswelt. Nacheinander werden Architektur, Navigation, Astronomie, Physik, Botanik und schließlich Rechtswissenschaft, Theologie und Geschichte genannt (vgl. I. 512-520). Die zweite Strophe läßt diesen Fortschritt nicht ungetrübt erscheinen, vermag doch dieselbe Vernunft „ t i e f zu stürzen (I. 525); „der Voelcker grimmer haß / der ungehwre Krieg" (I. 534), sogar „deß Menschen Todt" scheint durch diese ratio produziert. Erstes Thema des Reyen ist die Ambivalenz des Fortschritts. Dementsprechend ist das Thema des ersten Stasimon in Sophokles' Antigone der ungeheure Mensch (332),83 der sich, trotz Widerständen der Natur, Meer und Land durch Schiffahrt und Ackerbau Untertan macht und die Tierwelt bezwingt. Listig fängt er mit Netzen und Fallen das Wild, zähmt Pferde und unterjocht den wilden Stier (vgl. 342-352): der „allzukluge Mensch", der ,,περκρραδής ά ν ή ρ " (348). Er lehrt sich die Sprache, das Denken, die Staatslenkung und die Medizin (vgl. 354—364). Besonders im letzten Teil des Liedes wird die Ambivalenz dieser Klugheit angesprochen: Über alles Erwarten besitzt der Mensch die Gabe der Erfindung, je-

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Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. München 1964, S. 159. Zitiert wird nach: Sophokles: Antigone. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Norbert Zink. Stuttgart 1981.

35 doch schreitet er durch sie sowohl zum Guten als auch zum Schlechten (vgl. 365-375). Der Reyen und das griechische Chorlied thematisieren die Erkenntnisfähigkeit des Menschen, den Fortschritt in den sich spezialisierenden Wissenschaften und Künsten, der sowohl in der griechischen Aufklärung als auch in der Frühen Neuzeit zu verzeichnen ist. Im zweiten Teil sprechen sie jeweils die Ambivalenz des Fortschritts an. Beide Texte können als ein kulturgeschichtlicher Kommentar zu ihrer jeweiligen Zeit gelesen werden. Die Sophokleischen Gedanken bilden zudem, wie sich im folgenden zeigen wird, eine Vorstufe der Senecaischen Wissensphilosophie (I), diese wiederum das Bindeglied zum spezifisch frühneuzeitlichen Kontext des Reyen (II). (I) In Griechenland begannen sich seit dem 5. Jahrhundert die Einzelwissenschaften von der Philosophie zu lösen. Während im 6. und 5. Jahrhundert besonders das Handwerk einige Erfindungen zu verzeichnen hatte und noch mit der σοφία gleichgesetzt war,84 veränderte sich seit Anfang des 5. Jahrhunderts die Ordnung des Wissens. Zur Zeit des Sophokles begann in Athen, nach dem Sieg über die Perser, eine kulturelle Blüte. Die Fachwissenschaften kristallisierten sich, wenn auch langsam, zu eigenen spezialisierten Disziplinen heraus. Hier wurden die Wurzeln gelegt für die sich etwas später herausbildende εγκύκλιος π α ι δ ε ί α . Der Terminus bezeichnete zunächst die „allgemeine Bildung des Freien im Gegensatz zu der speziellen Fachbildung des ungeachteten Handwerkers", 85 die aber nicht die „gewöhnliche, alltägliche Bildung" meinte, 86 sondern in einzelnen Fächern, etwa in Arithmetik, Geometrie, Musik und Mathematik stattfand. Sie galt später als Propädeutikum für die Philosophie, ihr tatsächlicher Nutzen wurde aber, wie bereits erwähnt, seit ihren Anfangen in Frage gestellt.87 Sophokles' Lied beweist bereits ein Bewußtsein fur die Frage nach dem Nutzen des Fachwissens, der Vielwisserei und seiner Ambivalenz. Auch wenn der Mensch klug und kunstfertig nützliche Dinge erfinden kann, läuft er immer Gefahr, mit seinem Wissen Unheil anzurichten, den alten Glauben an das Göttliche nicht zu beachten (vgl. 365-375). Lesky interpretiert das erste Stasimon der Antigone als „Absage an all das Neue" und „Umstürzende", 88 das besonders mit den Sophisten in Griechenland Einzug gehalten habe. Das Bewußtsein des Sophokleischen Liedes für die Ambivalenz des Fortschritts rührt nicht von ungefähr. Die kulturelle Blüte resultierte aus einer Öffnung nach außen, so daß andere Lebensformen in den Blick und

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Vgl. Mason: Geschichte der Naturwissenschaft, S. 43. Kuhnert: Allgemeinbildung und Fachbildung in der Antike, S. 10. Ebd., S. 14. Vgl. oben, S. 9f. Albin Lesky: Geschichte der griechischen Literatur. München 1993, S. 329.

36 eigene Traditionen, u. a. der Glaube an die Götter, ins Wanken gerieten. So ging der Fortschritt mit politischen Veränderungen, Meinungspluralismus, demokratischen Bestrebungen und Kritik an Tradition und Konvention einher, die Teile der sophistischen Bewegung stärkten.89 Während die Sophisten die regionale und temporäre Relativität des jeweils bestehenden Gesetzes als eines bloßen νόμος betonten und einem Agnostizismus und Atheismus Vorschub leisteten, trat die Tradition mit der Vorstellung eines ewigen und ungeschriebenen Gesetzes dieser Tendenz entgegen.90 In der Antigone nimmt Kreon die Rolle desjenigen ein, der Gesetze schafft, die dem ewigen Recht widersprechen, denn er will Antigone verweigern, ihren Bruder Polyneikes zu begraben. Das Ende des Chorliedes kündigt den Auftritt der Antigone an, die frevelhaft das Königsgesetz übertreten habe (vgl. 376-383). Kurz danach finden wir die ,Urszene' für die stoische lex naturae und ebenso für die stoisch-christliche Paulinische Formel des in die Herzen der Menschen eingeschriebenen Gesetzes, auch wenn tatsächlich noch nicht von der Natur die Rede ist.91 Antigone verteidigt sich gegenüber Kreon, indem sie sich auf das ungeschriebene Gesetz beruft: Nicht Zeus hat mir dies verkünden lassen noch die Mitbewohnerin bei den untem Göttem, Dike, die beide dieses Gesetz unter den Menschen bestimmt haben, und ich glaubte auch nicht, daß so stark seien deine Erlasse, daß die ungeschriebenen und gültigen Gesetze der Götter ein Sterblicher übertreten könnte. Denn nun nicht jetzt und gestern, sondern irgendwie immer lebt das, und keiner weiß, wann es erschien. (Ant. 450-457)

Der Sophokleische Gedanke, daß die öffentliche Relevanz des unanfechtbaren göttlichen Gesetzes, später des Gewissens, durch die menschliche, wissenschaftliche, künstlerische und politische Gestaltungskraft bedroht sei, findet sich in der Senecaischen Wissensphilosophie wieder. Die Entwicklungen im philosophisch-anthropologischen Diskurs nach Sophokles, die ihr zugrunde liegen, können hier nur angedeutet werden. (II) Die in dem Sophokleischen Lied formulierte Ambivalenz des menschlichen Wissensdrangs wird zu einem zentralen Thema in der hellenistischen Philosophie. Seit der ionischen Naturphilosophie droht die Naturbetrachtung rein theoretisch zu werden. Die Fabel von Thaies von Milet, der bei der Betrachtung des Himmels in den Brunnen fällt und von einer thrakischen Magd verspottet wird, weil er erstrebe zu wissen, was im Himmel sei,

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Vgl. etwa Christian Meier: Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte. S. 513; vgl. zur Entwicklung der Naturwissenschaften in Athen auch Mason: Geschichte der Naturwissenschaft in der Entwicklung ihrer Denkweisen, S. 42-59. Vgl. William Keith C. Guthrie: The Fifth-Century Enlightement. Cambridge 1969 (A History of Greek Philosophy. Bd. 3), S. 22f. Vgl. George Β. Kerferd: The Sophistic Movement. Cambridge 1981, S. 113.

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jedoch ihm unbekannt bleibe, was zu seinen Füßen liege, verbildlicht das Dilemma zwischen Theorie und Praxis (vgl. Plat. Theait. 174a-b). 92 Von nun an vollzieht sich langsam eine Trennung zwischen „dem technischen Können und Wissen und der eigentlichen Bildung", die, so Werner Jaeger, „die Grundlage des Humanismus" geworden sei.93 Fortan wird der Anspruch erhoben, daß das Wissen unmittelbar in Zusammenhang mit der praktischen Lebenswelt stehen müsse. Die Schlüsselrolle spielt Sokrates, der die Philosophie aus dem βίος θ ε ω ρ η τ ι κ ό ς zurückruft, wie uns Cicero in einem berühmten Passus überliefert: „Socrates autem primus philosophiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit et in domus etiam introduxit et coegit de vita et moribus rebusque bonis et malis quaerere" (Cie. Tusc. Disp. 5. 4 ) ^ Nicht folgen kann ich der Deutung Blumenbergs, die „,sokratische Wendung', die der Philosophie die Erforschung dessen aufgegeben habe, „was der Mensch sei und was einem von Natur so beschaffenen Wesen vor anderen zu tun und zu leiden zukomme", habe „die theoretische Haltung nicht um ein Haar verändert", sondern „nur ihren Gegenstand der alltäglichen Vertrautheit entzogen und auf den Abstand gerückt, in dem er so fremdartig" erschienen sei „wie die Sterne auch." 95 Die Philosophie des Sokrates wollte aber ebenso wie der Epikureismus und die Stoa eine Philosophie des Lebens sein. Die kontemplative und aktive Aufgabe der Philosophie hebt im Anschluß an Sokrates Seneca hervor: „Philosophia autem et contemplativa est et activa: spectat simul agitque" (Ep. 95. 10). Weiterhin geht Blumenberg fehl in der Annahme, daß der Himmel für die Stoiker „Gegenstand reiner Theorie" sei.96 Ganz im Gegenteil ist bei Seneca das Verhältnis des Menschen zur unberührten Natur gleichzeitig kontemplativ und aktiv. Ihre Betrachtung schließt eine aktive Gottes- und Selbsterkenntnis mit ein, denn die Einzelseele ist, aufgrund der pantheistischen Allnatur, des göttlichen Logos teilhaftig (vgl. Sen. Nat. quaest. Praef. 12).97 Dies setzt den Menschen in den Stand, die ewigen Dinge zu erkennen, die scientia bonorum ac malorum inmutabilis, bzw. die Zenonsche ε π ι σ τ ή μ η κ α κ ώ ν και ά γ α θ ώ υ , 9 8 zu erwerben. Aus dieser sind sittliche

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Zitiert wird nach: Piaton: Werke Bd. 1 - 8 . Griechisch-deutsch. Hrsg. von Gunter Eigler. Darmstadt 1990, hier Bd. 6: Theaitetos, Sophistes (u. a.). Vgl. auch Hans Blumenberg: Das Lachen der Thrakerin. Eine Urgeschichte der Theorie. Frankfurt am Main 1987, S. 13. Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. B d . l . Berlin, 4. Aufl. 1959, S. 380. Zitiert wird nach: Marcus Tullius Cicero: Tusculanae Disputationes. Recognovit Max Pohlenz. Stuttgart 1982 (M. Tulli Ciceronis scripta quae mansuerunt omnia. Fase. 44). Blumenberg: Das Lachen der Thrakerin, S. 16. Ders.: Die Genesis der kopernikanischen Welt. Frankfurt am Main 1975, S. 28. Zitiert wird nach: Lucius Annaeus Seneca: Naturalium questionum libros recognovit Harry M. Hine. Stuttgart 1996. Vgl. Diogenes Laertius: Lives of Eminent Philosophers. Bd. 1. With an English Translation by R. D. Hicks. London 1950, Kap. 7. 92.

38 Handlungsweisen abzuleiten, die im naturgemäßen Leben aktualisiert werden sollen. Dem Menschen ist die Erkenntnis des Unsterblichen, die inmortalium cognitio (vgl. Sen. De otio, 5. 8), zur Aufgabe gegeben: Ergo secundum naturam vivo si totum me ί 1 Ii dedi, si illius admirator cultorque sum. Natura autem utrumque facere me voluit, et agere et contemplationi vacare: utrumque facio, quoniam ne contemplatio quidem sine actione est. (De otio, 5. 8)

Es geht immer darum, sich bewußt zu bleiben, wozu, „quo animo" (De otio, 6. 1), Wissen erworben wird. Ohne dieses πρόξ τι ist jedes Wissen wertlos. Der Weise wird niemals Wissen um seiner selbst willen erlangen wollen, sondern immer aus ihm einen ethischen Habitus ableiten. Diese Voraussetzungen bestimmen Senecas Stellungnahme zu den Künsten und Wissenschaften. Für die Ausbildung zur sapientia verleiht er den studio liberalia, der griechischen εγκύκλιος π α ι δ ε ί α , auf die das erste Stasimon der Antigone vorausweist, eine spezifische Rolle. Während Zenon, der Gründer der Stoa, sie abgelehnt hatte," erkennt Seneca ihren propädeutischen Wert für die Ausbildung der Tugend an: „[...] liberales artes non perducunt animum ad virtutem sed expediunt" (Ep. 88. 20). Im Vergleich zur sapientia aber seien Grammatik, reine Philologie, Musik, Geometrie, Arithmetik und Astronomie (vgl. Ep. 88. 3-17) albern und kindisch. Man könne sogar behaupten, daß man auch ohne sie zur Weisheit gelange (vgl. Ep. 88. 32). Vor allem wendet sich Seneca gegen die Vielwisserei, die Polymathie: „Plus scire velle quam sit satis intemperantiae genus est" (Ep. 88. 37). Maßvolles Wissen soll auf das sittliche Handeln bezogen werden und zur Verwirklichung der Eudämonie beitragen. Künste und Wissenschaften seien nur dann nützlich, wenn sie die Seele, den animus, zur Tugend führten (vgl. Ep. 88. 20). Es mag bisweilen scheinen, als lehne Seneca die Fachbildung rigoros ab. Jedoch kann von einer Haltung, in der „wir schon die geistige Atmosphäre des Mittelalters verspüren", wie Dodds meint,100 nicht die Rede sein. Zu Recht weist Stückelberger darauf hin, daß man Seneca nicht als einen „Gegner der Bildung" bezeichnen könne. 10 ' Neben dem „Bewußtsein der Gefahrdung durch Wissenschaft, ja ihrer völligen Ablehnung" steht das außergewöhnliche Interesse an naturwissenschaftlichen Problemen, wie es besonders die Naturales quaestiones beweisen. 102 Stückelberger sieht hier allerdings Widersprüche, die sich „nicht logisch vereinigen" ließen, sondern

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Vgl. Kuhnert: Allgemeinbildung und Fachbildung in der Antike, S. 6. Erik Robertson Dodds: Mentalitätswandel von der griechischen Aufklärung zur Spätantike und zum Christentum. In: Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. von Jochen Schmidt. Darmstadt 1989, S. 93-128, hier S. 117f. Alfred Stückelberger: Senecas 88. Brief. Über Wert und Unwert der freien Künste. TextÜbersetzung-Kommentar. Heidelberg 1965, S. 76. Ebd., S. 79.

39 in der „Persönlichkeit Senecas selbst" lägen.103 Weil Seneca die Neugierde verteidigt (vgl. De otio, 5. 3), spricht Blumenberg ähnlich wie Stückelberger von „Inkonsistenzen" und Aporien in Senecas Wissensphilosophie. 104 Jedoch steht bei Seneca auch die Neugierde hinsichtlich physikalischer Phänomene immer im Dienst der Ethik, da sie der Gotteserkenntnis behilflich sein soll. Der „curiosus spectator" (Nat. quaest. Praef. 12) „fait eclater son etroite demeure physique et atteint ä la connaissance de Dieu." 105 Eine gleichmäßige und harmonische Lebensführung ist nur durch die rerum scientia und durch die einzige ars erlaubt, die nicht im Widerspruch zur Natur steht: die „ars per quam humana et divina noscantur" (Ep. 31.8). Die Kombination von Ethik und Physik ist durchaus mit den Aufforderungen zu vereinbaren, nicht zuviel wissen zu wollen. Seneca warnt aber vor der „cupiditas discendi" (Ep. 108. 1), die das eigentliche Ziel des Lernens, die Ausbildung der Sitten, der „mores", vergessen lasse (vgl. Ep. 88. 30).106 Das Ziel des Wissens ist aus Senecaischer Perspektive leicht zu bestimmen: Aus der pantheistisch verstandenen Allnatur soll das ewige Gute erkannt werden. Seine Erkenntnis ist untrennbar mit derjenigen des Naturgesetzes verbunden, das fur unsere Untersuchung von eminenter Wichtigkeit ist. Hierbei handelt es sich um ein Gesetz, das sich in der sichtbaren Ordnung der Natur manifestiert 107 und für alle Menschen gemeinsam ist: ό νόμος ό κοινός, die lex naturae. Dieses Naturgesetz bietet sittliche Orientierung. Diese zu erwerben, ist „die Beziehung des Menschen zur universalen Physis" Voraussetzung. 108 Seine ethischen Vorstellungen kann der Mensch nur bilden im Verhältnis zur unberührten Natur. Die Erkenntnis des

Ebd. Hans Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von „Die Legitimität der Neuzeit". Dritter Teil. Frankfurt am Main, 4. Aufl. 1988, S. 45. 105 Andre Labhardt: Curiositas. Notes sur l'histoire d'un mot et d'une notion. In: Museum Helveticum 17, 1960, S. 206-224, hier S. 212. Zu den Naturales Quaestiones und der Verbindung von Ethik und Physik vgl. auch Manfred Fuhrmann: Seneca und Kaiser Nero, S. 292-294. 106 Tatsächlich zeigt Senecas Wissensphilosophie Ähnlichkeiten zu derjenigen Rousseaus, die aber hier nicht tiefer verfolgt werden sollen. Auch Rousseau tadelt besonders in seinem ersten Discours das Übermaß an Wissenschaften und Künsten, das die Götter vertrieben habe (vgl. Jean-Jacques Rousseau: Discours sur les sciences et les arts. In: Ders.: (Euvres completes. Bd. 1—4. Edition publiee sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond. Paris 1959-1969, hier Bd. 3, S. 1-33, hier S. 26f.). Mir scheint allerdings Seneca einen gemäßigteren und differenzierteren Standpunkt einzunehmen. Der Verwandtschaft zwischen Seneca und Rousseau nachzugehen wäre eine eigene Untersuchung wert. Vgl. etwa die Überlegungen von Maximilian Forschner: Über natürliche Neigungen. Die Stoa als Inspirationsquelle der Aufklärung. In: Die Trennung von Natur und Geist. Hrsg. von Rüdiger Bubner, Burkhard Gladigow und Walter Haug. München 1990, S. 93-117, hier S. 107-109. 107 Vgl. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System. Stuttgart 1981, S. 39f. 104

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Ebd., S. 40.

40 Naturgesetzes bedeutet gleichzeitig die Wahrnehmung der inneren Stimme oder des sokratischen Daimonion. Seneca nennt es die das Selbst beobachtende und behütende Instanz, die immer im Menschen anwesend ist, den „observator et custos" (Ep. 41. 2). Es ist davon auszugehen, daß mit dieser inneren Instanz die conscientia gemeint ist, das Gewissen, auch wenn dieser Terminus in diesem Brief nicht verwendet wird.109 Folgt der Wahrnehmung des Gewissens, d. h. des Naturgesetzes, seine Aktualisierung im Handeln, bedeutet dies ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur (vgl. Ep. 41. 8). Weisheit, sapientia, bedeutet, von der Natur nicht abzuirren und sich nach ihrem Beispiel zu bilden, da man aus ihr das ewige und göttliche Gesetz erfahren kann: „[...] ab illa non deerrare et ad illius legem exemplumque formari sapientia est" {De vita beata, 3.3). Die Natur soll als „Führerin" und Ratgeberin das eigene vernünftige Leben leiten. Ein so geführtes Leben ist ein glückliches Leben in Eudaimonie. „Natura enim duce utendum est; hanc ratio observat, hanc consulit. Idem est ergo beate vivere et secundum naturam" (De vita beata, 8. lf.). Das Leben gemäß dem Naturgesetz bedeutet gerade deshalb ein glückliches und sittlich verantwortungsvolles Leben, weil es nicht in privater Abgeschiedenheit, sondern überall und auch innerhalb der Gesellschaft zu aktualisieren ist. Das stoische Naturgesetz ist der „Kontingenz menschlicher Institute" entrückt. 110 Da die Ordnung der Gesellschaft im Idealfall ein Ausfluß der teleologisch verstandenen Natur ist, kollidieren ihre Ansprüche nicht mit denjenigen des einzelnen. Sowohl die Bildung des Individuums als auch die Institutionen des Staates gründen auf demselben Naturgesetz, und der einzelne gelangt erst durch seine Partizipation an der Gesellschaft zur Vollendung seiner Natur. Die eindringlichste Definition der lex naturae findet sich in der Antike in Ciceros Schrift De re publica mit dem Hinweis auf ihre Relevanz auch und gerade in der politischen Praxis. Von diesem Gesetz, das mit der Natur übereinstimmt, ewig ist und für alle Völker und überall gilt, kann der Mensch durch keine Beschlüsse gesellschaftlicher Institutionen und Gruppen, die nicht mit der recta ratio des natürlichen Gesetzes übereinstimmen,

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Ich folge hier der aktuellen Forschung zum .Gewissen'. Vgl. etwa Hans-Josef Klauck: „Der Gott in dir" (Ep. 41. 1). Autonomie des Gewissens bei Seneca und Paulus. In: Ders.: Alte Welt und neuer Glaube: Beiträge zur Religionsgeschichte, Forschungsgeschichte und Theologie des Neuen Testaments. Göttingen 1994 (Novum testamentum et orbis antiquus 29), S. 11-31, hier S. 26. Vgl. auch Heinz D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt am Main 1995, S. 20f. Die antike Philosophie trennt das Gewissen nicht vom Selbstbewußtsein. Conscientia bedeutet Mitwissen und Übereinstimmung mit sich selbst. Vgl. Ilsetraut Hadot: Seneca und die griechisch-römische Tradition der Seelenleitung. Berlin 1969, S. 66-71. Vgl. Stefan Hübsch: Philosophie und Gewissen: Beiträge zur Rehabilitierung des philosophischen Gewissensbegriffs. Göttingen 1995 (Neue Studien zur Philosophie 10), S. 234. Forschner: Über das Handeln im Einklang mit der Natur, S. 6.

41 entbunden werden (vgl. Rep. 3. 22).111 Da Gott der Erfinder dieses Gesetzes ist und die menschliche Seele Anteil am Weltlogos hat, entfernt sich der Mensch, der dem natürlichen Gesetz nicht gehorcht, von sich selbst und verachtet auch seine eigene Natur. Dafür erleidet er schwere Strafen: „[...] cui qui non parebit, ipse se fugiet, ac naturam hominis aspernatus hoc ipso luet maximas poenas [...]" (Rep. 3. 22). Seneca sieht dann in den Künsten und Wissenschaften eine Gefahr, wenn sie die Erkenntnis der ersten Natur irritieren bzw. die Aktualisierung des Naturgesetzes, sowohl privat als auch öffentlich, beeinträchtigen, wenn sie den Blick auf dieses Gesetz durch vieles oder unnötiges Wissen verstellen. Es ist dasselbe ungeschriebene Gesetz, auf das sich Antigone beruft und das sich in der Paulinischen Formel vom in die Herzen der Menschen eingeschriebenen Gesetz wiederfindet (vgl. Rom. 2. 14f.).112 Nicht nur für Christen, auch für Heiden bleibt bei Paulus dieses Gesetz, bzw. das Gewissen, das „in sich die moralisch-sittliche Weisung" enthält, die „anthropologische Konstante".113 Ein Leben gemäß der Natur bedeutete also aus christlicher Perspektive eines gemäß dem Dekalog, der christlichen Formulierung der Gewissensansprüche. Seine Aktualisierung setzt eine Wissensordnung voraus, die der sapientia, dem Wissen um das Ewige und Gute, der Gotteserkenntnis, einen Vorrang vor den Künsten und den Einzelwissenschaften einräumt bzw. letzteren eine der Gotteserkenntnis dienende Funktion zuweist. Wie schreibt sich nun Senecas Wissensphilosophie in Gryphius' Reyen ein?

b) Umkehrung der Senecaischen Wissens Ordnung: Vorherrschaft der Naturwissenschaften und Transformation stoisch-christlichen ins neue Naturrecht

des

Um die Frage zu beantworten, wie sich Senecas Wissensphilosophie in den ersten Reyen einschreibt, muß man zwei Ebenen unterscheiden. Zum einen muß untersucht werden, auf welche zeitgenössischen wissenschaftlichen Entwicklungen und Innovationen der Reyen reflektiert (I). Zum anderen soll die ihm inhärente Wissensordnung vor dem Hintergrund der Senecaischen Wissensphilosophie genauer betrachtet werden (II). (I) Die senecaische Wissenskritik im Drama ist vor dem Hintergrund jener zeitgenössischen Wissenschaftsentwicklung zu ermitteln, die der Reyen

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Zitiert wird nach: Marcus Tullius Cicero: De re publica librorum sex quae supersunt septimum recognovit Konrat Ziegler. Leipzig 1969 (M. Tulli Ciceronis scripta quae manserunt omnia. Fase. 39). Ein apokrypher Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus entstand ungefähr im 4. Jahrhundert; vgl. die Testimoniensammlung von Trillitzsch: Seneca im literarischen Urteil der Antike. Bd. 2: Quellensammlung, S. 3 7 9 - 3 8 4 und die Erläuterungen in Bd. 1, S. 1 7 0 - 1 8 5 . Klauck: „Der Gott in dir" (Ep. 4 1 . 1 ) , S. 27.

42 vor allem durch die Vorherrschaft der Natur- und der praktischen mechanischen Wissenschaften dokumentiert; ein neues Wissenschaftsverständnis, das Grimm als „Realismusbewegung" bezeichnet, 114 bahnt sich an. Für die Frühe Neuzeit ist der Terminus „wissenschaftliche Revolution" jüngst in Frage gestellt worden, weil man von der Idee Abstand nehmen müsse, „daß es ein einzelnes, isolierbares, in Raum und Zeit lokalisierbares Ereignis gegeben hat, das man ,die' wissenschaftliche Revolution nennen könnte". 115 Es bleibe dahingestellt, ob sich in der Wissenschaftsgeschichte ein Paradigmenwechsel oder ein kontinuierlicher oder evolutionärer Prozeß vollzogen hat.116 In jedem Fall ist davon auszugehen, daß der gesamte Bereich der empirisch erfahrbaren Natur zunehmend an Interesse gewann und neu, entsprechend der mathesis universalis, geordnet werden sollte. Michael Foucault spricht von der „entree [...] de la nature dans l'ordre scientifique". 117 Indem der Reyen nach der Architektur und dem Schiffsbau die Naturwissenschaften vor Jurisprudenz, Theologie und Rechtswissenschaft stellt, dokumentiert er ihre Absonderung von der Artistenfakultät als eigene Disziplinen seit dem 16. Jahrhundert und ihre feste Etablierung an den Universitäten im 17. Jahrhundert. 118 Die Daten sind bekannt und könnten beliebig erweitert werden: Galilei baut das erste Thermoskop, entwirft die erste Pendeluhr und benutzt aus Holland kommende Linsen zur Perfektionierung seines Fernrohres, um die Theorie des Kopernikus weiterzufuhren. Zeitgleich arbeitet Kepler an der Konstruktion neuer Fernrohre. Diese Erfindungen kommen der Astronomie und der Navigation zugute. Karten können erstellt und neue Seewege erschlossen werden, wodurch sich die Bedingungen für den Handel verbessern. Galilei nimmt mit Hilfe des Mikroskops außerdem erste anatomische Untersuchungen an Insekten vor. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts werden sie besonders durch Robert Hooke weitergeführt. Im Bereich der Medizin entdeckt William Harvey den großen Blutkreislauf und veröffentlicht 1628 seine Schrift Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis, wobei er auf Ergebnisse zurückgreifen kann, die Andreas Vesal durch anatomische Untersuchungen in seinem Werk De humani corporis fabrica 1543 festgehalten hat.

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Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. S. 232. Steven Shapin: Die wissenschaftliche Revolution. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. Frankfurt am Main 1998, S. 11. 116 Vgl. dazu Wolfgang Neuser: Natur und Begriff. Zur Theoriekonstitution und Begriffsgeschichte von Newton bis Hegel. Stuttgart, Weimar 1995, S. 9-16. 117 Michel Foucault: Les mots et les choses. Une archeologie des sciences humaines. Paris 1966, S. 68. " 8 Vgl. ebd., S. 67. 115

43 Während gegen die praxisferne scholastische Gelehrsamkeit polemisiert wird, gewinnt das Ideal einer praxisorientierten Polymathie an Einfluß.119 Die Institutionalisierung des Wissens in wissenschaftlichen Gesellschaften fördert dieses Ideal. Von Italien ausgehend, werden in ganz Europa außerhalb der traditionellen Universitäten Akademien gegründet, die sich der Nuova Scienza Bacons und Descartes' verpflichtet fühlen.120 In Konkurrenz zu der alten Universität begründen sie eine neue Wissensform, die dem Praxispostulat verpflichtet ist, und legen die Betonung auf die Nützlichkeit der Ergebnisse.121 Eine der wichtigsten ist die Accademia dei Lincei, die 1603 in Rom eingerichtet wird. In Rostock ruft im Jahre 1622 der Naturwissenschaftler Joachim Jungius mit der Societas Ereunetica die erste deutsche Akademie ins Leben. Die berühmteste dieser Gesellschaften ist die erst 1660 entstandene englische Royal Society.122 Die Akkumulation und äußere Organisation eines im Grunde grenzenlos anzusammelnden Wissensstoffes impliziert einen neuen Typus von Wissenschaftler, dem es um nützliches Wissen geht, das neue Künste und Erfindungen ermöglicht. Dieser Wissensbegriff bedroht das ganzheitliche Bildungsideal der Humanisten.123 Die „stoizistische Wissenschaftskritik" und die Polemik gegen die Polymathie in den späten Humanistenkreisen hat Kühlmann nachgewiesen.124 Die Rezeption der spezifisch Senecaischen Kulturkritik findet sich nun im Reyen vor allem in der Wissensordnung, der Unterordnung von Jurisprudenz, Theologie und Geschichte unter die Naturwissenschaften. Die Stellung der Theologie verdient besondere Beachtung. (II) Die Stellung der Theologie, umschrieben mit den Worten „was Gott der weit lies von sich selbst vertrawn" (Leo Arm. I. 519), am relativen Ende 119

G r i m m : Literatur und G e l e h r t e n t u m in Deutschland, S. 223; vgl. K ü h l m a n n : Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 341. 120 Vgl. etwa Joachim Fleckenstein: N a t u r w i s s e n s c h a f t und Politik. Von Galilei bis Einstein. M ü n c h e n 1965, S. 77. 121 Vgl. Peter J. Brenner: Geist und Wirklichkeit. In: Die Geisteswissenschaften im S p a n nungsfeld zwischen M o d e r n e und Postmoderne. Wien 1998, S. 1 6 7 - 1 8 3 , hier S. 168. 122 Z u den wissenschaftlichen Gesellschaften vgl. auch M a s o n . Geschichte der Naturwissenschaft, S. 3 0 6 - 3 2 0 . 123 H a n s B l u m e n b e r g (Der k o p e m i k a n i s c h e U m s t u r z und die Weltstellung des M e n s c h e n . Eine Studie z u m Z u s a m m e n h a n g von N a t u r w i s s e n s c h a f t und Geistesgeschichte. In: Stud i u m generale 8, H e f t 19, 1955, S. 6 3 7 - 6 4 9 ) berichtet von der W e i g e r u n g des Humanisten C e s a r e Cremoni, durch das neue Fernrohr Galileis zu blicken, u m der „Endlosigkeit a u f b r e c h e n d e r P r o b l e m e " zu entgehen (S. 637). Z u m Selbstverständnis der späthumanistischen Gelehrtenschicht vgl. etwa Erich Trunz: Der deutsche S p ä t h u m a n i s m u s u m 1600 als Standeskultur. In: D e u t s c h e B a r o c k f o r s c h u n g , S. 1 4 7 - 1 7 3 , hier S. 1 5 0 - 1 5 2 ; vgl. auch Barner: Barockrhetorik, S. 2 3 2 - 2 3 6 . Im Sinne eines humanistischen Bildungsideals unterscheidet M a x Scheler (Die F o r m e n des Wissens und die Bildung. Bonn 1925) von der P o l y m a t h i e das „ B i l d u n g s w i s s e n " , das „ i m E r w e r b von S c h e m a t a f ü r A n s c h a u u n g , A u f f a s sung, Denken, Bewerten von W e l t " bestehe, das nicht nur „ u m des Wissens willen" erworben w e r d e (S. 37). 124

K ü h l m a n n : Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 335. Vgl. auch den V e r w e i s auf Senecas 88. Brief ebd., S. 335, A n m . 60.

44 der Aufzählung erklärt Barner mit dem Umstand, daß sie sich Gryphius als eine „schlechte ,Königin' der Wissenschaften darstellen" mußte, da er sie vor allem „in der Form der protestantischen Orthodoxie" kennengelernt habe. Als solche habe sie sich „weitgehend in der Erörterung spitzfindiger Streitfragen" erschöpft 125 und in Gryphius' Bildungsweg keine große Rolle gespielt.126 Hingegen bestreitet Schäublin, daß mit der Umschreibung „was Gott der weit lies von sich selbst vertrawn" die Theologie gemeint sei. Der Vers beziehe sich auf die „göttliche Offenbarung", während sich die Theologie in dem Zank wiederfinde, „der Kirch' und Seelen eingenommen" (I. 535).127 Die göttliche Offenbarung allerdings werde nicht abgewertet, sondern bilde, im Reyen flankiert vom Recht und der Historie, den „Horizont des Rechts in der Geschichte". Diese „Trias" beinhalte die „Grundpfeiler von Gryphius' Trauerspielen". 128 Meines Erachtens handelt es sich bei dem diskutierten Vers (I. 519) weniger um eine für Gryphius irrelevante Form der Theologie, sondern eher, wie Schäublin meint, um die Botschaft Gottes bzw. um die Gotteserkenntnis schlechthin. Allerdings bleibt Schäublins Argumentation zwei Antworten schuldig: Wie ist die Unterordnung der Gotteserkenntnis unter das Recht zu erklären, und warum folgen die drei Bereiche Recht, Gotteserkenntnis und Geschichte den Naturwissenschaften nach? Diesem Problem kann Schäublin schwerlich überzeugend mit dem Hinweis aus dem Weg gehen, daß sich aus der „Ordnung" der Wissensgebiete kaum „Präferenzen des Dichters für bestimmte Wissenschaftsbereiche" ablesen ließen.129 Wie ist die Mittelstellung der Gotteserkenntnis zwischen Recht und Geschichte und schließlich die Unterordnung dieser drei Fächer unter die Naturwissenschaften erklärbar? Diese Frage zu beantworten, kann zunächst das erste Stasimon der Antigone weiterhelfen. Blicken wir zurück, so fallt auf, daß dort ebenfalls zunächst die Wissenschaften und Künste genannt werden, die sich mit Hilfe von Instrumenten die Natur unterwerfen, schließlich die Staatskunst (Ant. 354f.) und erst gegen Ende das vom König erlassene, gesetzte Recht (382). Diesem setzt Antigone wenig später in ihrer Verteidigung das ungeschriebene Gesetz entgegen (vgl. 450-457). 130 Im Gryphschen Reyen haben wir es mit einer ähnlichen Ordnung zu tun. Das ,Königsgesetz' (382), gegen das Antigone verstoßen hat, bzw. die

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Barner: Gryphius und die Macht der Rede, S. 341. Vgl. ebd. Peter Schäublin: Andreas Gryphius' erstes Trauerspiel „Leo Armenius" und die Bibel. In: Daphnis 3, 1974, S. 1-40, hier S. 5. Ebd. Ebd. Vgl. oben, S. 40.

45 Satzung Kreons, den griechischen Nomos, übernimmt hier das deutlich ausgezeichnete „gesetzte Recht" {Leo Arm. 1.518). Im Unterschied zu diesem gesetzten Recht evoziert Michael kurz vorher das „grosse Recht" (I. 498), welches sich aber im Kanon der Wissenschaften nicht wiederfindet. Es korrespondiert mit Michaels Hinweis auf die „Liebe" und die „Natur" (II. 377), mit dem er zunächst die Erlaubnis erwirken will, an seine Kinder schreiben zu dürfen. Michael fuhrt, ähnlich wie Antigone, das ungeschriebene ewige Gesetz gegen die vom Menschen konstruierte Rechtsordnung an, gegen das ,allzuharte Recht' (II. 353). Er beruft sich auf das stoisch-christliche, in die Herzen der Menschen eingeschriebene Gesetz, auf Senecas observator et custos.m Dieses Gesetz ist durch die Erkenntnis Gottes zu verwirklichen, die aber, umschrieben als „was Gott der weit lies von sich selbst vertrawen" (I. 519), eine der Satzung untergeordnete Position einnimmt. Als Verbindungsglied zwischen dem ersten Reyen und der Figur des Michael sehe ich den Rechtsgedanken und weniger, wie Steinhagen, das kluge dissimulatorische Sprechen. „Verstellung auf der einen, unverstelltes Sprechen auf der anderen Seite" seien die allgemeinen Bezugspunkte „für den ersten Reyen".132 Durch sprachliche „Manipulation" und Schein versuche Michael der Anklage zu entgehen.133 Natürlich handelt es sich bei Michaels Verteidigungsrede um ein rhetorisches Kunststück, mit dem er sein Leben retten will. Wahrscheinlich sogar ist Szarotas These, daß Michael nicht wirklich „ideelle Motive" zugestanden werden könnten.134 Mag er auch, wie Solbach in aller Schärfe feststellt, „ein machiavellistischer Politicus" sein, „rhetorisch versiert, historisch gebildet und von machtbesessener Entscheidungsgewalt",135 so bemüht er doch einen Rechtsgedanken, dem außerordentliche Kraft innewohnt und der jene Entwicklung auf den Prüfstand stellt, die der Reyen andeutet: die Herausbildung des modernen Naturrechts, das er als das ,allzuharte Recht' (vgl. II. 353) erfahrt. Wie schreibt sich die Transformation der alten traditionellen christlich-stoischen lex naturae ins neue Naturrecht in den Reyen ein? Strukturell findet sich in der Wissensordnung des Reyen jenes dialektische Dependenzverhältnis zwischen der zeitgenössischen Rechtstheorie und der naturwissenschaftlichen Methode, aus der das konstruierte oder sekundäre Naturrecht resultiert.136 Dieses bezeichnet der Reyen als „das gesetzte 131 132

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Vgl. oben, S. 43. Steinhagen. Wirklichkeit und Handeln, S. 105. Vgl. Blake Lee Spahr: Andreas Gryphius: Α Modern Perspective. Columbia 1993 (Studies in German Litterature, Linguistics, and Culture; unnumbered), S. 73. Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln, S. 107. Szarota: Geschichte, Politik und Gesellschaft im Drama des 17. Jahrhunderts, S. 64. Solbach: Politische Theologie und Rhetorik in Andreas Gryphius' Trauerspiel Leo Armenius, S.413. Vgl. Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte. Stuttgart 1953, S. 158.

46 Recht" (I. 518), das in der Geschichte wirke. Die Gotteserkenntnis nimmt dabei eine dem konstruierten Naturrecht dienende Position ein, weil die Lutherische Gnadenlehre ihre weltliche Wirksamkeit bestreitet. Die Vernunft konstruiert als „werckzeug" (I. 521) ein System, in dem der Glaube lediglich die Funktion besitzt, eine formale Hierarchie zu stützen und den Satzungen des weltlichen Regiments Gehorsam zu leisten. Produkt der konstruktiven Vernunft ist das sekundäre Naturrecht, das im Widerspruch zum traditionell stoisch-christlichen Naturrecht steht, das Michael einfordert. Zu diskutieren ist im folgenden, wie die Dialektik von Rechts- und Naturwissenschaft zu denken ist und wie die Profanisierung des Naturrechts von Luther, Grotius und Hobbes ihre entscheidenden Impulse erhalten hat. Zunächst sei der neue Naturbegriff geklärt, der dieser Entwicklung zugrunde liegt (I), sodann versucht, Grundzüge des neuen Naturrechts bei Luther, Grotius und Hobbes nachzuzeichnen (II). (I) Eine tragende Rolle bei der Transformation des alten ins neue Naturrecht spielen in der Frühen Neuzeit die neuen Naturwissenschaften. In Gryphius' Reyen spiegelt nun die Überordnung der Naturwissenschaften über Recht und Gotteserkenntnis das Faktum, daß sie der Etablierung des neuen Naturrechts forderlich sind, indem sie den teleologischen Naturbegriff durch den mechanistischen ersetzen 137 und die Rechtstheorie ihr Verfahren der Berechnung übernimmt. Sicherlich mögen viele, auch realgeschichtliche, Faktoren diesen Prozeß begünstigt 138 und die Vorstellung einer grundsätzlich atrokischen, dem Menschen feindlich gesinnten Natur, die es zu bezwingen gelte, unterstützt haben. Abel vermutet, daß der mechanistische Naturbegriff ein Resultat von politischen Ordnungsbedürfnissen gewesen sei, die einen Druck auf die Naturwissenschaften ausgeübt hätten.' 39 In jedem Fall legen sowohl Natur- als auch Rechtswissenschaften fortan eine konstruierte Natur zugrunde: „Natur ist nicht mehr der Gegenstand einer Naturphilosophie als Metaphysik, sondern als NaturWissenschaft. Sie ist nicht mehr An-sich-Seiendes, sondern methodologisches Konstrukt, also selbst Artefakt." 140 Infolgedessen kann auch das Naturrecht nicht mehr in seiner traditionellen Form als ewiges, unveränderliches, an sich seiendes Gesetz bestehen, sondern wird ebenfalls zu einem Konstrukt. Das neue Naturrecht entwickelt

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Vgl. Ludger Honnefelder: Natur-Verhältnisse. Natur als Gegenstand der Wissenschaften. Eine Einfuhrung. In: Natur als Gegenstand der Wissenschaften. Hrsg. von Ludger Honnefelder. Freiburg, München 1992, S. 9-26, hier S. 18. Vgl. etwa Descartes: Discours de la methode. CEuvres. Bd. 6, S. 54-56. Vgl. auch Karen Gloy: Das Verständnis der Natur. Bd. 1: Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens. München 1995, S. 162-172. Zu den Kriegen und der Pest traten atrokische klimatische Bedingungen, so etwa die ,Kleine Eiszeit'. Vgl. dazu Paul Münch: Lebensformen in der Frühen Neuzeit. 1500 bis 1800. Frankfurt am Main 1996, S. 138-147. Abel: Stoizismus und Frühe Neuzeit, S. 18. Honnefelder: Natur-Verhältnisse, S. 19.

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sich dialektisch zwischen den neuen Naturwissenschaften und den Rechtsbzw. Staatstheorien. Es gründet auf der Idee, daß die natürlichen Rechtsverhältnisse des Menschen durch Berechnung zu konstruieren seien, denn auch die Natur des Menschen fallt fortan unter die mechanistische Betrachtungsweise. Dies impliziert eine Aussonderung des Gewissens, Grundlage des stoisch-christlichen Naturrechts, aus dem Recht. Von Luther über Grotius bis zu Hobbes läßt sich diese Entwicklung beobachten. (II) Das Gewissen ist seit Luthers Anthropologie nicht mehr die Grundlage des Rechts. Luther geht von einer „zweyerley natur" des Menschen aus, einer geistlichen und einer leiblichen, bzw. einer innerlichen und einer äußerlichen. 141 Der innerliche Mensch ist durch kein weltliches Gesetz greifbar und durch seinen Glauben frei, der „eußerlich mensch" 142 muß durch das weltliche Gesetz und das Schwert „eußerlich [...] zum frid und zum gutten" gezwungen werden. 143 Den „eußerlich mensch" nennt Luther auch den „natur mensch". 144 Aufgrund der Erbsünde ist der Naturmensch nicht mehr fähig, sein lumen naturale zu verwenden, er muß zum Gehorsam gezwungen werden. Wenn die Menschen durch das Evangelium regiert würden, so zerrissen sie sich gegenseitig wie die wilden Tiere.145 Die Norm des ungeschriebenen Gesetzes, mit dem sich Antigone verteidigt, des stoisch-paulinischen in die Herzen der Menschen eingeschriebenen Gesetzes, auf das sich Michael beruft, ist zwar von Gott verliehen, aber seine Kraft „verdunkelt". 146 Luthers Zwei-Reiche-Lehre stellt das stoisch-christliche Naturrecht radi kal in Frage, das bis zu Thomas von Aquin noch Gültigkeit beanspruchte. Die Thomistische Anthropologie ging wie diejenige der Stoa davon aus, daß der Mensch von Natur aus das Gute und Vernünftige erstrebt und erkennend und handelnd aktualisieren kann.147 Luthers Anthropologie lehnt den Gedanken „der natürlichen, im Menschen selbst angelegten und wirksamen Religiosität" ab. Sie bestreitet die Möglichkeit einer natürlichen Erkenntnis Gottes, die auch eine „naturhafte, nicht erst von der Offenbarungsgnade erleuchtete Vernunft zu gewinnen vermag, weshalb auch ein Wissen vom göttlichen Wesen des Rechts dem Menschen philosophisch zugänglich s e j "MS D a s christlich-stoische Naturrecht oder der Dekalog ist seit Luther 141

Martin Luther: Von der Freyheyt eynisz Christen menschen. In: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Abt. 1-4. Weimar 1883-1968 (Nachdruck, außer rev. Nachträge, Graz 1964-72), hier Abt. l . B d . 7. Weimar 1987 (Nachdruck Graz 1966), S. 20-38, hier S. 21. 142 Ebd. 143 Ders.: Von weltlicher Uberkeytt. In: Ders.: Werke. Bd. 11. Weimar 1900 (Nachdruck Graz 1966), S. 245-281, hier S. 252. 144 Ebd., S. 274. 145 Ebd., S. 251. 146 Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 172. 147 Vgl. Forschner: Über das Handeln im Einklang mit der Natur, S. 25. 148 Erik Wolf: Das Problem der Naturrechtslehre. Versuch einer Orientierung. Karlsruhe 1955, S. 42.

48 „innerhalb der Christenheit keine Selbstverständlichkeit" mehr, sondern wird in seiner philosophischen und anthropologischen Ausrichtung in Zweifel gezogen.149 Hier beginnt die Doppelung des Naturrechts in eine lex divina, die auf der Welt nicht wirksam sei, und ein „weltliches Naturrecht", so daß schließlich letzteres mit dem positiven Recht gleichbedeutend wird.150 ,Das' Naturrecht droht als konstruiertes Recht seine korrektive Funktion zu verlieren, die das ungeschriebene Gesetz der Antigone, das Paulinische der Bibel und das stoisch-christliche im Leo Armenius besitzt.151 Im Reyen erklärt sich die Unterordnung der Gotteserkenntnis unter das Recht aus der Tatsache, daß sie für die menschlichen Satzungen nicht mehr die Grundlage bilden kann. Der Glaube besitzt nur noch die Funktion, die Hierarchie des Staates zu stützen. Glauben bedeutet so nicht in erster Linie, Gott zu erkennen und gemäß dem Dekalog zu handeln, sondern den Satzungen des Staates, dem weltlichen Regiment, Gehorsam zu leisten. Von innen ausgehöhlt dient er fortan dem sekundären Naturrecht. Dieses beginnt jetzt zu wirken, „nachdem der Mensch schlecht geworden ist".152 Auch Machiavellis II principe macht diese Konstruktion der menschlichen Natur zur Grundannahme, auf der die Theorie des staatsklugen Handelns aufbaut.153 Sie bildet fortan das legitimierende Fundament fur die neue Naturrechtslehre. Während die „Quellen des modernen Naturrechtsdenkens im politischen Denken der Reformatoren zu suchen" sind,154 ist nach Luther Hugo Grotius

Ders.: Naturrecht und Gerechtigkeit. In: Naturrecht oder Rechtspositivismus. Hrsg. von Werner Maihofer. Darmstadt 1962, S. 5 2 - 7 2 , hier S. 66. 150 Wolf: Das Problem der Naturrechtslehre, S. 41. Vgl. auch Art. ,Naturrecht'. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bisher Bd. 1 - 1 0 . Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Darmstadt 1 9 7 1 - 1 9 9 8 , hier Bd. 6, Sp. 5 6 0 - 6 2 3 , hier Sp. 582. 151 Die korrektive Funktion des Naturrechts als des ungeschriebenen Gesetzes über das Christentum hinaus hebt Max Weber hervor (Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1922). Er bezeichnet das Naturrecht als „Inbegriff der unabhängig von allem positiven Recht und ihm gegenüber präeminent geltenden Normen, welche ihre Dignität nicht von willkürlicher Satzung zu Lehen tragen, sondern umgekehrt deren Verpflichtungsgewalt erst legitimieren [...]: die spezifische und einzig konsequente Form der Legitimität eines Rechts, welche übrig bleiben kann, wenn religiöse Offenbarungen und autoritäre Heiligkeit der Tradition und ihrer Träger fortfallen. [...] Berufung auf Naturrecht ist immer wieder die Form gewesen, in welche Klassen, die sich gegen die bestehende Ordnung auflehnten, ihrem Verlangen nach Rechtsschöpfung Legitimität verliehen, sofern sie sich nicht auf positive religiöse Normen und Offenbarungen stützten" (S. 496). 149

Strauss: Naturrecht und Geschichte, S. 158. 153 Vgl. Niccolö Machiavelli: II Principe. Der Fürst. Italienisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Philipp Rippel. Stuttgart 1997, S. 128. 1 5 4 Martin Kriele: Das Naturrecht der Neuzeit. In: Naturrecht und Politik. Hrsg. von Karl Graf Ballestrem. Berlin 1993 (Philosophische Schriften 8), S. 9 - 2 3 , hier S. 10. Richard van Dülmen (Reformation als Revolution. Soziale Bewegung und religiöser Radikalismus in der deutschen Reformation. München 1977) macht zu Recht darauf aufmerksam, daß der Begriff,Reformation' in Hinsicht auf Luthers Lehre etwas irreführend sei. Luther habe den 152

49 einer der ersten Denker, die das profane, konstruierte Naturrecht auf den Weg bringen. Seine genaue Stellung innerhalb der Naturrechtsdebatte ist allerdings schwer zu bestimmen. Die Unterscheidung zwischen Naturrecht und Völkerrecht, die er in seinem Hauptwerk De iure belli ac pads von 1625 vornimmt, ist nur ein Hinweis auf die Übergangsstellung, die er im Rechtsdenken seiner Zeit eingenommen hat und die hier nur angedeutet werden kann. Laut Erik Wolfs differenzierter Untersuchung soll Grotius zwischen traditionellem und modernem Denken eine „Synthese" versucht haben.'55 So nimmt Grotius zwei Rechtsquellen an. Für die intime Gemeinschaft macht er das traditionelle Naturrecht geltend und verweist sogar auf die stoische Anthropologie, wohingegen er betont, daß auf politischer Ebene das Völkerrecht aufgrund von Übereinkommen und nach Maßgabe der utilitas konstruiert werde.156 Hier zeigt sich weniger eine gelungene Synthese als vielmehr Grotius' Zwitterstellung. Einerseits kann er zwar als ein Wegbereiter der Vorstellung einer natürlichen Religion gelten, andererseits ist er einer der ersten Konstrukteure des Rechts auf der Grundlage geometrischer Methode: Wie die Mathematiker ihre Figuren behandele er die Rechtsfragen mit dem Mittel der Abstraktion.157 Insofern begründet Grotius das „nichttheologische Naturrecht als Wissenschaft".158 Einen weiteren Schritt auf dem Wege zur Konstruktion des neuen Naturrechts tut Hobbes. Er fordert fur die Moralphilosophen dieselbe Vorgehensweise wie in der Geometrie, da so am ehesten der Frieden unter den

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Begriff niemals selbst angewandt, er habe auch nicht dem Selbstverständnis seines Wirkens entsprochen (vgl. S. 30). Es sei ihm j a nicht um eine aktive „Veränderung der Welt oder der Kirchenzustände" gegangen, sondern um die „passive Verkündigung des göttlichen Wortes" (ebd., S. 31). Die weltliche Ordnung sollte mit diesem Wort aufrechterhalten werden, das letztlich einem „politischen und sozialen Konservatismus" diente (ebd., S. 27). Erik Wolf: Hugo Grotius. In: Ders: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte. Tübingen, 4., durchgearbeitete und ergänzte Aufl. 1963; S. 252-310, hier S. 259. Ebd.; zu diesem und noch anderen Widersprüchen in Grotius' Werk vgl. Karl-Heinz Ilting: Naturrecht und Sittlichkeit. Begriffsgeschichtliche Studien. Stuttgart 1983, S. 74f. Pauline C. Westermann (The Disintegration of Natural Law Theory. Aquinas to Finis. Leiden, New York, Köln 1998) problematisiert besonders die beiden unterschiedlichen Quellen, auf die Grotius zum einen die Bewahrung der Harmonie und Zuneigung innerhalb der Gemeinschaft zurückfuhrt, zum anderen das Recht der Gesellschaft. Erstere Quelle ist Gott, die andere beruht auf einem Konsensus: „Why is it necessary to introduce ,common consent' as an extra source for those laws that prescribe social behaviour? Apparently, Grotius hesitates to link these social obligations directly to God, otherwise he would not have established ,the will of all' as an extra source for laws regulating human relations" (S. 134). Hugo Grotius: Prolegomena: De iure belli ac pacis. Libri tres, in quibus ius naturae et gentium, item iuris publici praecipua explicantur cum annotatis auctoris ed. P. C. Molhuysen. Praefatus est C. van Vollenhoven. Leiden 1919, S. 19. Deupmann gen. Frohues: Philosophie und Jurisprudenz, S. 108. Zur Wirkung von Grotius' Hauptwerk vgl. Hasso Hoffmann: Hugo Grotius. In: Staatsdenker der frühen Neuzeit. Hrsg. von Michael Stolleis. München, 3., um 15 Abbildungen erweiterte Aufl. 1995, S. 5 2 77, hierS. 60-65.

50 Menschen gewährleistet werden könne. Die Geometrie ist ein Segen für die Menschheit, der Weg zur Zivilisation: Quicquid enim humanae vitae auxilii contingit a siderum observatione, a terrarum descriptione, a temporum notatione, a longinquis navigationibus; quicquid in aedificiis pulchrum, in propugnaculis validum, in raachinis mirabile est; quicquid denique hodiernum tempus a prisca barabarie distinguit, totum fere beneficium est geometriae. Nam quod physicae debemus, id debet physica eidem geometriae. Si philosophi morales munere suo pari felicitate functi essent, non video ad felicitatem suam in hac vita quid amplius contribuere humana industria posset. 159

Hobbes zweifelt nicht daran, daß mit ebensolcher Sicherheit im Bereich des menschlichen Lebens Rechtsverhältnisse ermittelt und geschaffen werden können wie unter den geometrischen Figuren.160 Wie im weltlichen Regiment Luthers kann es sich in Hobbes' künstlich errichtetem Leviathan nur um einen äußeren Frieden handeln. Verträge sollen die Übereinkunft unter den Menschen schaffen, die der Stoa zufolge von Natur aus vorhanden ist. Im Leviathan heißt es: „[...] consensio autem hominum a pactis est, et artificiale."161 Das Denken, das diesem künstlerischen Werk zugrunde liegt, ist dasselbe, das in der Geometrie und der Arithmetik angewendet wird. Auch bei der Konstruktion von Gesetzen und Verträgen handelt es sich um nichts anderes als Rechnen, Addieren und Subtrahieren, nach Hobbes die Grundeigenschaften des Denkens.162 In konsequenter Fortsetzung der Lutherischen Staatsauffassung wird das Gewissen als etwas Unbestimmtes und Nebulöses entwertet, um noch mehr äußere Sicherheit garantieren zu können. Hobbes läßt nur den ,Staat' als öffentliches Gewissen zu, da sich oft bloße Meinungen als ,Gewissen' ausgeben: „Conscientia enim, et judicium hominis, eadem res est, et erroribus obnoxia."163 Die Instanz des Gewissens hat ihre Funktion unter der Dominanz des Selbsterhaltungsgedankens längst eingebüßt. Das Gewissen ist nur in foro interno, nicht in foro externo verpflichtend, da durch seine Aktualisierung im Handeln die Selbsterhaltung in Gefahr ist.164 Schon allein aufgrund ihrer Annahme einer erst zu bezwingenden, an sich verwilderten Natur des Menschen ist Hobbes' Theorie als „konstruktiver Gegenentwurf' zur aristotelischen und stoischen Tradition konzipiert,165 und der vorläufige Höhepunkt einer,modernen' Kritik an der Antike in der Frühen Neuzeit. 159 160 161 162

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Hobbes: De cive. Opera omnia. Bd. 2, S. 137. Ebd. Vgl. Ders.: Leviathan. Opera omnia. Bd. 3, S. 130. Ebd., S. 31-33. Vgl. aber die differenzierte Untersuchung zwischen Hobbes' politischer Philosophie und einer mechanistischen Denkweise von Ferdinand Tönnies: Studien zur Philosophie und Gesellschaftslehre im 17. Jahrhundert. Hrsg. von E. G. Jacoby. Stuttgart 1975, S. 200-240. Vgl. Hobbes: Leviathan. Opera omnia. Bd. 3, S. 232. Ebd., S. 121. Wolfgang Kersting: Die Begründung der politischen Philosophie der Neuzeit im Leviathan (Einleitung). In: Thomas Hobbes. Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerli-

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Der neue Naturbegriff, den dialektisch Luthers Anthropologie und die neuen Naturwissenschaften inaugurieren, entzieht dem traditionellen Naturrecht sein Fundament. Denn er impliziert die Abhängigkeit der Rechtsfindung von der Geometrie, die Grotius und Hobbes als universales Ideal ansehen. Eine solche Dependenz ist in Senecas Wissensphilosophie undenkbar. Seneca sieht in der Verbindung von Geometrie und Rechtswissenschaft eine Gefahr fur die lex naturae, da dann nicht mehr natürliche Menschenliebe und das Gewissen als Quelle fungieren, sondern figurale Verhältnisse. Seneca wendet sich gegen die Herausbildung einer Kultur, die auf der Grundlage mathematischer Methode die Beziehungen unter den Menschen regelt und sie dabei von der reinen, ersten Natur entfremdet. Was nützt es zu wissen, so fragt Seneca, wie man mit Hilfe der Geometrie den Acker vermißt, wenn man nicht versteht, ihn mit dem Bruder zu teilen (vgl. Ep. 88. 11) - nach dem Gewissen zu handeln. Eine Unterordnung der Gotteserkenntnis unter das Recht und der Primat der Naturwissenschaften, wie sie Grypius' erster Reyen aufweist, bedeutet eine genaue Umkehrung der Hierarchie der Senecaischen Wissensordnung. Hier gilt der Primat der sapientia, der Gotteserkenntnis und der Aktualisierung der auf dem Gewissen fußenden lex naturae im privaten und öffentlichen Leben.

chen und kirchlichen Staates. Hrsg. von Wolfgang Kersting. Berlin 1996 (Klassiker Auslegen 5), S. 9-28, hier S. 16. Paul Geyer (Die Entdeckung des modernen Subjekts. Anthropologie von Descartes bis Rousseau. Tübingen 1997) bezeichnet den Naturbegriff bereits als „Konstruktionsfehler" (S. 87), weil ihm eine ungenügende Datenbasis zugrunde liege und er die Vielfältigkeit menschlichen Daseins nicht berücksichtige (vgl. ebd., S. 88). Seine empirische Datenbasis fand Hobbes vor allem in den englischen Bürgerkriegen, ohne deren Erfahrungen sein verengter Blick auf die Natur des Menschen nicht zu denken ist. Die weitere Entwicklung des modernen Naturrechts, bei der es sich mehr oder weniger um eine Auseinandersetzung mit Hobbes' Lehre handelt, kann hier nur angedeutet werden. In der Nachfolge Hobbes' bestreitet John Locke die Existenz eines in die Herzen der Menschen eingeschriebenen Naturgesetzes und verdächtigt das Gewissen der bloßen Meinung (vgl. John Locke: Essays on The Law of Nature. The Latin Text with a Translation, Introduction and Notes. Together with Transcripts of Locke's Shorthand in his Journal for 1676. Ed. by W. von Leyden. Oxford 1954, S. 136; Strauss: Naturrecht und Geschichte, S. 232235) Für die weiteren Naturrechtsdenker, etwa fur Pufendorf (De iure naturae et gentium, 1672) und Thomasius (Fundamenta iuris naturae et gentium, 1705), ist der architektonische Charakter des Naturrechts und seine Positivierung entscheidend. Die Erhaltung äußeren Friedens ist das höchste Ziel. Insofern das Naturrecht endgültig positiven Charakter erhält, ergibt sich das Problem, daß Moral und Recht bzw. Ethik und Recht auseinandertreten. Die obligatio als verpflichtende Kraft des Gewissens weicht in ihrem Wert der obligatio gegenüber dem positiven Recht. Eine Pflichtenlehre, die seit Grotius zwischen unvollkommenen, das Gewissen und die Tugend betreffenden Pflichten und vollkommenen Pflichten, die erzwingbar sind, unterscheidet, ist für die Definition der Moral als reiner innerer Verpflichtung konstitutiv, deren Ignorierung juristisch nicht geahndet werden kann. Vgl. Ilting: Naturrecht und Sittlichkeit, S. 83-96; vgl. auch Wolfgang Kersting: Recht, Gerechtigkeit und demokratische Tugend. Abhandlungen zur praktischen Philosophie der Gegenwart. Frankfurt am Main 1997, S. 79-89.

52 c) Die Historisierung der Natur und die Dichotomie von Natur und Kultur Gryphius' Reyen reflektiert die dargestellten ideengeschichtlichen Entwicklungen, ist eine Antwort auf Grotius' Theorie und eine Antizipation von deren Weiterentwicklung bei Hobbes. Er weist eine Wissensordnung auf, die das stoisch-christliche Naturrecht verabschiedet hat. Die „Bestürtzung"166, mit der Gryphius die Grotianischen Schriften angeblich zur Kenntnis genommen hat, ist wahrscheinlich auf die von Grotius mit aller Vorsicht vorgebrachte Annahme zurückfuhren, daß seine ausgearbeiteten Bestimmungen auch dann gälten, wenn es keinen Gott gäbe.167 Allerdings ist Grotius' Theorie im Grunde eine Fortfuhrung von Luthers Zwei-ReicheLehre, indem sie zugunsten des ,äußeren Regiments' die Quelle des Gewissens für die Rechtsfindung abbaut und sie lediglich für die Gemeinschaft akzeptiert. Sicher liegen Gryphius' Bestürzung nicht die Überlegungen zugrunde, die das 20. Jahrhundert über den Prozeß der Mathematisierung der Natur verlauten läßt. So mahnte Werner Heisenberg, daß fur die „Vereinheitlichung des naturwissenschaftlichen Weltbildes ein hoher Preis gezahlt werden mußte". Bei allen Fortschritten, die die Naturwissenschaft zu verzeichnen habe, seien sie doch „erkauft durch den Verzicht darauf, die Phänomene unserem Denken durch Naturwissenschaft unmittelbar lebendig zu machen."168 Für Hannah Arendt bedeutete die reductio scientiae ad mathematicum einen fundamentalen Wandel im menschlichen Bewußtsein, das sich fortan von der phänomenal gegebenen Welt abschloß und sich den wahren Herausforderungen, die den Sinnen gegeben wurden, nicht mehr stellte. Es beschäftige sich nur noch mit den „Schematismen [...] des eigenen Verstandes."169 Arendts Klage über die „Weltlosigkeit", die mit der Neuzeit eingesetzt habe,170 kehrt derzeit mit einer anderen Konnotation wieder, wenn etwa die „Objektivierung des Körpers" zur Maschine als ein „Verlust an Verkörperung" und als „Weltverlust" bezeichnet wird.171 Diese Urteile, die im Rückblick auf das 17. Jahrhundert gefällt werden, versuchen den Prozeß deutlich konturiert aus einer Distanz zu rekonstruieren und beweisen 166 Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Bd. 2: Oden und Epigramme, S. 97. 167 168

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Grotius: Prolegomena: De iure belli ac pacis, S. 7. Werner Heisenberg: Zur Geschichte der physikalischen Naturerklärung. In: Ders.: Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft. Zwei Vorträge von Werner Heisenberg. Leipzig 1935, S. 27-45, hier S. 44. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München, Zürich, 9. Aufl. 1997, S. 340. Ebd., S. 408. Dirk Lanzerath: Natürlichkeit der Person und mechanistisches Weltbild. In: Natur und Person im ethischen Disput. Hrsg. von Mechthild Dreyer und Kurt Fleischhauer. München 1998, S. 81-104, hier S. 103.

53 ein Bewußtsein dafür, daß eine Veränderung im Naturverhältnis stattgefunden hat. Auch wenn Gryphius' ,Bestürzung' über Grotius nicht überbewertet werden darf, vermutlich auf dessen angedeuteten Agnostizismus zurückzufuhren ist und ihr nicht die oben angeführten Überlegungen unterstellt werden dürfen, so reflektiert doch die Ordnung des Wissens im Reyen das Bewußtsein, in einer neuen Zeit zu leben oder zumindest in einer, in der sich tiefgreifende Wandlungen im Weltbild ankündigen, die nicht nur zu begrüßen sind. Der Reyen erkennt in der neuen Wissensordnung eine Ambivalenz. Dieselbe konstruktive Vernunft, die jene Beherrschung der Natur ermöglicht, vermag „tief' zu „stürtzen" {Leo Arm. I. 526). Sie bewirkt „der Tugend Untergang /der grimmen Laster sieg" (I. 536) und gibt „Lieb und trew verlohren" (I. 538). Es ist jene Vernunft, durch die sich die empirischen Wissenschaften in ein Distanzverhältnis zur Natur setzen, sie sezieren und dabei ordnen, die ein „Verfügungswissen über die Natur" ausbilden und eine „neue Natur - ohne Orientierungswissen" entstehen lassen.172 Die Natur wird nun historisch, indem sie nicht mehr einfach ist, sondern in eine neue Form gegossen wird, aus der das neue Naturrecht resultiert. Diese Natur ist das Fundament des neuen Verständnisses von Politik als scientia, die moralische, d. h. Gewissensfragen ausklammert. 173 Der alte Naturbegriff wird außer Kraft gesetzt und so ebenfalls als historisch, als einer vergangenen Epoche angehörig, betrachtet. Mit seiner Historisierung verliert auch das stoisch-christliche Naturrecht seine Gültigkeit, zugunsten der Kultur. In der Wissensordnung des Reyen ist es die Kultur, die antinomisch die Natur als Seiendes verdrängt, deshalb die Klage über die Ambivalenz der Vernunft. Die Wissensordnung im Reyen demonstriert, daß die Voraussetzungen, den Dekalog auch in der Geschichte wirksam werden zu lassen, verloren sind. Der Reyen kann dann als ein Komplement des Hymnus auf Kopernikus verstanden werden. Auch dieser demonstriert die Gleichsetzung der sapientia mit der scientia, die im Sinne Descartes' und Hobbes' die Natur neu erfindet und die Oslander in seiner Vorrede vor dem Hintergrund der Lutherischen Gnadenlehre zu unterstützen scheint. Während aber der Hymnus emphatisch das durch die Vernunft neu erfundene „Recht" begrüßt, 174 fordert im Drama die Figur des Michael das alte Naturrecht und mit ihm ein stoisches Naturverhältnis, die antike sapientia, die das Ewige erforscht und 172

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Jürgen Mittelstrass: Leben mit Natur. In: Über Natur. Philosophische Beiträge zum Naturverständnis. Hrsg. von Oswald Schwemmer. Frankfurt am Main 1997, S. 37-62, hier S. 50. Vgl. auch Georg Wieland: Secundum naturam vivere. Über den Wandel des Verhältnisses von Natur und Sittlichkeit. In: Natur im ethischen Argument. Hrsg. von Bernhard Fraling. Freiburg, Wien 1990 (Studien zur theologischen Ethik 31), S. 13-31, hier S. 13. Vgl. Michael Stolleis: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts. Frankfurt am Main 1990, S. 50. Vgl. oben, S. 22.

54 handelnd aktualisiert, zurück. Diese Möglichkeit aber negiert die Wissensordnung im Reyen. Michael bildet das Korrektiv zu der Figur, von der die alte sapientia gefordert wird, zum Kaiser. Auf welche Weise wird Leo nun zum Zielpunkt senecaischer Kulturkritik?

2. Die Handlung: Die Inszenierung eines ideengeschichtlichen im Spiegel von Senecas Oedipus

Streits

α) Anwendung der curiositas zur Vertreibung der Tradition Es scheint, als seien die ersten drei Abhandlungen des Dramas bis zum Gang in den Kerker von einer qualvollen Unentschiedenheit Leos geprägt. Kaiser hat deshalb von „einer eigentümlichen Willenslähmung" gesprochen: „Leo, müde geworden unter der Last der Krone und der Notwendigkeit, sie zu sichern," sei „gezeichnet von tiefer Melancholie, die aus einer Ahnung von der Sinnlosigkeit seines Lebens" entspringe.'75 In ähnlicher Weise urteilt Rusterholz, Leo sei „ein unentschlossener Zauderer."176 Kaiser entwertet zudem die Irritationen der ersten drei Abhandlungen zugunsten einer Ausdeutung der Tragödie als eines Dramas der Gnade, das in der Kreuzigungsszene den fulminanten und unerwarteten Höhepunkt biete.177 Hingegen hält es Steinhagen fur verfehlt, Leo als melancholischen Grübler zu qualifizieren.178 Er wertet die Entscheidungszeit auf und weist darauf hin, daß der Kaiser in einem „Normenkonflikt" stehe, da er sein Handeln immer noch an traditionellen Werten wie Güte, Treue und Milde ausrichten wolle. Durch sein Zögern stelle er sich der Staatsräson entgegen.179 Für Budde entspringt grundsätzlich jede kaiserliche Handlung „Eigennutz und Opportunitätserwägungen".180 Tatsächlich wird sich im folgenden herausstellen, daß es sich bei jenem von Steinhagen festgestellten Konflikt der Normen um eine von Leo selbst simulierte Zerreißprobe zwischen der christlich-stoischen lex naturae und dem neuen Naturrecht als Konstrukt handelt, die ihn ins rechte Licht setzen soll. Im Drama wird die Forderung, im Sinne des stoisch-christlichen Naturrechts zu handeln, verschiedentlich evoziert. Schon zu Beginn plädiert Exabolius für das ,lange Recht' (Leo Arm. I. 231) und stellt es dem ,kurzen Recht' (I. 236) entgegen, der Lipsianischen ure-seca-Formel, die Nicander favorisiert: „,Puniantur a te, ne tu pro illis puniaris [...]. Melius enim est, ut

175 176 177 178 179 180

Kaiser: Leo Armenius, Oder Fürsten=Mord, S. 12. Rusterholz: Nachwort: Andreas Gryphius: Leo Armenius, S. 133. Vgl. oben, S.28. Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln, S. 53. Ebd., S. 70. Budde: Vom anhaltenden „unrecht der Palläste", S. 31.

55 pereat unus quam ut pereat unitas [...].' Clementiae non hie locus. ,Ure, seca, ut membrorum potius aliquod, quam totum corpus intereat'" CPolit. 4. 3.). ι si Michaels Hinweis auf die „Natur" {Leo. Arm. II. 377) folgt Leos Unterredung mit Theodosia, die Gnade verlangt (vgl. II. 461). Schließlich wird die Hinrichtung aufgeschoben, und während dieser Zeit erhält Leo eine deutliche Anfechtung seines eigenen Gewissens. Er ist es, so gibt ihm die Traumerscheinung des Tarasij Geist zu verstehen, der gegen „das gerechte Recht" (III. 71) verstoßen hat und vor dem nun die „Kirche [...] erzittert" (III. 72). Dieser deutliche Hinweis auf die Verpflichtung des Gewissens ist schließlich der Auslöser für jene Handlung, die die Katastrophe erst herbeifuhrt: für den Gang in den Kerker. Was den Kaiser in sein Verderben laufen läßt, ist aber nicht sein Glaube, wie Szondi behauptet, 182 sondern seine Neugierde, die von Seneca getadelte cupiditas discendi. Diese Neugierde ist an sich schon deshalb verwerflich, weil sie nicht den Blick auf die unberührte Natur wenden läßt, um das göttliche Gesetz zu erforschen. Ihr kommt aber noch eine weitere Funktion zu, die im folgenden besondere Beachtung verdient: Sie soll ein konstruiertes Selbstbild aufrechterhalten, das nicht der Wahrheit entspricht: das eines Kaisers, der immer auf der Ebene von „Sitt und Recht" (II. 68) gehandelt hat. Die Neugierde unterstützt zum einen die Simulation der Zerreißprobe zwischen altem und neuem Naturrecht, zum anderen soll sie gewaltsam die Rechtmäßigkeit des status quo beweisen und die gegen den Kaiser erhobenen Anschuldigungen fur nichtig erklären. Gryphius weist bereits in seiner Vorrede darauf hin, daß Leo „also auch viel seinem Leser aufweisen wird / was bey jetzt regierenden Fürsten theils nicht gelobet, theils nicht gestattet wird." 183 Nach einer Niederlage setzte dieser seinen ehemaligen Freund und Vertrauten Michael „mit grimmer list" und „toller macht" ab (I. 54), „zwang" ihn zur Verbannung auf eine entlegene Insel (I. 60) und entmannte dessen Sohn (vgl. I. 65). Leo ist ein Tyrann „infolge Amtsmißbrauch". 184 Nun geht es um die Bewahrung reiner Ober-

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Zitiert wird nach: Justus Lipsius: Politicorum sive civilis doctrinae libri sex. Qui ad Principatum maxime spectant (1589). In: Ders.: Opera omnia. Bd. 1-4. Postremum ab ipso aueta et recensita. Nunc primum copioso rerum indice illustrata. Wesel 1675, hier Bd. 4. Lipsius behandelt an dieser Stelle die Frage, wie man Aufrührer bestrafen müsse und entscheidet sich im Ernstfall für die Kapitalstrafe und gegen die fürstliche Tugend der Sanftmut, der Seneca eine eigene Schrift gewidmet hat. Die Rezeption von De dementia im Leo Armenius wird zu einem späteren Zeitpunkt ausführlich behandelt. Vgl. unten, S. 253262.

182 vgl. Szondi: Versuch über das Tragische, S. 232. 183 Gryphius: Vorrede: Leo Armenius. Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Bd. 3, S.3. 184 vgl. Gustaf Klemens Schmelzeisen: Staatsrechtliches in den Trauerspielen des Andreas Gryphius. In: Archiv für Kulturgeschichte 53, 1971, S. 92-126, hier S. 113. Schmelzeisen schließt sich der Auffassung Kaisers an (Leo Armenius, Oder Fürsten=Mord), daß Leo Ar-

56 flächenstrukturen, des status quo, um die Aufrechterhaltung des konstruierten Naturrechts oder des Vertragsrechts. Leo ist ein Baustein im Kunstprodukt Staat, dessen künstliche Oberflächenstruktur und die Notwendigkeit, im Sinne der Staatsräson und der Zwei-Reiche-Lehre zu handeln, sein Gewissen auf die Probe stellen. Seine curiositas soll der Erhaltung von Strukturen dienen, die auf der Basis von Rechtsverletzungen erwachsen sind. Die curiositas tritt an die Stelle der Stimme des Gewissens, die Leo mehrfach vernimmt. Als das strukturell und thematisch analoge Vorbild zum Leo Armenius hat Stachel Senecas Medea gesehen. Auch diese sei wie das GryphiusDrama eine „Tragödie des Undanks", die jeweiligen Herrscher die gegenüber Michael und Medea Undankbaren. 185 Diese Parallele ist wegen der fehlenden Schwarz-Weiß-Zeichnungen in beiden Dramen wenig überzeugend. 186 Zum Oedipus weist Stachel nur vereinzelte Bezüge nach, vor allem die Klagen über die schwere Verpflichtung des Königsdaseins, die sich aber auch in anderen Tragödien und Senecas Schriften finden.187 Die Verwandtschaft mit Senecas Oedipus geht bei weitem über diese Anleihen hinaus. Gryphius hat die antike Tragödie nicht als Prätext markiert, und dennoch könnte der Stoff als inspirierende Vorlage gedient und als Reminiszenz aktualisiert worden sein. Daß die Praxis der Rechtsfindung an ihre Grenzen stößt, wenn die curiositas dazu verwendet wird, das Gewissen zu verdrängen, um einen zudem durch Unrecht erlangten Machtstatus aufrechtzuerhalten, zeigt Senecas wie Gryphius' Tragödie. Erstere darf als „strukturelle Folie" für zweitere gelten,188 obwohl wegen fehlender deutlicher Markierungen nur von schwachen intertextuellen Bezügen gesprochen werden kann. Der zeitlose Mythos des Sophokleischen Oedipus gilt in Senecas Wissensphilosophie als ein involucrum für die Paränese, auf das ewige göttliche Gesetz, in diesem Fall die Orakelsprüche, zu hören und nicht einer maßlosen Neugierde Raum zu geben. 189 Die Sophokleische Vorlage beklagt in seinem zweiten Stasimon die Ignorierung des göttlichen Spruchs (vgl. Soph. Oed. 863-910), das „die geschichtliche Erosion religiöser Fundamente bis hin zur Auflösung des menius wie Michael Baibus vom Dichter als Usurpatoren gemeint seien (vgl. S. 5, Anm. 6). Vgl. dagegen Henri Plard: La saintete du pouvoir royal dans le „Leo Armenius" d'Andreas Gryphius (1616-1664). In: Le Pouvoir et le Sacre. Hrsg. von Henri Plard u. a. Bruxelles 1962 (Annales du Centre d'Etudes des Religions 1) S. 159-178, hier S. 167. 185 Stachel: Seneca und das deutsche Renaissancedrama, S. 219. 186 Vgl. unten, Kap C III. 187 Vgl. Stachel: Seneca und das deutsche Renaissancedrama, S. 221f. 188 Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Intertextualität: Formen, Funktionen, anglist. Fallstudien. Hrsg. von Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen 1985 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 35), S. 1-30, hier S. 28. 189 Vgl. Art. ,integumentum'. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bisher Bd. 1 - 6 . Hrsg. von Gert Ueding. Tübingen 1992-2001, hier Bd. 4, 1998, Sp. 446^148, hier Sp. 446.

57 Glaubens an die Götter selbst" offenlegt. 190 Das Drama weist eine ähnliche Thematik auf wie die Antigone. Der Senecaische Oedipus übernimmt nun von Sophokles die Betonung der Verpflichtung gegenüber den ewigen Gesetzen als diejenige gegenüber der Natur. Bereits im Prolog kommt Oedipus eine Ahnung an, die Rechte der Natur verletzt zu haben: „fecimus caelum nocens" (Sen. Oed. 36).191 Die Pest in Theben ist ein Zeichen für die Verletzung der lex naturae. Unwissend erschlug Oedipus, uneingedenk desjenigen Orakelspruches, vor dem er eigentlich aus Korinth geflohen war, seinen Vater Laios. Sein Wissen um die Lösung der Rätsel, die die Sphinx aufgibt, verhilft ihm in Theben zwar zur Macht, die er von Geburt rechtmäßig beanspruchen darf. Diese aber erlangt er erst wie Leo Armenius durch Rechtsverletzung, durch Vatermord. Ist Oedipus' Schuld auch problematischer als die Leos, da er .unwissend' gehandelt hat, so ist seine leitende Handlungsmotivation auch, seine Herrschaft mit allen Mitteln zu erhalten. Auch ihm geht es im wesentlichen darum, sein aus eigenen Kräften konstruiertes Herrscherbild zu bewahren. Ein Orakel fordert die Verbannung des Laios-Mörders (vgl. 234— 238). Nimmt Leo die drohende Verschwörung zum Anlaß, um durch Neugierde ein Wissen zu erlangen, das ihn von seinem Schuldbewußtsein befreien soll, so setzt Oedipus ähnlich den Orakelspruch für seine Zwecke, für die Bewahrheitung seines Selbstbildes ein. Beiden Herrschern wird ihr bevorstehender Untergang verkündet, vor dem sie sich durch Arbeit an sich selbst und durch curiositas zu schützen suchen. Schließlich stürzen sie in den Brunnen, in den auch Thaies gefallen war, weil sie während der Konstruktion einer imaginären Wirklichkeit das Nächstliegende, ihr eigenes Gewissen, ungehört lassen. Leo Armenius und Oedipus werden sich als paradigmatische Figuren erweisen, die uns sowohl in Gryphius' als auch in Lohensteins Tragödien immer wieder begegnen werden, denn sie sind beide occupati, ,Rastlose'. Als occupati bezeichnet Seneca in seiner Schrift De brevitate vitae diejenigen, die sich von einem natürlichen Leben durch die Beschäftigung mit unnützen Dingen entfernen (De brev. vit. 7. 1), indem sie etwa überflüssiges Wissen anreichern. Jener Wissensdurst nach entlegenen Fakten, das „inane Studium supervacua discendi" (13. 3), wird auch Oedipus und Leo schließlich zu Fall bringen. 192 In ihrem Drang, das Konstrukt ihres Selbstbildes aufrechtzuerhalten, legen sie als occupati die Vielbeschäftigtheit an den Tag, die π ο λ υ π ρ α γ μ ο σ ύ ν η . In Plutarchs Schrift De curiositate ist sie

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Jochen Schmidt: Sophokles, König Oedipus. In: Aufklärung und Gegenaufklärung, S. SBSS, hier S. 48. 191 Die Tragödien Senecas werden zitiert nach: Lucius Annaeus Seneca: Tragoediae. Incertorum auctorum Hercules [Oetaeus], Octavia. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Otto Zwierlein. Oxford, 3. Aufl. 1991. 192 Vgl. zu den occupati auch unten, S. 87f.

58 gleichbedeutend mit der Neugierde und meint die Fragerei nach Verborgenem und Abseitigem. Interessant ist nun der Antrieb, den Plutarch der Neugierde unterstellt: Der Neugierige handelt eigentlich aufgrund von Boshaftigkeit und Neid, nicht aus ehrenvoller Absicht, die Wahrheit zu ergründen (vgl. Plut. De cur. 518c).193 Tatsächlich reflektieren Oedipus und Leo nicht auf den Zweck ihres Wissensdurstes, auf das Senecaische quo animo,194 sondern sind neugierig aus unehrenhaften Gründen: aus Angst vor ihrer tatsächlichen Schuldhaftigkeit.

b) Stufen der Wahrheitssuche: Inszenierung des Selbstbildes, mimetische Angleichung und Befriedigung der Neugierde durch Augenschein Auf verschiedenen Stufen werden beide Herrscher mit der Wahrheit konfrontiert, die sie aber nicht wahrhaben wollen, sondern durch weiteres Fragen und scheinbares Unverständnis tragen sie dazu bei, die Tatsachen zu verhüllen. Die Konfrontationen mit der Wahrheit nehmen indes an Deutlichkeit zu. Drei Stadien können jeweils unterschieden werden. Der Orakelspruch (vgl. Oed. 202-292) und Leos Gespräche mit den Vertrauten, mit den Richtern und vor allem mit Michael zu Beginn des zweiten Aktes (vgl. Leo Arm. II. 1-326) zeigen die Protagonisten jeweils im Angesicht einer drohenden Entmachtung (a). Im Oedipus entsprechen die Haruspizien und der Gang in die Unterwelt (vgl. Oed. 293-704) in ihrem Anfechtungscharakter der Diskussion zwischen Leo und Theodosia und der folgenden Traumerscheinung (vgl. Leo Arm. II. 424-522, III. 65-164) (b). Auslösung der Katastrophe ist in beiden Dramen am Ende die empirische Erkundigung, dabei bleibe dahingestellt, ob Leo im Kerker träumt oder wacht (vgl. Oed. 764—881; Leo Arm. III. 164-290) (c). Für jede dieser Stufen ließen sich Überschriften finden: die Inszenierung eines Selbstbildes (a), die mimetische Angleichung (b) und die Auslösung der Katastrophe durch die sinnfällige ,Befriedigung' der Neugierde, den Augenschein (c). (a) Die Funktion des Orakels übernimmt im Leo Armenius Michael Baibus. Angesichts der von diesen beiden Instanzen ausgehenden Verunsicherungen sind beide Herrscher damit beschäftigt, ein Selbstbild zu inszenieren, das ihnen nicht zukommt - rechtmäßig Herrschaft ausgeübt zu haben. Die curiositas soll die Funktion erfüllen, die Blumenberg ihr attribuiert: „[...] der Mensch versucht das Bild zu bewahrheiten, das er von sich

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1 94

Zitiert wird nach der Ausgabe: Plutarche. CEuvres morales. Bd. 7. Premiere Partie: Traites des morales (27-36). Texte etabli et traduit par Jean Dumortier. Paris 1975. Vgl. oben, S. 38.

59 selbst hat."195 Beide Herrscher leben in dem Irrglauben, daß sie vorbildliche Herrscher seien, daß ihnen nichts verborgen bleiben könne und daß die Enthüllung des Verborgenen sie im Amt bestätigen werde. Oedipus handelt in dem Glauben, daß er, indem er Korinth verließ, der Gefahr des Vatermordes und der Mutterschändung aus dem Wege gegangen sei, die Unverletzlichkeit der natürlichen Bindungen aufrechterhalten habe und jetzt als König von Theben sein Herrschaftsrecht in Anspruch nehmen könne. Die Verunsicherung ist aber vor dem Orakelspruch vorhanden. Oedipus plagen Zweifel, und er furchtet sich vor sich selbst: [...] parum ipse fidens mihimet in tuto tua, natura, posui iura, cum magna horreas, quod posse fieri non putes metuas tarnen: cuncta expavesco meque non credo mihi. (Oed. 24-27)

Fuhrmann bemerkt, daß Oedipus dieses Schuldgefühl eigentlich „noch nicht haben dürfte."196 Allerdings beging er ein Verbrechen an der Natur. Da es sich für die Stoa um eine Allnatur handelt, in der durch Sympathie alles miteinander verbunden ist, resultiert sein Schuldgefühl aus jener Verletzung der natürlichen Ordnung, an der er selbst teilhat. In eindrucksvoller Bildlichkeit schildert der Prolog die verwesende Natur, die „funesta pestis" (55). Oedipus' Übertretung der lex naturae spiegelt sich in der allgegenwärtigen Atmosphäre des Siechtums und des Todes. Seine Furcht geht von Anfang an mit der Begierde einher, etwas noch Unbestimmtes zu wissen: „[...] ubi laeta duris mixta in ambiguo iacent, incertus animus scire cum cupiat timet" (208f.). Von Kreon, der vom Delphischen Orakel heimkehrt, verlangt Oedipus zu erfahren, was der Gott geweissagt habe. Kreon zögert aus Angst, seinem Herrn die Wahrheit zu entdecken, und versucht eine List: Der Gott pflege die Wahrheit in Rätseln zu verhüllen (vgl. 214). Nun stilisiert sich Oedipus, seine Furcht vertuschend, als allmächtig Wissender und maßt sich an, allein den Wahrheitsgehalt des Spruches entdecken zu können. „Fare, sit dubium licet: ambigua soli noscere Oedipodae datur" (215f.). Ohne noch von seinem Inhalt erfahren zu haben, stellt Oedipus das Orakel wie ein Arkanum dar, dessen zweifelhafte Aussagen nur er richtig deuten könne. Der Orakelspruch erweist sich aber an sich als eindeutig. Die Pest wird enden, sobald der Mörder des Laios, der in Theben Zuflucht genommen hat, die Stadt verlassen haben wird. Das Orakel verschweigt auch den Frevel der Inzucht nicht, der dem Vatermord folgte. Es prophezeit dem 195

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Hans Blumenberg: „Nachahmung der Natur". Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1993, S. 55-103, hier S. 57. Fuhrmann: Seneca und Kaiser Nero, S. 219.

60 Mörder Gewissensqualen. Für Kreon bestehen keine Zweifel, daß es sich bei dem im Orakel Angesprochenen um Oedipus handeln muß. Er selbst zittert vor Furcht (vgl. 223-238). Von nun an stehen sich Oedipus' Bemühungen, ein Wissen zu erzwingen, das ihn entlasten könnte, und das Schicksal gegenüber.197 Oedipus bezieht den göttlichen Spruch nicht auf die von ihm begangene Tat. Er wirft dem Volk vor, es habe seine Pflicht und seine Frömmigkeit vernachlässigt, indem es nicht schon selbst den Laios-Mörder gesucht habe. Diese Aufgabe werde er übernehmen (vgl. 239-244). Dem Schuldigen schwört er grausame Rache (vgl. 257-273). Das Orakel droht die eigene Position, die Oedipus als mächtiger Rätsellöser und insofern als Wissender erlangt hat, zu zerstören. Jene Form von Wissenserwerb oder Klugheit aber, die vermochte, Rätsel zu lösen, ist nicht die Haltung, die Oedipus nun, wollte er tatsächlich weise handeln, zeigen müßte: die sapientia, Theben zu verlassen, um die Stadt vor der Vernichtung durch die Pest zu retten. Weise müßte er sowohl die traditionelle Instanz des Orakels, das die Wahrheit spricht, als auch sein inwendiges Schuldgefühl, sein Gewissen, zum Maßstab seines Handelns nehmen. Die Instanz des Orakels übernimmt im Leo Armenius die von seiten Michaels offenbar drohende Verschwörung. Diese ficht das Selbstbild des Herrschers an, holt die Vergangenheit in die Gegenwart und macht auf die ehemalige und gegenwärtige Verletzung der lex naturae aufmerksam. Leos curiositas soll nicht im Zweifel eine Entscheidung für den Angeklagten herbeifuhren, sie steht ebensowenig wie diejenige des Oedipus im Dienste der Gerechtigkeit, sondern nutzt dem konstruierten Herrscherbild. Warum behandelt Leo die Situation wie Oedipus das Orakel, wie ein Arkanum bzw. ein Rätsel, das es zu lösen gilt? Gemäß dem neuen Naturrecht als Konstrukt, der Politik als scientia, die das Gewissen als Grundlage fur das Handeln zurückweist und dieses auf ein reines „Sich-Verhalten" reduziert,198 müßte er sich schnell für die Hinrichtung entscheiden. Dies würde aber bedeuten, die Möglichkeit einzuräumen, daß ein Anschlag, vielleicht sogar rechtmäßig, auf ihn geplant wird. Wie Oedipus sich bereit erklärt, die schwere Bürde der Herrschaft auf sich zu nehmen, sein Volk zu retten und den Laios-Mörder zu suchen, und auf diese Weise den Schuldverdacht von sich weist, dient Leos Neugierde nur schein-

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Willy Schetter (Senecas Oedipus-Tragödie. In: Senecas Tragödien, S. 402-448) bemerkt richtig, daß sich die Tragödie „nicht in der dramatischen Vergegenwärtigung der Unentrinnbarkeit des Schicksals" erschöpfe, sondern daß das Schicksal und Oedipus von Anfang an als „gleichrangige Gegenspieler einander zugeordnet" seien (S. 405). Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben, S. 52. Vgl. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft. Neuwied, Berlin 1969, S. 170.

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bar dazu, die Wahrheit aufzudecken. Sie soll beweisen, daß die Gründe für die Verschwörung nicht gegeben, er schuldlos sei. Der Beginn des Leo Armenius gleicht im Aufbau dem Senecaischen Oedipus. Hier überbringt Kreon als Mittelsmann den Orakelspruch, dort läßt Exabolius keinen Zweifel an der Gefahr der Situation. Leos Fragerei nach dem eigentlich Gewußten ist ebenso wie die Oedipus' von Anfang an gepaart mit Furcht und einer inszenierten Empörungsgeste über das scheinbar Unmögliche, das seinen Verdienst in Zweifel ziehen würde: „So nimbt er weder rath noch warnung mehr in acht" {Leo Arm. I. 133)? Leo wirft Michael „Undanck" (I. 142), mangelnde „Redligkeit" (I. 144) und „Untrew" (I. 150) vor. Seine anfanglichen Klagen über die Bürde, die er als Herrscher übernommen hat, sind nicht nur topische „Formulierungen der traditionellen Hofkritik",199 sondern als simulierte Hofkritik Bestandteil der Inszenierung von Unschuld. Er selbst ist der Bedauernswerte, der Gewalt an seiner eigenen Natur, die „methodisch bewußte Praktizierung der Verschlossenheit" üben muß,200 die ihren stärksten Ausdruck in den Worten findet „man muß den todtfeind ehren / mit blinden Augen sehn / mit tauben ohren hören" (I. 163). Zudem stilisiert er sich als tadellosen vir bonus, den der „hohe muth" und der „verstand" (I. 151) geblendet und der „übergrosse gunst" (I. 197) bewiesen habe. Das von Nicander abgehörte Gespräch zwischen Michael und Exabolius vermittelt hingegen ein nachteiliges, vermutlich der Wahrheit näherkommendes Bild vom Kaiser. Dieser habe sich „in den Thron gedrungen" (1.291), „tugend unterdruckt / und redlichkeit verdencket" (I. 295) und „furcht / wahn" und „schrecken" (I. 303) verbreitet. Leo hingegen fuhrt seine Autopanegyrik in Steigerung während des persönlichen Gepräches mit Michael zu Beginn des zweiten Aktes fort. Dieses führt er aus Neugierde, die sein Selbstbild bestätigen soll. Dabei verstößt er gegen die Regeln des klugen Sprechens: Er vermag es nicht, die „Kunst als Kunstlosigkeit" erscheinen zu lassen.201 Entscheidend für eine geglückte Herstellung des Ethos sind „die im Vortrag selbst zur Anwendung gelangenden Mittel, welche den Eindruck der Verläßlichkeit und Glaubwürdigkeit sicherstellen, aber eben auch verhindern können."202 Den hierfür dienlichen Bescheidenheitstopos sucht man in Leos Rede vergeblich, stattdessen findet man das „peinliche [...] Selbstlob".203

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202 203

Helmuth Kiesel: ,Bei Hof, bei Holl'. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. Tübingen 1979 (Studien zur deutschen Literatur 60), S. 160. Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln, S. 96. Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992 (Communicatio. Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte 1), S. 56. Ebd., S. 62. Ebd., S. 64.

62 Der Kaiser zeichnet sich als einen Herrscher, der Kriegserfolg mit christlichen Tugenden zu vereinbaren weiß. Zur virilen fortitudo (vgl. II. 11-15, 36f.) gesellen sich largitio, iustitia, die Tugend des parcere oder ignoscere (vgl. II. 67-72), „langmut" (II. 85), „güte" (II. 87) - die christlich-stoische dementia - und die „freundlichkeit", amicitia (II. 89). Michael gilt als der undankbare Nutznießer dieser praktizierten Tugenden. Und du / du Michael hast eyd und trew gebrochen Dem / dem du stand und Ehr und dich zu dancken hast. Trewloser! haben wir dich auf die schoß gefast? Verräther! aus dem koth! hat dich der Arm erhaben? Undanckbar Hertz? hat dich die faust mit tausend gaben Meineydig mensch! bestrewt? gab ich dir hund das schwerdt / Das du von meinem Feind' auff diese brüst gekehrt! Vergab man / mörder / dir so offt dein freches wütten? Das dir den grim erlaubt auf einmahl außzuschütten? (Leo Arm. II. 76-84)

Das „Modell eines christlich-absolutistischen Staates", das Reichelt in dem von Leo evozierten Tugendkanon proklamiert sieht,204 ist Utopie. Sein visionärer Charakter zeigt sich am deutlichsten darin, daß es für eine dissimulatio verwendet wird, die Verstöße gegen sein Ideal vertuscht. Michael begnügt sich nicht damit, seine Unschuld beweisen zu wollen, sondern gibt Leo zu bedenken, daß er ein falsches Bild von sich entwirft: Sein „gewissen" (II. 100) werde ihm die Wahrheit zeigen. (b) Der nächste Schritt der curiositas dient in beiden Dramen der mimetischen Angleichung an die Tradition, den Glauben. Sowohl die Opferung und die Eingeweideschau im Oedipus als auch die Aufschiebung der Hinrichtung wegen des Weihnachtstages im Leo Armenius sind keine Handlungen aus echter Überzeugung, sondern aus List: „List entspringt im Kultus."205 Die Tradition wird bestätigt, um Frevel zu verdecken. Zu Oedipus' List gehört die Befragung des Sehers Tiresias. Oedipus läßt sich auf die traditionelle Opferschau ein. Wieder sind die Zeichen an sich untrüglich: Die Eingeweideschau, die Tiresias und Manto vornehmen, deutet eine Verletzung der Natur an, die Störung der natürlichen Ordnung. Nicht nur liegen die Eingeweide der Opfertiere an verkehrter Stelle und sind teilweise verstümmelt, auch erkennt man in einem Muttertier eine ungewöhnliche Leibesfrucht: „Natura versa est; nulla lex utero manet" (Oed. 371).206 Oedipus drängt darauf, daß Tiresias ihm das Gesehene deute. 204

Klaus Reichelt: Politica dramatica. In: Text und Kritik. Heft 7-8: Andreas Gryphius, S. 34-45, hier S. 43, vgl. ebd., S. 37. 205 Vgl. Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main 1993, S. 55. 206 Vgl. zu dieser außergewöhnlich detaillierten und realistischen Beschreibung des Extispiziums, die auch Senecas anatomisches Interesse bezeugt, Karlheinz Töchterle: Lucius Annaeus Seneca. Oedipus. Kommentar mit Einleitung, Text und Übersetzung. Heidelberg 1994, S. 335-353.

63 Da er selbst des Zeichenlesens nicht mächtig ist, muß seine Kunst, Rätsel zu lösen, hier versagen, und er gibt vor, sich auf eine traditionelle Autorität zu verlassen. Tiresias sagt ihm voraus, daß sein Wissensdurst schreckliche Folgen haben werde (vgl. 387). Oedipus stellt sich jedoch weiter unwissend und verlangt nach deutlicheren Zeichen. Er schickt Kreon in die Unterwelt, die letzte Gewißheit und den Namen des Schuldigen zu erfahren, um sich selbst die Unschuld zu beweisen. Kreon bittet ihn jedoch, unwissend zu bleiben: „Nescisse cupies nosse quae nimium expetis" (514). Oedipus besteht hingegen auf der Allmacht des Wissens, die im Dienst der öffentlichen Sache zu stehen habe. Wer Wissen verheimliche, schade dem Gemeinwohl: „Iners malorum remedium ignorantia est. Itane et salutis publicae indicium obrues?" (515f.). Oedipus spielt hier selbst auf seine Macht als Rätsellöser an. Er erzwingt schließlich von Kreon die Wahrheit. Die Prägnanz der Anfechtungen erreicht einen ersten Höhepunkt, denn es sind die Worte des Laios selbst, die Kreon berichtet und die Oedipus' Verbannung aus Theben fordern, ohne daß allerdings sein Name explizit genannt wird (vgl. 648). Nur die Verbannung des Schuldigen vermag das Unrecht an der Natur zu sühnen, die Pest zu vertreiben. Laios selbst schwört, dem Sohn das Augenlicht zu rauben (vgl. 649-658). Oedipus' Reaktion auf die Unterwelterzählung beweist, daß er von langer Hand die mimetische Angleichung inszeniert hat, um die Tradition listig für sich zu verwenden: Er bezichtigt sowohl Tiresias als auch Kreon der Verschwörung (vgl. 668-670). Mimetische Angleichung und Erpressung des Wissens, die curiositas, dienen wiederum dazu, die eigene Unschuld herzustellen. Ebenso ist im Leo Armenius die Aufschiebung der Hinrichtung ein nur scheinbares Zugeständnis an die Tradition. Zunächst gehen der Diskussion mit Theodosia die Beratungsrede mit den Richtern und ein zweites Gespräch mit Michael voran, die nicht erwarten lassen, daß Leo sich auf den Vorschlag der Kaiserin einlassen werde. Auch diese Szenen stehen im Zeichen von Leos curiositas und geben ihm Gelegenheit, seine vermeintliche Humanität unter Beweis zu stellen. Im Gespräch mit den Richtern vermittelt er zu Beginn, daß er sich dem Diktat der Richter beugen werde. Seine Frage ist aber an sich überflüssig und inszeniert nur weiter seine Gewissensqual: „Was dünkt Euch zu dem fall?" (Leo. Arm. II. 216). Wenn Solbach feststellt, daß Leo die Beratungsrede „aus kaltem politischen Kalkül" abhalte, da in der Folge diskutiert werde, wie groß der Einfluß Michaels beim Volk sei,207 trägt er Leos Intention nicht Rechnung. Unübersehbar ist die exklusive Stellung, die der Kaiser

207

Solbach: Politische Theologie Leo Armenius, S. 414.

und

Rhetorik

in

Andreas

Gryphius'

Trauerspiel

64 sich selbst verleiht. Er distanziert sich von der Interessengruppe, die die Staatsräson vertritt und zu der er eigentlich gehört: Jhr schliesset seinen todt" (II. 313). Gegenüber Michael, der die „Liebe" und die „Natur" (II. 377) ins Feld fuhrt und bittet, an seine Kinder schreiben zu dürfen, zeigt er sich unerbittlich. Die Strafe werde „durch auffschub" (II. 383) nur geschwächt. Während sich Leo in dieser Szene als unbeugsamer Herrscher zeigt, dem Unrecht angetan worden sei und der deshalb gezwungen sein werde, gegen sein Gewissen und konform dem neuen konstruierten Naturrecht zu strafen, gibt er nach der Diskussion mit Theodosia scheinbar dem traditionellen Rechtsgedanken Raum. Leos Einlenken wird gerne damit erklärt, daß ihn die Kaiserin zum Handeln dränge. Für Szondi handelt es sich um einen Drang aus religiösem Wahn.208 Kaiser hält Theodosias „Frömmigkeit" für die Ursache, spricht aber Leo christliche Motive ab.209 Raffy meint, „Leos Nachsicht" resultiere aus „blinder Liebe zu seiner Frau, der er nichts zu verweigern vermag".210 Evident ist zwar, daß den Kaiser wohl kaum echt religiöse Motive treiben und er nicht aus „Edelmut" die Hinrichtung aufschiebt,211 zweifelhaft aber, ob wirklich das Bitten seiner Frau dafür verantwortlich ist. Raffy führt Leos Leidenschaft als Ursache an, „Schwäche" und „Angst um seinen irdischen Status", weil seine Gegner durch die Gotteslästerung gereizt würden.212 Tatsächlich gibt Leo aber nur zum Schein nach, vollzieht die mimetische Angleichung an die Tradition und akzeptiert die Motive der Kaiserin, um dem Beweis seiner Unschuld noch Raum geben zu können. Auch in dieser Szene versäumt er es nicht, deiktisch seine eigene Sanfmut und allgemeine Tugendhaftigkeit zu preisen (vgl. 11.451, 453). Entscheidungsqualen und Aufschub der Hinrichtung gehören zur Inszenierung der Zerreißprobe zwischen altem und neuem Naturrecht und vertuschen den eigentlichen Antrieb, das schuldhafte Gewissen zu beruhigen. Sie sind Bestandteile der List auf der Basis des kultischen Weihnachtsfestes. Die Aufschiebung der Hinrichtung ist ein listiges Zugeständnis an die Tradition, an diejenige des Glaubens und des Gewissens. Ebenso wie sich Oedipus zum Schein auf die Opferhandlungen und den Unterweltsgang einläßt, akzeptiert Leo die traditionellen Ansprüche des stoisch-christlichen Naturrechts nicht aus wahrer Überzeugung, sondern um Zeit zu gewinnen.

208 vgl. Szondi: Versuch über das Tragische, S. 232. Vgl. Kaiser: Leo Armenius, Oder Fürsten=Mord, S. 11. 209 210

211

212

Vgl. ebd. Raffy: Leidenschaft und Gnade in Gryphius' Trauerspielen, S. 195. Vgl. i. Hermann Tisch: Andreas Gryphius. Leo Armenius. Hobart 1968, S. 25. Willi Flemming: Einblicke in den deutschen Literaturbarock. Meisenheim am Glan 1975 (Deutsche Studien 26), S. 88. Ebd.

65 So kann er weiter durch Neugierde an seinem Selbstbild arbeiten und versuchen, Zeichen seiner Unschuld in Erfahrung zu bringen. In Senecas Oedipus geben die Haruspizien und Kreons Bericht aus der Unterwelt an sich schon deutlich genug zu verstehen, daß der Protagonist im Sinne des stoischen Naturrechts schuldig geworden ist. Auch Tiresias läßt daran keinen Zweifel. Ebenso ist Theodosias Plädoyer für Gnade ein Indiz für Leos Vergehen und der Aufruf zur Sühne. Eine deutlichere Anfechtung des Gewissens aber ist die Traumerscheinung des Tarasij Geist, zu vergleichen mit Kreons Unterweltsbericht: Beide lassen die Stimme des Gewissens sprechen und fordern die Vernichtung der Könige wegen Verletzung der lex naturae. Spätestens zu diesem Zeitpunkt müßte Leo die Wahrheitssuche auf sich beruhen lassen, um Schlimmeres zu verhindern.213 Die Erscheinung des Tarasij Geist wirft ihn, wie der Unterweltsbericht Oedipus, unerbittlich auf sich selbst zurück. Zum ersten Mal wird hier zur Sprache gebracht, was bisher nur schweigend vom Kaiser erwogen wurde: die eigene Schuldhaftigkeit, der Verstoß gegen das „gerechte Recht" (III. 71), seine Untreue (vgl. III. 69), seine superbia, sein Frevel gegen Gott.214 Die Fehleinschätzung der Wirklichkeit, die Entlarvung des Selbstentwurfes als nicht eingelöstes Konstrukt, das herrscherliche, wenn auch erzwungene Handeln gegen die Natur werden hier bewiesen durch eine besondere Art der Selbstprüfung: durch Zwiesprache mit sich selbst, durch die Konfrontation mit dem eigenem Gewissen. Der Kaiser läßt sich aber nicht auf die Stimme seines Gewissens ein. Er nimmt die Verurteilung Michaels nicht zurück, sondern der Traum veranlaßt ihn dazu, weiter nach Wissen zu suchen, das ihn von Schuld befreien könnte. Leo ist wie Oedipus der „Macht über die Realität" beraubt, die er glaubt durch Empirie zurückerlangen zu können.215 (c) Die curiositas gipfelt schließlich in beiden Dramen in dem Verlangen, sichtbare Zeichen zu erfahren. Im Oedipus lassen der Greis von Korinth und der betagte Hirte Phorbas die Vergangenheit lebendig werden. Ein äußeres Ereignis treibt die Enthüllung voran. Der Tod des vermeintlichen Vaters Polybus in Korinth ruft Oedipus zu seiner angeblichen Mutter Merope zurück. Der Greis entdeckt ihm nun seine wahre Herkunft und die Ursache seines Namens: Was Orakel, Haruspizien und Kreons Gang in die Unterwelt nicht vermochten, enthüllt untrüglich das Ineinanderfallen von Namen und Zeichen. Die Wunden in den einst von Eisen durchbohrten Fußgelenken sind die sinnlich erfahrbaren Indizien der Schuld, der Oedipus

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Vgl. Manfred Lefevre: Der Deus ex machina in der deutschen Literatur. Untersuchungen an Dramen von Gryphius, Lessing und Goethe. Diss., Berlin 1968, S. 100. Vgl. Günter Rühle: Die Träume und Geistererscheinungen in den Trauerspielen des Andreas Gryphius und ihre Bedeutung für das Problem der Freiheit. Diss., Frankfurt am Main 1952, S. 71. Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama, S. 111.

66 nun nicht mehr ausweichen kann. Die Empirie hebt seine „physische Blindheit" auf.216 Unzweifelhaft beweist der Augenschein, daß er als Kind ausgesetzt wurde. Die Wunden zeichnen sich unvergeßlich an seinem Körper ab. Merope kann nicht seine wahre Mutter sein. Sollten untrügliche Zeichen ihn nach seiner Vorstellung von der Schuld entlasten, bewirken sie genau das Gegenteil. Die verletzte Natur hat ihre Spuren auf der Oberfläche seines Körpers eingegraben, deren Bedeutung sich ihm erst jetzt, nachdem er lange Zeit andere Instanzen befragt hatte, erschließt. Die verspätete Neugierde fur seinen Namen und Körper ist Kennzeichen fur seine bis jetzt praktizierte π ο λ υ π ρ α γ μ ο σ ύ ν η , die eine andere persona als Maske, den Herrscher, herzustellen versuchte. Das öffentliche Wohl gebietet, von der curiositas abzusehen (vgl. Oed. 829-832), um die äußeren, unsichtbaren Strukturen der Macht aufrechtzuerhalten. Die Kongruenz von Name und Zeichen und ihre übermächtige Bedeutsamkeit bestätigt aber schließlich auch der Hirte Phorbas, indem er die wahre Mutter nicht verschweigt (vgl. 857-859, 868). Ewig erinnert die Natur denjenigen, der ihre Gesetze verletzt hat, an seine Schuld. Sie kann nicht durch forschende Neugierde zum Schweigen gebracht werden. Deshalb entfaltet rückwirkend im letzten Chorlied der Ikarus-Mythos seinen Sinn über dem Geschehen. Vermessen strebt Ikarus danach, mit neuen Künsten die wahren Vögel zu übertreffen, die Natur zu besiegen, weil er kühn und neugierig nach den Sternen greift (vgl. 892-898). Daedalus versucht, mit bisher unbekannter Kunstfertigkeit, Natur zu ,erneuern' (vgl. Ovid, Met. 8. 188f.)·217 Der Ikarus-Mythos fungiert auch in Senecas übrigen Schriften als Beispiel für die illegitime Überwindung der Natur durch die Kunst. Dem Erfinder der Wachsflügel spricht Seneca in seinem kulturkritischen 90. Brief die Weisheit ab. Er ist zwar ein Künstler, aber kein sapiens (vgl. Ep. 90. 14). Dem Künstler aber verweigert sich die Natur. In Anspielung auf Ikarus heißt es in De Providentia: „Non potest artifex mutare materiam" {Deprov. 5. 9). Dasselbe gilt fur Oedipus. Den ,Stoff, die Natur, vermag er nicht zu ändern. Seine listige Neugierde stürzt ihn ins Verderben. Gleichwohl könnte man einwenden, daß das fatum den Ausgang so und nicht anders vorschreibe. Der Oedipus ist aber keineswegs nur eine „reine Fatumstragödie". 218 Seneca hat sein Drama so gestaltet, daß die curiositas eindeutig negativ konnotiert ist, weil sie versucht, die Natur zu verändern und Bedingungen zu schaffen, die nicht existieren. Sein Oedipus ist deshalb eine Exemplifizierung seiner Wissensphilosophie, die Polymathie und Neu-

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Gerhard Müller: Senecas Oedipus als Drama. In: Senecas Tragödien, S. 376-401, hier S. 386. Zitiert wird nach der Ausgabe: Publius Ovidius Naso: Metamorphoses. Ed. William S. Anderson. Stuttgart, korrigierter Nachdruck der 5. Aufl. 1993. Müller: Senecas Oedipus als Drama, S. 395.

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gierde als Eigenschaften des occupatus dann nicht zuläßt, wenn diese gewaltsam und listig die Stimme des Gewissens zum Schweigen bringen. Gemäß der lex naturae hätte Oedipus ohnehin nicht mehr leben können, aber er hat sich noch einmal vergangen, indem er die Tradition, das Orakel und den Gott in sich, ungehört ließ. Ebenso treibt die Sucht nach eingängigen Zeichen Leo in den Kerker. Die Tradition, die Stimme seines Gewissens, die er in der Traumerscheinung deutlich vernimmt und die bereits Theodosia durch ihre Bitten vernehmen ließ, soll durch Empirie widerlegt werden. Dies ist der Antrieb seiner Neugierde. Von den sichtbaren Zeichen, die sich ihm unverstellt darbieten sollen, erhofft er Erlösung von seiner Schuld. Für Kaminski erschließt sich beim Gang in den Kerker erst die wahre significatio des ersten Reyen, da sich Leo nach der Traumerscheinung der umfassenden „Polysemie der Zeichen" ausgesetzt sehe, die der Reyen durch seinen Hinweis auf die „Ambivalenz und Polysemie menschlicher Rede" problematisiere.219 Abgesehen davon, daß diese significatio, wie schon erläutert, zu kurz greift,220 sind zwei weitere Einwände zu machen. Erstens ist Leo der Polysemie nicht erst jetzt ausgesetzt, sondern bereits von Anfang an. Er inszenierte aber zusätzlich theatralisch, wie gezeigt wurde, seine Ausgesetztheit an eine irritierende Zeichenwelt zugunsten des eigenen Selbstbildes. Zweitens wäre zu überlegen, ob die Polysemie der Zeichen nicht gerade im Kerker aufgehoben ist, da Leo jetzt „hinter die trügerische Fassade der Dinge" blickt,221 und diese nicht mehr für sich verwenden kann. Seine Furcht findet sich zum ersten Mal ,sinnlich' bestätigt: Der Gang der Handlung ist derjenigen des Oedipus analog. Vermochten dort Andeutungen wie das Orakel, die Haruspizien und der Gang in die Unterwelt trotz jeweilig sich steigernder Signifikanz den Protagonisten nicht davon abzuhalten, weiter eine künstliche Wirklichkeit konstruieren zu wollen, und findet seine curiositas schließlich ein Ende, als er auf sich selbst zurückgeworfen ist, so wird auch Leo, als er sich aufmacht, die Schuld des anderen „in Augenschein" zu nehmen {Leo. Arm. III. 220), mit sich selbst konfrontiert: mit einem, der seine Macht abzugeben hat, weil er unrechtmäßig Macht ausgeübt hat. Unabhängig davon, ob Leo die Sinne täuschen, ob er wacht oder träumt, spricht der Wert der Erscheinung für sich. Zum ersten Mal nämlich erscheint ihm tatsächlich die sinnfällige Konfiguration der Wahrheit im verkleideten Michael,222 die Verletzung des christlich-stoischen Naturrechts. 219 220 221 222

Kaminski: Andreas Gryphius, S. 92. Vgl. oben, S. 31 f. Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln, S. 90. Die Situation reflektiert am Rande das Faktum, daß Kleiderordnungen unterlaufen wurden, entweder, weil ihre Vorschriften unübersichtlich waren, oder um bewußt Irritationen her-

68 Die Wahrheitssuche ist abgeschlossen, da Leo „selbst gesehn" hat (III. 241): „diß ist die letz'te nacht / die unß der Himmel gönn't" (III. 265f.). Exabolius und Nicander übernehmen in gewisser Hinsicht die Rolle der Greise im Oedipus. Obwohl beunruhigt, plädieren sie dafür, den Traum und die Erscheinung im Kerker auf sich beruhen zu lassen (vgl. III. 266f., 276) und die bestehende Ordnung nicht als gefährdet zu betrachten. Der fünfte Eingang bestätigt, daß weniger der Aufschub der Hinrichtung als vielmehr Leos Neugierde, das Verlangen nach eindeutigen Zeichen, die Katastrophe herbeifuhrt. Erst dadurch, daß Leo im Kerker erscheint, sinnt Michael auf Flucht. Den Plan, durch List seine Flucht zu ermöglichen, faßt er erst jetzt, da er sich plötzlich vor einer grausamen Folter zu furchten beginnt (vgl. III. 331) - , wobei man sich fragt, was eigentlich diese Furcht motiviert. Daß die Tragödie an dieser Stelle sehr konstruiert wirkt, ist vermutlich kein Zufall. Der Anschein, daß der Glaube den Mord an Leo provoziert, sollte vermieden werden. Stattdessen qualifiziert die Szene deutlich Leos curiositas als Auslöser für die Katastrophe. Ebenso wie Oedipus scheitert Leo an der immer seienden Natur, deren ewiges Gesetz er nicht durch die gewaltsame Konstruktion einer künstlichen Oberflächenstruktur mit Hilfe von Neugierde zum Schweigen bringen kann. Im Oedipus verbirgt sich das stoische Naturgesetz im ewig gültigen Orakelspruch, im Leo Armenius in der drohenden Verschwörung, die den Kaiser daran erinnert, daß er die lex naturae verletzte und daß sein Staat sich nicht mehr auf dieses Gesetz gründet. Er versucht nun, sich gegen die Stimme des Gewissens zu behaupten. Dabei inszeniert er einen ideengeschichtlichen Streit zwischen altem und neuem Naturrecht. Er ist neugierig bestrebt, Wissen anzusammeln, das ihn als einen Herrscher ausweisen soll, der naturgemäß lebt und der zu Unrecht angegriffen wird. Sein Zögern, gemäß der ure-seca-Formel zu handeln, gemäß dem Naturrecht als Vertragsrecht, dient der Bewahrheitung dieses Selbstbildes. Er entzieht sich der Wissensordnung des ersten Reyen, um seinem Handeln den Anschein von Humanität zu verleihen. Dabei versucht er, durch Neugierde gewaltsam Wissen zu produzieren, das in der Realität keine Grundlagen hat. Die Konstruktion von Wissen kapituliert aber vor der Natur des Menschen. Während die öffentliche Ordnung auf der Wissensordnung aufgebaut ist, die der erste Reyen repräsentiert und die die Aussonderung der Instanz des Gewissens fordert, beweist die menschliche Praxis, daß sich die Natur des Menschen dieser Ordnung entzieht, daß ihm das konstruierte Naturrecht nicht gerecht wird. Das Wissen des Kaisers, seine scientia um die Erlan-

vorzurufen. Vgl. Volker Sinemus: Stilordnung, Kleiderordnung, Gesellschaftsordnung. In: Stadt-Schule-Universität-Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Hrsg. von Albrecht Schöne. München 1976 (Vorlagen und Diskussionen eines Barock-Symposiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1974 in Wolfenbüttel), S. 22—43, hier S. 3 4 35.

69 gung und Sicherang der Macht, sein technisches Herstellungsvermögen im Bereich des Staatsapparates, versagt vor der Natur ,Mensch', vor dem einzelnen Individuum, sei es, daß das Selbst, sei es, daß ein anderer Objekt der Konstruktion ist. Der Naturbeherrschung, die im ersten Reyen angedeutet wird, entzieht sich der Mensch, da offensichtlich die notwendige Einnahme des archimedischen Punktes hier nicht möglich ist. Ein unverfügbarer Rest, das Gewissen, stellt Ansprüche. Die letzte Strophe des dritten Reyen ist mit dem letzten Chorlied des Oedipus und seiner durch den Ikarus-Mythos vermittelten Aussage zu vergleichen. Der Verstand, der „Recht herstellt und aufhebt" und den das Kopernikus-Gedicht preist,223 der grenzenlos Wissen ansammelt, um Welt zu konstruieren, kann das stoisch-christliche Naturgesetz, seine ewige Anforderung nicht erkennen: Wir / die alles uns zu wissen / Von der ersten zeit / beflissen: Können gleichwohl nicht ergründen: Was wir täglich vor uns finden. Die der Himmel w a m ' t durch zeichen: Können kaum / ja nicht / entweichen Auch viel / in dem sie sich den tod bemüht zu fliehen Siht man dem tod' entgegen ziehen. (Leo Arm. III. 4 0 3 ^ 1 0 )

Das antike wie auch das barocke Drama können als Parabeln fur die Frage gelesen werden, inwieweit der Mensch zugunsten seiner Selbstbehauptung Wissen erwerben soll, wenn dieses Wissen nicht der sapientia dient, sondern dazu, die Stimme des Gewissens abzuweisen. Im Zentrum der beiden Dramen steht der Mensch, der expansiv nach Wissenszuwachs strebt, mit dem Ziel der Kontrollausübung und Herrschaft über seine Lebenswelt, der aber deshalb scheitert, weil er durch curiositas die Prämisse des naturgemäßen Lebens aus dem Blick verliert. Beide Tragödien favorisieren dabei nicht etwa eine wissensfeindliche Grundhaltung, sondern stellen die Aporien einer expandierenden menschlichen Neugierde am einzelnen dar, der wegen Wissensdurst die Ansprüche des ewigen Gesetzes nicht befolgt. Die Paränese, daß Wissen und Weisheit, scientia und sapientia als Einheit nicht ein der göttlichen Wahrheit zuwiderlaufendes Konstrukt von Welt errichten, sondern der Erkenntnis der christlich-stoischen lex naturae dienen sollen, ist die zentrale Gemeinsamkeit beider Dramen. Sie plädieren beide für die sokratische Wendung. Mit der beiden Dramen inhärenten Kritik am Wissensdrang ist die Aufforderung, sich dem christlich-stoischen Naturrecht zu verpflichten, untrennbar verbunden. Überdies wirft aber Gryphius' Drama auch die Frage auf, ob die Tradition der Entscheidungsfähigkeit und dem Handeln im

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Friedrich Gaede: Gryphius und Grimmelshausen als Kritiker des endlichen Verstandes. In: Simpliciana 2, 1980, S. 4 3 - 5 1 , hier S. 44. Vgl. oben, S. 22.

70 Wege steht und den katastrophalen Ausgang herbeifuhrt, der ohne sie vielleicht nicht eingetreten wäre.

IV. Allegorese und stoische Naturbetrachtung als rastlose Weltgestaltung in Gryphius' Dramen Catharina von Georgien und Papinian Gryphius' erstes Drama Leo Armenius gab der Forschung bisher die größten Schwierigkeiten auf. Im Vergleich zu dieser Tragödie bieten Catharina und Papinian einen offenbar viel leichteren Zugang, weil die Vorbildhafltigkeit der beständigen Stoiker unzweifelhaft ist, zumindest auf den ersten Blick. Mögen hier die Protagonisten auch beharrlich Widerstand gegen die Tyrannen leisten, so fragt sich aber, ob sie vor dem Hintergrund der Senecaischen Kulturphilosophie tatsächlich als sapientes bezeichnet werden dürfen. Wie Kaiser Leo, so lautet die These, haben sie in ihrem Leben als rastlose politici gegen das stoisch-christliche Naturrecht verstoßen. Als sie schließlich das naturgemäße Leben aktualisieren, nehmen sie beide das Verhältnis zur unberührten Natur auf und berufen sich in ihrem Widerstand auf die lex naturae, allerdings jeweils mit verhängnisvollem Ausgang. Meine Interpretation der beiden Dramen widmet sich der Analyse der Hauptfiguren unter zwei Aspekten: Erstens versuche ich nachzuweisen, daß weder Catharina noch Papinian als echte Stoiker zu bezeichnen sind, weil sie in der ersten Phase ihrer Existenz als politisch Tätige nicht auf der Basis des Gewissens handeln. Zweitens möchte ich das Naturverhältnis, das sie schließlich im Widerstand handelnd aktualisieren, unter hermeneutischen Gesichtspunkten betrachten. Allegorese und stoische Kosmosvision sind verwandte Formen der Gotteserkenntnis, weil beide die Sinneswahrnehmung von Bildern und deren Verarbeitung durch den Intellekt zur Voraussetzung haben. Die zentrale Frage lautet, unter welchen Voraussetzungen die Protagonisten, obwohl sie eine traditionelle Deutung der Wirklichkeit vornehmen, nicht verstanden werden. Inwiefern reflektieren die Dramen auf die Lutherische Hermeneutik des Wortes, welche dem Menschen die Möglichkeit abspricht, Gott aus der Natur zu erkennen? Die Interpretation wird wiederum von der Lyrik ausgehen. Anhand des Gedichtes Einsambkeit sollen die Grundregeln des allegorischen Verfahrens beispielhaft in Erinnerung gerufen und die Verwandtschaft mit der stoischen Naturbetrachtung deutlich gemacht werden. Schließlich ist zu diskutieren, inwiefern sich die Forschung sowohl zur Lyrik als auch zur Dramatik mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob und wie sich Luthers Hermeneutik des Wortes auf das Verständnis der Allegorese ausgewirkt hat.

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Neben den kulturphilosophischen Gedanken aus den Briefen und Dialogen Senecas wird als intertextueller Referenztext zu den Gryphschen Tragödien der Senecaische Thyestes herangezogen. Seneca verarbeitet dasselbe Thema: Die - hier erzwungene - Flucht eines ehemaligen occupatus aus seiner Kultur und die Hinwendung zum naturgemäßen Leben. In allen drei Dramen schlägt der Versuch, den Gedanken einer göttlichen Allverbundenheit auch konsequent in der Lebenspraxis durch ethischen Rigorismus zu aktualisieren, auf je unterschiedliche Weise fehl. In Gryphius' Dramen erinnert die Kritik der Außenwelt an den eigensinnigen Kämpfern fiir das Recht an die Bewertung der stoischen Philosophie, die Hegel und Hannah Arendt vornahmen: Das Denken, so Hegel, das die stoische Philosophie betreibe, gewähre zwar die „Unerschütterlichkeit des Menschen in sich selbst", aber es sei rein abstrakt, da es sich selbst zum „Gegenstand" mache.224 Hannah Arendt bewertet das stoische Denken als ein „Fluchtmittel",225 mit dem man sich „aus der Welt hinausdenkt."226 Es gewährleiste eine „scheinbar sichere Zuflucht vor der Wirklichkeit."227 Abgesehen davon, daß sowohl Hegel als auch Arendt die Hermeneutik der stoischen Philosophie, die ja gerade die Verbindung zur Wirklichkeit und zur Wahrheit sucht, nicht beachten und infolgedessen unangemessen vernichtende Urteile sprechen, wird dennoch zu fragen sein, ob der am Ende praktizierte Stoizismus im Drama nicht genau dieser Kritik unterliegt: Soll sich eine Philosophie, die ein traditionelles Weltbild voraussetzt, durchsetzen, oder gefährdet sie nicht vielmehr als Eigensinn die Sicherheit des Staates?

1. Stoische Erkenntnistheorie und Allegorese im Kontext der Lutherischen Hermeneutik: Senecas 41. Brief und Gryphius' Gedicht Einsambkeit Stoische Erkenntnistheorie und Allegorese sind verwandte Formen der Gotteserkenntnis. In Senecas 41. Brief über den ,Gott in uns' sieht sich der Betrachter jenseits jeglicher Kultur einer unberührten Natur gegenüber, ohne daß der Eindruck von Verlassenheit oder Wildheit zu ahnen wäre. Das Göttliche ist dem Menschen, der gemäß der Natur lebt, präsent und läßt die Erfahrung der Einsamkeit nicht aufkommen.

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Georg Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Frankfurt am Main 1978 (Werke. Bd. 12), S. 385. Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Das Denken / Das Wollen. Hrsg. von Mary McCarthy. Aus dem Amerikanischen von Hermann Vetter. München, Zürich 1998, S. 163. Ebd., S. 160. Ebd., S. 157.

72 Um das Göttliche zu erkennen, empfiehlt Seneca einen Spaziergang im Wald. In der geheimnisvollen Atmosphäre des Waldes, unter den Kronen uralter Bäume und in der unmittelbaren Nähe von Grotten, die nicht von Menschenhand ,gemacht' sind, sowie neben den Quellen großer Flüsse spürt die Seele eine Ahnung des Göttlichen. Wasserfalle sind die Altäre, aber auch ruhige Teiche und tiefgründige Seen sind Ausdruck göttlicher Allgegenwart in der unberührten Natur (vgl. Ep. 41. 3). Dort wird sich die Seele des göttlichen Samens bewußt, der sie seit ihrer Geburt mit dem Logos verbindet (vgl. Ep. 41.5). Nur diese Verbundenheit ist ihr wahres Eigentum, aus ihr resultiert die Fähigkeit des Menschen, das Gute zu erkennen und handelnd zu aktualisieren. Jeder äußere Glanz, den die Kunst bewirkt, ist wertlos und kein wahrer Besitz (vgl. Ep. 41. 6f.). Die Vernunft fordert von der Seele, den eigenen Besitz zu entdecken und für die sittliche Vervollkommnung fruchtbar zu machen. Dies ermöglichen der Aufenthalt in der unberührten Natur und der Kontakt mit dem Göttlichen; Voraussetzungen fur das naturgemäße Leben (vgl. Ep. 41. 7 f.).228 Eine entsprechende Situation des Menschen fern von Kultur und zivilisatorischer Betriebsamkeit exponiert Gryphius in seinem Gedicht Einsambkeit. Hier stellt sich die Ahnung des Göttlichen, die religionis suspicio (vgl. Ep. 41. 3), erst allmählich und angesichts einer wilden und zunächst profanen Natur ein. Die Grunderfahrung ist die der Einsamkeit und Gottverlassenheit: Einsambkeit In dieser Einsamkeit / der mehr den öden wüsten / Gestreckt auff wildes Kraut / an die bemößte See: Beschaw' ich jenes Thal und dieser Felsen höh' Auff welchem Eulen nur und stille Vögel nisten. Hier fem von dem Pallast; weit von des Pövels lüsten / Betracht ich: wie der Mensch in Eitelkeit vergeh' Wie auff nicht festem grund' all unser hoffen steh' Wie die vor abend schmähn / die vor dem tag uns grüßten. Die Höell / der rawe wald / der Todtenkopff / der Stein / Den auch die zeit aufffrist / die abgezehrten bein / Entwerffen in dem Mut unzehliche gedancken. Der Mauren alter grauß / diß ungebaw'te Land Ist schön und fruchtbar mir / der eigentlich erkant / Das alles / ohn ein Geist / den GOt selbst hält / muß wancken. 2 2 9

Ein grundlegender Unterschied zur stoischen Naturbetrachtung besteht hier darin, daß menschliche Anstrengungen nötig sind, um den zunächst vorherrschenden Eindruck einer profanen Natur zu überwinden und sie als Buch Gottes zu begreifen. Die Brücke zur Erkenntnis des Göttlichen muß

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Vgl. dazu Klauck: „Der Gott in dir" (Ep. 41 1). Autonomie des Gewissens bei Seneca und Paulus, hier S. 19f. Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Bd. 1: Sonette, S. 68.

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durch Versinnbildlichung und eigentlich paradox anmutende Ausdeutung geschaffen werden. Der Betrachter vermag den Eindruck der Gottverlassenheit durch eine geistige Naturbetrachtung zu überwinden. Die Erfahrung, die religionis suspicio, ist zwar dieselbe, wie sie der Spaziergänger im Wald in Senecas Brief macht, allerdings unter anderen Voraussetzungen: Die Brücke zur beseelten Natur muß erst auf verschiedenen Stufen durch Meditation geschaffen werden. Sieht sich aber der einzelne in diesem Gedicht einer wilden Natur gegenüber, deren Sinn er entschlüsseln muß, um den Abstand zu Gott aufzuheben, und ist für den Senecaischen Waldspaziergänger diese Kluft kraft des allwaltenden Weltlogos nicht vorhanden, so besteht die Gemeinsamkeit zwischen allegorischer und stoischer Weltdeutung darin, daß die „nichtsprachliche Wirklichkeit" als „Sinngebilde" auf vorgegebene Zusammenhänge verweist. 230 Sie ist sowohl fur den christlichen Allegoriker als auch für den Stoiker das „ontologische Fundament" der Ethik.231 Die Erkenntnis des ewigen Guten vollzieht sich durch Beobachtung der Wirklichkeit und durch einen Vergleich der beobachteten Dinge. Erst durch diese Synthese von Kontemplation und Aktion kommt es zum Wissen im eigentlichen Sinne, zur scientia des Ewigen. Sowohl in der stoischen Erkenntnistheorie als auch in der Allegorese spielt die Analogie eine wichtige Rolle. Seneca beschreibt dem fiktiven Interlokutor seines Briefes die Erkenntnis des Guten folgendermaßen: Nunc ergo ad id reverter de quo desideras dici, quomodo ad nos prima boni honestique notitia pervenerit. Hoc nos natura docere non potuit: semina nobis scientiae dedit, scientiam non dedit. Quidam aiunt nos in notitiam incidisse, quod est incredibile, virtutis alicui speciem casu occucurrisse. Nobis videtur observatio collegisse et rerum saepe factarum inter se conlatio; per analogian nostri intellectum et honestum et bonum iudicant. (Ep. 120. 4)

Foucault hat das Denken in Ähnlichkeiten und die analogia entis als konstitutives Prinzip für die Episteme über die Natur beschrieben. 232 In seiner Theorie ist das System der Signaturen noch bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts intakt und verbindlich. Foucault beschreibt das Lesen des mundus symbolicus als einen hermeneutischen Akt, in dem der Betrachter der Natur die Zeichen sprechen läßt und ihren Sinn entdeckt. 233 Die Form der Erkenntnis ist Entdeckung und Interpretation, wobei das Ausgedrückte ohne das Zeichen ein schlafendes, stummes Wort bleiben würde: „Connaitre sera done interpreter: aller de la marque visible ä ce qui se dit ä travers eile, et demeurerait, sans eile, parole muette, ensommeillee dans les choses." 234 Für

230 231 232 233 234

Forschner: Über das Handeln im Einklang mit der Natur, S. 13. Maximilian Forschner: Die stoische Ethik, S. 40. Vgl. Foucault: Les mots et les choses, S. 4 0 ^ 5 . Ebd., S. 44. Ebd., S. 47.

74 das Ende der nicht hinterfragten Übereinstimmung von Zeichen und Bedeutung, von Sprache und Welt, macht Foucault einerseits die Rhetorik und die Repräsentationskultur verantwortlich, andererseits, aus philosophiegeschichtlicher Perspektive, Bacons und Descartes' Prämisse der Sinnestäuschung. 235 Eine Diskontinuität im Denken, welche durch die „erosion du dehors" bedingt ist, kündigt sich an.236 Die Eigenart der Literatur bestehe nun darin, daß sie einen künstlichen Bezug zwischen Sprache und Welt wiederherstelle. Die Beziehung zwischen Sprache und Welt erschöpfe sich aber in einer nurmehr ostentativen Benennung der Dinge durch Zeichen, die dekorativ und repräsentativ Elemente des rhetorischen Apparates seien.237 Foucaults Theorie erinnert an Walter Benjamins Genealogie des Allegoriebegriffs. Auch Benjamin sieht im 17. Jahrhundert ein im Vergleich zum Mittelalter verändertes Wesen der Allegorie. Der Allegoriker selbst verleiht der stummen Natur spielerisch Zeichen und Bedeutung. 238 Kann anhand des Gedichts Einsambkeit Foucaults Bruch im System der Episteme nachvollzogen und behauptet werden, daß es sich bei dieser Naturbetrachtung um eine künstliche und ostentativ hergestellte Übereinstimmung von Mikro- und Makrokosmos handelt? In den bisherigen Interpretationen zum Gedicht wird die Verbindlichkeit des mundus symbolicus nicht bestritten. Es transferiert, so scheint es, noch eine intakte mittelalterliche Weltanschauung. Wegweisend war Dietrich Walter Jons' Interpretation des Gedichts. Jons stellt die lyrische Naturbetrachtung in den Kontext mittelalterlicher Bibelallegorese und der theologia naturalis und begreift das Sonett als „poetische Gestaltung einer geistlichen Naturbetrachtung". 239 Er wertet die Dinge als „Abbilder einer spirituellen Wahrheit", 240 die auf eine , jenseits alles Sichtbaren liegende Wirklichkeit" verweisen. 241 Die Dinge in der Natur verhüllen so als Schöpfung Gottes, als creatura, immer eine ewige und absolute Wahrheit. Das Ding ist in dieser geistlichen Betrachtung ursprünglich Träger vielfacher Bedeutungen, deren im Kontext relevante significatio sich erst durch Meditation erschließt.242 Betrachtung und Enthüllung der richtigen Bedeutung fuhren zur cognitio dei. Das „entwerffen" (11) zeigte den Beginn der Gotteserkenntnis an, die sich im letzten Vers ausdrückt.

235 236 237 238 239

240 241 242

Vgl. ebd., S. 57-59, S. 65. Ebd., S. 64. Vgl. ebd., S. 58. Vgl. Benjamin: Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 359-361. Dietrich Walter Jons: Das „Sinnen-Bild". Studien zur allegorischen Bildlichkeit bei Andreas Gryphius. Stuttgart 1966, S. 86. Ebd., S. 88. Ebd., S. 89. Vgl. Friedrich Ohly: Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter. Darmstadt 1966, S. 7.

75 In Jons' traditioneller Deutung verweisen die konventionellen Bilder der Verlassenheit, des locus desertus,243 und der Vergänglichkeit auf die allgemeine Weisheit, die vanitas der irdischen Welt: Die „öden wüsten" (1), „wildes Kraut" und die „bemößte See" (2), „Eulen" und „stille Vögel" (4) prägen den zunächst vorherrschenden Eindruck einer profanen Natur. Auf einer ersten Stufe hebt die Versinnbildlichung diesen Eindruck auf: Der „rawe wald / der Todtenkopff / der Stein" (9) und die „abgezehrten bein" (10) sind einige der Requisiten, die der Emblematiker als Sinnbilder der vanitas identifiziert. Die Erkenntnis bezieht sich aber nicht allein auf irdische vanitas: In diesem „Sichtbaren und Zeitlichen", den visibilia, erkennt der Betrachter den ewigen „Gott als Schöpfer und Erhalter alles Seienden", weshalb sich schließlich die Betrachtung auch dieses einsamen und schauerlichen Ortes paradoxerweise als „fruchtbar" (13) erweist.244 Der meditierende Gläubige versichert sich der Ewigkeit und Notwendigkeit des göttlichen Geistes auch für die Existenz des Irdischen. „Und wie alles Geschaffene", so Jons, „auf den Schöpfer" verweise, so seien „auch diese Dinge Sinnbilder seiner Wirklichkeit." 245 Mauser schließt sich dieser Interpretation an, wobei er stärker als Jons den vawto-Aspekt betont. Die Meditation vollziehe sich im Beschauen, Betrachten, Gedankenentwerfen und dem eigentlichen Erkennen im „Hinblick auf die eschatologische Bestimmung des Menschen." 246 Außerdem weist Mauser die Schritte der traditionellen Schrift-Exegese auf der Basis des vierfachen Schriftsinnes nach.247 Wichtig ist die Übereinstimmung mit Jons, daß die Meditation der zentralen „Korrelation Bild-Gedanke" unbedingt bedürfe. 248 Unberührt von Benjamins oder Foucaults Theorien - letztere war Jons noch nicht zugänglich - legen diese traditionellen Interpretationen das allegorisch-christliche Weltbild des Mittelalters zugrunde. Die Entzifferung der

243

Vgl. Klaus Garber: Der locus amoenus und locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts. Köln, Wien 1974, S. 254; vgl. dazu auch Helen Watanebe-O'Kelly: Melancholie und die melancholische Landschaft. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts. Diss., Bern 1978, S. 71. Die Autorin spricht von einer „Inversion des locus amoenus" bei Gryphius (S. 72). 244 Jons: Das „Sinnen-Bild", S. 90. 2 « Ebd., S. 88. 246 Wolfram Mauser: Andreas Gryphius' Einsamkeil. Meditation, Melancholie und Vanitas. In: Gedichte und Interpretationen. Bd 1: Renaissance und Barock. Hrsg. von Volker Meid. Stuttgart 1982, S. 231-244, hier S. 233; Vgl. auch Rudolf Drux: „In dieser Einsamkeit." Ort und Art poetologischer Reflexion bei schlesischen Barockdichtern. In: Weltgeschick und Lebenszeit: Andreas Gryphius, S. 33-52, hier S. 33f. 247 Vgl. Mauser: Andreas Gryphius' Einsamkeit, S. 238; zum vierfachen Schriftsinn, der zwischen dem historischen oder litteralen, allegorischen, tropologischen (moralischen) und anagogischen (eschatologischen) Sinn des Wortes unterscheidet, vgl. etwa Udo Kindermann: Einführung in die lateinische Literatur des mittelalterlichen Europa. Turnhout 1998, S. 98f. 248 Vgl. Mauser: Andreas Gryphius' Einsamkeit, S. 235.

76 Signaturen auf der Oberfläche der Dinge wäre revelatio, Enthüllung eines vorgegebenen Sinnes.249 Indes muß man sich nicht direkt den etwas vagen Theorien Benjamins und Foucaults verschreiben, um zu differenzierteren Ergebnissen zu kommen. Es ist schon viel gewonnen, wenn man einen Tatbestand berücksichtigt, der für einen lutherischen Dichter als außerordentlich wichtig erscheint. Die Praxis der Allegorese im Luthertum sollte in Rechnung gestellt werden. Die traditionelle Interpretation rührt nämlich nicht an den Kern des Problems: an die Ablehnung der „Priorität des Bildes" 250 und der Erscheinungen in Luthers Hermeneutik. Die Praxis der Allegorese liegt in einer Hermeneutik begründet, die dem Lutherischen Protestantismus zwar nicht fremd war, der er aber ursprünglich ablehnend gegenüberstand. Menschenwelt und Gottesreich unterliegen der strikten Trennung, und Erkenntnis leistet nicht die intellektuelle Entzifferung des Gesehenen, sondern nur der Akt der Gnade und das vernommene Wort. Den vierfachen Schriftsinn gibt Luther vollkommen auf, und in seiner Evangelienauslegung, vor allem in Predigten, dann auch in Kirchenpostillen, nimmt er zunehmend Abstand von der allegorischen Interpretation, so daß schließlich auch seine Schüler sich von der Tradition abwenden. 251 Scriptura sui ipsius interpres ist das Motto von Luthers geistlich christozentrischer Ausdeutung des Evangeliums, die er von der mittelalterlichen Allegorese unterscheidet. Obwohl er diese zur Erbauung nutzte, war sie doch „nie ein Fundament der theologischen Argumentation". 252 Theologiegeschichtlich erklärt Blumenberg die Abwertung des Sehens gegenüber dem Hören bei Luther aus dem Gnadenakt: „[...] das Angebot des gnädigen Gottes läßt die Distanz der freien Erwägung, wie sie dem im Sehen Begegnenden gegenüber besteht, gar nicht zu."253 Der Sehende kann auswählen, seine Blicke umherschweifen lassen und ausweichen; im Primat des Sehens liegt auch ein Stück Freiheit. Dem Hörenden als Gehorchendem

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Vgl. Ohly: Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, S. 9. Schöne: Emblematik und Drama, S. 25. Schönes Arbeit ist nicht ohne Widerspruch geblieben. So kritisiert etwa Dieter Sulzer (Traktat zur Emblematik. Studien zu einer Geschichte der Emblemtheorie. Hrsg. von Gerhard Sauder. St. Ingbert 1992 [Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft 22]) Schönes Prämisse, daß dem Bild ein Vorrang vor der Schrift zukomme. Nach Sulzer muß das Emblem als synthetisierendes „Gebilde" gelesen werden (S. 68), das gleichzeitig gesehen und gelesen wird, wobei aber der jeweilige „Stand der Beziehungen der Einzelkünste zueinander" - im Falle des Emblems die Beziehung von bildender Kunst zur Dichtung - zu berücksichtigen sei (S. 69). Vgl. Gerhard Ebeling: Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik. Darmstadt 1962, S. 48f. und S. 86-89. Vgl. auch Jan Harasimowicz: ,Scriptura sui ipsius interpres'. Protestantische Bild-WortSprache des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposion 1988. Hrsg. von Wolfgang Harms. Stuttgart 1990, S. 262-282, hier S. 262. Hans Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung. In: Studium generale 10, Heft 7, 1957, S. 432^147, hier S. 443.

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ist e s nicht m ö g l i c h , D i s t a n z z u s c h a f f e n . D i e s entspricht d e m unerwarteten A k t der G n a d e , d i e s i c h „in der S p r a c h e d e s , H ö r e n s ' " ereignet. 2 5 4 D a s Mittelalter „ m o c h t e " , s o urteilte bereits O h l y , mit Luthers „ t r a d e r e simplici

sensu"

i m V e r e i n mit der a u t o n o m e n N a t u r b e o b a c h t u n g „ d a h i n g e -

g a n g e n scheinen", 2 5 5 w e n n nicht E m b l e m a t i k u n d A l l e g o r i e s e i n e n vollständ i g e n U n t e r g a n g verhindert hätten. B e d e u t s a m für d i e R e n a i s s a n c e d e s alleg o r i s c h e n W e l t b i l d e s ist d i e i m K a t h o l i z i s m u s verankerte p a n s o p h i s c h e B e w e g u n g , d i e in P a r a c e l s u s ihren w i c h t i g s t e n Vertreter findet, d i e A u s b i l d u n g s y s t e m a t i s c h e r v o m N e u p l a t o n i s m u s b e e i n f l u ß t e r spekulativer u n d intellektueller G o t t e s e r k e n n t n i s aus der Natur 2 5 6 u n d m e i n e s Erachtens der Stoizismus. D i e traditionelle G r y p h i u s - F o r s c h u n g hat l a n g e w e d e r Luthers Zäsur u n d ihren h e r m e n e u t i s c h e n I m p l i k a t i o n e n n o c h m ö g l i c h e n E i n w i r k u n g e n N a t u r w i s s e n s c h a f t e n a u f die traditionelle A l l e g o r e s e R e c h n u n g

der

getragen.

Jons betont, daß m a n „in protestantischen K r e i s e n i m Grunde nicht anders g e d a c h t " h a b e als in katholischen. 2 5 7 E s s c h e i n t sogar, als w o l l e Jons andeuten, daß G r y p h i u s s i c h v o m lutherischen D o g m a befreit h a b e , w e n n er für ihn b e i m Streben n a c h Gott e i n e „ S y n t h e s e " v o n v e r n u n f t g e l e i t e t e r N a turerkenntnis u n d G n a d e n a k t konstatiert. 2 5 8 G r y p h i u s ' „ B l i c k a u f die D i n g e

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Ebd. Ohly: Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, S. 21. Die Fülle der Emblembücher, die in ihrer Konzeption auf das 1531 erschienene Emblematum Uber des Andreas Alciatus aufbauen ist - abgesehen von ihren Ursprüngen in der Hieroglyphik und ihrer Wiederaufnahme in der Renaissance - ohne die pansophische Bewegung nicht zu denken. (Vgl. Jons: Das „Sinnen-Bild", S. 45-53. Vgl. auch Erich Trunz: Weltbild und Dichtung im deutschen Barock. In: Aus der Welt des Barock. Dargestellt von Richard Alewyn u. a. Stuttgart 1957, S. 1-35, hier S. 6-13). Aus diesem Grund findet sich im protestantischen Bereich offensichtlich kein einziges Werk der Sinnbildkunst, das mit den Büchern, die im Umkreis des Katholizismus und der pansophischen Bewegung erschienen sind, zu vergleichen wäre. Hier veröffentlicht etwa Jakob Typotius im Jahre 1618 die Sammlung De hierographia, Christoforo Giarda 1618 die leones Symbolicae und Jakob Masen 1650 das Emblembuch Speculum Imaginum Veritatis Occultae. Im protestantischen Bereich nennt Jons für eine in diesem Sinne vorgenommene interpretatio naturae im wesentlichen zwei Werke: die Imagines des Johannes Cogeler, aus dem Jahre 1558, die aber kein reines Emblembuch darstellen (vgl. Jons: Das „Sinnen-Bild", S. 36), und Johann Arndts seit 1608 erscheinende Bücher vom Wahren Christentum. Diese verzichten vollständig auf die emblematische Darstellung. Das vierte Buch dieser Ausgabe mit dem Titel Liber naturae zielt nach Jons „nicht auf spekulative Erkenntnis, sondern auf Erbauung" (S. 54). Arndt stand der mittelalterlichen Mystik nahe. Zu Johann Arndt vgl. auch Szyrocki: Die deutsche Literatur des Barock, S. 236f. Vgl. zur Verwendung von Bildern in anderen protestantischen Emblembüchern auch Ingrid Höpel: Emblem und Sinnbild. Vom Kunstbuch zum Erbauungsbuch. Frankfurt am Main 1987, S. 210-223. Jons: Das „Sinnen-Bild", S. 53f. Ebd., S. 257; Vgl. dazu kritisch Wentzlaff-Eggebert: Andreas Gryphius, S. 65. Die Verfasser stimmen fur eine „Polarität von Glaube und Vernunft" und fur eine stärkere Zuordnung des Dichters zu neuen mystischen Strömungen des 17. Jahrhunderts (vgl. ebd., S. 6). Vgl. auch Friedrich-Wilhelm Wentzlaff-Eggebert: Zur Mystik-Rezeption bei Andreas Gryphius und in seinem Freundeskreis. In: Belehrung und Verkündigung, S. 152-164. Zur Neu-Mystik vgl. ders.: Deutsche Mystik zwischen Mittelalter und Neuzeit. Berlin 1963, S. 188f.; zu

78 der Welt" sei „ein Transzendieren ihrer Realität auf den Schöpfer und die Heilslehre hin, und zwar aus unmittelbarer Nähe zur Bibel und im Rückgriff auf die allegorische Tradition der Patristik und des Mittelalters." 259 Hinsichtlich der Leichabdankungen spricht Schings von einer „Erweiterung der traditionellen Allegorese vermittels des neuen Phänomenbereichs, den die Naturwissenschaften bereithalten". 260 Die Poesie werde durch neue Deutungsmöglichkeiten der Dinge belebt, dennoch aber trete „das hermeneutische Prinzip der Auslegung nach dem geistigen, beziehungsreich verborgenen Schriftsinn in ungebrochener Deutungskraft hervor," sei allerdings nun „verflochten mit den weitläufigen Kenntnissen des Polyhistors". 261 In Schings' Argumentation liegt an dieser Stelle strenggenommen ein Bruch vor, da er doch ebenso die Dominanz der theologia negativa behauptet, 262 die aber mit dem Anliegen des traditionell allegorischen Verfahrens nicht zu vereinbaren ist. Auch für Krummacher zeigt sich die Allegorese von Luthers Hermeneutik unberührt. Sie habe besonders unter dem Einfluß Melanchthons in Predigten und Postillen weitergelebt, nur so lasse sich das ungebrochene Fortleben ihrer Tradition bis ins 18. Jahrhundert erklären.263 Im Gegensatz zu den vorgestellten traditionellen Interpretationen des Gedichts Einsambkeit bemüht Koschorke einen Neuansatz, der das theologiegeschichtliche Faktum des verborgenen Gottes stärker berücksichtigt, was für die deutsche Barockdichtung und besonders für Gryphius durchaus angemessen erscheint. Die Natur werde im Gedicht künstlich zum Sprechen gebracht. Sie sei zunächst nur ein „Vorrat von brachliegenden Zeichen", 264 der geistige Bedeutungen erst beigelegt werden. Die hier stattfindende Meditation eines Gläubigen sei aber nicht die einzige Möglichkeit der Ausdeutung. Es offenbare sich die „Souveränität rein operativer Sinnstiftungen." 265 Vorherrschend sei die „Redeabsicht". 266 Die Kulisse werde

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früheren Versuchen, Gryphius' Offenheit für die mystischen Strömungen seiner Zeit nachzuweisen, vgl. Karl Vietor: Probleme der deutschen Barockliteratur. Leipzig 1928, S. 2 8 42. Jons: Das „Sinnen-Bild", S. 257. Heftige Kritik an Jons übte Henri Plard (Gryphius und noch immer kein Ende II. In: Etudes Germaniques 28, 1973, S. 185-204); Jons sehe Gryphius als Sympathisanten des katholischen Lagers und der pansophischen Bewegung, was aber seine Stellung als Syndicus in Schlesien ausschließe (vgl. S. 188). Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius, S. 105. Ebd.; diese Beobachtung macht auch Friedrich Wilhelm Wentzlaff-Eggebert (Die Bedeutung der Emblematik fur das Verständnis von Barock-Texten. Mit Beispielen aus der Jugenddichtung des Andreas Gryphius. In: Argenis2, 1978, S. 263-307) anhand der frühen Leichenrede Menschlichen Lebens Traum (vgl. S. 294). Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius, S. 60f. Hans-Henrik Krummacher: Der junge Gryphius und die Tradition. Studien zu den Perikopensonetten und Passionsliedern. München 1976, S. 220f. Albrecht Koschorke: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern. Frankfurt am Main 1990, S. 99. Ebd., S. 98. Ebd.

79 rhetorisch vereinnahmt. 267 Koschorke wiederholt eine Auffassung, die bereits Fricke, vermutlich unter Benjaminschem Einfluß, geäußert hatte. Die Natur werde „zum Zeichen" 268 und zum Anlaß, ein ästhetisches und illusorisches Reich mit Hilfe der Wörter zu errichten.269 Koschorke geht so weit zu behaupten, daß die Barockdichtung die „empirische Anschauung" zurückweise und eine „Brandmauer gegen die neuzeitliche Immanentisierung Gottes" errichte, der religiösen Dogmatik also Vorschub leiste. 270 In Koschorkes Interpretation wäre die Allegorie bewußt ein reines ästhetisches Spiel der Wörter.27' Koschorkes Interpretation berücksichtigt, wenn auch nicht explizit, die Lutherische Hermeneutik. Die Ergebnisse stützen dabei unversehens Foucaults Theorie. Kann aber tatsächlich behauptet werden, daß es sich im Gedicht um reine Wortspielerei handelt, um Gott aus der sinnlichen Wahrnehmung zu vertreiben? Kann umgekehrt ein Votum für die traditionellen Interpretationen Jons' und Mausers eingelegt werden, was eine problematische Ignoranz der Lutherischen Hermeneutik bedeutete? Die Lyrik ist meines Erachtens ein denkbar schlechtes Feld, dies zu entscheiden. Der Dramenforschung eröffnen sich weitaus bessere Möglichkeiten, weil die Allegorese im Verständigungsprozeß der Figuren eine Rolle spielt. Indes kommen die Drameninterpreten zu kaum anderen Ergebnissen als die Lyrikforschung. Die Kontroverse läßt auf ähnliche Weise die Fronten zwischen der traditionellen und modernistischen Barockforschung zu Tage treten.

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Vgl. ebd., S. 99. Koschorke sieht die Meditation durch das Vorherrschen des rhetorischen Aspektes abgewertet. Er spricht damit das Problem des Verhältnisses zwischen Religion und Rhetorik an, das - im Gegensatz zum katholischen Bereich - fur die Reformatoren problematisch war. Die Rhetorik als Kunst und Schmuck der Rede durfte dem theologischen Anliegen nicht übergeordnet werden. Eine ästhetische Überformung der Bildlichkeit war zu vermeiden. Vgl. dazu Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1966, S. 366-368; Vgl. auch Klaus Weimar: Vom barocken Sinn der Metapher. In: Modem Language Notes 105, 1986, S. 4 5 3 ^ 7 1 , hier S. 468; zum Verhältnis des Protestanten zu den „schönen Künsten" im 17. Jahrhundert vgl. allgemein etwa Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft, S. 8-14. Gerhard Fricke: Die Bildlichkeit in der Dichtung des Andreas Gryphius. Berlin 1933, S. 151. Ebd., S. 224. Besonders in diesem Punkt übt Jons (Das „Sinnen-Bild") an Fricke Kritik, da er durch die Betonung des rhetorischen Aspektes die Dichtung ihrer „Glaubwürdigkeit" beraube (S. 119). Auch Marian Szyrocki (Zur Differenzierung des Barockbegriffs. In: Der literarische Barockbegriff, S. 511-533) bemerkt, daß Fricke den inhaltlichen und ideellen Aspekt der Dichtung unterschätze (vgl. S. 519). Frickes Interpretation findet eine Vorläuferin in der Darstellung von Herbert Cysarz (Deutsche Barockdichtung. Leipzig 1924); dieser konstatiert für das Gedicht Einsambkeit einen reinen „Wort-Barock", der sich aus der Bilderfeindlichkeit des Luthertums ergebe (vgl. 37). Zur Kritik an Cysarz vgl. wiederum Jons: Das „Sinnen-Bild", S. 89, Anm. 89. Koschorke: Die Geschichte des Horizonts, S. 101. Koschorkes Interpretation müßte strenggenommen auf den manieristischen Allegoriebegriff von Praz hinauslaufen. Vgl. Mario Praz: Studies in Seventeenth-Century Imagery. Rom, 2. Aufl. 1964, S. 50-55.

80 Ohne zwischen Lyrik und Dramatik zu unterscheiden, konstatiert Alt, die „protestantische Kritik der Allegorese" habe die „hermeneutische Praxis" des religiösen Schrifttums nicht beeinflußt.272 Gryphius beweise lediglich ein Bewußtsein für diese Zäsur, indem er allegorische Spitzfindigkeiten vermeide.273 Ebenso bleibe das „allegorische Weltbild" von den neuen Naturwissenschaften „meist unberührt".274 Alt setzt sich zwar intensiv mit Foucaults These auseinander, seine Lesart ist jedoch befremdlich: Er akzeptiert Foucaults Methode, bespricht eingehend, wo sich die von Foucault unterschiedenen Ähnlichkeitsbeziehungen275 bei Harsdoerffer und Paracelsus wiederfinden, diskutiert aber nicht, ob Foucaults Einschnitt im spirituellen System Anfang des 17. Jahrhunderts gerechtfertigt ist. Alt verwendet Teile von Foucaults Theorie zur Bestätigung seiner eigenen These, wobei er aber im entscheidenden Punkt von ihr abweicht. Kaminskis Interpretation geht einen Schritt weiter. In Anbetracht des verborgenen Gottes offenbare das Drama und speziell die Catharina, daß die „nicht (mehr) dicht gefugte Welt" sowohl dem Allegoriker im Trauerspiel als auch dem Rezipienten im Zuschauerraum „zum Machtpotential, aber auch zum Problem" werde.276 Diese Tatsache ergebe sich aus dem Verlust der Transzendenz. Kaminski untersucht zwar die Folgen der Lutherischen Orthodoxie fur die Tragödie, bleibt jedoch bei ihrer These stehen, daß die Welt als Zeichenwelt unverfügbar bzw. vom „allegorischen Blick des Hermeneuten" beliebig ausdeutbar geworden sei.277 In Wiethölters dekonstruktionistischer Interpretation, die sich u. a. mit Cardenio und Celinde auseinandersetzt, findet sich dieser Ansatz in radikalisierter Form. Sie stellt den Allegoriebegriff auf den Kopf, hält weder Benjamins noch Foucaults Theorie für spektakulär, geschweige denn für haltbar, da die Allegorie schon grundsätzlich immer auf „Sinnexplosion" angelegt sei, auf mehrfache Schriftsinne, auf ein „Spiel um alles oder nichts".278 Obwohl das Drama weitaus mehr Möglichkeiten bietet, Wesen und Bedeutung der Allegorese zu untersuchen, kommt die Forschung über diejenigen Positionen nicht hinaus, die in der Lyrikforschung eingenommen worden sind. Auffällig ist, daß Zwischentöne nicht zugelassen werden. Entweder transferiert die Allegorese mittelalterliche Bestände oder sie ist willkürliche Deutung der Wirklichkeit und Wortspielerei.

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Alt: Begriffsbilder, S. 216. Vgl. ebd., S. 214. Vgl. ebd., S. 161. Vgl. Foucault: Les mots et les choses, S. 3 2 ^ 0 . Kaminiski: Andreas Gryphius, S. 102. Ebd., S. 101. Waltraud Wiethölter: „Schwarz und Weiß auß einer Feder oder Allegorische Lektüren im 17. Jahrhundert: Gryphius, Grimmelshausen, Greiffenberg". In: Deutsche Vierteljahrsschrift 72, 1998, S. 537-591, hier S. 541.

81 Stärker sollte in den Mittelpunkt gerückt werden, daß die Allegorese ein Mittel der Verständigung ist und als solches eingesetzt wird. Erst dann erweist sich tatsächlich, welchen Status sie noch behauptet. Besondere Bedeutung erlangt die Verwandtschaft zwischen Allegorese und stoischer Naturbetrachtung, die bisher noch nicht gesehen worden ist. Hier wird deutlich, daß auch die Allegorese mit einem ernsthaften Anliegen auftritt. Sie erfüllt durch ihr Naturverhältnis ebenso die Forderung des naturgemäßen Lebens und stellt ethische Ansprüche. Gryphius' Dramen zeigen, daß durchaus ein Bewußtsein für die Implikationen der Lutherischen Hermeneutik vorhanden ist. Was bedeutet es, wenn Allegorese und stoische Kosmosvision dem Verdacht anheimfallen, eigenwillig durch ein sich selbst setzendes Individuum betrieben zu werden, das sich auf diese Weise ein eigenes Bewußtsein schafft? Allegorese und stoische Kosmosvision werden der Willkür und Subjektivität verdächtigt und zudem einer weltfernen Abgerücktheit, Tatenlosigkeit und Melancholie. Da sie aber denselben Gesetzen unterliegen wie die Unterwerfung der Natur durch den neugierigen Wissenschaftler - sie entwerfen eine neue Welt und ein neues Bewußtsein - , ist es nicht der Aspekt der Künstlichkeit, weswegen diese Weltdeutungen Kritik auf sich ziehen. Sie werden vor allem angegriffen, weil sie dazu fuhren, daß sich die Protagonisten, die diese Deutungen vornehmen, außerhalb der gesellschaftlichen Regeln des frühneuzeitlichen Staates bewegen, des weltlichen Regiments, das Anpassung und Eingliederung fordert. Allegorese und stoische Kosmosvision werden sich deshalb vor allem als Bestandteil einer politischen Auseinandersetzung erweisen. Im folgenden seien die Entwicklungen der Hauptfiguren Catharina und Papinian, ihre Wandlung zu sapientes nachgezeichnet, die ein christlichstoisches Naturverhältnis eingehen, und ihre Folgen. Die Grundzüge der Senecaischen Kulturkritik seien u. a. am Thyestes als Prätext fur beide Dramen erläutert. Für die Interpretation der Rosenallegorese in der Catharina wird die Theorie Walter Benjamins, des Stiefkindes der Barockforschung, auf ihre Relevanz im Kontext Senecaischer Kulturkritik untersucht. Sie scheint, mag sie auch zu ähnlichen Ergebnissen kommen, geeigneter als Foucaults ideengeschichtliche Rekonstruktion. Denn diese berücksichtigt nicht die Voraussetzungen der deutschen Barockliteratur für ihre Argumentation, geschweige denn die Lutherische Hermeneutik.

82 2. Catharina von Georgien als Exempelfigur? Traditionelle Interpretation und Widersprüche Sein zweites Drama Catharina von Georgien oder Bewehrete Beständigkeit konzipiert der Dichter, nachdem er nach seinen Reisen wieder in Schlesien eingetroffen war. Aufgeführt vermutlich im Jahre 1655, 279 lag das Stück erst 1657 in der ersten Druckfassung vor, aber seine Niederschrift wird einige Jahre früher, bereits 1647 oder 1649 / 50, datiert.280 Gryphius nahm im Jahre 1649 das Amt eines Landessyndicus in seiner Heimatstadt Glogau an, nachdem er zuvor einige Berufungen an Universitäten in ganz Europa abgelehnt hatte. Er war offensichtlich, obwohl sich andere Möglichkeiten boten, fest entschlossen, in der Heimat seiner Aufgabe gerecht zu werden und die Rechte der protestantischen Schlesier zu verteidigen. Zu dieser Zeit verfaßte er die Catharina von Georgien. Gryphius schöpft seinen Stoff aus zeitgenössischen Quellen, aus den Histoires tragiques de notre temps, die der französische Historiker Claude Malingre, Sieur de Saint-Lazare (1580-1635), zusammenstellt und die 1635 in Paris erscheinen. 281 Das Drama ist eine Stellungnahme zum historischen Ereignis des Todes der georgischen Königin Catharina, die 1624 in Persien nach jahrelanger Gefangenschaft auf der Folter stirbt. Eine in der Forschung kaum strittige Interpretation der Hauptfigur richtet sich offensichtlich an der Intention des Dramas aus, die Gryphius in seiner Vorrede an den Leser verlauten läßt, ein „kaum erhöretes Beyspiel unaußsprechlicher Beständig-

279 vgl. Harald Zielske: Andreas Gryphius' Catharina von Georgien auf der Bühne. In: Maske und Kothurn 17, 1971, 1-17, hier S. 4; vgl. ders.: Andreas Gryphius' Trauerspiel „Catharina von Georgien" als politische ,Festa Teatrale' des Barock-Absolutismus. In: Funde und Befunde zur schlesischen Theatergeschichte. Zusammengestellt von Bärbel Rudin. Bd. 1: Theaterarbeit im gesellschaftlichen Wandel dreier Jahrhunderte. Dortmund 1983, S. 1-32, hier S. 4-6. 280 vgl. etwa Szyrocki: Andreas Gryphius. Sein Leben und Werk, S. 86; Mannack: Andreas Gryphius, S. 61. 281

Der Originaltext ist abgedruckt bei Eugene Susini: Claude Malingre sieur de Saint-Lazare, et son histoire de Catherine de Georgie. In: Etudes Germaniques 23, 1968, S. 37-53, hier S. 41-53. Zu Abweichungen von der Quelle vgl. etwa Gerald Ernest Paul Gillespie: Andreas Gryphius' Catharina von Georgien als Geschichtsdrama. In: Geschichtsdrama. Hrsg. von Elfriede Neubuhr. Darmstadt 1980, S. 85-107, hier S. 90-92. Die Hauptänderung, die Gryphius vorgenommen hat, liegt in der leidenschaftlichen Liebe, die der Chach Catharina entgegenbringt und die er, nach der Quelle zu urteilen, nur vorgetäuscht hat, um sie zur Konvertierung zu veranlassen. Vgl. auch Ingrid Walsoe-Engel: Fathers and Daughters: Patterns of Seduction in Tragedies by Gryphius, Lessing, Hebbel, and Kroetz. Columbia 1993 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture; unnumbered), S. 17. Zu den Inspirationen, die Gryphius aus holländischen Quellen schöpfte, etwa aus Nicolaus Caussinus' Felicitas, die er übersetzte, oder aus Vondels Maeghden, vgl. auch Stachel: Seneca und das deutsche Renaissancedrama, S. 224—230; zu Stachels Einschätzung vgl. kritisch Flemming: Einblicke in den deutschen Literaturbarock, S. 100-110. Elida Maria Szarota (Künstler, Grübler und Rebellen) gewinnt ihre Ergebnisse durch einen Vergleich mit Corneilles Polyeucte (vgl. S. 190f.).

83 keit" auf die Bühne bringen zu wollen, 282 die stilisierte Abstraktion eines unerreichbaren Ideals, das constantia paradigmatisch vorführe. 283 Szarota bezeichnet die Protagonistin als das „große Symbol" für alle, die Unterdrückung erleiden und sich standhaft auch nach außen auf ihr Gewissen berufen, und führt die gegenwärtige Situation der Protestanten in Schlesien als grundlegende Motivation für die Figurenzeichnung der Catharina an.284 Schings sieht in der Königin die „Verbindlichkeit eines Existenzmodells" verwirklicht, „an dem der Betrachter [...] sein Verhalten orientieren" könne. 285 Gillespie erkennt als leitendes Motiv im Drama die Auseinandersetzung zwischen der christlich-abendländischen Zivilisation und dem barbarischen Persien. In dieser Konfrontation werde Catharina durch ihr „Denken [...] zu einem geistigen Vorbild", sie sei „eine Art Bewußtsein", das die Bedürfnisse ihres Volkes und ihr eigenes Seelenheil vereine.286 Der „persischen Kultur" mangele es nach Gryphius' Auffassung „an echtem Verständnis für humane Werte", während Catharina die Vertreterin einer christlichen „Zivilisation" sei und Vorkämpferin eines „Triumphs der Seele". 287 Sehr emphatisch klingt das jüngere Diktum aus Ingrid WalsoeEngels Studie über die Verführungsthematik im deutschen Drama, Catharina sei ein „baroque gladiator of integrity". 288 Auch Alt betont die exemplarischen Züge und die „Mustergültigkeit der Märtyrerin". 289 Helmut Loos nennt Catharina eine „Märtyrerin der erhöhten Ehre Christi". 290 Szyrocki hingegen zweifelt an einer deutlichen, vom Dichter intendierten Ausgestaltung eines Idealtypus. Er weist auf den wichtigen Punkt hin, daß Catharina in ihrer Vergangenheit als Politikerin einwandfrei die dissimulatio praktiziert habe. Die uneingeschränkt positive Einschätzung der Hauptfigur sei zu „einseitig", ihr christlicher Glaube „nur ein Beweg-

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Andreas Gryphius, Vorrede: Catharina von Georgien. Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Bd. 6, S. 133. 283 Vgl. Lunding: Das schlesische Kunstdrama, S. 54; vgl. Niefanger: Barock, S. 151. 284 Szarota: Künstler, Grübler und Rebellen, S. 208. 285 Hans-Jürgen Schings: Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Beständigkeit. In: Die Dramen des Andreas Gryphius, S. 35-72, hier S. 40; vgl. zustimmend Mannack: Kommentar: Andreas Gryphius. Dramen, S. 930. 286 Gillespie: Andreas Gryphius' Catharina von Georgien als Geschichtsdrama, S. 93. 287 Ebd., S. 97. 288 Walsoe-Engel: Patterns of Seduction in Tragedies by Gryphius, Lessing, Hebbel, and Kroetz, S. 13. 289 Alt: Begriffsbilder, S.251. 290 Helmut Loos: Catharina von Georgien: Unio mystica und virtus heroica - Leitbegriffe einer Interpretation. In: Text und Konfession (Daphnis 28, Heft 3^1), S. 691-727, hier S. 694. Vgl. auch Spahr: Andreas Gryphius: A Modern Perspective, S. 89. Zur weiteren einseitigen Deutung der Catharina als einer Heiligen vgl. etwa Rolf Werner Nolle: Das Motiv der Verführung. Verführer und Verführte als dramatische Entwürfe moralischer Wertordnung in Trauerspielen von Gryphius, Lohenstein und Lessing. Stuttgart 1976, S. 56.

84 grund". 291 Auch wenn Szyrocki der Figur der Catharina nicht ganz gerecht wird, weil er nur ihren persönlichen Haß gegenüber dem Chach für ihr Verhalten verantwortlich macht, so trifft er den dunklen Punkt ihrer Vergangenheit: ihre politische Rastlosigkeit, die auch vor moralisch fragwürdigen Handlungen nicht halt machte. Die neuere Forschung widmet sich dieser Tatsache etwas ausführlicher. Catharina konstituiert sich, wie Bornscheuer eindringlich betont, als eine erfolgreiche Herrscherpersönlichkeit, 292 die im Kerker, in der Stunde der Reflexion, eine Wandlung durchmacht. Sie wächst aber nicht widerspruchlos unter dem Primat lutherischer Christologie und der theologia cruris in ihre Rolle als Märtyrerin hinein:293 Die „entpolitisierende conversio", von der Bornscheuer spricht,294 geht mit ihrer Entwicklung zu einer orthodoxen Stoikerin einher, gleichsam zu einer Kritikerin ihrer eigenen Vergangenheit. Sie entpolitisiert aber ihr Verhalten nicht, wie Bornscheuer meint, sondern führt es auf eine andere Ebene des Politischen, die Speilerberg als eine ratio status vera bezeichnet. 295 Spellerberg erkennt zwar Catharinas eindeutige Rolle als einer prudentistischen Politikerin und ihre Umkehr, aber merkwürdigerweise thematisiert er die Paradoxie dieses Wendepunktes nicht, den er im dritten Akt verortet, sondern nimmt ihn einfach als gegeben hin. Der „unwiderrufliche Sieg einer anderen Politik" nehme mit dem Zeitpunkt der Umkehr seinen Lauf. 296 Für Bornscheuer hingegen handelt es sich wegen Catharinas Scheitern um die „Demonstration des Verlustes der jahrhundertealten politischen Theologie"297 und um eine nicht aufzulösende Gegenläufigkeit zweier verschiedener Paradigmen und Diskurse, die kaum in Bezug zueinander gesetzt werden können und sich verselbständigen. 298 Ähnlich drückt sich fur Borgstedt in der Tragödie eine „tiefe Skepsis gegenüber der Selbstermächtigung des säkularen Machtstaats" und eine „Verpflichtung der Fürstenherrschaft auf ihr Gottesgnadentum und eine daraus abzuleitende ,christliche Politik' der

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Szyrocki: Andreas Gryphius. Sein Leben und Werk, S. 87. Vgl. Bomscheuer: Diskurs-Synkretismus, S. 506. 293 vgl. van Ingen: Andreas Gryphius' Catharina von Georgien. Märtyrertheologie und Luthertum, S. 55-60. 294 Lothar Bornscheuer: Zur Gattungsproblematik, Affektgestaltung und politischen Theologie in Gryphs historisch-politischen Trauerspielen. In: Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit, S. 207-222, hier S. 214. 295 Spellerberg: Narratio im Drama oder: Der politische Gehalt eines „Märtyrerstückes". Zur Catharina von Georgien des Andreas Gryphius, S. 453. 2 '« Ebd., S. 452f. 297 Bornscheuer: Zur Gattungsproblematik, Affektgestaltung und politischen Theologie in Gryphs historischen Trauerspielen, S. 213. 298 Vgl. ders.: Diskurs-Synkretismus, S. 513. 292

85 Demut und politischen Bescheidenheit" aus.299 Das Drama kennzeichne insgesamt „das Auseinanderdriften von Geschichte und Heilsgeschichte"300 und eine „Entwertung des Politischen".301 Anschließend an diese Diskussion soll nun die Funktion der Geschichtsberichte fur die Figurenzeichnung ermittelt werden. Sodann sei die paradoxe Wandlung der Hauptfigur und ihre Rückzugspraxis unter dem Aspekt Senecaischer Kulturkritik näher in den Blick genommen.

a) Catharina als occupata Die Rastlosigkeit, ihre ständige occupatio, die Catharina vor ihrer Umkehr an den Tag legt, steht im Widerspruch zu ihrer Haltung während der Gefangenschaft, da sie die Partizipation, die vita activa in Gesellschaft und Geschichte verneint. Als Tätige nahm Catharina teil an der Konstruktion ihrer Lebenswelt, die im Grunde auf keinen anderen Grundsätzen beruht als die persische Kultur. Hier wie dort prägen das Machtkalkül und das Verlangen nach Machbarkeit von Geschichte das politische Leben. In Catharinas Welt ist das christlich-stoische Naturrecht schon längst dem modernen Naturrecht als Konstrukt gewichen, dessen Mechanismen sich auch die Königin angepaßt, da sie die Grundsätze des Dekalogs nicht verwirklicht hat. In der erzwungenen Ruhephase ihrer Gefangenschaft erkennt sie: „Ist nicht mein Purpurkleid durchaus mit Blut gemalt" (Cath. I. 236)! Die langen Berichte über die Kämpfe ihres Landes sind nicht zwangsläufig in erster Linie als Darstellung der Leiden zu verstehen, die Catharina auch schon in der Geschichte als Märtyrerin zeigen302 und die ihre Weltabkehr bewirken.303 Auch dienen sie nicht in erster Linie der „Demonstration" irdischer vanitas als der eigentlichen „Wirkabsicht des Trauerspiels"304 oder 299

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Thomas Borgstedt: Andreas Gryphius: Catharina von Georgien. Poetische Sakralisierung und Horror des Politischen. In: Dramen vom Barock bis zur Aufklärung. Interpretationen. Stuttgart 2000, S. 37-66, hier S. 39. Ebd., S. 48. Ebd., S. 49. Paul. B. Wessels: Das Geschichtsbild im Trauerspiel Catharina von Georgien des Andreas Gryphius. Hertogenbosch 1960, S. 7. Wessels richtet sich hier gegen die Auffassung von Clemens Heselhaus (Gryphius, Catharina von Georgien. In: Handbuch des deutschen Dramas. Bd. 1. Hrsg. von Benno von Wiese. Düsseldorf 1958, S. 34-60), „die eigentliche Märtyrertragödie" beginne aufgrund der breiten Geschichtsberichte erst im vierten Akt (S. 39). Wilhelm Emrich (Deutsche Literatur der Barockzeit. Königstein 1981) sieht keinen Widerspruch in Catharinas Märtyrerrolle und der Tatsache, daß sie ihre Herrscherposition „nur durch rücksichtslose Morde" erlangen konnte. Er bezeichnet Gryphius in dieser Hinsicht einfach als „absolut nüchtern und realistisch" (S. 169). Vgl. Hans Kuhn: Non decor in regno. Zur Gestalt des Fürsten bei Gryphius. In: Orbis litterarum 25, 1970, S. 127-150, S. 140. Schings: Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Beständigkeit. S. 46. Vgl. ebenso van Ingen: Andreas Gryphius' Catharina von Georgien. Märtyrertheologie und Luthertum,

86 der effektvollen Konstrastierung mit dem allein der Heilsgeschichte verpflichteten Martyrium der Königin. 305 Vielmehr weist dieser Diskurs auf historisch-politischer Ebene die Königin als „Vollblutpolitikerin" mit unnachgiebigem Anspruch auf Herrschaft aus.306 Der Sinn der Geschichtsberichte, die mehr als siebenhundert Verse einnehmen und die Spahr unverblümt als „uninteresting historical background" bezeichnet hat,307 liegt darin, die Königin als occupata auszuweisen. Es wäre verfehlt, in ihr eine ideale Herrscherpersönlichkeit zu sehen, eine erfolgreiche christliche Königin. 308 Als Königin ihres Landes hat es Catharina verstanden, Intrigen zu spinnen. Sie scheute auch vor dem letzten Schritt nicht zurück. Sie nahm zum Schein einen Heiratsantrag des Fürsten Constantin an, der Ansprüche auf den Thron von Gurgistan erhob, um ihn sodann heimtückisch ermorden zu lassen. Verbrechen prägen ihr Leben als Herrscherin (vgl. Cath. III. 1 8 9 204). Im politischen Kampf zögerte sie nicht, alle Mittel des politischen Kalküls und der Intrige einzusetzen. 309 Die Skrupellosigkeit und Kaltblütigkeit, mit der sie offensichtlich fähig war, diese Politik der Grausamkeiten zu lenken, kann nicht einfach mit dem Einwand entschuldigt werden, sie habe keine andere Wahl gehabt. 310 Sie beweisen, daß Catharina als occupata nur noch äußere Erscheinung geworden und in ihrer zweiten funktionalen Natur aufgegangen ist. Die Gleichmütigkeit, mit der sie die Botschaft des russischen Gesandten annimmt, daß der Chach sie freigebe, resultiert nicht aus ihrem Todesverlangen, sondern aus dem Bewußtsein, sich dann wieder in eine neue Ab-

S. 56. Szarota (Geschichte, Politik und Gesellschaft im Drama des 17. Jahrhunderts,) erklärt die langen Geschichtsberichte durch den politisch-konfessionellen „Doppelaspekt" der Gryphius-Dramen und kritisiert die einseitige Ausrichtung auf die Demonstration irdischer vanitas und der Transzendenz (S. 68). Vgl. dies.: Künstler, Grübler und Rebellen, S. 21 lf. 305 Borgstedt: Andreas Gryphius: Catharina von Georgien. Poetische Sakralisierung und Horror des Politischen, S. 54. Vgl. ders.: Angst, Irrtum und Reue in der Märtyrertragödie Andreas Gryphius' Catharina von Georgien vor dem Hintergrund von Vondels Maeghden und Corneilles Polyeucte Martyr. In: Text und Konfession (Daphnis 28, Heft 3 ^ ) , S. 563594, hier S. 573. 306 Bornscheuer: Diskurs-Synkretismus, S. 513. Vgl. ders.: Trauerspiele. In: Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock, S. 268-283, hier S. 277. 307 Spahr: Andreas Gryphius: Α Modern Perspective, S. 88. 308 Vgl. Bornscheuer: Diskurs-Synkretismus, S. 509. 309 Vgl. Peter J. Brenner: Der Tod des Märtyrers. „Macht" und „Moral" in den Trauerspielen des Andreas Gryphius. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 62, 1988, S. 246-265, hier S. 257. Vgl. hingegen Ralf Georg Bogner (Die Not der Lüge. Konfessionelle Differenzen in der Bewertung der unwahren Rede am Beispiel von Andreas Gryphius' Trauerspiel Catharina von Georgien. In. Text und Konfession (Daphnis 28, Heft 3^t, S. 595-611), der den Wortbruch Catharinas durch die Staatsräson und durch ihren Glauben, vor dem Hintergrund der Konzeption der Lüge bei Luther, gerechtfertigt sieht (vgl. S. 601-603, S. 61 Of). 3,0 So Gerald Ernest Paul Gillespie: Time and Eternity in Andreas Gryphius' Catharina von Georgien. In: Ders.: Garden and Labyrinth of Time. Studies in Renaissance and Baroque Literature. New York 1988, S. 169-191, hier S. 178.

87 hängigkeit von Rußland zu begeben und wiederum das Leben nicht sinnvoll genutzt zu haben. Erneut wäre sie „verpflicht" (III. 44). Die Tugend, die der Gesandte an ihr bewundert, ist ihr selbst fremd: „Wir wissen nichts an uns dergleichen zuerkennen" (III. 49). Das Tätigsein in der Geschichte erlebt sie deshalb als gefahrliche Entzweiung,311 da sie das naturgemäße Leben verfehlt. Die ehemals kulturschaffende Königin findet sich in der Geschichte, die sie selbst mitkonstruiert hat, nicht mehr zurecht.312 Für Catharina als occupata zeigt sich in der Rückschau das Leben in der Gesellschaft, das geprägt ist von Pflichten gegenüber ihrem Land, die sie in repräsentativer Funktion als Königin bisher erfüllt hat, als das „leben-lose Leben" (IV. 441). Schließlich scheidet der Mensch „unerkant" (II. 377) aus dem Leben, obgleich er sich in der Geschichte bedeutend machte. Wenn Catharina in der Rückschau auf ihr Leben den „Tand" (IV. 159) beklagt, beweist dies die Einsicht, daß das Leben ein Schein ist und die Menschen nur Spieler auf dem Theater der Welt, deren Sein sie selbst konstruiert haben.313 Catharina gehört zu den occupati, deren Tätigkeit Seneca in De brevitate vitae schildert. Der Dialog spiegelt zwar teilweise die römische Kulturgeschichte der Kaiserzeit, birgt jedoch eine im Grunde zeitlose Kritik an der kulturellen Rastlosigkeit. Die occupati verbringen ihr Leben in freiwilliger Abhängigkeit von scheinbaren Gütern wie Reichtum oder äußerem Ansehen. Der Ehrgeiz treibt sie dazu, gefahrvolle Reisen auf sich zu nehmen und Kriege zu fuhren (vgl. De brev. vit. 2. lf.). Die Rhetoren verschwenden ihre Zeit, ihr rednerisches Talent fur Geld zu verkaufen (vgl. 2. 4). Der tägliche Umgang mit den Klienten, Prozesse (2. 4f.), aber auch private Streitigkeiten, unnötige Affekte und zuviel Geselligkeit verkürzen die Lebenszeit (vgl. 3. 2f.). Auch überflüssige Gedanken an Vergangenheit und Zukunft, die häufig falscher Ehrgeiz hervorruft, lassen die Zeit für den Menschen kurz werden.314 Die richtige Verwendung der Zeit führt zur Seelenruhe, zur tranquillitas animiß'5 Die Unterwerfung unter den Schein und die Meinung anderer bedingt eine rein äußere Existenz und die Entzweiung, die auch

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Vgl. Gillespie: Andreas Gryphius' Catharina von Georgien als Geschichtsdrama, S. 93. In dem Phänomen, daß die selbst geschaffene Kultur ihren Erfindern irgendwann fremd und isoliert erscheint, sah Georg Simmel die Tragödie der Kultur. Vgl. Georg Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: Kulturphilosophie. Hrsg. von Ralf Konersmann, Leipzig 1996, S. 25-57, hier S. 47f. Vgl. etwa Richard Alewyn / Karl Sälzle: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste in Dokument und Deutung. Hamburg 1959, S. 48. Vgl. Christoff Neumeister: Gedanken über den rechten Gebrauch der Zeit in Senecas Epistulae ad Lucilium. In: Römische Lebenskunst. Hrsg. von Geza Alföldy u. a. Heidelberg 1995, S. 67-77, hier S. 69f. Das Thema Zeit spielt in Senecas Schriften eine wichtige Rolle, beginnt er doch seine Epistulae mit der Aufforderung, sich Rechenschaft über die Zeit abzulegen (vgl. Ep. 1.1). Vgl. Pierre Grimal: Place et röle du temps dans la philosophie de Seneque. In: Revue des Etudes anciennes 60, 1968, S. 92-109, hier S. 104.

88 Rousseaus Zivilisationskritik beklagt und fur das menschliche Unglück verantwortlich macht: „Etre e t paroitre devinrent deux choses tout ä fait differentes, et de cette distinction sortirent la faste imposant, la ruse trompeuse, et tous les vices qui en sont le cortege."3'6 Seneca mahnt zum Rückzug aus der Welt des Scheins. Die Menschen sollen zu sich selbst kommen. Statt sich darum zu kümmern, Scheingüter zu erlangen, soll man sich um sich selbst sorgen und mit sich selbst Umgang pflegen (vgl. De brev. vit. 3.3). Seneca plädiert fur die sokratische Wendung zur sapientia. In der Apologie empfiehlt Sokrates, sich nicht um Geld, Ruhm und Ehre, sondern um seine Seele zu kümmern, επιμέλεια um sich zu betreiben (Plat. Apol. 29d-e). 3 ' 7 Die Einsicht, eine äußerliche Existenz gelebt zu haben, „unerkänt" (Cath. II. 377) von anderen, veranlaßt Catharina zu dem Entschluß, sich zum Zweck der Wahrheits- und Selbstfindung anders zu orientieren, die philosophische Lebensform aufzunehmen. Sie praktiziert durch diesen Rückzug die stoische Praxis der Identitätsfindung. Selbsterkenntnis und Identitätsfindung in der Gesellschaft zu erlangen, die auf der Basis von Rollenzwängen und des Funktionalismus konstituiert ist, ermöglicht das recedere in se ipsum. Die Funktion der stoischen Rückzugspraxis sei durch einen Vergleich mit Senecas Thyestes erläutert. Die mythische Erzählung des Bruderstreites bietet die geeignete strukturelle und thematische Folie für die Catharina, weil sie in eindrucksvoller Weise die genuin Senecaische Kulturphilosophie exemplifiziert. Besonders Anleihen aus den Chorliedern könnten als Vorlage für den Prolog gedient haben. Insbesondere sei der Prolog der „Ewigkeit" vor dem Hintergrund des zweiten Chorliedes als Prätext neu betrachtet. Prolog und Chorlied liefern jeweils die Theorie des Rückzugs, denn Allegorese und naturgemäßes Leben sind die Lebensformen, die Catharina und Thyest nach ihrem Rückzug praktizieren und die mit ethischen Ansprüchen verbunden sind. Im Anschluß sei überlegt, mit welchen Folgen die Theorie des recedere in se ipsum in beiden Dramen praktisch aktualisiert wird. Die Hermeneutik der je von den Protagonisten eingegangenen Naturverhältnisse spielt dabei die zentrale Rolle. Im Rahmen der Interpretation zur Catharina widmet sich sodann eine kleine Studie Walter Benjamins Trauerspielbuch und diskutiert, inwiefern sein Allegoriebegriff für die aufgezeigten Probleme relevant sein könnte. Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, welche alternative Haltung von der Königin gefordert wird; dort begegnet uns stoisches Gedankengut etwas anderer Natur.

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Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l'origine et les fondemens de l'inegalite parmi les hommes. In: Ders.: (Euvres completes. Bd. 3, S. 109-223, hier S. 174. Zitiert wird nach der Ausgabe: Piaton: Werke. Bd. 2: Apologia Sokratous u. a.

89 b) Die Theorie: Paränese und philosophische Adhortatio im zweiten Chorlied des Thyestes und im Prolog der Catharina Die philosophische Adhortatio im zweiten Chorlied des Thyestes und im Prolog der Catharina ist jeweils eine Reaktion auf Verletzungen des stoisch-christlichen Naturrechts, die die Dramenhandlungen prägen. Diese haben sowohl Catharina, wie gezeigt, als auch Thyest während ihrer gesellschaftlichen Existenz begangen. Nach der Erläuterung des antiken Prätextes (a) folgen Überlegungen, wie er dem Prolog der Ewigkeit eingeschrieben ist (b). (a) Das gesellschaftliche Leben der Brüder Atreus und Thyest ist wie das Catharinas von der Atmosphäre des Verbrechens geprägt. Ein Fluch hängt über dem Geschlecht, der die Protagonisten aber nicht von der Verantwortlichkeit für ihr Handeln entbinden soll.318 Thyest beging einst Ehebruch mit Atreus' Gattin Aeropa, bringt mit ihrer Hilfe den goldenen Widder in seine Gewalt und erlangt so das Recht zur Herrschaft. Er zwingt Atreus in die Verbannung. Dieser erlangt aber die Regierungsgewalt zurück und verbannt nun seinerseits Thyest, in der Sorge, ob es sich bei den Kindern Menelaos und Agamemnon tatsächlich um seine eigenen handelt (vgl. Thy. 327-330). Eine allgemeine Gottverlassenheit prägt die Atmosphäre am Hof. Das göttliche Recht ist gebrochen. „Fas valuit nihil", heißt es im ersten Chorlied (138). Obwohl die Rache des Atreus im Vordergrund des Stückes steht, darf nicht übersehen werden, daß auch Thyest, ähnlich wie Catharina, bis zu seinem Exil und seiner Läuterung an der occupatio beteiligt war und seine Macht mißbrauchte.319 Atreus, rasend vor Zorn, schwört nun Rache, die er klug einfädelt, und lockt Thyest an den Hof zurück.320 Dieser wünscht sich, angesichts der äußerlich prunkvollen Kulisse seiner Heimatstadt Argos, wieder Zuflucht in die Wälder nehmen zu können. Den leuchtenden Glanz des Königtums entlarvt er als Schein (vgl. 412^115). Wie für Catharina stellt sich die Macht in der Rückschau als „Rauch deß falschen Ruhms" dar (Cath. I. 43), als „Dunst" (IV. 158), „Tand" und „Wind der Zeit" (IV. 159). Die Handlung des Thyestes ist ex negativo ein Plädoyer für die philosophische Lebensform gemäß der Natur. Das Drama schildert das verderbliche Leben am Hof, in einer Gesellschaft, die von Rastlosigkeit geprägt ist. Kulturkritische Gedanken in den Chorliedern bilden die Kontrapunkte. Sie

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Zur Funktion des Prologs vgl. Konrad Heldmann: Untersuchungen zu Senecas Tragödien. Wiesbaden 1974, S. 56-^2. Vgl. Wolf Steidle: Die Gestalt des Thyestes. In: Senecas Tragödien, S. 490-499, hier S. 492. Vgl. auch Lefevre: Die philosophische Bedeutung der Seneca-Tragödien am Beispiel des Thyestes, S. 1274. Vgl. Ulrich Knoche: Senecas Atreus. Ein Beispiel. In: Senecas Tragödien, S. 477-489, hier S. 480.

90 evozieren die Vorstellung eines inneren Königreiches angesichts der tiefen Einsicht von der Unkenntnis des Menschen von sich selbst in Gesellschaft und Geschichte. Beklagt der zweite Reyen der Catharina, daß man „unerkänt" (II. 377) sterben müsse, so heißt es ähnlich im zweiten Chorlied des Thyestes, daß der Tod dann besonders schwer ist, wenn man sich selbst unbekannt stirbt, während man anderen nur allzu bekannt ist, weil man eine äußere Rolle eingenommen hat und zu den occupati gehört: [•··] iIii mors gravis incubat qui, notus nimis omnibus, ignotus moritur sibi. (Thy. 401-403)

Dieses Chorlied sei im folgenden als Prätext für den Prolog der Ewigkeit angenommen. Chorlied und Prolog weisen die strukturelle und funktionale Gemeinsamkeit auf, daß sie das Treiben der Mächtigen als die ehrgeizige Jagd nach Scheingütern exponieren und eine philosophische Paränese beinhalten, die das wahre Königreich in Aussicht stellt. Im Senecaischen Text steht dem gesellschaftlichen Königtum das Königtum der Weisheit gegenüber. Das wahre Königtum bestätigt sich nicht durch Reichtümer, glänzende Insignien, purpurne Gewänder und goldbeschlagene Tore. Der wahre König hat nichtige Ängste, den Ehrgeiz nach äußeren Gütern, wie etwa dem Beifall der wankelmütigen Menge, abgelegt. Der wahre König strebt nicht danach, sich die Natur zu unterwerfen und sich an den exotischen Gütern des Morgenlandes, dem Goldsand des Tagus oder den Ernten des fernen Lybien zu bereichern: Regem non faciunt opes, non vestis Tyriae color, non frontis nota regia, non auro nitidae trabes: rex est qui posuit metus et diri mala pectoris; quem non ambitio impotens et numquam stabilis favor vulgi praecipitis movet, non quicquid fodit Occidens aut unda Tagus aurea claro devehit alveo, non quidquid Libycis terit fervens area messibus [...]. (Thy. 344-357)

Selbstverständlich fehlt nicht der Topos der Seefahrt. Das Meer lockt durch seine verborgenen Schätze die machthungrigen Könige an (vgl. 369-373).

91 Die Vorstellung von der „Widernatürlichkeit der Seefahrt"321 begegnet uns u. a. in der Kulturentstehungstheorie des Lukrez. Das Goldene Zeitalter endete, als das Meer begann, die Menschen durch das Lächeln seiner Wellen, welches trügerischer Schein war, ins Verderben zu fuhren (vgl. Lucr. De rer. nat. 5. 1004f.).322 Der Topos erfüllt bei Seneca immer dieselbe Funktion: Er ist Zeichen fur das verfehlte naturgemäße Leben. Wie die Kriege verhilft die Schiffahrt nur zur Beschaffung der überflüssigen Dinge, der „supervacua" (Ep. 4. 11). In demselben Brief betont Seneca die Nutzlosigkeit des Umganges mit den Mächtigen, der Seefahrt und der Feldzüge, denn um die natürlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen, sind sie nicht notwendig. Die Natur gibt alles zum Leben: Ut famem sitimque depellas non est necesse superbis adsidere liminibus nec supercilium grave et contumeliosam etiam humanitatem pati, non est necesse maria temptare nec sequi castra: parabile est quod natura desiderat et adpositum. (Ep. 4. lOf.)

Selbst im lyrischen Chorlied nimmt Seneca eine fur seine Zeit einzigartige Diagnose seiner eigenen Kultur, aber auch des menschlichen Wesens an sich vor. Zum ersten Mal, so Blumenberg, sehe Seneca „das authentisch Menschliche des Ungenügens an der teleologischen Vorsorge der Natur, die Unendlichkeit der sich selbst potenzierenden Bedürfnisse, die Lust am Überflüssigen [...] als Wurzel des technischen Arbeits- und Werkwillens"323 der kulturschaffenden occupati. Ist die Nützlichkeit der Seefahrt wie vieler anderer kultureller Hervorbringungen nicht erwiesen, so verhilft sie aber dazu - um mit Freud zu sprechen - , den Menschen vor sich selbst als einen die Natur überwindenden „Prothesengott" erscheinen zu lassen.324 Der gefahrvollen und kriegerischen Expansion in entfernte Gefilde steht die Sicherheit des Weisen gegenüber, der keiner Pferde und Waffen, keiner Kriegsmaschinerie zur Zerstörung von Städten bedarf. Der Weise, der das „regnum sapientiae" (De ben. 7. 10. 6)325 erlangt hat, ist frei von Begierde und Furcht und verleiht sich selbst sein Königtum: nil ullis opus est equis, nil armis et inertibus telis, quae procul ingerit

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Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt am Main, 4. Aufl. 1993, S. 30. Zitiert wird nach der Ausgabe: Lucrece: De la Nature. Bd. 2. Texte etabli et traduit par Alfred Ernout. Paris, 5. Aufl. 1985. Blumenberg: „Nachahmung der Natur", S. 76. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 14: Werke aus den Jahren 1925-1931. London, 2. Aufl. 1955, S. 419-506, hier S. 451. Zitiert wird nach: Seneque: Des bienfaits. Bd. 2. Texte etabli par Francois Prechac. Paris, 2. Aufl. 1961. Zum orthodox-stoischen Topos und Paradoxon des Weisen als eines Königs vgl. Stoicorum veterum fragmenta. Bd. 3. Hrsg. von Hans von Arnim. Stuttgart 1964, S. 154-156.

92 Parthus, cum simulat fugas, admotis nihil est opus urbes sternere machinis longe saxa rotantibus. Rex est qui metuet nihil, rex est qui cupiet nihil, hoc regnum sibi quisque dat. (Thy. 381-390)

Der weise König besitzt die wahre Freiheit in sich selbst. Er ist nicht der bloßen opinio unterworfen, sondern gelangt zu einer angemessenen Beurteilung der Güter. Sein richtiges Urteilen zeigt sich darin, daß er im Gegensatz zu den occupati die Güter, die herkömmlicherweise oder aufgrund von Gewohnheit als wertvoll angesehen werden - wie Reichtum, gesellschaftlicher Einfluß oder äußere Schönheit - , als gleichgültige, indifferentia, erkennt.326 Das regnum sapientiae verdankt sein Glück keiner asketischen, sondern einer gemäßigten Existenz sowie Bedingungen, die mit einem mittleren Zustand der Kulturentwicklung, die Rousseau als „la veritable jeunesse du Monde" beschreibt, verglichen werden können. 327 Diese Phase tritt in Rousseaus Kulturentstehungslehre nach der ersten Revolution ein, nachdem bereits erste Erfindungen das Leben angenehmer gemacht hatten. Es herrschte eine Ausgewogenheit zwischen einer gesunden Selbstbezogenheit und dem Drang, nach außen zu treten.328 Das Eigentum bestimmte noch nicht die Beziehungen der Menschen untereinander, da jeder für sich selbst so viel beschaffte, wie er bedurfte, ohne von anderen abhängig oder dem Neid ausgesetzt zu sein. Rousseau geht es mit Seneca darum, ein Bewußtsein iur das Überflüssige zu bewahren, das den Menschen von der Natur entfremdet.

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Zum richtigen Urteilen des stoischen Weisen vgl. auch Pierre Grimal: Seneque ou la conscience de l'Empire. Paris 1991, S. 376f. Zu den indifferentia bzw. den ά δ ι ά φ ο ρ α vgl. auch Pohlenz: Die Stoa, S. 121. Rousseau: Discours sur l'origine et les fondemens de l'inegalite parmi les hommes. (Euvres completes. Bd. 3, S. 171. Vgl. dazu Forschner: Über das Handeln im Einklang mit der Natur, S. 81 f. Nach Seneca würde es der Weise freilich vorziehen, Reichtum zu besitzen, denn saturierte Lebensbedingungen ermöglichen ihm die ungehinderte Entfaltung seines philosophischen Denkens und seiner Tugenden, wie Freigebigkeit und Sorgsamkeit. Ebenso wird es ihn nicht verdrießen, wenn seine Statur nicht das gängige Schönheitsideal aufweist und er von häßlichem Wuchs und von schwächlicher Gesundheit ist. Dennoch zieht er wie den Reichtum der Armut äußere Schönheit und Gesundheit Häßlichkeit und Krankheit vor, da sie das Leben erleichtem (vgl. De vita beata, 22. 1-5). Seneca zeigt hier nicht den orthodox stoischen Rigorismus, sondern versteht sich als Vertreter der sogenannten .mittleren Stoa', die eine gewisse Abstufung in der Werteskala vornimmt und gewisse Dinge, auch wenn sie keine echten Güter sind, dennoch als vorzuziehende' akzeptiert. Vgl. Pohlenz: Die Stoa, S. 122. Vgl. Rousseau: Discours sur l'origine et les fondemens de l'inegalite parmi les hommes. (Euvres completes. Bd. 3, S. 70f.

93 Das recedere in se ipsum, das zum regnum sapientiae fuhren soll, ist das Mittel, um ein philosophisches Leben zu fuhren. Derjenige, der weise werden möchte, erhebt einen außergewöhnlich hohen ethischen Anspruch. Dennoch wird die paränetische Rückzugsformel heute gerne mißverstanden und auf eine psychologische Selbstsorge reduziert. Foucault nimmt den imperativen Charakter des recedere in se ipsum zum Anlaß fur seine Kritik an einem abendländischen Disziplinierungswahn und einer Selbstbezüglichkeit, die die ,souci de soi' zum zentralen Thema der Existenz werden lasse.329 Das Subjekt mache es sich zur Aufgabe, sich ständig zu überprüfen, „la täche de s'eprouver, de s'examiner, de se contröler dans une serie d'exercises bien definis", um „la souverainete [...] sur lui-meme", die Herrschaft über seine Begierden zu erlangen. 330 Foucault erkennt in der Selbstsorge den Internalisierungsprozeß gesellschaftlicher Normen. Befangen durch seine Ideologie und seine fur die Antike unangemessene Subjektivitätstheorie übersieht Foucault, daß sich fur Seneca der Blick keinesfalls nur in Form einer kontrollierenden „inspection" in sich selbst richten soll.331 Seneca fordert, sich zurückzubeugen und den Blick aufzurichten auf die Wahrheit (vgl. De brev. vit. 2. 3). Selbsterkenntnis und Identitätsfindung sind mit der Erkenntnis einer ontologisch vorgegebenen Wahrheit untrennbar verbunden. „Reflexion" und der transzendentale „Überstieg" sind gemäß dem Delphischen ,Erkenne dich selbst' Bedingungen für die Selbsterkenntnis und für das naturgemäße Leben.332 Senecas paränetische Rückzugsformeln sind elementarer Bestandteil seiner Kulturkritik, die die Entfremdung vom naturgemäßen Leben bewußt machen soll. Die ,Sorge um sich' entspringt bei Seneca einer fundamentalen Sorge um die gesellschaftlichen Verhältnisse, die eine Erkrankung der menschlichen Einzelseele und der Vernunft bewirken, zu deren Heilung eine bewußte Distanzierung von der Gesellschaft notwendig ist.333 Heilung ermöglicht das naturgemäße Leben. Der Kontakt mit der unberührten Natur und dem Göttlichen ist Grundvoraussetzung, das regnum sapientiae zu erlangen. Programmatisch aktualisiert der geläuterte Thyest die philosophische Adhortatio. Jedenfalls begegnet er den verführenden Worten des Tantalus mit dem Hinweis auf sein inneres Königtum: „immane regnum est posse sine regno pati" {Thy. 470). (b) In struktureller und funktionaler Entsprechung zum zweiten Chorlied des Thyestes und im Rekurs auf die dargestellte Senecaische Kulturphiloso-

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Michel Foucault: Le souci de soi. Paris 1984 (Histoire de la sexualite 3), S. 53. Ebd., S. 85. 33 > Ebd., S. 78. 332 Dmitri Nikulin: Metaphysik und Ethik. Theoretische und praktische Philosophie in Antike und Neuzeit. Aus dem Russischen von Martin Pfeiffer. München 1996, S. 90. 333 Vgl. Hadot: Seneca und die griechisch-römische Tradition der Seelenleitung, S. 162f. 330

94 phie kritisiert der Prolog der Ewigkeit die Expansionsbestrebungen der occupati in die Natur und beinhaltet ebenso eine philosophische Adhortatio. Angeredet werden die Rastlosen, zu denen auch Catharina gehört, die durch den Schein äußerlicher Werte wie Reichtum und Ruhm verfuhrt werden und den Bezug zum Göttlichen verloren haben. Das Motiv der unbegrenzten Neugierde auf die entferntesten Dinge des Himmels und der Erde versinnbildlicht die Unterwerfung der Natur durch den Menschen: Ihr die jhr euch in Gold verliebt Und Süd und Ost durchrennt umb andre reich zu machen; Wo bleibt jhr wenn man alles übergibt?

[...] Setzt Bilder auffi durchlaufft die grosse See! Entdeckt ein wildes Land / setzt Nahmen auff den Schnee. Nennt Ufer / nennet Berg nach der Geschlechter Tittel Ja schreibet Freund und euch ans Monden Rand und Mittel! (Cath. 1. 49-60)

Die Lust an neuen Entdeckungen kennt keine Grenzen; die curiositas erstreckt sich überflüssigerweise auf die Sphären des Alls und entgöttlicht den Himmel, indem sie ihn beschreibbar, durchmessbar, zu einem okkupierbaren Stück Eigentum werden läßt.334 Der Ausdruck „setzt Namen auf den Schnee" (I. 58) verdeutlicht das Bemühen der Menschen, der Vergänglichkeit des Lebens durch Entdeckungen entgegenzutreten und dafür zu sorgen, daß ihr Name nicht in Vergessenheit gerät.335 Der Expansion nach außen wird im Prolog der Ewigkeit entsprechend zum regnum sapientiae im Thyestes ein stoisch-christliches recedere in se ipsum und die Aussicht, offenbar sub specie aeternitatis, auf ein „höher Reich" (I. 82) gegenübergestellt. Was ist eigentlich mit diesem Reich gemeint? Es scheint, daß es im Gegensatz zum regnum sapientiae keinesfalls während des irdischen Lebens betreten werden kann: Doch glaubt diß auch darbey Daß auch diß was jhr besitzet euch noch recht bekand nicht sey / Daß jhr / was Ewig ist hier noch nicht habt gefunden / Daß euch nur Eitelkeit und Wahnwitz angebunden / Schaut Arme! Schaut was ist diß Threnenthal Ein FolterHauß / da man mit Strang und Pfahl Und Tode schertzt. Vor mir ligt Prinz und Crone Ich tret auff Zepter und auff Stab und steh auff Vater und dem Sohne. Schmuck / Bild / Metall und ein gelehrt Papir /

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Emilio Bonfatti (Mond und Sonne in Andreas Gryphius' Catharina von Georgien. In: Opitz und seine Welt: Festschrift fur George Schulz-Behrend zum 12. Februar 1988. Hrsg. von Barbara Becker-Cantarino und Jörg-Ulrich Fechner. Amsterdam-Atlanta 1990 [Chloe 10], S. 93-123) hat nachgewiesen, daß die „blühende Selenographie des 17. Jahrhunderts" einerseits die menschliche Entdeckerfreude beweise (S. 122) und Zeichen sei für Gryphius' wissenschaftlichen „Optimismus", andererseits aber die Gestirne im Drama auf die „Funktion von religiösen Leitbildern" zurückgeführt werden (S. 123). Zum .Schnee' als Sinnbild fur Vergänglichkeit vgl. Jons: Das „Sinnen-Bild", S. 246f.

95 Ist nichts als Sprew und leichter Staub vor mir. Hir über euch ist diß waß ewig lacht! Hir unter euch was ewig brennt und kracht. Diß ist mein Reich / wehlt / was jhr wündtschet zu besitzen. Wer allhier fählt dem wird nichts auff der Erden nützen. (Cath. I. 61-74)

Es besteht die Frage, ob tatsächlich ein Reich sub specie aeternitas vor dem Hintergrund einer Dichotomie von irdischer Zeitlichkeit und jenseitiger Ewigkeit gemeint ist, daß also Zeit und Ewigkeit unversöhnliche Gegensätze bilden. Die traditionelle Barockforschung würde diese Dichotomie zugrunde legen.336 Nun finden wir aber, abgesehen von den bereits zitierten Versen (vgl. I. 49-60), an anderer Stelle im Prolog die senecaische Kritik an den occupati, die ihre Zeit falsch verwenden, indem sie nichtigen Gütern, Ruhm und Ehre nachjagen (vgl. I. 40^5). 3 3 7 Berücksichtigt man die strukturellen Ähnlichkeiten mit dem Chorlied des Thyestes, so könnte die Aufforderung, das Ewige zu erkennen (vgl. I. 71, 80), bedeuten, den eigenen Besitz fruchtbar zu machen, das ewige und nicht das flüchtige Wissen zu entdecken, gleich dem weisen König in Senecas Chorlied die stoische scientia bonorum ac malorum, d. h. das stoischchristliche regnum sapientiae zu erstreben. Das „höher Reich" (I. 82), so meine ich, muß nicht zwangsläufig den physischen Tod implizieren, sondern sollte im Kontext einer christlichen Philosophie gedeutet werden. Dann würde dieses Reich einen Bewußtseinszustand meinen, der offensichtlich durch dieselbe Urteilsfähigkeit erlangt wird wie das regnum sapientia. Der Begriff synthetisierte Vernunft und Christentum zu einer religio vera. Diese Synthese müßte sich konsequent dann ergeben, wenn man nicht nur eine rudimentäre Rezeption der stoischen Philosophie als ars moriendi unterstellt. Wie der im griechischen Geist philosophierende Stoiker und der Neuplatoniker durch aktive Kontemplation die „Erfahrung der Ewigkeit" im Leben machen, so fordert die Ewigkeit den Christen auf, in „eine völlig andere Ordnung des Existierens" einzutreten,338 ohne daß sie ihn zum Sterben ruft. Im vernünftigen Glauben bedeutete das antike nunc stans diese Erfahrung des Ewigen im Zeitlichen.

336 v g l . Paul Hankamer: Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock. Die deutsche Literatur im Zeitraum des 17. Jahrhunderts. Stuttgart, 3. Aufl. 1964, S. 142; Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius, S. 245; Wilhelm Voßkamp: Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein. Bonn 1967 (Literatur und Wirklichkeit 1), S. 105; Ulrich Fülleborn: Die barocke Grundspannung Zeit-Ewigkeit in den Trauerspielen Lohensteins. Stuttgart 1969, S. 6f. 337 338

Vgl.oben, S. 94. Nikulin: Metaphysik und Ethik, S. 39.

96 Wie ist nun dieses ,höher Reich' zu erlangen? Während im Thyestes das naturgemäße Leben als das Mittel empfohlen wird, um die sapientia zu erwerben, erfüllt diese Funktion im Prolog die Allegorese. Die allegorische Figur der Ewigkeit fuhrt sie beispielhaft vor. Sie ruft paränetisch zur Erkenntnis der metaphysischen Wahrheiten mittels der Allegorese auf. Indem sie die Königin als ihre Nachfolgerin bezeichnet, weist sie auf deren Fähigkeit voraus, ebenso Allegorese betreiben zu können (vgl. I. 82). Offenbar gibt die emblematisch-allegorische Bühnenanweisung des Prologes der Ewigkeit das Programm der Hauptfigur an die Hand. 339 Die Ewigkeit ist zwar auch selbst als Allegorie poetologisches Mittel,340 im Hinblick auf die Hauptfigur aber ist sie in der traditionellen Interpretation vor allem „Anwalt" des Trauerspiels. 341 Die Regieanweisung eröffnet das Bild der irdischen Vergänglichkeit. Die entsprechenden Requisiten „Leichen / Bilder / Cronen / Zepter / Schwerdter" werden im Prolog um weitere ergänzt, um die „dürren Todtenbeine(n)" (I. 2) und um „Schwerdt / Beil und Hacken" (I. 20). 3 « Für den Prolog des Dramas kann derselbe Interpretationsgang gelten, den Jons fur das Gedicht Einsamkeit vorgegeben hat.343 Die Requisiten der Vergänglichkeit sind Indizien fur das menschliche Leben als „Greuel-stück" (I. 22). Meditativ nimmt die Ewigkeit die revelatio vor, erkennt die spezifische significatio der Dinge und gelangt schließlich zur cognitio dei, sie erblickt das „höher Reich" (I. 82) und ruft Catharina zur Nachfolge auf. Die Königin scheint die Ausdeutung der irdischen vanitas, wie sie durch die Ewigkeit vorgenommen wird, tatsächlich ebenfalls zu leisten. Im Rückblick auf ihr Leben meditiert sie über die „Leichen / Kercker / Beil'" (I. 558) und die „Felder vol gespister Leichen" (IV. 31) und gelangt in den „Besitz der heiligen Ewigkeit" (IV. 160). Sie scheint die sapientia ähnlich wie Thyest erworben zu haben. Durch die Allegorese hat sie zum naturgemäßen Leben gefunden, sie stirbt für die Ansprüche des traditionellen Naturrechts, für das „rechte Recht" (V. 387) und „deß Gewissen Recht" (IV. 150).

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Vgl. etwa Szarota: Geschichte, Politik und Gesellschaft im Drama des 17. Jahrhunderts, S. 69; Janifer Gerl Stackhouse: The Constructive Art of Gryphius' Historical Tragedies. Bern, Frankfurt am Main, New York 1986 (Bemer Beiträge zur Barockgermanistik 6), S. 59. Zur Abgrenzung der willkürlich dichterischen poetischen Technik der Allegorese von der orthodoxen Bibelallegorese vgl. Ohly: Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter, S. 9. Schings: Catharina von Georgien, S. 36. Vgl. etwa Hans Wemer Nieschmidt: Emblematische Szenengestaltung in den Märtyrerdramen des Andreas Gryphius. In: Modern Language Notes 86, 1971, S. 321-344, hier S. 325f. Zu diesem Szenenstich von Gregor Bieber und Johann Using vgl. Zielske: Andreas Gryphius' Trauerspiel „Catharina von Georgien" als politische ,Festa Teatrale' des BarockAbsolutismus, S. 20. Vgl. oben, S. 74f.

97 Am Ende übernehme, so Alt, Catharina schließlich selbst „die Funktion der Allegorie", die auf eine verbindliche Wahrheit verweise; die „Mustergültigkeit der Märtyrerin" sei damit „nochmals gesteigert".344 Catharina gilt deshalb als Vorbildfigur, da sie die philosophische Adhortatio des Prologs in der Praxis aktualisiert, das allegorische Weltbild des Mittelalters mit seinem umfassenden einheitlichen Ordnungssystem wieder einsetzt, den Bezug zum Reich Gottes auch auf Erden in einer gottverlassenen Welt wiederherstellt. Obwohl weder Catharina noch Thyest reine Stoiker sind, weil sie als occupati einst die lex naturae verletzten, scheinen sie überzeugend eine Wandlung zu sapientes vollzogen zu haben. Die allgemeine significatio des Chorliedes und des Prologs findet offenbar ihre besondere Konfiguration in den beiden Hauptfiguren. Diese nehmen die philosophische Adhortatio ernst und vollziehen die sokratische Wendung. Hier wie auch hinsichtlich des Thyestes ist nun zu diskutieren, inwieweit der philosophische Anspruch des Chorliedes und Prologs tatsächlich widerspruchslos von den Protagonisten aktualisiert wird, denn sie scheitern schließlich in ihrer eigenen Kultur.

c) Die Praxis: Thyests und Catharinas Abkehr von der Gesellschaft. Das hermeneutische Problem der Naturverhältnisse Die philosophische Paränese des Prologs der Catharina und des Senecaischen Chorliedes fordert zu einer Lebensweise auf, deren Prämissen mit den Anforderungen divergieren, die an die Protagonisten gestellt werden. Der entscheidende Punkt ist aber, daß sie nicht verstanden werden. Deshalb unterliegt Thyest schließlich doch den Verführungen der Macht, und aus diesem Grund erscheint seine vorübergehende Glorifizierung des naturgemäßen Lebens unglaubwürdig. Catharinas Rückzug von ihren herrscherlichen Pflichten, der ihr aufgrund des geschriebenen Gesetzes und des neuen Naturrechts nicht erlaubt ist, wird von der Kultur nicht nachvollzogen. Die Protagonisten begeben sich in Außenseiterpositionen, indem sie nicht mehr akzeptable Naturverhältnisse eingehen. Diese sind mit ethischen Ansprüchen verbunden, die nicht toleriert werden. Beiden wird ihr Naturverhältnis auf je unterschiedliche Weise zum Verhängnis. Illusionslos stellt Seneca in seiner Tragödie das Scheitern des naturgemäßen Lebens dar (a). Gryphius zeigt durch die Rosenallegorese, daß das christlich-stoische Naturverhältnis nicht mehr verstanden wird (b).

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Alt: Begriffsbilder, S. 251, Vgl. in diesem Sinne auch Schings: Catharina von Georgien, S. 40.

98 (a) Eine idealisierende Interpretationsrichtung sieht in Thyest den stoischen sapiens, dem die Abkehr von der Gesellschaft gelungen ist. Gigon bezeichnet ihn als den „stoischen σοφός", den „von jedem Ehrgeiz und Haß" freien Weisen. 345 Poe nennt ihn einen „wandering ascetic sage" 346 und „splendid villain". 347 Etwas differenzierter hält Pöschl den Thyest zwar nicht für einen stoischen Weisen, meint aber, er sei „durch Erfahrung weiser geworden" und wolle „seine Schuld" büßen. 348 Im Widerspruch zu all diesen Sichtweisen steht die Interpretation Lefevres, der die Entwicklung während des gesamten Stückes genau verfolgt und konstatiert, Thyest handele „wider Wissen und Gewissen"; durch „Lüge und Selbsttäuschung" bahne er sich den Weg zurück zur Macht. 349 Daß Thyest schließlich das naturgemäße Leben zum Verhängnis wird, ist einerseits auf persönliche Schwäche zurückzufuhren, andererseits aber ein Resultat des mangelnden Verständnisses der Außenwelt, in der die lex naturae nicht mehr gilt. Den Verführungsversuchen, an den Hof zurückzukehren, widersetzt sich Thyest nur zunächst. Idealisierend schildert er Tantalus sein einfaches Leben in unberührter Natur. Die Furcht hat er abgelegt, sich in Sicherheit befunden und auf dem Boden liegend einfache Speisen zu sich genommen (vgl. Thy. 4 4 7 ^ 5 1 ) . Kein Elfenbein schmückte den First seines Daches. Weder ging er zum Fischfang auf See oder legte künstliche Staudämme an noch bereicherte er sich durch Kriegsbeute (vgl. 457—461). Weder nahm er entferntes Ackerland in Besitz noch legte er künstliche Wälder auf Dachterrassen an. Luxus war ihm fremd. Er nahm keine aufwendig beheizten Bäder und schwächte nicht den Körper durch übermäßigen Weingenuß (vgl. 461^467). Er verließ sich auf die teleologische Vorsorge der Natur und befolgte die Prämisse des secundum naturam vivere. Thyest rühmt sein ehemaliges Glück, da er keinem im Wege stand: „o quantum bonum est obstare nulli [...]" (449f.). Freiwillig zog er die Armut dem Reichtum vor (vgl. 454). Daß aber der Zustand der Entzweiung kaum rückgängig gemacht werden und daß derjenige, der einmal dem verführerischen Glanz der Macht und des Einflusses verfallen ist, kaum Heilung erwarten kann, exponiert Seneca illusionslos in seiner Tragödie. Tantalus weiß, daß das Glück, das Selbster-

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Vgl. Olof Gigon: Bemerkungen zu Senecas Thyestes. In: Philologus 93, 1938, S. 176-183, hier S. 177. Joe Park Poe: An Analysis of Seneca's Thyestes. In: Proceedings of the American Philological Association 100, 1969, S. 355-376, hier S. 360. Ebd., S. 36. Viktor Pöschl: Bemerkungen zum Thyest des Seneca. In: Ders.: Kunst und Wirklichkeitserfahrung in der Dichtung. Abhandlungen und Aufsätze zur Römischen Poesie. Kleine Schriften. Bd. 1. Hrsg. von Wolf-Lüder Liebermann. Heidelberg 1979, S. 311-319, hier S. 319. Lefevre: Die philosophische Bedeutung der Seneca-Tragödien am Beispiel des Thyestes, S. 1275.

99 kenntnis und Identität gewähren, eine für den Menschen verführerische Aussicht darstellt und prophezeit im Dienste des Atreus dem unbeständigen Thyest die Selbstfindung in der Kultur. Er soll das Angebot des Atreus annehmen und sich mit diesem die Herrschaft teilen. Atreus, so formuliert er geschickt, gebe auf diese Weise Thyest sich selbst zurück (vgl. 433). Tantalus vermittelt die Botschaft, daß das Leben in gesellschaftlicher Verpflichtung den einzelnen zu seiner eigentlichen Bestimmung leite. Außerdem, so suggerieren die Verführer, werde die ursprüngliche natürliche Liebe unter den Brüdern wiederhergestellt und die pietas in ihre Rechte gesetzt (vgl. 474,510). Die Verführungsversuche zeigen Erfolg. Thyest gelingt es nicht, seine Wandlung zum sapiens überzeugend zu vollziehen. Zwiegespalten kündigt er an, zwar äußerlich das Königtum wieder annehmen, aber nicht von seinen Rechten Gebrauch machen zu wollen (vgl. 542f.). Das Drama nimmt seinen grausamen Fortgang. Atreus ist nicht nur eine vom Instinkt angetriebene Bestie, die „triumphs through civilisation's controlling forms", 350 in der sich ein „masochistic desire" und eine „sadistic voluptas" findet.351 Als ordnungschaffender occupatus, geleitet von theoretischer Neugierde - die freilich mit dem gehässigsten Sadismus einhergeht zerstückelt er kontrolliert und sorgsam Thyests Kinder und setzt sie ihrem Vater zum Mahl vor (vgl. 755-770). Selbst in diesem an Grausamkeit kaum zu überbietenden Akt hat Atreus die Ordnung seines Reiches unter seiner Kontrolle. Die Leichenzerstückelung ist eine Allegorie dafür, daß die Zivilisation über die entgöttlichte Natur siegt.352 Auch Naturschilderungen verdeutlichen die Entfremdung von der Natur. Wie im Oedipus die Pestschilderung und die verkehrte Ordnung der Eingeweide des Opfertieres die Verletzung der lex naturae verbildlicht, 353 spiegelt hier das kosmische Chaos das gesetzlose Leben der occupati.

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Anthony James Boyle: Tragic Seneca. An Essay in the Theatrical Tradition. London, New York 1997, S. 46. Poe: An Analysis of Seneca's Thyestes, S. 361. Lessing beurteilt in seiner Abhandlung zu Senecas Tragödien (Von den lateinischen Trauerspielen welche unter dem Namen des Seneca bekannt sind) die Rache des Atreus als „so unmenschlich", daß sie ohne den Einfluß des Götterfluches nicht zu erklären sei, der Atreus „zwingen" müsse (S. 119). Allerdings bedeutet der Götterfluch nicht, daß die Protagonisten unselbständig handeln. Lessings Interpretation trägt dem protreptischen Charakter der Tragödie nicht Rechnung, der zum naturgemäßen Leben aufruft. Zur Stilistik der Greuelszenen im Zusammenhang mit der Silbernen Latinität und ihrem Hang zur Detailschilderung vgl. Manfred Fuhrmann: Die Funktion grausiger und ekelhafter Motive in der lateinischen Dichtung. In: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. Hrsg. von Hans Robert Jauß. München 1968 (Poetik und Hermeneutik 3), S. 23-66, hier S. 49. Vgl. Otto Regenbogen: Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas, S. 446f. Vgl. oben, S. 62f.

100 Mitten am Tag flieht die Sonne vom Himmel (vgl. 776f.). Keine Sterne zeigen sich in der vor der Zeit beginnenden Nacht (vgl. 825). Über der Erde breitet sich Angst vor dem „deforme chaos" (832) und dem Einbruch ewiger Dunkelheit aus (vgl. 835-842). 354 Das Chaos ist sowohl Analogie für die „Abwesenheit" als auch für die „Bedrohung von Ordnung" 355 , für „Entwurzeltsein" und „Orientierungslosigkeit". 356 In der Tragödie ist es zum einen Zeichen dafür, daß die lex naturae verletzt wurde, zum anderen, daß eine sichere Orientierungsinstanz fehlt. Weder in der Kultur noch in der Natur findet Thyest sichere Wurzeln fur seine Existenz. Er wurde aus der Kultur in die Natur hinausgezwungen. Nur vorübergehend wurde ihm gestattet, sich in ihr zu beheimaten. Das Leben in der Natur gilt der Außenwelt als Eigensinn, ihm selbst am Ende als kontingente Lebensform, von der er sich relativ schnell wieder verabschieden kann. Es bleibe dahingestellt, ob er aus eigenen Machtgelüsten oder aus Verkennung der Lage wieder an den Hof zurückkehrt. Naturgemäß zu leben bedeutet Einsamkeit, Anfechtung und Gefahr. Die Paränese des Chorliedes lockt mit einem Ideal, das praktisch nicht aktualisiert werden kann. Es führt zum Tod. (b) Im Thyestes entlarvt die menschliche Praxis die im zweiten Chorlied empfohlene vorbildliche Lebensführung fern von den occupati der Kultur als Utopie. Der Paränese des Prologes der Ewigkeit folgt Catharina zwar beständiger als Thyest derjenigen des Chorliedes, weil sie sich im wahrsten Sinne des Wortes nicht verführen läßt, aber ihr Naturverhältnis wird ebensowenig verstanden und akzeptiert. Catharinas selbstgewählte Bestimmung als „Gott Verlobter Geist" (I. 867), der sein „Reich in sich" (I. 869) gefunden habe, erfährt Kritik. Diese überführt die Wahrheitsfindung der Königin als temporäre und von der Gefangenschaft durch Zwang veranlaßte subjektive und willkürliche Sinnsetzung. Besondere Aufmerksamkeit gilt im folgenden Catharinas Verständigungsversuchen mit ihrer Vertrauten Salome. Dieser vermeintlichen Randfigur schenkt die Forschung wenig Aufmerksamkeit und zählt sie generell entsprechend ihrer Zugehörigkeit zur christlichen Kultur schematisch zu den ,Guten'. Diese Zuordnung ist nach Bernd „the unquestionable intention" des Dichters. 357 „The good ones are those who are on the side of the Christian queen Catharina; the bad ones are the followers of the heathen

354 vgl. etwa Thomas G. Rosenmeyer: Senecan Drama and Stoic Cosmology. Berkeley, Los Angeles, London 1989, S. 129f. 355

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Emil Angehrn: Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos. Frankfurt am Main 1996, S. 107. Ebd., S. 143. Clifford Albrecht Bernd: Conscience and Passion in Gryphius' Catharina von Georgien. In: Studies in the German Drama. Α Festschrift in Honor of Walter Silz.. Chapel Hill 1974, S. 15-29, hier S. 20.

101 king Chach Abas." 358 Salome sei, so Gillespie das „alter ego" und vertrete „das menschliche Interesse und Bedürfnis der Königin". 359 Erschöpft sich aber ihre Rolle in fugsamer Hinwendung zu ihrer Herrin? Bei genauerer Analyse erweist sich auch Szarotas Urteil als zu schwach, es sei ein „gewisses Aufbegehren gegen Gott" zu bemerken, das in die Randfiguren verlegt und Zeichen sei für Gryphius' eigenes „Rebellentum". 360 Es wird sich zeigen, daß Salome versucht, den Hobbesschen und Lutherischen äußeren Frieden mit allen Mitteln zu erhalten. Dies zu beweisen, steht im folgenden die Konversation zwischen Catharina und Salome im Mittelpunkt der Untersuchung. Die Auseinandersetzung zwischen der Königin und ihrer Dienerin findet anläßlich der Allegorese statt, die Catharina vornimmt. Salome stellt Catharinas Entzifferung des mundus symbolicus in Frage - ob aus Unwissenheit oder in bewußter Absicht, bleibe dahingestellt. Ihr Unverständnis widerspricht einer Ausdeutung des Prologs der Ewigkeit als einer verbindlichen Theorie idealer Weltdeutung. Die Uneinigkeit über die Allegorie entfremdet die Vertrauten Catharina und Salome in fundamentaler Weise voneinander und zeigt die Paradoxic einer Wahrheitsfindung auf einem Schauplatz, der mit Leichen bestückt ist. Diesen als den „Wahrheitsgrund der Erscheinungswelt" darzustellen und ihn so in seiner Funktion verbindlich zu machen, ist für einen Protestanten, wie schon Eggers bemerkte, eine „Ausnahme". 361 Kaminski meint, daß „die hermeneutisch unangefochtene Selbstverständlichkeit, mit der Transzendenz die Trauerspielbühne" betrete und „Gültigkeit fur ihre heilsgewisse Rede" beanspruche, unter der Voraussetzung eines deus absconditus befremden müsse. 362 Die Gültigkeit sieht Kaminski durch die „epilogartige Wahnrede Chachs" aufgehoben. 363 Der Prolog erscheine auch deshalb wie ein „Fremdkörper", 364 weil Catharina, nachdem die Ewigkeit von der Bühne getreten sei, kein himmlisches Zeichen mehr erhalte.365 Catharina erhält jedoch als Zeichen des Himmels von Salome die Rosen. Sie deutet es aber scheinbar auf eigensinnige Weise und manövriert sich selbst in eine Außenseiterposition. Die Frage, ob und in welcher Weise die Allegorese noch auf einen unhinterfragt intakten mundus symbolicus aufbaut, kann beantwortet werden, indem der Verständigungsprozeß über

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Ebd. Gillespie: Andreas Gryphius' Catharina von Georgien als Geschichtsdrama, S. 93f. Szarota: Künstler, Grübler und Rebellen, S. 215. Werner Eggers: Wirklichkeit und Wahrheit im Trauerspiel von Andreas Gryphius. Hamburg 1967, S. 27. Kaminski: Andreas Gryphius, S. 101. Ebd., S. 105. Ebd., S. 101. Vgl. ebd., S. 109.

102 die Allegorie beachtet wird. Erst dann ist eine weitere Aussage über die Funktion des Prologs zu wagen. Salome sieht in einem kurzen Augenblick der Hoffnung in der Natur ein Zeichen für das eigene Schicksal und überbringt Catharina in Vorfreude auf eine baldige Befreiung die Rosen, deren sommerliches Aufblühen sie situativ auf den persönlichen Kontext überträgt. 366 Sie hatte sich bisher als von der renovatio der Natur ausgeschlossen empfunden (vgl. I. 169-176). 367 Salome abstrahiert nicht von der momentanen Situation und erkennt in dem Zeichen der Natur keine allgemeine, situationsunabhängige Gültigkeit. Sie benutzt die Rosen bewußt, um ihre Herrscherin zu motivieren, deren Lebensüberdruß sie bemerkt hat. Catharina reagiert auf die „neuen Sommers Zeichen" (I. 301) nicht neugierig, sondern fast formell, und ohne einen Augenblick des Zögerns dominiert sie das Gespräch mit einer konventionellen Deutung der Rosen. Auf der Basis dieser sichtbaren Zeichen, der visibilia, enthüllt Catharina Analogien, aufgrund deren sie ihr ,Reich in sich' konstituieren kann und die auf Wissen rekurrieren, das fest in der abendländischen Tradition verankert ist. Sie bringt die Dinge zum Sprechen und erkennt in der Rose ein Gleichnis für die vanitas des eigenen Lebens. Gryphius verweist in seinen Anmerkungen zur Catharina kurz auf das Rosengedicht des Ausonius aus dem vierten Jahrhundert nach Christus, das die Vergänglichkeit beklagt. 368 Jons hat sich Catharinas Rosenallegorese gewidmet, Beziehungen zum Rosengedicht des Alanus nachgewiesen 369 und für den Hinweis auf die „Dornen" (1.306, 318) die Rosenallegorie im Werk des Kirchenvaters Ambrosius herangezogen. Die Rose versinnbildlicht dort den Dualismus des menschlichen Lebens. Schönheit, Würde und äußerer Glanz kann das Leben zwar bieten, sie sind aber vergänglich und gehen immer einher mit Sorgen und Leid. Die Dornen sind Sinnbild für das Leiden und den Kummer in der Welt. Aus diesem Grunde bezeichnet die Rose den „status des Menschen nach dem Sündenfall." 370

366 Vgl. Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Hrsg. von Arthur Henkel und Albrecht Schöne. Stuttgart, Weimar 1996, Sp. 291. 367

Eine solche Naturdarstellung gewinnt seit der Spätrenaissance für das utopische Denken die Bedeutung einer Erneuerung der Kultur. Vgl. Artikel ,Natur'. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6, Sp. 442-478, hier Sp. 462. 368 Vgl. Andreas Gryphius, Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Bd. 6: Trauerspiele, S. 223. Eine ausfuhrlichere Untersuchung dieses Gedichtes von Ausonius bietet Barbara Becker-Cantarino: „Die edlen Rosen leben so kurtze Zeit": Zur Rosen-Metaphorik bei Gryphius, Gongora und den Quellen. In: Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts (Chloe 27), S. 11-33, hier S. 20-26. 369 Vgl. Jons: Das „Sinnen-Bild", S. 108-110; vgl. auch Becker-Cantarino: „Die edlen Rosen leben so kurtze Zeit", S. 26-29. 370 Jons: Das „Sinnen-Bild", S. 113. Zum Rosengleichnis vgl. auch Fricke: Die Bildlichkeit in der Dichtung des Andreas Gryphius, S. 220-223.

103 Insofern Catharina diese Analogien entdeckt, meditiert sie wie der Gläubige im Gedicht Einsambkeit. Praktisch deutet sich bereits ihre Nachfolge der Ewigkeit an, indem sie dasselbe hermeneutische Verfahren der revelatio irdischer Zeichen vornimmt. „Von der Erkenntnis der durch das Ding repräsentierten Wahrheit", so Jons, „fuhrt der Weg zum Verständnis des Persönlichen und zu seiner Einordnung ins Allgemeingültige." 371 Diese Allgemeingültigkeit zweifelt Salome aber an, obgleich sie selbst Christin ist und Catharinas konventionelle Deutung verstehen müßte. Indem sie die persönliche Situation der Hoffnung auf baldige Befreiung fur ihre Deutung heranzieht, wirft sie ein: Doch / wie wenn jtzt der Grimm der Winter sich gelegt / Der harte Dornenstrauch erneute Rosen trägt; So wird / wenn nun der Sturm deß Jammers wird verschwinden Auch jhre Majestet gewündscht' erqickung finden. (Cath. I. 319-322)

Im Anschluß aber hat Catharina einen Traum. In ihm versinnbildlicht die von Schöne beschriebene dreistufige Kronensymbolik das Schicksal der Königin. Drei Stufen der Existenz zeigen Catharina als eine an die irdische vanitas gebundene weltliche Fürstin, als eine Märtyrerin mit Dornenkrone und schließlich sub specie aeternitatis als eine fest Gläubige und Braut Gottes, der die Krone als Sinnbild für das ewige Leben verliehen wird (vgl. I. 329-352). 372 Die Analogiebildung, die sich auf verschiedenen Stufen steigert, nimmt ihren Ausgang auf der eschatologischen Ebene und deutet auf das Ende des Dramas voraus, als Catharina die „Cron der Ewigkeit" (IV. 262) empfangt. Es ist unerheblich, ob Catharina zu diesem Zeitpunkt bereits ihr eigenes Schicksal erkennt, was aber naheliegt. 373 Von weit größerem Interesse ist die Tatsache, daß sie diese Allegorese vornimmt und Salome die Naturerscheinung kontextabhängig anders versteht. Den „Gestus der figuralen Rollenbereitschaft", 374 den die Kronentrias verdeutlicht und der fur die Personenallegorie typisch ist, erkennt Salome nicht einmal als konventionelle Deutung aufgrund der basierenden Erscheinung ,Rose'. Sie interpretiert das Bild der gekrönten Fürstin weltlich, es weist in ihrem Verständnis auf die in Aussicht stehende Freiheit hin (vgl. I. 329, 353-358).

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Ebd., S. 113. Vgl. Albrecht Schöne: Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus König von Groß Britannien. In: Die Dramen des Andreas Gryphius, S. 117-169, hier S. 128-135; vgl. auch Heidel Joos: Die Metaphorik im Werk des Andreas Gryphius. Diss., Bonn 1956, S. 91f.; Nieschmidt: Emblematische Szenengestaltung in den Märtyrerdramen des Andreas Gryphius, S. 327. Vgl. dagegen Schöne: Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus König von Groß Britannien, S. 137. Conrad Wiedemann: Bestrittene Individualität. Beobachtungen zur Funktion der Barockallegorie. In: Formen und Funktionen der Allegorie. Hrsg. von Walter Haug. Stuttgart 1979 (Symposion Wolfenbüttel 1978), S. 574-591, hier S. 579.

104 Salome nimmt nun eine ähnliche Rolle wie die Verführer in Senecas Thyestes ein, mit der Einschränkung natürlich, daß sie kein Verbrechen gegen ihre Herrin plant. Um diese in das gesellschaftliche Leben zurückzulocken, erinnert sie listig an den Sohn Tamaras, der sein Reich zurückerobert habe und die Rettung bringen werde. Sie stellt die baldige weltliche Herrschaft in Aussicht und verleiht der Krone einen anderen Sinn: „Auff meine Königin! Diß ist die schöne Cron / die jhr die Nacht gezeigt" (I. 364f.). Obgleich erfreut über die Botschaft, daß ihr Sohn sein Reich zurückgewonnen habe und sie befreien wolle, überfallt die Königin dennoch ein Lebensüberdruß, als sie an die Pflichten denkt, die sie als occupata wieder aufzunehmen hätte (vgl. I. 405-408). Sie ist bereit zu sterben und hat bereits den Traum der Dornenkrone mit ihrem eigenen Schicksal in Verbindung gebracht. Im Gegensatz zu Thyest, der sich verführen läßt, beharrt sie auf der einmal eingenommenen Position und besteht auf ihrer Deutung der Rosen: Mir ist als wenn ich Neu gebohren Ich fühle keiner Kummer Last. Ich wil diß Sorgen volle Leben Für Reich und Sohn dir willig geben. (I. 405^108)

Nun ist Salomes Verständnislosigkeit gegenüber dem Traum nicht absolut verwunderlich. Die Ausdeutung der Rose als Sinnbild für die Vergänglichkeit und das Leiden des menschlichen Daseins kann noch Wurzeln in der mittelalterlichen Tradition aufweisen und ein Wissen voraussetzen, das zumindest auf Konvention beruht. Bei der Allegorese der Kronentrias aber, die Catharina auf der Basis des Zeichens ,Rose' vornimmt, handelt es sich tatsächlich um eine „originelle poetische Erfindung" des Dichters.375 Gryphius intendiert aber mehr, als die Gabe der inventio unter Beweis zu stellen, denn er eröffnet durch die Reaktion der Salome eine Problematik, die weit über poetische Fragen hinausreicht. Handelte es sich nur um eine poetische Erfindung, so gliche sie einer änigmatischen poetischen Aufgabe, die der Dichter sowohl seinen Lesern als auch seinen Figuren in gleicher Weise in Form eines Traumes stellt.376 Innerhalb der dramatischen Hand-

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Schöne: Ermordete Majestät, S. 138; das entsprechende Titelkupfer der Kronentrias ist erst 1649 in einer Schrift über Karl I. von England nachzuweisen, weshalb Schöne die entscheidende Fassung der Catharina nicht vorher vermutet. Vgl. auch ders.: Emblematik und Drama, S. 128f. Georg Philipp Harsdörffer hat bekanntlich die Änigmatisierung in seiner Bildersprache zum poetischen Spiel ausgeweitet, so etwa in seinen Frauenzimmer Cesprechspielen. Die theologische Rechtfertigung auch der entlegensten Bilder, die nicht in der Bibel vorgegeben waren, sollte immer gewährleistet bleiben. Einen recht änigmatischen Vergleich schuf Harsdörffer mit der Welt als eines .Zitterrochen', der demjenigen, der ihn berührt, Schläge versetzt (vgl. etwa Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker, S. 42). Die ausu-

105 lung aber ist Salomes Unverständnis entscheidend. Die von Catharina betriebene Allegorese, sowohl die konventionelle als auch die ungewöhnliche, sind ihr ein Rätsel. Sie hält beide Deutungen fur Erfindungen des königlichen Geistes, und sie ist nun diejenige, die verstehen und lösen soll. Dies vermag sie nicht oder will es nicht vermögen. Vielleicht liegt es auch nicht im Interesse der Königin, daß sie es vermag. Es bleibe dahingestellt, ob Catharina bei der Schilderung ihres Traumes um Verständnis bei ihrer Zuhörerin bemüht ist - falls sie den Traum selbst versteht oder ob sie plant, sich ihrer Vertrauten durch eine willkürliche Allegorese zu entziehen. Ein „stabiles" und von Sender und Empfanger „gemeinsam geteiltes oder erinnerbares stillschweigendes Wissen", das nötig ist, damit Kommunikation mit Hilfe einer Allegorie zustandekommt, muß offensichtlich ausgeschlossen werden. 377 Der erste Eindruck einer mißglückten Kommunikation setzt sich fort. Im Laufe der weiteren Errichtung ihres inneren Reiches spielt die in der Bühnenanweisung zum Prolog konstitutive „Leiche" als „oberstes emblematisches Requisit" 378 eine wichtige Rolle. Sie ist das Produkt der sie umgebenden Zepter und Schwerter, Resultat irdischer atrocitas,379 Benjamin ist darin zuzustimmen, daß gerade in der Allegorisierung der Leiche „die Paradoxic das letzte Wort behalten muß". 380 Benjamin verweist auf die Greuelszenen in den Seneca-Dramen, doch ohne Belege zu liefern und ohne die dort andere Funktion der Leiche zu berücksichtigen. 381 Im Thyestes gilt die Leiche, die von Atreus sorgfaltig zerstückelt wird, als Indiz fur das verfehlte naturgemäße Leben und ist der Auswuchs einer pervertierten Zivilisation. 382 Eine Allegorese, die zur Einsicht in die vanitas des irdischen Lebens fuhrt, wird bei Seneca selbstverständlich nicht intendiert. Als ein Zeichen für das verfehlte naturgemäße Leben könnte die Leiche aber auch im barocken Drama fungieren, da sie Produkt derjenigen ist, die „Namen auff den

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fernde Bildersprache Harsdörffers hat hundert Jahre später Bodmer und Breitinger zu heftiger Kritik an der barocken Bildlichkeit veranlaßt. Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen 1982, S. 37. Abgesehen von der besprochenen Textstelle in der Catharina handelt es sich um ein weiterreichendes hermeneutisches Problem, das mit größer werdendem Abstand zum 17. Jahrhundert virulenter wird und die offensichtlich zunehmende Fremdheit und das Unverständnis bestimmt, das seiner Literatur begegnet. Da kein gemeinsames Wissen, der Bibel oder der Mythologie, geschweige denn die Fähigkeit oder Möglichkeit, jeder änigmatischen Allegorie gerecht zu werden, mehr vorausgesetzt werden kann, kommt es zu einem „Ausschluß" von Lesern (ebd., S. 38). Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 194. Zur barocken Allegorie der Leiche vgl. auch Eva Horn: „Ehren-Zeichen" und „zärtlicher Euphemismus". Allegorien des Todes. In: Allegorie. Konfigurationen von Text, Bild und Lektüre. Opladen, Wiesbaden 1998, S. 133-147, hier S. 134-139. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 390. Vgl. S. 392. Vgl. oben, S. 99.

106 Schnee" (I. 58) setzen und Kriege fuhren. Catharina aber strebt in ihrer revelatio der Leiche die Nachfolge der Ewigkeit an. Die Vergegenwärtigung der „Leichen / Kercker" und „Beil'" (I. 558) und der „Felder vol gespister Leichen" (IV. 31), die sie während ihres tätigen gesellschaftlichen und politischen Lebens gesehen und teils selbst produziert hat, gipfelt in der Todesstunde in dem Hinweis auf ihre eigene „Leich" (IV. 308). Wie die Rose leitet die Leiche als Sinnbild für die Vergänglichkeit durch paradoxe Allegorese zum „ewig Königreich" (IV. 244). Ist der Gedanke, daß der Tod die Seele vom carcer des Körpers befreie, platonisch-christlicher Provenienz, so wird doch Catharinas übertriebene Freude und der Hinweis auf „das gewündtschte Reich / der ewig steten Lust" (IV. 307f.) nicht verstanden. 383 In Salomes Verständnis ist die Leiche Zeichen für die absolute Gottverlassenheit der Welt. Salome spricht ihre Einsicht kurz vor der Folter aus: „Ich glaube Gott verstopfft für uns sein gnädig Ohr" (IV. 343). Während Catharina auf der Folter an den Rosentraum gemahnt und an die Befreiung von den Dornen des Lebens (vgl. IV. 365f.), erinnert Salome an den zurückgelassenen Sohn und an die „herbe Frucht" (IV. 376), die Catharinas Handeln trage. Brüsk erfahrt sie in folgenden Worten auch eine Zurückweisung: „Wofern er nicht für Gott die Mutter wagen kann; ist er nicht unser Kind und geht uns gantz nicht an" (IV. 379f.). Am Ende der Folter verwünscht Salome ihren eigenen Gott: „Ach warumb schlaff ich nicht vielmehr mein Heyland ein" (V. 139)? Was bedeutet nun Salomes Unverständnis im Hinblick auf den politischen Konflikt? Durch ihre Allegorese geht Catharina ein Naturverhältnis ein, das, wie gezeigt, mit der stoischen Naturbetrachtung zu vergleichen ist.384 Dies betrifft zum einen die hermeneutischen Voraussetzungen, zum anderen das Ergebnis der Deutung. Wie die stoische Naturbetrachtung erkennt Catharina in den visibilia durch Enthüllung von Analogien das Göttliche. Sie vernimmt, wie der Spaziergänger im Wald in Senecas 41. Brief, die Stimme ihres Gewissens und erhebt Anspruch auf die Akzeptanz der stoisch-christlichen lex naturae. Catharina beruft sich im Widerstand auf das „Gewissen" (IV. 38), das „Gewissen Recht" (IV. 150), auf ihre Freiheit (vgl. IV. 305f.) und ihr regnum sapientiae (vgl. IV. 369). Sie fuhrt die Linie der Antigone und des Michael Baibus fort.385 Mag ihre exaltierte Todessehnsucht auch unstoisch sein, so erhebt sie doch durch

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Zur Freude der christlichen Märtyrer vgl. Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius, S. 264-267; ders.: Catharina von Georgien, S. 66. Eine von Erwin Rotermund (Der Affekt als literarischer Gegenstand: Zur Theorie und Darstellung der Passiones im 17. Jahrhundert. In: Die nicht mehr schönen Künste, S. 239-269) konstatierte „stoizistische Abdämpfung ihres Affektlebens" zeigt Catharina in keinem Fall (S. 256). Vgl. oben, S. 71-73. Vgl. oben, S. 44f.

107 ihren Widerstand einen ethisch-politischen Anspruch. Sie versucht, die Dissoziation von Ethik und Politik, die für das frühneuzeitliche Politikverständnis als scientia typisch ist, aufzuheben. Die Berufung auf das stoischchristliche Naturrecht verweist auf „das Moralische, das danach trachtet, politisch zu werden". 386 Weil Salome die Allegorese, das christlich-stoische Naturverhältnis ihrer Königin nicht versteht oder akzeptiert, zeigt sie sich als strenge Protestantin und als Mitglied des weltlichen Regiments. Den Akt der Gnade, der in der Allegorie die Kronenschenkung versinnbildlicht, erkennt sie nur durch das gesprochene Wort an. Sie agiert im Dienste ihres Landes und der Macht, wobei sie zwar harmlose, aber heimtückische Mittel anwendet. Listig versucht sie, die Königin von der eigenen Deutung der Natur zu überzeugen, um sie von ihrem ethischen Rigorismus abzubringen. Die Gottverlassenheit der Welt ist für Salome Antrieb für pragmatisches Handeln, das Anpassung an realpolitische Erfordernisse verlangt. Im Gegensatz zu Catharina ist sie nicht willens oder nicht fähig, durch Allegorese in eine Verbindung mit der Welt Gottes zu treten. Das Naturverhältnis, das Catharina eingeht, will oder kann Salome nicht nachvollziehen. In jedem Fall sieht sie, daß mit ihm unzeitgemäße Ansprüche verbunden sind. Dabei besteht die Königin auf christlich-stoischen Tugenden, die ihrer Umwelt nur allzu vertraut sein dürften. Präsentiert der christliche Horizont das Allgemeine, vor dem sie ihr Ich konstituiert, so kann aber vor seinem Hintergrund nicht einmal mehr auf einen Rest von Gemeinsamkeit rekurriert werden. Catharina wird selbst in dem kleinen Umkreis ihrer eigenen Kultur in ihrem Anderssein nicht erkannt, noch nicht einmal akzeptiert. Als stoische Weise bestimmt sie sich „nicht am und durch, sondern gegen die Andern". 387 Die Ansprüche des weltlichen Regiments und des neuen konstruierten Naturrechts werden nun zum Allgemeinen. Catharina müßte mit List und Tücke ihre Freiheit zurückerlangen, um wieder ihre Rolle als Herrscherin wahrzunehmen. Für sie ist aber der christliche Horizont das Allgemeine, vor dem sie ihr Ich konstituiert. Das Unverständnis der Außenwelt reicht so weit, daß noch nicht einmal etwas „noch Gemeinsames" vorhanden ist, damit sie wenigstens „in der Differenz" ihres „Andersseins" erkannt werde.388 Deshalb erscheint sie nun als occupata mit sich selbst.

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Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Freiburg, München, 2. Aufl. 1959, S. 31. Vgl. Hans Robert Jauss: Ich selbst und der Andere. Bemerkungen aus hermeneutischer Sicht. In: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Bd. 1. Hrsg. von Reto Luzius Fetz u. a. Berlin, N e w York 1998 (European Cultures. Studies in Literature and the Arts 2. 1), S. 3 6 9 - 3 7 9 , hier S. 374. Ebd., S. 174.

108 Unversehens treffen mit Salome und Catharina zwei occupatae aufeinander. Beide nehmen die jeweils von der Anderen vorgenommene Deutung der Rosen als creatio ex nihilo. Catharinas Allegorese fallt dem Verdacht des Eigensinns anheim. Eigentlich hatte sich die Königin zurückgezogen, um ihrem Schicksal als occupata in der Gesellschaft zu entgehen. Nun wird gegen sie der Verdacht erhoben, querulantisch mit sich selbst beschäftigt zu sein. Catharina scheint sich auf ein Wissen zu beziehen, das sie aus dem Blickwinkel ihrer Umwelt selbst produziert oder erfindet. Sie erweckt gegenüber ihrer eigenen Kultur, als sie ihr,Reich in sich' konstruiert, den Anschein einer, nun ausschließlich mit sich selbst beschäftigten, occupata, die eigene Normen setzt. Salome erscheint die Königin als produktive Allegorikerin, die Mißverständnisse und ihre eigene Einsamkeit selbst herbeifuhrt. Catharinas Allegorese wird nicht als Enthüllung, als revelatio verbindlicher Bezüge zwischen Menschenwelt und Gott begriffen, sondern als Imputation, die der Foucaultschen „erosion du dehors" entgegentritt. 389 Das Ausgeliefertsein in einer gottlosen Welt „erzwingt die ruhelose Weltinventur", an der Catharina in beiden Phasen ihres Lebens partizipiert. 390 Wie sie in ihrem politischen Leben an der dissimulatio teilnahm, 391 so macht sie im Traum der Kronentrias Verwandlungen durch, die sie in eine jeweils andere Rolle schlüpfen lassen. Die Rolle der Märtyrerin und die der bekrönten Gläubigen und Heiligen können von der Zuhörerin auch als Verkleidungen interpretiert werden, durch die sich Catharina der Welt verhüllt. Rusterholz hat darauf hingewiesen, daß es sich bei der Traumerzählung um eine „Vorform des Spiels im Spiel" handele, in dem Catharina eine Szene imaginiere.392 Auch die Allegorie wird zum Schein und zur Dekoration, 393 und die Allegorese zu einer Technik, mit der ein willkürliches Weltbild konstruiert wird, das sich als kontingent erweist. Sowohl als kalkulierende weltkluge Herrscherin als auch als Allegorikerin verschafft sie sich und der Welt - gleich den neuen Naturwissenschaften - ein für ihre Zwecke, um mit Husserl zu sprechen, „wohlpassendes Ideenkleid". 394 389 390 391 392

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Foucault: Les mots et les choses, S. 64. Vgl. oben, S. 73f. Blumenberg: Der Prozeß der theoretischen Neugierde, S. 149. Vgl. oben, S. 86f. Peter Rusterholz: Theatrum vitae humanae. Funktion und Bedeutungswandel eines poetischen Bildes. Studien zu den Dichtungen von Andreas Gryphius, Christian Hofmann von Hofmannswaldau und Daniel Casper von Lohenstein. Berlin 1970, S. 71. Vgl. Alewyn / Sälzle: Das große Welttheater, S. 40. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hrsg., eingeleitet und mit Registern versehen von Elisabeth Ströker. Hamburg, 2., verbesserte Aufl. 1982, S. 55. Zur Deutung der Allegorese als Versuch der Naturbeherrschung vgl. auch Harald Steinhagen: Dichtung, Poetik und Geschichte im 17. Jahrhundert. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts, S. 9 ^ 8 , hier S. 41^47.

109 In der mißlungenen Kommunikation zwischen Catharina und Salome liegt mit der kritischen Reflexion auf die Folgen der Zwei-Reiche Lehre jene auf die Naturwissenschaften verborgen. Luthers politisches Konzept sowie die neuen Naturwissenschaften, welche der Natur ein neues ,Sein' vorschreiben, sind verantwortlich dafür, daß das stoisch-christliche Naturverhältnis nicht mehr möglich ist. Dieses ist auch deshalb nicht mehr zu aktualisieren, weil es Ansprüche formuliert, die die Sicherheit des Staates gefährden. Das naturgemäße Leben fuhrt, wenngleich unter anderen Vorzeichen als im Thyestes, auch in der Catharina zum Tod. Gryphius' Catharina und Senecas Thyestes zeigen auf je unterschiedliche Weise, daß das naturgemäße Leben eine von der Gesellschaft nicht akzeptierte Lebensform ist. Mit der Kritik an der Kultur, die ihr unbequeme Ansprüche zurückweist und ihre Mechanismen auf andere, von Menschen selbst konstruierte Gesetze gründet, beklagen die Tragödien den Verlust der pantheistisch verstandenen Natur als einer verbindlichen Orientierungsinstanz. Auch weisen sie auf den Ernst jener Ansprüche hin, die eine philosophische Lebensform mit sich bringt. Das naturgemäße Leben, so scheint eine zusätzliche Botschaft zu lauten, darf nicht zu einer kontingenten Existenzweise verblassen. Dieser Eindruck darf weder denjenigen entstehen, die sich mit den philosophischen Querulanten auseinanderzusetzen haben, noch darf das naturgemäße Leben selbst aus momentanem Eigensinn aufgenommen werden. Es ist zu überlegen, ob sich nicht genau dieser Eindruck aufdrängt, ob nicht das Bestehen auf dem secundum naturam vivere tatsächlich als die Fortfuhrung eines einmal notwendig begonnenen Spieles erscheint, wie im Falle des Thyestes, das beliebig abgebrochen werden kann, oder als eines, das aus Unlust am Leben erinnert und wegen ihr nicht wieder beendet wird, wie in der Catharina. Kehren wir zu den anfänglichen Überlegungen zurück und fragen, auf welche Weise die Protagonisten die philosophische Paränese in Chorlied und Prolog aktualisieren, ist eine unüberbrückbare Kluft zwischen Theorie und Praxis festzustellen. Das naturgemäße Leben ist eine Utopie, seine Aktualisierung sogar gefahrlich, gefahrlicher noch als die prudentistische Teilhabe an den Staatsgeschäften. Im Prolog der Catharina nimmt die allegorische Figur der Ewigkeit eine revelatio der Dinge vor, welche selbst zu leisten dem Menschen nicht ohne Lebensgefahr möglich ist. Die Allegorese der Ewigkeit erweist sich in der Figurenhandlung als demonstrative Rekonstruktion des mundus symbolicus, auf den sich zu berufen der irdischen Nachfolgerin zum Verhängnis wird. In der Rückschau und eingedenk der mißlungenen Kommunikation zwischen Catharina und ihrer Vertrauten erhebt sich gegen die Ewigkeit derselbe

110 Verdacht wie gegen die Königin: daß sie eine Imputation von Sinn vornimmt. Dieser Verdacht erinnert an die Theorie der Allegorie, die Walter Benjamin in seinem Trauerspielbuch aufgestellt hat. Eine Untersuchung zur Rezeption der Senecaischen Philosophie vermag auf Benjamins Theorie ein neues Licht zu werfen.

d) Allegorie und Wahrheit in Walter Benjamins Trauerspielbuch: Widersprüche, Möglichkeiten und Grenzen seines Allegoriebegriffs Catharina scheint sich der Natur insofern zu bemächtigen, als sie dieser einen Sinn verleiht und sie in einer Sprache zum Sprechen bringt, die ihrer Umwelt fremd ist. Dieser Befund macht die Auseinandersetzung mit dem Trauerspielbuch unumgänglich. Die folgende Studie soll erweisen, in welcher Hinsicht Benjamins Entwurf aus der Sicht der dargestellten ideengeschichtlichen Probleme Anknüpfungspunkte bietet. Aufgrund der problematischen Rezeptionsgeschichte des Buches seien wenige Worte der Textanalyse vorangestellt, die zeigen, wie schwer sich auch die gegenwärtige Barockforschung mit Benjamin tut. Sein Buch ist weiterhin Anlaß für heftige Kontroversen. Benjamins Trauerspielbuch hat in seiner Gesamtkonzeption immer verhältnismäßig wenig Beachtung gefunden. 395 Dazu beigetragen haben mag seine ungewöhnliche Methode, die Schings zu einer scharfen polemischen Stellungnahme herausforderte. Das Buch sei unwissenschaftlich und gehöre nicht zur Sekundärliteratur. 396 Schings plädiert für die Ausgrenzung des Buches aus der Barockforschung, da es einer „anderen Dimension" angehöre.397 Es sei „im emphatischen Sinne des Worts" ein „Werk"; diesem „Werk- ja Kunstcharakter" verdanke es „seine faszinierende, seine (vielleicht) unverwüstliche Lebenskraft." 398 Gerade aber aufgrund seines Werkcharakters sei es für die Forschung nicht verwendbar. Es sei „unangemessen, wenn die Barockforschung sich auf Schritt und Tritt der Autorität, der Aura Benjamins zu versichern" suche. 399 Schings' abschließendes Dik-

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Zur Rezeption vgl. Jaumann: Die deutsche Barockliteratur. Wertung-Umwertung, S. 5 7 0 589; Harald Steinhagen: Zu Walter Benjamins Begriff der Allegorie. In: Formen und Funktionen der Allegorie, S. 666-685, hier S. S. 666f.; Klaus Garber: Rezeption und Rettung. Drei Studien zu Walter Benjamin. Tübingen 1987, S. 68-78. Vgl. Hans-Jürgen Schings: Walter Benjamin, das barocke Trauerspiel und die Barockforschung. In: Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift fiir Marian Szyrocki. Hrsg. von Norbert Honsza und Hans-Gert Roloff. Amsterdam-Atlanta 1988 (Chloe 7), S. 663-676, hier S. 673. Ebd., S. 675. Ebd. Ebd., S. 676.

Ill tum ist so klar wie radikal: „Benjamin den Benjaminforschern und die barocken Trauerspiele den Barockforschern". 400 Garber stößt sich an dem polemischen Charakter von Schings' Beitrag zu einer Festschrift, die immerhin das gegenseitige Verstehen auf ihre Fahnen geschrieben habe.401 Schings' Betrachtung lasse das geschichtsphilosophische Fundament außer acht, kappe das historische Wurzelwerk 402 und negiere die fruchtbaren „Impulse", die das Trauerspielbuch auch einem historischen Zugriff bieten könne. 403 Sie plädiere für die „Ausgrenzung des Unbequemen", die auch bisher durch Verschweigen und Wegloben betrieben worden sei.404 Die folgende Studie soll zeigen, daß sich eine Auseinandersetzung mit Benjamin durchaus lohnt. Sie versucht, Schings' gleichwohl verständlichem Vorwurf aus dem Wege zu gehen, Benjamin werde als „Steinbruch" benutzt,405 gerade indem sie eine von Garber geforderte historische Methode verfolgt. Eine solche ist im Kontext der Stoa-Rezeption besonders sinnvoll. Die Allegorese im 17. Jahrhundert ist in Benjamins Theorie ohne die Konkurrenz zwischen der antiken pantheistischen Naturvorstellung und dem christlichen Primat einer gefallenen Natur nicht zu denken. Diese Konkurrenz bildet die Basis für Benjamins Theorie der Allegorie als Konstrukt. Welche Schwachpunkte und Einbahnstraßen seine Konzeption dennoch besitzt, die ihre Rezeption hemmen, ist gleichfalls offenzulegen. Auf ein offensichtliches Desiderat des Trauerspielbuches sei vorab hingewiesen: Benjamin diskutiert die Allegorie wenig unter hermeneutischen Gesichtspunkten. Diese deutet er zwar an, denkt sie aber nicht konsequent zu Ende und verwickelt sich an zentraler Stelle in Widersprüche. Einerseits spricht er von der „hochmütigen Absonderung des Menschen", der Wissen und Neugier dazu verwendet, 406 eigenwillige Allegorien zu bilden - in diesem Sinne erscheint Salome die Rosenallegorese. Andererseits geht er davon aus, daß eine jahrhundertelange christliche Vorherr-

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Ebd. Vgl. Klaus Garber: Zum Bilde Walter Benjamins: Studien, Porträts, Kritiken. München 1992, S. 127f. Ebd., S. 130. Ebd., S. 132. Ebd., S. 132. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Schings' Studie vgl. auch Uwe Steiner: Allegorie und Allergie. Bemerkungen zur Diskussion um Benjamins Trauerspielbuch in der Barockforschung. In: Daphnis 18, 1989, S. 662-679. Schings: Walter Benjamin, das barocke Trauerspiel und die Barockforschung, S. 675. Vgl. die ähnlichen Vorwürfe von Peter-Andre Alt: Benjamin und die Germanistik. Aspekte einer Rezeption. In: Das Selbstverständnis der Germanistik. Aktuelle Diskussionen. Hrsg. von Norbert Oellers. Tübingen 1988, S. 133-146, hier S. 133. Benjamin: Ursprung des barocken Trauerspiels, S. 403.

112 schaft „geschaffene" konventionelle Bedeutungen der Allegorie festgeschrieben hat.407 Benjamin nimmt für die Konstitution des Subjekts im 17. Jahrhundert und für seine Geschichtsphilosophie jeweils unterschiedliche Formen bzw. Folgen der Allegorese an. Bei der Konstitution des Subjekts resultiert aus der Allegorese des einzelnen Einsamkeit und melancholische Absonderung, Folgen, die man durchaus an Catharina beobachten könnte. In der Geschichtsphilosophie dient die Allegorie als festgeschriebene Konvention der Konstruktion eines gesamtgesellschaftlichen und vom Sein entfremdeten Bewußtseins. Diese geschichtsphilosophische Perspektive zieht der Relevanz von Benjamins Allegoriebegriff für die Catharina Grenzen. Von einigem Wert ist hingegen seine These, daß es der Allegorie in jedem Fall aufgrund ihres konstruktiven Charakters an Wahrheit mangele. 408 Benjamins Theorie findet im Drama insofern Rückhalt, als Catharina ihrer Umwelt tatsächlich als eigenwillige Ästhetin erscheint, die durch Allegorese ihre Trauer kompensiert. Im Kontext meiner Untersuchung sind die ideengeschichtlichen Voraussetzungen, die Benjamin für die Renaissance der Allegorese im 17. Jahrhundert veranschlagt, von entscheidender Bedeutung. Den Ursprung der barocken Allegorie sieht er „in der Auseinandersetzung der schuldbeladenen Physis, die das Christentum statuierte, mit einer reinen natura deorum, die sich im Pantheon verkörperte." 409 Im 17. Jahrhundert erklärt sich für Benjamin der Ursprung der Trauer und der acedia des Melancholikers aus dem Bewußtsein der Verworfenheit und Schuldbeladenheit seiner Natur, die Luthers Anthropologie in das kulturelle Bewußtsein eingeschrieben hat. Die Gryphsche Catharina hat dieses Bewußtsein ihrer sündhaften Menschennatur, die der optimistischen Anthropologie der Stoa widerspricht, offenbar verinnerlicht. Ihr Blut hält sie für „durch Schuld" (IV. 270) befleckt. Sie begreift sich als „nichtig nichts" (IV. 280). Im Drama ist die Natur des Menschen Bestandteil der verwesenden natürlichen Umwelt, die sich auf dem Schauplatz der Ewigkeit in der Catharina findet und auch im Gedicht Einsambkeit die Atmosphäre beherrscht. Nach Benjamins Theorie sucht das Christentum aus diesem Bewußtsein einen Ausweg, der das irdische Leben wieder aufwerten und den einzelnen vom Gefühl der Bedeutungslosigkeit und Schuldhaftigkeit befreien soll. Um sich nicht heidnischen Naturvorstellungen zu ergeben, versucht der christliche Allegoriker, die gefallene Natur zu retten, indem er ihr Sinn verleiht. Er

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Ebd., S. 351. Vgl. ebd., S. 403. 4 °9 Ebd., S. 400. 408

113 macht sich dabei selbst bedeutsam, weil die Allegorese mit dem Schöpfungsgedanken in Verbindung steht. Mit dem Sündenfall und dem Heraustreten aus dem Paradies hat die Entfremdung von der Natur begonnen. Während im Paradies das „adamitische Namengeben" die Einheit von Namen und Bedeutung verbürgte, 410 ist nach der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies die Natur aus Trauer über ihre Schuldbeladenheit „stumm" geworden. 4 " Zur trauernden Natur zählt auch der Mensch, der aber als Geisteswesen seine Sprachfahigkeit erhalten konnte. So findet Catharina im Bewußtsein ihrer Nichtswürdigkeit in sich selbst keinen Sinn mehr und beginnt auf dem Wege, das stoische Pantheon konstruktiv zu errichten, den Dingen eigenmächtig Wort und Sinn zu verleihen. Sie bringt Foucaults „parole muette, ensommeillee dans les choses" zum Sprechen. 412 Ihre Interpretation der Natur wird aber nicht als Aufdeckung unhinterfragter ontologischer Seinsanalogien begriffen, sondern als das, was Benjamin die „Willkürherrschaft im Bereich der toten Dinge" nennt 413 Hier beginnt die Entfremdung des Menschen von der Natur, vom objektiven Sein, da er allein in seiner subjektiven und absoluten „Geistigkeit" seine Herrschaft ausübt.414 Alts Vorwurf an Benjamin, er unterschätze das „traditionelle Stufensystem des sensus spiritualis" und verzichte „auf eine dezidierte Auseinandersetzung mit den mittelalterlichen Traditionsbeständen der barocken Allegorik",415 mag zwar berechtigt sein, tut aber den zweiten Schritt vor dem ersten, weil er die zentrale Leistung des Trauerspielbuchs ignoriert. Benjamin legt die Ursprünge der Allegorie aus der Lehre vom Sündenfall und aus der Auseinandersetzung mit der antiken Naturvorstellung offen und leitet

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Benjamin: Ursprung des barocken Trauerspiels, S. 217. Die Ursprache der adamitischen Zeit ist verschüttet. Seit der Sprachverwirrung, die im Turmbau zu Babel ihren mythischen Anfang hat, fanden sich, so Josef Fürnkäs (Walter Benjamins Inkognito authentischer Erfahrung. In: Walter Benjamin. Ästhetik und Geschichtsphilosophie. Esthetique et philosophie de l'histoire. Hrsg. von Gerard Raulet und Uwe Steiner. Bern 1998, S. 83-114), die „adamitischen Namen in unterschiedliche Sprachen zerstreut, unter abstrakten Sprachelementen verschüttet, von grammatisch-begrifflichen Systemen zugedeckt", so daß schließlich die Erfahrung der „Arbitrarität sprachlicher Zeichen" der „Normalzustand" sei (S. 88). In Alexander Garcia Düttmanns Lesart der Benjaminschen Sprachtheorie (Tradition and Destruction: Benjamin's Politics of Language. In: Modem Language Notes 106, 1991, S. 528-554) folgt dem Verlust der „originary language" die „multiplication of language" (S. 534), und in diesem Moment seien die Sprachen eingesogen worden „in the world of tools, and under the sway of utility" (S. 535). Zu Benjamins Sprachphilosophie vgl. auch Norbert Bolz / Willem van Reijen: Walter Benjamin. Frankfurt am Main, New York 1991, S. 41-54.

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Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 398. Foucault: Les mots et les choses, S. 47. Vgl. oben, S. 73. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 406. Ebd., S. 404. Alt: Begriffsbilder, S. 146.

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die Allegorese aus einer (konstruierten) Ideengeschichte ab, ohne ein bestimmtes Verfahren einfach vorauszusetzen. Gewiß stehen die Ergebnisse im Dienst seiner esoterischen Theologie. Diese Tatsache sollte aber nicht dazu fuhren, Benjamins verdienstvollen hermeneutischen Akt zu übersehen: Er versucht eine Genealogie der Allegorese. Diese angenommene Genealogie bringt es notwendigerweise mit sich, daß es nicht in Benjamins Interesse liegt, den vierfachen Schriftsinn anhand von Allegorien nachzuweisen. Benjamin setzt einen anderen Schwerpunkt, weil er ja gerade davon ausgeht, daß auch der Allegoriker nicht mehr danach trachtet, Seinsanalogien zu enthüllen. Er hält die Allegorese für eine Benennung von Einzeldingen, die sich die Natur verfugbar macht. Die Intention des Allegorikers ist es gerade nicht, einen komplexen Kosmos zu enthüllen oder einen verlorenen wiederherzustellen. Da die Dinge selbst vor Trauer stumm seien, sich im Unterschied zum geistigen Wesen des Menschen nicht mitteilen können, ist der Mensch, so Benjamin in seinem Essay Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, „Herr der Natur" und benennt „die Dinge".416 Vor diesem Hintergrund erhält im Prolog der Catharina der Ausdruck „setzt Namen auff den Schnee" (I. 58) eine weitere Bedeutung. Im Kontext der Kulturkritik aus stoischem Geist beschreibt der Vers zum einen das Verhalten der occupati, die nicht in Vergessenheit geraten wollen und dafür sorgen, daß ihre Namen erinnert werden. Zum anderen bezeichnet er den Akt der Bedeutungsgebung der Dinge in der Natur: In diesem Sinne ist Catharina im letzten Kapitel als occupata in zweifacher Hinsicht, als weltliche Herrscherin und als Allegorikerin, qualifiziert worden, die der Erscheinung ,Rose' eine Bedeutung verleiht. Die Allegorikerin Catharina bildet offenbar eigenwillige Allegorien und macht sich zur Herrin über die Natur. Indem sie der Natur einen Sinn verleiht, beutet sie sie aus. Unversehens hören wir im Trauerspielbuch die stoische Kulturkritik sprechen, wenn von dem Drang zur Wissensansammlung, zur „Magazinierung" die Rede ist, der in der Bedeutungsgebung liegt, und von der ausbeutenden Gestaltung der Natur.417 Sowohl in den Voraussetzungen, die Benjamin der Genese der Allegorie im 17. Jahrhundert zugrunde legt, als auch im Verfahren der Allegorese haben sich einige Möglichkeiten der Anknüpfung finden lassen. Insofern Benjamin den willkürlichen Charakter der Allegorese betont, bestätigt die Figur der Catharina seine Theorie, weil diese intersubjektiv nicht verstanden

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Walter Benjamin: Ober Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 2. 1, S. 140-157, hier S. 144. Vgl. ders.: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 360. Übrigens liest Hannah Arendt das Trauerspielbuch teilweise biographisch und erkennt im wissenshungrigen und sammelnden Allegoriker den Autor des Buches selbst. Vgl. Hannah Arendt: Walter Benjamin. Bertolt Brecht. Zwei Essays. München 1971, S. 50-58.

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wird und Einsamkeit erfährt. Aus der Perspektive seiner Geschichtsphilosophie aber werden die Grenzen seines Konzepts deutlich. Benjamins Sprachtheorie mündet in eine Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft. Der produktive Allegoriker und der sich konstituierende Bürger in der Frühen Neuzeit bilden hier eine Person. In der Theorie findet die bürgerliche Gesellschaft, die eine intersubjektive und konstruierte Wahrheit fur sich beansprucht, im produktiven christlichen Allegoriker dann einen ihrer ersten Begründer, wenn er sich nicht melancholisch in die Einsamkeit flüchtet und auf das tätige Leben in der Gesellschaft verzichtet, sondern wenn seine Allegorese sich in ein konventionelles Wissen einfügt: „Denn nur fur den Wissenden kann etwas sich allegorisch darstellen." 418 Die Benennung der Dinge, die Bedeutungen als Konventionen festschreibt, besitzt in Benjamins Gesellschaftskritik weiterreichende Funktion. Er bezeichnet sie als „die bürgerliche Auffassung von Sprache". 419 Durch das Wort benennt der Bürger die Dinge in der Meinung, es träfe die Sache. Er realisiert so, ewig schuldhaft und die Natur ausbeutend, ein mit dem Sein nicht mehr identisches Bewußtsein. 420 Die bürgerliche Sprache bedingt demzufolge das gesamtgesellschaftliche Bewußtsein, das dem Sein entfremdet ist. Eine Übereinstimmung von Bewußtsein und Sein ist für Benjamin nur durch eine esoterisch anmutende Geschichtsvision zurückzugewinnen. In dieser Lösung des Konfliktes liegt eine Grenze der Relevanz von Benjamins Entwurf für die Catharina und für das barocke Trauerspiel im allgemeinen. Benjamins Vision einer Rückgewinnung der ontologischen Wahrheit ist vermutlich mit einer messianischen Geschichtstheologie verbunden. 42 ' Die Übereinstimmung des Bewußtseins mit dem Sein kann nur erfolgen, indem der Allegoriker auf seine Produktivität verzichtet. Die Entfremdung des Bewußtseins vom Sein ist nur aufzuheben, indem die Natur wieder selbst durch Allegorie beginnt sich mitzuteilen und nicht mehr vom Menschen ausgebeutet wird. Der Mensch muß lernen, auf die Stimme der Natur zu hören. Eine andere Sprache, die Sprache der „sprachlosen" Dinge, die der Mensch sich bisher unterworfen hat, ist notwendig: Gottes Wort und eine

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Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 403. Ders.: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, S. 144. Vgl. ebd. Vgl. auch Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders., Gesammelte Schriften. Bd. 1.2, S. 691-704, hier S. 695. Als Allegorie für seine Geschichtstheologie fuhrt Benjamin Paul Klees Angelus Novus an. Durch einen starken Sturm, den Benjamin mit dem „Fortschritt" identifiziert (ebd., S. 698), sei dieser aus dem Paradies vertrieben worden. Die Geschichte offenbare sich ihm als Trümmerhaufen. Möglicherweise drückt dieser Engel die geschichtstheologische Hoffnung auf Erlösung aus. Vgl. dazu Marion Kintzinger: Der Engel der Geschichte. Gestaltungsformen historischen Denkens in der frühen Neuzeit und bei Walter Benjamin. In: Archiv für Kulturgeschichte 81, 1999, S. 149172, hier S. 160f. Zur Forschungsdiskussion um etwaige Einflüsse der jüdischen Theologie auf Benjamins Theorie vgl. Steiner: Allegorie und Allergie, S. 669-672.

116 Wahrheit, die vor aller menschlichen Satzung gegeben ist. Dies ist die Erlösung, wenn der Allegoriker nach der allegorischen Versenkung „in Gottes Welt" erwacht, 422 die Natur aus ihrer Stummheit und Trauer erlöst wird und die Dinge wieder durch sich selbst bedeutsam werden. Die Wahrheit, die wieder zu ihrem Recht kommen soll, ist „Offenbarung". 423 Sie kann nicht durch Intellektualität oder mittelalterliche Enthüllung in Form der revelatio Gegenstand von Erkenntnis sein. Die Erlösung besteht in der wiederauferstandenen Einheit von Wort und Bedeutung 4 2 4

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Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 406. Ebd., S. 211. In der „Erkenntniskritischen Vorrede" entwickelt Benjamin einen Wahrheitsbegriff, indem er die (neu)platonische Ideenlehre etwas frei auslegt. Die Übereinstimmung seines Wahrheitsbegriffs mit der Ideenlehre besteht zunächst darin, daß ,Wahrheit' als etwas Gegebenes und nicht als etwas Erzeugtes angenommen wird. Benjamins ,Offenbarungswahrheit' bleibt .jeder Art von Intention entzogen" (S. 216). Man geht in sie ein und verschwindet in ihr, nicht im Akt des Erkennens, sondern in der Versenkung, auf daß sich die Wahrheit offenbare: „Die Wahrheit ist der Tod der Intention" (ebd.). Benjamin grenzt sich durch die Annahme einer vollkommen intentionslosen Wahrheit explizit vom Neuplatonismus ab, um seiner esoterischen Sichtweise Raum zu verschaffen (vgl. ebd., S. 215). Der Akt der Erkenntnis bei Piaton und Plotin ist zumindest auf seiner ersten Stufe, der Erkenntnis der Ideen, der Noesis, ausgesprochen von „Intentionalität" geprägt; die zweite Stufe, die von den Ideen weiterfuhrt zum All-Einen, die Henosis, ist ein nicht denkbarer Vorgang und dennoch nicht ohne Intention zu begreifen (vgl. Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Piaton und Plotin. Stuttgart 1992 [Beiträge zur Altertumskunde 9] S. 12-17 und S. 134f.; generell verdeutlicht das Sonnengleichnis diese Intentionalität). Benjamin (Ursprung des deutschen Trauerspiels) läßt im Zuge seiner Esoterik und Ideologie die „absolute Geistigkeit" (S. 406), da er sie zur Intentionalität des Bedeutens reduziert, offenbar schon in der Noesis aufhören. Seine Kritik richtet sich gegen einen ausgeprägten Intellektualismus, den er fur eine charakteristische Eigenschaft des Allegorikers hält. Ebenso grenzt sich Benjamin durch seine Methode vom traditionellen Wissenschaftsbetrieb ab. Dies ist nur ein Punkt, an dem sich die im Trauerspielbuch merkwürdige Verschränkung von genereller Erkenntnismethode und ihrer Anwendung auf den Gegenstand selbst darstellen läßt. Ebd., S. 216. Diesen Akt der Erlösung berücksichtigt Steinhagen (Zu Walter Benjamins Begriff der Allegorie) nicht. Er schenkt dem Akt der Bedeutungsgebung zu große Beachtung, der aber gerade in Benjamins Theorie überwunden werden muß. Der Aspekt der schuldhaften Natur, die nicht nur wegen ihrer Vergänglichkeit (vgl. S. 675) gerettet werden muß, sollte nicht übersehen werden. Die Rettung der stummen und schuldhaften Natur, zu der der Allegoriker selbst gehört, kann zwar, wie Steinhagen auch sieht, durch diesen nicht bewerkstelligt werden, aber sie ist für Benjamin durch die Allegorie selbst zu erhoffen, indem ihre Sprache als Natursprache wieder auflebt und die Natur, auch die menschliche, von ihrer Schuld befreit wird. Die „Darstellung der Allegorie" schlägt nicht „mit Notwendigkeit in deren Kritik um" (ebd., S. 672), sondern wird geradezu als Rücknahme der bürgerlichen Sprachauffassung begriffen, die die Dinge ausgebeutet hat. Solange allerdings das abendländische Erkenntnismodell Subjekt-Objekt, die Sprachform der Benennung und das reflektierende Bewußtsein herrscht, ist ein infiniter Regreß zu erwarten, die zirkuläre Wiederkehr des Gleichen (vgl. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 218). Dieser Regreß kann nur utopisch aufgehoben werden. Das Spracheverleihen und das Namengeben wird als Sünde begriffen, als Verrat der Welt „um des Wissens willen" (ebd., S. 398). Die Erlösung tritt nicht ein, indem die Einzeldinge aus ihrem singulären Dasein befreit, ihnen Sprache verliehen wird und es irgendeiner der Bedeutungsprojektionen gelingt, die Sache selbst zu treffen (vgl. Steinhagen: Zu Walter Benjamins Begriff der Allegorie, S. 673 und S. 677). Die Erlösung ist gerade das Zeichen dafür, daß hier ein

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Durch seine Esoterik kritisiert Benjamin das intellektuelle Vorgehen der Allegoriker und generell den Primat der Vernunft. Wahrheit ist in seiner Vorstellung nur durch Versenkung zu erlangen. Auch aus diesem Grunde findet seine Theorie in bezug auf das barocke Trauerspiel seine Grenzen. Abgesehen von dem spekulativen und esoterischen Charakter der Geschichtsphilosophie, der ausschließt, sie auf die Tragödie anzuwenden, darf bezweifelt werden, daß Catharina mit ihrem Tod im Sinne Benjamins durch Verzicht auf Intellektualität in der Welt Gottes ,erwacht'.425 Offensichtlich leistet Catharina vor dem Hintergrund eines stoisch-christlichen Weltbildes eine vernünftige Weltdeutung und erkennt Analogien auf höchster Ebene. Ihre Gotteserkenntnis ist keine mystische Versenkung. Sie geht zugrunde, weil ihre Weltdeutung eine Weltsicht voraussetzt, die ihre Umwelt nicht teilt. Deshalb erscheint Catharina ihrer Umwelt als produktive Allegorikerin. Benjamin sucht in mystischen Formeln nach einer Lösung, die die Wahrheit wieder zu ihrem Recht kommen lassen soll. Catharinas Allegorese liegt eine andere, philosophisch-christliche Wahrheit zugrunde, die durch Vernunft erkannt werden muß. Catharina verficht durch ihre Allegorese diesen Wahrheitsbegriff, den Luthers Offenbarungslehre ablehnt, und erfahrt Widerstände, weil weder ihre Erkenntnismethode noch das Ziel ihres Handelns akzeptiert werden. Das folgenden Kapitel zeigt, daß zusätzlich die Erkennbarkeit ihrer Wahrheit an sich auf skeptische Weise in Frage gestellt wird.

e) Die,andere StoaImanculis Plädoyer für die neustoische und den Pflichtgedanken der mittleren Stoa

constantia

Als zweite bedeutende Randfigur neben Salome nimmt Imanculi, ein Vertreter der persischen Seite, eine wichtige Rolle ein, die bisher in der Forschung unterschätzt wurde. Wessels versteht Imanculis Versuche, Catharina von ihrer Haltung abzubringen, als „Aufgebot seiner Sophistik", um „die

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„Umschwung" stattgefunden hat und der Name nicht mehr durch Bedeutungsgebung verletzt wird, sondern Gottes Wort wieder in sein Recht tritt (Benjamin: Ursprung des Deutschen Trauerspiels, S. 406). Das Paradies ist zurückgewonnen, wenn Gottes Wort als „das stumme Wort im Dasein der Dinge" gilt (ders.: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, S. 152). Alles andere wäre die Verlängerung des Sündenfalls und Form weiterer Ausbeutung: Das „Vermögen des Sprachgeistes selbst" ist „im Sündenfall zu Hause"; die Aufhebung aber des Bewußtseins im Sein und die der Entzweiung geschieht außerhalb jeder subjektiven Thesis (ders.: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 407). Steinhagen (Zu Walter Benjamins Begriff der Allegorie) analysiert Benjamins Allegoriebegriff anhand der Zentralpark-Fragmente und der Baudelaire-Studien: Die warenproduzierende Gesellschaft läßt die Dinge als Waren wiederkehren (vgl. S. 675-679). Vgl. Alt: Begriffsbilder, S. 251.

118 Georgierin fur die islamitische Religion zu gewinnen". 426 Gillespie meint, der „furchtsame, wirkungslos weichherzige Beamte Imanculi" 427 ersinne „Argumente für Fügsamkeit". 428 Imanculi nimmt aber eine zentrale und außerparteiliche Position ein, weil er deutlich auf das philosophische Problem eingeht, das Catharinas Handeln in sich birgt. Er weist auf die Irrelevanz einer absoluten Wahrheit fur das irdische Leben hin, die weder zuverlässig erkannt werden könne noch in der politischen Sphäre praktisch umsetzbar sei. In ihrer Auseinandersetzung mit dem persischen Beamten erklärt Catharina ihr Verhalten nicht auf der Basis der Allegorie, sondern zieht sich auf die Gnadenlehre zurück. Sie habe die Wahrheit „aus Gottes Mund gehört" (IV. 218). Imanculi aber mahnt zum Maßhalten und gibt zu bedenken: „Die Warheit in dem Fall ist leider vil zu schwer" (IV. 219). Er begegnet Catharinas Reontologisierungsversuch zunächst, indem er ihre Urteilsfähigkeit in Frage stellt. Er entwertet ihren Wahrheitsbegriff in fundamentaler Weise nicht nur, indem er ihn der Kontingenz überfuhrt. Das Allgemeine, fur das Catharina einstehen will, hält er für eine lebensunfähige, der Natur zuwiderlaufende und kapriziöse Haltung, die sie daran hindere, konvenient zu handeln. Christus stehe ihr „im Lichte" (IV. 128), so Imanculi, sie sterbe „für einen Wahn" (IV. 181); Perser, Juden und Christen verehrten ohnehin „einen Gott" (IV. 183), und um endgültig Catharinas Hartnäckigkeit zu brechen, formuliert er in rhetorischer Absicht die Theodizee-Frage: „Traut sie so sehr auff den der sie bisher verlassen?" (IV. 197). Imanculi sieht Catharinas Pflicht darin, aus der gegebenen Situation auf Erden das Beste für sich und ihr Land zu gestalten, „in disem Nun" (IV. 203) zu handeln. „Wider die Natur" seien „das Leiden und der Tod" (IV. 207) als Preis für diese unsichere Wahrheit. Imanculi erwägt die Vorteile einer Heirat mit dem Chach. Beide Länder könnten ihren Machtbereich erweitern und gleichzeitig Frieden und Glück erhalten (vgl. IV. 101-104). Es sei vernünftig und zudem für alle Betroffenen sinnvoller, in die Heirat einzuwilligen und so auch dem eigenen Reich mehr Stabilität zu verleihen. Ziel politischen Handelns sei es, in der Zeitlichkeit alle gestalterischen Möglichkeiten auszuschöpfen: „Last uns weil wir noch hir der Zeit und Welt gebrauchen" (IV. 201)! Zeit und Welt stehen dem Menschen in gleicher Weise wie die Natur zur Verfugung. Für Imanculi hat der Mensch sein Handeln nicht vor einer ohnehin rein spekulativen Wahrheit zu verantworten, sondern muß der Position in Gesellschaft und Geschichte gerecht werden, die er sich entweder selbst erworben hat oder in die er hineingeboren wurde.

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Wessels: Das Geschichtsbild im Trauerspiel Catharina von Georgien des A. Gryphius, S. 13. Gillespie: Andreas Gryphius' Catharina von Georgien als Geschichtsdrama, S. 95. Ebd., S. 96.

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Imanculi knüpft im Grunde an Catharinas ehemaliges Tätigsein als occupata in der Politik an und empfiehlt ihr, ihrer Rolle als Regentin realpolitisch Folge zu leisten, statt irrealen Wahnideen Raum zu geben. Zunächst ist festzuhalten, daß Imanculi als Vertreter der Moderne der Tradition gegenübersteht. Im frühneuzeitlichen Kontext ist seine Argumentation neustoizistisch. Wenn er Catharinas Haltung als ,Wahn' betitelt, findet sich darin jene Kritik an der constantia, die Lipsius in seinem Traktat äußert. Während Senecas De constantia das resistere betont (vgl. De const, sap. 6. 3; 15. 3) und hier constantia bedeutet, jede Art von Anpassung abzulehnen, um Identität zu wahren, warnt Lipsius vor Übertreibung der constantia. Er entwickelt seine Definition vor einer Negativfolie, was dem Senecaischen Dialog fremd ist. Die constantia bezeichnet er als eine Festigkeit und Stärke der Seele, die auf dem richtigen Urteilen, der recta ratio, beruhe, um sie dann sogleich von der pervicacia, der „Beharrlichkeit" im negativen Sinne, dem ,Eigensinn' oder der ,Starrköpfigkeit', abzugrenzen. Diese beweise zwar auch Seelenstärke, resultiere aber aus Hochmut und Ruhmsucht: „Exclusam enim ante omnia volo Pervicaciam [...] quae & ipsa obstinati animi robur est, sed ä superbiae aut gloriae vento: & robur etiam dumtaxat in unä parte" (Lipsius, De const. 1. 4).429 Die Senecaische constantia ist in ihrer Unbedingtheit eine Form von Extremismus, die Lipsianische eine Haltung aufklärerischer mediocritas. Letztere soll das Mitwirken in der Politik „mit innerer und entemotionalisierter Distanz" ermöglichen. 430 Das richtige Urteilen dient im Zweifelsfall immer der Staatsräson, ist ein Zugeständnis an deren „endogene Sachlichkeit" und an die politischen Erfordernisse der Macht." 431 In seiner Argumentation fordert Imanculi die Herrscherin auf, constantia nicht für eine in seinem Sinne lebensferne und wahnsinnige Religiosität zu vergeuden, sondern sie zu nutzen, um ihrem irdischen Pflichtenkreis gerecht zu werden. Imanculi ist aber nicht nur ein neustoizistischer Machiavellist. Er bemüht Ideengut, das in der Antike, in der Pflichtenlehre der mittleren Stoa, zu finden ist. Imanculi verlangt von Catharina keine direkten Verbrechen, sondern das Wohl ihres Landes, das ihr Widerstand tatsächlich gefährdet, im Auge zu behalten. Imanculis Aufforderung, im Sinne des Staates zu handeln und die Wahrheitssuche nach dem ,diffusen' Göttlichen aufzugeben, erinnert an die Idee der Pflicht, wie sie Cicero mit Anleihen aus der stoischen Philosophie in seiner Schrift De officiis entwickelt hat.

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Zitiert wird nach: Justus Lipsius: De constantia. Opera omnia. Bd. 4. Abel: Stoizismus und Frühe Neuzeit, S. 73. Vgl. Stolleis: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, S. 67. Abel: Stoizismus und Frühe Neuzeit, S. 84.

120 An sich wird die politische Philosophie Ciceros nach ihrer Rezeption im Humanismus erst für das 18. Jahrhundert bedeutsamer.432 Umso interessanter ist die Beobachtung, daß sich ihr Gedankengut in der Catharina am Rande des Geschehens bemerkbar macht. Unter den antiken Autoren kommt Cicero deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil er in der Nachfolge des griechischen Erbes die Bedeutung des Lebens und Handelns in der politischen Öffentlichkeit betonte.433 Intensiver als Seneca hat er sich mit dem Problem auseinandergesetzt, wie das Streben nach Erkenntnis und die Verwirklichung der gesellschaftlichen Pflichten im Zweifelsfall in Einklang gebracht werden können. Er kommt zu einer eindeutigen Position: Gegenüber den Pflichten des Staates muß das Streben nach absoluter Erkenntnis zurückstehen. Ursprünglich gibt es für die orthodoxe Stoa nur eine vollkommene Pflicht, die Catharina durch ihre Hartnäckigkeit erfüllen will: das tugendhafte Leben.434 Die Begründer der Stoa empfehlen zwar, sich dem gesellschaftlichen Leben zu widmen, vor allem um der Menschheit dienlich zu sein, aber nur dann, wenn es noch ein echtes Staatswesen gebe. Bereits das Athen des Sokrates, so Seneca, sei so korrupt gewesen, diesen zu verurteilen; auch den gegenwärtigen Staat werde der Weise meiden (vgl. De otio, 8. 2). Besonders Cicero aber nimmt eine Veränderung des Pflichtbegriffs vor. Dabei ist zu bedenken, daß für ihn die Möglichkeit, politisch wirksam zu handeln, in der Römischen Republik in größerem Maße bestanden hatte als für Seneca nach dem Zerfall der Republik in der Kaiserzeit. Ciceros Lehrer Panaitios legte mit seiner Pflichtenlehre den Grundstein der angewandten Moral. Diese brach mit dem orthodoxen stoischen Rigorismus, der dem Weisen untersagt, am öffentlichen Leben teilzunehmen, wenn die Bedingungen nicht ideal seien. Panaitios' Pflichtbegriff wurde Grundlage für Ciceros Schrift De officiis. Besonderes Gewicht erlangt nun 432

Die Cicero-Nachahmung im Humanismus erklärt sich aus dem angestrebten Ideal der Verbindung von Beredsamkeit und Weisheit, von eloquentia und sapientia, das sich vor allem in Ciceros De oralore findet, (vgl. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland S. 75). Die Schulpläne empfehlen die Cicero-Lektüre bis ins 17. Jahrhundert (vgl. ebd., S. 108f. und S. 111), wobei die philosophische Bedeutung von Ciceros Schriften zunehmend nicht mehr im Vordergrund steht, sondern vor allem eine Auseinandersetzung um das Ciceronianische Stilideal zu beobachten ist (vgl. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 192-197, S. 257-261). Cicero verliert im Laufe des 17. Jahrhunderts an Bedeutung, weil der philosophische Aspekt der Rhetorik zunehmend schwindet und der Schmuck der Rede im Vordergrund steht. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts erfährt die Rhetorik schließlich - im Zusammenhang mit der „Schwulst-Kritik" Gottscheds an Lohenstein (Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland, S. 586) - eine philosophische Neubegründung. Man beruft sich wieder auf Cicero und Quintilian. Die Aufnahme Ciceronianischen Gedankengutes und die Rezeption Ciceros philosophischer Schriften findet sich vor allem in Christian Wolffs praktischer Philosophie. 433 Vgl. auch Arendt: Vita activa, S. 48. 434 vgl. Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Bd. 3. 1: Die nacharistotelische Philosophie, S. 272.

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die Auffassung, daß der Mensch auch innerhalb der Gemeinschaft durch das Gesetz der Vernunft Pflichten besitze.435 Aus Imanculis Sicht erfüllt Catharina deshalb nicht ihre Pflicht, weil sie durch ihre Hartnäckigkeit ihr gesamtes Volk in noch größere Gefahr bringt und der Gewalttätigkeit des Tyrannen überläßt. Auf realpolitischer Ebene handelt Catharina durch ihren Widerstand eben nicht verantwortlich, und sie erfüllt in Ciceros Sinne nicht ihre Pflicht, sondern trägt eher zur weiteren Destabilisierung der Verhältnisse bei.436 Im Ciceronianischen Pflichtverständnis müßte sie auf ihren Widerstand verzichten und ihren Aufgaben an ihrem zugewiesenen Ort als Herrscherin über einen Staat nachkommen. Für das Verständnis dieses Pflichtgedankens ist Ciceros Vorstellung der vier personae des Menschen von Bedeutung. Cicero unterscheidet vier Rollen, die jeder Mensch in seinem Leben gleichzeitig spielt. Zwei personae kommen ihm von Natur aus immer schon zu, die anderen beiden sind von den jeweiligen Umständen abhängig und deshalb veränderlich. Mit den ersten beiden personae ist der Mensch natürlicherweise seit seiner Geburt ausgestattet, weil er an der allgemein menschlichen, der communis natura, partizipiert und zudem eine eigene Persönlichkeit besitzt, die propria natura, die sich in körperlichen und vor allem geistigen Qualitäten manifestiert (vgl. De o f f . 1. 107).437 Sodann kommt Cicero auf eine dritte und vierte Rolle zu sprechen. Für letztere kann sich der Mensch selbst entscheiden, sie hängt von seinem Urteil und Wollen ab und besteht u. a. in der freien Entscheidung für einen Lebensweg als Philosoph, Jurist oder Rhetor. Die dritte Rolle bestimmt die Existenz als König oder Feldherr. Sie verleiht sich der Mensch nicht aufgrund seines eigenen Urteils, sondern sie ist vom Zufall (casus) und von den jeweiligen Bedingungen (tempus) abhängig (vgl. 1. 115). Diese Rolle ist mit der grö-

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In der stoischen Lehre hat der Mensch schon im privaten Bereich Pflichten. Pohlenz (Die Stoa) weist darauf hin, daß auch „Essen und Baden" zu diesen Pflichten gehören, wobei , j e d e Nachlässigkeit in Gang, Haltung oder Sprache" ein Verstoß bedeute (S. 135). Hans Feger (Zeit und Angst. Gryphius' Catharina von Georgien und die Weltbejahung bei Luther. In: Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts [Chloe 27], S. 71-100) vertritt die These, daß sie durch ihr Martyrium politisch verantwortungsvoll handele. Auch hierin bezeuge sie ihre Existenz als „Politikerin" (S. 92). Auch wenn Luthers Zwei-Reiche-Lehre Staat und Gewissen strikt voneinander trenne, suche sie doch zwischen beiden Sphären zu vermitteln und sie in „ein neues Verhältnis" zu setzen (ebd., S. 95). Auch die „Freigabe der Welt" sei durch das „Politische" gerechtfertigt und zeige eine theologische Verankerung; Verantwortung beweise Catharina durch ihre „zeitüberlegene Haltung" (ebd., S. 94) und in einer „mystischen Weltzugewandtheit", die einer spezifischen lutherischen „Weltbejahung" entspreche (S. 76). Catharina führe vor, daß erst der Glaube - das Prinzip sola fide „zur unverstellten Wahrnehmung einer ratio status vera" führe (S. 94). Fegers Argumentation liegt die Annahme zugrunde, daß auch in Luthers Theologie und Zwei-Reiche-Lehre eine Verwirklichung des Ewigen in der Zeitlichkeit durch einen mystischen Augenblick möglich sei. Zitiert wird nach: Marcus Tullius Cicero: De officiis. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit M. Winterbottom. Oxford 1994.

122 ßten Verantwortung gegenüber der Gesellschaft verbunden. Ihre höchste Pflicht ist es, das zu wollen, was die innere Ruhe des Staates fördert, und zu berücksichtigen, was der Zeit und den Umständen angemessen ist. Die Entscheidungen, die man aufgrund dieser Rolle zu treffen hat, sollen dem Ziel dienen, die kosmopolitisch vorgestellte Einheit und Verbundenheit unter allen Mitgliedern der menschlichen Gattung zu wahren: „Ad summam, ne agam de singulis, communem totius generis hominum conciliationem et consociationem colere tueri servare debemus" (1. 149). Besonders denjenigen, die als Herrscher ihrer vierten Natur gerecht werden müssen, soll der Primat des Handelns die Richtung angeben. Für Cicero hat jeder Mensch allerdings auch Pflichten, die sich aus theoretischer Erkenntnis, „ex cognitione", ergeben und die bisweilen mit denjenigen, die aus der Gemeinschaft an ihn herangetragen werden, „ex communitate" (1. 153), in Konflikt geraten. Cicero stellt sich der Frage, wie ein eventuell auftretender Konflikt zwischen diesen beiden Arten von Pflichten zu lösen sei und trifft eine klare Entscheidung. Die Pflichten gegenüber der Gemeinschaft sind der theoretischen Erkenntnis vorzuziehen, wenn letztere das Handeln zu beeinträchtigen droht. Auch das Studium der Natur ist nur dann sinnvoll, wenn ihm Handlungen folgen, die der menschlichen Gemeinschaft nutzen. Dieses Handeln ist immer höher zu bewerten als die theoretische Erkenntnis (vgl. ebd.). Es ist selbstverständlich, daß in plötzlicher Gefahr des Vaterlandes die neugierige Betrachtung der Natur, das Streben nach gleichwohl erhabenem Wissen, unterlassen wird, um handelnd zu Hilfe zu eilen, den Pflichten in der Gemeinschaft nachzukommen und so der Gerechtigkeit und dem öffentlichen Nutzen zu dienen (vgl. 1. 154f.).438 Diesen Pflichten wird Catharina in den Augen Imanculis nicht gerecht, weil sie nicht darauf verzichten will, trotz höchster Gefahr des Landes weiter die Sterne zu zählen (vgl. ebd.). Dem persischen Beamten stellt sie sich als eine melancholische Sternenguckerin dar, die theoretisch nach Erkenntnis sucht und das Handeln vergißt. Cicero selbst hat nicht streng einer philosophischen Schule angehört, im allgemeinen gilt er als Eklektiker. Seine Lösung des Konflikts zwischen Theorie und Praxis bestätigt seine Neigung zur akademischen Skepsis, die von einem strengen Wahrheitsbegriff absieht und den Primat des Wahrscheinlichen anerkennt (vgl. Tusc. Disp. 2. 2 -3).439 Diese Haltung wäre für

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Es wäre zu überlegen, inwiefern Cicero mit dieser strikten Trennung zwischen der Naturbetrachtung und dem praktischen Handeln einen Gerechtigkeitsbegriff in Kauf nimmt, der sich nicht von einer absoluten Wahrheit ableiten läßt, sondern von den gegebenen zeitlichen Umständen und Erfordernissen des Staates abhängig ist, und der insofern vom Naturrecht abweichen würde, wie er es in De re publica definiert. Vgl. oben, S. 40f. Vgl. Manfred Fuhrmann: Cicero und die römische Republik. München, Zürich 2. Aufl. 1994, S. 225.

123 Seneca, jedenfalls seiner geschriebenen Lehre zufolge, undenkbar: Im Zweifelsfall solle man sich zurückziehen, sich ins otium begeben und nach der Wahrheit forschen, die schließlich nicht nur einem Staat, sondern dem ganzen Menschengeschlecht nütze (vgl. De otio, 6. 4). Offensichtlich unternimmt Cicero eine Trennung zwischen Kontemplation und Aktion, die Seneca in dieser Weise nicht akzeptiert. Dessen ethischer Rigorismus ergibt sich u. a. aus den historischen Bedingungen. In De beneficiis erklärt es Seneca als besondere Pflicht des Menschen, unter ungerechten und grausamen Herrschern keine Möglichkeit zu unterlassen, Gutes zu tun, ohne Rücksicht auf möglichen Vorteil oder Belohnung, und darin die Aufgabe der Götter nachzuahmen (Deben. 4. 12. 5).440 Wahrscheinlich ließen ihn seine Erfahrungen mit dem Prinzipat eines Caligula und eines Nero zu einem strengen philosophischen Pflichtbegriff zurückkehren,441 und er nutzte das Schreiben, um diesen unaufhörlich zu vertreten. Über das Problem der eventuellen Handlungsunfähigkeit in politischen Konfliktsituationen und seiner Folgen machte er sich, zumindest in seinen Schriften, keine Gedanken. Hingegen ist fur Cicero die stete Handlungsfähigkeit von größter Bedeutung, die er, der republikanische Staatsmann, durch Kontemplation gefährdet sieht. Handlungsunfähigkeit ist der unausgesprochene Vorwurf, den Imanculi, ähnlich wie Salome, der Herrscherin macht. Diese steht im Verdacht, an einer Melancholie zu kranken, die zwar aus dem Bedürfnis nach Wahrheitsfindung gespeist wird, aber eine „Handlungshemmung" zur Folge hat.442 Dies bedeutet „Weltverlust", da „in Richtung auf Welt nicht mehr gehandelt werden kann." 443 ,Welt' ist hier als zeitliche und gesellschaftliche Welt zu verstehen. Imanculi erhebt Forderungen der ,anderen Stoa', indem er neustoizistische Kritik an der constantia und Ciceronianische Pflichtenlehre in seiner Argumentation vereinigt. Ob er Catharinas Position im Grunde nachvollziehen kann, ja sympathetisch teilt, kann nicht entschieden werden. Er räumt schließlich ein, daß er „diß Werck gezwungen" (Cath. 4. 229) tue. Es wird aber deutlich, daß es in dieser Konfliktsituation um einen Nachvollzug nicht mehr gehen darf. In der Figurenhandlung nimmt Imanculi nach Salome die Rolle desjenigen ein, der Catharina auf die Obsoletheit und Irrelevanz ihrer Ansprüche hinweist. Ihre constantia erscheint ihm, wie Salome die Allegorese, als Selbstbeschäftigung und Eigensinn, als occupatio am falschen Ort, in ihrem singulären Bewußtsein.

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Zitiert wird nach: Lucius Annaeus Seneca: Des bienfaits. Bd. 1. Texte etabli par F r a n c i s Prechac. Paris, 3. Aufl. 1972. Vgl. Bernard F. Scherer: Metamorphosis of Officium: Late Roman Republic to Early Empire. In: The Classical Bulletin 41, Nov. 1964, S. 1-4, hier S. 3f. Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt am Main 1969, S. 187. Ebd., S. 217.

124 Hier schließt sich sogleich die Frage an, wem der Tod Catharinas, der sich auf erhabenes Wissen stützt, konkret nützen kann. Die Antwort ihrer Ratgeber Salome und Imanculi ist eindeutig. Für das öffentliche Wohlergehen ist ihr Tod sinnlos. Unabhängig von ihrer jeweiligen religiösen Zugehörigkeit vermitteln sie, daß Catharinas Anspruch auf Aktualisierung der absoluten Wahrheit und des christlich-stoischen ethischen Rigorismus eine lähmende Lebensprämisse ist. Vielleicht aber wäre Catharinas Bild als einer stoischen Weisen sogar aus zwei Gründen zu revidieren. Der erste ist unstrittig: Sie hat sich zu einer sapiens gewandelt, nachdem sie in ihrer gesellschaftlichen Existenz die lex naturae verletzt hatte. Der zweite Grund wäre zu diskutieren: Inwiefern benutzt sie lediglich eine Idee, um ihrer Lebensunlust nachzugeben? Sowohl ihre Allegorese im Gespräch mit Salome als auch ihre Hartnäckigkeit gegenüber Imanculi könnten vermuten lassen, daß sie nicht verstanden werden will und als occupata alles daran setzt, sich nicht mehr mit dieser Welt beschäftigen zu müssen.

3. Papinian: Idealgestalt oder senecaischer

occupatus?

Einen Konflikt zwischen den Ansprüchen des naturgemäßen Lebens und der Pflicht gegenüber den politischen Verhältnissen hat Gryphius auch in seiner letzten Tragödie Papinian gestaltet. Das 1659 in Druckfassung vorliegende Drama wurde bereits zu Lebzeiten des Dichters an Schulen und durch Wandertruppen häufig aufgeführt444 und blieb bis ins 18. Jahrhundert ein beliebtes Stück.445 Wieder verarbeitete Gryphius eine historische Begebenheit, diesmal aus der römischen Spätantike des dritten Jahrhunderts nach Christus. Als historische Quellen dienten vor allem die Schriften Dio Cassius' und Herodians. Als sich Gryphius des Stoffes im 17. Jahrhundert annahm, konnte er bereits auf eine ausgeprägte Rezeption zurückblicken. In der philosophisch-paränetischen Literatur ist Papinian bereits im 4. Jahrhundert nach Christus, in der Consolatio Philosophiae des Boethius, zu einer Exempelfigur geworden. Seine Chärakterzeichnung in Lipsius' De constantia steht in dieser Tradition.446 In juristischen Fachkreisen setzte besonders ab dem 16. Jahrhundert ein großes Interesse an dem römischen 444 Vgl. dazu Angeliki Maraka: Tragoedia genandt Der Grossmiithige Rechtsgelehrte Aemilius Paulus Papinianus oder Der Kluge Phantast und wahrhaffte Calender Macher. Diss., Berlin 1970, S. 6-18. In der Bearbeitung der Wanderbühnen tritt nach 1700 das komische Element immer öfter hervor; Papinian übernimmt dort „die Rolle eines verrückten Juristen" (ebd., S. 152). 445 Vgl. Mannack: Andreas Gryphius, S. 76. 446

Vgl. Hans-Jürgen Schings: Großmüttiger Rechts=Gelehrter / Oder Sterbender Aemilius Paulus Papinianus. In: Die Dramen des Andreas Gryphius, S. 170-203, hier S.182f.

125 Rechtsgelehrten ein. Verklärende Lebensbeschreibungen erschienen, immer mit der Intention, Papinian als Vorbildfigur der Nachwelt zu überliefern. 447 Kühlmann weist auf die wichtige Ausnahmestellung hin, die Bodin einnimmt, der in seinen Six livres de la republique das Vorgehen Papinians kritisiert: Dieser habe nicht weise gehandelt, sondern mit seiner Tapferkeit den Staat in noch größeres Verderben gestürzt und noch mehr Gewalt provoziert. Bodin räumt ein, er wolle nicht den Ruhm des Mannes schmälern, aber Papinian hätte den Fehltritt seines Fürsten ertragen müssen. 448 „Die große Beispielfigur", so Kühlmann, vermittele nun nicht mehr „zwischen der Kontingenz der Geschichte und einem vor aller Erfahrung gültigen Normsystem," 449 sondern es zeichne sich die Tendenz ab, Papinians Handlung „nach Maßgabe der politischen Klugheit" zu beurteilen. 450 Kühlmann zeigt, daß zu Beginn des 17. Jahrhunderts, als Reaktion auf die Kritik Bodins, in der späthumanistischen Gelehrtenschicht und unter den Juristen der Zeit eine Diskussion um den ,Fall Papinian' einsetzte. Der gemäßigte Lutheraner Melanchthon 451 und der Tübinger Jurist Christoph Besoldus verteidigten die Haltung Papinians als sokratische Verbindung von Theorie und Praxis der Tugend, während sich der Marburger RhetorikProfessor Hermann Kirchner der Auffassung Bodins anschloß und Kritik an Papinians Eigensinn übte.452 Während im 17. Jahrhundert ein Streit gefuhrt wurde, verebbte das Interesse an Papinian im Laufe des 18. Jahrhunderts. Behrends weist nach, daß Ende des 19. Jahrhunderts die Diskussion noch einmal auflebte. Unter dem Einfluß eines Rechtsideals, das für die Trennung von Moral und Recht plädierte, wurde Papinians „Moralisieren" als „unjuristisch" getadelt und mit dem Schimpfwort ,Papinianismus' belegt. 453

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Vgl. dazu Dieter Nörr: Papinian und Gryphius. Zum Nachleben Papinians. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung fur Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung 83, 1966, S. 308-333, hier S. 309-311. Vgl. Jean Bodin: Les six Livres de la Republique (Faksimiledruck der Ausgabe Paris 1583). Aalen 1961, Kap. 3 . 4 . Vgl. Wilhelm Kühlmann: Der Fall Papinian. Ein Konfliktmodell absolutistischer Politik im akademischen Schrifttum des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Daphnis 11, 1982, S. 222-252, hier S. 228f. Ebd., S. 229. Ebd., S. 230. Vgl. ebd., S. 230f.; Kühlmann zeigt, daß Melanchthon sich in seiner Verteidigung auf das Naturrecht beruft, wie es von der stoisch-christlichen Tradition vermittelt worden ist. Für Melanchthon ist die Kenntnis des göttlichen Rechts, das in die Natur des Menschen eingepflanzt ist, entscheidend. Hier wäre eine Untersuchung über die Unterschiede notwendig, die die anthropologischen Voraussetzungen betreffen, die Melanchthon im Unterschied zu Luther macht. Daß er dem Menschen eine weitaus größere Erkenntnisfähigkeit zutraut als Luther, läßt seine größere Akzeptanz der Allegorese vermuten. Vgl. oben, S. 76f. Vgl. Kühlmann: Der Fall Papinian, S. 245-247. Okko Behrends: Papinians Verweigerung oder die Moral eines Juristen. In: Literatur und Recht: literarische Rechtsfalle von der Antike bis in die Gegenwart. Hrsg. von Ulrich Mölk. Göttingen 1996, S. 243-291, hier S. 250.

126 Man wertete den moralisierenden Zug in der Überlieferung sogar als Interpolation. 454 Gryphius' Drama ist Bestandteil einer immer wieder aufflackernden Kontroverse und vermutlich als eine Reaktion auf die Diskussion um Bodin zu verstehen. 455 Dabei ist zu ermitteln, ob das Drama Papinians Haltung tatsächlich idealisiert, wie die Forschung oft nahelegt. Tritt Papinian tatsächlich als ein „Auserwählter" 456 auf? Schuf Gryphius mit Papinian einen „Leit-Stern" seines Standes, den er als Vorbild dem in Wahrheit korrupten höfischen Beamtentum entgegensetzte? 457 Ist der römische Rechtsgelehrte ein „moralischer Held von seltener Reinheit"458, ein „hervorragendes Individuum" im Sinne einer idealen stoisch-praktischen Philosophie? 459 Das Drama wäre dann, wie Habersetzer vermutet, als eine Kampfansage an die Lehre Bodins zu verstehen, 460 als ein gegenhöfisches Manifest, als das es noch im Jahre 1681 aufgeführt wurde.461 Jedoch werden auch kritische Töne laut. Stein des Anstoßes ist vor allem, daß Papinian so weit geht, seinen Sohn hinrichten zu lassen. Diese Entscheidung ist allerdings echt stoisch, weil der Tod für die Stoa kein Übel ist. Michelsen vollzieht Papinians Rechtsauffassung nicht vollständig nach, wenn er behauptet, „der unverwandte Blick auf das ,Recht'", lasse „dem Unrecht seinen L a u f und verhindere „ein Verhalten, das, ohne rigoros der

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Vgl. ebd., S. 251. Vgl. hingegen Andreas Solbach: Amtsethik und Lutherischer Gewissensbegriff in Andreas Gryphius' Papinianus. In: Text und Konfession (Daphnis 28, Heft 3—4), S. 631-673, hier S. 636, S. 672. Schings: Großmüttiger Rechts=Gelehrter / Oder Sterbender Aemilius Paulus Papinianus, S. 184, S. 247. Reichelt: Politica dramatica, S. 48. Vgl. ders.: Barockdrama und Absolutismus: Studien zum deutschen Drama zwischen 1650 und 1700. Frankfurt am Main, Bern 1981 (Arbeiten zur mittleren deutschen Literatur und Sprache 8), S. 52. Behrends: Papinians Verweigerung oder die Moral eines Juristen, S. 243. Wilfried Woesler: Gryphius' Papinian und Seneca. In: Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur. Beiträge zur Tagung Kloster Zinna 29. 9.-1.10. 1997. Hrsg. und eingeleitet von Christiane Caemmerer u. a. Amsterdam-Atlante 2000 (Chloe 33), S. 2 5 3 272, hier S. 270. Woesler gewinnt diese Interpretation durch einen Vergleich mit der pseudosenecaischen Oktavia und deren Hauptfigur Seneca. Diese und Papinian seien „Antagonisten" der kaiserlichen Willkür - wenn auch unter anderen Vorzeichen (ebd., S. 255). Karl-Heinz Habersetzer: Politische Typologie und dramatisches Exemplum. Studien zum historisch-ästhetischen Horizont des barocken Trauerspiels am Beispiel von Andreas Gryphius' Carolus Stuardus und Papinianus. Stuttgart 1985, S. 93. Vgl. Hellmuth Thomke: Der Fürstabt und die reformierte Stadt St. Gallen im Theaterwettstreit. Translationsfeste und Gryphius-Aufführungen im 17. Jahrhundert. In: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert, S. 551-558, hier S. 556. Zum Stück des Jesuiten Franz Neumayr, das den Stoff anders rezipiert und eine realpolitische Haltung empfiehlt, vgl. Karl-Heinz Habersetzer: Andreas Gryphius' und Franz Neumayrs, S. J. „Papinianus" (1659/ 1733). Versuch einer rezeptionsgeschichtlichen Analyse. In: Deutsche Barockliteratur und europäische Kultur. Hrsg. von Martin Bircher und Eberhard Mannack. Hamburg 1977 (Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur 3), S. 261-265, hier S. 263.

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Forderung des Rechts zu entsprechen, wenigstens Recht hätte bewahren oder befördern können."462 Auch Kaminski sieht die vermeintliche Idealgestalt Papinian durch die Hingabe des Sohnes demontiert.463 Sein Handeln sei rein selbstbezogen, so daß seine „politische Vorbildlichkeit" in Frage gestellt werde.464 Meine Interpretation geht von der Überlegung aus, daß eine eindeutige Bewertung der Hauptfigur nicht möglich ist, sondern in ihr eine ähnliche Komplexität wie in der Catharina von Anfang an angelegt ist. Auch Papinian ist kein reiner Stoiker. Seine Wandlung vom rastlos ordnungschaffenden Beamten zum Verfechter der lex naturae ist Gegenstand der folgenden Untersuchung. Dabei werden sich im Vergleich zur Catharina auch einige Unterschiede zeigen. Der erste Teil des folgenden Kapitels beschäftigt sich mit der Frage, ob nicht bereits Papinians Prolog vor dem Hintergrund Senecaischer Kulturkritik Dokument einer antistoischen Haltung ist. Eine weitere Frage lautet, welche Funktion das Zuschauermotiv im Prolog und im Reyen besitzt. Schließlich geht es in einem zweiten Teil um das Problem, wie Papinian in seinem Widerstand seine Rechtsansprüche vermittelt. Zu untersuchen ist, welche Funktionen die ,Themis' im Drama einnimmt.

a) Die Funktion des Zuschauermotivs: Papinians sokratisch-epikureische Wendung Zentrales Thema des Dramas ist der Wandel des Protagonisten zum Stoiker. Zunächst ist Papinian wie Catharina als occupatus gesellschaftlich-politisch aktiv, erwirbt sich durch seine Leistungen eine exponierte Stellung, die ihm wiederum Raum und Anlaß zur Reflexion verschafft, und unternimmt schließlich eine Neuordnung seiner selbst. Von dem unveränderlichen und unbeweglichen Idealtypus Papinian zu sprechen,465 bedeutet eine Unterschätzung dieses einschneidenden Moments: Papinian kommt wie Catharina im Verlauf der Geschichte zu der Einsicht, das selbst gesponnene Beziehungsgeflecht nicht mehr unter Kontrolle halten zu können. Noch vor dem Brudermord entscheidet sich Papinian für eine Rückwendung zur unberührten Natur. Diese allerdings entbehrt nicht eines epikureischen Zuges. Erst vor die Forderung gestellt, ein Unrecht zu legitimieren, entwickelt er sich zu einem echten Vertreter des stoisch-christlichen Naturrechts. Nach

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Peter Michelsen: Vom Recht auf Widerstand in Andreas Gryphius' Drama Aemilius Paulus Papinianus. In: Simpliciana 17, 1995, S. 45-70, hier S. 63. 463 Kaminski: Andreas Gryphius, S. 157. 464 Ebd. 465 Vgl. Herbert Heckmann: Elemente des barocken Trauerspiels. Am Beispiel des „Papinian" von Andreas Gryphius. Darmstadt 1959, S. 36.

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der praktischen Umsetzung seines neuen Lebensentwurfs kann von einer unveränderlichen und unbeweglichen Haltung Papinians gesprochen werden. Thema dieses Kapitels ist zunächst Papinians sokratisch-epikureische Wendung. Erste Hinweise auf Papinians heterogene Lebensführung liefert der Prolog, weil sich in ihm Spuren antiker und frühneuzeitlicher Texte finden, die den Gelehrten nicht als Stoiker qualifizieren. Im folgenden sei zunächst dargestellt, wie sich in Papinians Autopanegyricus sowohl Senecaische Prätexte als auch die Grotianische Schrift Mare liberum einschreiben. Welches Licht werfen diese Textnachweise auf die angebliche Vorbildfigur (a)? Schließlich ist die Funktion des Zuschauermotivs zu ermitteln, für das Lukrez' De rerum natura und Descartes' Discours de la Methode als Prätexte gedient haben könnten. Sie bestimmen das epikureische Moment in Papinians Wandlung (b). Des weiteren ist nach der Bedeutung des Zuschauermotivs im zweiten Reyen der Hofe-Junckern Papiniani zu fragen (c). (a) Die Funktion des Prologs ist bisher kaum strittig. Schings behauptet, daß sich Papinian bereits hier als „echter Stoiker" zeige466 und das „Paradigmatische seiner Existenz" vorführe.467 Auch Steinhagen sieht ähnlich wie Schings den Sinn des Prologs darin, Papinians „im Leben behauptete Einheit"468 und „Tugend" zu demonstrieren, die sich „in der gelebten Einheit von Sein und Bewußtsein" bewiesen.469 Auch neuere Interpretationen bestätigen diese Ergebnisse. „Gryphius' letztes Drama", so Raffy, stehe „dem stoischen Ideal am nächsten". Der Held zeichne sich durch „seinen Kult der Tugend, der Vernunft, der Ehre und des Ruhms, und durch sein Ideal der tranquillitas animi" aus; als Tugendhafter erscheine Papinian „von Anfang an".470 Auch Bornscheuer konstatiert, daß sich Papinian „vom Beginn des Dramas an nur noch als Sachwalter" des ewigen Rechts verstehe und sich zu einer „strengen Gewissensethik" bekenne 471 Vor dem Hintergrund Senecaischer Kulturkritik sind diese Interpretationen nicht haltbar. Obwohl sich Papinian im Prolog auf die „grosse Themis" beruft {Pap. I. 102) und das „neue Recht" verflucht (I. 98), sich von Beginn als Vertreter des ewigen Rechts stilisiert, rühmt er sich Taten, die ihn eindeutig nicht als Stoiker ausweisen. Im Prolog schildert der Gelehrte in reflexiver Rückschau sein Leben als homo politicus und als ein die Natur gestaltender Vertreter des neuen Rechts. Es wird zwar deutlich, daß Papi-

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Schings: Großmüttiger Rechts=Gelehrter / Oder Sterbender Aemilius Paulus Papinianus, S. 186. Ebd. Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama, S. 217. Ebd. Raffy: Leidenschaft und Gnade in Gryphius' Trauerspielen, S. 200f. Bomscheuer: Diskurs-Synkretismus, S. 517.

129 nian auch das Opfer politischer Intrigen und Verleumdungen ist.472 Offensichtlich aber ist, daß er sich vor seiner nun bevorstehenden Wandlung problemlos in die Reihe der occupati stellte, die das secundum naturam vivere verfehlen. Aus der Sicht stoischer Philosophie entlarvt der Prolog die ideale Existenz Papinians als Schein. In eindrucksvoller Bildlichkeit beschreibt Papinian seine occupatio der Natur und stellt sich selbst als Herr über die Natur dar. Ein wichtiger Unterschied zum Prolog der Ewigkeit in der Catharina besteht darin, daß Papinian eben die Taten, welche die Ewigkeit kritisch betrachtet, 473 für einen Panegyricus auf sich selbst verwendet: Und diß wird nun mein Lohn; daß ich so manche Nacht Entfernt von süsser Ruh / in Sorgen durchgebracht / Daß ich so manchen Tag Staub / Sonn und Frost getragen Daß ich auff See und Land behertzt den Leib zu wagen Mein und der Feinde Blut auff dieser Brust vermischt / Durch meiner Glieder Schweiß der Länder Angst erfrischt / Der Parthen Macht gestützt / den Nil und Phrat gezwungen / Den stoltzen Rhein umbpfählt / den Balth ans Joch gedrungen / Der Römer Recht erklärt / der Fürsten Schatz erfüllt / Der Läger Trotz gezäumt / der Völcker Sturm gestillt / Die Stadt in Hungers-Noth mit Ostens Korn gespeiset / Jetzt West / jetzt wüsten Sud / und rauhen Nord durchreiset / Dort Schantzen hin gesetzt / hir Mauren auffgebaut / Hier Thamm und Wahl gesänckt / und wo dem Frieden graut / Der Britten rauhe Ströhm' und Klippen-reiche Wellen Mit Brücken überlegt / nie vor erkante Quällen Den Arabern entdeckt / mein Leben in Gefahr Für Freyheit deines Raths / Ο Rom / und dein Altar Schir Tag fur Tag gewagt / mir nichts zu schwer geschätzet... (Pap. I. 129-147)

Auch wenn sich dieser Katalog, wie Tarot meint, „dem Umfang nach und nach der Vielfältigkeit der einzelnen Leistungen sehen lassen kann", 474 ist er denkbar ungeeignet, um vorbildliche stoische Lebensführung zu beschreiben. Papinian zeigt sich als einer jener Feldherren, denen im zweiten Chorlied des Thyestes der sapiens gegenübergestellt wird,475 und als jener miles, den Seneca in seinem 90. kulturkritischen Brief als ebenso überflüssig bezeichnet wie den Koch, der mit seinen seltenen Speisen den Eindruck erwecke, als würde die Natur nicht von sich aus alles geben, was der Mensch brauche (vgl. Ep. 90. 15). Papinian stilisiert sich in der Rückschau auf sein Leben

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Vgl. Wilfried Bamer: Der Jurist als Märtyrer. Andreas Gryphius' Papinianus. In: Literatur und Recht, S. 229-242, hier S. 234. Vgl. oben, S. 114f. Rolf Tarot: Die Kunst des Alexandriners im barocken Trauerspiel. Andreas Gryphius' Papinian. In: Simpliciana 19, 1997, S. 125-154 hier S. 149. Vgl. oben, S. 90f.

130 zum potenten Gestalter der Natur, der Wälle und Dämme errichtet hat, um Wassermassen zu bezwingen, und in die viscera terrae eindrang, um sich neues Land Untertan zu machen und Schätze zu finden.476 Ungewollt macht er sich zur Zielscheibe Senecaischer Kulturkritik: Er lebte nicht als sapiens, sondern als kriegerischer artifex. Im 90. Brief hält es Seneca nicht fur ein Zeichen von sapientia, Wassergräben und künstliche Teiche zu konstruieren (vgl. Ep. 90. 7f.) oder durch Rodung von Wäldern verborgene Bodenschätze zu entdecken (vgl. Ep. 90. 12). In Ad Helviam betrachtet Seneca kritisch die übliche occupatio fremder Völker. Mit dem Begriff der levitas bezeichnet er hier die Rastlosigkeit der Menschen, die sie dazu treibt, fremdes Land in Besitz zu nehmen: „[...] per invia, per incognita versavit se humana levitas. [...] Alii longo errore iactati non iudicio elegerunt locum sed lassitudine proximum occupaverunt, alii armis sibi ius in aliena terra fecerunt" (AdHelv. 7. 2f.). Der ständige Drang, fremde Völker zu unterwerfen, ist Zeichen einer Ruhelosigkeit, welche die Konzentration auf das Ewige verloren gibt. Diese stellt Papinians Prolog als Existenzvoraussetzung dar. Er legitimiert die Unterwerfung der Natur, sowohl die der landschaftlichen als auch der menschlichen. Das Reich vor Feinden schützen, das Volk vor der Hungersnot retten und Frieden erhalten zu müssen, machen die occupatio der Natur offensichtlich notwendig. Die Natur wird angesichts dieser Zwänge als ein Feind des Menschen betrachtet und nicht als ein Schutz gewährendes Obdach, als tutela, als die sie Senecaische Philosophie bezeichnet (vgl. Ep. 90. 38). Papinian stand offenbar im Dienst der Existenzsicherung seines Volkes. Nicht nur theoretisierender Jurist, sondern geschickter und erfolgreicher Feldherr, hielt er die politischen Fäden des sich stets vergrößernden Reiches perfekt kalkulierend in der Hand, immer mit dem Ziel, den Ruhm des Imperiums zu mehren. Allerdings nahm er Verstöße gegen das traditionelle Naturrecht in Kauf. Später bekennt Papinian, Politik als scientia betrieben zu haben. Er sei bereit gewesen, den Fürsten „zuweilen" etwas zu „übersehen" (V. 119), zu „bemänteln was geschehen" (V. 120) und zu „verdecken manchen Feil" (V. 121). Er weiß selbst, daß es ihm nicht gelungen ist, immer wahrhaft gerecht zu sein.477 Mit seiner Lebensbeschreibung macht er sich zum idealen Ziel Senecaischer Kulturkritik. Diese erhielt ihre Impulse aus den Anfangen jener riesigen Expansion des Römischen Reiches, die etwa dreihundert Jahre später u. a. ein Papinian beförderte. Auch auf der Folie eines frühneuzeitlichen Dokuments, Grotius' selten beachteter Schrift Mare liberum, erweist sich Papinians Verhalten als Praxis 476

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Zum Eindringen in die viscera terrae in der Antike vgl. auch Karl-Wilhelm Weeber: Smog über Attika. Umweltverhalten im Altertum. Zürich, München 1990, S. 63-84. Vgl. Schings: Großmüttiger Rechts=Gelehrter / Oder Sterbender Aemilius Paulus Papinianus, S. 187.

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frühneuzeitlicher Rechtsfindung. Die Metapher der ,Umpfählung' (vgl. I. 136) im Prolog alludiert latent auf Grotius' Text, wenn sie nicht sogar eine intendierte Markierung ist. Daß mit derselben Metapher Grotius die occupatio der Natur beschreibt und diese auch rechtfertigt, weist ihn deutlich als Initiator des neuen konstruierten Naturrechts aus.478 Es sei kein Unrecht, so Grotius, mit Pfählen einen Teil des Meeres zu umgeben und ihn sich auf diese Weise zu seinem Besitz zu machen. So habe auch Lucullus einen Berg ausgehauen und das Meer zu seinem Landsitz geleitet: Neque tarnen peccabit ille quis maris diverticulo locum sibi palis circumsepiat, atque ita privatum faciat; sicut Lucullus exciso apud Neapolim monte ad villam suam maria admisit. 4 7 9

Grotius fuhrt mit dem Stichwort der occupatio das Eigentumsrecht als neue Rechtsquelle ein. Er stellt die Inbesitznahme der Natur als natürlichen Vorgang dar, was mit dem Selbsterhaltungstrieb, der zum Überleben notwendigen Nahrungsaufnahme, bewiesen sei. Die Inbesitznahme der Natur bedeutet ihre Einverleibung: Sicut enim initio per applicationem corporalem usus ille habebatur, unde proprietatem primum ortam diximus, ita simili applicatione res proprias cuiusque fieri placuit. Haec post quae dicitur occupatio, voce accomodatissime ad eas res quae ante in medio positae fuerant. 4 8 0

In Grotius' Theorie ist es das Schicksal der Natur, vom Menschen in Besitz genommen zu werden. Dieser Gedanke ist dem stoischen Naturrecht fremd. In der Stoa gibt es von Natur aus kein privates Eigentum, sondern nur allgemeinen Besitz (vgl. Ep. 88. 12). Das naturgemäße Leben besteht darin, daß die Menschen gemeinsam die Gaben der Natur genießen. Die erste Natur liefert alle nötigen Bedingungen für die Selbsterhaltung, ohne daß sie unter verschiedenen Besitzern aufgeteilt werden müßte (vgl. Ep. 90. 38). Im Prolog überlagern sich zwei Sorten von Prätexten, deren Decodierung zu einer evidenten Deutung fuhrt: Papinian rühmt sich Taten, die ihn aus der Sicht Senecaischer Kulturphilosophie nicht als Stoiker ausweisen. Im Kontext des frühneuzeitlichen Rechtsdiskurses ist er zudem als Konstruk-

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Vgl. oben, S. 49. Hugo Grotius: Mare liberum sive de iure quod Batavis competit ad Indicana Commercia dissertatio (Neudruck der Ausgabe Leiden 1618). John Seiden. Mare clausum seu de dominio maris libri duo (Neudruck der Ausgabe London 1635). Mit einer Einfuhrung zu beiden Schriften von F. Krüger-Sprengel. Osnabrück 1978 (Bibliotheca rerum militarum 17), S. 46. Ebd., S. 37. Vgl. auch Verf., Zwei Leben: Vom artifex naturae zum stoischen Weisen. Die Aktualisierung des Senecaischen secundum naturam vivere in Gryphius' Drama Papinian (1659). In: Tradita et inventa: Beiträge zur Rezeption der Antike. Hrsg. von Manuel Baumbach. Heidelberg 2000 (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften. Reihe 2, Neue Folge 106), S. 217-233, hier S. 225f.

132 teur des neuen Naturrechts zu qualifizieren. Der Prolog entlarvt Papinians ehemals alles andere als naturgemäße Lebensführung. Ob Gryphius seinen Lesern eine „Decodierungsaufgabe" gestellt hat481 und die Spuren der Prätexte absichtlich nicht deutlich markierte, kann kaum entschieden werden. Jedoch gibt die Überzeichnung des Protagonisten als Herrn über die Natur im Verein mit dessen auffalliger Autopanegyrik an die Hand, daß eine reine Idealisierung nicht intendiert war. Dafür spricht außerdem, daß der Prolog der Ewigkeit, aus stoischem Geist verfaßt, eine Papiniansche Lebensführung tadelt. (b) Im folgenden sei die Wandlung des Protagonisten beobachtet. Der Nachweis, mit welcher Funktion sich wiederum ein antiker und ein frühneuzeitlicher Text, Lukrez' Dererum natura und Descartes' Discours, in die Darstellung Papinians einschreiben, spricht noch einmal, wenn auch weniger eindeutig, gegen eine intendierte Idealisierung des Protagonisten als eines reinen Stoikers. Auf der Höhe seines Ruhms wendet sich für Papinian das Blatt der Geschichte, deren von ihm konstruierte Mechanismen er nicht mehr kontrollieren kann. Der occupatus Papinian, der auf Schlaf verzichtet und sich auch nachts konsultieren läßt, um Neuigkeiten zu erfahren und Ratschläge zu erteilen (vgl. Pap. I. 79f.), leistet es sich nach seinen Anstrengungen, die ihm den Erfolg beschieden haben, sich aus der Gefahrenzone zu begeben. „Verläumbdung" (I. 19), „Neid" (I. 20) und „Lügen" (I. 60) sind abzusehen. Auch wenn Papinian Opfer des Bruderzwists und der Fraktionsbildung am Hof ist, so liegt der eigentliche Grund seiner gefährdeten Stellung woanders. Er hat sich eine Position erkämpft, die ihm eine exponierte Stellung mit Zuschauerblick gewährt. „Von der stoltzen Höh der reichen Ehre" (I. lf.) ist es ihm vergönnt, auf das Schauspiel unter ihm herabzublicken. Szarota macht darauf aufmerksam, daß in Papinian eine Wandlung vorgehe, die sich im Prolog ankündige. Der Gelehrte wandele sich vom „Mann der Tat" zum „Mann der Idee".482 Die untadelige Lebensführung in beiden Phasen der Existenz bestreitet Szarota nicht. Jedoch ist zu beachten, daß sich Papinian zunächst vom politisch Tätigen zum genußfahigen Zuschauer ohne ethische Ansprüche wandelt. Auch wenn Speilerberg betont, daß es den „vornehmen Rückzug" für Papinian nicht gebe, da dieser mit seinem Leben für seine Haltung bezahlen müsse,483 so scheint der ehemalige Feldherr doch diese Form des Rückzuges zu beabsichtigen. Er ahnt zwar seinen Tod (vgl. I. 53-56), jedoch wird ihm zunächst in der genußvollen Position des Zuschauers die Wirklichkeit, die er selbst mitkonstruierte, zu einer Bühne,

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Heibig: Intertextualität und Markierung, S. 74. Szarota: Künstler, Grübler und Rebellen, S. 294. Speilerberg: Barockdrama und Politik, S. 153.

133 zum theatrum miindi. Befriedigung erwächst ihm aus dem Entschluß, als Spieler von dieser Bühne abzutreten. Papinian genießt zunächst den Anblick - nicht ohne einen gewissen Hochmut - aus der sicheren Entfernung und setzt sich bewußt in Distanz zum „Pöfel" (I. 2), der sein Unwesen treibt.484 Das Treiben des Volkes als einer ungezähmten und wilden Menge wird mit Naturgleichnissen veranschaulicht: Das Reich steht „in lichten Flammen" (I. 3), der „Wellen Schaum" (I. 4) überschwemmt die Felder, „Blitz und Knall" zeugen von einem Gewitter, nur kurz bietet die Nacht ein wenig Ruhe, bis der „heisse Tag" (I. 7) von Neuem den Sturm losbrechen läßt; „tausend Leichen" (I. 8) sind das Produkt menschlichen Handelns. Auch hier findet sich, wie im Prolog der Ewigkeit, die Leiche als typisches Requisit. Doch bietet ihr Anblick nicht Anlaß zur Meditation über die ewige Wahrheit, 485 sondern Papinian reflektiert zunächst über seine angenehme Stellung. Diese habe, das müsse er zugeben, „viel über die gemein" (I. 9). Empfindet er etwa sinnliches Vergnügen bei diesem Schauspiel? Es ist nicht zu verkennen, daß Gryphius die Anfangsverse des Prologs einem bekannten Passus aus Lukrez' De rerum natura nachempfunden hat. Das zweite Buch dieses Epos beginnt mit dem Motiv des Zuschauers, der vom Festland aus den gefahrlichen Seesturm beobachtet. Lukrez beschreibt die Annehmlichkeit, die suavitas dieser Position, die es erlaube, ruhig zuzusehen, wie der Andere sich plage. Um nicht den Verdacht eines allzu ausgeprägten Voyeurismus aufkommen zu lassen, erläutert er die Quelle der suavitas: Nicht freue es, zu sehen, daß ein Anderer Leiden erdulde, sondern es sei angenehm, selbst vom Leiden frei zu sein. Ebenso süß sei es, die tobenden Schlachtfelder aus der Ferne zu beobachten, und nichts sei süßer, als die heiteren Tempel der Weisheit zu betreten, die in sicheren Höhen aufgerichtet seien. Die Verse preisen die Sicherheit des regnum sapientiae. Im Tempel der Weisheit lebt es sich deshalb gut, weil er den Blick hinab auf das rege Treiben der Massen gewährt: Suave, mari magno turbantibus aequora ventis, e terra magnum alterius spectare laborem; non quia vexari quemquamst iucunda voluptas, sed quibus ipse malis careas quia ceraere suave est. Suave etiam belli certamina magna tueri per campos instructa tua sine parte pericli. Sed nil dulcius est bene quam munita tenere

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In gewisser Hinsicht ist die Verachtung des Pöbels eine stoische Position. Jedoch betrachtet die Stoa, gemäß ihrer optimistischen Anthropologie, den einzelnen Menschen nicht als schlecht. Der Pöbel, der gemieden werden muß, ist eher Zeichen einer pervertierten Kultur. Vgl. dazu auch Max Pohlenz: Philosophie und Erlebnis in Senecas Dialogen. In: Nachrichten von der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse 6, 1941, S. 55-118, hier S. 186. Vgl. oben, S. 96f.

134 edita doctrina sapientum templa Serena, despicere unde queas alios passimque videre errare, atque viam palantis quaerere vitae, certare ingenio, contendere nobilitate, noctes atque dies niti praestante labore ad summas emergere opes rerumque potiri. (Lucr. De rer. nat. 2. 1-13) 4 8 6

Wie der Zuschauer in Lukrez' Lehrgedicht hat Papinian die Einsicht gewonnen, daß er gut daran tut, „sich mit der Rolle des Zuschauers zu begnügen und seinen philosophischen Standort vor und über der Naturwelt nicht zu verlassen." 487 Der Unterschied zwischen der epikureischen Haltung und der Senecaischen aktiven Kontemplation besteht darin, daß sich in ersterer der einzelne nicht in die erhabene Ordnung des Kosmos eingebunden fühlt. Der epikureische Zuschauer genießt lediglich „das Selbstbewußtsein gegenüber dem Atomwirbel", der ihm „ein feindliches Element" bedeutet. 488 In Anlehnung an Lukrez verwendet auch Seneca dieses Motiv in dem besprochenen Chorlied des Thyestes, das das regnum sapientiae empfiehlt. 489 Die Stellung über dem sturmgepeitschten Meer und dem Schlachtgetümmel gewährt Sicherheit und Ruhe. Derjenige, der „tuto positus loco infra se videt omnia" ist der sapiens (Thy. 365f.). Allerdings hebt das Chorlied nicht die suavitas einer solchen Position hervor. Auch in der Schrift De otio findet sich das Zuschauermotiv, wobei Seneca dessen stoische Version deutlich von der epikureischen abgrenzt. Während ein Epikureer grundsätzlich die Teilnahme an der Politik verwerfe, so handele der Stoiker der jeweiligen Lage entsprechend. Falls der Staat zu verdorben sei, als daß man ihm noch helfen könne, oder falls man nicht genug Kräfte oder Einfluß besitze oder es die Gesundheit nicht zulasse, so verschwende man nur seine Zeit und solle sich zurückziehen (vgl. De otio, 3. 3).490 Eher solle man die Stürme meiden und sich in Sicherheit und im ungetrübten otium seinen Studien widmen: Potest ergo et ille cui omnia adhuc in integro sunt, antequam ullas experiatur tempestates, in tuto subsistere et protinus commendare se bonis artibus et inlibatum otium exigere, virtutium cultor, quae exerceri etiam quietissimis possunt. {De otio, 3. 4) 4 9 '

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Zitiert wird nach: Lucrece: De la Nature. Bd. 1. Texte etabli et traduit par Alfred Ernout. Texte latin et apparat critique revus et corriges par Claude Rambaux. Paris, 6. Aufl. 1990. Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 29. Ebd., S. 28. Vgl. oben, S. 91 f. Vgl.oben, S. 122f. Seneca selbst war bekanntlich politisch, besonders in der Partherkrise, sehr aktiv. In der Schrift De Tranquillitate animi betont er, daß er die Beteiligung am politisch-gesellschaftlichen Leben sucht, nicht um Ehrenstellen zu erlangen, sondern um Freunden, Verwandten und überhaupt den Menschen zu nützen. Er werde sich allerdings die Freiheit nehmen, sich der Muße hinzugeben, wenn die Verhältnisse unerträglich würden (vgl. De tranqu. an. 1. lOf.) Die „action politique" sei, so Grimal (Seneque), „un mode d'activite possible et

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Auch hier fehlt der Hinweis, daß ein süßes Gefühl aus der Freiheit von Schmerz entstehe, während der andere sich plage.492 Ist Papinian ein Epikureer? Papinian zieht sich aus dem öffentlichen Leben zurück und meidet die Gegenwart der ,Vielen', wie es Seneca zu Beginn von De otio empfiehlt (vgl. De otio, 1. 1-3). Gleichzeitig sucht er das angenehme Leben ohne gesellschaftliche Verantwortung, die suavitas. Er gleicht in gewisser Weise dem Epikureer, der sich in den Kepos zurückzieht. Allerdings besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der epikureischen und stoischen Philosophie in ihrem Anspruch. Ebenso wie das stoische Programm des recedere in se ipsum ist das epikureische „Lebe verborgen" zwar aus dem Bedürfnis heraus entstanden, dem Zerfall der Polis, der die Stellung des einzelnen in Frage stellte, mit einer Neuorientierung entgegenzutreten.493 Im Gegensatz zum Stoiker aber bejaht der Epikureer grundsätzlich die bestehenden Verhältnisse. Diese hält er nicht für grundsätzlich veränderungsfahig. Außerdem geht er davon aus, daß sie dem einzelnen einen gewissen Schutz verleihen. Der Epikureer arrangiert sich mit dem status quo. Insofern ist er Konventionalist, dem jeder Utopie-Gedanke fernliegt. In seiner Philosophie schließen die materialistische Weltsicht und die Prämisse, daß das Treiben der Götter ohnehin dem Menschen nicht begreifbar sei, ein Naturverhältnis wie das secundum naturam vivere aus.494 Papinians erstes Anliegen besteht tatsächlich darin, sich in Sicherheit zu bringen, die Natur aus der Distanz zu betrachten, ohne ein stoisches Naturverhältnis einzugehen. Die Decodierung des zweiten Prätextes, der dem Zuschauermotiv eingeschrieben ist, Descartes' Discours, verstärkt diesen Eindruck. In Descartes' Philosophie fuhrt die Distanznahme, in den Naturwissenschaften durch die Entdeckung des Fernrohres konfiguriert, nicht nur zur Objektivierung der Natur und Wirklichkeit, sondern auch zur Sicherheit. Die Zuschauerposition, passive Variante der Distanznahme, gewährt unge-

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conforme ä la nature pour le sage, si les circonstances, interieures et exterieures, le permettent" (S. 140). Senecas eigenes Schicksal zeigt, daß auch er sich nicht ungestraft zurückziehen durfte, sondern von der eigenen Geschichte eingeholt wurde. Es ist ein Topos der epikureischen Philosophie, daß die Freiheit von Schmerz, den der Stoiker natürlich ungerührt erträgt und der ihn nicht in seiner Glücksfähigkeit beeinträchtigt, Bedingung ist für die Eudaimonia. Vgl. Dorothee Kimmich: Epikureische Aufklärungen. Philosophische und poetische Konzepte der Selbstsorge. Darmstadt 1993, S. 34. Bei allen Gemeinsamkeiten, die sich im Konzept der „Sorge um sich" zwischen der stoischen und der epikureischen Philosophie ergeben, hebt Kimmich (Epikureische Aufklärungen) zu Recht hervor, daß es der Aspekt der Neuorientierung an der Natur ist, der die Stoa vom Epikureismus unterscheidet. Dieser radikalisiere „das Gefühl der Vereinzelung". Es zähle allein „der Versuch, das Subjekt als ein Zusammenspiel von Körper und Geist zu konstituieren", während die Vorstellung, daß sich der Mensch dann natürlich entwickelte, wenn er in einen größeren Zusammenhang eingebunden werde, nicht bestehe (S. 35).

136 störte Reflexion im otium. Descartes beschreibt, wie er sich auf Reisen begeben hat, lieber Zuschauer als Akteur war, den Komödien des Lebens aus sicherer Distanz zuschaute, um seine Urteile in Ruhe prüfen zu können: Et en toutes les neuf annees suivantes, ie ne fi autre chose que rouler 9a & lä dans le monde, taschant d'y estre spectateur plutost qu'acteur en toutes les Comedies qui s'y iouent; et faisant particulierement reflexion, en chasque matiere, sur ce qui la pouvoit rendre suspecte, & nous donner occasion de nous mesprendre, ie deracinois cependant de mon esprit toutes les erreurs qui s'y estoient pu glisser auparavant. [...] tout mon dessein ne tendoit qu'a m'assurer [...]. 495

Vor der Folie des Cartesianischen Textes wäre Papinian ein neugieriger Naturbeobachter, der sich in Sicherheit bringen will. Für Descartes ist die Zuschauerposition zwar Bedingung für Selbstreflexion, allerdings nicht Voraussetzung, um sich in Bezug zur unberührten Natur zu setzen. Im Gegenteil ist das Zuschauen, allerdings erst in einem zweiten Schritt, Vorbedingung, um die Natur neu zu entwerfen. Deshalb ist Hannah Arendts Urteil über Descartes nicht gerechtfertigt, die cartesianische Haltung und die in hohem Maße auf sich selbst gerichtete Reflexion führten zu einer ablehnenden Haltung der Wirklichkeit. 496 Mit der Philosophie Descartes' habe ein Prozeß eingesetzt, der die radikale Hinwendung zu sich selbst in Gang brachte. „Es wäre in der Tat absurd", so Arendt, „sich nicht klarzumachen, wie überhaupt die neuzeitliche Weltentfremdung zusammenstimmt mit den neuzeitlichen subjektivistischen Strömungen in der Philosophie [...]."497 Obwohl Arendts Urteil Descartes nicht ganz gerecht wird, ist es in Hinsicht auf das Drama dennoch bedenkenswert. Der Prolog könnte, indem er auf den besprochenen Lukrez-Text alludiert, den Verdacht erwecken, Papinian tendiere zum annehmlichen Epikureismus. In Verbindung mit dem Cartesianischen Text könnte Papinians zuschauende Absonderung ebenfalls ein reines Sicherheitsbedürfnis und den Willen ausdrücken, durch Distanz die Herrschaft über die Natur zu bewahren. Das Zuschauermotiv steht jedenfalls weder im antiken noch im frühneuzeitlichen Text fiir aktive, sondern nur fur theoretische Kontemplation. Aus ihr resultiert weder hier noch dort jener rigoristische ethische Anspruch, der das stoische Naturverhältnis kennzeichnet. Wandelt sich Papinian vom Konstrukteur des neuen Naturrechts zum genußfähigen, voyeuristischen, um seine Sicherheit besorgten epikureischen Cartesianer? Der Prolog scheint diese Frage zu bejahen. Papinian ist sich der Gefahr bewußt, die von der Bühne ausgeht. Die Metaphorik der Anfangsverse

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Descartes: Discours de la Methode. CEuvres. Bd. 6, S. 28f. Arendt: Vom Leben des Geistes, S. 58. Hannah Arendt bedient mit ihrer Einschätzung freilich einen Topos der deutschen Philosophie im 20. Jahrhundert. Vgl. dazu Brenner: Das Problem der Interpretation, S. 179f. Arendt: Vita activa, S. 346.

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zeigt, daß seine Stellung als Herr über bzw. jenseits der Natur Illusion ist. Die von ihm ehemals bezähmte Natur richtet sich gegen ihren Gestalter. Diesen nimmt der „Schwindel" (I. 10) ein, der „Fels" (I. 13) bricht, „Berg und Thal erzittert" (I. 15), der Gipfel zersplittert „in Staub und Dampff in weite Brüche" (I. 16). Papinian beschließt, „die gemein" (I. 69) zu fliehen, deren Treiben bisher fur ihn Ort der Tätigkeit und selbst inszeniertes Schauspiel war. Er wünscht sich, in seinem „einsam seyn" (I. 77) nicht gestört zu werden, um nur noch zuschauen zu dürfen. In der Reflexion über die gesellschaftlichen Zustände übt Papinian Kritik an dem Recht, dem er sich bisher selbst unterworfen hat: „Ist diß ein neues Recht: So sey diß Recht verflucht" (I. 98)! Der Prolog kündigt subtil eine Entwicklung an, die im ernsthaften Widerstand Papinians enden wird. Der erste Schritt seiner Umkehr ließe sich noch als epikureische Wendung bezeichnen. Auch im zweiten Reyen bleiben Restbestände des anfänglichen Eindrucks erhalten, daß Papinian eine eher annehmliche Existenz erstrebt, obgleich der typisch stoische, kontemplativ-aktive Bezug zur Natur zur Sprache kommt. (c) Im Reyen der Hofe-Junckern Papiniani ist eine Art aktive Zuschauerposition das Programm. „Auß der stillen Ruh / dem unbedachten Pöfel" zuzuschauen (I. 403f.), gewährt epikureische suavitas, geht aber mit einer aktiven Kontemplation der Natur einher. Die absolute Distanz zur Sphäre der Politik ermöglicht Blickfreiheit und dennoch absolute Sicherheit. Der neue Bezug zur Natur fuhrt zur Selbstfindung: Er lebt vor sich jhm selbst zu gut Bebaut das Land mit gleichem Mut / Vertreibt die bange Traurigkeit; Mit Fällen längst verjährter Zeit. Und was die Reich empört und Throne stürtzen kann Das siht er unverzagt gleich einem Schaw-Spiel an. Er forscht durch Fleiß und sinnen auß Der nassen Amphitriten Haus Versteht wenn Cynthia auffgeh Und Hermes funckel auß der Höh Erfindet sich in sich und was noch mehr / die Noth Liegt unter seinem Fuß / er pocht den grimmen Tod. (Pap. I. 4 2 1 - 4 3 2 )

Daß die hier beschriebene Lebensführung in Beziehung zur Gestalt des Protagonisten steht, ist in der Forschung umstritten. Schings hebt den „durch und durch utopischen Charakter des entworfenen Ideals" hervor.498 Insbesondere der Hinweis auf die Sanftheit des Todes, der den Weisen in seinem otium erwarte (vgl. I. 435f.), verbiete es, den Reyen im Sinne einer „authentischen Stellungnahme" Papinians zu werten, der ja bereit sei, den

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Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius, S. 242.

138 Martertod auf sich zu nehmen. 499 Für Steinhagen ist „kein Zweifel möglich", daß der Reyen die von Papinian angestrebte ideale Lebensführung beschreibe, für die er auch sterbe.500 Raffy hingegen bestreitet die These Steinhagens, denn Papinian lehne die durch den Reyen intendierte Trennung zwischen politischem und privatem Leben ab. Er erstrebe den Tod und wolle durch diesen Tod einen göttlichen Auftrag erfüllen: „II y a done chez lui un proselytisme, une conviction d'avoir une mission divine ä remplir et une propension ä payer ce temoignage de sa vie que Ton chercherait en vain dans les propos du chceur."501 Allerdings sprechen für Steinhagens These zwei Befunde. Zum einen ist das Zuschauermotiv das verbindende Glied zum Prolog des Papinian. Zum anderen wird hier jenes stoische Naturverhältnis beschrieben, auf das Papinian später seine Rechtsvorstellung gründet. Im Reyen drücken die Worte forschen (vgl. I. 427), verstehen (vgl. 1.429) und sich in sich erfinden (vgl. 1.431) das typisch senecaische kontemplativ-aktive Verhältnis zur Natur aus. In ihm liegt die Ursache für Papinians Widerstand und fur seine Vorstellung vom ewigen und ungeschriebenen Gesetz. In seinem Widerstand beruft sich Papinian später auf das christlich-stoische Naturrecht: Umb das Ich nicht verletze Das allgemeine Recht das der die grosse Welt Hat in Jhr Wesen bracht und in dem Stand erhält / Nicht jrgend auß Papir / auff stetes Ertz getriben / Nein / sondern das er hat der Seelen eingeschriben Verlir Ich höchst erfreut mein Ambt-Recht / nemt es hin. Schätzt Jhr diß vor Verlust? Ich halt es vor Gewin. (Pap. IV. 336-342)

Weder exemplifiziert der Reyen nur den topischen Gegensatz von Landund Hofleben, 502 noch fordert er lediglich, auf jede aktive Partizipation an Gesellschaft und Geschichte zu verzichten. 503 Das hier beschriebene Naturverhältnis kündigt Papinians spätere Widerstandshaltung an, seine von epikureischen Anleihen schließlich freie sokratische Wendung zur sapientia. Wir haben gesehen, daß Papinian von Anfang an kein reiner Stoiker ist. Der Nachweis, wie sich verschiedene antike und frühneuzeitliche Texte in

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Ebd; vgl. auch Stackhouse: The Constructive Art of Gryphius' Historical Tragedies, S. 149, und Solbach: Amtsethik und Lutherischer Gewissensbegriff in Andreas Gryphius' Papinianus, S. 642f. Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama, S. 224. Jean-Louis Raffy: Le Papinianus d'Andreas Gryphius (1616-1664). Drame de martyr et secularisation du theatre en Allemagne au XVIIe siecle. Berne u. a. 1992 (Collection Contacts, Reihe 1, Theatrica 11), S. 131. Vgl. so etwa Gerhard Spellerberg: Recht und Politik. Andreas Gryphius' „Papinian". In: Der Deutschunterricht 37, 1985, S. 57-68, hier S. 61. Vgl. Michelsen: Vom Recht auf Widerstand in Andreas Gryphius' Aemilius Paulus Papinianus, S. 63.

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den Prolog und in den Reyen einschreiben, hat gezeigt, daß Papinian eine Entwicklung durchmacht. Aus stoischer Perspektive kann er in der ersten Phase seiner Existenz aus zwei Gründen nicht als sapiens bezeichnet werden. Zum einen spricht seine Autopanegryik gegen eine vorbildliche stoische Lebensführung. Sie desavouiert ihn als artifex der Natur und als Konstrukteur des neuen Naturrechts. Zum anderen läßt seine epikureisch anmutende Rückzugshaltung vermuten, daß ihn keine echten Gewissensgründe dazu bewegen, von der Politik Abstand zu nehmen. Die echt sokratische Wendung zur sapientia und die Aufnahme des stoischen Naturverhältnisses kündigen sich erst im Reyen an. Der Brudermord stellt Papinian auf die Probe, der nun eine radikale Umsetzung des Wissens über die „Warheit" (vgl. Pap. III. 472) in die Praxis wählt. Indes bietet der öffentliche Raum, Luthers weltliches Regiment und das neue konstruierte Naturrecht, an deren Erhaltung er einst selbst mitgearbeitet hatte, nicht die nötigen Voraussetzungen dafür. Die Wahrheitsfindung, die gleichzeitig Selbstfindung bedeutet, ist erstens nicht im öffentlichen Raum möglich und führt zweitens tragischerweise eben dort zum Tod. Der physische Tod ist nur die Potenzierung des sozialen Todes, den Papinian mit seiner Abkehr von der Gesellschaft provoziert, indem er einen neuen Handlungsraum, scheinbar nur in sich selbst, eröffnet. Setzt Catharina den Gedanken eines pantheistischen Weltbildes durch die Rosenallegorese wieder ins Recht, so errichtet Papinian sein pantheistisches Weltbild durch Hinwendung zum geordneten Kosmos. Während Catharina das ,höher Reich' erstrebt, sucht sich Papinian die Sphäre eines intimen Menschseins zu schaffen. Beide erheben dabei denselben Anspruch auf Akzeptanz des ewigen und ungeschriebenen Gesetzes. Aber auch Papinians Tätigkeit wird als ein Konstruktivimus begriffen, der in Negation äußerlicher Aktivität eine produktive, rein innere entfaltet. Die Vermittlung seiner Gerechtigkeitsvorstellung wird, unter ganz anderen Vorzeichen als in der Catharina, zum hermeneutischen Problem.

b) Papinians Einsamkeit: Zur Sinnlosigkeit'

seiner

Rechtsvorstellung

Papinians Naturverhältnis fuhrt zum Tod, weil es den Ungehorsam gegenüber dem Fürsten, aber auch den Widerstand gegenüber anderen Angeboten bedingt. Papinian schlägt die Hilfe des Heeres aus (vgl. Pap. IV. 387-392, 411), ebenso Julias Heiratsantrag. Er will den Thron nicht „durch Meuchelmord" erben (V. 20). Als Mitglied des weltlichen Regiments argumentiert Bassian mit der utilitas und mit dem neustoizistischen und Ciceronianischen officium für

140 das Reich,504 das Papinian mit seinem Handeln erfüllen solle. Zum „Nutz" des Staates (IV. 114) müsse er die Schrift aufsetzen und Senecas Rolle nach dem Mord an Agrippina spielen. Bassian tadelt Papinians Begriff von sapientia, die sich gerade im Zweifelsfall nicht bewähre (vgl. IV. 123f.). Papinian sei ihm, wie auch immer sich die Sache verhalte, zum Gehorsam „verpflichtet" (IV. 167). Auch den Rechtsgelehrten trifft wie Catharina der Vorwurf des Wahns und der Raserei (vgl. IV. 146).505 Zu „steiff poche Papinian auf „Recht und Heiligkeit" (V. 167). Sogar der Vater Hostilius rät, nachzugeben und nicht gegen den Strom zu schwimmen (vgl. V. 90-99). Er plädiert für eine instrumentalisierte Sanftmut, um des Fürsten Zorn nicht weiter zu reizen (vgl. V. 102), und will seinen Sohn zum Opportunismus verführen. Dieser weigert sich nun, prudentia mixta zu praktizieren, das Unrecht zu „bemänteln" (V. 120) und zu „übersehen" (V. 119).506 Dem impliziten Vorwurf des weltlosen Verhaltens tritt er mit dem Hinweis auf die Verantwortung vor der Welt entgegen (vgl. V. 195, IV. 137). Dieser Hinweis schützt ihn aber nicht vor dem Verdacht eines privaten Sterbens „als Außenseiter und in eigenem Namen". 507 Welt und Welt zerfallen in eine nicht zu rettende Dichotomie ebenso wie die Vorstellung des Rechts. Michelsen behauptet gar, es gehe Papinian „um ein Nicht-Weltliches". 508 Es besteht nun die Frage, wie der Eindruck des Nichtweltlichen auf hermeneutischer Ebene entstehen kann. Wie kommt es, daß ein Bild jenes Stoikers entsteht, wie ihn Hannah Arendt beschreibt? Das „extrem erweiterte Bewußtsein" des Stoikers finde in seinem „Inneren alles,"509 weil es sich ganz von der Außenwelt, den Erscheinungen und der Wirklichkeit zurückziehe, indem es sie als bloße Eindrücke behandele und ausklammere.510 Zunächst wäre einzuwenden, daß Arendt das stoische Naturverhältnis ignoriert und übersieht, daß der Stoiker für die Konstitution seiner selbst auf die Natur und auf sie als Erscheinung angewiesen ist.511 Die Natur ist fur 504 vgl. oben, S. 119-123. Aus neustoizistischer Sicht wird gegen Papinian dieselbe Lipsianische Kritik an einer constantia erhoben, die kein Maß mehr hält und deshalb dem Wahnsinn gleicht. Für die Außenwelt stellt sich Papinians Haltung als Affekt dar (vgl. Brenner: Macht und Moral, S. 253). 505 506 507 508

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Vgl. oben, S. 118. Vgl. oben, S. 130. Schings: Constantia und Prudentia, S. 203. Michelsen: Vom Recht auf Widerstand in Andreas Gryphius' Aemilius Paulus Papinianus, S. 63. Arendt: Vom Leben des Geistes, S. 157. Ebd. Hannah Arendts Grundgedanke ist der Primat der Erscheinungen im menschlichen Leben. Ihre einseitige Beurteilung des Stoikers rührt daher, daß sie die Abwendung von der Welt der Erscheinungen als Abwendung vom tätigen Leben begreift. Arendts Einschätzung des Stoikers reflektiert ihre Kritik an den Grundprämissen der abendländischen Philosophie, die diese Abwendung von der erscheinenden Welt forderten. Sie kritisiert die alte „Dichotomie von Sein und Erscheinung", die bereits in Piatons Höhlengleichnis angelegt ist

141 den Stoiker ein von menschlicher Gestaltungskraft unberührter Ort und die Wirklichkeit, die er nicht ausklammern will und kann. Arendts Kritik findet sich aber im Drama. Weil ihre Beurteilung aus der Verkennung der stoischen Hermeneutik resultiert, trifft sie unversehens die Quelle des Unverständnisses und der Fremdheit, die Papinians Rechtsvorstellung entgegengebracht wird. Für Papinians Außenwelt ist die unberührte Natur als Orientierungsinstanz absolut irrelevant geworden. Sie existiert gleichsam nicht mehr. Könnte dieser Befund ebenso für die Vertreter des weltlichen Regiments in der Catharina erhoben werden, so liegt das Problem im Papinian etwas anders. Während Catharina mit ihrer Rosenallegorese immerhin noch den Eindruck erweckt, als orientiere sie sich an einem Außen, unternimmt Papinian gar nicht den Versuch, seine Rechtsvorstellungen bildlich auf der Grundlage einer gemeinsamen Erscheinungswelt zu vermitteln. Bilder unberührter Natur bezieht er - ganz unstoisch - nicht in seine Argumentation mit ein. Salome und Catharina können sich wenigstens darüber auseinandersetzen, was die Rosen bedeuten. Papinian hingegen entsinnlicht sein Denken, weshalb seine Einsamkeit noch radikaler ist als die Catharinas. Aus der Sinnlosigkeit' ergibt sich der Eindruck der „Weltlosigkeit" seiner Gerechtigkeitsvorstellung.512

(ebd., S. 35). Sie plädiert für eine Umkehrung der Hierarchie und fur den „Wert der Oberfläche" (S. 36). Da die Menschen „in einer erscheinenden Welt leben [...], wäre es da nicht viel einleuchtender", so lautet die Frage, „daß das Bedeutsame und Sinnvolle gerade an der Oberfläche zu finden sein sollte?" In diesem Zusammenhang spricht sie von dem „Vorzug des Funktionalismus", da in ihm die Erscheinungen wesentlich sind (ebd., S. 37). Hier wäre daraufhinzuweisen, daß im 17. Jahrhundert Etikette und äußerliche Sichtbarmachung der jeweiligen Rolle bemüht sind, einen zuverlässigen Funktionalismus in Gang zu setzen, der die Welt und die Verhältnisse sicherer machen soll, gleichzeitig aber die Praxis der Verstellung provoziert. Arendt würde argumentieren, daß die dissimulatio nur vordergründig gegen die Übereinstimmung von Sein und Erscheinung spreche. Was sich hinter dem Schein offenbare, sei wieder Erscheinung. Der Schein „setzt die Erscheinung voraus" (ebd., S. 47). Arendt vergleicht zwar die Bühne des menschlichen Lebens in barocker Weise mit dem Theater, auf dem der Mensch für kurze Zeit erscheint und wieder verschwindet, Zuschauer und Spieler zugleich ist. Sie versteht die Bühnenmetapher aber positiv als Grundgesetzlichkeit des menschlichen Lebens überhaupt, dessen Erscheinungshaftigkeit verläßlich sei (vgl. ebd., S. 31f.). Arendts Ausführungen basieren auf der Prämisse, daß in der Welt „Sein und Erscheinen dasselbe" und die Erscheinungen allen Menschen „gemeinsam" seien (S. 30). Diese Prämisse ändert nach Arendt natürlich nichts an der Tatsache, daß man der Täuschung erliegen kann. Auch im Falle einer Täuschung bleibt es bei der grundsätzlichen Erscheinungshaftigkeit der Welt. Die Fundamentalkritik, die Arendt an den Naturwissenschaften übt, ist, daß sie ausgehend vom ontologischen Dualismus versuchten, das Sein ans Licht zu zerren, das sie aber in Laboratorien selbst herstellten (vgl. ebd., S. 33f.). Der Zweifel an der Welt der Erscheinungen, der diesem vermeintlichen Fortschritt zugrunde liegt, habe schließlich zum radikalen Zweifel Descartes' geführt. Als das Sichere bleibe fur Descartes nur das Selbst, woraus sich ein radikaler Subjektivimus ergebe (vgl. ebd., S. 56) und der Verlust einer gemeinsamen erscheinenden Welt. Vgl. unten, S. 283, Anm. 502. 512

Arendt: Vita activa, S. 64.

142 In Papinians Verteidigung findet sich an keiner Stelle ein Hinweis auf die unberührte Natur oder den Kosmos, in dessen aktiver Betrachtung er, wie der zweite Reyen zeigt, doch seine Rechtsvorstellung und Identität gewinnt. Seine Argumentation nimmt tatsächlich abstrakten und rein rhetorischen Charakter an. Hinzu kommt ein weiterer Punkt, der seinen Standpunkt als eigensinnig herausstellt. Dargestellt sei im folgenden, daß sich ein polysemer Begriff der Themis ermitteln läßt. Papinians Themis und die Allegorie derjenigen Themis, die im zweiten Reyen auftritt, stellen unterschiedliche Ansprüche. Papinians Verweisen auf „die Wahrheit" {Pap. III. 472, 504), auf „das heil'ge Recht" (III. 474), „der Völcker Schluß" (III. 484), „der Götter ewig Recht" (III. 486) und auf sein „Gewissen" (III. 388, 506) begegnet Bassian mit dem Vorwurf, er verblende durch den „Dunst der Worte" (IV. 147). Auch Papinians Hinweis auf „der Themis Bild" (IV. 162) bleibt ein abstrakter Erklärungsversuch, ein nicht sinnlich vermittelter, erfundener Begriff des subjektiven Geistes. 513 In seiner Todesstunde beschwört Papinian das Bild der Themis, die die „Sitten ins Geblütt [...] eingepflantzet" habe (V. 343f.). Auf welche Themis beruft er sich? Der Gelehrte bemüht einen Rechtsgedanken, der im antiken Mythos der Themis verankert ist. Themis gilt ursprünglich als Verkünderin und Weissagerin sittlicher und rechtlicher Grundsätze und als Vertreterin der ewigen Wahrheit. 514 Mythologisch wichtig ist ihre Verwandtschaft mit der Erdgöttin Gaia, mit der sie in manchen Quellen gleichgesetzt oder als deren Tochter sie überliefert wird. Die Erde gilt als das Feste und Haltbietende, als der Boden des Rechts, in den Themis auf Geheiß ihrer Mutter die Satzungen einpflanzt. 515 Diese Verwandtschaft begründet die absolute Verbindlichkeit ihrer Vorschriften auf Erden und für alle auf ihr lebenden Menschen. Die Berufung auf die Themis ist gleichzusetzen mit der auf das stoisch-christliche Naturrecht, das „in den Seelen eingeschriben" ist (IV. 340). Die Satzungen der Themis bilden das „Gewissen" (V. 65) und das „heilige Recht" (V. 66), die Papinian beschwört. Er erklärt sich aber weder mit dem beschriebenen Bild noch mit einem stoischen Naturverhältnis, aus dem sich die Ansprüche ,seiner' Themis ableiten. Die Rede von „der Themis-Bild" (IV. 162) erscheint als eine leere Worthülse. Diese Rechtsvorstellung bleibt ein toter Begriff und die Abstraktion eines einzelnen Subjekts. 516

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Aus den literarischen Quellen der Antike wie auch aus Kunstdenkmälern ist ersichtlich, daß man sich die Themis als junge, würdevolle und schöne Frau vorstellte. Vgl. Art. ,Themis'. In: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Bd. 1-5. Hrsg. von Wilhelm Roscher u . a . Leipzig 1890-1897, hier Bd. 5, Sp. 570-606, hier Sp. 578-580. Vgl. ebd., Sp. 582 Vgl. ebd., Sp. 584f. Vgl. Brenner: Macht und Moral, S. 259.

143 Welche Funktion nimmt in diesem Zusammenhang der zweite Reyen der Themis und der Rasereyen ein? Anhand der allegorischen Figur der Themis in diesem Reyen wird manifest, daß sie nicht im Trauerspiel „allgegenwärtig [...] eine providentielle Macht" ausübt517 und „allen Phasen des Geschehens das Siegel einer transzendenten Macht" aufprägt, die „die Ordnung des Rechts" garantiert.518 Zuzustimmen ist Bornscheuer, daß sie sich vielmehr als „eklatant widersprüchliche Figur" zeigt.519 Bornscheuer erkennt die Themis als die „Herrin beider Diskurse", desjenigen der Gewissensethik Papinians und desjenigen eines antiken Rachegedankens, die aber letztlich nicht miteinander zu vereinbaren seien.520 Auch Kaminski problematisiert den vielfältigen Charakter der Themis-Figur. „Um die von Papinian unerschütterlich verfochtene Einheit der heiligen Themis" eröffne sich „ein Feld verwirrender Verdoppelungen".521 Welche Funktion aber hat die Themis im Reyen in bezug zur Figur des Protagonisten? Diese Frage zu beantworten, diene zunächst ein Vergleich mit der Catharina. Konnte sich Catharinas Rosenallegorese noch auf das Vorbild der Ewigkeit im Prolog berufen und erhielt jedenfalls formal Unterstützung durch etwas Allgemeines, steht Papinians Haltung in keiner Verbindung zu der .objektiven' Instanz der Themis im zweiten Reyen. Die Themis erfüllt dort eine höchst fragwürdige Funktion, die mit Papinians Grundsätzen in keiner Weise zu vereinbaren ist.522 Sie steigt auf die Erde herab, indem sie exakt das „Traur-spil" (II. 525) stiftet, das der Eingangsmonolog präsentiert und dessen Einfluß sich Papinian als Zuschauer gerade entziehen wollte. Die Gewaltlosigkeit der Papinianschen Rechtsauffassung entspricht nicht dem Charakter derjenigen Themis im Reyen, die Gewalt legitimiert und Papinian zum „tödten" (II. 537) auffordert. Aus diesem Grund kann die Themis-Figur nicht vereinheitlicht werden. Nun hat diese Themis eine exponierte Stellung im Reyen inne, in dem man gewöhnlich die significatio sucht. Ihre Funktion besteht darin, zum einen durch diese Position, zum anderen durch ihren Charakter als Rachegöttin Papinians Einsamkeit und Eigensinnigkeit herauszustellen. Papinians

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Schings: Großmüttiger Rechts=Gelehrter / Oder Sterbender Aemilius Paulus Papinianus, S. 181. Ebd., S. 178f.; vgl. Michelsen: Vom Recht auf Widerstand in Andreas Gryphius' Aemilius Paulus Papinianus, S. 61; Solbach: Amtsethik und Lutherischer Gewissensbegriff in Andreas Gryphius' Papinianus, S. 650. Bomscheuer: Diskurs-Synkretismus, S. 521. Ebd. Kaminski: Andreas Gryphius, S. 151. Habersetzer (Politische Typologie und dramatisches Exemplum) zeigt, daß in der Rezeption Neumayrs die Themis formal in einen ganz anderen Handlungsstrang verwiesen ist und so an Funktion eingebüßt hat, indem sie zwar die Rolle in einer breit ausgebauten mythologischen Parallelhandlung übernimmt, diese aber wesentlich ein unterhaltsames und opernartiges Zwischenspiel darstellt. Es handelt sich bei Neumayr um eine „Trennung von Interludium und Staatsaktion" (S. 125).

144 Rechtsvorstellung bleibt nicht nur eine Möglichkeit unter anderen, sondern ihr wird selbst jene formale Unterstützung, welche Catharinas Allegorese durch die Ewigkeit erhielt, genommen. In bezug auf die Figurenhandlung erfüllt die Themis im Reyen zwei Funktionen. Sie legitimiert Racheakte und unterstützt so, wie sich im folgenden zeigen wird, das neue Naturrecht als Konstrukt. Im zweiten Akt beschwört Julia die Themis als reine Rachegöttin (vgl. II. 312). Ihr Mord an Laetus wird scheinbar von einer höheren Gerechtigkeit legalisiert. Wie ergibt sich außerdem die Funktion der rächenden Themis als Sachwalterin des neuen Naturrechts? Im zweiten Reyen ruft sie zur Gewalt auf und fordert „Straffe" (II. 522) fur Bassian. Diese Strafe bedeutet aber vorerst, daß die Ansprüche des neuen Naturrechts in der Praxis aktualisiert werden. Die Themis läßt die Rasereien los, die schließlich Bassian zur Hinrichtung treiben. Die Strafe soll darin bestehen, daß er im Jenseits noch ewige Qualen erleiden soll: Das grosse Rom erstarrt / ob seinem Bassian. Sein Bruder fiel durch Jhn; fallt jhr den Mörder an. Er tödte was Jhn trib diß Schand-Stück zu begehen. Er tödte was Jhm trew / durch den sein Reich kan stehen. Entsteckt den tollen Geist mit Höllen-heisser Brunst Er suche (wo Jhr wist und Ich nicht nenne) Gunst. Er zag ob jedem Blat und beb ob seinen Thaten. Und fall auff eignen Mist / tod / blutig / und verrathen. {Pap. II. 571-578)

Auch wenn diese Vorstellung der Bestrafung existierte523 und die Themis im Reyen suggeriert, daß sie auf diese Weise das „Recht der heiligen Welt" (II. 553) vertrete, so demontiert sie im Grunde Papinians Themis, einerseits, weil sie Rache und Gewalt bejaht, andererseits weil vor der Bestrafung Bassians Papinians Hinrichtung erfolgt. Die Gewalt, die Bassian auf Betreiben auch einer Themis anwendet, steht nicht im Dienst der höheren Rechtsordnung, die Papinians Haltung bestätigen würde. Bassian tötet Papinian in Übereinstimmung mit dem neuen konstruierten Naturrecht und handelt gemäß der Lipsianischen ure-seca-Formel.524 Deshalb weist Papinians Hinrichtung ihn nicht nur als verblendeten, seinen Leidenschaften, den perturbationes, verfallenen Triebtäter aus,525 der eine sinnlose Tat begeht. 526 Im Sinne der Staatsräson muß Bassian das Urteil fällen. Sein furor ist nur vordergründig auf die Einwirkung der Rasereien zurückzufuhren, die ihn im

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Vgl. auch Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama, S. 234, Anm. 42; vgl. Raffy: Leidenschaft und Gnade in Gryphius' Trauerspielen, S. 202f. Vgl. oben, S. 55. Vgl. Raffy: Leidenschaft und Gnade in Gryphius' Trauerspielen, S. 202f. Vgl. Steinhagen: Wirklichkeit und Handeln, S. 234, Anm. 41.

145 vierten Reyen heimsuchen. 527 Vornehmlich resultiert er aus der aporetischen Lage, aus dem Zwang zur Entscheidung zwischen den Ansprüchen des Staates und der Humanität bzw. zwischen traditionellem und neuem Naturrecht. Das Auftreten der Themis im zweiten Reyen hinterläßt eine „hermeneutische Provokation" und „Rätselhaftigkeit", 528 die aufgelöst werden kann. In Papinians Themis und in derjenigen des zweiten Reyen treffen das traditionelle und das neue Naturrecht aufeinander, wobei dem neuen Recht bemerkenswerterweise eine exponierte Stellung im Reyen zugestanden wird. Das neue Recht verkleidet sich zwar als das „Recht der heiigen Welt" (II. 553), jedoch dient es als erstes dazu, Papinian zu töten, weil er den Anforderungen des Staates nicht nachkommt. Insofern ist die Berufung auf „Recht' und Satzung" (II. 560) eine auf das neue Naturrecht, das von Papinian, Mitglied des weltlichen Regiments, Anpassung verlangt. Papinians Themis und diejenige im Reyen sind binäre Oppositionen, wobei sich letztere auf einen konventionellen Konsens stützen kann. Dies beweisen die Versuche, die von allen Seiten unternommen werden, Papinian von seinem Eigensinn abzubringen. Papinians Entsinnlichung seiner Rechtsvorstellung spiegelt sich in der Arbitrarität der Themis und vor allem in der Übermacht jener Themis im zweiten Reyen, die sich zwar verhüllt, deren Funktion aber offen zu Tage tritt. Sie verhilft dem neuen Naturrecht in der Praxis zum Durchbruch. Durch die praktische Übermacht dieser Themis verblaßt Papinians Rechtsvorstellung zu radikalem Eigensinn. Die Partei der Staatsräson kann sich auf eine Welt intersubjektiven Verständnisses berufen. Für ihre Urteilsbildung sind die erscheinende geschichtliche Welt und das neue konstruierte Naturrecht von Bedeutung. Papinian genießt als der „unbewegte Geist" (IV. 13) eine splendid isolation, richtet wie der Weise in Senecas De constantia sapientis seinen Weg am Gang der Gestirne aus (vgl. De const, sap. 14. 4) und gerät unter den Verdacht eines „radikalen Subjektivismus". 529 Papinians Entwicklung zu einem gesellschaftlichen Außenseiter ist unter einem bestimmten Blickwinkel folgerichtig. Sie prolongiert seinen anfänglichen Status als Herr über die Natur.

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528

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Bomscheuer (Diskurs-Synkretismus) wendet ein, daß die „Zitation des Rache-Rechts der antiken Tragödien und die Stimulation neuer Verbrechen als Rache-Strafe für begangene [...] sich mit der stoisch-christlichen Gewissensethik schlechterdings nicht vermitteln" lasse (S. 520). Hier ist anzumerken, daß die Stimulation durch die Furien nicht als unausweichlich gesehen wird. Sie stellt eine Bewährungsprobe dar. Wird auch im Prolog des Thyestes ein Fluch über das Geschlecht verhängt, so steht es immer noch in der Macht des einzelnen, wie er sich diesem Fluch stellt. Dies ist die eigentliche Bewährungsprobe, wie sie die stoische Philosophie versteht. Auch hier gilt das Bild des Athleten, der sich durch Kraftproben und das Ertragen der schicksalhaften Einbrüche seine Tugend erwirbt (vgl. etwa Deprov. 2. 2-4). Bornscheuer: Zur Gattungsproblematik, Affektgestaltung und politischen Theologie in Gryphs historisch-politischen Trauerspielen, S. 218. Arendt: Vom Leben des Geistes, S. 56.

146 Zuschauerposition und Distanznahme ermöglichen Herrschaft über die Natur, im Drama sind sie Vorbedingungen für Papinians stoisches Naturverhältnis. Dieses läßt ihn schließlich dem Verdacht anheimfallen, sich einer reinen Selbstreflexion hinzugeben. Naturbeherrschung und stoischem Naturverhältnis wird dieselbe Voraussetzung unterstellt, auf sichere und kontemplative Distanz zur Natur zu gehen. Auf die neuzeitliche Haltung zur Natur und auf Luthers Hermeneutik reflektiert das Drama außerdem durch die .Sinnlosigkeit' von Papinians Verteidigung. Die autonome Naturbetrachtung hat die Überzeugungskraft des Verhältnisses zur unberührten Natur zerstört. Dieses kann zwar wiederaufgenommen werden, versagt aber als Orientierungsmöglichkeit für eine gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung. Weil Papinian die sinnbildliche Vermittlung dieses Rechtsstandpunktes gar nicht mehr versucht, gerät sein dennoch bestehendes Verhältnis zur unberührten Natur noch radikaler als das der Catharina in den Verdacht der Eigensinnigkeit und der unendlichen Selbstreflexion. Papinian erscheint als occupatus mit sich selbst.

V. Gryphius' Dramen: Kritik an der Tradition? In den Tragödien von Andreas Gryphius gibt es keine reinen Stoiker mehr. Die Figuren zeichnet neuzeitliche Rastlosigkeit aus in Form von Wissensdurst, Neugierde und der Gestaltung dessen, was eigentlich nach der stoischen Philosophie nicht gestaltet werden kann, sondern ewig vorhanden ist und nur erkannt werden muß, nämlich die unberührte Natur und ihre Gesetzlichkeit. Das Paradigma der standhaften Märtyrer und Stoiker gerät besonders im Falle von Catharina und Papinian ins Wanken, werden sie doch zur Zielscheibe einer Kritik aus dem Geiste derjenigen Philosophie, der sie sich angeblich verschrieben haben. Ihr Verhalten ist nicht bestimmt durch Ergebenheit in ihr Schicksal und durch die alles bereitwillig erduldende constantia. Sowohl Leo Armenius als auch Catharina und Papinian sind weniger Märtyrer als eminent moderne Figuren, die versuchen, sich aktiv und in temporärer Ignoranz des Gewissens zu behaupten. Alle drei Dramen inszenieren einen ideengeschichtlichen Streit zwischen dem stoisch-christlichen und modernen Naturverhältnis, das jeweils einen unterschiedlichen Rechtsanspruch impliziert. Der Leo Armenius nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als man hier das stoische Naturverhältnis vergeblich sucht. Im Vordergrund steht die Kritik an der curiositas. In der Catharina von Georgien tritt das Modell der Allegorese in Konkurrenz zu einer autonomen Naturbetrachtung. Die Allegorese der Königin wird der Eigensinnigkeit und der Unzeitgemäßheit verdächtigt, weil das weltliche Regiment ein anderes Verstehen der Wirklichkeit verlangt. Papinian ver-

147 ziehtet auf die Anstrengung der Allegorese, zeichnet sich zwar ebenso nach seiner Wandlung als Stoiker aus, erfährt durch Verzicht auf sinnbildliche Vermittlung aber gleichzeitig eine noch tiefere Einsamkeit als Catharina. Die Protagonisten erscheinen auch deshalb als Querulanten, da sie ihre vorherige Existenz als occupati aufgegeben haben. Befanden sie sich als occupati in der Kultur nicht in Übereinstimmung mit der stoischen Lehre wie die Rezeption der Senecaischen Kulturkritik zeigt - , so wird ihr schließlich praktizierter Stoizismus als Eigensinn und fur die Lebenspraxis als untauglich entlarvt. Catharina und Papinian zeigen, wie unter dem Einfluß neuzeitlicher Wirklichkeitsbewältigung der Stoizismus unter den Verdacht des Solipsismus gerät und als traditioneller Hemmschuh moderner Weltgestaltung aufgefaßt wird. Ein solcher Verdacht leitete die Diskussion nach der Stellungnahme Bodins sowie die spätere Kritik an Papinian. Er stützt die Einschätzung Hegels und Hannah Arendts, die die stoische Philosophie in unangemessener Verkürzung als von der Naturwelt unberührten Egozentrismus darstellen. Es sei erinnert an ihre Kritik, die über die Stoa verhängnisvolle Urteile spricht.530 Der Stoizismus und sein Denken seien ein Produkt des Unglücks der Menschen. Nach Hegel bleibt das Denken des Stoikers rein abstrakt und ohne Gegenstand. „Die Philosophie hat nur die Negativität alles Inhalts gewußt und ist der Rat der Verzweiflung gewesen für eine Welt, die nichts Festes mehr hatte."531 Hegel reduziert den Stoizismus auf ein reines Hilfsmittel für das Subjekt, mit dem es sich aus seiner Zwangslage und seinem unglücklichen Zustand befreien könne. Arendt führt die Kritik Hegels fort, wenn sie meint, daß sich das Denken des Stoikers „aus der Desintegration der Wirklichkeit und der entsprechenden Entzweiung von Mensch und Welt" ergebe und aus dem „Bedürfnis nach einer anderen, harmonischeren und sinnvolleren Welt". 532 Der Stoizimus biete Möglichkeiten zur „Flucht aus einer unerträglich gewordenen Welt". 533 Er sei zwar eine Lebenskunst, die den Primat des Handelns in den Vordergrund stelle, dieses Handeln aber sollte „mit niemandem gemeinsam" erfolgen und „nichts verändern" [...] als einen selbst," durch „Nichtreagieren". 534 Im Anschluß an Hegel sieht Arendt im Stoizismus eine Kunst, gegenüber der Wirklichkeit absolut gleichgültig zu werden. 535 Auch die neue Philosophie im Bannkreis Foucaults raubt dem Stoizismus sein ideelles Fundament und

530 531 532 533 534 535

Vgl. oben, S. 91. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 385. Arendt: Vom Leben des Geistes. S. 154. Ebd. Ebd., S. 155. Ebd., S. 154; vgl. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 384. Ähnlich spricht Benjamin (Ursprung des deutschen Trauerspiels) von der „Verödung, der die stoische Praxis den Menschen" entgegenfahre, da die „Lebenswellen" verebbten (S. 121).

148 sieht im stoischen Naturverhältnis eine „leere Festung" und „einen strategischen Ausweg". 536 Gryphius' Dramen beweisen, daß die stoische Philosophie bereits im 17. Jahrhundert diesem Verdacht der Eigensinnigkeit, der reinen Negativität und der Weltabkehr anheimfallt, obwohl sie versucht, das Handeln der Menschen auf die absolute Wahrheit zurückzufuhren. Den Weg für diese Kritik bereiten die neuen Naturwissenschaften, die die Natur als Anknüpfungspunkt für ein Denken im Sinne stoischer Anthropologie und Wahrheitsfindung vernichten. Der Stoizismus, vor allem derjenige des 17. Jahrhunderts, ist deshalb primär keine Philosophie des Trostes. Er ist das Produkt der Entfremdung von der Natur und bietet die Versöhnung mit dem verlorenen Allgemeinen an, das aber nicht mehr zu rekonstituieren ist. Da durch die Favorisierung des mechanistischen Staatsmodells und durch den Primat der äußeren Gehorsamspflicht ernsthafte Ansprüche des Gewissens unter den Verdacht des Solipsismus geraten, offenbart sich eine Aporie, die innerhalb des frühneuzeitlichen Machtstaates nicht zu lösen ist. Die Tragödien machen diese Aporie sichtbar und gemahnen durch die Aufnahme Senecaischer Kulturkritik an die Brisanz und die Ernsthaftigkeit einer Philosophie, die nicht nur Sterbehilfe sein will. Andererseits erwecken sie den Verdacht, daß im ideengeschichtlichen Streit zwischen Antike und Moderne die traditionelle Position als rastloser Eigensinn jener modernen, ebenso rastlosen, Weltgestaltung hemmend im Wege steht.

536 p a u ] Veyne: Weisheit und Altruismus. Eine Einfuhrung in die Philosophie Senecas. Aus dem Französischen von Holger Fliessbach. Frankfurt am Main 1993, S. 71.

C. Rezeption der Senecaischen Kulturkritik in den Dramen Daniel Caspers von Lohenstein Im Kontext der frühneuzeitlichen wissenschaftlichen Innovationen antizipiert Gryphius durch seine Stoa-Rezeption heterogene Tendenzen, die auf die Aufklärung vorausweisen. Der moderne wissenschaftliche Zugriff auf die Natur mit seinen Konsequenzen für die Herausbildung des modernen Staates ist als das zentrale Thema seiner Dramatik herausgearbeitet worden. Die Einsicht, daß im staatstheoretischen Diskurs der Frühen Neuzeit Natur und Kultur auseinandertreten und diese Dissoziation das unglückliche Bewußtsein der Entzweiung zur Folge hat, provoziert einen Gegenentwurf, der dem stoischen secundum naturam vivere verpflichtet ist. Theoretisch bietet diese Konzeption die Möglichkeit, der Entzweiung des Individuums von der Gesellschaft entgegenzutreten, da der Anspruch des Gewissens umfassend vertreten werden muß und nicht als private Meinung in den Innenraum des Subjekts verdrängt werden darf. Unverzichtbar für diese Theorie ist eine erkenntnistheoretische Leistung. Die Rehabilitierung einer Gewissensethik funktioniert nur dann, wenn das Göttliche aus der Natur erkannt wird. Das Subjekt bildet dabei sich selbst und findet seine Vollendung, indem es an der Gesellschaft partizipiert, deren Institutionen in diesem Idealfall nicht im Widerspruch zur - teleologisch verstandenen - Natur stehen. Die Programmatik besteht nicht etwa in einer Ablehnung der Naturwissenschaften. Die Natur soll erforscht werden, allerdings nicht um des Wissens willen entsprechend dem barocken Polymathie-Ideal, sondern um die eigene Stellung in bezug zur Welt besser zu verstehen und sich einfügen zu können. Der Versuch, zu einem kontemplativ-aktiven Naturverhältnis zu finden, zeichnet Catharina und Papinian aus. Anhand dieser Figuren zeigt Gryphius aber, daß das secundum naturam vivere eine Theorie bleiben muß. Die Ansprüche des christlich-stoischen Naturrechts können die Protagonisten nicht umsetzen, da sie nicht mehr verstanden werden. Natur ist eine andere geworden. Die vielen Einflüsse, die dazu beigetragen haben, sind in den letzten Kapiteln ausfuhrlich erläutert worden. Was sich durchsetzt, ist das moderne Naturrecht als Konstrukt, das im Dienst des ortfo-Gedankens die Verhältnisse auf andere Weise regelt, das Gewissen verbannt und Natur und Kultur dissoziiert. Auf welche Weise reagiert nun Lohenstein auf die

150 Wissenschaftsgeschichte seiner Zeit, und welche Rolle spielt in seiner Dramatik die Rezeption der Senecaischen Schriften? Der Aufnahme der Senecaischen Kulturphilosophie in Lohensteins Dramatik nachzugehen erscheint auf den ersten Blick schwierig, denn offensiven Vertretern der genuin stoischen Philosophie wird kaum ein breiter Raum eingeräumt, abgesehen von der Figur des Seneca in der Epicharis. Untersucht man jedoch, auf welche Weise Lohenstein auf den innovativen Geist seiner Zeit und auf das sich ändernde Verhältnis des Menschen zur Natur reagiert, zeigen sich auffallende Gemeinsamkeiten mit den Tragödien seines Vorgängers. Auch hier können ähnliche Reflexionen auf die Entwicklung der neuzeitlichen Anthropologie festgestellt werden. Auf welche Weise und schließlich mit welchem Ziel Lohenstein Naturverhältnisse darstellt, und wie auch er in seinen Dramen die Forderung eines naturgemäßen Lebens durchscheinen läßt, ist Thema der folgenden Darstellungen. Es geht um den Nachweis, daß auch Lohensteins Tragödien kritisch auf die Folgen reagieren, die die Distanzhaltung zur Natur und das mechanistische Weltbild mit sich bringen, und daß sie nicht in erster Linie die neustoische prudentistische Lehre propagieren und eine pragmatische Politik als scientia.1 Auch sie demonstrieren die Unmöglichkeit, diejenigen Verpflichtungen, die sich aus dem Gewissen und einem von der Stoa geprägten Bezug zur Natur ergeben, in das politisch-gesellschaftliche System einzugliedern. Auch sie nehmen stoisches Gedankengut auf, das in der Kritik an der Ausformung instrumenteller Vernunft gegenüber der Natur und in dem Postulat eines Gegenkonzepts besteht. Die zentrale Frage ist, mit welchen Mitteln sie den Gedanken des christlich-stoischen Naturrechts zur Sprache bringen. Vor ihrer Beantwortung anhand der Dramentexte und der Senecaischen Schriften scheint es sinnvoll, die wichtigsten Grundzüge der bisherigen Barockforschung nachzuzeichnen, denn mitnichten entspricht es ihrer Tradition, zwischen Gryphius und Lohenstein Gemeinsamkeiten festzustellen, mögen sie auch auf unterschiedliche Weise zum Vorschein kommen. Die Konvention der Forschung schreibt eher vor, einen Bruch zwischen den beiden Dichtern zu erkennen.

1

Vgl. Schings: Constantia und Prudentia, S. 428.

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I. Gryphius, Lohenstein und die Barockforschung: Zwei Welten oder verborgene Einheit? Geht man der Frage nach, wie das Verhältnis von Gryphius und Lohenstein bestimmt wird, so ist unübersehbar, daß die Barockforschung bemüht ist, Unterschiede herauszuarbeiten. Der Rückschluß von Lohensteins Leben auf sein Werk trägt erheblich dazu bei, diese Differenzen zu begründen. Die Lohensteinforschung löst sich nur sehr langsam von dem traditionellen Bild des Dichters als eines Parteigängers der Habsburger und eines Verfassers politisch akzentuierter Diesseitigkeitsdramatik, die keine religiösen Bezüge mehr kenne. Lohenstein setze, so Schings, „den Gryphschen, den constantia-Typus des Trauerspiels außer Kraft, weil seine Trauerspiele die ,postkonfessionelle Perspektive des absolutistischen Staates" übernähmen und propagierten.2 Der neue Leitbegriff heiße prudentia, ,jene Tugend, die eine erfolgreiche, eine pragmatische Vereinigung von Moral und politischer Macht" verspreche.3 Gryphius habe die consolatio ins Trauerspiel eingeführt, Lohenstein orientiere sein Schaffen „an der prudentistischen Bewegung" und an der „Gattung des Fürstenspiegels."4

2 3

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Ebd., S. 428. Ebd.; vgl. ähnlich Hans-Henrik Krummacher: Das deutsche barocke Trauerspiel (Andreas Gryphius). In: Theaterwesen und dramatische Literatur: Beiträge zur Geschichte des Theaters. Hrsg. von Gunter Holtus. Tübingen 1987 (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 1), S. 253-273, hier S. 267. Die Dichotomie von constantia und prudentia ist ein Versuch, Gryphius' Dramen von Lohensteins zu unterscheiden, der sich zwar qualitativ von früheren abhebt, jedoch der Forschungskonvention folgt, einen Paradigmenwechsel zu erkennen. So stellte Stachel (Seneca und das deutsche Renaissancedrama) der passiven „Sittlichkeit" der Figuren Gryphius' die aktive „Sinnlichkeit" der Lohensteinschen Protagonisten gegenüber (S. 288). Ähnlich erkannte Werner Paul Friederich (From Ethos to Pathos: The Development from Gryphius to Lohenstein. In: The Germanic Review 10, 1935, S. 223-236) als leitende Antithetik die asketische Religiosität als Handlungstriebfeder der Figuren bei Gryphius und bei Lohenstein die Leidenschaft als primäre Handlungsursache (vgl. S. 225). Im Gegensatz zu diesen Unterscheidungen betonten nachfolgende Interpreten den Aspekt des vernünftigen Handelns bei Lohenstein, wollten aber die constantia auch für seine Figuren geltend machen. So sprach Wentzlaff-Eggebert (Die deutsche Barocktragödie. Zur Funktion von „Glaube" und „Vernunft" im Drama des 17. Jahrhunderts) in bezug auf die Lohenstein-Figuren von einer säkularisierten constantia (vgl. S. 190). Gebe bei Gryphius „nur der christliche Glaube" die Kraft zur Bewährung der constantia in der Welt des Leidens (ebd.), so bei Lohenstein die „Kraft der eigenen Vernunft" (ebd., S. 191). Durch die Vernunft zeichne sich in seinen Figuren trotz des realistischen Darstellungsmodus der „Tugendwert des hohen Geistes" ab (ebd.). Zur Umwandlung eines starren constantia-Typus in Aktivität bei Lohenstein vgl. auch Winfried Weier: Duldender Glaube und tätige Vernunft in der Barocktragödie. In: Zeitschrift fur deutsche Philologie 85, 1966, S. 501-542, hier S. 503 u. 506. Schings: Constantia und Prudentia, S. 432. Vgl. auch Bettina Müsch: „Der politische Mensch im Welttheater des Daniel Casper von Lohenstein — Eine Deutung seines Dramenwerks". Frankfurt am Main u . a . 1992 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur 1310), S. 11.

152 Im Zeichen prudentistischer Klugheitslehren, wie sie von Tacitus, Justus Lipsius, Graciän und Saavedra Fajardo überliefert werden, 5 rezipieren die Dramen in dieser Interpretation nicht die genuine Stoa, sondern thematisieren eher das Problem der prudentia mixta und die neustoische Lehre. Unter dem Primat der Politik als scientia verstünden sich die Lohensteinschen Trauerspiele nicht als Konsolationsliteratur, sondern als „historisch-moralische, säkulare Lektionen", die Religion und Gewissen ausklammerten. 6 Sehr eindeutig formuliert Schings das Programm der Lohensteinschen Literatur. Es handele sich um ein klares „Votum zugunsten der Staatsräson"7 und um Widmungspolitik, durch die der Autor Partei nehme für die politischen Ambitionen und Ziele der Habsburger und dies nicht erst seit seiner Wiener Mission im Jahre 1675. 8 5

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7 8

Fajardos Schrift Idea de un Principe politico-cristiano erscheint im Jahre 1640 in der ersten Ausgabe in Münster. Zur Klugheitslehre der spanischen Moralistik, insbesondere Fajardos, und dem Einfluß des thomistischen Klugheitsmodells vgl. Wolf Wucherpfennig: Klugheit und Weltordnung. Das Problem des politischen Handelns in Lohensteins „Arminius". Diss., Freiburg im Breisgau 1973, S. 18f. und S. 37-39, vgl. vor allem Thomas Borgstedt: (Reichssidee und Liebesethik. Eine Rekonstruktion des Lohensteinschen Arminiusromans. Tübingen 1992), der Schings' Dichotomie von constantia und prudentia deshalb kritisiert, weil der prudentia-Begriff des Jesuiten Fajardo von anderer Natur als der neustoische sei, da er thomistisch die Tugend miteinschließe und einen Konflikt von Tugend und Klugheit nicht aufkommen lasse (vgl. S. 44-46). Schings: Constantia und Prudentia, S. 423. Reinhart Meyer-Kalkus (Wollust und Grausamkeit. Affektenlehre und Affektdarstellung in Lohensteins Dramatik am Beispiel von Agrippina) schließt sich dieser These an. Auf der Basis des Tacitismus und der spanischen Moralistik stellt er Lohensteins Drama der Gryphschen Märtyrertragödie mit seiner Betonung des Gewissens gegenüber. Lohenstein kenne „keinen Politik und Theologie gleichermaßen in Anspruch nehmenden Rechtsbegriff mehr" (S. 163). Die Verklammerung von „Gesinnungs- und Erfolgsethik" beurteilt Meyer-Kalkus als nur noch äußerlich (ebd.). Schings: Gryphius, Lohenstein und das Trauerspiel des 17. Jahrhunderts, S. 51. Vgl. ders.: Constantia und Prudentia, S. 425. Bei der Wiener Mission ging es im wesentlichen darum, die Habsburger von der Loyalität der Stadt Breslau im Zweifel eines Schwedeneinfalls zu überzeugen. Obgleich Breslau das ius praesidii besaß, trug man sich in Wien dennoch mit dem Gedanken, dort Garnisonen aufzustellen, um zu verhindern, daß mit den Schweden kooperiert werde. Lohenstein gelingt, auch mit den Mitteln der Korruption, der diplomatische Balanceakt. (Eine Aufstellung der Zuwendungen an kaiserliche Beamte und anderer Kosten der Mission gibt Ilona Banet: Daniel Casper von Lohenstein. Neues Quellenmaterial zu seiner Tätigkeit als Syndikus. In: Acta Universitatis Wratislaviensis 55, 1984, S. 195-204, hier S. 202-204). Wien läßt von dem Plan einer militärischen Intervention ab. Lohensteins Ernennung zum Kaiserlichen Rat in der Folge dieser Mission wird gerne als bedeutungsvoll für sein Verhältnis zu den Habsburgern gesehen. Im Gegensatz zu Schings, der eine ungebrochene Loyalität Lohensteins voraussetzt und keinen Bruch in seinen politischen Einstellungen bemerkt, sieht Elida Maria Szarota (Lohensteins Arminius als Zeitroman. Sichtweisen des Spätbarock. Bern, München 1970) die Wiener Mission als Grund fur den „Wendepunkt in Lohensteins politischen Anschauungen" (S. 11); sie sei für seine „künftige Blickrichtung auf Habsburg" verantwortlich gewesen. Diese schlage sich im Gegensatz zu den Trauerspielen, in denen das Bild des idealen Herrschers fehle, erst im Arminius-Roman und durch die Parallele Leopold/Arminius deutlich nieder (ebd., S. 12). Vgl. auch dies.: Lohenstein und die Habsburger. In: Colloquia Germanica 3, 1967, S. 263-309, hier S. 267-270. Vgl. ähnlich Ilona Banet: Vom Trauerspieldichter zum Romanautor. Lohensteins literarische Wende im Lichte der politi-

153 Bereits im Jahre 1924 nennt Cysarz das Drama Lohensteins ein „Festspiel zur höheren Ehre des Kaiserthrons".9 Seitdem geht der Befund einer Politisierung und Funktionalisierung der Dramatik Lohensteins zugunsten der zeitgenössischen Habsburgischen Politik einher mit der These, daß es sich bei Lohenstein um die Ablösung einer ursprünglich noch religiösen Fragestellung bei Gryphius handele. Für Hildebrandt unterscheidet sich Lohenstein von Gryphius besonders durch sein realpolitisches Denken und durch seine Orientierung auf das katholische Kaiserhaus. „In übereinstimmender Weise", so Hildebrandt, „bringen die Dramen seine Verehrung fur das Haus Habsburg zum Ausdruck". 10 Im Anschluß an Hildebrandt konstatiert Lunding fur Gryphius einen religiösen Idealismus und fur Lohenstein einen politischen Realismus. 11 Lohensteins Dramatik versteht er als eine' „Reportage im Dienste des österreichischen Kaiserhauses". 12 Sehr deutlich formuliert Just Lohensteins Auffassung: Diesem gehe es nicht mehr wie Gryphius „um die Abhandlung religiöser und metaphysischer Probleme". 13 Mit Lohensteins Schaffen verbindet er den Beginn einer neuen, diesseitig und politisch akzentuierten Literatur.14 Lohensteins Zielrichtung ist für ihn eindeutig. „Angesichts des nahöstlichen Gegners" habe sich der Dichter „zum entschiedenen Parteigänger der Habsburgischen Monarchie" entwikkelt, was sich „in seinem literarischen Werk sehr eindringlich" niederschlage. Er verkörpere so das „europäische Bewußtsein" und das „Sendungsbewußtsein seiner Epoche". 15 Fülleborn konstatiert von Gryphius zu Lohenstein den Übergang von der Märtyrertragödie zum politischen Schauspiel, 16

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sehen Verhältnisse in Schlesien während des letzten Drittels des 17. Jahrhunderts. In: Studien zum Werk Daniel Caspers von Lohenstein (Daphnis 12, Heft 2-3), S. 169-186, hier S. 173f. Vgl. die Kritik an dieser Auffassung von Borgstedt: Reichsidee und Liebesethik, S. 25-30. Zu den Einzelheiten der vielbesprochenen Wiener Mission vgl. etwa Conrad Müller: Beiträge zum Leben und Dichten Daniel Caspers von Lohenstein. Breslau 1882 (Germanistische Abhandlungen 1), S. 45-61. Die Position Breslaus gegenüber den Habsburgem untersucht auch Gerhard Oestreich: Lohensteins Zeit und Umwelt. In: Die Welt des Daniel Casper von Lohenstein. Epicharis - Römisches Trauerspiel. Hrsg. von Peter Kleinschmidt, Gerhard Speilerberg und Hanns-Dietrich Schmidt. Köln 1978, S. 7-33, hier S. 22-25. Cysarz: Deutsche Barockdichtung, S. 181. Ebd., S. 152. Vgl. Lunding: Das schlesische Kunstdrama, S. 109. Ebd., S. 136. Klaus Günter Just: Die Trauerspiele Lohensteins. Versuch einer Interpretation. Berlin 1961, S. 27. Vgl. auch Fritz Schaufelberger: Das Tragische in Lohensteins Trauerspielen. Frauenfeld, Leipzig 1945 (Wege zur Dichtung 45), S. 32 u. 45f. Vgl. ebd. Ebenso stellt Hankamer (Deutsche Gegenreformation und deutsches Barock) fest, Lohenstein habe das Trauerspiel „in seinem ganzen Sinn und Gefuge säkularisiert" (S. 313). Vgl. Gaede: Humanismus, Barock, Aufklärung, S. 188f. Klaus Günter Just: Lohenstein und seine Zeit. In: Schlesien 6, 1961, S. 239-242, hier S. 242. Vgl. ders.: Die Trauerspiele Lohensteins. Versuch einer Interpretation, S. 96f. Vgl. Fülleborn: Die barocke Grundspannung Zeit-Ewigkeit in den Trauerspielen Lohensteins, S. 10.

154 das aus der Hinwendung zur österreichischen, katholisch geprägten Kultur lebe.17 Das Ziel der Dramen ist auch nach Fülleborn die Verherrlichung Österreichs. 18 Ebenso bezeichnet Mulagk Lohenstein als „Sänger des Hauses Habsburg". 19 Gleichwohl geht Lohensteins Widmungspolitik in eine andere Richtung. Die meisten seiner Werke widmet er Angehörigen der Piastenhöfe, die Cleopatra dem Breslauer Senat. Umso auffalliger sind die in den Dramen verstreuten Huldigungen des Habsburgischen Kaisers Leopold, das Schauspiel Ibraim Sultan widmet er 1673 Kaiser Leopold anläßlich seiner zweiten Hochzeit mit Felicitas; der Held des Romans Arminius gilt als allegorische Figur des Habsburgischen Kaisers. Da Lohenstein eine heterogene Widmungspolitik betreibt, seine Werke teils in aufwendigen repräsentativen Ausgaben verschenkt und sie vor allem der gehobene Mittelstand, das Patriziat und der Adel rezipieren, beurteilt Martino das Schaffen Lohensteins als reine Repräsentationskunst, als „Beitrag zur Verherrlichung der aristokratisch-feudalen Gesellschaftsordnung und zur Durchsetzung der höfischaristokratischen Werte der herrschenden Klasse." 20 Das geistige Zentrum bilde der Hof, „Zeichen eines sozialen oder moralischen Protestes" seien Lohensteins Werke nicht.21 Lohensteins Dramatik problematisiert offenbar nicht, sondern verhält sich rein affirmativ. Nach Martino war für Lohenstein die „ideale Leserschaft, die er jedoch konkret niemals erreichen konnte, [...] der Wiener Hof." 22 Daß die Frage nach Lohensteins Stellung zu den Habsburgern dominierend weiterhin die Interpretation bestimmt und in eine Richtung lenkt, beweist Behars raumgreifende Monographie Silesia Tragica. Obgleich Behar Lohenstein nicht direkt als Gegenpol zu Gryphius verstehen will, sondern meint, sein Drama füge dem religiösen den politischen Aspekt hinzu, 23 so konstatiert er doch, es habe den ursprünglichen Sinn des schlesischen Schultheaters als Ausdruck der protestantischen Opposition verloren. Trotz der republikanisch gesinnten Epicharis verliere Lohensteins Theater seine schlesische Gesinnung: Lohensteins Theater „n'etait plus silesien, mais imperial. Cessant d'etre silesien, il cessait d'etre tragique." 24 Die Gefahr durch die Türken, die in den Jahren eskalierte, als Lohenstein seine ersten

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Vgl. ebd., S. 38. Vgl. ebd., S. 40. Mulagk: Phänomene des politischen Menschen, S. 99. Alberto Martino: Daniel Casper von Lohenstein. Geschichte seiner Rezeption. Bd. 1: 1661-1800. Aus dem Italienischen von Heribert Streicher. Tübingen 1978, S. 172. Ebd. Ebd., S. 163. Pierre Behar: Silesia Tragica. Epanouissement et fin de l'ecole dramatique silesienne dans l'oeuvre tragique de Daniel Casper von Lohenstein (1635-1683) Bd. 1-2, Wiesbaden 1988 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 18), hier Bd. 1, S. 259. Ebd., S. 79.

155 dramatischen Versuche unternahm, habe dazu gefuhrt, daß das Theater opportunistischen Charakter angenommen und seine Loyalität gegenüber dem Kaiserhaus ausgedrückt habe: „Le theatre scolaire Protestant de Breslau etait mort." 25 Das Ziel der Lohensteinschen Dramatik sei gewesen, „un art imperial en langue allemande" zu begründen und durch eigene ludi Caesarei das Jesuitendrama zu ersetzen. 26 Die Huldigung des Kaisers sei demnach ausschließlich politischer, nicht konfessioneller Natur. 27 Obgleich mit Einschränkung vertritt auch Behar die These eines Gattungswechsels. Dieses traditionelle Lohenstein-Bild ist entstanden, indem präjudizierend von dem Leben des Autors ausgehend das Werk interpretiert wurde. Die Wiener Mission im Jahre 1675, die Ernennung zum Kaiserlichen Rat im gleichen Jahr und die verstreuten Panegyrici in den Dramen scheinen dieses Bild zu bestätigen. Dem festgläubigen Lutheraner Gryphius wird Lohenstein als erfolgreicher und opportunistischer homo politicus gegenübergestellt, der seinen Überzeugungen in seiner Dramatik Ausdruck verleihe, den politischen Prudentismus favorisiere und die Theologie als ersten Orientierungsfaktor zurückdränge. Auch die jüngere Forschung spricht von „einer zweiten Phase des Barock". 28 Ungebrochen demonstrierten die Gryphschen Tragödien das christlich-stoische Wertesystem durch das Phänomen der constantia, während sich in Lohensteins Stücken der „politische Raum als moralische Exklave konstituiert" habe, „in der alle tradierten christlichen oder philosophischen Normen außer Kraft gesetzt" seien.29 Hingegen hat Speilerberg in mehreren Arbeiten eine der traditionellen Lohensteinforschung gegenläufige Position bezogen. Auch in Lohensteins geschichtlichen Tragödien erkennt er die Spannung zwischen Politik und Ethik als dominierend, Lohenstein stehe es fern, „einem rein säkularen Staatsräsondenken zum Durchbruch zu verhelfen". 30 Speilerberg sieht zwar eine „tiefe Kluft", die Lohenstein von seinem Landsmann trenne, 31 die sich besonders aus der „Aufwertung geschichtswirksamen Handelns" ergebe, jedoch bilde dies ein zweites strukturprägendes Element neben der Verankerung beider Dramentypen im Christentum. 32 25 26 27 28

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Ebd., S. 71. Ebd., S. 246; vgl. ebd., S. 405. Vgl. ebd., S. 190. Titzmann: „Verstellung". Semiotische, anthropologische, ideologische Implikationen im Drama des deutschen Barock, S. 552. Ebd., S. 551. Gerhard Speilerberg: Lohensteins Sophonisbe: Geschichtliche Tragödie oder Drama von Schuld und Strafe? In: Studien zum Werk Daniel Caspers von Lohenstein (Daphnis 12, Heft 2-3), S. 375-401, hier S. 400. Ders.: Daniel Casper von Lohenstein. Für Elida Maria Szarota. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts, S. 640-689, hier S. 654. Ebd., S. 655. Einen ersten Versuch, Lohensteins Tragödien als Geschichtstragödien zu deuten, bietet Wolfgang Kayser: Lohensteins Sophonisbe als geschichtliche Tragödie.

156 Die Bedeutung des Christentums in den Dramen zeige sich, weil „die Tugend als bindende Norm" erscheine. 33 Da die Stücke das Problem einer Unvereinbarkeit von Macht und Tugend konfigurierten, zeigten sie identische Konflikte wie Gryphius' Dramen. 34 Speilerberg rückt einen humanitären Aspekt der Tragödien Lohensteins in den Mittelpunkt, indem er ex negativo eine Aufforderung zur Versöhnung der Instanzen von Macht und Tugend unter dem Primat eines prinzipiell nicht unmoralischen Verhängnisses und eines sinnvollen Verlaufs der Geschichte ermittelt. In dieser in Aussicht gestellten Versöhnung sieht Speilerberg den entscheidenden Unterschied zu Gryphius' Dramen, in denen die Tugend nurmehr ein Hilfsmittel sei, um in der Geschichte zu bestehen und sodann in das eigentliche Leben nach dem Tode zu entfliehen. 35 Auch wenn dieser Abwertung des zeitlichen Lebens bei Gryphius nicht zugestimmt werden kann, so bedeutet die Tendenz, die sich in der maßgeblichen Arbeit Spellerbergs andeutet, einen wichtigen Schritt zu einem ganz anderen Verständnis der Dramen. Das traditionelle Lohenstein-Bild, das bis heute aus einer Projektion der biographischen Fakten auf das Werk resultiert, wird zugunsten einer allgemeineren Problematik aufgebrochen. Warum Spellerbergs Versuch einer christlichen Lesart der LohensteinDramen sich lange nicht recht durchsetzen konnte, mag nur auf den ersten Blick rätselhaft erscheinen. Dieses Faktum ist methodologisch begründet und in der utopischen Geschichtstheologie zu suchen, auf die seine Arbeit hinausläuft. Wenn er von der „Erfüllung der Geschichte in einem neuen Gnadenstand" spricht,36 sind Anleihen bei Benjamins Gedankengut kaum zu

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In: Germanisch romanische Monatsschrift 29, 1941, S. 20-39, hier S. 30-32. Zur Dichotomie von Heilsgeschichte und zeitlicher Geschichte bei Gryphius und Lohenstein vgl. auch Voßkamp: Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung bei Gryphius und Lohenstein, S. 221. Vgl. ähnlich Gerald Ernest Paul Gillespie: Daniel Casper von Lohenstein's Historical Tragedies. Ohio State University Press 1965, S. 27. Hingegen lehnt Fülleborn (Die barocke Grundspannung Zeit-Ewigkeit in den Trauerspielen Lohensteins) für Lohenstein die Festlegung auf die zeitliche Geschichte ab. Auch in seinen Dramen wirke die „barocke Dualität Zeit-Ewigkeit [...] noch strukturbestimmend" (S. 10). Gerhard Spellerberg: Verhängnis und Geschichte. Untersuchungen zu den Trauerspielen und dem „Arminius"-Roman Daniel Caspers von Lohenstein. Bad Homburg v. d. H., Berlin, Zürich 1970, S. 201. Vgl. ebd.; vgl. auch Wilhelm Voßkamp: Daniel Casper ν. Lohensteins Cleopatra. Historisches Verhängnis und politisches Spiel. In: Deutsche Geschichtsdramen. Interpretationen. Hrsg. von Walter Hinck. Frankfurt am Main 1981, S. 67-81, hier S. 78. Vgl. Spellerberg, Verhängnis und Geschichte, S. 216. In Spellerbergs Annahme einer kontingenten Versöhnung von Macht und Tugend, wenn auch in einem christlichen „Gnadenstand" (ebd., S. 210), liegt der fundamentale Unterschied zu Gernest Paul Ernest Gillespie (Heroines and Historical Fate in the Drama of Daniel Casper von Lohenstein, The Ohio State University 1961), der von einem grundsätzlich unmoralischen Geschichtsverlauf in einer heillosen Welt bei Lohenstein ausgeht (vgl. S. 235). In dieser errege nicht die Tugend selbst Bewunderung, sondern die Größe der Tat, auch wenn sie kriminell sei (vgl. ebd., S. 322f.). Spellerberg: Verhängnis und Geschichte, S. 215.

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verkennen. In „faszinierender Weise", urteilt Garber, lege Spellerberg die geschichtsphilosophische Dimension der Benjaminschen Theorie frei.37 Von hier aus läßt sich jedoch nachvollziehen, warum Spellerbergs Ansatz in der oft gegenüber Benjamin skeptischen Barockforschung wenig ernsthaften Nachklang gefunden hat. Ohne sich methodologisch an Spellerberg zu orientieren, leistet in seinem Sinne Wiehert einen wichtigen Beitrag, eine zeitkritische und vorwiegend christliche Lesart der Lohenstein-Dramen zu stützen. In seiner Untersuchung Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert. Daniel Casper von Lohenstein und sein Werk lehnt er die These ab, es handele sich bei Lohensteins Dramen um prudentistische Lehrstücke im Dienste der Habsburger. Wiehert betont die „kathartische Funktion" der Dramen.38 Die Zuschauer sollten durch die Vorführung des negativen Gebrauchs der Macht ein Gerechtigkeitsbewußtsein erlangen und an christliche Tugenden wie Toleranz, Mäßigung und Duldsamkeit gemahnt werden; Lohensteins Drama habe sein Fundament in den Geboten der Bergpredigt.39 Wiehert entmystifiziert die Wiener Mission, die er auf rein pragmatische Gründe zurückfuhrt und als einen wichtigen diplomatischen Akt betrachtet, der gegenwärtige Spannungen entschärfen sollte.40 Lohenstein aber als „Sprachrohr habsburgischer Politik" zu sehen, beurteilt er als verfehlt.41 Ähnlich wie Spellerberg sieht er die Problematik auf komplexerer Ebene angesiedelt. Lohensteins Dramen zeigten „antiabsolutistische, libertäre Tendenzen" und verwiesen auf die Verpflichtung gegenüber dem natürlichen Recht.42 Wiehert radikalisiert so die Position Spellerbergs, der maßvoller feststellt, daß Lohenstein keine „Konzessionen an dem Absolutismus genehme Auffassungen" mache.43 Nach einer langen Tradition der Forschung, die Lohenstein einseitig als Parteigänger des Kaiserhauses und als Opportunisten der etablierten Macht verstanden hat, unternimmt es Wiehert zum ersten Mal ernsthaft, die gesellschaftskritische Tendenz zu beweisen und an Spellerberg anzuknüpfen. Zu diesem Zweck widmet er in seiner Arbeit ein eigenes Kapitel der Thematik „Naturae et Gentium". Dichtung als Vermittlung des Naturrechts. Lohensteins Polemik gegen Hobbes in seiner Lob-Schrifft auf Georg Wilhelm nimmt er als tragendes Indiz für des Dichters Parteinahme gegen den absolutistischen Machtstaat und dessen negative Auffassung der 37 38 39 40 41 42

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Garber: Rezeption und Rettung. Drei Studien zu Walter Benjamin, S. 73. Vgl. Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 497. Ebd., S. 498. Ebd., S. 148. Ebd., S. 145. Ebd., S. 152. Borgstedt schließt sich in seiner am Arminius-Roman ausgerichteten Untersuchung (Reichsidee und Liebesethik) Wiehert an (vgl. S. 449^152). Gerhard Spellerberg: Lohenstein als politischer Dichter. In: Deutsche Barockliteratur und europäische Kultur, S. 266-269, hier S. 268.

158 menschlichen Wesensnatur und fur eine naturrechtliche Anthropologie in Grotius' Sinne, die den Menschen als gemeinschaftliches Wesen erkenne.44 Wiehert nimmt die Rezeption der Aristotelischen Schriften und der Augustinischen Liebesethik als Grundpfeiler der Grotianischen Naturrechtslehre an und versucht, deren Weiterentwicklung bei Pufendorf und Thomasius nachzuweisen. Er stellt fest, daß Lohenstein auf dieser Basis „philosophische Grundlagen des Rechtsbewußtseins wie Freundschafts- und Liebesethik, Natur- und Völkerrecht im Gewände der Poesie" vermittele. Die Bedeutung der Senecaischen Philosophie sieht er darin erschöpft, daß sie Lohenstein als Rezeptionsmedium für aristotelisches Gedankengut verwendet habe.45 Das aristotelische Menschenbild, das im 17. Jahrhundert maßgeblich sei, verdränge bei Lohenstein das Ideal des stoischen Weisen, sogar sei in Lohensteins Werken eine „Stoizismuskritik" zu erkennen.46 Wiehert reduziert hier die Stoa auf eine Philosophie, die Leidenschaftslosigkeit, „absolute Vernünftigkeit", gepaart mit „Unmenschlichkeit und Lieblosigkeit" einfordere.47 Er betont zwar seine Unabhängigkeit von der auf das Phänomen der christlichen constantia einseitig ausgerichteten Forschung zur StoaRezeption,48 allerdings nimmt seine Interpretation ebenfalls eine Verkürzung der stoischen Philosophie vor: auf einen Verhaltensmodus kalter

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Vgl. Daniel Casper von Lohenstein: Lob-Schrifft / Deß Weyland Durchlauchtigen Fürsten und Herrn / Herrn George Wilhelms / Hertzogens in Schlesien zu Liegnitz / Brieg und Wohlau / Christ-mildestens Andenckens [...] Brieg [...], 1676, fol. B4'-B5 r , zit. nach: Wiehert, Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 63. Grotius' Stellung in der Naturrechtsdebatte ist allerdings kompliziert: Vgl. oben, S. 49. Zu Lohensteins Polemik gegen Hobbes vgl. auch Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 239. Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 75. Ebd., S. 289. Für das Bild vom Menschen im 17. Jahrhundert ist laut Wiehert die Rezeption der Aristotelischen Freundschafts- und der Augustinischen Liebesethik von Belang, zu denen sich der Stoizismus als Antipode verhalte. Amor werde hier als reiner Affekt angesehen, der sich nicht mit dem Primat der ratio vertrage (vgl. ebd., S. 72). Es darf aber nicht übersehen werden, daß auch Seneca in seiner Ethik der Zuneigung als einer der Natur des Menschen wesentlicher und für die Gemeinschaftsbildung unabdingbarer Eigenschaft eine hervorragende Stellung verleiht. Dem Menschen gegenüber gebe es, so Seneca, kein liebevolleres Wesen als den Menschen: „Quid homine aliorum amantius?" (De ira, 1 . 5 . 2 ) . Durch gegenseitige Liebe, „mutuo amore", entstehe die menschliche Gemeinschaft (De ira, 1. 5. 3). Amor und ratio sind keine Begriffe, die sich ausschließen bzw. in ein hierarchisches Verhältnis treten. Amor ist vielmehr dann erst ein schädlicher Affekt, wenn er nicht durch die ratio von seinem Ziel, der vernünftigen Gemeinschaftsbildung, abgelenkt wird, sondern den perturbationes animi, den Leidenschaften, zum Durchbruch verhilft. Seneca räumt zwar ein, daß er das Ideal der Peripatetiker, die Metriopathie, nicht teile, sondern grundsätzlich, wie die orthodoxen Stoiker, fur die Tilgung der Leidenschaften sei (vgl. Ep. 116. lf.). Allerdings scheint er sich wiederum von dem Rigorismus seiner Gewährsmänner zu distanzieren. In demselben Brief leugnet er nämlich nicht, daß Affekte, so etwa die voluptas, natürlich seien und sogar notwendig, nur dürfe man ihnen nicht allzusehr nachgeben. Leidenschaften würden dann zu einem Fehler, wenn man ihnen unterworfen sei, statt ihnen zu gebieten (vgl. Ep. 116. 3). Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 289. Vgl. ebd., S. 287.

159 Apathie und Rationalität. Deshalb übersieht Wiehert die Relevanz der Stoa für eine auch bei Lohenstein zu findende Reflexion auf die Folgen, welche die fur das 17. Jahrhundert typische mechanistische Auffassung von Natur und Welt zeitigte. Die folgenden Darstellungen werden eine Verwandtschaft mit dem Gryphschen Dramentyp ermitteln, indem sie der Seneca-Rezeption und der Aufnahme des stoischen Gedankenguts über das Verhältnis des Menschen zur Natur auch in der Lohensteinschen Dramatik nachgehen. Auch in ihr bildet die Stoa, wie Verhofstadt sich ausdrückt, die „Achse" aller Trauerspiele,49 aber nicht nur, wie er meint, als dekoratives Element, 50 sondern als verbindliche ideelle Basis. Wenn Liebermann konstatiert, daß die „Übereinstimmung mit der Seneca-Tragödie" durch die „Loslösung von einem dominanten religiösen, philosophischen oder moralischen Beziehungshintergrund zum Ausdruck" komme, 51 verkennt er nicht nur den philosophischen Gehalt der Seneca-Tragödie, sondern auch, daß dieser Gehalt durchaus in den Lohenstein-Dramen präsent ist. So soll entgegen den Konventionen der Forschung die Einheit der Dramatik Gryphius' und Lohensteins gesichert werden, ohne allerdings die zweifellos vorhandenen Unterschiede zu verwischen. Es ist aber zu zeigen, daß auch Lohensteins Dramatik diejenigen Entwicklungen ihrer Zeit reflektiert, die als Verweltlichung oder Säkularisation bezeichnet werden könnten und die als Unterordnung eines christlich-philosophischen Anspruches unter die realpolitischen Anforderungen der Staatsräson und eines neuen Rechtsdenkens zu verstehen sind. Diese Kritik auszudrücken, bedient sich Lohenstein derselben Mittel wie Gryphius. Die Frage nach Lohensteins politischer Einstellung zum Kaiserhaus weicht einer übergeordneten Thematik. Im Zentrum seiner Dramatik steht die Frage nach den Bedingungen und den Konsequenzen des zivilisatorischen Fortschritts.

II. Lohenstein und die Natur: Versuch einer Annäherung Daß für den kuriosen Polyhistor Lohenstein die Idee eines Verhältnisses des Menschen zur unberührten Natur eine Rolle spielen soll, mag verwundern. Ausufernde Anmerkungsapparate und besonders sein Roman Arminius machen glauben, daß er der Verfechter eines enzyklopädischen Wissensideals sei, das sich die Natur Untertan macht. Wie in Gryphius' Fall können zunächst lyrische Befunde dieses Bild revidieren, die sodann durch die drama49

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Verhofstadt: Daniel Casper von Lohenstein: Untergehende Wertwelt und ästhetischer Illusionismus, S. 231. Vgl. ebd., S. 298. Liebermann: Die deutsche Literatur, S. 423.

160 tische Interpretation ergänzt werden. Lohensteins Lyrik, mag sie auch teilweise Konventionen folgen und Topoi verwenden, gibt dennoch erste Anhaltspunkte für die gespaltene Position, die Lohenstein zu den wissenschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit eingenommen hat. Lohensteins eigene Stellung und seine Bewertung des frühneuzeitlichen Zugriffs des Menschen auf die Natur ist wie im Falle seines Vorgängers nur auf den ersten Blick vollständig vom Polymathie-Ideal der Zeit geprägt. Erscheint Gryhius' Stellung zur Wissenschaftsgeschichte seiner Zeit anläßlich des Kopernikus-Gedichtes, seiner eigenen Biographie und seines Standortes als Polyhistor zunächst positiv und wird dieser Eindruck durch andere lyrische Äußerungen und besonders durch seine Dramatik gebrochen, so läßt sich bei Lohenstein eine ähnliche ambivalente Haltung gegenüber der neuen wissenschaftlichen Einstellung beobachten. Trotz einer offensichtlich positiven Einschätzung eines universalen Wissensanspruchs, der dem frühaufklärerischen enzyklopädischen Geist der Zeit verpflichtet ist, dürfen die kritischen Töne hinsichtlich der menschlichen curiositas nicht übersehen werden. Als Bekenntnis zum zeitgenössischen Ideal der Polymathie gilt neben den Anmerkungsapparaten der Dramen, die nicht zuletzt pädagogischen Zwecken verpflichtet sind,52 vor allem Lohensteins letztes unvollendetes Werk, der Arminius-Roman, der als „verkappte Enzyklopädie" und als „Realienlexikon" rezipiert werden könnte. 53 Der Roman folgt den poetologischen Anforderungen der Zeit, die den Nutzen für den Leser in der angenehmen Art der Belehrung sehen.54 Daß die Belehrung die Intention des Romans sei, erhellt der Vorbericht an den Leser, der allerdings nicht vom Autor selbst verfaßt ist.55 Dabei wird eine fur die zeitgenössische Anthropologie typische Stellung bezogen: Künste und Wissenschaften tragen zur Ausbildung der Tugend bei. Der Anspruch ist die Bildung des ,ganzen Menschen'. Was kann aber den Menschen eher tugenhafft machen / als gute Künste und Wissenschaften erlernen; als wordurch der Verstand nicht nur geschärffet / sondern auch das Gemüthe / j a der gantze Mensch ermuntert und zu allem guten fähiger gemacht wird? 5 6

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Vgl. dazu etwa Behar: Silesia Tragica, S. 254-258. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland, S. 254. Vgl. etwa Dieter Kafitz: Lohensteins „Arminius". Disputatorisches Verfahren und Lehrgehalt in einem Roman zwischen Barock und Aufklärung. Stuttgart 1970, S. 32f. Martino (Daniel Casper von Lohenstein. Geschichte seiner Rezeption. Bd. 1) vermutet, daß Hans Christian von Lohenstein den Vorbericht zusammen mit Benjamin Neukirch verfaßt hat (vgl. S. 212f.). Daniel Casper von Lohenstein: Vorrede an den Leser: Grossmüthiger Feldherr Arminius. Hrsg. und eingeleitet von Elida Maria Szarota. Bern, Frankfurt am Main 1973. Erster Teil, fol. C2V.

161

In aufklärerischem Gestus wird die Fähigkeit des Menschen zur Selbstbildung betont, da es ihm nichts nütze, „allein edel von Geblüte" zu sein. 57 In seiner kleinen Schrift Vereinbarung der Sterne und der Gemüter, die Lohenstein anläßlich der Heirat seines Bruders verfaßte, preist er die „scharfsinnigen Erforscher der Natur",58 die fähig seien, die Zusammenhänge der Welt, wie sie der „weise Baumeister dieses Allen" eingerichtet habe, zu ermitteln.59 Lohenstein unterstreicht den Zweck dieser Naturerforschung, der auf die Frühaufklärung vorausweist und typisch ist für die Stoa. Diese auch wissenschaftliche Naturerkenntnis erfolge nicht um des Wissens willen, sondern solle, durch Augenschein ermittelt, dem Glauben dienen. 60 Das lumen naturale akzeptiert Lohenstein, im Gegensatz zu Luthers Hermeneutik, als Mittel, Gott zu erkennen. Aus einer ganz anderen Perspektive können diese Äußerungen jedoch nicht als Paradigma gelten für Lohensteins Einstellung zu den Künsten und Wissenschaften. Auch für ihn, dessen „Fleiß" und „herrliches Ingenium" von seinem Bruder Hans im Lebens-Lauff gerühmt wird,61 relativiert sich angesichts der Einsicht in die vanitas des irdischen Lebens die Gelehrsamkeit des Menschen. In dieser Hinsicht folgt Lohenstein dem christlichen Gestus seines gläubigen Landsmannes in dem bereits genannten Gedicht scire tuum nihil est.61 In der Umbschrifft eines Sarches heißt es: Setzt euch Seulen von Porphyr mauert euch aus Gold Paläste / Festigt Tempel euch aus Marmel / der der Zeit die Wage hält / Rafft zu euch mit gicht'gen Klauen den verdammten klumpen Geld / Macht euch euer stoltzes Lob durch gelehrte Schrifflen feste. Aber wist: wann das Verhängnüs euer Lebens-Garn reisst ab / Schwindet Wissenschaft und Kunst / Schätze / Reichthum / Ehr und Tittel / Und ihr nehmet nichts mit euch / als den nackten Sterbe-Kittel: [...].63

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Ebd. Daniel Casper von Lohenstein: Lyrica, S. 351. Ebd., S. 350. Nicht zuletzt aus okkasionellen Gründen verarbeitet Lohenstein hier die Vorstellung der catena aurea. Vgl. ebd., S. 352f. Pierre Behar (La Weltanschauung de Lohenstein: Une Theosophie de la Renaissance? In: Daphnis 7, 1978, S. 569-615) versucht, einen Bezug dieser Schrift zur Lehre des Hermes Trismegistos zu ermitteln, von der Lohenstein u. a. durch den Kommentar Athanasius Kirchers erfahren haben soll (vgl. 588f.). Vgl. zu diesem Problemkomplex auch ders.: Silesia Tragica. Bd. 1, S. 347-349. Hans Christian von Lohenstein: Kurtz Entworffener Lebens-Lauff. Des seel. Autoris. 3. Druck. Leipzig 1723. In: Daniel Casper von Lohenstein. Poetische Schriften in der Leipziger Ausgabe von 1723. Ohne Haupttitel und Bandangaben, hier fol. A6V. Zur Leipziger Ausgabe von Lohensteins Werken von 1723 vgl. Hans von Müller: Bibliographie der Schriften Daniel Caspers von Lohenstein, 1652-1748. Zugleich als ein Beispiel für die buchgewerbliche exakte Beschreibung von deutschen illustrierten Büchern. In: Werden und Wirken. Ein Festgruß für Karl Wilhelm Hiersemann. Hrsg. von Martin Breslauer und Kurt Koehler. Leipzig 1924, S. 184-261, hier S. 254-256. Vgl. oben, S. 21. von Lohenstein: Lyrica, S. 441.

162 Beurteilt man Lohensteins Einstellung zu den Wissenschaften seiner Zeit nach dem Epikedium auf Gryphius, Die Höhe des menschlichen Geistes, so ist zunächst eine emphatisch anmutende Wertung des Fortschrittsgedankens nicht zu verkennen. Der Mensch ist kraft seiner Vernunft zum Herrn über die Natur geworden und nimmt gleichsam gottähnliche Züge an: Wohin hat sich der Geist der Menschen nicht geschwungen? Die kleine Welt reicht hin / wie weit die grosse gränzt. Denn ist der spriede Leib gleich nur von Thon' entsprungen / So sieht man doch: daß Gott aus diesen Schlacken glänzt. Daß ichtwas Himmlisches beseele das Gehirne / Der Uhrsprung sey von Gott / das Wesen vom Gestirne. Die Sonne der Vernunft / das Auge des Gemüttes, Macht uns zu Herrn der Welt / zu Meistern der Natur. 6 4

Dieses Gedicht preist vor allem die an ein Wunder grenzende Erfindungskraft des Menschen, die die Elemente der Natur bezwingt. Wird hier der cartesianische Topos des Menschen als eines Herrn und Meisters über die Natur auf den ersten Blick ohne Einschränkung aufgenommen, ist ein ironischer Unterton in demselben Gedicht zu beobachten. Dem Menschen werden gleichsam übernatürliche Kräfte zugesprochen: Durch ein geschliffen Glaß / und durch verfälschte Schatten Macht er aus Nichts nicht viel / stellt lebhaft an die Hand Die Todten / welche wir für längst beerdigt hatten. Verwandelt einen Floh in einen Elefant. 65

In der Ubmschrifft eines Sarches folgt Lohenstein eher in konventioneller Weise dem Gryphschen Klageton. In letzterem Gedicht verarbeitet er ironisierend und humorvoll die Einsicht in die Unzulänglichkeit menschlicher Naturunterwerfung angesichts der letzten Dinge. Diese Ironisierung der menschlichen Erfindungskraft geht einher mit der Einsicht, daß die Bedeutung der Erkenntnisse in den Wissenschaften und Künsten im Hinblick auf das Sterben fraglich sind, denn „der blinde Tod" läßt sich „durch kein Schau-Glaß bländen".66 Der von Schings anhand des Epikediums konstatierte „Wissenschaftsoptimismus", durch den sich Lohenstein von Gryphius abhebe, und der ungebrochen selbstgewisse „Ton der sich an ihrer Machtfülle berauschenden neuzeitlichen Wissenschaft" der ersten Verse relativiert brüsk die zentrale Erfahrung der Endlichkeit irdischen Lebens und der Unzulänglichkeit und Überschätzung menschlicher Erfindungen.67 64 65 66 67

Ebd., S. 399. Ebd., S. 401. Ebd., S. 406. Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius, S. 23. Verhofstadt (Daniel Casper von Lohenstein: Untergehende Wertwelt und ästhetischer Illusionismus) spricht anläßlich dieses Gedichtes von einer „Verherrlichung der Vernunft und des Willens" bei Lohenstein (S. 47).

163 Die Versuche, mittels medizinischer Experimente den Lauf der Natur zu ändern, werden von Lohenstein polemisch als Hochstapelei dargestellt. Die Kräutergemische der Ärzte gegen den Tod sind nichts anderes als „Colokwinten-Kuchen". 68 Der Tod ist Bestandteil der Natur und unausweichlich; selbst die raffiniertesten menschlichen Erfindungen vermögen nicht, diese Natur zu verändern. Auch hier gilt das Diktum Senecas: „Non potest artifex mutare materiam [...]" (Deprov. 5. 9).69 In einem anderen Gedicht spielt Lohenstein auf den Ikarus-Mythos an, der diesem Diktum zugrunde liegt: Ihr schnödes Volk der lasterhaften Welt Di ihr nach irrdischem mit Schweiß und Thränen strebet / Wo hemmt sich euer Sinn der auf der Erden klebet; Ist diese Gruft euch nicht so hoch geställ't / Daß / eh' als ihr zu eurer blinden Sonnen Den halben Zweck gewonnen / Eh' eure wilde Brunst den Schatten kaum geküßt / Euch eure Wachs-Geflügel schmelzen Und ihr auf euren Hoch-Muths-Stelzen Den frechen Hals mit samt der Hoffnung stürzen müst? 7 0

Als ars moriendi versagt experimentelles und realenzyklopädisches Wissen. Die „Ewigkeit" zu erkennen, dient weder die Polymathie noch die Unterwerfung der Natur durch Instrumente. 71 Dieser kritischen Haltung gegenüber dem gestaltenden Zugriff des Menschen auf die Natur verleiht Lohenstein in seinen Dramen stärkeren Ausdruck, und in ihr liegt die zentrale Gemeinsamkeit mit dem Gryphschen Werk. Sie soll als Bezugspunkt beider Autoren zur stoischen Philosophie herausgearbeitet werden. Lohenstein beweist wie Gryphius trotz oder gerade wegen seiner noch tieferen Verankerung im positivistischen und gelehrsamen Geist der Zeit ein waches Bewußtsein für die wachsende Entfremdung des Menschen von der Natur. Während Gryphius' Dramen ihr Augenmerk eher auf diejenigen lenken, die versuchen, das Verhältnis zur unberührten Natur zurückzugewinnen, zeigen Lohensteins Dramen größeres Interesse für die listigen und kunstfertigen Überwinder der Natur. Die römische Welt, die Expansionsbestrebungen der ausgehenden Römischen Republik in der Cleopatra und die dekadente Zivilisation der Kaiserzeit Neros in der Agrippina und in der Epicharis liefern dafür einen dankbaren geschichtlichen und kulturellen Hintergrund. Die Ereignisse der antiken Geschichte boten dem Dichter den Vorteil, daß sie außerhalb aktueller konfessioneller Grundsatzfragen angesiedelt

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von Lohenstein: Lyrica, S. 406. Vgl. oben, S. 66. von Lohenstein: Lyrica, S. 575. Ebd., S. 407.

164 sind. Wiehert weist darauf hin, daß Lohenstein bei der Wahl der Themen auch auf seine eigene Karriere bedacht gewesen sei und Beziehungen zu heterogenen Gruppen, zu den protestantischen Ratsherren, den Beamten des Kaisers und den calvinistisch gesinnten Piasten, nicht gefährden wollte. 72 Die antiken Stoffe hätten Lohenstein die Möglichkeit geboten, „zu religiöser Thematik Stellung zu beziehen jenseits aller konfessioneller Gräben." 73 Allerdings wird sich zeigen, daß wie Gryphius auch Lohenstein, insofern er die Entfremdung des Subjekts von der pantheistisch verstandenen Natur thematisiert, zur Lutherischen und Hobbesschen Auffassung einer durch den Sündenfall verderbten Menschennatur, die zur Gotteserkenntnis aus der Natur mit Hilfe des lumen naturale nicht mehr fähig ist, kritisch Stellung bezieht. Rezeptionstechnisch geht Lohenstein auch aufgrund des geschichtlichen Stoffes seiner Dramen etwas anders vor als Gryphius. Viel deutlicher als dieser verweist er durch direkte oder indirekte Zitate auf Texte Senecas. Diese direkten Verweise bieten sich besonders in den beiden römischen Dramen durch den geschichtlichen Kontext an. Deutlich markierte SenecaZitate eröffnen einen hohen Grad an ,Kommunikativität' mit den SenecaTexten, 74 die eine neue, bisher nicht beachtete Interpretationsgrundlage bieten. Auf ihr soll die Frage nach Lohensteins politischem und ideengeschichtlichem Standort neu beantwortet werden. Für die Cleopatra ist als Prätext Senecas Medea relevant. Sie liefert die ideelle Basis für die Interpretation des Lohenstein-Dramas. In der Agrippina wird der Verweis auf Senecas Schrift De dementia thematisiert, die der Traumerscheinung des Britannicus inhärent ist. In der Epicharis wird die Frage im Vordergrund stehen, ob Lohenstein tatsächlich einen stoischen Weisen zeichnet, der ganz seiner Philosophie verpflichtet ist. Für die Argumentation werden die Dramen in chronologischer Reihenfolge besprochen. Die Chronologie ergibt sich aufgrund der Erscheinungsjahre der Erstdrucke. Für die Cleopatra wird die Urfassung aus dem Jahre 1661 zugrunde gelegt. Die Agrippina und die Epicharis erscheinen im Druck zuerst im Jahre 1665.75 72

73 74 75

Vgl. Adalbert Wiehert: Theologie und Jurisprudenz im Selbstverständnis Daniel Caspers von Lohenstein. In: Res Publica Litteraria. Bd. 1, S. 263-278, hier S. 269. Ebd., S. 270. Pfister: Konzepte der Intertextualität, S. 27. Hier ist auf die Diskussion um die Abfassungszeit der Trauerspiele hinzuweisen, mit der sich besonders Pierre Behar auseinandersetzt (Zur Chronologie der Entstehung von Lohensteins Trauerspielen. In: Studien zum Werk Daniel Caspers von Lohenstein [Daphnis 12, Heft 2-3], S. 441^463); er betrachtet die Erstfassung der Cleopatra aus konzeptioneller Sicht den römischen Trauerspielen als überlegen, sie sei die „Vollendung" der dramatischen Kunst Lohensteins (S. 233). Deshalb vermutet er, daß die Agrippina und die Epicharis vor der Cleopatra verfaßt seien, aber wegen ihrer, besonders in der Epicharis, zu beobachtenden republikanischen Gesinnung erst veröffentlicht werden konnten, als es Lohensteins gesellschaftliche Stellung gefahrlos zugelassen habe (vgl. ebd., S. 442). Behar

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III. Lohensteins Cleopatra und Senecas Medea 1.

Begründung für die Verwendung der

Erstfassung

Die Cleopatra ist nach dem 1653 erschienenen Ibraim Bassa das zweite Trauerspiel, das Lohenstein nach seinen juristischen Studien in Tübingen, dem Abschluß der Dissertation De voluntate und seiner Bildungsreise schrieb. Im Jahre 1657 kehrte er von seinen Reisen zurück, heiratete und ließ sich in Breslau als Anwalt nieder. Zur Abfassung des Dramas wurde er wohl auch durch die Aktualität des Stoffes angeregt. Das Schicksal der ägyptischen Königin war zu dieser Zeit ein beliebtes literarisches Thema, um nur Shakespeares Antony and Cleopatra aus dem Jahre 1607 und Isaac de Benserades La Cleopatre von 1636 zu nennen. Im Druck erschien Lohensteins Erstfassung der Cleopatra im Jahre 1661. Das Stück wurde noch im Erscheinungsjahr am Breslauer Elisabethgymnasium im Wechsel mit Gryphius' Cardenio und Celinde aufgeführt.76 Die Forschung verwendet üblicherweise die zweite, beträchtlich erweiterte Fassung der Cleopatra, die 1680 erschien.77 In quantitativer Hinsicht wird die Ausarbeitung gerne damit begründet, daß Lohenstein mit weiteren antiken Quellen, vor allem mit Dio Cassius, vertrauter geworden sei.78 Inhaltlich fallt vor allem die positivere Charakterzeichnung des Augustus auf,

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meint, daß die Nerodramen zwischen dem Ibraim Bassa und der Cleopatra geschrieben worden seien (vgl. ebd., S. 450). Er beruft sich auf die vieldiskutierte Äußerung Fellgiebels, die römischen Dramen seien Lohensteins „ersten Jugend Schulfrüchte" gewesen (zit. nach: ebd., S. 441); er wendet sich gegen Bernhard Asmuths Interpretation (Daniel Casper von Lohenstein. Stuttgart 1971), dem Zitat liege das lateinische iuventus zugrunde, die erst im Alter von etwa 25 Jahren beginne (vgl. S. 31). Da es sehr problematisch ist - wie das folgende Kapitel zeigen wird - , die Cleopatra als kaisertreues Drama zu betrachten (vgl. so Behar: Zur Chronologie der Entstehung von Lohensteins Trauerspielen, S. 442), kann Behars Argumentationsgang nicht zugestimmt werden. Vgl. auch Behar: Silesia Tragica. Bd. 1, S. 9-31. Vgl. Max Hippe: Aus dem Tagebuche eines Breslauer Schulmannes im siebzehnten Jahrhundert. In: Breslauer Studien 36, Heft 1, 1901 (Festschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens zum funfundzwanzigjährigen Amtsjubiläum seines Vicepräs Hermann Markgraf), S. 159-192, hier S. 185. Die Zweitfassung ist quantitativ um mehr als ein Drittel erweitert worden. Vgl. etwa Behar: Zur Chronologie der Entstehung von Lohensteins Trauerspielen, S. 457. Vgl. ders.: Dramaturgie et histoire chez Lohenstein: Les deux versions de Cleopatra. In: Theatrum Europaeum. Festschrift fur Elida Maria Szarota. Hrsg. von Richard Brinkmann u. a. München 1982, S. 325-339, hier S. 325f. und S. 329-334. Vgl. auch Asmuth, Daniel Casper von Lohenstein, S. 28. Ausfuhrliche Vergleiche der beiden Fassungen im einzelnen, die aber der Abfassungszeit entsprechend vom Vorurteil gegenüber Lohensteins Stil geprägt sind, bieten August Kerkhoffs: Daniel Casper von Lohenstein's Trauerspiele mit besonderer Berücksichtigung der Cleopatra. Paderborn 1877, S. 24-80 und Müller: Beiträge zum Leben und Dichten Daniel Caspers von Lohenstein, S. 66-107. Einen Vergleich der beiden Versionen bietet zuletzt die Arbeit von Jörg J. Juretzka: Zur Dramatik Daniel Caspers von Lohenstein. „Cleopatra" 1661 und 1680. Diss., Meisenheim am Glan 1976 (Deutsche Studien 18).

166 der sich nach der geglückten Eroberung Ägyptens als ein etwas milderer Herrscher zeigt als in der Erstfassung. Traditionellerweise wird davon ausgegangen, daß die Differenzierung dieser Herrscherfigur mit einer noch stärkeren Bestrebung verbunden gewesen sei, dem Kaiser zu huldigen. 79 Wenn in der Forschung meistens ohne Kommentar die zweite Fassung der Cleopatra aus dem Jahre 1680 verwendet wird, so ist dieses Faktum jedoch weder quantitativ noch inhaltlich begründet, sondern auf einen Systemzwang zurückzufuhren: Klaus Günther Just edierte in seiner dreibändigen Ausgabe der Lohensteinschen Trauerspiele, die 1953-1957 erschien, den ersten Druck der Zweitfassung im Band Afrikanische Trauerspiele zusammen mit der Sophonisbe.m Obgleich der Text der Urfassung, die meiner Untersuchung zugrunde liegt, kurz darauf zugänglich gemacht wurde, ist aufgrund der Justschen Ausgabe die Verwendung der Zweitfassung üblich. Dennoch wird im folgenden aus inhaltlichen und methodischen Gründen die Erstfassung verwendet. 81 Zum einen sind die Veränderungen, die Lohenstein vorgenommen hat, für die Argumentation nicht relevant. Die angeführten Passagen sind in der Zweitfassung im Kern nicht anders konzipiert. Falls es sich im Laufe der Untersuchung anbietet, wird auf den Text der Zweitfassung hingewiesen. Zum anderen entspricht die Chronologie der verwendeten Fassungen der geschichtlichen Entwicklung, die Lohenstein in den Dramen nachzeichnet. Von der Erstfassung der Cleopatra über die Agrippina zur Epicharis sind Ereignisse der Römischen Geschichte von der Schlacht bei Aktium,

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Behar ist der Auffassung (Silesia Tragica. Bd. 1), das Ziel der Umarbeitung sei gewesen, Kaisertreue zu beweisen (vgl. S. 74). Für Verhofstadt (Daniel Casper von Lohenstein: Untergehende Wertwelt und ästhetischer Illusionismus) spielen weder stoffliche noch ideelle Gründe eine Rolle für die Umarbeitung: In der Zweitfassung wirke „mit größerer Kraft das Verlangen, beziehungsloses Wissen in die Kunstschöpfung aufzunehmen" (S. 295). Daniel Casper von Lohenstein: Türkische Trauerspiele: Ibraim Bassa. Ibraim Sultan Römische Trauerspiele: Agrippina. Epicharis - Afrikanische Trauerspiele: Cleopatra. Sophonisbe. Hrsg. von Klaus Günther Just. Stuttgart 1953, 1955, 1957 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 292, 293, 294). Zur Kritik an dieser Ausgabe und insbesondere zur Edition der Zweitfassung der Cleopatra vgl. Gerhard Speilerberg: „Schlesisches Kunstdrama" - Fragen und Probleme der Edition der Dramen Lohensteins und Hallmanns. In: Editio 3, 1989, S. 76-89, hier S. 78. Vgl. ders.: Anmerkungen zu Klaus Günther Justs Lohenstein-Ausgabe. In: „Der Buchstab tödt - der Geist macht lebendig". Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Gert Roloff. Bd. 1. Hrsg. von James Hardin und Jörg Jungmayr. Bern, Berlin, Frankfurt a. Main 1992, S. 165-176, 166f. Vgl. auch die kritische Auseinandersetzung mit Justs Verfahren der Edition und Speilerbergs geplanter Neuedition der Lohenstein-Texte von Jane O. Newman: Textual Reproduction and the Politics of the Edition: Spellerberg on Just on Lohenstein. In: Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts (Chloe 27), S. 101-124. Die Cleopatra wird im folgenden nach der Erstfassung zitiert: Daniel Casper von Lohenstein: Cleopatra. Trauerspiel. Text der Erstfassung von 1661. Besorgt von Ilse-Marie Barth. Stuttgart 1965. Zitationen der Zweitfassung, die von Just im Band Afrikanische Trauerspiele abgedruckt ist, werden mit Α gekennzeichnet.

167 31 ν. Chr., bis zu Senecas Tod, 65 n. Chr., Gegenstand der dramatischen Darstellung. In der Cleopatra markiert Oktavians Sieg über Antonius und Cleopatra das Ende der Römischen Republik und den Beginn des Prinzipats. Agrippina und Epicharis beschreiben die römische kapriziöse Kaiserzeit in ihrem Verfall. Es wird sich zeigen, daß der Auf- und Niedergang der Römischen Welt in der Darstellung der Naturverhältnisse seine Entsprechung findet. Wird ,Natur' in der Cleopatra zum Gegenstand der Gestaltung, so dominiert in der Agrippina der Aspekt ihrer Künstlichkeit, in der Epicharis tritt ihre Verwesung hinzu. Um diesen Nachweis durchzufuhren, bietet es sich an, die Chronologie des dramatischen Schaffens zu berücksichtigen. Die Zweitfassung der Cleopatra ist für diesen Nachweis unerheblich. Bereits die Erstfassung enthält für den Argumentationsgang alle nötigen Hinweise. Besonders wichtig ist zunächst die Tatsache, daß der letzte Reyen nicht verändert worden ist. Dieser für ein barockes Trauerspiel untypische Reyen wirft die zentrale Frage nach Lohensteins Stellung zu den Habsburgern auf.

2. Der Reyen der Tiber, des Nilus, der Donau, des Rheins a) Der Streit um die significatio. Der Mythos als Zugang zum Drama Einen echten Stoiker darzustellen oder zumindest einen, der sich zu einem solchen wandelt, ist nicht das eigentliche Ziel der dramatischen Gestaltung in der Cleopatra. Hierin unterscheidet sich dieses Drama von der Catharina oder insbesondere vom Papinian, in denen sich die Protagonisten zu echten Vertretern des christlich-stoischen Naturrechtsgedankens entwickeln. Als solche stehen sie im Zentrum der Tragödien. Obwohl solche Figuren in der Cleopatra fehlen, erübrigt sich eine Analyse der Rezeption stoischer Philosophie keineswegs. Sie muß sich aber auf andere Weise dem Gegenstand nähern. Da sich die Untersuchung nicht auf eine die Stoa repräsentierende Figur konzentrieren kann, wird sie zu ermitteln haben, auf welche Weise dennoch der ideelle Horizont der stoischen Philosophie aufscheint. Meine Argumentation geht von der These aus, daß auch in der Cleopatra die stoische Philosophie den festen Bezugsrahmen des Trauerspiels bildet und sich aus ihrem Geist die Kritik an der zentralen Figur des Dramas formuliert: an Augustus. Es bietet sich an, den Zugang zur Interpretation dieser Figur über den letzten Reyen zu suchen. Dabei wird für gewöhnlich das Hauptaugenmerk auf die folgende laudatio gelenkt, die den Habsburgischen Kaiser Leopold mit Augustus gleichsetzt:

168 Wir sehen schon di Sonnen unsrer Flutt / Den Helden-Stamm in Oester-Reich entspringen / Dem nicht nur Rom und Tiber Opffer bringen / Den Leopold / der dem August es gleiche thut. Di itz'ge Welt ist ihm zuklein / Es wird noch eine Welt entstehen / Ihm wird di Sonn nicht untergehen / Und Thüle wird nicht mehr der Erde Gräntzstein sein. Dis was Columb und Magellan Der andre Tiphys wird entdecken / Wie ferne sich zwei Indien erstrecken / Wird unsers Caesars Haus fußfällig beten an. Wir sehen schon sein siegend Schwerdt / Den Adler fur dem Mohnd am Nil und Bospher gläntzen. Kommt / Schwestern / schätzt ihr Tugend wehrt / Hclfft sein gekröntes Haupt mit Palm- und Lorbern kräntzen. (Cleop. V. 487-502) D e r S i n n dieser für e i n e n b a r o c k e n R e y e n g a n z u n t y p i s c h e n laudatio, ähnlicher F o r m a u c h i m Ibraim Sophonisbe

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(vgl. V . 9 1 3 - 9 3 6 ) 8 2 u n d in der

( v g l . V . 6 7 1 - 6 9 4 ) v o r k o m m t , 8 3 stellt seit j e h e r fur die For-

s c h u n g ein Interpretationsproblem dar. Z u S i n n u n d F u n k t i o n d i e s e s R e y e n soll ein Z u g a n g v e r s u c h t w e r d e n , der a u f einer k l e i n e n B e s o n d e r h e i t beruht, die b i s h e r ü b e r s e h e n w u r d e . L o h e n s t e i n w e b t durch d i e Ü b e r t r a g u n g v o n V e r s e n aus S e n e c a s Medea

u n d durch d e n H i n w e i s a u f T i p h y s ( V . 4 9 6 ) den

M y t h o s der A r g o n a u t e n f a h r t ein. D i e s e r M y t h o s in S e n e c a i s c h e r V e r s i o n bietet d e n S c h l ü s s e l fur die Problematik der laudatio

u n d für d i e Interpreta-

tion der H a u p t f i g u r A u g u s t u s . U m d i e A r g u m e n t a t i o n s c h l ü s s i g an die g r u n d l e g e n d e n Fragen d i e s e s R e y e n a n z u b i n d e n , s e i e n d i e Gründe erläutert, w a r u m er der F o r s c h u n g s c h o n i m m e r e i n „ Ä r g e r n i s " w a r u n d w i e bisher versucht wurde, dieses zu beseitigen.84 D a ß in L o h e n s t e i n s D r a m e n e i n R e y e n als S c h l ü s s e l z u m W e r k betrachtet w e r d e n kann, ist e i n e A u f f a s s u n g , d i e s i c h d u r c h s e t z e n m u ß t e . Prägte d o c h L u n d i n g fur d e n Charakter der L o h e n s t e i n s c h e n R e y e n d e n A u s d r u c k „ E f f e k t n u m m e r " . 8 5 N a c h e i n e m v e h e m e n t e n Einspruch v o n K a y s e r 8 6 hat

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Zitiert wird nach: Daniel Casper von Lohenstein: Türkische Trauerspiele: Ibraim Bassa. Ibraim Sultan. Hrsg. von Klaus Günther Just. Stuttgart 1953 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 292). Zitiert wird nach: Daniel Casper von Lohenstein: Afrikanische Trauerspiele: Cleopatra. Sophonisbe. Hrsg. von Klaus Günther Just. Stuttgart 1957 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 294). Speilerberg: Verhängnis und Geschichte, S. 207. Lunding: Das schlesische Kunstdrama, S. 152. „Der tiefe Sinn des barocken Reyens", so Lunding, sei „für Lohenstein verloren gegangen. Die barocke Pietät gegen die Überlieferung" aber verbiete „das Ausschalten dieses überflüssig gewordenen Formenelementes" (ebd.). Kayser: Lohensteins Sophonisbe als geschichtliche Tragödie, S. 30. Einen guten Überblick über die älteren Ansichten zur Problematik, die im wesentlichen die Unabhängigkeit der Reyen vom Geschehen betonen, bietet Anthony Jung: Daniel Casper von Lohensteins Cleopatra. Eine Untersuchung von Gehalt und Form. Michigan 1973, S. 53-58. Jung

169 schließlich Schöne in seiner Untersuchung Emblematik und Drama auch fur die Lohensteinsche Dramatik die emblematische Struktur nachgewiesen. Obgleich Schöne einräumt, daß unbestritten die Reyen in Lohensteins Dramen einen anderen Charakter hätten als bei Gryphius, weil sie opernartige Elemente aufwiesen und eher einem Schaueffekt verpflichtet schienen als einem philosophischen Gehalt, so betont er, daß sie dennoch dem Strukturprinzip der Emblematik genügten. 87 Auch sie beinhalteten die significatio zum eigentlichen dramatischen Geschehen, zur pictura. Den letzten Reyen der Cleopatra bespricht Schöne allerdings nicht: Dieser Reyen zeigt eine eigenartige untypische Besonderheit. Er bezieht sich, im Gegensatz zu jedem anderen Gryphschen Reyen, auf die Zeitgeschichte, wie auch die Schlußreyen des Ibraim Sultan und der Sophonisbe. Wird dort jeweils in der letzten Strophe der Aufstieg Österreichs im Gang einer mehr als zweitausendjährigen Geschichte zur Weltmacht prophezeit, gipfelt in der Cleopatra die Allegorie der Flüsse Tiber, Nil, Donau und Rhein in der vorgestellten Apotheose des Hauses Habsburg (vgl. Cleop. V. 487^190). Besonders durch den Zeitbezug wird die Funktion des Reyen als significatio fur das Geschehen auf eigenartige Weise problematisch. Die ideale Verbindung zwischen Akten und Reyen, die sich verhalten wie das Besondere zum Allgemeinen, ist aufgehoben. Die ethische Reflexion, die das Geschehen auf einer allgemeinen Ebene beurteilt und in Form einer Paränese eine allgemeingültige Wahrheit vermitteln will, bleibt auf den ersten Blick aus. Der für das Trauerspiel des 17. Jahrhunderts typische „Organismus" gilt dann nicht mehr»88 sobald das besondere Exempel auch im Reyen selbst erscheint. Vor dem Hintergrund dieser zunächst kaum merklichen Eigenart entfaltet sich eine Problematik von außerordentlicher Tragweite. Das Besondere wird in den Reyen verlegt, das dramatische Geschehen wird als Teil der Zeitgeschichte gelesen. Der Reyen verliert offenbar seine paränetische Funktion und wird zum Panegyricus. Bisher lassen sich im wesentlichen zwei Lösungansätze unterscheiden, um dieser Irritation zu begegnen. Entweder versucht man, das Herrscherlob am Ende mit einem Funktionswechsel zu erklären, oder man beurteilt es als Appell an die herrschende Macht. In beiden Fällen ist das Bemühen zu beobachten, die laudatio mit der emblematischen Struktur des barocken Trauerspiels zu harmonisieren. 89

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selbst beurteilt die Reyen als „Rahmen" fur die Abhandlungen, insofern sie einen jeweils kurzen Geschichtsausschnitt in eine größere zeitliche Perspektive einbetten (S. 66). Vgl. Schöne: Emblematik und Drama, S. 167f. Vgl. in diesem Sinne Spellerberg: Lohensteins Sophonisbe: Geschichtliche Tragödie oder Drama von Schuld und Strafe?, S. 378. Schöne: Emblematik und Drama, S. 179. Wegen der Verlängerung des Zeitbezuges bis in Lohensteins eigene Gegenwart und der Situationsbezogenheit des Reyen plädiert Klaus Günther Just (Allegorik oder Symbolik? Zur Figuration der Trauerspiele Lohensteins. In: Antaios 10, 1969, S. 91-108) fur eine Ausgewogenheit von allegorischer und symbolischer Struktur (vgl. S. 105-108). Überzeu-

170 Die Vorstellung der translatio imperii, der Viermonarchienlehre, spielt dabei eine zentrale Rolle. Die Grundidee der translatio imperii, die Abfolge von vier Weltreichen, findet sich in orientalischen Mythen, in antiken Epen und im Alten Testament. Im Mittelalter wird sie seit der Karolingerzeit zugunsten des Deutschen Reiches funktionalisiert und findet auch bei den Lutheranern Anklang. Sie scheint sich also auch außerhalb konfessioneller Grundsatzfragen als Sinnhorizont zu eignen und im Drama den übergeordneten und allgemeinverbindlichen Konsens stiften zu können, vor dessen Hintergrund das dramatische Geschehen als Ausschnitt einzuordnen ist.90 Die Idee der translatio imperii, der Abfolge der Weltreiche Babylonien, Persien, Griechenland und Rom, ist bei Lohenstein in Reinform nur im Schlußreyen der Sophonisbe enthalten (vgl. Soph. V. 631-670). Sie wird

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gend mag er dadurch aber der Irritation nicht zu begegnen, geschweige denn den emblematischen Organismus zu retten. Grundlegend fur die Idee der translatio ist das Buch Daniel im Alten Testament und insbesondere Hieronymus' Kommentar. In der Bibel wird die Abfolge von vier Reichen durch zwei Allegorien dargestellt. Zum einen deutet Daniel den Traum Nebukadnezars: Ein Standbild mit goldenem Haupt, silberner Brust und Armen, Bauch und Lenden aus Erz und Schenkeln und Füßen aus Eisen zerbricht (vgl. Dan. 2. 31-35). Daniel prophezeit die Erlösung vom letzten grausamsten Reich durch das ewige Reich Gottes (vgl. 2. 44). Eine andere Allegorie stellt die Abfolge durch verschiedene Tiere dar. Das letzte Tier ist das grausamste (vgl. 7. 7). Das Reich Gottes wird nach dem Untergang dieses letzten Reiches prophezeit (vgl. 7. 27). Die bekannteste Ausdeutung des Daniel-Buches gibt Hieronymus' Kommentar, der die Abfolge der vier Reiche als Babylonien, Persien, Griechenland und Rom deutet (vgl. Eusebius Hieronymus: Opera omnia. Bd. 5, Paris 1884 [Patrologiae Latinae 25. Accurante J. P. Migne] Sp. 503f.). Diese Auslegung war allerdings von der älteren Exegese vorgeprägt. Vgl. dazu Werner Goez: Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Tübingen 1958, S. 19). Für die Rezeption dieser Allegorie bei Luther ist folgende Besonderheit relevant: Das letzte Horn zeichnet sich dadurch aus, daß zwischen seinen zehn Hörnern noch ein zusätzliches wächst, was zum Ausfall dreier Hörner von den zehn führt. Dieses Horn deutet Luther als das Türkische Reich, das die übrigen Reiche bedroht und vom Reich Gottes überwunden werden muß. Vgl. Martin Luther: Die deutsche Bibel. Kritische Gesamtausgabe. Abt. 3. Bd. 11, 2. Hälfte, Weimar 1960 (Graz 1972), S. 13: Vgl. dazu Speilerberg: Verhängnis und Geschichte, S. 215. Vgl. auch Behar: Silesia Tragica. Bd. 1, S. 285-288. Bei dem ganzen Fragenkomplex handelt es sich ersichtlich um ein äußerst vielschichtiges Problem, das gerne vereinfacht dargestellt wird. So ist im Buch Daniel explizit von der Abfolge der Reiche Babylon, Persien, Griechenland und Rom natürlich nicht die Rede, da es das römische Imperium zur Abfassungszeit des Buches im 3. oder 4. Jahrhundert vor Christus noch gar nicht gab. Auf dem Kommentar des Hieronymus fußt die Interpretation des Danielbuches im Mittelalter. Hieronymus wiederum schöpft aus antiken Historiographien (vgl. zu den ältesten Exegeten etwa Goez: Translatio Imperii, S. 19-26). Diese begreifen Rom aber als das letzte und glanzvollste Reich. Falls den antiken Historiographen das Buch Daniel als Vorlage gedient hat, liegt eine Idiosynkrasie vor, da hier das letzte das schlechteste und grausamste ist. Zu diesen gravierenden Widersprüchen und Unvereinbarkeiten vgl. Bodo Gatz: Weltalter, goldene Zeit und sinnverwandte Vorstellungen. Diss., Hildesheim 1967 (Spudasmata 16), S. 106f. Vgl. hier auch die Hinweise zu ähnlichen persischen und iranischen Vorstellungen und die Überlegungen zum Synkretismus (ebd., S. 7-18).

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aber mit Einschränkung auch als grundlegendes Modell fur den letzten Reyen der Cleopatra geltend gemacht werden können, weil die Übernahme der Macht durch das Römische Reich eine Stufe innerhalb der translatio einnimmt. Diese wird allegorisch dargestellt: Der Tiber siegt über die anderen Flüsse und betont die Vormachtstellung Roms in der Welt (vgl. Cleop. V. 439-442). Da sich seit dem Mittelalter das Deutsche Reich in der Nachfolge des Römischen Imperiums sieht und seine Vormachtstellung unter eschatologischem Aspekt gesehen wird, fugt sich die Herrschaft der Habsburger lückenlos in dieses Konzept. 91 Die Idee der translatio imperii gewährleistet, daß die emblematische Struktur erhalten bleibt. Nimmt man diese Idee als allgemeinverbindlich an, so hat dies auf je verschiedene Weise auch Konsequenzen fur die Interpretation der Augustus-Figur. Wenn man die These eines Gattungswechsels befürwortet, fallt die Aufrechterhaltung des emblematischen Prinzips leicht. So deutet Just die Schlußworte des Reyen als „eine ins Allgemeinverbindliche projizierte Sinngebung, die nicht mehr mit rein literarischen Maßstäben zu fassen" sei.92 Der Reyen bringe ein in der Zeit verankertes Bewußtsein fur die politische Tradition des Römisch-Deutschen Reiches zum Ausdruck. Die Panegyrik auf das Wiener Kaiserhaus diene dazu, die Tradition des Deutschen Reiches in der Nachfolge des Römischen zu betonen. 93 Im Dienste des Kaiserhauses zeige sich Lohenstein als „begeisterter Lobredner der römisch deutschen Tradition". 94 Die Gleichsetzung Leopolds mit Augustus versteht Just als eine Rückblende auf das Trauerspiel, die das Geschehen so bestätige und bekräftige. 95 Augustus sei der „vorbildliche politische Mensch". 96 Auch Voßkamp sieht in der translatio-Idee die significatio fur das Drama. 97 Eine entscheidende Veränderung nehme Lohenstein allerdings

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Das Buch Daniel wurde im Sinne des Hieronymus-Kommentars gelesen und christliche und heidnische Vorstellungen synkretisiert. Schon dem Mittelalter galt das Römische Imperium, dessen Idee durch Karl den Großen wieder lebendig wurde, als eine Vorstufe zur Erlösung durch das christliche deutsche Reich, Augustus als ideale Herrscherfigur und als Präfiguration Christi. Die deutschen Kaiser trugen seit Otto dem Großen den Titel Dei gratia imperator Augustus. Vgl. dazu Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 137f. Daß eschatologisch die Macht rechtmäßig auf Habsburg übertragen werde, geht auf Enea Silvio Piccolomini zurück (vgl. ebd., S. 139). Im 17. Jahrhundert wird diese Vorstellung auch von Saavedra Fajardo wieder aufgenommen. Vgl. dazu Schings: Constantia und Prudentia, S. 436. Eine sehr ausfuhrliche Darstellung zur Tradition der translatio imperii im Mittelalter gibt Judith Popovich Aikin: The Mission of Rome in the Dramas of Daniel Casper von Lohenstein. Historical Tragedy as Prophecy and Polemic. Stuttgart 1976, S. 62-82.

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Just: Die Trauerspiele Lohensteins, S. 116. Ders.: Lohenstein und die afrikanische Welt. Vorrede: Daniel Casper von Lohenstein. Afrikanische Trauerspiele, S. VIII-XX, hier S. XVI. Ebd., S. 120. Ebd., S. 115. Ders.: Die Trauerspiele Lohensteins, S. 155. Vgl. Voßkamp: Daniel Casper ν. Lohensteins Cleopatra, S. 68.

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vor, da es nicht mehr der christliche Gott sei, der die Geschichte lenke, sondern das Verhängnis (vgl. etwa Cleop. V. 415, 453f.). Dieses gewähre demjenigen Macht und Herrschaft, der sich durch virtus und prudentia auszeichne. 98 Da Augustus einerseits im Sinne der Staatsräson handele, sich andererseits in Übereinstimmung mit dem Verhängnis und der Geschichtstheologie befinde, gelte er als „Vorbild". 99 Die /ra«.s7a/z'o-Konstruktion nutze Lohenstein „im Sinne aktueller politischer Forderungen" an Leopold, indem an diesen der „Anspruch" gestellt werde, staatskluge Politik zu betreiben.100 Die Viermonarchienlehre bildet auch in dieser Interpretation den geeigneten Hintergrund für Lohensteins politische Teleologie und fur die „Verherrlichung Österreichs". 101 Ebenso weist Schings auf die translatio imperii-Idee hin, die das Gerüst für Lohensteins Panegyrik liefere, ohne aber auf die Problematik der emblematischen Struktur einzugehen. Die Viermonarchienlehre erkennt Schings als geeignetes Mittel, Kaiser Leopold poetisch zu glorifizieren. 102 Schings' These eines Gattungswechsels zwischen Gryphius' und Lohensteins Trauerspielen impliziert auch hier eine einseitige Interpretation der Hauptfigur Augustus. Diesen betrachtet Schings als idealen Herrscher, der Macht, Glück und Tugend in einer Person vereinige. 103 Eine ernsthafte Diskussion um die emblematische Struktur in Lohensteins Dramen umgeht Behar. Für ihn stellt sich vor allem in der Cleopatra „le rapport emblematique possible des choeurs aux actes" vollkommen unproblematisch dar: „Les choeurs ont ainsi pour fonction de reveler le sens profond de Taction. C'est dans Cleopatra que ce rapport parait, car c'est lä qu'il est sans doute le plus pur f...]."104 Die translatio imperii und die Universalgeschichte bildeten die Schlüssel zum Werk, die den Schlußreyen erklärten. 105 Das Drama liest Behar vor diesem Hintergrund allegorisch als die Überwindung des Morgenlandes, d. h. der Türkengefahr, durch das

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Ebd., S. 75. Ebd., S. 77. Gleichwohl räumt Voßkamp ein, daß es zur „Konfrontation mit moralischen Normen" komme, die „Irritation" zurücklasse (ebd., S. 78). Zur Figur des Augustus vgl. auch ders.: Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein, S. 187 und S. 213. Ders.: Daniel Casper ν. Lohensteins Cleopatra, S. 78. Ebd., S. 190. Laut Voßkamp variiert Lohenstein das Konzept etwas, da er Deutschland und Österreich nicht mehr als Ausformung des ehemals Römischen Imperiums begreife, sondern als „neue eigenständige Welt" (ebd., S. 188). Auch Fülleborn (Die barocke Grundspannung Zeit-Ewigkeit in den Trauerspielen Lohensteins) ist der Ansicht, daß die translatio-Vorstellung die Trauerspiele Lohensteins in einen größeren Zusammenhang einbette (vgl. S. 20). Von einem direkten Gattungswechsel zwischen Gryphius' und Lohensteins Tragödien sprechen Voßkamp und Fülleborn allerdings nicht. Ebd., S. 425. Ebd., S. 428. Behar: Silesia Tragica. Bd. 1, S. 236. Vgl. Behar: Silesia Tragica. Bd. 1, S. 339.

173 Abendland 106 und als „tout entier une louange des Habsbourgs", auch wenn die Augustus-Figur gerade der Erstfassung noch machiavellistische Züge trage.107 Bettet Lohenstein aber tatsächlich das Trauerspiel, wie auch Titzmann unterstreicht, „in die Ideologie der ,Translatio imperii' ein, die auf das Haus Habsburg" hinausläuft? 108 Immerhin, so muß auch Titzmann einräumen, gerät Kaiser Leopold als „Überbietung [...] der als positiv gesetzten Figuren" - womit Augustus gemeint ist - in einen „moralisch mehr als bedenklichen Kontext". 109 Nach dieser Erkenntnis ist Titzmanns weitere Ausführung nicht logisch nachvollziehbar, daß die translatio-Idee ein „beruhigend-integrativer Kontext" sei, in den Lohenstein sein Trauerspiel stelle.110 Daß dieser Kontext aufgrund der negativen Figurenzeichnung nicht so beruhigend und integrativ ist, wird von anderer Seite zu Recht ernster genommen als von Titzmann, der die moralische Bedenklichkeit der Handlung nur vage andeutet. Dem Versuch, das Herrscherlob durch einen Funktionswechsel zu erklären und es in diesem Sinn in Einklang mit der emblematischen Struktur des barocken Trauerspiels zu bringen, steht ein anderer Lösungsansatz gegenüber: den Panegyricus als Appell an die Habsburgische Macht zu verstehen und nicht als deren Glorifizierung. Maßgeblich vertreten Spellerberg und Wiehert die These einer Appellfunktion des Reyen, was wiederum Konsequenzen für die Interpretation des Augustus hat. Dabei setzen sich die Interpreten auf verschiedene Weise mit der translatio-Idee auseinander. Spellerberg betont, daß auch die drei Schlußreyen, die eine laudatio enthalten, gemäß der emblematischen Struktur „überhaupt nichts Äußerliches" seien.111 Die laudatio stelle ein „Ideal" dar, das weit von seiner Verwirkli-

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Ebd., S. 340. Ebd., S. 48. Für Gillespie (Daniel Casper von Lohenstein's Historical Tragedies) fallt der Reyen deutlich aus der emblematischen Struktur heraus. Er bilde ein eigenständiges, dem übrigen Drama nicht inhärentes Element, das einzig die Funktion des Herrscherlobs zu erfüllen habe: „We can say that in so far as such choruses merely flatter a contemporary audience, they are not integral even to seventeenth-century tragedy. But they have other functions as well. They are political mirror to propagandize right action on the part of princes and society, and they stir awareness of history as a relentless process of change" (S. 10). Auch Verhofstadt (Daniel Casper von Lohenstein: Untergehende Wertwelt oder ästhetischer Illusionismus) interpretiert den Reyen als einen dem Trauerspiel nicht „wesensverbundenen Teil" (S. 279), im Gegensatz zu Gillespie spricht er ihm aber auch jede weitere Bedeutung, etwa die eines Panegyricus, ab. Die These einer ästhetischen Aushöhlung aller Werte, die Verhofstadts Arbeit zugrunde liegt, betrifft so auch diesen Reyen, der als unbedeutende Zutat eines Dichters angesehen wird, dessen politischer Standpunkt nicht definiert werden könne (vgl. ebd., S. 254). Titzmann: „Verstellung". Semiotische, anthropologische, ideologische Implikationen im Drama des deutschen Barock, S. 552. Ebd. Ebd. Spellerberg: Verhängnis und Geschichte, S. 209.

174 chung entfernt vorgestellt werde. So könne sie ihre eigentliche Funktion erhalten, ein „Postulat" zu formulieren. 112 Aus geschichtsphilosophischer und theologischer Perspektive bedeute die Erfüllung dieses Postulats die Vereinigung von Tugend, Glückseligkeit und Macht, die das Trauerspiel selbst noch als unvereinbar darstelle. 113 Die translatio imperii-ldee und ihre Ausdeutung durch Luther bildeten den Konsens dieser significatio, daß Tugend und Macht sich nicht in der zeitlichen Geschichte, sondern „in einem neuen Gnadenstand" vereinigten. 114 Aufgrund dieses geschichtstheologischen Postulats bezeichnet Speilerberg die Huldigung an die Habsburger, die in manchen Reyen vollzogen wird, als „unbedeutend". 115 Gegen Speilerbergs an sich einläßliche Interpretation ließe sich einwenden, daß er sie hauptsächlich an dem Schlußreyen des Ibraim Sultan vorführt, wo sie - im Verein mit dem Prolog - ausgezeichnet funktioniert. Von der Versöhnung von Macht, Tugend und Glück ist dort ausdrücklich die Rede (vgl. Ibr. Suit. V. 919-926). In der Sophonisbe hingegen ist sie im Schlußreyen an keiner Stelle vorweggenommen, bleibt also imaginär. Immerhin ist allerdings die „Tugend" im letzten Reyen der Cleopatra die den machterfüllten Herrscher krönende Eigenschaft (vgl. Cleop. V. 501). Für die Cleopatra gilt nach Spellerberg die Versöhnung der Instanzen Macht und Tugend als geschichtstheologische Vision und als significatio, deren Hintergrund die translatio-Idee liefere. Diese significatio beinhalte, wie etwa der Reyen in der Catharina, zusätzlich eine paränetische Funktion: einen Appell an den Herrscher Leopold, ein besserer Herrscher zu sein als Augustus. Diesen nämlich durch die Gleichsetzung mit Leopold als positive Figur zu betrachten, sei eine „nicht vom Autor nahegelegte Wertung". 116 Auch für Wiehert trägt der Panegyricus im Reyen Appellfunktion, allerdings lehnt dieser die Verbindlichkeit der Viermonarchienlehre ab.117 Lo-

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Ebd., S. 209. Alt (Begriffsbilder) scheint sich Spellerbergs Interpretation anzuschließen, wenn er ausgehend von dem Schlußreyen der Sophonisbe festellt, daß der allegorische Reyen bei Lohenstein ein „Kontrastbild" zum lasterhaften dramatischen Geschehen entwerfe und einen „positiven Wertehorizont" vorzeichne (S. 272). Spellerberg: Verhängnis und Geschichte, S. 215, vgl. S. 179; Gerhard Pastemack (Spiel und Bedeutung. Untersuchungen zu den Trauerspielen Daniel Caspers von Lohenstein. Diss., Hamburg 1971) stimmt Spellerbergs Interpretation zu, wenn er davon spricht, daß die Tugend den metaphysischen und ethischen Überbau bilde. Die Schlußreyen transzendierten so mit dem impliziten oder expliziten Hinweis auf die Tugend das „pragmatische Ende" (S. 77). Spellerberg: Lohenstein als politischer Dichter, S. 269. Vgl. ähnlich Jung: Daniel Casper von Lohensteins Cleopatra, S. 164f. Ders.: Barockdrama und Politik, S. 158. Aikin (The Mission of Rome in the Dramas of Daniel Casper von Lohenstein) bezeichnet Augustus als „prefiguration inferior to Leopold" und Leopold als „fulfillment of the shadow or promise of Augustus' deeds" (S. 220). Daß diese Ideologie ihren Einfluß und ihre Glaubwürdigkeit seit dem 16. Jahrhundert verlor, lag an der empirisch ausgerichteten und praxisorientierten Jurisprudenz der Zeit,

175 hensteins eigentlich antiabsolutistisch ausgerichtetes Drama bestätige im Panegyricus nicht eine vergangene Ideologie, sondern gebrauche diese nur noch als Konvention. 118 Zu dem konventionellen Charakter trete aber auch ein appellatives Element, da Panegyrik im Verständnis der Zeit die „Verbindung von Herrscherlob und Eigenerwartung" sei.119 Die Widmung der Cleopatra an den republikanisch gesinnten Breslauer Senat und die Gleichung Augustus/Leopold schlössen sich nicht aus. Die Darstellung des Augustus impliziere eine „Kritik an absoluter, das natürliche Recht der Völker mißachtender Machtpolitik", die Gleichsetzung einen „Appell an Leopold", dieses Recht mehr zu achten und die Eigenständigkeit der Stadt Breslau zu wahren. 120 Wiehert versteht die laudatio offensichtlich als Element politischer Taktik. Er bezweifelt, daß die Idee der Viermonarchienlehre die Grundlage für die significatio bildet. Daß so auch die emblematische Struktur des barocken Trauerspiels in Gefahr gerät, diskutiert er leider nicht. Fassen wir zusammen: Der Streit um die significatio hat im wesentlichen zwei divergierende Parteien auf den Plan gerufen. Die eine sieht den Reyen als Element einer reinen Widmungspolitik an die Adresse der Habsburger. Dies impliziert eine rein positive Bewertung der Figur des Augustus. Die andere versteht die Zeichnung des römischen Kaisers und die laudatio als Appell an die herrschende Macht, Augustus als eine Negativfolie, die nicht zur aemulatio, sondern zu einem anderen Handeln aufrufe. Die Gleichsetzung Leopolds mit Augustus wäre kein Kompliment an die herrschende Macht, sondern besäße paränetische Funktion. Wenn die traditionelle Lohensteinforschung den Reyen mit einem Funktionswandel erklärt und auf eine positiv intendierte Zeichnung des Augustus schließt, übersieht und

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die im Verein mit der Ausbildung der Nationalstaaten und Territorialstaaten die Lehre von der Souveränität der Fürsten in den Mittelpunkt stellte. Die Vorstellung eines Heiligen Römischen Reiches mit dem Kaiser als zentraler Instanz mußte zwangsläufig ins Wanken geraten. Vgl. etwa Michael Maurer: Geschichte und gesellschaftliche Strukturen des 17. Jahrhunderts. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts, S. 18-99, hier S. 18-20. Bodin war einer der ersten, der auch aus nationalem Interesse gegen die Idee der translatio zu Felde zog. Als die Habsburger sich anschickten, sich auf diese berufend eine Universalmonarchie zu errichten, trafen sie auf breite Kritik, der sich auch Leopold stellen mußte: Vgl. ausfuhrlich Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 140145. Vgl. Thomas Borgstedt: Scharfsinnige Figuration. Zur Semantik des Herrscherlobs bei Lohenstein. In: Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik. Hrsg. von Volker Bohn. Frankfurt am Main 1988, S. 206-235, hier S. 213. Vgl. auch ders.: Reichsidee und Liebesethik, S. 23. Vgl. Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 149. Ebd., S. 151. Vgl. auch Borgstedt: Scharfsinnige Figuration, S. 207. Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 152. In bezug auf den letzten Reyen schließt sich auch Rudolf Furrer (Vernunft und Leidenschaft in der Erstfassung des Trauerspiels „Cleopatra" von Daniel Casper von Lohenstein. Diss., Zürich 1970) der These einer Appellfunktion an; von „liebedienerischer Verherrlichung" des Habsburgischen Kaisers könne keine Rede sein (S. 86). Voßkamp (Daniel Caspers v. Lohensteins Cleopatra) meint, die Widmung an den Breslauer Senat bei gleichzeitiger laudatio deute Lohensteins „prekäre politische Zwitterstellung" an (S. 78).

176 nivelliert sie tatsächlich Schwierigkeiten, die sich textimmanent ergeben. So ist, wie sich noch zeigen wird, die Gleichung Leopold/Augustus „nicht unbedingt schmeichelhaft". 121 Jede Partei kann auf ihre Weise den translatioGedanken fur ihre Argumentation fruchtbar machen. Die Einordung des Reyen in eine Panegyrik, die einerseits der Konvention gerecht wird und andererseits appellative Kritik enthält, wie Spellerberg und besonders Wiehert sie vornehmen, überzeugt allerdings eher. Besonders wichtig kann Wicherts Hinweis werden, daß die alte Ideologie der Herrschaftsübertragung schon längst an Relevanz eingebüßt hat. Damit entfallt aber die Bedeutung dieser Ideologie für die signifeatio des Trauerspiels. Es besteht aber die Möglichkeit, daß Lohenstein sich ihrer bedient, um die Aufmerksamkeit vom, wie sich zeigen wird, eigentlichen Stein des Anstoßes abzulenken. Er webt in den prophezeiten Ablauf der Geschichte einen Mythos. Der Hinweis auf Tiphys (Cleop. V. 496) läßt keinen Zweifel daran, daß es sich bei diesem Mythos um die Argonautenfahrt handelt. Die Erwähnung des Tiphys, des legendären Steuermanns der Argo, fallt aus dem Rahmen, weil er Figur einer mythischen Erzählung ist. Allein dieser Tatbestand wäre noch kein Grund dafür, die laudatio in Zweifel zu ziehen, wenn nicht Lohenstein selbst verhüllt zum Ausdruck brächte, auf welche Version des Mythos er sich bezieht. Lohenstein überträgt Verse aus der Senecaischen Interpretation der Argonautenfahrt, aus der Tragödie Medea (vgl. Cleop. V. 492^94).' 2 2 Er kommentiert diese Passage in seinen Anmerkungen und verweist auf die entsprechenden Verse aus dem zweiten Chorlied. Für die Herrschaft der Habsburger kenne der „Himmel keinen Endigungs-Zirckel / di Erde keine Gräntzen [...]. Hieher und besonders zu der neuerfundenen Welt und andern Inseln / so dem Hause Oesterreich unerthan sein / gehören di nachdenklichen Wortte Senecae in Medea". 123 Folgende Verse werden zitiert: Venient annis Secula seris, quibus Oceanus vineula rerum laxet, & ingens Pateat Tellus, Tiphysque; novos Detegat Orbes; nec sit Terris Ultima Thüle. 124

Indem Lohenstein in die laudatio kaum merklich den Mythos der Argonautenfahrt einflicht und mit dem Hinweis auf Senecas Medea eine bestimmte

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Brenner: Das Drama. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts, S. 555. Lediglich Juretzka (Zur Dramatik Daniel Caspers von Lohenstein) weist in einer kurzen Anmerkung auf diese Besonderheit hin (vgl. S. 205, Anm. 20). von Lohenstein: Cleopatra. Trauerspiel, Anmerkungen S. 173. Ebd.; vgl. Sen., Med. 375-379.

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Interpretation des Mythos einbringt, verwendet er einen Kunstgriff. Seneca deutet nämlich die Argonautenfahrt als Frevel, als Ausdruck menschlicher Selbstüberschätzung und einer curiositas, die die Rechte des Meeres verletzt (vgl. Med. 614f.). Diese Deutung wirft am Ende des Dramas ihren Schatten auf die zeitliche Geschichte, auf die Idee der translatio imperii und auf die laudatio. Meine Argumentation geht von der These aus, daß das Prinzip der emblematischen Struktur nicht durch die Idee der translatio imperii gewahrt wird, die im 17. Jahrhundert längst angefochten ist, sondern durch den Mythos der Argonautenfahrt. Dieser tritt nicht nur in Konkurrenz zur translatio, sondern übt, in Senecas Version, an dieser Ideologiekritik. Nicht die laudatio, das „Ausspielen Österreichs gegen Rom" ist die „Pointe" des Dramas, 125 sondern der Mythos, der von einem scheinbar objektiven, aber auch versteckten Standort aus die Idee der translatio nicht nur in Zweifel zieht, sondern auch als Konstrukt entlarvt. Es wird sich zeigen, daß Lohenstein selbstverständlich nicht ohne Bedacht Senecas Deutung des Mythos als eines zivilisatorischen Frevels gewählt hat. Vor dem Hintergrund des Senecaischen Dramas soll deutlich werden, daß das Zitat aus der Medea mehr ist als ein Kabinettstückchen des poeta doctus. Im folgenden seien die intertextuellen Bezüge zwischen der Cleopatra und der Medea aufgedeckt und untersucht, auf welche Weise der antike Mythos in Senecaischer Ausdeutung fähig ist, die bisher geglaubte significatio der translatio-Idee in ihren Grundfesten zu erschüttern, und warum sich Lohenstein dennoch seiner bediente. Die Argumentation gliedert sich in drei Bereiche. Zunächst ist es notwendig, die besondere Stellung hervorzuheben, die Senecas Deutung des Mythos in der Antike einnimmt. In einem zweiten Schritt wird dargestellt, auf welche Weise diese Deutung in die Cleopatra einfließt und die Figurenzeichnung des Augustus bestimmt. Nach diesen Überlegungen seien drittens die hermeneutischen Implikationen betrachtet, die sich für das Wesen der Allegorie besonders im letzten Reyen ergeben. Der Senecaische Mythos, der die Selbstermächtigung des Menschen über die Natur kritisiert, wirft die Frage auf, ob die translatio tatsächlich unzweifelhaft den „positiven Wertehorizont" des Dramas bietet, wie Alt behauptet.126 Sowohl inhaltlich als auch formal ergeben sich hiergegen gewichtige Einwände. Zum einen kann, wie gezeigt, inhaltlich die Kraft der von Alt vielbeschworenen Traditionsbestände hinsichtlich der translatio, im Reyen durch die Allegorie der Flüsse vermittelt, aus historischer Perspektive nicht in Anschlag gebracht werden. 127 Zum anderen wird die Einschreibung gerade dieser mythischen Erzählung in die Cleopatra die Beobachtung

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Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 138. Alt: Begriffsbilder, S. 272. Vgl. ebd., S. 31.

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stützen, die schon anhand von Gryphius' Catharina geleistet worden ist, daß die Allegorie als ein sich wandelndes und wandelbares Konstrukt menschlichen Geistes desavouiert wird. Sie stellt eine Einheit von Natur und Geschichte auf künstliche Weise her. Wiederum also wird die Aussage Alts zur Diskussion stehen, die Allegorie regiere im 17. Jahrhundert noch mit „ungebrochenem Deutungsanspruch" in mittelalterlicher Tradition.128

b) Der Mythos der Argonautenfahrt:

Polyvalenz und Wahrheit

Die Argonautenfahrt darf als der Urmythos der Zivilisation gelten und ist bis in die Gegenwart - man denke nur an Christa Wolffs Medea - beliebter Gegenstand fur literarische Bearbeitungen. Daß die mythische Erzählung um die griechischen Helden und die in ihr eingebettete Liebesgeschichte zwischen Iason und Medea der Cleopatra als eine Vorlage gedient hat, deutet nicht nur der letzte Reyen an, sondern auch die Bezeichnung der ägyptischen Königin als die „zaubernde Medea dieser Zeit" (Cleop. III. 289). Die Rolle des Iason, der ins Barbarenland zieht, um das Goldene Vlies zu holen und dabei die Zauberin Medea als lebende Beute mit nach Hause führt, übernimmt Augustus. Der Mythos um den Beginn der Zivilisation liefert die paradigmatischen Figuren für die emblematische Struktur.129 Dennoch ist es keineswegs selbstverständlich, daß Lohenstein sich Senecas Version der Medea als Folie bedient und daß er ausgerechnet Verse aus dieser Tragödie in seine sogenannte laudatio überträgt. Warum bedeutet dies eine bewußte Wahl? Daß Mythen polyvalent sein können, keine eindeutigen Antworten geben, offen sind für verschiedene Interpretationen,130 und daß „unentwegte Veränderung und Unabgeschlossenheit" zum Wesen des Mythos gehören, der sich kontextabhängig immer wieder anders präsentiert,131 beweist die Rezeption der Argonautenfahrt sowohl in der Antike als auch in der Frühen Neuzeit. Hier wie dort gilt dieser Mythos als Ausdruck einerseits des Fortschritts, andererseits der Hybris. Er wird für die Panegryik funktionalisiert oder als Mittel kulturphilosophischer Betrachtung eingesetzt. In der Antike ermöglicht er Seneca die moralische Kritik am Verfall des römischen Imperiums, die er nicht allzu offen äußern durfte. Der Philosoph nutzt auch diesen Mythos als Medium seiner pädagogischen Paränese. 128

Ebd., S. 32. Vgl. oben, S. 80. Vgl. Schöne: Emblematik und Drama, S. 113. 130 vgl. Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hrsg. von Manfred Fuhrmann. München 1971 (Poetik und Hermeneutik 4), S. 11-66, hier S. 34f. 131 Christoph Jamme: „Gott hat ein Gewand". Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt am Main 1991, S. 30. Niemals, so Jamme, gebe es einen „Originaltext" des Mythos (ebd.). 129

179 Ursprünglich verstand man den Mythos um das Goldene Vlies als Aitiologie für Naturerscheinungen. Erst auf einer zweiten Stufe erfahrt er seine Umwandlung. Er wird verwendet, um die ersten Fahrten der griechischen Schiffer in der Ägäis zu erklären.132 Der Inhalt des Mythos, wie er sich aus einer der wichtigsten Quellen, den Argonautika des hellenistischen Dichters Apollonios Rhodios aus dem dritten Jahrhundert v. Chr., rekonstruieren läßt, sei kurz skizziert. Der Grund der Argonautenfahrt ist eine Rechtsverletzung. Nachdem Pelias seinen Halbbruder Aison, den Vater des Iason, vertrieben hat, wird er König von Iolkos. Als Iason erwachsen wird, beansprucht er die Thronrechte. Pelias erfährt durch ein Orakel, daß ein Mann mit nur einem Schuh ihn töten werde. Als er dem barfüßigen Iason beim Opfern begegnet, schickt er ihn nach Kolchis mit dem Auftrag, das Goldene Vlies zu holen. Aus ganz Griechenland werden die Helden herbeigerufen, die in Pagasai die Argo besteigen. Tiphys führt das Ruder. Nach einer abenteuerlichen Reise, auf der Iason mehrere Gefährten verliert, erreichen die Helden Kolchis. Aietes, der dortige König und Medeas Vater, verspricht Iason das Goldene Vlies, falls er die ihm gestellten Aufgaben lösen könne. Medea, die ihre Zauberkünste von Prometheus erlernt hat (vgl. Sen. Med. 823f.), hilft Iason durch eine Wundersalbe. Gemeinsam schläfern sie den Drachen ein, der das Goldene Vlies bewacht, und flüchten nach Iolkos, verfolgt von den Kolchern. Auf der gefährlichen Reise werden sie schließlich von diesen eingeholt, aber freigegeben, da sie sich bereits vermählt haben. Die Argonauten kehren über Kreta und Aigina nach Iolkos zurück. Dies ist in groben Zügen der Inhalt des Mythos, wie ihn die Argonautika des Apollonios Rhodios erzählen. 133 Ein weiteres Epos über diesen Mythos verfaßte in der frühen römischen Kaiserzeit am Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. Valerius Flaccus mit seinen Argonautica, die auch auf die griechische Fassung und Vergils Aeneis als Vorbilder zurückgreifen. Beide Darstellungen, sowohl die des Apollonios Rhodios als auch die des Valerius Flaccus, zeichnen sich dadurch aus, daß sie die Expedition der Argo in den Vordergrund rücken, die als Weg zur Zivilisation gilt. Besonders die römische Version ist, in erster Linie eine Verherrlichung des Fortschrittsgedankens. Das Unternehmen der Argo ist hier eine Vorstufe der Expansion des Römischen Imperiums. Der Mythos wird „im Dienst der mit der Rom-Idee verbundenen Theorie des Kulturfortschrittes und [...] der flavischen Herrscherpanegyrik" funktionalisiert. 134

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Vgl. Art. ,Argonautensage'. In: Ausfuhrliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Bd. 1. 1, Sp. 503-537, hier Sp. 530f. Vgl. auch Alain Moreau: Le Mythe de Jason et Medee. Le va-nu-pied et la sortiere. Paris 1994, S. 158-162. Zur Übersicht vgl. etwa Lesky: Geschichte der griechischen Literatur, S. 818-823. Paul Dräger: Argo Pasimelousa. Der Argonautenmythos in der griechischen und römischen Literatur. Teil 1: Theos Aitios. Stuttgart 1993 (Paligenesia. Monographien und

180 Diese Tradition der Deutung setzt sich in der Frühen Neuzeit durch. Der Mythos der Argonautenfahrt wird zu Lohensteins Lebzeiten fur die Herrscherpanegyrik verwendet. So bildeten Elemente der Argonautenfahrt einen wesentlichen Teil des großen Roßballetts, das zu Ehren der Hochzeit Kaiser Leopolds am 24. Januar 1667 inszeniert wurde. Karl Sälzle liefert einen ausfuhrlichen Bericht dieses pompösen Schauspiels. Allegorisch stellte das Ballett den Streit der vier Elemente um Vlies und Kaiserkrone dar. Das Fest begann, indem in künstlichen Wellen ein riesiges mit Gold verziertes Schiff hereingezogen wurde, das Tritonen begleiteten. Sechzig prächtig kostümierte Argonauten bewachten auf dieser Argo Vlies und Krone. Das Fest wurde „symbolisch durch die Vereinigung des goldenen Vlieses mit der deutsch-römischen Kaiserkrone" beendet. 135 Hier diente der Mythos wie in der römischen Kaiserzeit zur „Glorifizierung des cäsarischen Divinitätsgedankens". 136 Auch die Emblematik der Frühen Neuzeit beweist, daß der Mythos durchaus positiv verstanden wurde. Iasons Tugend wird gepriesen, da er sein Ziel erreicht, reiche Beute macht und glücklich nach Hause zurückkehrt.137 Besonders die vernünftige Listigkeit, die er bei seinen Abenteuern beweist, lassen ihn, den Klugheitslehren der Frühen Neuzeit entsprechend, als Vorbild erscheinen. Iason wird die wahre sapientia zugesprochen, die seinem Mut und seiner Kraft das vernünftige Maß verleihe. 138 Im Gegensatz zu dieser Deutung ist aber auch die Senecaische Version geläufig. Die inscriptio eines Emblems, das die Argo bei ihrer Ankunft in Kolchis zeigt, verwirft ganz im Sinne stoischer Philosophie die Fahrt als Ausdruck des eitlen Strebens nach vergänglichen Gütern, den bona caduca. In der subscriptio werden die occupati getadelt, indem sie mit Iason verglichen werden: Ihr sucht die Perlen auf dem Meeresgrunde und öffnet den Leib eurer Mutter Erde auf der Suche nach Gold und Silber, reist durch tausend barbarische, fremde Länder und gleicht dabei einem neuen Jason, der mit List und Tücke auf der Suche nach dem zweiten Vlies des Reichtums ist. Bedenkt, daß es nichts weiter als ein hinfällig Ding und elende Schlacke ist, und sucht statt dessen den Schatz der ewigen Glückseligkeit! 139

Dieses Emblem deutet den Mythos aus christlich-stoischer Sicht. Die Deutung folgt dem Weg, den Seneca beschritten hat.

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Texte zur klassischen Altertumswissenschaft 43), S. 372. Als Mittel fur die Herrscherpanegyrik an die Adresse des kyrenischen Geschlechts der Battiaden wird der Mythos auch bei Pindar in der vierten pythischen Ode verwendet. Vgl. Pindar: Oden. Griechischdeutsch. Übersetzt und hrsg. von Eugen Dönt. Stuttgart 1986, S. 111-135. Alewyn / Sälzle: Das große Welttheater, S. 105. Ebd. Vgl. auch Franz Hadamowsky: Wien. Theatergeschichte. Von den Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Wien, München 1988, S. 148f. Vgl. Schöne: Emblemata, Sp. 1454. Vgl. ebd., Sp. 1639. Ebd., Sp. 1637f.

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In Anlehnung an Seneca, jedoch differenzierter und subtiler, interpretiert Martinus a St. Brunone die Argonautenfahrt in seiner Gedichtsammlung Vertumnus Vanitatis aus dem frühen 18. Jahrhundert. In der Bild-TextKomposition folgt der Illustration ein längeres Gedicht. Das Bild zeigt nicht Tiphys, sondern Odysseus, der am Mast gefesselt, mit von den Sirenen abgewendetem Kopf dargestellt ist. Überschrieben ist es mit den Worten Cave; ne te fascinet Oda.m Den Gesang der Sirenen vergleicht Martinus mit den eitlen Verlockungen der Welt. Odysseus ist ein Vorbild, da er listig der Verlockung entgangen ist.141 Im Gegensatz zu diesem, der schlau und verschlagen sei, „versutus", 142 wird der Steuermann der Argo als „malecaute Tiphy" bezeichnet, der wegen seiner voluptas Schiffbruch erlitten habe.' 43 In diesem Sinne wird er noch mehrmals angesprochen. Tiphys fungiert im Gegensatz zu Odysseus als negatives Exempel, da er sich allzusehr seinem Affekt der Neugierde hingegeben hat und zu unvorsichtig war. Er wurde das Opfer der Natur, die aber - so könnte eine der vielen Botschaften in diesem Gedicht lauten - mit Vorsicht, List und Tücke hätte besiegt werden können. Obwohl Martinus' Mythenallegorese die vorbildliche Listigkeit des schlauen Odysseus preist, scheint dennoch die Deutung zu dominieren, daß die angestrebten Güter vana seien. Insofern wäre die paränetische Adhortatio auch an Odysseus gerichtet, sich gar nicht erst in die Gefahr der Verlokkung zu begeben. Mit seiner Tiphys-Deutung fuhrt Martinus jedenfalls im Grunde die Tradition weiter, die das letztbesprochene Emblem des Iason favorisiert und die der Senecaischen Version nahekommt. Seneca stellt zunächst, wie Euripides in seiner Medeia aus dem Jahre 431 v.Chr., nicht die Fahrt nach Kolchis ins Zentrum seiner Tragödie, sondern die Figur der Medea und ihre Rache an Iason. Sein Vater Aison war während seiner Abwesenheit von dem Halbbruder Pelias gezwungen worden, auf den Thron zu verzichten und Selbstmord zu begehen. 144 Iason mußte vor Pelias nach Korinth fliehen, um dort Asyl zu suchen. Ort der Handlung ist der Königspalast in Korinth, wo Medea leidend die Untreue Iasons erleben muß. Dieser will Kreusa, die Tochter des korinthischen Königs, zur Frau nehmen. Der Rest ist bekannt. Medea schickt Kreusa ein mit Gift getränktes Kleid, woraufhin der ganze Palast in Flammen aufgeht. Anschließend tötet Medea im furor ihre eigenen Kinder. Aufgrund der fas-

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Martinus a St. Brunone: Vertumnus Vanitatis. In metrorum schemata poesi morali trigesies transformatus. Editio posterior, priore amplissime auctior et insuper XXXII figuris aeneis illustrata. Augsburg 1725, S. 146. Nach dem Gedicht lehrt Odysseus, wie man mit Betrug den trügerischen Reizen der Weltlichkeit entgeht. Vgl. ebd., S. 147f. Ebd., S. 150. Ebd. Zu Martinus vgl. auch Michael Schilling: Imagines mundi. Metaphorische Darstellung der Welt in der Emblematik. Frankfurt am Main 1979, S. 172. Nach anderer Version wurde er von Medea für eine angebliche Verjüngungskur mit Hilfe seiner Töchter gekocht.

182 zinierenden und feinen psychologischen Darstellung dieses furor wird die Medea als „Tragödie des Zorns" bezeichnet, die ihre theoretische Fundierung in Senecas Schrift De ira finde.145 Das Drama könnte als psychologische Studie gelesen werden. Die Protagonistin wäre als ein Gegenentwurf zum stoischen sapiens zu sehen146 und ihre Entwicklung gälte als „Warnung".147 Dies ist aber nur eine Facette stoischer Paränese ex negativo in dieser Tragödie. Nicht der feinsinnig dargestellten Entwicklung der Rache soll die Aufmerksamkeit geschenkt werden, sondern der Kommentierung des gesamten Mythos in den Chorliedern und der Relevanz der mythischen Erzählung für die Kulturphilosophie. Diesen Aspekt rückt neuerdings Boyle in den Mittelpunkt seiner Interpretation. Er deutet den Argonautenmythos als Bestandteil einer „negative critique of the development of civilisation" bei Seneca.148 Von dieser Warte aus ist Medeas furor das Resultat eines kulturellen Frevels.

c) Die Lieder vom Fluch der Zivilisation: Tiphys, der Frevler an der Natur Wie bereits erwähnt, beendet Lohenstein sein Drama Cleopatra mit der Übertragung der Verse aus dem zweiten Chorlied der Medea. Dieses liefert die wesentlichen Anhaltspunkte für die Deutung des Mythos. Aus dem Blickwinkel dieses Chorliedes fallt ein Schatten auf die laudatio. Besonders die Linienführung von Augustus und Leopold bis zu Tiphys, der mit dem schiffbrüchigen Magellan verglichen wird, gibt zu denken, wenn man den Senecaischen Prätext nicht nur als Mittel spielerischer Allusion, sondern auch mit seinem gesamten philosophischen Hintergrund ernst nimmt. Im zweiten Chorlied der Medea, das losgelöst von dem eigentlichen dramatischen Geschehen das Initialereignis für die tragische Katastrophe in den Blick nimmt,149 steht das Unternehmen der Argo im Kontext einer Schiffahrtstechnik, die lehrt, sich die Gegebenheiten der Natur für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Das Lied wechselt zwischen allgemeineren Betrachtungen zur Seefahrt und der mythischen Erzählung. Die Anfange einer 145

Gregor Maurach: Iason und Medea bei Seneca. In: Senecas Tragödien, S. 292-320, hier S. 294. Vgl. auch Eckard Lefevre: Die Transformation der griechischen durch die römische Tragödie am Beispiel von Senecas Medea. In: Tragödie. Idee und Transformation. Hrsg. von Hellmut Flashar. Stuttgart und Leipzig 1997 (Colloquium Rauricum 5), S. 6583, hier S. 76f. Zur Entwicklung des Racheplanes und des furor vgl. Wolf Steidle: Medeas Racheplan. In: Senecas Tragödien, S. 286-291. 146 Vgl. Maurach: Iason und Medea bei Seneca, S. 319. 147 Walter Pötscher: Dolor und Malum in Senecas Medea. In: Grazer Beiträge 6, 1977, S. 5366, hier S. 65. 148 Boyle: Tragic Seneca. An Essay in the Theatrical Tradition, S. 126. 149 vgl. Alberto Gil: Die Chorlieder in Senecas Tragödien. Eine Untersuchung zu Senecas Philosophie und Chorthemen. Diss., Köln 1979, S. 130.

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primitiven Küstenseefahrt {Med. 301-317), die Erinnerung an das Goldene Zeitalter (329-339) und die Utopie einer durch die Schiffahrt neu erschlossenen Welt (364-379) bilden den Rahmen für den Mythos der Argonautenfahrt (318-328, 339-363). Die ersten Verse beschreiben zunächst den Frevel des ersten Schiffers, der es wagte, sich so weit von der Küste zu entfernen, daß er sie aus den Augen verlor, weil er ,allzu kühn', „audax nimium" war (301). In ihren Anfangen wurde die Schiffahrt als sicher betrachtet, solange man die natürliche Grenze der Küste noch mit den eigenen Augen sehen konnte. War der Blick auf das heimatliche Gestade nicht mehr gegeben, so geriet man unweigerlich in Todesgefahr, wenn man es nicht gelernt hatte, die Gesetzmäßigkeiten der Natur zu funktionalisieren, um zu überleben. Eine noch unzureichende Technik - man fuhr auf zerbrechlichen Kähnen - führte ständig in die Nähe des Todes. Das Verhältnis zu den Naturgewalten war allerdings unmittelbarer: Audax nimium qui freta primus rate tarn fragili perfida rupit terrasque suas posterga videns animam levibus credidit auris, dubioque secans aequora cursu potuit tenui fidere ligno inter vitae mortisque vices nimium gracili limite ducto. Nondum quisquam sidera norat, stellisque, quibus pingitur aether non erat usus, nondum pluvias Hyadas poterat vitare ratis, non Oleniae lumina caprae, nec quae sequitur flectitque senex Attica tardus plaustra Bootes, nondum Boreas, nondum Zephyrus nomen habebant. (Med. 301-317) 150

Diese allgemeine Betrachtung leitet die mythische Erzählung ein, die mit der Erwähnung des Steuermannes Tiphys beginnt. Schon der Anfang dieses Abschnitts (318-327) läßt keinen Zweifel daran, wie dessen Tätigkeit beurteilt werden soll. Er ist waghalsig, weil er der Natur durch die Kunst des Segeins neue Gesetze vorschreibt: Ausus Tiphys pandere vasto carbasa ponto legesque novas scribere ventis: [...]. (Med. 318-320)

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Zum Motiv der ersten Schiffahrt vgl. auch Horaz: Carm. 1.3.9-16. Zitiert wird nach: Quintus Horatius Flaccus: Opera. Ed. D. R. Shackleton Bailey. Stuttgart, 2. Aufl. 1991.

184 Die Technik der Seefahrt ist mittlerweile so ausgefeilt, daß auch die Winde, die ehemals zum Verderben führten, genutzt werden können. Nicht herrscht die der Schiffahrt gemeinhin immanente Kritik an ihrem „Verfehlungsschritt ins Ungemäße und Maßlose" vor,151 sondern an jener Versündigung, die aus der Umformung der Natur, deren Gesetzmäßigkeiten auf ihre Nutzbarkeit reduziert werden, resultiert. Dieser Nutzen natürlicher Ressourcen basiert auf dem Bruch des natürlichen Rechts, da jetzt der Natur neue Gesetze vorgeschrieben werden. 152 Die Natur wird so umgestaltet, daß sie in ihrer Ursprünglichkeit und als Ort der Gotteserkenntnis nicht mehr wahrzunehmen ist. ,Allzu begierig', „avidus nimium" (326) ist der Steuermann Tiphys, da er wünscht, sich jeden Wind für seine Zwecke nutzbar zu machen (vgl. 325-327). 153 Durch diese Wendungen steht die Argonautenfahrt im Zeichen des Frevels an der Natur, den die menschliche Schwäche der Neugierde und der Habsucht, der curiositas und der avaritia, auslösen. Im nächsten Abschnitt geht Seneca auf die allgemeinere Ebene des Liedanfangs zurück. Die Beurteilung des Mythos ist eindeutig. Mit der Argonautenfahrt endete das friedliche goldene Zeitalter. In diesem herrschte noch kein Betrug. Jeder befuhr vorsichtig seine eigenen Küsten und wurde dort alt, wo er geboren wurde. Nur die Reichtümer, die ein jeder zu Hause erwarb, galten als echter Besitz. Die einst weise verteilten Gesetze der Welt wurden durch die Fahrt der Argo in eine andere Ordnung gebracht: Candida nostri saecula patres videre procul fraude remota. sua quisque piger litora tangens patrioque senex factus in arvo, parvo dives, nisi quas tulerat natale solum, non norat opes. Bene dissaepti foedera mundi traxit in unum Thessala pinus iussitque pati verbera pontum partemque metus fieri nostri mare sepositum [...]. {Med. 329-339)

Die Bezeichnung „Thessala pinus" (336) meint die Argo selbst.154 Diese gilt in der ganzen Antike als das erste Schiff, das sich in unbekannte Meere wagte (vgl. etwa Ovid, Met. 6. 721). Das Fällen der Bäume zum Zwecke 151 152 153

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Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 11. Vgl. Boyle: Tragic Seneca. An Essay on the Theatrical Tradition, S. 127. Da hier bereits die Verletzung der Naturgesetze im Mittelpunkt der Kritik steht, ist die Vermutung Gils (Die Chorlieder in Senecas Tragödien) zu bezweifeln, daß Tiphys „objektiv die Leistung zugesprochen" werde, „Fortschritte in der Fahrtechnik und neue Entdeckungen gemacht zu haben", gleichzeitig aber seine Tat als „Wagnis" und Resultat seiner „Besitzsucht" erscheine (S. 131). Die Argo, benannt nach ihrem Konstrukteur Argos, wurde im thessalischen Pegasai mit Holz aus dem Peliongebirge erbaut. Beraterin war die Göttin Athene, die ein Stück wahrsagendes Eichenholz in den Bug einsetzen ließ.

185 des Schiffbaus ist eine symbolische Tat, die den Beginn der Zivilisation anzeigt: „La chute du premier pin qui servit ä construire Argo, l'entree du navire dans les flots et le voyage lui-meme deviennent le Symbole de la transgression, la cause premiere des malheurs de Medee et meme des malheurs de l'humanite [,..]."155 Im folgenden wird die Argo als „improba" bezeichnet (340), die schwere Strafen für ihr Vergehen büßen mußte. Selbst der mutige und kluge Steuermann Tiphys erleidet bei der gefahrvollen Fahrt durch die Symplegaden, auf die Seneca anspielt, einen Schwächeanfall. Dedit ilia graves improba poenas per tarn longos ducta timores, cum duo montes, claustra profundi, hinc atque illinc subito impulsu velut aetherio gemerent sonitu, spargeret arces nubesque ipsas mare deprensum. Palluit audax Tiphys et omnes labente manu misit habenas, [...]. (Med. 340-347)

Diesen Sturm überlebt Tiphys. Kurze Zeit später allerdings, als die Argonauten in Bithynien Station machen, verlieren sie ihren Seher Idmon auf der Jagd. Während der Totenklage stirbt Tiphys an einer Krankheit. Dieser Tod wird im dritten Chorlied, das die Opfer der Fahrt aufzählt (vgl. 616-660), 1 5 6 ausdrücklich als Strafe verstanden, als „penalty for violating the laws of the world." 157 Der Tod des Steuermanns, den Seneca in der Reihe der Opfer als ersten nennt, ist eine Strafe für den Holzraub vom heiligen Gebirge des Pelion in Thessalien, für den Goldraub im Barbarenland und für die Versündigung an den Gesetzen des Meeres. Tiphys, auch einer der Goldräuber (vgl. 613), erleidet nicht nur durch den Tod seine Strafe, sondern auch da-

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Moreau: Le Mythe de Jason et Medee, S. 233. Auch Catull verwendet in seinem Carmen 64 diese Metapher im Zusammenhang mit der Argonautenfahrt; vgl. Cat. Carm. 64. 1 - 7 (zitiert wird nach: C. Valerius Catullus. Hrsg. und erklärt von Wilhelm Kroll. Stuttgart, 7. Aufl. 1989 [Griechische und lateinische Schriftsteller. Ausgaben mit Anmerkungen]). Vgl. Tibull: Carm. 1. 3. 37 (zitiert wird nach: Tibulli aliorumque carminum Libri tres. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Johannes Percival Postgate. Oxford, 2. Aufl. 1915). Vgl. auch Ovid: Met. 1. 94-96. Ausgangspunkt des dritten Chorliedes ist allerdings der sich langsam anbahnende furor der Medea, der im ersten Teil mit unberechenbaren Naturgewalten verglichen wird. Rosenmeyer (Senecan Drama and Stoic Cosmology) arbeitet den Zusammenhang zwischen dieser psychologischen Schilderung und dem langen Katalog der Argonauten, die auf der Fahrt ihr Leben ließen, heraus. Der Sinn dieser Komposition liegt laut Rosenfelder in dem Vorhaben „to weave Medea' purpose into a world experienced on a plurality of levels and to emphasize the integration of the human and the cosmic" (S. 167). Daß tatsächlich ein „mosaic of sympatheia and contagio" hergestellt wird, so daß der Aspekt des „divine punishment", das die Argonauten erleiden (ebd.), aus dem Blick gerate, ist zweifelhaft. Der Argonautenfahrt und ihren Opfem ist immerhin der größte Teil des Chorliedes gewidmet (607-669), und sie wirkt auch hier als Motivation für die Katastrophe und Medeas furor. Boyle: Tragic Seneca. An Essay in the Theatrical Tradition, S. 127.

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durch, daß er in einem fremden Land, fern der Heimat dürftig begraben liegt: Exigit poenas mare provocatum: Tiphys in primis, domitor profundi, liquit indocto regimen magistro; litore extemo, procul a paternis occidens regnis tumuloque vili tectus ignotas iacet inter umbras. (Med. 616-621)

Tiphys wird bestraft, weil er die heiligen Gesetze der Welt, die „sancta foedera mundi" (605f.), gebrochen hat. Seneca versteht Tiphys im Sinne von Vergils vierter Ekloge. Er gehört auch dort einer Welt von Kriegen an, die dem Goldenen Zeitalter folgt. Obgleich Lohenstein die Vergilische Vorlage in seinem Kommentar nicht erwähnt, ist es aufgrund der stilistischen Ähnlichkeit sehr wahrscheinlich, daß er sich auf diese bezieht. Der „andre Tiphys" (V. 496) entspricht bei Vergil dem „alter Tiphys", dessen Kommen vorausgesehen wird; eine zweite Argo wird auserlesene Helden und neue Kriege bringen: „alter erit tum Tiphys et altera quae vehat Argo / delectos heroas; erunt etiam altera bella [...]" (Ecl. 4. 34f.).158 Die Argonautenfahrt wird das urzeitliche Verbrechen genannt, die prisca fraus (vgl.Ecl. 4. 31). Wenn Lohenstein in seiner laudatio den Steuermann der Argo als Gewährsmann für die neuerschlossene Welt anfuhrt, die Leopold Untertan sein wird (vgl. Cleop. V. 496), und sich dabei auf Senecas Medea bezieht, so ist offensichtlich, daß durch das Schicksal des Tiphys der Panegyricus auf den noch lebenden Leopold und die Figur des römischen Kaisers, dem Leopold „es gleiche thut" (V. 490), ins Zwielicht geraten. Tiphys versündigt sich an der Natur, indem er ihre Gesetze verletzt und neue vorschreibt und büßt diesen Frevel schließlich mit seinem Tod, wie auch Magellan Schiffbruch erleidet. Die Welt, die den Habsburgern unterworfen wird, basiert auf der Verletzung natürlicher Gesetze. Das Ende des zweiten Chorliedes der Medea fragt nach dem Gewinn der Fahrt. Das Goldene Vlies und Medea, so heißt es ironisch, seien ein würdiger Preis, merces digna, für die Erfindung des Schiffes (vgl. Med. 361363).159 Schließlich wird der Ausblick in eine Welt gegeben, die nach dem Bruch dieses natürlichen Rechts entsteht. Das Meer erduldet nun alle Gesetze, die der Mensch ihm auferlegt. Die Argo hat viele Nachfahren gefun-

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Zitiert wird nach: Publius Vergilius Maro: Opera. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit R. Α. B. Mynors. Oxford, 10. Aufl. 1990. Hinsichtlich dieser Passage kann mit Otto Zwierlein (Die Tragik in den Medea-Dramen. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. Neue Folge 19, 1978, S. 27-63) wohl kaum von einem „Seitenhieb auf Medea" gesprochen werden (S. 48). Eher steht die philosophische Paränese im Vordergrund, die das eitle Streben nach vergänglichem Reichtum tadelt.

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den, die Meere sind übersät mit Schiffen, die alle Grenzen mißachten und der Zivilisation neues Land erschließen (vgl. 364-371). Obwohl die stoische Philosophie eigentlich den Kosmopolitismus propagiert, ist im Lichte des Argonautenmythos die neu erfundene Welt, in der keine natürlichen Gesetze mehr gelten, Produkt menschlicher Expansionsbestrebungen, die das natürliche Recht brechen. Dieser Vision einer unermeßlichen Welt, die in ständiger Veränderung begriffen ist und die nur durch die Verletzung natürlicher Grenzen entstehen kann, bedient sich Lohenstein für seine laudatio. Sie prophezeit die unendliche Vergrößerung des Habsburgischen Reiches. Nicht mehr wird das sagenumwobene Thüle „der Erde Gräntzstein sein" (Cleop. V. 494). Das zweite Chorlied der Medea birgt in sich diese Vision der „neuerfundenen Welt und andern Inseln", die „dem Hause Habsburg unterhan" sein werden, wie Lohenstein die „nachdencklichen Wortte Senecae" in seinen Anmerkungen zur laudatio kommentiert.160 Aufgrund des dahinterstehenden Mythos und der Senecaischen Deutung begreift Lohenstein in seinem Kommentar die letzten Verse des folgenden Chorliedes exakt in dem Sinne, wie Seneca sie versteht - , als ein Nachdenken über den paränetischen Gehalt der mythischen Erzählung und seiner Wahrheit: [··•], nil qua fuerat sede reliquit pervius orbis: Indus gelidum potat Araxen, Albin Persae Rhenumque bibunt venient annis saecula seris, quibus Oceanus vincula rerum laxet et ingens pateat tellus Tethysque novos detegat orbes nec sit terris ultima Thüle. (Med. 371-379) 161

Es wäre verfehlt, diese letzten Verse, als „a paean to a glorious age of seafaring that represents a triumph of human technology" zu begreifen, wie Lawall es tut.162 Vor dem Hintergrund stoischer Naturphilosophie ist „a continous yielding of nature" sicher nicht die optimistische Kunde dieser Zeilen.163 Zu Recht bestreitet Moreau, daß sie ein „new age of security not unlike the Golden Age" prophezeiten.164 Insbesondere im Verein mit dem dritten Chorlied zeige Seneca, daß „la venue d'Argo annonce au contraire la fin 160 161 162

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Vgl. oben, S. 213. Vgl. ebd. Gilbert Lawall: The Elusive Triumph of Civilization. In: Arktouros. Hellenic Studies Presented to Bernard Μ. W. Knox on the Occasion of his 65th Birthday. Ed. by Glen W. Bowersock, Walter Burkert, Michael C. J. Putnam. Berlin, New York 1979, S. 4 1 9 ^ 2 6 , hier S. 422. Ebd. Ebd.

188 de l'Age d'or et le temps du Chaos." 165 Sicher ist das zweite Chorlied, wie Maurach betont, ein „Lied vom Fluche", übrigens ohne Parallele in der griechischen Literatur.166 Es ist offensichtlich, daß Senecas Deutung des Mythos im Gegensatz zu dessen panegyrischer Funktionalisierung steht. Er signalisiert das Ende des Goldenen Zeitalters und den Beginn einer neuen, vom Menschen konstruierten Ordnung, in der die heiligen Gesetze der Welt gebrochen sind. Ohne Zweifel beurteilt die Medea die Argonautenfahrt als „criminal venture". 167 Die neue Weltordnung ist Resultat eines heidnischen Sündenfalls. Auch dieser hat, wie das Pflücken vom Baum der Erkenntnis, die curiositas und die avaritia zur Voraussetzung. Der Mythos bedeutet den unwiederbringlichen Verlust des naturgemäßen Lebens. Er ist bei Seneca Element seiner philosophischen Paränese. Warum hat sich Lohenstein dieser Version bedient, zudem er sich offensichtlich - wie der Kommentar beweist - im vollen Bewußtsein der Senecaischen Deutung befand? Die Rezeption des Mythos sowohl in der Antike als auch in der Frühen Neuzeit zeigt sehr deutlich, wie gegensätzlich und kontextabhängig er gedeutet wurde. Gerade diese Polyvalenz machte ihn flir Lohenstein attraktiv. Der Mythos hat das Potential, panegyrisch funktionalisiert zu werden. Die Emblematik rezipiert Iason als Vorbild prudentistischer Klugheit. 168 Ohne den Senecaischen Prätext zu berücksichtigen, den Tod, den Tiphys dort als Strafe erleidet, könnte Leopold stolz auf die ihm zu Füßen liegende Welt blicken und als geschickter gubernator des Staatsschiffes gelten oder auch als neuer Iason, der wie Augustus mit listiger Vernunft die Welt neu ordnet. Der Hinweis auf den Mythos könnte ein laudatives Element sein, das die Idee der translatio ausschmückt. Die mythische Erzählung dient allerdings dem „Transport von mehrfachen sensus". 169 Dechiffriert man nämlich die Senecaische Version, bricht diese die laudative Funktion, die der Mythos oberflächlich haben könnte. Wie sich zeigen wird, legt die Figurenzeichnung des Augustus nahe, daß er als ein römischer Tiphys die Gesetze der Natur mißachtet. Erst durch die Gegenwärtigkeit der Senecaischen Deutung wird dieser Zug an Augustus in seiner ganzen Tragweite deutlich. Die Argonautenfahrt im Senecaischen Sinne ist die allgemeine mythische Entsprechung zum besonderen Fall der römischen Expansion, die in dem „social and moral collapse of the Roman world" endet.170 Aus Senecaischer Sicht ist der Mythos nicht polyvalent und

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Moreau: Le mythe de Jason et Medee, S. 245. 166 Maurach: Iason und Medea bei Seneca, S. 299. 167 Peter J. Davis: Shifting Song. The Chorus in Seneca's Tragedies. Hildesheim, Zürich, New York 1993, S. 80. 168 Vgl. oben, S. 206. 169 Bauer: Intertextualität und das rhetorische System der Frühen Neuzeit, S. 40. 170 Boyle, Tragic Seneca. An Essay of the Theatrical Tradition, S. 126.

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fur mehrere Deutungen offen, sondern ein integumentum, das philosophische Wahrheiten einkleidet.171 Er ist Element sowohl der philosophischen Paränese als auch der Herrscherkritik. Ein unscheinbarer Fremdkörper in der laudatio, entfaltet er in der Cleopatra rückwirkend seine Kritik an dem Herrscher, der Vorbild für Leopold sein soll: an Augustus. Es ist deutlich geworden, welche mythische Erzählung im Hintergrund der vermeintlichen laudatio zu denken ist und welche Deutung in ihr impliziert ist. Ein allgemeiner, von der stoischen Philosophie geprägter Ideenhorizont bildet so einen neuen möglichen Anhaltspunkt, um zentrale Widersprüche des Dramas aufzulösen. Das Drama zeigt als pictura eine Welt verbrecherischer Intrigen, der eine laudatio widersprechen muß. Wenn nicht die Idee der translatio imperii als significatio für die emblematische Struktur begriffen wird, sondern der Mythos, löst sich das Rätsel des Bildes. Aus dem Blickwinkel des Mythos soll im folgenden eine sinnvolle emblematische Struktur gebildet werden, die die negativen Aspekte der Herrscherfigur nicht ignoriert, sondern sogar fruchtbar macht.

d) Augustus, der römische Tiphys Es ist offensichtlich, daß Augustus nicht positiv gezeichnet ist. Unrechtmäßig beansprucht er, nachdem er Antonius bei Actium geschlagen hatte, die Vormachtstellung in Ägypten (vgl. Cleop. I. 16f.), um „Egyptens ZinßHerr" zu werden (I. 50, vgl. A, I. 62). Er verlangt nicht nur Ägypten, sondern auch, daß Antonius sich von Cleopatra trenne und zu Oktavia zurückkehre. Dafür verspricht er Antonius ein Drittel des Römisches Reiches. Zweifellos steht sein Angebot im Zeichen der List: „Deß Keysers sanffte Bahn ist spigel-glattes Eiß" (I. 602; vgl. A, I. 886). Von diesem Plan erfährt Cleopatra durch das bekannte Mittel der Arkanpolitik, indem sie „hinter dem Tapett" {Leo Arm. I. 249), durch ihr „eigen Ohr" (II. 51, Α. II. 167), das Gespräch abhört.172 Der Kaiser treibt den durch das Angebot selbst schon anfechtbaren Prudentismus auf die Spitze, indem er gleichzeitig Cleopatra das Angebot unterbreitet, Antonius umzubringen, ihn selbst zu heiraten, um „Thron und Reich" zu erlangen (II. 79, vgl. Α. II. 223). Es ist offen-

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Vgl. oben, S. 56. Nicht folgen kann ich der These Jane O. Newmans (Almost White but not Quite. „Race" Gender, and the Disarticulation of the Imperial Subject in Lohenstein's Cleopatra [1680]. In: Studies in Early Modern France 3, 1997, S. 94—120), Cleopatras ebenfalls von der dissimulatio geprägtes Verhalten werde dadurch legitimiert, daß Augustus' „image of a noble and fair dealing Caesar" durch dieses Angebot von Anfang an getrübt sei (S. 99). Das Verhalten beider Protagonisten ist allein vor dem Hintergrund frühneuzeitlicher Klugheitslehren und dem Postulat der prudenlia mixta nachvollziehbar, wobei von echter Rechtfertigung oder gar Legitimation eines Betrugs, weil er auf einen anderen reagiert, wohl kaum die Rede sein kann.

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sichtlich, daß A u g u s t u s „ z w a r di K r o n e n w e i s t / d i e Ketten aber gibt" (II. 2 1 5 , v g l . A, II. 3 6 7 ) und v o r Intrige u n d M o r d nicht zurückschreckt, u m Ä g y p t e n u n d Cleopatra z u erlangen. D i e erste K u n s t der Staatsklugheit, die dissimulatio,

beherrscht er perfekt. Er versteht es, s e i n e G e g n e r z u „blan-

d e n " (II. 3 7 7 ) . N a c h d e m A n t o n i u s s i c h aufgrund d e s S c h e i n t o d e s C l e o p a tras, die nicht m i n d e r in der Staatsklugheit b e w a n d e r t ist als der r ö m i s c h e Kaiser, u m g e b r a c h t hat, 1 7 3 liegt das Z i e l scheinbar greifbar v o r A u g e n . „ K ü n s t l i c h " (IV. 2 1 5 ) , s o der Kaiser, sei er der K ö n i g i n b e i g e k o m m e n . Er plant, sie als T r o p h ä e in s e i n e m T r i u m p h z u g n a c h R o m z u s c h a f f e n . D u r c h „ k l u g e n W i t z " (IV. 2 6 2 ) w i l l er s i c h als ihr „Freund" u n d „Schutzherr" (IV. 2 6 8 ) a u s g e b e n , u m sie g e f u g i g z u m a c h e n . Cleopatra m a c h t i h m durch ihren Freitod z w a r e i n e n Strich durch d i e R e c h n u n g , d e n n o c h rühmt er sich, R o m Ä g y p t e n „einverleibt" ( V . 3 3 4 ) z u haben. N i c h t A n t o n i u s , s o n d e r n er v e r m o c h t e es, die „ n e u e W e l t " ( V . 3 9 6 ) z u z w i n g e n . 1 7 4 D i e s e g r o b e S k i z z i e r u n g e i n i g e r Stationen d e s Trugs, die A u g u s t u s in s e i n e m M a c h t s t r e b e n durchläuft, v e r d e u t l i c h e n hinreichend, daß er nicht als V o r b i l d f i g u r konzipiziert s e i n kann, w i e e t w a S c h i n g s behauptet. 1 7 5 A l l e i n a u f der B a s i s der s o e b e n in aller K ü r z e dargestellten Listen ist S c h i n g s '

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Entschieden zu kurz greift die Analyse Philipp Wadsley Luptons (Die Frauengestalten in den Trauerspielen Daniel Casper von Lohensteins. Diss., Wien 1954), Lohenstein bringe durch die aktive Cleopatra, die den passiven Antonius durch ihre gefahrlichen Reize in den Tod treibe, seinen „Antifeminismus" zum Ausdruck (S. 132). Cornelia Plume (Heroinen in der Geschlechterordnung. Wirklichkeitsprojektionen bei Daniel Casper von Lohenstein und die „Querelle des Femmes". Stuttgart, Weimar 1996) erkennt richtig, daß „Cleopatra und Augustus als strategisch ebenbürtige Gegner" gelten können (S. 225) und lehnt eine „geschlechtsspezifische Schlechterbewertung Cleopatras" ab (ebd., S. 226). In Α vermögen die starken Eingriffe in den Text, die besonders ab der vierten Abhandlung zu beobachten sind, an dem Eindruck eines rein staatsklug und intrigierend handelnden Kaisers nichts zu ändern. Besonders die Beratungsszene (vgl. IV. 211-268) ist in der zweiten Fassung zugunsten des Augustus verändert worden (vgl. A, IV. 211-308). Befindet er sich in der ersten Fassung im Einverständnis mit seinen Ratgebern, „reinen Schein" (IV. 248) anzuwenden, so lehnt er es in Α ab, „Arglist und Betrug" (Λ, IV. 291) zu gebrauchen, um Cleopatra gefügig zu machen. Obgleich Augustus zunächst die „verdammte Staats-Klugheit / die Treu und Bund heist brechen" (Α. IV. 238) tadelt, so willigt er schließlich, wie in der Erstfassung, in den Vorschlag ein, sich verliebt zu stellen und Cleopatra auf diese Weise zu gewinnen. Spellerberg (Daniel Casper von Lohenstein. Für Elida Maria Szarota) meint, Lohenstein markiere so „noch schärfer die Aporie der Geschichtsmächtigen, moralisch so nicht handeln zu dürfen und doch politisch so handeln zu müssen" (S. 659). Den Eindruck eines eher .sanftmütigen' Herrschers erweckt Augustus in A besonders deshalb, weil er Cleopatras Kinder annimmt (vgl. A, V. 655-664). Wiehert (Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert) erkennt hier eine Parallele zum Augustus-Bild, das Seneca in De dementia entwirft (vgl. S. 132, Anm. 240; vgl. Sen. De clem. 1. 9; zitiert wird nach: Lucius Annaeus Seneca: De dementia. Ober die Güte. Lateinisch-deutsch. Hrsg. von Karl Büchner. Stuttgart 1986; vgl. unten, S. 247f.). Dennoch behält er den Gestus des siegreichen Herrschers, der sein erstes Ziel erreicht hat, nämlich dem Römischen Reich Ägypten „einverleibt" (A, V. 738) und „eine neue Welt" (Α, V. 744) erschlossen zu haben. Vgl. Schings: Constantia et Prudentia, S. 428f.

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Vorwurf gegen Szarota mehr als verwunderlich, sie betreibe eine unangemessene „moralische Abwertung" des Augustus.176 Szarota konstatiert, Lohenstein entwerfe mit Augustus das Bild eines „kalten Politikers, der seinem Herrscherwillen" alles opfere.177 Augustus sei ein „perfekter Komödiant", der die „typische Haltung eines Imperialisten" an den Tag lege.178 Ähnlich bezeichnet Klein den römischen Kaiser als weltgeschichtlichen Komödianten, fur den „Wahrheit und Lüge" nicht mehr existierten.179 Er befinde sich „bereits jenseits von Gut und Böse".180 Nicht „as moral man", so Gillespie, sondern „as arch Machiavellian" sei Augustus dargestellt.181 Diese gleichwohl etwas plakativ anmutenden Wertungen treffen den Sachverhalt dennoch eher als die These, es handele sich bei Augustus um eine ideale Herrscherfigur. Mit Recht moniert Spellerberg an diesem traditionellen „Tenor" der Forschung, daß dies bedeuten würde, den Textbefund einfach zu ignorieren und zu übersehen, daß sich Augustus als „der mit allen Wassern nicht nur der Dissimulation, sondern auch der von den Theoretikern verworfenen Simulation gewaschene Politiker" entpuppe.182 Die negative Figurenzeichnung des römischen Kaisers, besonders in der ersten Fassung, stellt auch Behar fest, obgleich er mit Schings die Tragödie als Element reiner Panegyrik interpretiert. Behar untergräbt im Grunde selbst seine These, die Cleopatra sei im ganzen ein Lobgesang auf die Habsburger, wenn er feststellt, Augustus sei „presente comme l'ambitieux que nul scrupule n'arrete dans sa marche au pouvoir".183 Da sich Augustus in der Schlußszene, besonders der Zweitfassung, als milder Herrscher erweist, sind es wohl, wie Wiehert vermutet, seine „zwei Gesichter", die es zu diesen unterschiedlichen Positionen kommen lassen. Wiehert betont aber, daß der Kaiser im gesamten übrigen Dramenverlauf das „amoralische Machtprinzip absolut" vertrete und sich dabei als „exemplarischer Politiker eines exemplarischen Machtstaates" zeige.184 Offensichtlich ist Augustus aufgrund seines Intrigenreichtums eine höchst zweifelhafte Figur und sein Sieg nicht makellos. Die bisherige Kritik der Forschung gilt vor allem den Stationen des Trugs. Allein die zweifellos richtige Feststellung, daß Augustus die Grundsätze der christlichen Moral

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Ebd., S. 428., Anm. 56. Szarota: Geschichte, Politik und Gesellschaft im Drama des 17. Jahrhunderts, S. 164. Ebd., S. 165. Johannes Klein: Die Gesellschaftskritik im Drama Lohensteins. In: Archiv fur Sozialgeschichte 5, 1965, S. 227-244, hier S. 237. Ebd., S. 238. Gerald Ernest Paul Gillespie: Lohensteins Protagonists. In: Germanic Review 39, 1964, S. 101-119, hierS. 113. Spellerberg: Daniel Casper von Lohenstein. Für Elida Maria Szarota, S. 657. Behar: Silesia Tragica. Bd. 1, S. 48. Vgl. Gillespie: Lohensteins Protagonists, S. 113. Wiehert: Literatur, Jurisprudenz und Rhetorik im 17. Jahrhundert, S. 127.

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durch sein Verhalten verletze, rührt nicht an den Kern des Problems, auf welche Weise der Mythos mit ins Spiel gerät. Hier hilft die Beobachtung weiter, daß Augustus in auffallender Weise als occupatus dargestellt wird, der sich die Natur unterwirft. Durch diese Schilderung läßt Lohenstein die Parallelen mit dem Senecaischen Tiphys aufscheinen. Dem Nil und seiner Unterwerfung sei im folgenden besondere Beachtung geschenkt. Bereits Wiehert stellt fest, daß in Lohensteins Trauerspielen die „Natur als urteilende Instanz" eine Rolle spiele.185 Auf die Senecaische Kulturkritik kommt er allerdings nicht zu sprechen, sondern sieht in der Naturmetaphorik Reflektionen auf die Liebesethik, die sich als Kontrapunkt zum skrupellosen Verhalten des Kaisers unter den Teilnehmern des dramatischen Geschehens bemerkbar mache.186 Indem die intertextuellen Bezüge zwischen der Senecaischen Medea und der Cleopatra aufgedeckt werden, soll nachgewiesen werden, daß der Gestus der Naturunterwerfung die Verletzung des stoisch-christlichen Naturrechts verbildlicht. Wie gelingt es Lohenstein, daß Augustus als ein römischer Tiphys erscheint? Es ist bemerkenswert, daß Augustus gleich zu Beginn des Dramas als ein Herrscher charakterisiert wird, dem die heiligen Gesetze der Natur, die „saneta foedera mundi" {Med. 605f.), nichts gelten. Er macht sich bereit, den Nil zu bezwingen: Wird / nun des Meeres Schaum der Tiber gelbe Flutt Der Rhein / der strenge Phrat / das kalte Bürger-Blutt Nicht mehr begissen kan / derNilus auch beflekket? Die Gräntz' ist der Natur / der See ihr Ziel gestekket; Der Schatten miß't die Nacht / den hellen Tag das Licht; Nur den Oktavius umb gräntzt kein Schranken nicht.

0Cleop. I. 1-6) Oktavian, der spätere Augustus, schickt sich an, die Welt neu zu erschließen. Gleich Tiphys wird er der Natur neue Gesetze vorschreiben (vgl. Med. 319f.) und die natürliche ewige Ordnung umgestalten. Obgleich der „Nilus [...] noch nie die Tiber angebetet" hat (I. 15), ist durch Augustus die Unterwerfung Ägyptens unter das Römische Reich zu befurchten. Wie im letzten Reyen stehen die Flußnamen metonymisch fur die einzelnen Reiche. Der Gestalter der neuen Welt wird wie die Argonauten nichts an dem Ort lassen, wo es einst gewesen. Zu Beginn der Cleopatra begegnet dasselbe Motiv der Aneigung und Vermischung eigentlich getrennter Bereiche wie im zweiten Chorlied der Medea. Wird dort der Ausblick auf eine grenzenlose Welt gegeben, in der die Inder aus dem Araxes, die Perser aus dem Rhein trinken (vgl. Med. 371-347), so drohen in der Cleopatra die Römer den Nil zu nutzen. Die Unrechtmäßigkeit dieser neuen Ordnung hebt 185 186

Ebd., S. 75f. Vgl. oben, S. 158.

193 der Ausdruck hervor, daß der Tiber den Nil „beflekket" (I. 3), ihn kontaminiert.' 87 Augustus' Unternehmen steht also von Beginn an unter dem Vorzeichen der Rechtsverletzung, was in der zweiten Fassung noch deutlicher wird - „kein Bündnis / kein Vertrag" (A, I. 6) vermögen, Augustus seine Grenzen aufzuweisen. 188 Daß der Nil Objekt dieser Grenzüberschreitung ist, weist darauf hin, daß die Konstante des Rechts das stoisch-christliche Naturrecht ist. Der Nil ist nicht nur Metonymie für Ägypten, 189 sondern seine Unterwerfung ist eine Metapher für die Verletzung dieses Rechts. In Antonius' Diskussion mit seinen Ratgebern, wie dem Einfall der Römer begegnet werden könne, spielt die Metapher der Nilbezwingung eine große Rolle. Da Antonius' Heer für einen ernsthaften Widerstand nicht ausreicht, hofft Archibius auf einen natürlichen Schutz durch die Nilschwemme, die den Einfall der Römer verhindern könnte (vgl. I. 164-169). Die anderen Ratgeber bestreiten, daß der Nil eine wirksame Barrikade für einen Mann wie Augustus sei. Ebensowenig wie andere römische Feldherren das Wasser hätte hindern können, Gebiete zu erobern, werde sich Augustus von seinen Plänen durch diese Naturgewalt abhalten lassen. Archibius' Rat, den Nil als natürliche Grenze zu nutzen, verwirft Sosius mit dem Argument, daß die Römer immer fähig gewesen seien, die Wassermassen zu bezwingen. Sosius' Rede erinnert an Papinians Prolog.190 Der Gestus der Naturunterwerfung tritt auch hier deutlich hervor: Wo man für diese Glutt Nicht beßre Kühlung weiß / so ist der Rath nicht gutt Hat Alexander nicht das wüste Meer getämmet / Thürm' in di Flutt gelegt / der Wellen Zorn gehemmet / Di See zu Schiffbruch bracht / als sie das Heer verdräng Und dieser Blitz der Welt das stoltze Tyrus zwang? Hat Caesar nicht besigt den Ocean der Britten / Den tiefen Rhein bepfalt / oft schwimmende gestritten / Den Veneter gezähmt / di kein gewafnet Fluß Kein Pferd kein Mast betrat; deß Ibers strengen Fluß In frembdes Ufer bracht / dem Nilus Gräntzen funden; Ja diese grosse Stadt selbst sieghaft überwunden? Hat der Agrippa nicht / der täglich seinen Witz Auf unser Unheil schärfft / in Cumens Felsen Ritz'/ Und Hafen eingesenckt? Was lassen wir uns träumen: Augustus werde nicht des Nilus Außtrit zäumen?

Der Nil und sein Umland galten den Römern als Vorbild für den Tiber. Ihn wollten sie so befestigen und seine Ufer so gestalten, daß der szenographische Effekt demjenigen des Nils gleichkam. Die Pläne für eine glänzende Inszenierung des Flusses fallen besonders in die augusteische Periode. Vgl. Nicholas Purcell: Rome and the Management of Water: Environment, Culture and Power. In: Human Landscape in Classical Antiquity. Environment and Culture. Ed. by Graham Shipley and John Salmon. London, New York 1996, S. 180— 212, hierS. 187f. 188 Vgl. Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 76. 189 Vgl. Gillespie: Daniel Casper von Lohenstein's Historical Tragedies, S. 85. 190 Vgl. oben, S. 129.

194 Deß Lägers Thämm' erhöhn / di Grafften säncken ein / Zumal die Römer j a zu Wasser Meister sein? (Cleop. I. 169-186)

Antonius' Ratgeber müssen einräumen, daß „der Strom nit rette" (I. 191), kann Rom doch auf eine lange Tradition derer zurückblicken, die sich die Wasser Untertan machten. Daß hier die Metapher der Kontrolle über die Gewässer so stark dominiert, ist kein Zufall. Der Erfolg des Römischen Imperiums beruht geradezu auf der „physical control of the natural watercourse". 191 Daß der „Nilus zinßbar" (I. 227) werde, ist das Ziel des Augustus, auch wenn „der grosse Rest der Erde" (I. 228) diese Okkupation mißbillige. Das Ziel des Unternehmens ist nicht in erster Linie, die ägyptische Königin zu erobern, sondern Augustus treiben ökonomische Interessen. Als raptor externi auri (vgl. Med. 613) reizen ihn „Gold / Weitzen/ Helffenbein" {Cleop. I. 49), das Goldene Vlies Ägyptens. Daß dieses Interesse auch der „Waffen Recht" (I. 437) legitimiere, betont Proculeius, der Ratgeber des Kaisers, in seiner Auseinandersetzung mit Antonius. In diesem Punkt nehme Augustus „keinen Richter" (I. 517) an. Die fruchtbaren „Wisen" (I. 561) des Nils, die Ägypten zum „Ost-Welt Korn-Haus" (I. 563) machen, sind der Grund für die Eroberung Ägyptens: „Der Nilus eben gräntzt dem Kayser gar bekwäm'" (I. 557). Daß der Strom ein Hindernis darstellen könnte, steht fur die Römer außer Frage. Die Notwendigkeit seiner Unterwerfung, auch mit Waffengewalt, ist offensichtlich. Als alter Tiphys bringt Augustus neue Kriege, die altera bella, wie Vergils vierte Ekloge prophezeit (vgl. Ecl. 4.35). Der Vergleich mit Alexander (vgl. Cleop. I. 171), auf den Augustus sich selbst am Ende beruft (vgl. V. 394), ist aus der Sicht Senecaischer Kulturkritik ebensowenig schmeichelhaft wie derjenige mit Tiphys. Alexander durchbrach zwar die Grenzen der Welt, aber erstrebte immer noch mehr, als ihm naturgemäß genügt hätte. Seneca wirft ihm Verblendung vor: Post Dareum et Indos pauper est Alexander. Mentior? Quaerit quod suum faciat, scrutatur maria ignota, in oceanum classes novas mittit et ipsa, ut ita dicam, mundi claustra perrumpit. Quod naturae satis est homini non est. Inventus est qui concupisceret aliquid post omnia: tanta est caecitas mentium et tanta initiorum suorum unicuique, cum processit, oblivio. (Ep. 119.7)

191

Purcell: Rome an the Management of Water: Environment, Culture and Power, S. 202. Die Salzgewinnung und die Urbarmachung der Feuchtwiesen gehörte schon früh zu den administrativen Aufgaben RomS. Seine Lage im Tal zwischen den sieben Hügeln und das mediterrane Klima mit temporären reichen Regenfällen machten die Zisternen notwendig, in denen das Wasser gesammelt wurde. Die berühmten Kloaken dienten nicht nur sanitären Zwecken, sondern hier wurde auch Grundwasser aufgefangen. Aquädukte gehörten auch in den Provinzen zum Standardbild römischer Städte (vgl. dazu ebd., S. 193f.). Purcell unterstreicht die ideologische Komponente dieser Kontrollmechanismen über die Natur: „[...] the cultural manifestation of hydrological control should have been one of the primary ideological tools available for overcoming the huge obstacles to a politically and administratively - as well as economically - inclusive, supra-regional polity" (ebd., S. 208).

195

In der Senecaischen Medea steht Tiphys' Umgang mit der Natur fur den Bruch des stoischen Naturrechts und für das Ende des Goldenen Zeitalters. In der Cleopatra verbildlicht der geschickte Umgang mit den Wassermassen, in dem sich Augustus als „Meister" (I. 186) zeigt, die Rationalisierung und die Säkularisierung des Naturrechts more geometrico. Der antike Stoff dient der Reflexion auf den frühneuzeitlichen rechtstheoretischen Diskurs. Hier wird daran erinnert, daß Grotius in seiner Schrift Mare liberum Rechtsstandpunkte aus der vermeintlich legitimen Okkupation der Meere ableitet. So ist die Eingrenzung von Gewässern mit Pfählen nicht verwerflich, sondern eine Tat, die den Ursprung des Eigentumsrechts symbolisiert, auf dem das Recht der modernen Gesellschaft basiert.192 Im Drama gelingt es durch Okkupation der Natur sogar, Geschichte stabil zu konstruieren. Eine offensichtliche Strafe fur sein Tun erleidet Augustus im Gegensatz zu Tiphys nicht. Eine kleine Episode zeigt jedoch, daß auch er die Natur noch nicht ganz in seiner Gewalt hat. Im Kontext der frühneuzeitlichen Naturrechtsdiskussion steht die Beherrschung der Wassermassen einerseits für die Rationalisierung des Naturrechts, andererseits für den kalkulierenden und manipulierenden Umgang des Kaisers mit seinen Kontrahenten. Diese werden in die räumlich verstandene Natur einbezogen, die beherrscht werden muß. Der entscheidende Unterschied zu den Figuren in Gryphius' Dramen besteht nun darin, daß Augustus wenigstens ein äußerer Erfolg beschieden wird, der etwa Leo Armenius versagt bleibt. Dieser beklagt, daß man zwar „die starke flut umbkehren" (Leo Arm. II. 479) und den „strömen widerstehn" (II. 480) könne, sich in bezug auf den Menschen aber die „kunst" (II. 486) verkenne. Leo führt dieses Nichtwissen zum Tod. Die anderen Vertreter des neuen Naturrechts, Chach Abas und Bassian, fallen dem Wahnsinn anheim. Augustus beherrscht diese Kunst so perfekt, daß er seine Machtposition erhalten und sogar erweitern kann. Trotz dieses Erfolgs entzieht sich aber ein Stück Natur seinem Willen. Augustus kann die Massen des Nils und seinen Kontrahenten Antonius bezwingen. Vor dem toten Körper Cleopatras versagt seine Kunst. Die ägyptische Königin hatte bereits Antonius durch ihren scheinbaren Tod getäuscht, indem sie sich selbst zum Objekt ihrer Verstellungskunst nahm.193 Nun verhindert sie zum zweiten Mal, daß Herrschaft über sie ausgeübt wird, indem sie den Freitod wählt.194 „Kunst und Arbeit" und ein reicher „Lohn" 192 193

194

Vgl. oben, S. 131. Die Metapher der Naturgestaltung gilt auch für das Handeln Cleopatras. Als sie ihren Tod simuliert und ihren Körper mit Edelsteinen und Blumen schmücken läßt, wird ihr als occupata die Natur zum Bereich der Kunst (vgl. Cleop. III. 137-154). Newman (Almost White, but not Quite: „Race," Gender, and the Disarticulation of the Imperial Subject in Lohenstein's Cleopatra [1680]) bemerkt, daß Cleopatra durch ihre Selbstobjektivierung fähig sei, sich der Unterwerfung zu entziehen und so die konventionelle Erwartung enttäusche, einer machtlosen Frau zu begegnen (vgl. S. 107).

196

(Cleop. V. 281) vermögen nicht, ihren Körper zu beherrschen. Augustus befiehlt umsonst, „den kalten Leib von Gliede bis zum Glied" (V. 261) zu durchforschen. Obgleich seine Kunst hier versagt, wird dennoch deutlich, daß er auf den toten Frauenkörper dieselbe „disziplinierende Vernunft" anwendet195 wie auf die landschaftliche Natur des Nils. Der Moment der Bestürzung über die tote Königin ist nur kurz und weicht schnell der ordnenden Vernunft. Obwohl Augustus als vermeintlicher Sieger aus den Auseinandersetzungen hervorgeht, zeigt diese kurze Episode, daß die Herrschaft über die Natur trügt und nicht vollkommen sein kann. Cleopatra statuiert mit ihrem Tod ein Exempel und weist einer Konstruktion der Geschichte nach Maß ihre Grenzen auf. Ihr Tod bietet ihr nicht nur die Möglichkeit, der Unterwerfung durch die historischen Umstände und der Bedrohung des individuellen Friedens zu entgehen.196 Ihr Freitod zeigt, daß die „Gräntz'" der Natur (I. 4) auch fiir Augustus gilt. Seneca bewertet in der Medea Tiphys' Tod als Strafe für die Verletzung der ewigen Gesetze der Natur und für die Hybris des Steuermannes. Der Tod der Cleopatra zieht Augustus' Naturbeherrschung seine Grenzen und verweist auf sein begangenes Unrecht. Cleopatra verdeutlicht mit ihrem Tod die Frevelhaftigkeit der Intrigen und des Augusteischen Ansinnens, sie als Beute mit nach Rom führen zu wollen. Sie konfiguriert die Voraussage des Cornelius Gallus, Rom werde durch Tyrannei „nimmermehr den grossen Nil recht zwingen" (IV. 97). Im Zusammenhang mit der Profanisierung des Naturrechts in der Frühen Neuzeit beweist Cleopatras Tod, daß die Ablösung der Theologie vom Recht Unrecht provoziert, das untragbar ist. Cleopatra übernimmt auf ihre Weise die Rolle der Medea in Senecas Drama. Entzieht sich Cleopatra durch ihren Freitod dem Zugriff, so verläßt Medea am Ende des Dramas die Erde auf ihrem Schlangenwagen (vgl. Med. 1022-1025). Die letzten Worte in Senecas Drama gehören Iason, der die Gottlosigkeit derjenigen Gefilde beschwört, in die sich Medea auf ihrem Wagen begibt: „Per alta vade spatia sublime aetheris, testare nullos esse, qua veheris, deos" (1026f.)! Obgleich dieser Ausruf suggeriert, daß Medea das göttliche Recht nicht auf ihrer Seite habe, ist dennoch, besonders vor dem Hintergrund der Chorlieder, von einer Parteinahme für Iason und sein Unternehmen abzusehen. Überzeugend ist Boyles These, das schockierende Ende lasse sich nur so verstehen, daß Iason sich irre:197

195

Peter-Andre Alt: Der fragile Leib. Körperbilder in der Literatur der frühen Neuzeit. In: Colloquia academica. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz. Stuttgart 1996, S. 7-31, hier S. 27. 196 Vgl. Gillespie: Heroines and Historical Fate in the Drama of Daniel Casper von Lohenstein, S. 233. 197 Vgl. Boyle: Tragic Seneca. An Essay in the Theatrical Tradition, S. 125.

197 Medea's vengeance was implemented with the powers of Hecate. She is taken away in the chariot of the Sun. Her prayers of the prologue to both deities are realised. The gods are there. They are simply not Jason's; nor are they those of Corinth. The world is a larger and more uncontrollable place than Corinthian society thinks. There is structure and order but they are not man-made, nor subject to human models of morality and sense. 1 9 8

Etwas emphatisch, wenngleich nachvollziehbar klingt Boyles anschließende Antwort auf die Überlegung, wo denn die Götter seien: „They are all with Medea." 199 Obgleich nicht mit Sicherheit behauptet werden kann, daß Seneca eine solche wertende Polarisierung zwischen Iason und Medea, die beide Verbrechen begangen haben, zweifelsfrei nahelegen will, überzeugt Boyles Interpretation der letzten Verse vor dem Hintergrund der besprochenen Chorlieder dennoch. Medea läßt eine Welt zurück, die nicht vom ungeschriebenen Gesetz, von dem Recht, das - wie es im Papinian heißt - „der Seelen eingeschriben" {Pap. IV. 340) ist, beherrscht wird, sondern eine Welt, die von den occupati in einen Zustand verwandelt worden ist, in der das secundum naturam vivere nicht mehr möglich ist. Als einer, der maßgeblich zu dieser Transformation beigetragen hat, wird weniger Iason als vielmehr Tiphys in den Chorliedern dargestellt. Eine ebensolche Welt, in der die reine ursprüngliche Natur und die Geschichte auseinandergetreten sind, verläßt Cleopatra. Als „zaubernde Medea diser Zeit" (Cleop. III. 289) apostrophiert, ist sie weniger, wie Colvin behauptet, in die „Kategorie [...] des ehrgeizigen und machtausübenden Weiblichen" einzuordnen, 200 sondern ein Opfer zivilisatorischer Rastlosigkeit. Die paradigmatische Figur ist Tiphys. Ausgehend von einem Vergleich des Augustus mit der mythischen Figur, wie Lohensteins angebliche laudatio auf die Habsburger ihn an die Hand gibt, lassen sich im Kontext der stoischen Philosophie Ergebnisse festhalten, die zeigen, auf welche Weise das Drama in die rechtlichen und anthropologischen Diskurse der Zeit eingebettet ist. Augustus ist als der senecaische occupatus par excellence konzipiert, der das christlich-stoische Naturrecht bricht. Im Sinne des frühneuzeitlichen Politikverständnisses wäre er Konstrukteur des neuen mechanistischen Weltbildes und des neuen Naturrechts. Die Metaphorik der Naturgestaltung verdeutlicht die Artifizialität dieses Rechts, die Hobbes' Leviathan hervorhebt.201 Dem stoischen Naturrechtsgedanken, der im Gegensatz zum konstruierten, veränderbaren und fehlbaren „menschengemachten Recht"

198 199 200

201

Ebd. Ebd., S. 133. Sarah Colvin: Eine Warnung vor dem Weiblichen? Die Venus-Allegorie in den Frauendramen D. C. von Lohensteins. In: Die Allegorese des antiken Mythos in der Literatur, Wissenschaft und Kunst Europas. Hrsg. von Hans-Jürgen Horn und Hermann Walter. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Forschungen 75), S. 267-285, hier S. 273. Vgl. Hobbes: Leviathan. Opera omnia. Bd. 3, S. 130.

198

steht,202 widerspricht diese Künstlichkeit. Daß dieses neue Recht fehlbar ist, beweist der Intrigenreichtum und der Prudentismus des Kaisers, der instrumenteile Vernunft verwendet, um seine Geschichte, die im Drama die Natur konfiguriert, erfolgreich zu gestalten. Das Verhältnis von Vernunft und Natur ist klar bestimmbar: Die Natur wird nicht wie im aristotelischen und stoischen teleologischen Verständnis als eine durch die Vernunft zu vollendende begriffen, sondern als eine, die durch sie restringiert werden muß, um Kultur zu schaffen. Natur und Kultur sind in Lohensteins Metaphorik, wie im Hobbesschen Denken, antinomische Größen.203 Umgekehrt bedingt der restringierte Naturbegriff eine einseitige Ausrichtung von Rationalität.204 Diese dient nicht dazu, eine metaphysische Wahrheit zu erkennen, die in der Natur verborgen liegt, sondern dazu, kalkulierend und listenreich Geschichte herzustellen. Bei der Vernunft handelt es sich nicht um jenes lumen naturale, das ewige Wahrheiten aus der Natur erkennen soll. Im Gryphschen Drama fanden wir Figuren, die auf die Potenz dieses lumen pochten, ohne Erfolg. Lohensteins Dramen nehmen die Lutherische Gnadenlehre beim Wort. Ihre Figuren verharren nicht in der Tradition, nicht suchen sie das Göttliche aus der Natur zu erkennen, sondern nehmen die Unergründbarkeit Gottes zum Anlaß, sich einer anderen Vernunft zu verschreiben. Sie sind ausschließlich im Dienst des weltlichen Regiments tätig. Entschieden markanter als Gryphius pointiert Lohenstein das Verhältnis von Vernunft und Natur in der Figurenzeichnung des Augustus, da keine Alternative geboten wird. Dessen listenreiches Umgehen mit der Natur, folgenreich und ohne Widerpart, beweist einmal mehr, daß die antike Kosmosvorstellung zunehmend dekonstruiert wird:205 Dem Protagonisten ist im Drama keine Figur entgegengesetzt, die ernsthaft die Ansprüche vertreten würde wie Catharina oder Papinian nach ihrer Wandlung zu Stoikern. Lediglich in Archibius' Argumentation ließen sich Anklänge an einen Rechtsgedanken finden, der im Abdanken begriffen ist. Augustus, so wirft Archibius dem römischen Gesandten Proculeius vor, lade der „rechten Götter Zorn" (II. 336) auf sich, indem er das „Gewissen" zugunsten des äußeren Erfolgs, der „Kronen" (II. 340), nicht berücksichtige. Er handele nur nach dem Recht der Römer, nach „eurem Recht" (II. 342). Archibius' Einwurf ist aber nur als eine marginale Reflexion auf das stoisch-christliche Naturrecht zu verstehen. Einen Vertreter des genuinen Stoizismus sieht das Drama nicht vor.

202 203

204 205

Kersting: Die Begründung der politischen Philosophie der Neuzeit im Leviathan, S. 14. Vgl. Wieland: Secundum naturam vivere. Über den Wandel des Verhältnisses von Natur und Sittlichkeit, S. 28. Vgl. ebd., S. 31. Vgl. auch Gerhart Schröder: Logos und List. Zur Entwicklung der Ästhetik in der frühen Neuzeit. Königstein / Taunus 1985, S. 103.

199 Dieses Faktum spiegelt sich in der Metaphorik. In der Catharina von Georgien bringen die Rosenallegorese und im Papinian der zweite Reyen das für die Stoa typisch kontemplativ-aktive Verhältnis zur Natur zum Ausdruck, das sich in der Konstitution der Hauptfiguren bemerkbar macht.206 In der Cleopatra sucht man ein solches Naturverhältnis vergeblich. Aspekte unberührter Natur finden sich allenfalls im Reyen Egiptischer Schäfer und Schäferinnen,207 Die bukolische Szenerie, die hier als Gegenwelt zur höfischen Sphäre aufgebaut wird, ist aber weniger als Ort der Gotteserkenntnis zu begreifen denn als vergilischer Topos des locus amoenus. Das entscheidende Kriterium ist die Distanz zum Hof und nicht eine stoizistisch gefärbte Rückwendung zur unberührten Natur, die als Ort der Wahrheitsfindung aufgesucht wird. Der Topos des Landlebens, in dem die „reine Tugend" (IV. 521) noch Gültigkeit besitzt, bietet in erster Linie einen fiktionalen Gegenentwurf zum Hofleben, das von „Heuchelei" (IV. 522), der Technik der dissimulatio, geprägt ist.208 Die Präsenz der stoischen Philosophie ergibt sich nicht durch eine bestimmte Figur oder durch Bilder unberührter Natur, sondern durch die Weise, wie der Mythos der Argonautenfahrt rezipiert wird. Indem Lohenstein am Ende des Dramas und in seinen Anmerkungen den Mythos und den Hintergrund der Senecaischen Medea fast unbemerkt ins Spiel bringt, führt er diese mythische Erzählung als Folie ein, vor der die Figur des Augustus als occupatus zu interpretieren ist. So tritt der Mythos als significatio der emblematischen Struktur in Konkurrenz zur Idee der translatio imperii. Das Drama vor dem Hintergrund einer unausweichlichen Abfolge von Weltreichen zu denken, blendet die Frage aus, wie die Rechtsübertretungen und Vertragsbrüche des Augustus zu werten sind, handelt er doch in Übereinstimmung mit dem „Verhängnüß" (V. 415). Trotz der abundanten Berufung auf dieses Verhängnis, dessen Funktion im nachfolgenden Kapitel zu erläutern ist, erhält die scheinbare laudatio auf Leopold, der es dem Augustus „gleiche thut" (V. 490), eine negative Konnotation. Fügt sich ein solcher Panegyricus ohnehin nur schwer in die emblematische Struktur, so vermag der allgemeine Charakter des Mythos, wie er bei Seneca deutlich wird, viel eher den 206

Vgl. oben, S. 103-105 und S. 137f. Der Reyen der Zweitfassung ist gegenüber der Erstfassung im Text nicht verändert, trägt dort jedoch den Titel Reyen Egyptischer Gärtner und Gärtnerinnen (vgl. A, IV. 631-690). Die Veränderung des Titels und das Ambiente der Schäferidylle bewirken, daß das bukolische Element stärker hervortritt. Ein Garten - und hier ist an die symmetrisch angelegten Gärten des 17. Jahrhunderts zu denken - erfüllt ebenso wie die höfische Sphäre die Ansprüche an Ordnung und Repräsentation und ist gleichfalls Objekt der Naturunterwerfung, weniger ein tatsächlicher locus amoenus. 208 vgl. Wilhelm Voßkamp: Landadel und Bürgertum im deutschen Schäferroman des 17. Jahrhunderts. In: Stadt-Schule-Universität-Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert, S. 99-110, hier S. lOOf. Vgl. auch Spellerberg: Verhängnis und Geschichte, S. 206. 207

200 übergeordneten Bezugsrahmen zu liefern. Die Geschichte wird auf diese Weise vor dem Hintergrund einer stoischen Kulturkritik: gedeutet. Die laudatio offenbart sich als Schein. Es liegt am Wesen des Mythos, daß Lohenstein ihn dennoch gefahrlos verwenden konnte. Wenn Alt feststellt, daß in Lohensteins Dramen die Allegorie auf spielerische Weise „zwischen tragischer Faktizität und geistigem Wertehorizont eine Brücke zu schlagen" suche,209 so scheint dies auf den letzten Reyen der Cleopatra auf delikate Weise zuzutreffen: Büßt die translatio-Idee, obgleich sie im Reyen anklingt, aus den dargelegten Gründen ihre Wirkungskraft ein, so eignet sich die heterogene Allegorese des Mythos hervorragend, spielerisch die Verbindung zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen zu knüpfen. Einerseits verweist sie auf den allgemeinen Ideenhorizont der stoischen Philosophie - kraft der Funktion des Mythos als involucrum - andererseits verbirgt sie ihn spielerisch aufgrund der ständigen Wandelbarkeit und „Bedeutsamkeit" jeder mythischen Erzählung. 210 Es wurde darauf hingewiesen, daß die Argonautenfahrt immer sowohl als Element panegyrischen Verfahrens aktuell war als auch kulturkritisch verwendet wurde. Diese Ambiguität macht sich Lohenstein zunutze. Die eigene diffizile politische Position löst er, indem er das Drama zwar dem Breslauer Senat widmet, 211 es aber mit einem scheinbaren Panegyricus auf Habsburg enden läßt. Entscheidend ist nun, daß der Panegyricus mit der Heterogenität der mythischen Erzählung spielt. Lohensteins berühmtes Diktum aus der Vorrede zu seiner Sophonisbe, daß der Mensch „mit allen Sachen" spiele (74), setzt der Dichter poetologisch um. Die Allegorese des Mythos verspricht nur auf den ersten Blick sich nahtlos in eine laudatio einzufügen, dem Wissenden hingegen muß das Zitat aus Senecas Drama als Störfaktor auffallen. Als ein Störfaktor fungiert der Mythos aber nur fur den Wissenden und nur in der vermeintlichen laudatio selbst. Uberblickt man das Drama in seiner gesamten Konzeption, so fugt er sich harmonisch ein: Die Widmung an den Breslauer Senat erfahrt am Ende des Dramas eine prägnante Aufwertung, die negative Darstellung des Augustus wird verständlicher, wenn der Kontext der Medea berücksichtigt wird. Das Allgemeine und das paränetische Element der mythischen Erzählung, typisch fur die Senecaische Verarbeitung der Mythenstoffe, gewinnt an Gewicht und enthüllt die laudatio als Schein. Es ist offensichtlich, daß es sich bei Lohensteins Cleopatra nicht um kaiserliche Widmungspoesie handelt, um „une protestation de fidelite a l'Empereur": 212 Die Auswertung der intertextuellen Analyse bezeugt, daß die vermeintliche ideologische Voraussetzung der laudatio,

209 210 211

212

Alt: Begriffsbilder, S. 273. Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, S. 36. Vgl. Voßkamp: Daniel Casper ν. Lohensteins Cleopatra. Historisches Verhängnis und politisches Spiel, S. 78. Behar: Silesia Tragica. Bd 1, S. 47.

201

die translatio imperii, durch den Hinweis auf den Mythos, wie ihn der Senecaische Prätext darstellt, „unterminiert" wird.213 Nun könnte der Einwand erhoben werden, daß diese Unterminierung erst die „Instanz des Lesers" leiste und dem Text nicht inhärente „Eigenschaften" zuspreche, indem sie den Mythos decodiere.214 Erstens aber handelt es sich nicht um irgendeine beliebige Decodierung, sondern um eine vom Autor bewußt gelenkte Rezeption einer bestimmten Mythenversion: Die Unterminierung leistet der Autor offenbar selbst. Zweitens ist die negative Darstellung des Augustus, die dem auf der translatio-Idee fußenden Panegyricus in letztem Reyen widerspricht, auch ,außerhalb' des Medea-Textes vorhanden und wird erklärt, indem der Mythos decodiert wird. Wie die Unterminierung der ideologischen Voraussetzungen geleistet wird, ist bisher von der Warte des Mythos aus dargelegt worden, indem eine gewisse Parallelität der dramatischen Gestaltung in der Medea und der Cleopatra nachgewiesen werden konnte und der Schwerpunkt dieser Parallelität auf die Figuren Tiphys und Augustus gelegt wurde. Wenn es aber gilt, einen ähnlichen Einfluß des stoischen Gedankenguts auf Lohensteins Schaffen festzumachen, wie er in Gryphius' Tragödien ermittelt werden konnte, dann muß auf das Verhältnis des Menschen zur Natur auf hermeneutischer Ebene eingegangen werden. Welchen Erkenntniswert besitzt die Natur in Lohensteins Drama oder: welche Konsequenzen hat der Mythos der Argonautenfahrt - selbst eine Allegorie für Naturverformung - in bezug auf die Funktion der Allegorese, vor allem auf die Allegorie des letzten Reyen? Auf welche Weise wird die Natur in der Cleopatra entziffert, und in welches Verhältnis tritt der Mythos zur Allegorie der Flüsse im letzten Reyen und der mit ihr verbundenen Idee der translatio? Den Abschluß der Argumention bilde eine erneute Auseinandersetzung mit dem Wesen und der Funktion der Allegorie. Anhand der Catharina von Georgien konnte dargelegt werden, daß ein unhintergehbares und verbindliches Prinzip der analogia entis brüchig erscheint und sich diese Auflösung im Verstehensprozeß und in der Kommunikation äußert, so daß die Allegorese etwa der Rose als eigensinniges Unternehmen eines rastlosen Geistes erscheint.215 Kann ein ähnlicher Befund auch für die Cleopatra erhoben werden? Zur Beantwortung dieser Frage sollen wiederum die Kommunikationsprozesse untersucht werden, welche die Allegorie im letzten Reyen konstituieren. Es wird sich schließlich herausstellen, daß der Mythos selbst einen wesentlichen Hinweis liefert, da er - eingebettet in die Allegorie des letzten Reyen - selbst ein änigmatisches Bild ist fur das Wesen der Allegorese. 213 214

215

Pfister: Konzepte der Intertextualität, S. 29. Susanne Holthius: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Tübingen 1993 (Stauffenberg Colloquium 28), S. 31. Vgl. oben, S. 108.

Konzeption.

202 Um diese These näher zu erläutern, sind zunächst zwei Ebenen der Bilddeutung zu unterscheiden. Zunächst ist die mythische Erzählung der Argonautenfahrt nach Seneca eine Allegorie für die künstliche Gestaltung von Welt und Element philosophischer Paränese. Insofern die Senecaische Ausdeutung als relevant fur die Interpretation angenommen wurde, bezieht sich der Mythos als involucrum auf eine vorgegebene Wahrheit. Gegenläufig zur bereits in der Antike feststellbaren Polysemie des Mythos erhebt die Senecaische Allegorese den „Anspruch auf Eindeutigkeit". 216 Voraussetzung für diese eindeutige philosophische Allegorese, die uns Seneca vorfuhrt, ist freilich die platonische Ontologie und ein bestimmter Wirklichkeitsbegriff, der demjenigen der Neuzeit widerspricht, fur die das eigentlich Seiende nicht mehr existiert.217 Das unhinterfragte Seiende liefert in der stoischen Philosophie die Idee von der Natur. Der Mythos des Senecaischen Tiphys wäre ein Urbild desjenigen, der sich an der Natur als dem Seienden und Göttlichen versündigt. Aus dem Bild seines Scheiterns ergibt sich die Wahrheit philosophischer Paränese, zu einem anderen Verhältnis zur Natur zurückzufinden. In Lohensteins Drama aber steht dieses Urbild des occupatus zwar auch für die Idee des naturgemäßen Lebens, jedoch erst durch seine Negation. Der rastlose Tiphys, welcher der Natur neue Gesetze verleiht, ist der Allegoriker, der das Buch der Natur neu liest und Wirklichkeit schafft. Auch die Allegorese des letzten Reyen kann vor dem Hintergrund einer solchen Mythenallegorese als eine Sinnimputation begriffen werden, die diesmal nicht durch ein eigensinniges vereinzeltes Individuum vorgenommen wird, sondern sich bereits als Konvention in das Bewußtsein festgeschrieben hat. Die Idee der translatio imperii manifestiert sich letztendlich als ein kollektives Konstrukt. Die Ordnung der Geschichte spiegelt sich wider in der Ordnung der Natur, die aber selbst - so zeigt es die Figur des Augustus - eine von der kollektiven Geschichte erfundene ist, denn die unberührte Natur existiert nicht mehr. Auf welche Weise Lohenstein den konventionellen und konstruktiven Charakter der Allegorie im letzten Reyen hervorhebt, soll im folgenden ein Blick auf ,das Verhängnis' erweisen. Erstens sei die Verwendung des Verhängnisbegriffs betrachtet, zweitens die Kommunikation über das Verhängnis.

216 217

Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, S. 36. Ebd.

203

3. Das

Verhängnis

a) Die significatio des ersten Reyen und die des Verhängnisbegriffs

Inhomogenität

Daß aus der Natur der Ablauf der Geschichte zu lesen, die Natur als mundus symbolicus zu enthüllen sei, in dem sich der Wille des Verhängnisses und so die Bestimmung ganzer Völker widerspiegele, ist die Botschaft des letzten Reyen. Der Allegoriker erkennt in der Ordnung der Natur die Ordnung der Geschichte, die Viermonarchienlehre: Die Hierarchie der personifizierten Flüsse exponiert deutlich Rom, metonymisch den Tiber, als erste Macht in der Welt. „Tiger und Eufrat" (V. 423) übernehmen die Rolle der ersten beiden Weltreiche, Babylonien und Persien, der unterworfene Nil die des dritten Weltreiches Griechenland.218 Alexander (vgl. V. 394) hatte im Jahre 332 v. Chr. Persiens Herrschaft in Ägypten beendet, das fortan, bis Rom die Vormachtstellung übernahm, von der hellenistischen Kultur geprägt wurde. Direkt zu Beginn formuliert der Reyen die Ablösung des Weltreiches Griechenland durch Rom in einer rhetorischen Frage: „Legt nun der Nil di stoltzen Wellen nider? Und betet er di Tiber an?" (V. 414f.). Daß der Tiber nun „des Meeres Haupt" und „der Flüsse Königin" sei (V. 422), scheint eindeutig durch das „Verhängnüß" vorgesehen, dem die Macht Ägyptens „zu wider" war (V. 415). Als „des Verhängnüsses gesetzter Schranken" (V. 454) wird der „Himmel" apostrophiert (V. 441, 455). Die hier vorgestellte Ordnung der Natur stimmt offenbar mit dem göttlichen Verhängnisschluß, der Providentia, und dem Schicksal, dem fatum, überein. Es wird suggeriert, daß Natur und Geschichte eine Einheit bildeten. Die Allegorese der Natur ermittelt eine Analogie der Ähnlichkeiten zwischen der Ordnung der Natur und der Ordnung der Geschichte. Die revelatio entdeckt in der Natur die Universalgeschichte: In der Ordnung der Flüsse erkennt der Allegoriker eine Hierarchie, die den geschichtlichen Machtverhältnissen, d. h. dem geschichtstheologischen Entwurf der translatio entspricht. Verhängnis, Geschichtstheologie und Allegorese der Natur ergeben offensichtlich ein rundes harmonisches Ganzes: „Ce dernier chceur, devoilant les decrets de la Providence, revele la structure metaphysique de l'histoire universelle."219 Die Weltgeschichte selbst, so Behar, verweise auf die „signification metaphysique". 220 Ist damit aber tatsächlich das Verhältnis von Natur und Geschichte richtig bestimmt? Die Metaphorik, die im letzten Kapitel untersucht worden ist, gibt zu bedenken, daß es die Geschichtsmächtigen sind, die diese Ordnung

2,8 219 220

Vgl. Aikin: The Mission of Rome in the Dramas of Daniel Casper von Lohenstein, S. 214. Behar: Silesia Tragica. Bd. 1, S. 237. Ebd.

204 vorerst konstruiert haben. Diese sehen in der Natur einen Feind, der droht, ihnen den militärischen Erfolg zu versagen, und den sie bändigen, in seine Schranken weisen müssen, um ihre Geschichte zu gestalten. Die Allegorese projiziert die realgeschichtlichen Fakten auf die Ordnung der Natur, die ohne diese Projektion eine andere wäre. Sie simuliert eine Einheit von Natur und Geschichte und die Präsenz eines geordneten Makrokosmos, indem sie diese ,erzwungene' Einheit als den Willen des Verhängnisses darstellt. Das Verhängnis ist letztlich die Instanz, die die Ideologie der translatio absichert. Daß mit der Berufung auf das Verhängnis diese Ideologie aber nur unzureichend legitimiert werden kann, versucht die folgende Darstellung zu belegen. Die These Borgstedts, die er besonders im Hinblick auf den letzten Reyen der Sophonisbe entwickelt, daß Lohenstein zwar die Idee der translatio „zu perpetuieren" scheine, in Wahrheit jedoch an ihrer „Beseitigung" beteiligt sei,221 bestätigt sich in der Cleopatra auf der Ebene der Reyen selbst. Von zentraler Bedeutung ist dafür der in der Forschung kaum untersuchte und wenig problematisierte erste Reyen. Er verspricht zusätzliche Aufschlüsse über das allegorische Verfahren im letzten Reyen zu liefern. In welchem Verhältnis diese beiden Reyen zueinander stehen, wird sich einerseits durch die significatio des ersten Reyen im Hinblick auf den ersten Akt (I), andererseits durch den Begriff des Verhängnisses, den die Reyen jeweils verwenden, zeigen (II). Im Mittelpunkt der Diskussion steht das Problem, ob das Verhängnis tatsächlich in beiden Reyen eine einheitliche Instanz darstellt. (I) Im ersten Reyen verbildlicht eine mythische Erzählung die Entstehung der natürlichen Weltordnung. Die Fortuna verteilt „Himmel / Helle" und „Meer" (I. 768) unter den Göttern Jupiter, Neptun und Pluto. Sie fungiert hier als das ausführende Organ des Verhängnisses (vgl. I. 769f.) bzw. als das „in die Erscheinung tretende und damit erfahrbare Verhängnis". 222 Sie ordnet die Welt, indem sie aus ihrem „Glücks-Topf' (I. 789) das Los ziehen läßt. Jupiter erhält die „Sterne" (I. 793), Neptun „Meer und Wellen" (I. 797) und Pluto „der Hellen Pfuhl" (I. 802). Widerspruchslos nehmen die drei ihr Los an und beschwören gemeinsam mit den ihnen untergeordneten Göttern die Ewigkeit dieser Ordnung: „Himmel / Meer / Helle / bleibt't ewig in Ruh" (I. 825). Nicht steht die Aitiologie der Weltenstehung im

221

Borgstedt: Scharfsinnige Figuration. Zur Semantik des Herrscherlobs bei Lohenstein, S. 213. 222 vgl. Spellerberg: Verhängnis und Geschichte, S. 46. Die Fortuna sei, so Speilerberg, „nichts anderes als das in der dem Schöpfungsstand eigentümlichen Bewegung von Werden und Vergehen, von Aufstieg und Fall für den Menschen erscheinende Verhängnis". Das Verhängnis erscheine nur „für den Menschen und sein durch Vemunfitbegrenzung und affektive Trübung eingeschränktes Erkenntnisvermögen [...] im Rad der blinden Fortuna" (ebd.). Vgl. Voßkamp: Daniel Casper ν. Lohensteins Cleopatra. Historisches Verhängnis und politisches Spiel, S. 73.

205 Vordergrund, sondern die Einsicht, daß die Weltordnung göttlich, für alle verbindlich und ewig ist. Der Reyen hat bisher kaum strittige Interpretationen herausgefordert, seine significatio liegt offenbar auf der Hand. Am häufigsten wird die ethische Botschaft hervorgehoben. Die mythische Situation spiegele die dramatische Handlung und die historische Konstellation des zweiten Triumvirats. Dabei nehmen die Interpreten einstimmig eine Mythenallegorese vor, die das Verhalten des Antonius verurteilt. So sieht Furrer das emblematische Prinzip gewährleistet, indem der „Weltverteilungsmythos vom einmaligen Vorkommnis zum allzeit gültigen Exempel" eines Verhaltensmodus erhoben werde. 223 Die Götter, die sich willig dem Schicksal unterwerfen, lieferten das „Urbild vernunftgerechten Verhaltens" und das „Gegenbild zur törichten Denkart des Antonius", der uneinsichtig sei und die Vorschläge eines Friedensplanes nicht annehme. 224 Das geeignete tertium comparationis zwischen dem Mythos und der historischen Situation des zweiten Triumvirats biete die Dreiteilung. Der Figur des Pluto, der anscheinend das schlechteste Los ziehe, entspreche Antonius. Anders aber als der Gott der Unterwelt bescheide er sich nicht mit seinem Anteil.225 Furrers Deutung schließt sich Behar an. Im Gegensatz zu Pluto, der sein Los annehme, begnüge sich Antonius nicht mit dem ihm zugewiesenen Teil: [...] „ses actions du premier acte se revelent ainsi le contraire de l'attitude exemplaire proposee dans le chceur. L'attitude de Pluton assure la paix entre les dieux, celle d'Antoine engendre la discorde. Le chceur ainsi montre la condamnation du comportement d'Antoine par Lohenstein." 226 Die primäre Funktion des Reyen sehen Furrer und Behar in einer Paränese, die im Mythos eingekleidet sei und sich an die Adresse des Antonius bzw. an die Beteiligten jeder vergleichbaren politischen Situation richte. Gelenkt wird diese Interpretation wahrscheinlich durch den zweiten Reyen, der mit Paris, dessen „verdammte Begirde" (II. 550) getadelt wird, ebenfalls den Antonius zu verurteilen scheint, dem vorgeworfen wird, daß er „für Brunst [...] Thron und Weißheit fallen" lasse (II. 349). Jedenfalls gibt der Dichter selbst diese Deutung in seiner Inhaltsangabe an die Hand.227 Paris gälte demnach als das „Urbild" desjenigen, der unvernünftig Urteile fallt.228 Schöne weist richtig darauf hin, daß hier die „subscriptio zum AntoniusBild der Abhandlung [...] erneut im Bilde verkörpert" werde, „in dramati-

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Furrer: Vernunft und Leidenschaft in der Erstfassung des Trauerspiels „Cleopatra" von Daniel Casper von Lohenstein, S. 92. Ebd., S. 103. Vgl. ebd., S. 98. Vgl. auch Aikin: The Mission of Rome in the Dramas of Daniel Casper von Lohenstein, S. 212f. Behar: Silesia Tragica. Bd. 1, S. 236. Daniel Casper von Lohenstein: Cleopatra. Trauerspiel, S. 12. Schöne: Emblematik und Drama, S. 170.

206 sches Geschehen umgesetzt". 229 Es handele sich in Abwandlung der reinen subscriptio um eine „gespielte significatio" 230 , um eine Wiederholung des singulären Ereignisses im Mythos. Die oben vorgeführte Interpretation des ersten Reyen hat sich offensichtlich durch dieses Beispiel inspirieren lassen. Wenn der Mythos um die saturnischen Erben ebenfalls als ,gespielte significatio' auf diese Weise das dramatische Geschehen in positiver exemplarischer Form wiederholte, würde er für die Herrscherpanegyrik funktionalisiert. Eine mögliche friedliche Weltteilung und -Ordnung, die der Reyen vorführt, scheiterte nämlich an Antonius. Wenn der Mythos tatsächlich durch Vorführung exemplarischen Verhaltens des Pluto Antonius abqualifizierte, diente er dazu, Augustus aufzuwerten. Der erste Reyen gälte vordergründig als eine Art Vorspiel zum Finale des letzten Reyen, und gleich diesem setzte auch der erste den Mythos für panegyrische Zwecke ein. Ist aber diese seine Funktion im letzten Reyen bereits widerlegt bzw. die Nennung des Tiphys als Element des Spiels erkannt worden, das die panegyrische Funktion aufhebt, so ist ein ähnliches Verfahren spielerischer Mythenallegorese auch für den letzten Reyen zu beobachten. Im letzten Reyen spielt der Dichter mit der Bedeutungsvielfalt und der Heterogenität des Mythos, und entsprechend ist die significatio der mythischen Erzählung auch des ersten Reyen nur auf den ersten Blick so überzeugend, wie es die Interpreten vorführen. Nicht Antonius ist die Zielfigur der mythologischen Erzählung, sondern das Verhalten des Augustus steht auf dem Prüfstein. Darauf hat bisher lediglich Wiehert aufmerksam gemacht. Der erste Reyen entwerfe die „Utopie eines augusteischen Friedens, und zwar in verschlüsselter Form gegen die Realität des I. Aktes gerichtet". 231 Dieser Friede werde aber nicht von Antonius, sondern von Augustus selbst bedroht. Wiehert setzt das mythische Geschehen zwar auch in Analogie zum Triumvirat, erkennt aber richtig einen Gegensatz zwischen der im ersten Reyen vorgestellten göttlichen und ewigen Weltordnung und der von Augustus konstruierten Geschichte. 232 Dieser Gegensatz entsteht durch den Hinweis auf die Natur im Reyen und zu Beginn des ersten Aktes. Dem Ratschluß der Göttin, die „der Natur di Gräntzen sätzt" (I. 773) leisten die Götter zwar Folge, Augustus aber mißachtet ihn. Er verstößt gegen die „Gräntz'" der „Natur" (I. 4), gegen die göttliche und ewige Ordnung, und ihn „gräntzt kein Schranken nicht" (I. 6). Die göttliche Verbindlichkeit einer von Menschenhand unberührten Natur, ihrer unumstößlichen Gesetze und Verpflichtungen, ist kein Maßstab für das Handeln des Kaisers. Während die Götter des ersten Reyen der Fortuna 229 230 231 232

Ebd., S. 170. Ebd., S. 171. Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 133. Ebd.

207 „Demuth" entgegenbringen (I. 775), diesen wiederum „Treue / Schuld / und Pflicht" (I. 806) erwiesen wird, hält Augustus sich nicht an die Bewahrung dieses ewigen Naturgesetzes. Mit dem Thema der „Gräntzen" der Natur (I. 773) wird der Kreis zum Beginn des ersten Aktes geschlossen. Die Aussage ist eindeutig: Augustus wird durch den ersten Reyen als eigensinniger Überschreiter einer natürlich-göttlichen Ordnung bewertet, für den die Fortuna nur eine Gegenspielerin unter vielen darstellt. Eine subtile Äußerung Cleopatras unterstützt diese Interpretation. Nachdem Antonius gestanden hat, daß er durch Augustus' Angebot auf einen „Irrweg" (II. 244) gefuhrt worden sei, des „Keisers Vorschlag" (II. 255) aber ausschlage, trifft Cleopatra eine betont allgemeingültige Feststellung: „Des milden Himmels Gütte verleihe Glück' und Sieg dem edelsten Gemütte. Dem das Verhängnüß selbst sich unterwerffen muß" (II. 257-259)! Es ist kaum anzunehmen, daß sie auf den Sieg des Antonius anspielt, dessen Wankelmütigkeit sie schon längst gewahr geworden ist. Eher verweist ihre Aussage auf die göttliche Weltordnung des ersten Reyen, die Augustus durch sein Handeln verletzt. (II) Was in allen Interpretationen zum ersten Reyen nicht beachtet wird, ist die Schwierigkeit, die sich nun in der Instanz des Verhängnisses kristallisiert. Die göttliche Providenz ist verantwortlich für die ewige Weltordnung, die aber vom eigensinnigen Augustus negiert wird. Folglich handelt dieser nicht in Übereinstimmung mit dem Verhängnis. Diese Übereinstimmung wird aber im letzten Reyen suggeriert. Indem dieser die Idee der translatio ins Spiel bringt, hypostasiert er diese Übereinkunft mit einem teleologisch ablaufenden Gang der Geschichte. Streng genommen aber schließen sich die Aussagen des ersten und des letzten Reyen aus. Beschwört dieser die Übereinstimmung des Augusteischen Handelns mit dem Verhängnis, widerlegt jener diese im Vorfeld, indem er auf der Ebene des Aktes und des Reyen die Verletzung der göttlichen providentiellen Ordnung zum Thema macht. 233 Das Verhängnis kann nicht, wie Spellerberg betont, „der legitime Bezugspunkt für alles politischgeschichtliche Handeln sein", da offensichtlich ist, daß Augustus' Handeln im Widerspruch zur „Auswicklung des Verhängnisplans" im ersten Reyen steht.234 Der erste Reyen enthält eher eine Anklage an Augustus, die einst nach dem Chaos durch Verhängnisschluß entstandene Ordnung der Natur mißachtet zu haben, indem er ihre Grenzen überschritten und dem „Nilus 233

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Der These Jungs (Daniel Casper von Lohensteins Cleopatra. Eine Untersuchung von Gehalt und Form) ist nicht zuzustimmen, daß der erste und der letzte Reyen widerspruchslos eine Art Rahmen böten, indem die Herrschaft der Götter als mythologischer Höhepunkt auf den geschichtlichen Höhepunkt, den Aufstieg Roms und die Machterweiterung der Habsburger zu beziehen sei (S. 67). Auch Juretzka (Zur Dramatik Daniel Caspers von Lohenstein) favorisiert eine Parallelisierung der mythologischen mit der geschichtlichen Situation (vgl. S. 105). Spellerberg: Daniel Casper von Lohenstein. Für Elida Maria Szarota, S. 661.

208 Gräntzen" (I. 179) gefunden hat. So klagt der personifizierte Nil im letzten Reyen, daß er von einer „Unglücks-Wolck' umbhüllt" sei (V. 469) und „des Keisers Blitz" ihn „fast gar in Abgrund" schlage (V. 470). Indem Augustus das vom Vergängnis gestiftete Naturgesetz und die göttliche Ordnung ignoriert, ist er uneingeschränkt Macher geschichtlicher Ordnung.235 Natur und Geschichte treten auseinander.236 Vor dem Hintergrund des ersten Reyen ist er ausschließlich das „Subjekt der Geschichte" und nicht des Verhängnisses.237 Die Diskussion um die Rolle des Herrschers im Spannungsfeld von Verhängnis und Geschichte, die Spellerberg in seinem Beitrag zur Lohensteinforschung untersucht, muß an dieser Stelle neu überdacht werden. Da der Kaiser offensichtlich autark handelt und seine Geschichte konträr zum Verhängnisplan entwickelt, ist Geschichte hier nicht als „Explikation des Ver-

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Unter diesem Gesichtspunkt ist die von Voßkamp (Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein) hervorgehobene Korrelation von Verhängnis und virtus dann problematisch, wenn man die virtus am stoischchristlichen Naturrecht mißt (vgl. S. 187). Voßkamp (ebd.) arbeitet das Verhältnis von Natur und Geschichte heraus und stellt fest wobei er sich vor allem auf den Arminius-Roman bezieht - , daß die Natur einen „Gegenpol zur .unbeständigen', unberechenbaren Geschichte" bilde, deren Ereignisse unvorhersehbar" seien, „während die Natur einen in sich sinnvollen und planvollen Kosmos" darstelle (S. 164). In der Natur werde generell „sinnvolle Harmonie" erblickt, während „in der Geschichte Willkür und Chaos" herrschten (ebd.). Voßkamp untersucht nun die im Roman erscheinende Natur vor allem im Hinblick auf ihre „Zeitgesetzlichkeit" und betont ihre Verwandtschaft mit der „stoischen Vorstellung einer Allgottheit, die dem Uhrwerk den Antrieb" gebe (S. 167) und Ursache sei für die Entfaltung eines sinnvollen und berechenbaren vernünftigen Ganzen (vgl. ebd., S. 168). Der kontinuierliche Ablauf der Naturzeit finde sich in der chaotischen Geschichtszeit nicht wieder, die vom Verhängnis bestimmt werde (vgl. ebd., S. 171). Die ethische Komponente des stoischen Naturbegriffs und die dauernde Bezogenheit des geschichtlichen Menschen auf die Natur, und sei es auch in der Form, daß geschichtliches Handeln diese verhängnisvollerweise als Leitinstanz negiert, fallt bei dieser Betrachtung nicht ins Gewicht. Natur und Geschichte sind aber für die Stoa nicht voneinander zu lösen. Jeder Augenlick und jede Handlung ist in der stoischen Anthropologie belangvoll, da er Zeugnis darüber ablegt, wie nahe der Mensch der Natur ist. Der stoische Naturbegriff schließt jedes menschliche Handeln als geschichtliches mit ein und verbietet es, unter Geschichte nur das gesellschaftliche Leben am Hof zu verstehen und nur den Augenblick als geschichtlich belangvoll zu erkennen, den der Mensch dort in seiner Rolle verbringt. (Zu diesem .barocken' Geschichtsbegriff vgl. Spellerberg: Verhängnis und Geschichte, S. 36). Der Zusammenhang zwischen Geschichte und Natur ist von Wucherpfennig anders herausgearbeitet worden. Im Hinblick auf den Arminius-Roman konstatiert er, daß „auch die Erkenntnis Gottes aus der Natur [...] für die Politik verwertbar" sei und daß die Natur die „Grundlagen praktischen Handelns" liefere (S. 188). Die Problematik manifestiere sich aber darin, daß die „Analogie zwischen Naturharmonie und herzustellender Geschichtsharmonie" den Absolutismus rechtfertige (ebd.), diese durch Klugheit zu erreichende Übereinkunft aber durch das Verhängnis erschwert werde. Das Verhängnis übernähme dann eine korrektive Funktion. Wucherpfennig diskutiert nicht den Grund für den Widerstand des Verhängnisses: Möglicherweise widersetzt es sich auch hier einem vom Menschen vorerst zugunsten des Absolutismus geschaffenen Naturbild. Vgl. Spellerberg: Verhängnis und Geschichte, S. 40.

209 hängnisses" zu beschreiben.238 Der Fürst ist nicht durch übereinstimmendes Handeln mit dem Verhängnis Repräsentant und Subjekt der Geschichte.239 Im Gegenteil handelt Augustus ganz eigenmächtig im Widerspruch zur objektiven Kategorie des Verhängnisses, das begrifflich anders zu fassen ist: Das Verhängnis bestimmt nicht die Geschichte, sondern schafft eine göttlich-kosmische und deswegen zugleich ethische Ordnung, die sich in der Natur manifestiert. Die Betonung liegt nicht auf dem geschichtsdeterminierenden Charakter des Verhängnisses, sondern auf der ethischen Verpflichtung seines Naturgesetzes, das wegen seiner Ewigkeit und Unabänderlichkeit als das stoisch-christliche Naturgesetz identifiziert werden könnte. Die „schnöden Sterblichen der Welt" (I. 763) werden dazu aufgefordert, diesem Verehrung zukommen zu lassen. Nun scheint ein Widerspruch darin zu liegen, daß die Göttin Huldigung verlangt, da sie „Gold und Geld / Ruhm / Zepter / Infel / Thron" vergibt (I. 765f.), im stoischen Sinne Adiaphora. Diese Reihung indes wird am Ende um die „Weißheit" (I. 766) ergänzt. Auch hier handelt es sich um ein Spiel: Der konventionellen Vorstellung der Fortuna als einer gabenverteilenden Glücksgöttin wirkt der Hinweis auf die sapientia entgegen, die sich durch die vernünftige Verehrung eines Prinzips ausdrückt, des ewigen Naturgesetzes. Nicht handelt es sich in der Aufzählung der Gaben um irdische Reichtümer, sondern um das regnum sapientiae.240 Da sich aber beide Ordnungen der Natur im ersten und im letzten Reyen auf das Verhängnis berufen, kristallisiert sich die Schwierigkeit in dieser Instanz, will man sie einheitlich definieren. Ursprüngliche unberührte Natur und eine durch die Geschichtsmächtigen gestaltete stehen nebeneinander. Der erste Reyen exponiert eine in mythischer Urzeit entstandene Natur, die ein „erfolgreicher göttlicher Ordnungswille", nämlich das Verhängnis, begründet hat.241 Dies ist die natura non manu facta aus Senecas 41. Brief.242 Wohl kaum als „widrige Übermacht" wäre das Verhängnis hier zu charakterisieren,243 sondern als Ursache einer göttlichen Ordnung, die ihre Spuren in der sichtbaren unberührten Natur hinterläßt und insofern einsehbar ist. Das Verhängnis könnte hier mit dem „weise(n) Baumeister dieses Allen" identifiziert werden, den Lohenstein in seiner Vereinbarung der

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Ebd., S. 50. Außerhalb seiner Rolle als Herrscher ist der Fürst nach Spellerberg „nichts als bloße Kreatur und als solche Objekt der Geschichte, während er in seiner Funktion als Souverän ihr Subjekt" sei (ebd., S. 40). Am Verhängnis liege es, ob der Fürst das Subjekt der Geschichte bleibe (ebd.). Vgl. auch Voßkamp: Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein, S. 173. Vgl. ebd., S. 40. Vgl. oben, S. 91 f. Forschner: Über das Handeln im Einklang mit der Natur, S. 9. Vgl. oben, S. 71 f. Wucherpfennig: Klugheit und Weltordnung, S. 168.

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Sterne und der Gemüther als Ursache für die wunderbare „Kette der Eintracht" bestimmt.244 Diese kann durch den „Beweis des Augenscheines gläubig machen".245 Im Gegensatz zu dieser Ordnung findet sich im letzten Reyen eine Allegorie, die auf der Basis einer von menschlicher Geschichte gestalteten Natur konstruiert wird. Auch diese legitimiert sich durch den Willen des Verhängnisses. Daß aber das „Verhängnüß" (V. 415) die Ordnung, die der letzte Reyen vorstellt, vorgesehen habe, ist im Kontext des ersten Aktes und seines Reyen ein Widerspruch. Offensichtlich handelt es sich bei dem Verhängnis, das im Mythos des ersten Reyen eine Rolle spielt (vgl. I. 769), um eine andere Instanz. Im Hinblick auf diese argumentiert Antonius in seiner Auseinandersetzung mit Caelius: „Was das Verhängnüß schleust muß Erd und Mensch erfüllen" (I. 676). Das „Krigs-Looß" (I. 570) sei in der göttlichen Urordnung nicht vorgesehen: Der erste Reyen entwirft mit Hilfe seiner mythischen Erzählung den ewigen Frieden. Im letzten Reyen dagegen sind die Produkte der Geschichte, Kriege und Naturunterwerfung, angeblich ebenfalls der Wille des Verhängnisses. Um eine einheitliche Instanz handelt es sich offensichtlich bei ,dem Verhängnis' ebensowenig wie bei ,der Themis' in Senecas Papinian. Konnte nachgewiesen werden, daß es sich bei der Themis nicht um eine homogene Idee handelt, sondern daß sie in der Argumentation verschiedentlich in Anspruch genommen wird,246 so ist im Falle des Verhängnisses in der Cleopatra von einer ebensolchen Inhomogenität zu sprechen. In der Tat verspricht die fehlende Homogenität des Begriffs Irritationen aufzulösen, die die häufige Berufung auf ,das Verhängnis' in den Lohenstein-Dramen hervorruft. Diese erregen seit jeher die vermeintliche Ungerechtigkeit und Dunkelheit des Verhängnisses. Der Verwirrung wird gerne mit dem Hinweis begegnet, daß der Verhängnisschluß sich „nicht [...] in Gestalt eines kausal gedachten Verhältnisses von Laster und Strafe, Tugend und Lohn" begreifen lasse.247 Seine Sinnhaftigkeit ergebe sich nicht aus einem „Kausalnexus zwischen Schuld und geschichtlichem Untergang".248 Lohensteins Gewährsmänner für eine teleologische, durch die Providentia beeinflußte, Geschichtsauffassung seien Justus Lipsius, Gracian und Saavedra.249 Diese setzen die „Undurchdringlichkeit des Schicksals"

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Daniel Casper von Lohenstein: Lyrica, S. 116. Ebd., S. 119. Vgl. oben, S. 161. Vgl. oben, S. 143-145. 247 Speilerberg: Daniel Casper von Lohenstein. Für Elida Maria Szarota, S. 661. 248 Ebd., S. 672. 249 v g l . Speilerberg: Daniel Casper von Lohenstein. Für Elida Maria Szarota, S. 661. Zu fatum und fortuna bei Lipsius vgl. auch Nicolette Mout: Trost im Unglück? Justus Lipsius und Fortuna. In: Fortuna. Hrsg. von Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1995 (Fortuna vitrea 15), S. 295-310, hier S. 297-305. 245

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voraus. 250 Die im Drama irritierenden Vergehen der erfolgreichen Mächtigen werden aber so auf höchst zweifelhafte Weise hingenommen, indem man sich auf Autoritäten und Tradition beruft. Spellerbergs Bemühung, trotz eines Geschichtsverlaufs, der die Verbindung von Tugend und Macht ausschließe, eine prinzipielle Moralität des Verhängnisses nachzuweisen, 251 erübrigt sich, berücksichtigt man die Inhomogenität des Begriffs, die im Text offen-sichtlich angelegt ist. Dabei wird sich zeigen, daß ein finalistisches Geschichtsdenken zwar unabweisbare Voraussetzung dafür ist, daß die translatio-Ideologie funktioniert, daß dieser Kontext aber vor dem Finale erst durch Sprache und Unterwerfungsgestus geschaffen werden muß. Diese verhüllen die Inhomogenität des Begriffs und bilden im Vorfeld des Finales einen Konsens. Die Inhomogenität des Verhängnisbegriffs, die Alt mit dem Hinweis auf die „Ambivalenz" des Verhängnisses unzureichend bestimmt, 252 ist offenbar ein Kunstgriff und fallt in den Bereich des serio ludere. Sie geht eine reziproke Verbindung ein mit der Metaphorik der Naturgestaltung. Diese verbildlicht sowohl die Konstruktion des neuen Naturrechts, als auch die Verwandlung von Sprache. Diese Verwandlung betrifft eine Sinnstiftung, die ein bestimmtes Ziel verfolgt: das Handeln des Augustus in Übereinstimmung mit der mächtigen Instanz des Verhängnisses zu bringen. Die Kongruenz wird erreicht, indem dem Verhängnis im letzten Reyen folgender Sinn imputiert wird: verantwortlich zu sein fur die gestaltete und mit Gewalt verursachte Weltordnung, die durch die Hierarchie der Flüsse allegorisiert ist. Der Kommentar Lohensteins gibt einen wertvollen Aufschluß. Der letzte Reyen weist auf eine Welt hin, die neu erfunden ist. Die Konstruktion dieser „neuerfundenen Welt" 253 erhält durch die Berufung auf das Verhängnis scheinbar eine Legitimation von theologischer Seite. Die neuerfundene Welt nimmt das Verhängnis, im ersten Reyen noch die Urhe-

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Alt: Begriffsbilder, S. 280. Alt hält es fur „wahrscheinlich", daß „Lohensteins Verhängnisbegriff fest im finalistischen Geschichtsdenken des 17. Jahrhunderts verankert" sei (ebd., S. 279). Anhand der Epicharis und der Sophonisbe arbeitet er jedoch einen ambivalenten Charakter des Verhängnisses heraus, das zwischen einer christlichen Nuancierung, der problematischen Begünstigung Unrechter Herrschaft und der Prophezeiung einer entfernten Zukunft schwanke (vgl. ebd., S. 278-282). Die Kategorie des Verhängnisses erscheine dem Menschen zwar nicht „zugänglich", provoziere aber „ambivalente Deutungen" (ebd., S. 283). Vgl. Spellerberg: Verhängnis und Geschichte, S. 201. Spellerberg stellt in seiner Arbeit die Frage, inwiefern Lohensteins Dramen die „Leitung der Geschichte durch das Verhängnis als einen sittlichen Prozeß [...] widerspruchsfrei zur Darstellung bringen" (S. 50). Wie schon zu Beginn dieses Kapitels erläutert, handelt es sich laut Spellerberg bei der Einheit von Geschichte und Sittlichkeit, die durch das Verhängnis gestiftet werde, um eine utopische Geschichtstheologie, jedoch mit dem Anspruch auf Erfüllung in einem „neuen Gnadenstand" (ebd., S. 210). Die leitende Kategorie ist dabei nach Spellerberg die translaiioVorstellung und ihre Lutherische Version. Vgl. oben, S. 170. Alt: Begriffsbilder, S. 280. Vgl. oben, S. 176.

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berin einer göttlichen ewigen Ordnung, in Anspruch. Sie sieht in diesem Verhängnis aber die Ursache für eine Geschichte und fur ein Recht, das nicht von Gott gewollt, sondern von Menschen gemacht ist. Der letzte Reyen repräsentiert eine Allegorie, die auf einer Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Natur und Geschichte beruht, die aber konstruiert ist. Der hier verwendete Begriff des Verhängnisses erfüllt die Funktion, diese Analogie als gottgewollt zu sanktionieren. Auf welche Weise erhält ,das Verhängnis' diese Funktion?

b) Die senecaischen occupati und die Simulation des amor fati: Zur Funktion der Rhetorik im Hinblick auf die translatio-Idee Offenbar verändert sich im Laufe des Stückes die Bedeutung des Verhängnisbegriffs in fundamentaler Weise. Stiftet das Verhängnis im ersten Reyen eine göttliche Naturordnung, so legitimiert es im letzten Reyen eine konstruierte, die das Produkt der Geschichtsmächtigen ist. Wie kommt es trotz dieses Widerspruchs zu der Gewalt, die das Verhängnis als Legitimationsinstanz im letzten Reyen besitzt? Im Kontext der senecaischen Kulturphilosophie ist bisher lediglich Augustus als occupatus betrachtet worden. Aber auch die anderen, unterliegenden, Geschichtstreibenden sind occupati. Nicht nur indem sie sich, wie etwa Cleopatra, am taktisch prudentistischen Spiel der Politik und am Theater der Welt beteiligen und sich verstellen. Sie nehmen teil an der Konstruktion des Konsenses, den das Finale ausdrückt: Die Geschichte muß so verlaufen und nicht anders. Schuld, Untergang und Sieg sind vorgezeichnet durch das Verhängnis. Der Hinweis auf das Verhängnis harmonisiert die Ordnung der Natur mit derjenigen der Geschichte und unterstreicht ihre Analogie. Diese Funktion des Verhängnisbegriffs bereiten auch diejenigen vor, die in der Geschichte als Verlierer dastehen. Sie sind somit produktive occupati im Bereich der Sprache. Da im letzten Reyen die occupati der Natur einen Sinn ablauschen und Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Natur und Geschichte stiften, indem sie der Natur die Bedeutung der Geschichtsspiegelung erst verleihen und diese so „zu etwas anderem" gestalten,254 mag sich auf den ersten Blick Benjamins Sprachphilosophie anbieten. Einer fur das folgende Kapitel wichtigen Erscheinung vermag sie aber nicht Rechnung zu tragen: der Rhetorik, die bei der kollektiven Konstruktion der translatio-Idee eine eminente Rolle spielt. Den theoretischen Widerspruch zum ersten Reyen hebt, wie sich zeigen wird, die rednerische Praxis auf. In der pathetisch-epideiktischen Kommunikation über das Verhängnis vollzieht sich allererst seine praktische Kon-

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Benjamin: Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 161.

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kretisierung als außerweltliche, d. h. nicht beeinflußbare, geschichtsbestimmende Macht. Diese Reden im Vorfeld des Finales sind unabdingbar, um dem Verhängnis jenen ontologischen Sinn zu geben, den es im Finale besitzt und benötigt. Der letzte Reyen setzt fur seine Wirksamkeit und die Überzeugungskraft der translatio den consensus zwischen dem Verhängnis und dem kaiserlichen Handeln voraus. Die Kommunikation trägt im Vorfeld des letzten Reyen dazu bei, diesen consensus künstlich herzustellen. Die Reden der Verlierer dienen dazu, die aufgedeckte Inhomogenität des Verhängnisbegriffs zu bemänteln und einen stoischen amor fati, eine bereitwillige Hingabe an das Schicksal zu simulieren. Da die Rhetorik bei der Konsensstiftung in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen ist, bietet sich statt Benjamins Sprachtheorie Blumenbergs Schrift Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik an. Die folgende Argumentation gliedert sich in drei Schritte: Zunächst sei der Begriff des amor fati geklärt. Senecas kleine Schrift De Providentia scheint besonders geeignet, das Phänomen der,Liebe zum Schicksal' zu beschreiben (I). Auf welche Weise die Unterworfenen diese simulieren und die Instanz des Verhängnisses so festschreiben, daß sie ihre Funktion im letzten Reyen erfüllen kann, sei in einem zweiten Schritt erläutert (II). Schließlich sei auf Blumenbergs Überlegungen rekurriert, welche Funktion die Rhetorik im Kontext der zeitgenössischen Anthropologie erfüllt (III). (I) Wie wir sehen werden, nehmen die Unterworfenen gemäß dem ,ducunt volentem fata, nolentem trahunt' (vgl. Ep. 107. 11) ihr Schicksal an und akzeptieren den longus ordo rerum, den das fatum beschert und der zwingt, auch Unglück standhaft zu erdulden (vgl. De prov. 5. 7). Die Diatribe De Providentia enthält keine Geschichtstheologie, sondern eher Ratschläge, wie mit Unglück umzugehen sei, das den Menschen zustößt. Die Einsicht, daß das persönliche Schicksal mit dem Willen der Götter übereinstimmt, soll die Enttäuschung und Entrüstung darüber mildern, daß einem anscheinend zu Unrecht Leid widerfahrt. Die Programmatik der Schrift besteht darin, durch ein persuasives Pathos einen amor fati aufzubauen. 255 Bereits die anfangliche Frage, warum den 255

Besonders dieses Pathos macht meines Erachtens die Schrift interessant, die aber nur mit Einschränkung geeignet ist, Aufschlüsse über den Verhängnisbegriff bei Lohenstein zu geben, denn sie entwirft keine Geschichtstheologie. Das Problem des Schicksals wird im Hinblick auf das subjektive Erleben von Leiden behandelt. Hinzu kommt, daß die Schrift möglicherweise in hohem Grade auch Ausdruck Senecas persönlichen Schicksals ist. Grimal (Seneque ou la conscience de l'Empire) vermutet, daß Seneca sie in seinen letzten Lebensjahren, Ende des Jahres 62 oder Anfang 63, verfaßt hat. Obgleich der Philosoph ansonsten von persönlichen Bekenntnissen Abstand nehme, liege nahe, daß er mit ihr denjenigen entgegentreten wollte, denen sein Verlust an Einfluß, der zu dieser Zeit begann, gelegen gekommen sei: „II s'adresse moins ä ceux qui seraint tentes de le plaindre qu'aux autres, plus nombreux, certainement, qui eprouvent quelque satisfaction, secrete ou affichee, de le voir abattu" (S. 302). Daß die objektiven Überlegungen zum Schicksal und die persönliche Situation des Autors hier ineinandergeflossen sind, ist wahrscheinlich. Zu

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guten Männern Übles zustoße (vgl. Deprov. 1.1), nimmt die Antwort in gewisser Weise vorweg: Unglück bedeutet Auszeichnung. Die Tugendhaften erhalten Gelegenheit, ihre Stärke unter Beweis zu stellen, indem sie sich dem Schicksal stellen: „[...] calamitas virtutis occasio est" (4. 6). So nehmen sie auch den Willen der Götter an, nicht, indem sie sich über ihn beklagen, sondern indem sie ihn akzeptieren. Gerade denjenigen muten die Götter am meisten zu, in die sie die größte Hoffnung gesetzt haben: „Hanc itaque rationem di sequuntur in bonis viris quam in discipulis suis praeceptores, qui plus laboris ab iis exigunt in quibus certior spes est" (4. 11). Die Tugendhaften müssen sich nicht vom Schicksal zwingen lassen. Der amor fati führt dazu, daß sie ihm nicht nur bereitwillig folgen, sondern wünschen, ihm noch zuvorzukommen: „[...] boni viri laborant, inpendunt, inpenduntur, et volentes quidem; non trahuntur a fortuna, sequuntur illam et aequant gradus; si scissent, antecessissent" (5. 4). Das große Glück, das einem dann zuteil wird, ist das Einverständnis mit den Göttern; sei es, daß sie das Leben der Kinder, einen Teil des eigenen Körpers oder gar das Leben selbst forderten, willig gibt man ihnen, was sie verlangen: A volente feretis quidquid petieritis [...]. Nihil cogor, nihil patior invitus, nec servio deo sed assentior, eo quidem magis quod scio omnia certa et in aetemum dicta lege decurrere. Fata nos ducunt et quantum cuique temporis restat prima nascentium hora disposuit. (De prov. 5. 5 - 7 )

Ja zu sagen zum Schicksal, was auch immer es bringen mag, ist die einzig vernünftige Haltung. Durch sie erweist sich die recta ratio des Menschen. Senecas Schrift verarbeitet den antiken Schicksalsgedanken, wie er in Piatons Staat vorgebildet ist. Am Ende der Politeia wird das Verhältnis des Menschen zum Schicksal durch einen Dualismus von Prädetermination und Freiheit bestimmt. Piaton bedient sich der mythischen Erzählung von Lachesis, Klotho und Atropos, die an den ,Spindeln der Notwendigkeit', der Anangke, sitzen (vgl. Polit. 617c-d) 256 und im Gesang das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige verkünden. Durch das Los wird aber nicht die Art und Weise bestimmt, wie ein jeder sein Leben verbringt. Nicht kann der Mensch das, was ihm zustößt, in jedem Fall frei wählen, wohl aber die Lebensweise (vgl. 618b), ob er tugendhaft oder nicht sein Leben führen will. Stilisiert sich Seneca zu Beginn seiner Schrift als Anwalt der Götter (vgl. Deprov. 1. 1), so befreit auch die platonische mythische Erzählung diese von der Verantwortung dafür, ob der Mensch glücklich oder unglücklich wird: Der Wählende trägt die Schuld, Gott ist schuldlos (vgl. Polit. 617e). Wie Piatons Schrift liegt auch Senecas Diatribe der sokratische Gedanke zugrunde, daß der Mensch für sein Leben selbst verantwortlich ist.

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Senecas Schicksal in den Jahren 62 und 63 nach Chr. vgl. Fuhrmann: Seneca und Kaiser Nero, S. 262-281. Zitiert wird nach: Piaton: Politeia. Werke. Bd. 4.

215 Senecas Schrift propagiert die Unabhängigkeit der Tugend und der Eudaimonia von den äußeren Gegebenheiten. Das Pathos der Senecaischen Rede steht zwar im Widerspruch zur Lehre der Affektkontrolle, aber sie dient ja der Paränese.257 Der einzelne soll sich gegenüber dem fatum bestätigend verhalten, entsprechend ist die Rede des Interlocutors epideiktisch angelegt. (II) Der pathetische und epideiktische Charakter der Rede resultiert in Senecas Schrift aus dem Anspruch, eine Wahrheit eindringlich zu vermitteln. Das Pathos dient der Paränese, daß sich der einzelne dem Schicksal fügen und es durch constantia und virtus bezwingen soll.258 In Lohensteins Dramen wird der amor fati simuliert, um künstlich ein Weltbild zu schaffen, in das sich die Unterworfenen nur scheinbar einordnen. In diesem Zusammenhang spielt das rhetorische Pathos der Cleopatra eine wichtige Rolle, das zunächst die ebenfalls epideiktisch angelegten Äußerungen ihrer Mitstreiter vorbereiten. Als occupati simulieren sie die Übereinstimmung ihres persönlichen Schicksals mit dem Willen des Verhängnisses und entwerfen so die Illusion einer Übereinstimmung des Besonderen mit dem Allgemeinen. Immer wird, wie im Reyen der Parcen, der „Verhängnüs-Schluß" (Cleop. III. 583) als von menschlichen Bemühungen, vom „Witz" (III. 579), unantastbar vorgestellt.259 Als die Geister des Antigonus und des Artabazes dem Antonius im Traum verheißen, daß das „Verhängnüs" (III. 296) seinen Selbstmord vorsehe, führt er sein Unglück auf die Parzen zurück, die „den Lebens-Fadem" spönnen (III. 337). In abgewandelter Form stellt er die Frage, die De Providentia einleitet: „Ihr leichten Götter ihr / di kein Erbarmnüß regt / Wi daß

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Seneca ist sich, in der Nachfolge seines Vaters Seneca Rhetor, der gewandelten Funktion, die die Rhetorik in der Frühen Kaiserzeit nach dem Untergang der Republik innehatte, durchaus bewußt gewesen. An den Niedergang der Ciceronianischen Rhetorik knüpft Seneca kulturgeschichtliche Betrachtungen. Dies bezeugen einige seiner Briefe, die sich mit der Redekunst im allgemeinen und vor allem mit dem Mißbrauch der Rede beschäftigen. Für Seneca hängen die oratio corrupta bzw. die orationis licentia (vgl. Ep. 114. 11) und der Sittenverfall der Zeit zusammen. Der Hang zur luxuria sei nicht nur ein Phänomen, das sich in einer ausschweifenden Lebensweise äußere, sondern auch in der Sprache. Erstes Ziel solle immer die Bildung der Seele sein, nicht die der Rede, denn „cuiuscumque orationem videris sollicitam et politam, scito animum quoque non minus esse pusillis occupatum" (Ep. 115. 2). Wie Fuhrmann (Seneca und Kaiser Nero) bemerkt, machte sich Seneca trotz dieses Bewußtseins für die Problematik gleichwohl die Rhetorik für seine Paränese zueigen: „Er schmiedete ein Instrument daraus, das geeignet war, seinen philosophischen Überzeugungen eine eigenwillige Form von größter Eindringlichkeit zu geben" (S. 42). Zur Funktion der Rhetorik in der Kaiserzeit vgl. ebd., S. 31-33.

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Zur Rezeption dieses stoischen Musters in verschiedenen frühneuzeitlichen Texten vgl. etwa Wilfried Barner: Die gezähmte Fortuna. Stoizistische Modelle nach 1600. In: Fortuna, S. 311-343. Der Reyen verurteile, so Speilerberg (Verhängnis und Geschichte) „noch so auskalkulierte Handlungen, die dem sich ankündigenden Untergang zu begegnen suchen, zur Erfolglosigkeit" (S. 149).

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216 der Blitz so stets auf eine stelle schlägt?" (III. 363f.). 260 Im Sterben beschwört Antonius Cleopatra, die Machtübernahme des Augustus zu akzeptieren, da sie Wille des Verhängnisses sei: „Weicht dem Verhängnüsse / geb't nach dem Uberwinder" (III. 554f.). Das Verhängnis scheint hier sogar mit dem Kaiser gleichgesetzt. Diese Hinweise tragen dazu bei, Augustus' Naturunterwerfung mit dem Willen des Verhängnisses zu identifizieren. Eine solche Harmonisierung macht das eigene Leid erträglich. Die Unterwerfungsgeste von Antonius' Ratgeber Canidius zeigt bereits den inszenatorischen Charakter, der Cleopatras Proskynese schließlich prägt. „Der Himmel", so Canidius, kämpfe nun selbst für den Kaiser (IV. 111). „Der nie gebeugte Nil bückt für der Tiber sich" (IV. 113), vor dem „ander Jupiter" (IV. 117), wie Augustus in deutlicher Anspielung auf Vergils vierte Ekloge genannt wird (Ecl. 4. 16). „Lebend schon" werde er „di Zahl der Götter mehrn" (IV. 140), und alleine werde Augustus „sich für den Herrn der Welt durchaus verehret schaun [...]" (IV. 147). Als Metaphern der Unterwerfung fungieren Elemente aus der Natur: das „rothe Meer" (IV. 142) werde ihm zu Diensten sein, das „Elephanten Bein" (IV. 144), der „Tiger edle Stein" (IV. 145) würden ihm verehrt. Die Unterwerfung der Natur unter den „Überwinder" (IV. 154) scheint auch hier im Widerspruch zum ersten Akt Wille des Verhängnisses zu sein. Ausgerechnet Cleopatra - das Objekt der Natur, das sich durch Selbstmord der Unterordnung entziehen wird - stellt nach außen den Sieg des Augustus als unhintergehbar dar und unterwirft sich scheinbar. Durch Freitod wird sie sich aber der Unterdrückung und Macht des Verhängnisses entziehen, das sie in ihrer Rede äußerlich epideiktisch bestätigt, um den Sieger in Sicherheit zu wiegen. So verwendet sie in Wahrheit die Epideixis wie auch ihre sonstige Eloquenz, die Wiehert an anderen entscheidenden Punkten herausgearbeitet hat, als „rhetorische Waffe gegen den Feind".261 „Der Himmel" (IV. 270), so äußert sie sich gegenüber Proculeius, habe den Römern „viel Sieg", ihr den Untergang beschert (IV. 270). Augustus gegenüber inszeniert sie perfekte Proskynese. Allein ihm kämen nach dem Julius die Namen „Gott / Keiser / Herr der Welt" (IV. 365) zu. Der Geist Caesars entbinde ihn von „der Sterbligkeit" (IV. 368) und führe ihn in die Reihen der Götter. Wie die Geschichte den Caesar unvermeintlich „in di

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An dieser Stelle erhält die Berufung auf das Verhängnis einen besonderen Reiz dadurch, daß Cleopatra nicht tot ist. Man könnte hier von einer blinden Ergebenheit in das Schicksal sprechen, die durch generelle Machtlosigkeit gegenüber den Verwicklungen und Verstellungen des politischen Lebens hervorgerufen wird. So erscheint auch hier die Anrufung eines unergründlichen fatum als Hilfskonstruktion. Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 258. Zur Reflexion über Sprache im Drama, so besonders in der Cleopatra, vgl. ebd. Vgl. auch Uwe-K. Ketelsen: Daniel Casper von Lohenstein: Cleopatra. „Eh ich will der Römer Schau-Spiel sein". In: Dramen vom Barock bis zur Aufklärung. Interpretationen, S. 115-133, hier S. 118121.

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zahl der Götter einverleibet" habe (IV. 377), so mehre nun auch Augustus „der grossen Götter Rath" (IV. 380). „Alles" werde sie „dem grossen Keiser" opfern (IV. 395) und ihm „Treu und Pflicht" (IV. 396) schwören. Scheinbar willigt sie ein, die konstruierte geschichtliche Ordnung zu akzeptieren, für „ihren Nil di Tiber" zu „erwehlen" (IV. 481). Wohl kaum kann davon gesprochen werden, daß sich der bisher verblendeten Cleopatra durch die geschichtlichen Ereignisse das Verhängnis „enthüllt",262 sondern es ist sie selbst, die dessen Macht in einem inszenatorischen Akt konstituiert. Die Inszenierung des amor fati macht glauben, daß die gewaltsam hergestellte Naturordnung göttlicher Wille sei, dem sich Cleopatra fugen werde. Wichtiges Mittel dieser Inszenierung, die die Inhomogenität des Verhängnisbegriffs vertuscht und auf das Finale hinfuhrt, ist die rhetorische Emphase. Die Technik der Sprache arbeitet daran, lückenlos weiter ein Netz zu knüpfen, das einen perfekten consensus inszeniert, indem sie diesen consensus als Wahrheit ausgibt. Unübersehbar ist der einseitig intentionale Charakter der Sprachkunst: Nicht beinhalten die Reden ein Abwägen, eine Rechtfertigung für Widerstand, eine Auseinandersetzung um weitere Zugeständnisse an den Sieger oder Forderungen der Besiegten, sondern Bekräftigungen des status quo. Der einseitig epideiktische Charakter offenbart eine zentrale Funktion der Rhetorik im 17. Jahrhundert. Die „absolutistische Kabinettspolitik" benötigte, so Barner, „kein öffentliches genus deliberativum",263 Nicht die Beratungsrede, das sie et non, sondern die

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Füllerborn: Die barocke Grundspannung Zeit-Ewigkeit in den Trauerspielen Lohensteins, S. 31. Bamer: Barockrhetorik, S. 154. Die humanistische lateinische Rhetoriktheorie isolierte sich „von der politischen, sozialen Realität des 17. Jahrhunderts" (ebd., S. 154). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Funktion die Schulactus einnahmen, an denen Lohenstein sich rege beteiligte. In Form von Deklamationen und Streitgesprächen wurden Themen unterschiedlicher Art, moralische, religiöse, politische oder juristische, abgehandelt und häufig historische Begebenheiten aus der Antike verwendet. Der Behauptung Müllers (Beiträge zum Leben und Dichten Daniel Caspers von Lohenstein), daß es sich dabei lediglich um theoretische formale Übungen gehandelt habe, um sprachliche Kunstfertigkeit und Geschicklichkeit zu erlangen (vgl. S. 11 f.), widerspricht Wiehert (Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz) mit Nachdruck. Neben Sprachfertigkeit sei Wissen für die juristische Praxis vermittelt worden, etwa anhand geschichtlicher Ereignisse aus der Antike, die „Praxis der Diplomatie" (S. 44), die griechische „Kunst logischer und formgerechter Verhandlungsführung" [...], „Verantwortlichkeit des Staatsmannes" und „Gerichtsrhetorik" [...]; „realitätsnahes, fur die Beamtenpraxis wichtiges Bildungswissen" sei „in den Schul-Actus gelehrt" worden (ebd., S. 45). Zu weiteren Themen dieser Actus vgl. ebd., S. 45f. Wie Wiehert unterstreicht auch Ilona Banet (Die Entwicklungstendenzen des Schulwesens der Stadt Breslau zur Zeit Daniel Caspers von Lohenstein. In: Virtus et fortuna: zur deutschen Literatur zwischen 1400 und 1720. Festschrift für Hans-Gert Roloff zu seinem 50. Geburtstag. Hrsg. von Joseph P. Strelka und Jörg Jungmayr. Bern, Frankfurt am Main 1983, S. 479^195) die Praxisbezogenheit des schulischen Sprachunterrichts, der auf die gesellschaftliche Realität vorbereiten sollte (vgl. S. 482-487). Die sich auf den ersten Blick aufdrängende Parallele zwischen den Schulactus und den Disputationen in den kaiserzeitlichen Rhetorenschulen ist nach Wicherts und Banets Untersuchungen nicht haltbar.

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epideiktische Rede hatte den Vorrang und diente der Bestätigung.264 In dieser gehört der Redegegenstand nicht zu den dubia, sondern ist ein unbezweifelbares certum.26s So nimmt die Rede der Cleopatra und der anderen Unterworfenen das Verhängnis als bestimmende Macht an und beinhaltet eine laudatio auf den Kaiser. Cleopatra bestätigt den unwiderruflichen Sieg des Kaisers, betont dessen Größe und auch seine „Gunst" (IV. 505). Den Sieg stellt sie in ihrer Rede nicht in Frage. Auch dem Ansinnen des Kaisers, sie mit nach Rom zu fuhren, gibt sie scheinbar unter der Bedingung nach, Antonius in Ehren begraben zu dürfen, um dann auf allen „Heisch des Keisers" (IV. 508) einzugehen. Aber auch hier gilt: „Das Gegenteil von dem, was man hört und sieht, ist wahr".266 Die Zustimmung betrifft nur das äußerliche Erscheinungsbild. Cleopatras Simulation des amor fati hat zum Ziel, die Ordnung so zu bestätigen, daß sie keinen Verdacht erregt und die heimliche Rettung ihrer eigenen Physis - wenn auch im Freitod - gelingen kann. Die Sprache des certum verhüllt, daß Cleopatra nicht bereit ist, sich jener Natur- und Geschichtsordnung zu fugen, die der letzte Reyen allegorisch zum Ausdruck bringt. Ihre eigene Natur wird sich entziehen. Obgleich sie den Tod wählt, der die Vernichtung ihrer Körperlichkeit bedeutet, ist dieser doch eine Art Rettung in die Freiheit. Daß sie diesen Schritt tue, um ihre Tugend wiederherzustellen, die sie in ihrer Machtposition verletzt habe,267 ihre Schuld am Untergang des Antonius' zu sühnen oder aus einem unwürdigen Leben zu gehen, sind mögliche Erklärungsversuche,268 die aber die Komplexität ihrer Handlung vernachlässigen. Sie stirbt freiwillig nicht etwa aus Affekt,269 sondern bewußt aus einer umfassenden ethischen Notwendigkeit,270 wobei sie den Hinweis auf das 264

Barner: Barockrhetorik, S. 155. Verzichtet die epideiktische Rede auf eine Auseinandersetzung um die Wahrheit, bzw. setzt diese ungeprüft voraus, so gilt im genus deliberativum der praktischen Politik nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern auf Wahrscheinlichkeit. „In der politischen Beratungsrede (genus deliberativum)," so Peter L. Oesterreich (Philosophen als politische Lehrer. Beispiele öffentlichen Vernunftgebrauchs. Darmstadt 1994) „die sich mit dem auf Zukunft gerichteten menschlichen Handeln" beschäftige, könne es „grundsätzlich keine apodiktische Wahrheit geben" (S. 40). Die „unaufhebbare Kontingenz des vom menschlichen Handeln bestimmten zukünftigen Seienden" lasse „ein sicheres Wissen schlicht nicht zu" (ebd., S. 40f.). Zur Maßgabe der credibility in der Beratungsrede vgl. auch Art. ,Beratungsrede'. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 2, Sp. 1441-1454, hier Sp. 1447. 265 Vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München 1960, S. 53 und S. 130. 266 wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 260. 267 Vgl. Speilerberg: Verhängnis und Geschichte, S. 159. Vgl. ders.: Daniel Casper von Lohenstein. Für Elida Maria Szarota, S. 661. 268 Vgl. etwa Gertrud Diakun: Märtyrertum und Selbstmord: Frauengestalten in Lohensteins Trauerspielen. State University of New York at Buffalo 1983, S. 121. 269 Vgl. Kafitz: Lohensteins „Arminius". Disputatorisches Verfahren und Lehrgehalt in einem Roman zwischen Barock und Aufklärung, S. 180. 270 Der interessanten Frage, wie der Selbstmord im Kontext zeitgenössischer Rechtsprechung zu beurteilen ist, soll hier nicht im einzelnen nachgegangen werden. Da Wiehert (Literatur,

219 Verhängnis als Waffe „ad conservationem sui ipsius" verwendet, 271 um sich aus der Zwangslage befreien und den weiteren Verlauf ihres Schicksals selbst bestimmen zu können. Gleichzeitig arbeitet sie, indem sie den amor fati simuliert, an dem Artefakt des consensus, daß der Verhängniswille genau diese und keine andere geschichtliche Situation bestimmt habe: Sie gibt vor, daß sich eine Stufe der allgemeingültigen translatio nun an ihrem besonderen Schicksal erfülle. (III) An diesem Punkt empfiehlt sich, wie angekündigt, ein Blick auf die Funktion der Rhetorik, wie sie Blumenberg auf einläßliche und überzeugende Weise fur die condition humaine bestimmt hat. In seiner Schrift Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik erklärt er den Impuls zur Konsensfindung durch Rhetorik folgendermaßen: Der Mensch kann entweder als reiches Wesen definiert werden, der spielerisch mit seinen Gütern umgeht und im Besitz von Wahrheit ist, oder als ein mangelhaft ausgestattetes Wesen, das mit seiner ungenügenden Natur fertig werden muß und dem es an Absicherung in einer Wahrheit mangelt. 272 In letzterer Hinsicht übernimmt Blumenberg mit dem Hinweis auf die „Instinktarmut" des Menschen die Voraussetzungen Arnold Gehlens, 273 die, eine pessimistische Anthropologie formulierend, einen Gegenentwurf zur stoischen Philosophie darstellen. In allen Fällen wird davon ausgegangen, daß der Mensch nicht leben kann, überläßt man ihn seiner Natur. Die Funktion der Rhetorik macht Blumenberg von den beiden angeführten Definitionen über die Natur des Menschen abhängig. Ist sie einer-

Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert) sich ausfuhrlich mit diesem Problem auseinandersetzt, mögen wenige Anmerkungen genügen, die auf die Sozial- und Rechtsgeschichte reflektieren; Wiehert weist darauf hin, daß Selbstmord in Breslau häufig vorkam, was dazu führte, daß das Strafrecht humanisiert wurde. Auch gab es einen kaiserlichen Erlaß, der erlaubte, daß auch Selbstmörder öffentlich begraben wurden. Die Carolina sieht im Falle von Mördern, die sich nicht aus Angst wegen eigener Straffölligkeit umbringen, mildernde Umstände vor, d. h. ein reguläres Begräbnis und für die Hinterbliebenen die Möglichkeit der Erbschaft (S. 436). Wiehert meint, daß Lohenstein mit seinen Dramen auf diese neue Lage reagiert habe, die „vom generellen Verdikt des Selbstmordes" absehen würden, was sich etwa darin äußere, daß Cleopatra in Ehren begraben werde (S. 437). Zu einzelnen Interpretationen vgl. ebd., S. 436-441. Heiko Buhr („Sprich, soll denn die Natur der Tugend Eintrag tun?": Studien zum Freitod im 17. und 18. Jahrhundert. Würzburg 1998 [Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft 249]) erhebt Einspruch gegen Wiehert. Erstens sei der ,Fall Cleopatra' nicht auf die Rechtsprechung zu applizieren, da diese Straffreiheit bei unvernünftiger Selbsttötung vorsehe, Cleopatra aber nicht aus Affekt, sondern aus vernünftiger Überlegung in den Tod gehe und dennoch ehrenvoll bestattet werde (vgl. S. 74). Zweitens bedeute der kaiserliche Erlaß, der ein Begräbnis erlaube, keine Abmilderung, sondern eher eine Verschärfung, da der Selbstmord so der Öffentlichkeit bekanntgemacht werde. Das „heimliche Begräbnis" bedeute „weniger Schande" (ebd., S. 75). 271 272

273

Barner: Barockrhetorik, S. 171. Hans Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben, S. 104-136, hier S. 14f. Ebd., S. 115. Vgl. Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Berlin 1940, S. 47 und 72.

220 seits Mittel, um die Wahrheit, die der Mensch von Natur aus prinzipiell besitzt, auf schöne Weise mitzuteilen, so ist sie in einem Zeitalter der Sophistik, der Skepsis und generell in einem, das die Natur des Menschen als mangelhaft betrachtet, ein Mittel, um die „fehlende Evidenz des Guten" auszugleichen, indem sie Konsens schafft.274 Blicken wir zurück auf Senecas Verwendung der Rhetorik in De Providentia, so läßt sich ersteres nachvollziehen. Das rhetorische Mittel des persuasiven Pathos dient allererst dazu, den Adressaten von einer fraglos unhintergehbaren Wahrheit zu überzeugen.275 Voraussetzung ist eine Anthropologie, die von der Güte der Natur ausgeht und davon, daß der Mensch von seiner Natur aus ein reiches Wesen ist, dem es zur Aufgabe gestellt sei, der Natur gemäß zu leben. Diese anthropologischen Voraussetzungen sind schon in der Antike, besonders von den Sophisten, in Zweifel gezogen worden. Die Neuzeit begründet sich vorwiegend auf die zweite Alternative: Daß der Mensch von seiner Natur her ein mangelhaft ausgerüstetes Wesen ist, dem es an Evidenzen über das Gute und Wahre mangelt, gilt seit Luther und Hobbes, und letztlich auch dem cartesianischen Zweifel, als Faktum. Dieser Herausforderung hat sich die Rhetorik zu stellen. Die neuzeitliche Anthropologie geht für Blumenberg in der Weise in der Rhetorik auf, daß diese die fehlenden Evidenzen auszugleichen hat, indem sie die Wahrheit durch künstlichen Konsens substituiert. Dieser beruht auf Konvention, die ein Resultat derjenigen Rhetorizität ist, die „Übereinstimmungen" erstellt, die anstelle des substantiellen' Fundus an Regulationen treten müssen, damit Handeln möglich wird. Unter diesem Aspekt ist Sprache nicht ein Instrumentarium zur Mitteilung von Kenntnissen oder Wahrheiten, sondern primär der Herstellung der Verständigung, Zustimmung oder Duldung, auf die der Handelnde angewiesen ist.276 Das Resultat der Rhetorik als Instrumentarium ist der consensus. Blumenberg bringt die Sache auf den Punkt: „Rhetorik schafft Institutionen, wo Evidenzen fehlen."277 Um Blumenbergs Überlegungen sinnvoll auf Cleopatras Handeln zu applizieren, muß ein weiterer zentraler Aspekt beachtet werden, der für die gelungene Konsensstiftung unabdingbar ist. Das Bewußtsein, eine Rolle einzunehmen, und die Erwartung der anderen, daß diese Rolle und keine andere erfüllt werde, müssen kongruieren.278 Das Subjekt steht immer in

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Ebd., S. 107. Vgl. oben, S.213f. Blumenberg: Anthropologische Annäherungen an die Aktualität der Rhetorik, S. 108; vgl. auch ebd., S. 120. Ebd., S. 110. Vgl. ebd., S. 119.

221 einem „Handlungszwang", der an dem kreativen Akt der Konsensstiftung sinnvoll teilnehmen läßt.279 Wenn wir zurückkehren zum Drama, so läßt sich dieser kreative Akt leicht bestimmen. Die Unterworfenen, die dem anthropologischen Faktum der Unsicherheit und fehlenden Evidenzen fraglos ausgeliefert sind, streben nach Konsens mit den Siegern, daß das persönliche Schicksal, möge es auch aus Naturunterwerfung resultieren, dennoch in einem Allgemeinen aufzugehen habe. Ihre Kreativität besteht darin, daß sie das Verhängnis ritualartig in abundanter, pathetischer und epideiktischer Rede evozieren und ihm einen Sinn verleihen, den es zunächst nicht besaß.280 Indem sie den Begriff des Verhängnisses verändern und diese Veränderung durch ihre Rede bestätigen, sind sie schöpferisch im Sinne eines Konsenses tätig. Sie arbeiten an der Übereinkunft, daß ihre Geschichte, das Schicksal jedes einzelnen, vom Verhängnis vorgesehen sei. Als Produkt eines künstlichen Konsenses derjenigen, die Geschichte machen, bestimmt Blumenberg auch die translatio imperii. Sie ist der Name des Aktes, „durch den das Subjekt der Geschichte bestimmt und legitimiert" wird.281 All diejenigen, die als Geschichtssubjekt Teil haben an dem Akt ihrer Bestätigung, erfüllen eine Rolle. Dabei geht es um die Verlegenheit, „der Designation als Geschichtssubjekt zu genügen." 282 Demzufolge sind es einerseits der Handlungszwang und die Rollenerwartungen, die die translatio erst begründen, andererseits finden die Subjekte Umstände, d. h. geschichtliche Situationen vor, die sie zu gewissen Rollen zwingen. Im Drama legitimieren gleichzeitig die Subjekte alle ihre Handlungen dadurch, daß sie sich auf die translatio berufen, um mit Blumenberg zu sprechen, nach der „rhetorischen Metapher" greifen, 283 bzw. sie durch pathetische Evokation des Verhängnisses bestätigen. Welche Rolle spielt nun im Hinblick auf das Drama die Natur in diesem Funktionszusammenhang von Anthropologie und Rhetorik nach Blumenberg? Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß sich Augustus, dem erfolgreichen Gestalter von Geschichte, ein ,Stück Natur' entzieht, nämlich Cleopatra. 284 Die occupati nehmen in ihrer Rede alle dieselbe Rolle ein,

279

280 281 282 283 284

Ebd. Man könnte fragen, ob die Prämisse richtig ist, daß der Mensch überhaupt nach Konsens strebt. Das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit, die der Konsens leisten kann, wird hier jedenfalls vorausgesetzt. Eine solche Sicherheit ist fur Blumenberg das einzige, was dem Menschen bleibt, wenn die reinen Evidenzen fehlen, und entspricht seinen Bedürfnissen und den Notwendigkeiten des Zusammenlebens. Demgegenüber könnten auch andere Positionen eingenommen werden. Vgl. oben, S. 209f. Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, S. 129. Ebd., S. 130. Ebd., S. 130. Vgl. oben, 195f.

222 nämlich Zustimmung zu ihrem Untergang zu äußern, indem sie ihn mit dem Verhängnis harmonisieren. Cleopatra hat eine Ausnahmeposition inne. Sie handelt zwar im Bewußtsein ihrer Rolle und erfüllt die Erwartungen der anderen, indem sie etwa, wie Antonius ihr rät, Augustus als den „Überwinder" (III. 554), entsprechend ihrer Position auf der Stufe der translatio, zu akzeptieren scheint, kommt aber schließlich zu der Erkenntnis: „Wer viel weiß ausser sich / sich in sich selbst nicht kennet" (V. 4). Sie beschließt ihren Tod. Wenn Spellerberg feststellt, daß es der ägyptischen Königin gelinge, durch ihr Sterben „sich selber in ihrer Rolle als Herrscherin treu zu bleiben", so berücksichtigt dies nur die eine Seite.285 Ebenso greift Wicherts Analyse des Dramenendes etwas zu kurz, Cleopatra kämpfe mit rhetorischen Mitteln „nur noch darum, nicht [...] Objekt der propagandistischen Selbstdarstellung des Augustus im Triumphzug zu werden." 286 Cleopatra subsituiert ihre physische Reaktion durch eine rhetorische, letztlich, um ihre Natur zu retten. Der Zwang, zum Zweck des Konsenses eine Rolle zu bestätigen, verlangt von ihr in erster Linie eine „physische Reaktion", 287 nämlich sich zu unterwerfen und im Triumphzug mit nach Rom zu ziehen. Auf einen solchen Zwang läßt sich Cleopatra nicht ein, sondern ersetzt die physische Leistung durch eine rhetorische. Hier tritt nach Blumenberg der Fall ein, daß die erzwungene Handlung „durch consensus wiederum ,nur' eine rhetorische" wird.288 Indem Cleopatra ihre Physis dem Handlungszwang entzieht, aber in ihrer Rede consensus stiftet, leistet sie „rhetorische Substitution im Handlungszwang". 289 Sie ersetzt physische durch verbale Leistungen, indem sie durch den simulierten amor fati die Ideologie der translatio bestätigt. 290 Cleopatra legt ihre Rolle ab, die sie in der Geschichte der translatio einzunehmen hätte, während sie sprachlich diese erfüllt. Nur unter dem scheinbar festsitzenden Mantel der rhetorischen Einkleidung in das Kostüm, das die Ideologie der translatio vorsieht, gelingt es ihr, sich dieses Kostüms zu entkleiden. Gleichzeitig aber demonstriert sie dadurch die Dichotomie von Natur und Kultur. Letztere sieht sich durch die Rhetorik bestätigt bzw. wird allererst durch sie, wie im Drama, gebildet. Indem Cleopatra ihre Physis der Kultur entzieht, zeigt sie, daß diese außerhalb einer Natur erschaffen wird,

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Spellerberg: Barockdrama und Politik, S. 159. 286 wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 257. (Hervorhebung von mir). Vgl. ähnlich Wolfgang Monath: Das Motiv der Selbsttötung in der deutschen Tragödie des siebzehnten und frühen achtzehnten Jahrhunderts (von Gryphius bis Lessing). Diss., Würzburg 1956, S. 121. 287 Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, S. 113. 288 Ebd., S. 113f. 289 Ebd., S. 199. 290 „Physische durch verbale Leistungen zu ersetzen," so Blumenberg, „ist ein anthropologisches Radikal; Rhetorik systematisiert es" (ebd., S. 114).

223

die dem christlich-stoischen Naturrecht zugrunde liegt. Ex negativo verweist sie mit ihrem Tod auf dieses Recht.

4.

Zwischenbilanz: Das Problem des Konsenses bei Gryphius und Lohenstein

Vor dem Hintergrund der senecaischen Kulturkritik sind gemeinsame Grundzüge der Dramatik Gryphius' und Lohensteins festgestellt worden, auch wenn Lohenstein den Bezug zur stoischen Philosophie wie im Falle des Mythos kryptisch verhüllt. Der Begriff des consensus, wie er oben definiert ist, fuhrt einerseits wieder zu einer Gemeinsamkeit, andererseits manifestiert sich gerade in ihm eine wesentliche Differenz zwischen den beiden Dramatikern. Die Gemeinsamkeit besteht darin, daß Lohenstein wie Gryphius die Entwicklung von Geschichte bzw. die Erhaltung von politischer Macht ins Zentrum ihrer Tragödien stellen. Die Tragik resultiert jeweils aus einem Dissens zwischen Individuum und Gesellschaft, der nicht vollkommen aufgelöst werden kann. Die Bemühungen, Übereinkunft herbeizufuhren, sind mit Opfern verbunden. Zu Konstruktionsproblemen eines Konsenses führen die Abwendung von einem teleologischen Naturverständnis und die Errichtung der Institution Staat, der ein mechanistisches Naturverständnis und eine pessimistische Anthropologie voraussetzt: die Dichotomie von Natur und Kultur. Immer geht es darum, auf irgendeine Weise Konsens herzustellen, der nicht mehr fraglos aus der Orientierung an einer normativen Natur im stoischen Sinne resultieren kann. Alle Dramen zeichnen sich bisher dadurch aus, daß ein unhintergehbarer und aus der gütigen Natur abzuleitender Konsens, der im christlich-stoischen Naturrecht seine Grundlage hätte, nicht gegeben ist, sondern ein anderer gewaltsam oder künstlich geschaffen werden muß, um den status quo zu erhalten oder Frieden zu erzwingen. Die Geschichtsmächtigen kämpfen angesichts einer Natur, die im Lutherischen und Hobbesschen Sinne als sündenfällig und verderbt erachtet wird, um Konsens und dabei letztlich um ihre Macht, die ihnen dieser Konsens zusicherte. Dennoch sind hinsichtlich der Konsensfindung Unterschiede festzustellen, die auf eine Entwicklung von Gryphius zu Lohenstein schließen lassen. Es ist auffallig, daß es das eigensinnige Individuum wie Catharina und Papinian bei Lohenstein nicht mehr gibt. Das Verhalten dieser occupati ist zwar darauf angelegt, Konsens zu finden, jedoch auf höchst eigenwillige Weise, indem auf obsolet anmutende Ansprüche des stoisch-christlichen Naturrechts hingewiesen wird. Beide versuchen zwar, über ihre Position Verständigung mit den Herrschenden zu erzielen, was mißlingt. Von dem Anschein einer Kooperation kann im Unterschied zu Lohensteins Trauer-

224 spiel aber nicht die Rede sein. Es fehlt ein Bezugsrahmen, und sei es auch nur ein artifizieller. Genau hierin aber unterscheidet sich die Cleopatra in eklatanter Weise von Gryphius' Dramen. An die Stelle des Gewissens, dessen Ansprüche von einem einzelnen vertreten werden, tritt ein universales Verhängnis. Während Gryphius zwei unterschiedliche Modelle der Weltdeutung in seinen Dramen fokussiert und die Ansprüche des naturgemäßen Lebens mit denen des absolutistischen Staates unlösbar kollidieren läßt, entsteht in der Cleopatra doch zumindest der nach außen vorgetragene Konsens über ein Verhängnis, das die Geschichte und die Einzelschicksale vorherbestimme. Nach den vorstehenden Ausführungen über die Inhomogenität des Begriffs .Verhängnis' ist gleichwohl offensichtlich, daß es sich dabei um ein Artefakt handelt. Der äußere Wille aber zur Kooperation und zur Verständigung über etwas Gemeinsames ist vorhanden und überdies notwendig, um das Finale wirksam zu inszenieren. Im Verhängnis, wie es rituell bestätigt wird, findet sich also etwas, was man bei Gryphius umsonst suchen würde: etwas Gemeinsames oder etwas, auf das man sich geeinigt hat, damit der Geschichtsverlauf, der nicht auf Lohn oder Strafe für Tugend oder Untugend basiert, verständlich, erträglich und für den einzelnen oder ganze Völker nicht entwürdigend ist. Die Untersuchung hat gezeigt, daß die Natur als Ort der Wahrheitsfindung und Identitätsbildung und als Maßstab für das sittliche Handeln, wie ihn die Senecaische Philosophie vorsieht, vollständig verloren gegeben wird. Natur ist eine andere geworden; wie wenig Heiliges mit ihr verbunden ist, hat die Analyse der Bildlichkeit ergeben. Im Drama setzt sich die Geschichte über die Kategorie einer vom Verhängnis gestifteten Naturordnung hinweg, wie sie der erste Reyen andeutet, negiert sie und schafft sich ihre eigenen Gesetze und Formen der Wirklichkeitsbewältigung. Eine dieser Formen ist der amor fati, die Liebe zum Schicksal: In rhetorischer Emphase feiern die occupati die Übereinstimmung des individuellen Schicksals mit dem Allgemeinen, der ewigen und unverbrüchlichen Weltordnung. Den Verlust des naturgemäßen Lebens vermag aber, so ist deutlich geworden, nur ein künstlich geschaffener Konsens oberflächlich ausgleichen zu können, der durch Simulation gestiftet wird. Die Konzeption des Verhängnisses ist ein Konstrukt, das aus dem Bedürfnis entsteht, trotz eines verwirrenden, jegliche christliche Handlungsmaximen negierenden Geschichtsverlaufs einen Kosmos nach christlichem bzw. antikem Vorbild zu errichten. Das Drama leistet auf diese Weise von der römischen Antike zur Frühen Neuzeit einen Brückenschlag. Indem es einen solchen Verhängnisbegriff evoziert, der im antiken Gedankengut verortet ist, reagiert es auf die für das 17. Jahrhundert konstitutive anthropologische und politische Ausgangs- und Bedürfnislage: Zwei Impulse vereinen sich: der Verlust des naturgemäßen Lebens einerseits, das die Einheit von Natur und Kultur verbürgen könnte,

225 und das Bedürfnis nach Ordnung andererseits veranlassen dazu, sich einer Instanz zu versichern, die den einzelnen wieder in einen größeren Zusammenhang einzugliedern verspricht. Ein traditionelles Element antiker Weltdeutung, das Schicksal, wird verwendet, um die Moderne bewältigen zu können, die aber, dies deutet die überall angewendete prudentistische Klugheitslehre an, die Ethik ausblendet. Nicht mehr die Handlungen selbst, gewissermaßen die ,Inhalte' der Geschichte, spielen eine Rolle, sondern allein der ordo-Gedanke. Der Mensch richtet sich mit Hilfe des Verhängnisses in einer ihm vorwiegend feindlich und undurchschaubar begegnenden Welt ein. Das Verhängnis verschafft dem einzelnen ohne Rücksicht auf seine Handlungen, mögen sie nun ethisch vertretbar sein oder nicht, seinen angewiesenen Ort im Ganzen, die fragwürdige Möglichkeit der bloßen Existenz. Die antike Tradition liefert dafür das begriffliche Instrument. Auf der Grundlage dieses artifiziellen Konsenses erwächst ein „beruhigend-integrativer Kontext", wie Titzmann sich ausdrückt: die Ideologie der translatio imperii.29> Jene „geschichtsteleologische Planskizze"292 ist der gemeinsame Versicherungsgrund, auf den sich alle Parteien unterschiedlichster kultureller Provenienz einigen können, den sie aber im gemeinsamen Geschichtemachen und in der gemeinsamen Verständigung vorerst aus sich heraus bilden. Hingegen mildert die angestrengte Evozierung einer homogenen Instanz nicht nur den Eindruck der Pluralität der Weltauffassungen, der bei Gryphius vorherrscht, sondern hebt ihn auf. Sie ist der Schlüssel fur die Konsensbildung der translatio-Idee. Blumenberg erkennt die translatio imperii als ein Konstrukt im „System der Wirklichkeitserklärung unserer Tradition",293 das Teil hat an derjenigen Rhetorik, die Konsens über geschichtliche Handlungen schafft. Sie ist als sprachliches Gebilde Produkt der Geschichte, die von Menschen gemacht wird: Sie ist Teil seiner Symbolschöpfung. Wie ergibt sich nun auf der Basis der bisherigen Ergebnisse eine sinnvolle emblematische Struktur?

5. Tiphys und die emblematische Struktur der Cleopatra Unter anderen Vorzeichen als in Gryphius' Dramen wird das naturgemäße Leben auch in der Cleopatra propagiert, ebenfalls aber als utopische und nicht einholbare Lebensform, die den Anforderungen der Gesellschaft nicht gerecht werden kann. Die von Spellerberg und Wiehert favorisierte christliche Lesart der Lohenstein-Dramen bestätigt sich insofern, als das christlich291

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Titzmann: „Verstellung". Semiotische, anthropologische, ideologische Implikationen im Drama des deutschen Barock, S. 552. Voßkamp: Daniel Casper ν. Lohensteins Cleopatra, S. 78. Blumenberg: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, S. 129.

226 stoische Naturrecht auf verschlüsselte Weise Eingang findet und zum Konstituens eines Bezugsrahmens ex negativo avanciert. Der Mythos des Tiphys in Senecaischer Auslegung, den Lohenstein kaum merklich am Ende des Dramas zur Sprache kommen läßt, ist als Ausgangspunkt dieser These herangezogen worden. Er macht es möglich, die den barocken Dramen eigene emblematische Struktur auch in der Cleopatra sichtbar werden zu lassen und zudem neue Aussagen über die Programmatik des Stückes zu formulieren. Meine Darstellung war von der Schwierigkeit ausgegangen, eine sinnvolle emblematische Struktur im Drama zu ermitteln, die sich aus einer Verknüpfung des besonderen Dramengeschehens mit dem Allgemeinen der Reyen zu ergeben hat. Der letzte Reyen der Cleopatra ist gerne für diesen Zweck in Anspruch genommen worden, da die translatio imperii auf den ersten Blick den allgemeinen Ideenhorizont zu gewährleisten scheint, vor dessen Hintergrund sich der Gang der Ereignisse einordnen läßt. Ungeachtet der Tatsache, daß der Hinweis auf Kaiser Leopold und diese Einflechtung der Zeitgeschichte den Charakter des Allgemeinen zu zerstören droht, ist er dankbar als Panegyricus aufgenommen und als Bekräftigung der These benutzt worden, Lohenstein als Antipode zu Gryphius, als Befürworter Habsburgischer Politik, zu sehen. Mehrere Einwände mußten gegen diese Lesart erhoben werden: die translatio-Idee kann aus historischer Perspektive nicht mehr als unanfechtbar gelten, der Vergleich Leopolds mit Augustus ist im Kontext des Dramas nicht gerade dazu angetan, den Reyen als Panegyricus zu verstehen. Diese Schwierigkeiten lassen sich strenggenommen auch nicht dadurch lösen, in der laudatio einen versteckten Appell an Kaiser Leopold zu entdecken, nicht imitatio des Augustus zu leisten, sondern diesen zu überbieten: Die emblematische Struktur wird auf diese Weise nicht gerettet, stellt sich doch weiterhin die Frage nach dem Allgemeinen des Reyen, das sinnvoll in Bezug zum Dramengeschehen zu setzen ist. Die bisher unbemerkte Allusion auf den Mythos der Argonautenfahrt, wie Seneca ihn in seiner Medea verarbeitet, eröffnet den dargestellten Schwierigkeiten einen möglichen Ausweg. Ist der Mythos zwar polyvalent, was seine verschiedenen Auslegungen in der Antike und in der Frühen Neuzeit beweisen, und wird er auch gerne für eine Herrscherpanegyrik funktionalisiert, so trifft Lohenstein mit Senecas Version doch eine bewußte Wahl: Entfernt davon, im Sinne eines uneingeschränkt positiven Fortschrittsgedankens den Gang der Kulturgeschichte zu preisen, ist der Mythos in der Cleopatra wie in der Medea Element der Kulturkritik. Der Hinweis auf den kuriosen, Schiffbruch erleidenden Tiphys desavouiert auch in Lohensteins Drama das Treiben der geschichtsmächtigen occupati als Übertretung und Verletzung des göttlichen Naturrechts. Das Allgemeine, hinsichtlich dessen das Dramengeschehen zu deuten wäre, ist nicht die

227 translatio-Idee, sondern der Mythos, der in Form des involucrum auf die Verpflichtung gegenüber jenem Recht aufmerksam macht. In diesem Kontext erhält die Metaphorik in der Cleopatra, die Naturunterwerfung des Augustus, ihren besonderen Sinn. Der Kaiser bezwingt als römischer Tiphys, als ein antiker Magellan, die natürliche Nilschwemme, eine Metapher fiir die Verletzung des christlich-stoischen Naturrechts. Vor dem Hintergrund des Mythos wird auch Leopold in die Reihe der occupati aufgenommen, die eine Welt im Widerspruch zum stoischen Naturgedanken errichten, sie neu erfinden und gestalten und die Dissoziation von Natur und Kultur vorantreiben. Angesichts der Senecaischen Deutung des Mythos wird der Panegyricus zum Schein und weicht einer allgemeinen kulturgeschichtlichen Lesart des Dramas. Dies betrifft insbesondere die Allegorie. Die Figur des Tiphys steht für den fortschrittshungrigen occupatus, der das naturgemäße Leben verfehlt. Er induziert der Natur ihr fremde Gesetzmäßigkeiten, indem er das Buch der Natur in einem Akt der eigenmächtigen Setzung von Bedeutung neu liest. Als ein ebensolches Verfahren entpuppt sich die Bildung der translatio-Allegorie im letzten Reyen. Zwei Beobachtungen konnten eine solche Übertragung des Mythos auf das Drama bestätigen. Zum einen legt die Metaphorik der Naturgestaltung im ersten Akt die angeblich vom Verhängnis vorgesehene Naturordnung des letzten Reyen als gewaltsam konstruierte Ordnung offen. Zum anderen steht diese offensichtlich im Widerspruch zu jener Ordnung, die der erste Reyen als göttlich gewollte, ebenfalls vom Verhängnis bestimmte vorsah, welches hier als Stifter und Hüter jener natürlichen Grenzen fungiert, die Augustus überschreitet. Hat sich der Begriff des Verhängnisses als inhomogen erwiesen, so ist gezeigt worden, daß die unterworfenen occupati die vermeintliche Übereinstimmung von Natur und Geschichte durch das pathetisch deiktische Zeigen auf das Verhängnis vorerst schaffen, um die translatio-Idee und die Allegorie des letzten Reyen wirkungsvoll zu inszenieren. Die Tiphys-Figur ist hier wiederum das Exempel. Wie er der Natur neue Gesetze vorschreibt, so konstruieren sie den Konsens über das Verhängnis und schreiben mit dessen Hilfe der Natur einen Sinn zu, den sie vorerst nicht besaß. Auch sie erweisen sich also auf dem Umweg über die Konstruktion eines solchen Verhängnisbegriffs wie Augustus als eigenwillige Gestalter der Natur. Die Natur als das allein Sichtbare und Zugängliche wird in Entsprechung zur Geschichte gelesen, so daß sich die jeweiligen Einzelschicksale in die große, vermeintlich vom Verhängnis gestiftete, Gesamtordnung der translatio imperii einfügen lassen. Die revelatio aus der natürlichen Ordnung der Flüsse offenbart sich im Benjaminschen Sinn als Konvention eines kollektiven Bewußtseins, das dem Verlust des .Pantheon' durch dieses Konstrukt entgegentritt, um sich in einer generell feindlich erlebten Welt einzurichten.

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Mythische Exempelfigur für die occupati im Drama ist Tiphys nun in zweierlei Hinsicht. Zum einen ist er der Allegoriker der Urzeit, der der Natur einen neuen Sinn verleiht. Insofern Lohenstein sein Zitat in verhüllter Form anbringt und um die Funktionalisierung des Mythos weiß, spielt er mit dessen Valenz. Auf sich selbst verweisend wäre Tiphys ebenso das mythische Vorbild für den Allegoriker des Mythos, der ihn im Sinne eines Panegyricus liest. Eingebunden in die Geschichte des Wissens und des Fortschritts transformiert der Allegoriker den Mythos der Argonautenfahrt, bei Seneca Bestandteil seiner Kulturkritik, in eine optimistische Kunde von einer neuen Welt. Diese Weise, den Senecaischen Mythos zu lesen, ist mit dem Eigensinn des Allegorikers, die Natur zu deuten, zu vergleichen. Die eigentümliche Sinnhaftigkeit des Mythos, wie sie noch bei Seneca evident ist, wird zugunsten einer Funktionalisierung im Rahmen eines Panegyricus zerstört. Die Neudeutung gehört zum Bestandteil der erfundenen Geschichte. Der Allegoriker der Frühen Neuzeit verhält sich dem Mythos gegenüber wie Tiphys, der als mythischer Allegoriker der Urzeit zwar nicht dem Mythos, aber der Natur einen anderen Sinn verleiht. Insofern steht Tiphys wie Augustus auch für den Naturwissenschaftler der Frühen Neuzeit, der, wie Kopernikus in Gryphius' Gedicht, die Gesetze der Natur neu erfindet.294 Aus dieser Perspektive spricht aus Lohensteins Drama auch die Kritik an den wissenschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit, die Natur nicht mehr als Seiendes nehmen, sondern sie zum Zwecke der Beherrschung gestalten. Darin liegt die Doppelbödigkeit des mythischen Bildes. Der Mythos des Tiphys ist ein Urbild des künstlerischen occupatus, der Welt mit Hilfe von Mythendeutung und Allegorese konstruiert, sich dabei aber unaufhörlich in Widerspruch setzt zum secundum naturam vivere. Wie wird dieses Konzept in den beiden folgenden römischen Trauerspielen manifest?

IV. Das Seneca-Bild in den römischen Dramen Agrippina und Epicharis 1. Die Frage nach dem Zugang zur Senecaischen

Philosophie

Bei der Abfassung seiner Dramen folgt Lohenstein der bekannten Geschichte des römischen Imperiums, dessen markanteste Ereignisse er auch in der Agrippina und der Epicharis schildert. In der Cleopatra kündet der Tod des Antonius und der Zerfall des zweiten Triumvirats vom Untergang der römischen Republik und ihrer Transformation ins Prinzipat, das im

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Vgl. oben, S. 22f.

229 Jahre 31 ν. Chr. in der Schlacht bei Actium und dem endgültigen Sieg Oktavians über Antonius begründet wird. Seneca lebt noch nicht. Als er zur Regierungszeit des Kaisers Augustus geboren wird, ist die Republik längst Vergangenheit, und das Kaisertum hat seine blühendste Periode unter Augustus bereits hinter sich. Was Seneca erlebt und was ihn schließlich selbst das Leben kosten wird, ist Neros kapriziöses Prinzipat, dessen dunkelste, mit Senecas Biographie stark verflochtene Ereignisse Lohensteins Dramen Agrippina und Epicharis zum Gegenstand haben. Sie halten sich dabei eng an die in den Anmerkungsapparaten teilweise aufgezeichneten und kommentierten Überlieferungen der Geschichtsschreiber, vor allem Tacitus' und Suetons. Neben den historischen Quellen ließ sich Lohenstein von der zeitgenössischen, vor allem französischen Literatur anregen, so für die Agrippina von Gabriel Gilberts 1660 in Paris erschienener Tragödie Arie et Peius, ou les amours de Neron.2K Die Epicharis findet ihre französischen Quellen in dem Roman Ariane (1632) von Jean Desmarets de Saint-Sorlin und in der Tragödie Frangois Tristan l'Hermites La Mort de Seneque (1645).296 Beide Tragödien erschienen im Jahre 1665 im Erstdruck während Lohensteins Rechtsanwaltszeit in Breslau. Abwechselnd wurden sie ein Jahr später am Elisabethgymnasium der Stadt häufiger aufgeführt. 297 Die Titel der Dramen verweisen auf zwei bedeutende Ereignisse der Kaiserzeit, die der Nachwelt als Signum der Tyrannenherrschaft überliefert und untrennbar mit dem Namen Nero verbunden sind. Im Jahre 59 n. Chr. läßt Nero seine Mutter Agrippina, zu dieser Zeit etwa vierzigjährig, ermorden. Es war in ihrem Interesse gelegen, ihren Sohn entgegen allen Widerständen an die Macht zu bringen, und sie hatte sich dafür Senecas Erziehung bedient. Den Philosophen und Staatsmann ließ sie 49 n. Chr. mit diesem Auftrag aus der Verbannung nach Rom zurückkehren. Nun droht sie ihren Einfluß auf Nero zu verlieren, nicht zuletzt deshalb, da Seneca und sein Vertrauter Burrus souverän die politischen Fäden in der Hand halten. Den Ausschlag gibt schließlich Neros Affare mit Sabina Poppaea. Dieser folgt angeblich der auch im Drama furios inszenierte Inzest, der den Kaiser in eine gefahrliche Situation bringt.298 Er läßt Agrippina beseitigen. Nach295

Vgl. Bernard Asmuth: Lohenstein und Tacitus. Eine quellenkritische Interpretation der Nero-Tragödien und des „Arminius"-Romans. Stuttgart 1971, S. 44. Vgl. ebd., S. 53-71. Ein weitere Quelle ist außerdem die Schrift Pierre Antoine Mascarons La Mort et les dernieres paroles de Seneque (1637), die auch Tristan l'Hermite benutzte, und vielleicht auch der Essay Montaignes (vgl. ebd., S. 71 f.) Vgl. Michel de Montaigne: Les Essai. Bd. 4. Texte du manuscrit de Bordeaux. Etudes, commentaires et notes par le Dr. A. Armaingaud. Paris 1926, S. 452^460. Die Rezeption der Ariane untersucht Gerhard Spellerberg: Eine unbekannte Quelle zur Epicharis Daniel Caspers von Lohenstein. In: Euphorion 61, 1967, S. 143-154. 297 Vgl. Hippe: Aus dem Tagebuche eines Breslauer Schulmannes im siebzehnten Jahrhundert, S. 185. Zur Diskussion um die Abfassungszeit vgl. Anm. 75. 298 v g l Fuhrmann: Seneca und Kaiser Nero, S. 246f. 296

230 dem der erste Anschlag mißlingt, spielt Seneca offenbar die treibende Rolle. Er rät, da wiederum eine Verschwörung von Agrippina zu befürchten ist, zu einem zweiten Versuch, und nicht nur das: Für den Senat setzt er nach dem geglückten Attentat ein öffentliches Schreiben auf, das die wahren Vorgänge verwischt und Nero entlastet. Es ist dies der Punkt, an dem Papinian seinem Vorbild nicht folgt: „Wie hat der grosse Mann so schlecht sich vorgesehen" {Pap. III. 462)! Hingegen bemüht sich der Lohensteinsche Seneca „des Käysers Heisch" {Agr. IV. 279) zu erfüllen und in einer Schrift Agrippinas „altes Thun mit neuen Farben" (IV. 212) anzustreichen. 2 " Treffend bemerkt Speilerberg, die „Konstruktion eines Anti-Papinian" sei perfekt. 300 Den stoischen Weisen zu idealisieren, erscheint tatsächlich unmöglich. Offensichtlich muß einer Tatsache ins Auge gesehen werden, die Fuhrmann unumwunden formuliert: „Seneca und Burrus deckten einen Mord; sie taten es nach bestem Wissen aus Gründen der Staatsräson." 301 Die Agrippina zeigt Seneca als prudentistischen Diplomaten auf der Höhe seines Einflusses, die Epicharis als Opfer der gegen Nero gerichteten Pisonischen Verschwörung im Jahre 65 n. Chr. Schon länger hatte sich Seneca, etwa seit dem Tode seines Freundes Burrus drei Jahre früher, aus dem politischen Leben zurückgezogen. Neros Kapriziosität gipfelte in seinem Künstlerwahn und in dem gigantischen Wiederaufbau Roms, das eine der Legende nach von ihm selbst verursachte Brandkatastrophe verheert hatte, seine Grausamkeit in der Verfolgung der Christen, die er für den Brand verantwortlich machte. Die Pisonische Verschwörung sollte seinem Wüten ein Ende bereiten. Ob Seneca tatsächlich in sie eingeweiht, vielleicht sogar aktiv beteiligt war, oder ob er nur, wie Fuhrmann vermutet, als geistiger Wegbereiter gelten darf, möge dahingestellt bleiben.302 Er geht jedenfalls

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Zit. werden die römischen Dramen nach: Daniel Casper von Lohenstein: Römische Trauerspiele: Agrippina. Epicharis. Hrsg. von Klaus Günther Just. Stuttgart 1955 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 293). Gerhard Spellerberg: Daniel Casper von Lohenstein. In: Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Bd. 2: Reformation, Renaissance und Barock. Hrsg. von Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max. Stuttgart 1988, S. 341-363, hier S. 353. Fuhrmann: Seneca und Nero, S. 250. Der Überlieferung zufolge verbreitete man als offizielle Version, daß Agrippina sich selbst bestraft, indem sie Freitod begangen habe. Vgl. Sueton, De vita Caes., 6. 34; zit. wird nach: Suetone: Vies des douze Cesars. Bd. 2: Tibere-Caligula-Claude-Neron. Texte etabli et traduit par Henri Ailloud. Paris 1932. Vgl. Tac. Ann. 14. 10; zit. wird nach: Cornelius Tacitus: Annales. Libri qui supersunt Bd. 1: Ab excessu divi Augusti. Ed. H. Heuber. Stuttgart 1994. Vgl. Fuhrmann: Seneca und Kaiser Nero, S. 315. Man gehe „schwerlich zu weit", so Fuhrmann, Seneca „die Rolle eines geistigen Wegbereiters" zuzuschreiben (ebd.). „Die Verbrechen Neros, die Gefährdung des Reiches, die Erschöpfung der Finanzen: Diese Motive der Verschwörer wird auch er anerkannt haben, und auch er hat es damals gewiß fur unvermeidlich gehalten, Nero durch einen Würdigeren zu ersetzen. Doch daß er eingeweiht worden sei, wie man ihm bei der Aufdeckung der Verschwörung gleich nachsagte, ist überaus zweifelhaft: Da man ihm bei der Ausführung der Tat eine aktive Rolle schon wegen seines Alters schwerlich zumuten konnte, hätte man ihn ganz unnötigerweise

231 dem Bericht des Tacitus zufolge (vgl. Ann. 15. 6 2 - 6 4 ) gleichmütig in den Tod und scheint in dieser Hinsicht ganz seiner Lehre gemäß zu handeln. Die Überlieferung verklärt das Ende seines Lebens in gewisser Weise und bietet reichen Stoff nicht nur für literarische Auseinandersetzungen, sondern auch iur bildnerische Darstellungen. 303 Der Tod Senecas, der im Vergleich zum 18. Jahrhundert literarisch in der deutschen Barockliteratur eine „Episode" bleibt, 304 ist zu einer Legende geworden. Offensichtlich war es Lohenstein daran gelegen, den historischen, philologischen und ikonographischen Quellen zu Senecas Leben möglichst nahe zu kommen. Es geschieht in den Dramen an sich nichts Überraschendes, sie breiten die Geschichtsschreibung und die Legenden aus, die ohnehin im kulturellen Gedächtnis der Zeit haften geblieben sind, und begnügen sich auf den ersten Blick mit ihrer fulminanten rhetorischen Einkleidung. Abgesehen davon, daß Lohenstein die Rolle der Epicharis gegenüber den Quellen ausweitet, interpretiert er offenbar kaum.305 Die Forschung ist daran gewöhnt, wohl unter dem Einfluß der historischen Überlieferung, in der Figurenzeichnung Senecas in den römischen Dramen einen eklatanten Widerspruch zu erkennen. Daß Lohenstein einmal, entsprechend der historischen Faktizität, Seneca als occupatus zeichnet, der die Grundsätze seiner eigenen Philosophie zugunsten der Staatsklugheit negiert, und ihn schließlich offenbar als echten stoischen Weisen in den Tod gehen läßt, hat bekanntlich die vehemente Kritik Ludwig Tiecks hervorgerufen. Er schreibt über die

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zum Minister gemacht" (ebd., S. 315f.). Daß man Seneca habe das Prinzipat übertragen wollen, hält Fuhrmann fur abwegig (vgl. ebd.; vgl. Tac. Ann. 15. 65; Epi. I. 498). Man denke nur an das Bild des sterbenden Seneca von Peter Paul Rubens. Vgl. Günter Hess: Der Tod Senecas. Ikonographie-Biographie-Tragödientheorie. Für Max Wehrli. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 25, 1981, S. 196-228, hier Abb. 1 und 12. Außer der Taciteischen literarischen Quelle diente Rubens eine Marmorstatue der Borghesischen Sammlung (vgl. ebd., S. 200). Auf diese verweisen auch die Anmerkungen Lohensteins. Vgl. von Lohenstein: Römische Trauerspiele, Anm. zu V. 417 der Epicharis, S. 290. Den Ausgaben der Nero-Tragödien von 1665 war jeweils ein Kupferstich des Sterbenden Seneca von Rubens beigegeben (vgl. von Hans Müller: Bibliographie der Schriften Daniel Caspers von Lohenstein, 1652-1748, hier S. 220). Außer den bereits genannten französischen Quellen, deren sich Lohenstein bediente (vgl. Anm. 305), sind besonders im 18. Jahrhundert einige literarische Verarbeitungen zu verzeichnen. Der an einem katholischen Kolleg im Wallis lehrende Rhetorikprofessor Ignaz Pellissier ließ im Jahre 1710 seine Tragödie mit dem Titel Coniuratio punita, das ist die in ihrem bösen Vorhaben abgestraffte Epicharis auffuhren. Der Titel weist auf die Intention des Stückes hin. Vgl. Jean-Marie Valentin: Document inedit. Une representation inconnue de l'Epicharis de Lohenstein (Sion, 1710). In: Etudes Germaniques 24, 1969, S. 242-245. Weiterhin ist die Tragödie des Freiherrn von Creutz zu nennen mit dem Titel Seneca (1754) und eine dreiaktige Prosafassung von E. Christian von Kleist. Vgl. dazu Bamer: Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas, S. 57-59. Zur Rezeption des Seneca Christianus in der Jesuitenliteratur des 18. Jahrhunderts vgl. Hess: Der Tod Senecas, S. 218-22. Ebd., S. 217. Asmuth (Lohenstein und Tacitus) erläutert, welche Schwierigkeit Lohenstein angesichts seiner Quelle bei der Wahl einer Titelfigur haben mußte, und zeigt, daß er im Vergleich zu Tacitus die Ereignisfolge beträchtlich ändert (vgl. S. 50-53).

232 Epicharis'. „Es stört übrigens den Dichter nicht, daß Seneca hier als tugendhafter Weiser erscheint, der im vorigen Stücke ein zweideutiger und gleißender Hofmann ist."306 Bezeichnet Klein die Rolle des Seneca in der Epicharis als das „vielleicht Unheimlichste", da „ein Mann, der in der Geistesgeschichte Achtung genießt [...], in den Sog des Verbrechens gezogen wird", 307 erklärt die übrige Forschung Senecas Verhalten mit seinen unterschiedlichen Rollen, die er jeweils einnehme. Just erkennt keinen „Bruch" in der Figurenzeichnung. Als „politischer Berater" zeige Seneca die „Neigung zum Kompromiß in der realpolitischen Situation", während erst der Rückzug ihm die volle Entfaltung als Philosoph ermögliche. 308 Mit der „Rollenbestimmtheit des Denkens" im Rahmen der Vorstellung der Geschichte als Schauspiel erklärt Speilerberg die unterschiedliche Figurenzeichnung; einmal übernehme Seneca die Rolle des Staatsmannes, das andere Mal die des Weltweisen. 309 Ähnlich resultiert nach Meyer-Kalkus diese „doppelte Moral" aus dem Unterschied zwischen Senecas öffentlicher Funktion und seinem Dasein als „Privatmann". 310 Die „Gesinnungsethik" sei nur in privater Abgeschiedenheit zu verfolgen, während das öffentliche Leben den pragmatischen Prudentismus erfordere. 3 " Wiehert erkennt darin, daß Lohenstein in der Agrippina „ausgerechnet Seneca, den wichtigsten Gewährsmann christlicher Antikerezeption [...], zum Mitverantwortlichen" mache, eine von dessen Philosophie offensichtlich unabhängige Programmatik, die auf die Verantwortung der Sprache ziele.312 Wie dem auch sei, Senecas Verhalten läßt sich nicht beschönigen, und eine Veränderung seiner Figur in der Dramatik käme einer Verfälschung der historischen Quellenlage gleich, denen nahezukommen als Lohensteins poetologische Programmatik betrachtet werden darf. Daß es auf einen einheitlichen Charakter der Figuren über Dramengrenzen hinaus ohnehin nicht ankäme, könnte man mit der Auffassung von Geschichtsaufbereitung, die im 17. Jahrhundert verbreitet war, begründen. Diese ist nicht unbedingt auf eine logische Kontinuität der historia civilis bedacht, sondern auf die Erkenntnis einzelner Fakten und Ereignisse, der cognitio singularium,313 Wird

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Ludwig Tieck: Vorrede Deutsches Theater. Bd. 2, Berlin 1817, S. I-XXII, hier S. XXIf. Klein: Die Gesellschaftskritik im Drama Lohensteins, S. 242. Just: Lohenstein und die römische Welt. Einleitung: von Lohenstein, Römische Trauerspiele, S. VIII-XIX, hier S. XVIII. Gerhard Spellerberg: Lohensteins Trauerspiele: Geschichtsdenken und Politikverständnis. In: Die Welt des Daniel Casper von Lohenstein, S. 78-91, hier S. 79f. Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 162. Ebd. Nicht mit der Zuweisung einer bestimmten Rolle, sondern mit der schwankenden Mitte' des Menschen, die Lohenstein durch psychologische Differenzierung zur Darstellung bringe wolle, begründet Schauffelberger (Das Tragische in Lohensteins Trauerspielen) die unterschiedlichen Seneca-Figuren (vgl. S. 27). Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz, S. 431. Vgl. dazu differenziert Arno Seifert: Cognitio historica. Die Geschichte als Namengeberin der frühneuzeitlichen Empirie. Berlin 1976, S. 122-130.

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auf diese Weise die Idee durch die Geschichte widerlegt? Welchen Stellenwert kann, so fragt sich, die Rezeption der stoischen Philosophie bei einer derartigen fast peniblen Quellentreue überhaupt einnehmen? Wie glaubhaft kann sie als ideelle Basis dann noch erscheinen, wenn sich - wie in der Agrippina - in der Not ihr Hauptvertreter entsprechend der Geschichtsschreibung als neustoizistischer Klugheitslehrer entpuppt oder sie - wie in der Epicharis - an den realen Anforderungen vorbeizugehen scheint und nur noch im Tod ihren Zweck erzielen kann? Ist sie dann überhaupt noch eine ernstzunehmende Alternative, wenn sie im Ernstfall der Staatssucht anheimfallt und im gesellschaftlich-politischen Leben versagt, oder muß nicht vielmehr Verhofstadts Eindruck Recht gegeben werden, daß der „Sinn des stoischen Gedankenguts" trotz seiner Präsenz „untergraben" werde3'4 und dem „Wertabstreifungsprozeß" zum Opfer falle?315 Die Frage ist nun, ob der Kontrast zwischen den beiden Seneca-Figuren eigentlich so groß ist. Der Zugang zur Stoa-Rezeption in der Cleopatra hatte sich deshalb als schwierig erwiesen, da ein echter Stoiker fehlte. Dieser scheint nun zwar vorhanden in der Epicharis, und nichts dürfte geeigneter sein, als sich dieser Figur interpretatorisch zuzuwenden, jedoch: Lohenstein entzieht mit seiner Seneca-Darstellung der Relevanz des stoischen secundum naturam vivere in beiden römischen Dramen den Boden. Und dennoch ist die stoische Philosophie auf eigenartige Weise präsenter, als es die zentralen Szenen, die Seneca selbst zeigen, an dessen Verhalten sich die Durchsetzungskraft stoischen Ideenguts vermeintlich zu messen hat, glauben machen. Auch in der Epicharis ist es nicht in erster Linie die Figur des Seneca selbst, die die Senecaische Philosophie beispielhaft vorfuhrt. Andere poetische Mittel lassen auf fast unmerkliche Weise, wie der Mythos des Tiphys in der Cleopatra, den ideellen Horizont des christlich-stoischen Naturrechts über dem Geschehen aufscheinen. Diese sind in der intertextuellen Analyse aufzudecken. Hierbei wird die Schrift De dementia eine besondere Rolle spielen. Mit ihr soll ein Bezugsrahmen angenommen werden, der ein neues Licht auf die schon zu Anfang des Kapitels besprochene Diskussion um Lohensteins politische Stellungnahme werfen soll. Man suchte anhand der römischen Dramen nach einer Antwort auf die Frage, zu welcher Partei Lohenstein sich hier bekenne, zu den Habsburgern oder seinen schlesischen Glaubensgenossen? Kein anderer Dramenkomplex hat wohl stärker divergierende Positionen der Forschung provoziert als die beiden römischen Trauerspiele, die nur schwer als Elemente einer zielgerichteten Widmungspolitik begriffen werden können. Zum einen sind sie Vertretern der schlesischen

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Verhofstadt: Daniel Casper von Lohenstein: Untergehende Wertwelt und ästhetischer Illusionismus, S. 231. Ebd., S. 281. Vgl. oben, S. 159.

234 Seite gewidmet, die Agrippina der Brieger Herzogin Luise,316 die Epicharis dem schlesischen Baron Otto von Nostiz, der zur Zeit der Drucklegung des Dramas in den Diensten des Kaisers eine für die schlesischen Protestanten günstige Politik betrieb.317 Zum anderen lassen sie doch die römische Tradition in einem Zwielicht erscheinen, und Leopold kann als Fluchtpunkt einer Geschichte der Grausamkeiten ohne Affront kaum der Adressat sein. Dennoch wird vermutet, daß die Dramen durch die Vorführung einer willkürlichen und grausamen Machtausübung das Lob einer weisen Regentschaft Leopolds aussprechen, wie es etwa die Widmungsrede der Epicharis an Otto von Nostiz nahelegt. 318 Im Vergleich mit Nero, so Schings, würde das Gegenbild eines idealen Herrschers aufscheinen; aus seiner Perspektive müßte Leopold als ein solcher identifiziert werden können. 319 Die römischdeutsche Tradition wird nach Just bestätigt durch die propagandistische Überakzentuierung des Negativen. 320 Es gilt „zu erkennen", so meint auch Meyer-Kalkus, „daß man unter der Herrschaft der Habsburger klug geworden" sei.321 Die Dramen wären Bestandteil einer taktierenden, beiden Seiten gerecht werdenden Politik, wobei der Schwerpunkt darauf läge, die ideale Herrschaft des Habsburgischen Kaisers oder doch die begründete Erwartung einer solchen herauszustellen. Von anderer Seite wird vermutet, daß Lohenstein Partei für die Anliegen Schlesiens nehme und indirekt das Vorgehen der Habsburgischen Rekatholisierungsmaßnahmen durch die Lupe der römischen Geschichte anprangere. Diese Position bezieht Behar und setzt sich damit in einen gewissen Widerspruch zu der Aussage, das Breslauer Schultheater habe seine eigentliche Intention verloren.322 Behar bezeichnet das Erscheinen der beiden Dramen, „hostiles ä l'Empereur", im Jahre 1665 und die Umstände ihrer

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Nach J a n e O . Newman (Sons and Mothers: Agrippina, Semiramis, and the Philological Construction of Gender Roles in Early Modern Germany [Lohenstein's Agrippina, 1665). In: Renaissance Quarterly 49, 1996, S. 77-113]) sollte das Drama auch die in der Politik fuhrenden Frauen der Zeit in das pragmatisch orientierte Handeln einfuhren; Herzogin Luise sei eine geeignete Adressatin gewesen, da sie in Schlesien als Landesmutter eine tragende Rolle eingenommen habe (vgl. S. 82). Ein solches Anliegen habe dem Trend der Zeit entsprochen, da in der Literatur zunehmend hervorgehoben worden sei, daß auch Frauen die in der Politik nötigen Qualitäten besäßen. Newman denkt vor allem an Pierre Le Moynes La Gallerie des Femmes Fortes (vgl. ebd., S.85). Zur ,frauenfreundlichen' Literatur der Zeit vgl. auch Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz, S. 103-105. Vgl. Behar: Silesia Tragica. Bd 1, S. 59. „Nostrum Carmen sub clementissimo Invictissimi Leopoldi Imperio Neronis saevitiam ridet" (von Lohenstein: Römische Trauerspiele, S. 295). Vgl. Schings: Constantia und Prudentia, S. 428. Vgl. Just: Die Trauerspiele Lohensteins, S. 123. Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 238. Vgl. aber die Kritik von Adalbert Wiehert (Rez.): Reinhart Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit. Affektenlehre und Affektdarstellung in Lohensteins Dramatik am Beispiel von Agrippina. Göttingen 1986. In: Rhetorik 7, 1988, S. 190-193, hier S. 192. Vgl. oben, S. 154f.

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Aufführungen als „une des grandes obscurites" des Lohensteinschen Schaffens.323 Behars Argumention überzeugt wenig, weil Dokumente fehlen und auf der Basis von Vermutungen minutiös versucht wird, die historische Situation zu rekonstruieren. Der kaiserfeindliche Ton der Dramen rühre daher, daß sie vor der Wahl Leopolds im Jahre 1658 verfaßt seien, in einem Interregnum, das den Schlesiern zu neuen Hoffnungen Anlaß gegeben habe.324 Die Dramen hätten aber nicht publiziert werden können, da schließlich Leopold gewählt worden sei. Die politische Situation habe ein kaisertreues Drama verlangt, das Lohenstein schließlich mit der Cleopatra verfaßt habe.325 Als der Dichter schließlich fest in Breslau etabliert gewesen sei und seine Karriere gesichert schien, habe er die Dramen überarbeitet und als pädagogische Übungen an den Gymnasien auffuhren lassen. Die Zunahme repressiver Maßnahmen gegen die Protestanten habe die Wiederaufnahme der römischen Dramen motiviert.326 Die Cleopatra sei bereits Beweis genug gewesen für Lohensteins Loyalität gegenüber den Habsburgern.327 Allerdings hätte die Epicharis, wegen ihrer Widmungsrede, auch als kaisertreu angenommen werden können:328 „L'oppression engendre toujours le double langage."329 Die Epicharis beinhalte im Kern „une theorie du mode de gouvernement ideal: le republicain."330 Lohensteins wahre „predilection" gelte der Republik.331 Glauben wir Behars Konjekturen, so haben wir es bei der Epicharis mit dem Ausdruck der wahren Gesinnung des Dichters zu tun, den er sich erst in gesicherter Position erlauben konnte. Behars Erklärungen überzeugen kaum, da lediglich Vermutungen über historische Ereignisse angestellt werden und der Hiatus zwischen der Cleopatra und den römischen Dramen nicht so recht einleuchten will. Dennoch handelt es sich um einen Versuch, Lohensteins politische Position anhand seiner Dramen zu bestimmen, ihren Inhalt in Rechnung zu stellen und nicht einfach eine Panegyrik ex negativo an die Adresse der Habsburger anzunehmen. Nun besteht aber die Frage, ob aufgrund der römischen Dramen eindeutig eine politische Positionierung vorgenommen werden kann oder ob nicht vielmehr ein überparteiliches Konzept zur Diskussion steht. Textimmanent 323

Behar: Silesia Tragica. Bd. 1, S. 52. Vgl. ebd., S. 45. 325 Vgl. ebd., S. 46. 326 Vgl. zur Rekonstruktion der Ereignisse ebd., S. 52. Behar vermutet, daß Hoffmannswaldau Lohenstein zur Veröffentlichung angeregt und durch seine Lyrik Einfluß auf die Ausschmückung gewisser erotischer Passagen ausgeübt habe (vgl. ebd., S. 54). Zu den Änderungen, die Lohenstein besonders in der Agrippina in Hinsicht auf pädagogische Zwecke vorgenommen haben soll, vgl. ebd., S. 54—56. 327 Vgl. ebd., S. 53. 328 Ebd., S. 59. 329 Ebd., S. 58. 330 Ebd., S. 44. 331 Ebd., S. 261. 324

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könnte man zunächst festhalten, daß beide römischen Dramen ein gemeinsames Thema behandeln: die entartete Tyrannis. Daß das Gegenmodell nicht in einem utopischen Republikanismus bestehen kann, wie Behar behauptet, ist offensichtlich und für die Epicharis besonders von Szarota und Aikin hervorgehoben worden.332 Statt einen Republikanismus zu propagieren, zeigen beide römischen Dramen vielmehr die Gefahren einer entarteten Tyrannis auf, ohne vom Modell der Monarchie Abschied nehmen zu wollen. Ob sie damit gleichzeitig, wie Szarota vermutet, der Habsburgischen Politik das Wort reden, bleibe dahingestellt.333 Vielmehr ist hervorzuheben, daß in beiden römischen Dramen ein geschichtsphilosophisches Modell der entarteten Tyrannis entgegensetzt wird, das sich aus stoischem Gedankengut speist. Welches geeignetere Beispiel könnte es geben als Nero, und welche geeignetere Konzeption könnte kontrapunktisch dem Chaos entgegengesetzt werden als Senecas Vision einer dementia Caesarisl Sie erscheint, wie Wiehert richtig bemerkt, durch „Umkehrung dieses Ideals" in den Trauerspielen, wie es das Gesetz der Gattung erfordert.334 Wiehert gebührt das Verdienst, sich mit der Schrift vor allem in formaljuristischer Hinsicht auseinanderzusetzen und die Parallelen zum zeitgenössischen Schrifttum aufzudecken, das insgesamt eine Tendenz zur „Moralisierung des öffentlichen und privaten Lebens" verzeichnet habe.335 Er nennt u. a. Schottelius' Ethica, die bürgerlich-humanistisches Gedankengut vertrete und die Stoa und Thomas von Aquin rezipiert habe.336 Bereits Kühlmann wies auf die humanistische Rechtstheorie der Frühen Neuzeit hin, die die „Erkenntnis der Gerechtigkeit jenseits aller pragmatischen Legalität" auf ihre Fahnen geschrieben habe, um einen machiavellistischen Prudentismus in die Schranken zu weisen, und die etwa der Tübinger Jurist Christoph Besoldus vertreten habe.337 Vor diesem Hintergrund könnte die Rezeption der Senecaischen Schrift De dementia in den römischen Trauerspielen zu sehen sein. Es soll aber weniger untersucht werden, wie sie in die zeitgenössische Diskussion über Recht und Billigkeit eingebunden ist, sondern ihren Spuren in den Dramen nachgegangen werden. Im folgenden wird versucht, zunächst in der Agrippina, dann in der Epicharis, die Rezeption der Schrift De dementia genau nachzuzeichnen. Ihr philosophischer Gehalt bildet schließlich in beiden Tragödien den Hintergrund, vor dem sich das Geschehen abspielt. Noch einmal wird sich zei332

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Vgl. Szarota: Geschichte, Politik und Gesellschaft im Drama des 17. Jahrhunderts, S. 151. Vgl. Aikin: The Mission of Rome in the Dramas of Daniel Casper von Lohenstein, S. 188. Elida Maria Szarota: Lohensteins Epicharis. In: Die Welt des Daniel Casper von Lohenstein, S. 104-111, hier S. 105f. Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 449. Ebd., S. 408. Ebd., S. 444. Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 104. Vgl. auch Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 443.

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gen, daß die stoische Philosophie mit dem Begriff der constantia im 17. Jahrhundert unzureichend definiert ist. Abgesehen davon, daß er die Stoa als Kulturphilosophie ausblendet, nimmt er vor allem eine Gruppe einseitig in den Blick, nämlich die der Untergebenen und Opfer von Ungerechtigkeit oder Staatsräson. De dementia bietet nun eine Anleitung fur die Herrscher. Auch diese haben Pflichten und zwar jenseits der Gesetze, die der Staat vorschreibt. Da die Frage nach der Möglichkeit sanftmütigen Verhaltens im Senecaischen Sinne die Dramen wie ein roter Faden durchzieht und in hinreichendem Maße den ideellen Horizont bildet, möge eine genaue Analyse der Reyen in diesem Fall unterbleiben. Als Rezeptionszeugnis Senecaischer Philosophie sind sie ohnehin nur von bedingtem Wert." 8 Dieser nähern sich die römischen Dramen auf andere Weise.

2. Lohensteins philologische und philosophische zum Problem De dementia in der Agrippina a) Die Traumerscheinung

Stellungnahme

des Britannicus

In der Agrippina sind es vor allem zwei poetologische Erfindungen, die in Abweichung von den historischen Quellen als intertextuelle Verweise deutlich De dementia als Prätext und als Bezugsrahmen des Geschehens andeuten, was Lohenstein in seinen Anmerkungen allerdings verschweigt. Gab er in der Cleopatra durch sein verhülltes Medea-Zitat im letzten Reyen und am Ende seines Anmerkungsapparates eindeutige Allusionen auf den Senecaischen Prätext, so verläuft in der Agrippina die „intertextuelle Spur"339 anders als in der Cleopatra. Der alludierte Text ist eher im Haupttext manifest, weniger durch direkte Zitate, sondern durch dramaturgische Maßnahmen. Diese seien im folgenden diskutiert: zum einen der Traum des Britannicus, zum anderen die Diskussion zwischen Burrus und Seneca über das weitere Vorgehen nach dem mißglückten Schiffbruch. Für die Interpretation der Seneca-Figur ist allerdings nicht nur der Gehalt der philosophischen Schrift als Prätext von Belang, sondern auch deren problematische Entstehungsbedingungen. Der Traum des Britannicus ist ein bisher unbemerkter Hinweis auf die Streitfrage um die eigentliche Intention der Schrift. Schließlich ist der besondere Fall zu bedenken, daß der Produzent des alludierten Textes im alludierenden poetischen Text selbst auftritt. Indem dieser Kontext mitberücksichtigt wird, ist eine hohe Intensität des intertextuellen Bezuges zu erwarten. Auf welche Weise erzeugt nun dieser Tatbestand das besondere Spannungsverhältnis?

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Eine Ausnahme mag der dritte Reyen in der Agrippina bilden. Vgl. dazu ebd., S. 133. Heibig: Intertextualität und Markierung, S. 80.

238 Zu Beginn des vierten Aktes erscheint Nero der Geist seines Stiefbruders Britannicus, den er im Jahre 56 n. Chr. umbringen ließ. Nero selbst befindet sich zu diesem Zeitpunkt in Baiae. Seine Mutter hatte er unter dem Vorwand, fern von Rom ungestörtes Liebesglück genießen zu können, nach dem in der Antike viele Jahrhunderte lang berühmten Lustort am Golf von Neapel gelockt, nach Senecas Worten ein Sündenpfuhl, ein „deversorium vitiorum" (Ep. 5 1. 3).340 Der geplante Schiffbruch mißglückt, Agrippina kann sich schwimmend ans Ufer retten. Noch bevor Nero davon erfährt, erscheint ihm der Geist seines ehemaligen Opfers und erinnert ihn an seine nicht lange zurückliegende Mordtat. Die Bedeutung dieses Traumes liegt zunächst klar auf der Hand. Britannicus nennt Nero einen „Wütterich" (IV. 1), „Blutthund" (IV. 21) und „Ertz-Mörder" (IV. 27), der ihm das „Gifft-Glaß eingegossen" (IV. 12). Das Erscheinen seines ehemaligen Opfers verweist Nero auf sein Gewissen: [...] Ein lasterhaft Gewissen Wird von den Nattern böser Lust Von Würmern banger Furcht gehenckert und zerrissen. Es bellt ein Hund j a in der Brust So oft das Hertze schlägt / der den vom Schlaff erwecket / Den mehr geronnen Blutt als edler Purpur decket. (Agr. IV. 5-10)

Britannicus schwört Nero ewige Rache und kündigt Agrippinas Rettung an (vgl. IV. 39, 51 f.). Er prophezeit ihm, er werde von den Furien heimgesucht (vgl. IV. 57), woraufhin dieser, in ähnlicher Weise wie Bassian (vgl. Pap. V. 357-364), von Visionen geplagt wird: Hilf Himmel! ich erstarr! ich zitter! ich vergeh! Wo bin ich? Himmel hilf! im Abgrund? in der See? In einer Todten-Grufft? Umschrenckt mit tausend Schlangen? Mit Aeßem überlegt? Von Tigern rings umbfangen? Von Blitz und Keil gerührt? [...] (Agr. IV. 63-67)

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Zu Baiae schreibt Ludwig Friedlaender (Sittengeschichte Roms. Wien 1934) u.a.: „Im Altertum hatten Natur und Kunst gewetteifert, diesen Ort zu einem in seiner Art einzigen zu machen. Die unvergleichliche Schönheit der Lage, die Pracht und Großartigkeit der Paläste und Gärten, die Überfülle der Genußmittel jeder Art, die herrliche Klarheit und Milde der Luft, die tiefe Bläue des Himmels und des Meeres - alles lud hier zum Genuß des Momentes, zu seliger Weltvergessenheit ein, und prachtvolle Feste, in dieser Umgebung doppelt zauberisch, reihten sich in ununterbrochener Folge aufeinander. Auf den Wogen des sanftesten Meeres schaukelten zahlose leichtgezimmerte, bunte Barken und Gondeln, unter denen hier und da eine fürstliche Prachtgaleere steuerte, oder maßen sich in Wettfahrten [...]. Zärtliche Paare saßen in leisem Geflüster am stillen Strande beisammen oder ließen sich auf dem Lucriner und Averner See in kleinen Booten umherrudem" (S. 352f.). Zu Veränderungen gegenüber den historischen Quellen, was den örtlichen Verlauf der Reise angeht, vgl. Asmuth: Lohenstein und Tacitus, S. 35-37.

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Die Geisterscheinung des Britannicus gehört zu einer der poetologischen Erfindungen Lohensteins, die die historische Quelle ausschmücken. Sie ist wenig beachtet und hauptsächlich hinsichtlich der Affekterregung gedeutet worden. Tatsächlich dient sie, wie auch die wunderbar anmutende Rettung der Agrippina, als „Affektbasis" für Neros auch bei Tacitus überlieferte Angst.341 Ihre Funktion ist damit aber bei weitem nicht erschöpft.342 Sie erinnert außerdem, wie sich im folgenden zeigen wird, an Senecas Schrift De dementia. Mit ihrer Idee des sanftmütigen princeps setzt sich das Drama auseinander und bezieht durch die Figurenzeichnung des Seneca Stellung zum Problem von Ideal und Wirklichkeit der stoischen Philosophie. Um dies nachzuweisen, ist es zunächst sinnvoll, die Entstehungsbedingungen und die Diskussion um die Schrift zu erläutern. Im Drama ruft die Traumerscheinung des Britannicus diese in Erinnerung. Britannicus war Neros Stiefbruder und Sohn der Messalina, der Gemahlin des Kaisers Claudius, deren Nachfolge Agrippina antrat. Sie war mit ihrem Onkel ihre dritte Ehe eingegangen und brachte aus ihrer ersten den Sohn Lucius Domitius, den späteren Kaiser Nero mit, den Claudius adoptierte.343 Agrippina wollte natürlich den eigenen Sohn auf den Thron bringen, deshalb richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, daß Britannicus, der leibliche Sohn des Kaisers, nicht zuviel Einfluß gewann. Um Nero eine gute Ausbildung zuteil werden zu lassen, ließ sie Seneca aus der Verbannung auf Korsika nach Rom zurückkehren, damit er ihn erziehe. Agrippina inszenierte planvoll den Weg ihres Sohnes auf den Thron, indem sie ihn bei allen möglichen Ereignissen als im Vergleich zu Britannicus geeigneteren Nachfolger erscheinen ließ.344 Als schließlich alles perfekt geplant war, beging sie im Jahre 54 n. Chr. zum zweiten Male Gattenmord, und es schien fast natürlich, daß Nero der Nachfolger seines Stiefvaters wurde. Seneca selbst kam dies nur zugute. Als Prätor, Mitglied des Senats und Neros einflußreicher Erzieher wurde er einer der mächtigsten Männer am Hof. Zu mächtig, wie Agrippina ein Jahr später feststellen mußte. Der Einfluß von Seneca und Burrus wurde größer, Nero gab sich zunehmend ausschweifenden Vergnügungen hin, so daß seine beiden Ratgeber unverzichtbar wurden. Neros Verhältnis zu Agrippina verschlechterte sich. Da drohte sie damit, Britannicus, den echten Thronfolger, zu seiner rechtmäßigen Herr341 342

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Ebd., S. 40. Etwas diffus bleibt die Analyse Pasternacks (Spiel und Bedeutung. Untersuchungen zu den Trauerspielen Daniel Caspers von Lohenstein), daß die Geistererscheinung des Britannicus wie auch diejenige Agrippinas (vgl. V. 401—454) die „Unanfechtbarkeit der ethischen Ordnung" enthülle (S. 69). Unklar ist, welche Art ethischer Ordnung gemeint ist. Zu den historischen Ereignissen vgl. Fuhrmann: Seneca und Kaiser Nero, S. 155-160. Zu diesen Inszenierungen gehörte auch die Ehe mit der dreizehnjährigen Oktavia, der Tochter des Claudius, die Nero, selbst sechzehn Jahre alt, auf Agrippinas Betreiben einging. Vgl. ebd., S. 172.

240 schaft zu verhelfen. Nero ließ ihn Anfang des Jahres 55 bei einem öffentlichen Gastmahl in Anwesenheit seiner Mutter vergiften, wohl auch aus Furcht vor einem erneuten Bürgerkrieg. Um Neros Ansehen nicht noch mehr zu schädigen, wurde offiziell verbreitet, Britannicus sei an Epilepsie gestorben (vgl. Tac. Ann. 13. 16).345 Zu diesem Zeitpunkt verfaßte Seneca seine Schrift De dementia, die ausgerechnet mit einem Panegyricus auf Nero beginnt. Es wird sogar vermutet, daß sie ursprünglich eine Rede war, die Seneca in Neros Anwesenheit gehalten hatte, ein Jahr später veröffentlichte und dem Kaiser widmete.346 Über die Güte wolle er schreiben und Nero einen Spiegel vorhalten. Erfreulich sei es, einen Blick in das gute Gewissen zu tun: Scribere de dementia, Nero Caesar, institui, ut quodam modo speculi vice fungerer et te tibi ostenderem perventurum ad voluptatem maximam omnium. [...] iuvat inspicere et circumire bonam conscientiam. (De dem. Praef. 1. 1 ) 347

Die für einen damaligen Fürstenspiegel eigenartige Verwendung des Spiegelgleichnisses unterstreicht Neros besondere Vorbildhaftigkeit. Nicht ein allgemeines theoretisches Bild einer idealen Herrschaft entwirft der Spiegel, an dem sich der Schauende messen kann, sondern Nero selbst fungiert als Ideal. Der ideale Entwurf einer gewaltfreien Herrschaft und die besondere Praxis bilden eine Einheit.348 Das Vorbild, so wird ausdrücklich gesagt, das ein Kaiser nachahmen solle, liege in Nero selbst (vgl. 1. 1.6). Schließlich habe dieser niemals Blut vergossen (vgl. 1. 11.3). Nun hat nach Tacitus Seneca in seiner Sterbestunde kund gegeben, daß er von dem Mord an Britannicus gewußt habe (vgl. Ann. 15. 62). Außerdem scheint De dementia tatsächlich nach dem Zwischenfall im Februar 55 verfaßt zu sein, da sie sich an den achtzehnjährigen Kaiser richtet (vgl. De dem. 1. 9. I).349 Auch wenn Nero, wie Grimal meint, in diesem Jahr im Kaiserhaus selbst Proben seiner Milde gegeben habe, da er Agrippina von dem Verdacht eines Komplotts gegen sich befreit, von der Kapitalstrafe abgesehen und eine solche dementia an den Tag gelegt habe, daß der Mord an Britannicus in den Schatten

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Vgl. ebd., S. 182f. Grimal (Seneque) vermutet, daß De dementia in Form einer Rede bei der nuncupalio votorum, einem Fest zu Ehren des Kaisers, am 3. Januar 56 gehalten wurde (vgl. S. 122). Vgl auch Bernard Mortureux: Les ideaux stoi'ciens et les premieres responsabilites politiques: le ,De dementia'. In: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt. Bd. II. 36. 3, 1989, S. 1639-1685, hier S. 1634-1645. Zitiert wird nach: S. oben, S. 190, Anm. 174. Zur Verwendung des Spiegelgleichnisses vgl. Traute Adam: dementia Principis. Der Einfluß hellenistischer Fürstenspiegel auf den Versuch einer rechtlichen Fundierung des Principats durch Seneca. Stuttgart 1970, S. 18f. Nero wurde am 15. Dez. 37 n. Chr. geboren. Außerdem wird die Verleihung des Titels Pater Patriae angesprochen (vgl. De dem. 1. 14. 2), den Nero erst Ende des Jahres 55 oder Anfang 56 erhielt.

241 gerückt worden sei,350 bleibt die Paradoxie bestehen: Wie konnte Seneca nach Britannicus' Vergiftung eine Schrift verfassen, die von der absoluten Gewaltfreiheit spricht und betont, daß Nero das seltenste Lob zuteil werde, das einem Kaiser ausgesprochen werden könne, die Unschuld, die innocentia {De clem. 1. 1.5)? Man könnte einwenden, daß Seneca sich zum Tod des Britannicus selbstverständlich nicht äußern durfte, ohne sein Leben zu riskieren, jedoch besteht zwischen dem möglichen Schweigen und einem öffentlichen Panegyricus auf den Täter ein großer Unterschied. Mehr als der Inhalt der Schrift scheint seit jeher dieses Rätsel um ihre Abfassungszeit die Philologen zu beschäftigen, die in der Mehrzahl damals wie heute davon ausgehen, daß die Schrift tatsächlich nach dem Mord an Britannicus verfaßt sei.351 Im 15. Jahrhundert nimmt Petrarca in seinem fingierten Brief an Seneca Anstoß an den Schmeicheleien, die Nero in De dementia zuteil werden. Diese habe er (Petrarca) nicht ohne Scham lesen können.352 Kann man mit Petrarca, fragt Fuhrmann, Seneca etwa „höfische Kriecherei" vorwerfen?353 Sind, so Richter, die Schmeicheleien über Nero „aus reinem Herzen geschriebene Wahrheiten oder mit diplomatischer reservatio mentalis formulierte Zwecklügen"?354 War die Schrift in Zeiten unblutiger friedlicher Herrschaft ihr „literarisch-theoretisches Fundament", oder wollte Seneca mit ihr, nachdem Neros Grausamkeit offensichtlich geworden war, diesem „nach ersten gefahrlichen Wetterzeichen mit psychologischer List in die Arme" fallen?355 Wollte Seneca nicht doch, entgegen Büchners Vermutung, Nero ein „moralisches Alibi" verschaffen?356 Das vordergründig philologische Problem um die Datierung der

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Grimal: Seneque, S. 125. Auch der in der Frühen Neuzeit maßgebliche Herausgeber der Senecaischen Schriften, Justus Lipsius, datiert De dementia, entsprechend zu 1.9. 1, in Neros 19. Lebensjahr. In seinem recht kurzen Argumentum zur Ausgabe geht er auf die Problematik um den Britannicus-Mord nicht ein, er scheint sogar das Lob auf Nero als gerechtfertigt anzusehen: „Hi libri scripti initio Principatus Neronis, quod ipse lib. 1. cap. IX. palam indicat, cum scribit eum ingressum annum decimumnonum. [...] Exordium est a laude Neronis, nec falsa, ut initia illa erant" (Lucius Annaeus Seneca: Opera, quae exstant omnia. A Iusto Lipsio emendata et scholiis illustrata. Antwerpen 1605, hier Lipsius' Argumentum zu De dementia, S. 187). Zu Lipsius' Datierung aus philologischer Sicht vgl. Francis Prechac: Le traite De dementia. Sa composition et sa destination. Einleitung zu: Seneque: De la Clemence. Texte etabli et traduit par Francois Prechac. Paris 1921, S. V-CXXVI, hier S. CH -CIV. „[...] qua enim fronte de tali talia scripsisse potueris, ignoro; certe ego sine pudore non relego" (rer.fam. 24. 5. 19). Zitiert wird nach: Francesco Petrarca: Le Familiari. Edizione critica per cura di Vittorio Rossi. Volume Quarto per cura di Umberto Bosco: Libri X X XXIV e Indici. Con un ritratto. Edizione nazionale. Bd. 13, Firenze 1942. Manfred Fuhrmann: Die Alleinherrschaft und das Problem der Gerechtigkeit (Seneca. De dementia). In: Gymnasium 70, 1963, S. 481-514, hier S. 489. Will Richter: Das Problem der Datierung von Senecas De dementia. In: Rheinisches Museum 108, 1965, S. 146-170, hier S. 167f. Ebd., S. 168. Karl Büchner: Nachwort: Seneca: De dementia. Über die Güte, S. 101-116, hier S. 106.

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Schrift birgt im Kern ein philosophisches, das die Gemüter beunruhigt: Welche Bedeutung kommt der stoischen Philosophie überhaupt zu, wenn ihr Gewährsmann Seneca selbst einen Mord deckt? Um ein vielleicht verklärtes Bild des Philosophen aufrechtzuerhalten, wurde mit peniblem Positivismus versucht, die Ereignisfolge zu ändern, De dementia zurückzudatieren bzw. den Mord an Britannicus in das Jahr 56 zu verlegen u. ä.; darauf muß hier nicht näher eingegangen werden, die Versuche gelten heute als nicht überzeugend.357 Des weiteren wurde mit dem fragmentarischen Charakter des Werkes argumentiert. Richter sieht in der Unvollständigkeit der Schrift, die eigentlich auf drei Teile angelegt ist (vgl. De clem. 1.3. 1), aber dann im zweiten Buch unvermittelt abbricht, eine ,Rettungsmöglichkeit'. Die erhaltenen Teile seien vor dem Mord an Britannicus verfaßt. Dieser sei das „gravierendste, menschlich zwingendste und daher wahrscheinlichste Motiv" gewesen, die Arbeit niederzulegen und nicht wieder aufzunehmen, da sie der „neuen Wirklichkeit" nicht mehr entsprochen habe.358 Hier schließt sich sogleich die weitere Überlegung an, ob Seneca dies überhaupt als Aufgabe seiner Schrift betrachtete. Wollte er die Wirklichkeit abbilden, oder folgte er nicht vielmehr ganz anderen Intentionen? Statt lückenlose philologische Nachweise zu erbringen, daß Seneca die Schrift vor dem Mord an Britannicus verfaßt habe und seine Hände in Unschuld waschen dürfe, geht man heute von ganz anderen Voraussetzungen aus. Die Verfassung und Veröffentlichung der Schrift bzw. ihren öffentlichen Vortrag auch nach dem Mord - und das Gegenteil ist kaum überzeugend nachzuweisen - hält man aus verschiedenen Gründen nicht mehr fur ehrenrührig. In Kauf genommen wird eine Trennung von Politik und Philosophie und zugleich eine von Praxis und Theorie, eine Sichtweise, die für die Rezeption der Schrift in der Agrippina von entscheidender Bedeutung sein wird. Die heutige Forschung neigt dazu, in der Annahme einer solchen Dissoziation Seneca von dem Vorwurf ehrenrühriger Schmeicheleien zu entlasten. Grimal sieht in der Schrift De dementia einen politischen Akt. Nach einem Jahr der Regierungszeit Neros habe man eine Bilanz und eine Bestätigung des Prinzipats als Regierungsform gefordert.359 Immerhin habe sich Nero im Vergleich zu seinen Vorgängern bis zu Britannicus Tod als milder Herrscher erwiesen. Britannicus hätte man angesichts der Opfer, die ein erneuter Bürgerkrieg gefordert hätte, verschmerzen können.360 Die modernen Philologen verkennten die historische Situation, wenn sie moralische

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Vgl. die Zusammenfassung der Diskussion bei Fuhrmann: Die Alleinherrschaft und das Problem der Gerechtigkeit, S. 489, Anm. 11. Ebd., S. 169. 359 Grimal: Seneque, S. 125f. 3 « Ebd., S. 124. 358

243 Maßstäbe anlegten, die sich für die damalige Zeit nicht anwenden ließen. De dementia sei Philosophie und kein Traktat über das, was die Staatsräson erfordere: „II s'agit, dans le De dementia, de maximes generates, et d'une philosophie de la monarchie, non de ce que peut exiger, parfois, dans le secret, la raison d'Etat."361 Grimal stellt damit, ohne dies weiter zu diskutieren, die Trennung von Philosophie und Politik im Ernstfall fest und überträgt sie auf die Person Seneca. Diejenige Maxime, mit der man die Unterschiede in der SenecaFigur in den beiden römischen Trauerspielen erklärt, macht sich Grimal auf anderer Ebene zueigen. Seneca habe sich, indem er die Schrift De dementia verfaßt und öffentlich vorgetragen habe, als „Phomme d'Etat" gezeigt: Sein Ziel sei gewesen, die Öffentlichkeit zu beruhigen.362 Grimal trifft somit eine irritierende Aussage über Senecas Philosophie. Sie eignet sich, von einer instabilen und fragwürdigen Herrschaft in den Dienst genommen zu werden, partizipiert eben an jener Staatsräson, indem sie den Staat in seiner äußeren Form bestätigt, ohne kritisch zu hinterfragen, mit welchen Mitteln er erhalten wird. Grimal weist De dementia, unabhängig von der Realisation ihres philosophischen Gehalts im Staatswesen, eine politische Bedeutung zu, weil sie die Existenz des kaiserlichen Imperiums als Faktizität ernst nehme und dieses als in einer Entwicklung begriffen betrachte.363 Das angestrebte Ideal sei immer der in De dementia angenommene Staat mit dem Weisen als König.364 In Grimals Interpretation dient Senecas Schrift der Verteidigung eines Zustandes, der besteht, hat aber mit der politischen besonderen Wirklichkeit nichts gemein. An der Spitze des Staates befindet sich ja kein Weiser, sondern ein Tyrann. Abgesehen von der beruhigenden Funktion durch die Vision eines idealen Prinzipats scheint Grimal keinen Bezug von De dementia zu einer von Krisen geschüttelten Politik zu sehen, deren Wirklichkeit und Anforderungen offensichtlich andere Wege gingen. Radikaler als Grimal entzaubert Griffin die Person Seneca, macht den Philosophen zum Handlanger des Staates und spart nicht mit moralischem Urteil: „He had never been a man of rigid principle."365 Im Verhältnis zur politischen Wirklichkeit sei De dementia eine Programmschrift, um die Öffentlichkeit, den Senat und das Volk von dem Regime zu überzeugen, dem sie als erste Tugend die dementia nachsage, als „part of the publicity of the new reign from the start".366 Die Schrift erfüllt nach Griffin zwei psychologische Funktionen. Zum einen soll sie den Kaiser durch die Mi-

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Ebd. Ebd., S. 126. Vgl. ebd., S. 131. Ebd. Miriam T. Griffin: Seneca. A Philosopher in Politics. Oxford 1976, S.135. Ebd.

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schung von Ermahnung und Lob auf das rechte Gleis der Milde führen.367 De dementia wäre also, wie schon De ira, Element pädagogischer Paränese. Ein Mittel, um diese Wirkung zu erzielen, besteht zweifellos darin, daß sie die besondere Ausnahmestellung des princeps hervorhebt. Zum anderen soll sie, wie auch Grimal hervorhebt, die Öffentlichkeit nach dem Mord an Britannicus beruhigen.368 Mit Blick auf die relativ neue Regierungsform des Prinzipats sieht Griffin wie auch Grimal die hauptsächliche Aufgabe der Schrift darin, die öffentliche Meinung von der Legitimität der Staatsform zu überzeugen.369 Folgt man Griffin, so hat Seneca zu diesem Zweck ein ideales Verhältnis zwischen Herrscher und Untergebenen entworfen, das sich aus stoischen Vorstellungen speist. De dementia wäre Element der Staatsräson. Die Schrift setzte das unverwirklichte stoische Gedankengut bewußt ein, um adulatorisch und dissimulatorisch den gegenwärtigen Staat zu verteidigen, aber implizit seine Verbesserung auf der Basis der monarchischen Staatsform zu fordern. Das Enkomion wäre rein formal zu verstehen, das Wesentliche bestünde in der mit ihm verbundenen Paränese. Hierin liegt für Fuhrmann die essentielle Möglichkeit ihrer Wirkung: Nur indem Seneca die Wahrheit um den Mord des Britannicus ignoriert und die Neronische Regierung verherrlicht habe, konnte er damit rechnen, daß seine Ermahnungen den Kaiser erreichten. Auf diese Weise sei der Autor Seneca rehabilitiert, die Vorwürfe seien „unbegründet", da von einem echten Anliegen um das Wohl des Staates ausgegangen werden dürfe.370 Die Geschichte hat erwiesen, daß Senecas Bemühungen fruchtlos waren. Dies steht allerdings auf einem anderen Blatt. Wichtig ist, daß Nero Agrippina ermorden ließ, und daß der Autor derjenigen Schrift, die für die Sanftmut plädiert, zu diesem Mord riet, ihn schließlich sogar legitimierte, als Staatsmann und nicht als Philosoph. Lohensteins Drama darf als literarische Stellungnahme zu dem oben skizzierten Problem verstanden werden. Neros Traum, in dem ihm der Geist des Britannicus erscheint, und die kurz darauf folgende Forderung des Burrus, man solle der „Sanftmuth Pflaster" anwenden (IV. 167), weisen unmißverständlich darauf hin, daß der ideelle Gehalt von Senecas Schrift mitzudenken ist. Da Lohenstein so deutlich Seneca von dieser Idee im Drama Abstand nehmen läßt und ihn als Staatsmann zeichnet, der der Staatsräson verpflichtet ist, konfrontiert er die Figur mit der Idee der Senecaischen Schrift. Dies ist sicher kein Zufall, sondern impliziert das Wissen um die problematischen Entstehungsbedingungen. Lohenstein bezieht durch seine Figurenzeichnung Position zu dem Problem, wie sich Ideal und Wirklich367 368 369 370

Ebd., S. 136. Vgl. ebd., S. 138. Vgl. ebd., S. 141. Fuhrmann: Seneca und Kaiser Nero, S. 185.

245 keit, Philosophie und Politik, Theorie und Praxis zueinander verhalten können. Er nimmt Stellung zur Praxistauglichkeit der stoischen Philosophie in politisch krisenhaften Entscheidungssituationen. Wie fließt die Schrift De dementia in das Drama Agrippina ein, und wie sieht das Senecaische Konzept der Sanftmut aus? Wie wir sehen werden, antwortet Lohenstein nicht nur auf dieses Konzept, sondern auch auf Gryphius, der im Leo Armenius Senecas Schrift auf eigene Weise rezipiert. Im folgenden seien zunächst die Grundzüge von De dementia dargestellt, sodann ihre Rezeption bei Gryphius und schließlich Lohensteins dramatische Replik erläutert.

b) Die Prätexte. Senecas sanftmütige Fürsten und die Rezeption von De dementia in Gryphius' Leo Armenius Neben der Traumerscheinung ist die Diskussion zwischen Seneca und Burrus ein weiterer Hinweis auf De dementia. Nero läßt die beiden zu sich kommen, um mit ihnen das weitere Vorgehen zu beraten. Szarota zählt sie zu der Gruppe der „Nicht-Intrigierenden, sich nicht Verstellenden".371 Diese Kategorisierung trifft die Funktion der beiden Berater nicht. Sie verhindern schlau Agrippinas Verführungsversuch, nicht etwa als „Vertreter der ,Wohlanständigkeit', der bienseance",372 sondern weil sie den status quo erhalten wollen. Dieser Motivation entspringt auch die heimtückische Planung des zweiten Mordanschlages auf die Kaiserin. Möglicherweise verstellen sie sich auch gegenüber Nero, der seine Macht behalten soll, nicht, weil er ein vorbildlicher Herrscher ist, sondern damit der status quo bewahrt werde. Die Funktion von Seneca und Burrus ist genau bestimmbar: Sie suchen nach Möglichkeiten, den bestehenden Zustand zu erhalten, um auch ihre eigene conservatio zu sichern. Dabei nehmen sie an der entscheidenden Gelenkstelle des Dramas zwei unterschiedliche Positionen ein. Die beiden erfahren angeblich erst jetzt von dem Anschlag auf Agrippina (vgl. Agr. IV. 141, vgl. auch Tac. Ann. 14. 7).373 In Abwandlung von der Taciteischen Quelle, nach der beide Berater zum Mord raten, läßt Lohenstein sie unterschiedliche Standpunkte darüber vertreten, was zu tun sei, und thematisiert auf diese Weise im Anschluß an die Geistererscheinung weiter die Schrift De dementia. In Übereinstimmung mit Nero betont Seneca die Gefahr, die von Seiten Agrippinas und ihrer Anhänger drohe, empfiehlt „geschwinden Widerstand" (IV. 151) und die schnelle Tötung (vgl. IV. 154). Während Seneca furchtbare Rache von Agrippina befurchtet, rät Burrus mit 371 372 373

Szarota: Geschichte, Politik und Gesellschaft im Drama des 17. Jahrhunderts, S. 147. Ebd., S. 148. Asmuth (Lohenstein und Tacitus) meint, daß Lohenstein dadurch die beiden Minister entlaste (vgl. S. 42).

246 dem allerdings fragwürdigen Hinweis auf den „holden Sohn" (IV. 162), der schwerlich von einer rachsüchtigen Mutter abstammen könne, zur Milde. Seneca und Burrus vertreten zwei gegenteilige Konzepte, entweder die Anwendung der Lipsianischen ure-seca-Formel374 oder die der dementia. Burrus' metaphorische Rede nimmt auf diese beiden Alternativen Bezug: „Die Wunden lassen sich mit Messern übel heilen" (IV. 166). Man solle „noch einmal der Sanftmuth Pflaster" anwenden (IV. 168). Nach einer Unterredung mit Agrippina hatte sich Seneca und Burrus der Verdacht, Agrippina plane einen Anschlag auf Nero, an sich nicht bestätigt (vgl. I. 481 f.). Nero hatte Agrippina verkündet, man werde ihr glauben und gemäß der „Natur" (I. 565) die „Bahn der reinen Sanfftmuth gehn" (I. 574f.). Nach dem versuchten Inzest ist die Milde aber für Seneca keine Alternative mehr. Ihre Ausübung habe die Lage nur verschlimmert (vgl. IV. 169). Auch wenn „sie nicht zu tödten Uhrsach hetten" (IV. 182), gebiete „des Reiches Noth" und des „Käysers Heil" (IV. 183), die Kapitalstrafe anzuwenden. Selbstverständlich könnte man wie Asmuth argumentieren, daß Senecas Rat „sich angesichts der bedrohlichen Lage durch die im 17. Jahrhundert maßgebende Auffassung von der Staatsräson notfalls rechtfertigen" ließe,375 jedoch berücksichtigt dies nicht Lohensteins poetischen Kunstgriff. Burrus' Argumente sind ja nicht, wie Spellerberg behauptet, nur als „bloß rhetorisch bedingte Gegenposition" zu bezeichnen, die für die „tatsächliche Entscheidung ohne Belang" sind,376 sondern Lohenstein setzt Seneca durch die Konfrontation mit Burrus in Widerspruch zu seiner eigenen Philosophie der dementia Caesaris. Dieser Zwiespalt zwischen den beiden Ratgebern ist eine Erfindung Lohensteins, die noch einmal auf die Schrift De dementia rekurriert. Nicht ist Seneca in erster Linie „Fürstendiener unter anderen" und unselbständiger Autor nur in bezug auf eine ars dictandi, die „dem Senat Scheingründe für den Muttermord unterbreiten muß".377 Vor allem ist er Autor von De dementia, gegen deren Theorie er in der Praxis verstößt. Die poetologischen Mittel, der Traum des Britannicus und die Entscheidungsfindung zwischen Anwendung der Milde und ihrem genauen Gegenteil, der Kapitalstrafe, reflektieren die exemplarische Situation eines Herrschers, wie Seneca sie in De dementia und auch in seiner Tragödie Troades schildert. Hier fungiert Augustus, dort der Griechenfürst Agamemnon als Vorbild sanftmütigen fürstlichen Verhaltens. Lohenstein setzt seinen Seneca durch dessen

374 375 376 377

Vgl. oben, S. 54f. Asmuth: Lohenstein und Tacitus, S. 41f. Spellerberg: Verhängnis und Geschichte, S. 171. Friedrich A. Kittler: Rhetorik der Macht und Macht der Rhetorik - Lohensteins Agrippina. In: Johann Christian Günther (mit einem Beitrag zu Lohensteins ,Agrippina'). Hrsg. von Hans-Georg Pott. München, Wien Zürich 1988, S. 39-51, hier S. 48.

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Reaktion auf Burrus' Vorschlag in klaren Widerspruch zu diesen Vorbildern. Es seien aber nicht nur diese Senecaischen Vorbilder mitzudenken, sondern auch eine zentrale Episode in Gryphius' Tragödie Leo Armenius, die direkter auf die exemplarische Situation von Augustus' Entscheidungsfindung in De dementia Bezug nimmt. Lohensteins Seneca-Figur ist somit auch eine Antwort auf Gryphius. Die Augustus-Episode, der Fall Agamemnon (I) und ein Vergleich mit Gryphius' Drama (II) mögen als Einstieg dienen in die Schrift De dementia, deren anthropologische Grundvoraussetzungen zu erläutern sind. Im Anschluß soll Lohensteins Antwort, die er durch seine Seneca-Figur auf seine Vorbilder gibt, in einem eigenen Kapitel näher erläutert werden. (I) Im Gegensatz zu Seneca rät Burrus dazu, der „Sanftmuth Pflaster" anzuwenden (vgl. IV. 168). Diese Metapher aus dem Bereich der Medizin ist zunächst nicht verwunderlich; der homo politicus wird im 17. Jahrhundert gerne, im Zuge der Tacitus-Rezeption, als Arzt gesehen.378 Seneca selbst vergleicht seine Tätigkeit am Hofe Neros mit der eines Arztes (vgl. III. 99). Die Metapher der Sanftmut als Pflaster ist aber darüber hinaus die Markierung, die den intertextuellen Bezug zu De dementia stiftet. Dort fordert Livia ihren Gemahl, den Kaiser Augustus, auf, die dementia als Heilmittel, remedium, anzuwenden (vgl. De dem. 1. 9. 6). In der römischen Kulturgeschichte wurde die Tugend der dementia durch Julius Caesar berühmt. Der Senat baute ihm einen Tempel, auf dem er und die personifizierte Sanftmut sich die Hände reichen.379 Seneca stellt in seiner Schrift das Verhalten des Augustus, der die dementia Caesaris im Amt des Kaisers fortfuhrt, als vorbildlich dar. Der Kaiser erhält die Nachricht, daß Cinna eine Verschwörung gegen ihn plane.380 Er berät sich mit seinen Freunden und verbringt eine unruhige Nacht, in der er von Ängsten um den mühsam errungenen Frieden und um seine eigene Sicherheit geplagt wird (vgl. De dem. 1. 9. 1^1). Er scheint zudem an dem Recht bzw. an der Berechtigung seines eigenen Daseins als Herrscher zu zweifeln, ist es doch nicht der erste Anschlag, der gegen ihn geplant wird, und folglich auch nicht die erste Rache, die er an seinen Verschwörern üben muß, um weiter leben zu können. Nicht pure Rachegedanken aber bestimmen das Verhalten des Augustus, sondern, trotz aller Ängste, eine ungewöhnlich anmutende Selbstreflexion: „Non est tanta vita, si, ut ego non peream, tarn multa 378 379

380

Vgl. Stolleis: Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, S. 47. Vgl. Art. ,dementia'. In: Ausfuhrliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Bd. 1., Sp. 910-912, hier Sp. 910. Augustus' Milde wurde auf einem ihm zu Ehren entworfenen Schild geehrt, auf dem clupeus virtulis (vgl. ebd.). Zur Problematik dieses angeblich historischen Ereignisses vgl. die Anmerkungen von Büchner in seiner Ausgabe Seneca: De dementia. Über die Güte, S. 91. Der Verschwörung des Cinna widmet Corneille seine Tragödie Cinna ou la ctemence d'Auguste (1642), dessen Stoff er De dementia entnimmt.

248

perdenda sunt" (1.9. 5). Das Gespräch mit seiner Frau Livia gibt schließlich den Ausschlag. Livia rät, er möge handeln wie die Ärzte, die, wenn die gewöhnlichen Heilmittel versagten, ein gegenteiliges anwendeten: Er möge statt Gewalt Sanftmut walten lassen: Fac, quod medici solent, qui ubi usitata remedia non procedunt, temptant contraria. Severitate nihil adhuc profecisti [...]. Nunc tempta, quomodo tibi cedat dementia; ignosce L. Cinnae. Deprensus est; iam nocere tibi non potest, prodesse famae tuae potest (De clem. 1. 9. 6.).

Augustus möge dem Cinna verzeihen, er könne nicht mehr schaden, wohl aber dem Ruhm des Kaisers von Nutzen sein. Auf dem Zenit der Macht ist die Sanftmut förderlich, verspricht sie doch, einen weiteren Freund und Vertrauten gewinnen zu können, da dieser sich wiederum Vorteile von seiten eines einflußreichen princeps versprechen kann. Eben diesen Ausgang nimmt die Krise: Augustus schenkt Cinna vitam et dignitatem (1. 5. 6), überträgt ihm das Konsulat und macht ihn zu einem treuen Freund, der ihn später sogar als einzigen Erben einsetzt (vgl. 1. 9. 12). Bei dem vorgeführten Beispiel, das Seneca vielleicht erfunden hat, handelt es sich um einen paradigmatischen Fall fur die Ausübung von Sanftmut, fur die das Machtgefälle von besonderer Wichtigkeit ist. Gerade demjenigen, der im vollen Besitz der Macht ist, gebührt es am meisten, Sanftmut zu gebrauchen, da sie dann am wirksamsten ist. In Anlehnung an Seneca lautet die lexikalische Definition: „dementia ist die Eigenschaft desjenigen, der der Ausübung seiner Macht über Leib, Leben oder Eigentum anderer aus eigenem Antrieb Schranken setzt."381 Für Seneca ist die dementia zwar die menschlichste aller Tugenden (vgl. De clem. 1. 2. 2), aber besonders kommt sie den Königen zu, denn als heilsame Macht, „salutaris potentia", verleiht sie Ruhm und Sicherheit. Gewalt darf der Fürst nicht in erster Linie innehaben, um zu schaden, sondern um Milde walten zu lassen, auf deren Basis sowohl der einzelne als auch das Gemeinwesen am besten gedeihen können (1.2. 3). Der Herrscher ist das Band und der Lebensatem, „vinculum" und „spiritus Vitalis", der das Gemeinwesen zusammenhält (1.4. 1). Dieses regiert den Atem und die Vernunft des Herrschers (vgl. 1. 3. 5). Die Menge ist der Körper, der Herrscher sein Haupt bzw. seine Seele (vgl. 1. 4. 3f.). Mag auch die Körperanalogie in gewisser Weise an das mechanistische Staatsmodell in Hobbes' Leviathan erinnern, besteht der wesentliche Unterschied darin, daß das Zusammenspiel von Herrscher und Untertanen nicht künstlich durch Verträge hervorgerufen wird, sondern der Wesensnatur des

381

Art. ,dementia'. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der Antiken Welt. Bisher Bd. 1-20. Hrsg. von Theodor Klauser. Stuttgart 1957-2001, hier Bd. 3, Sp. 206-237, hier Sp. 207.

249 Menschen dann entspricht, wenn es auf der dementia beruht. Hobbes' Körperanalogie steht im Dienste eines Staatsmodells, das die Natur des Menschen dazu zwingen muß, einen funktionellen Teil der Maschine einzunehmen.382 In Senecas Konzeption entspricht die Natur des Menschen einerseits bereits einer solchen Funktion, sie ist wesensmäßig konzipiert fur die Gemeinschaft. Andererseits ist die Milde eine dieser Natur entsprechende Tugend, eine Auffassung, die Seneca aus dieser Körperanalogie geschickt ableitet: Der princeps schont sich selbst, da er seinen Körper schont. Die verworfenen Bürger müssen wie kranke Glieder gepflegt und dürfen nicht einfach ,abgeschnitten' werden, da sie einem dann fehlen: „Nam si [...] tu animus rei publicae es, illa corpus tuum, vides, ut puto, quam necessaria sit dementia; tibi enim parcis, cum videris alteri parcere. Parcendum itaque est etiam inprobandis civibus non aliter quam membris languentibus [...]" (1.5. I).383 Folglich ist die Güte als die menschlichste aller Tugenden naturgemäß und verpflichtet besonders die Herrscher, da sie sich in der Position befinden, die alles andere erhält.384 Je mehr an Stoff es zu bewahren gibt, umso notwendiger ist die Güte: Est ergo [...] dementia omnibus quidem hominibus secundum naturam, maxime tarnen decora inperatoribus, quanto plus habet apud illos, quod servet, quantoque in maiore materia adparet (De dem. 1. 5. 2).

Da die Güte naturgemäß ist, entspringt sie immer der Gewissensentscheidung, ist also unabhängig von der konventionellen Satzung. Sie steht nicht auf Papier, sondern ist Bestandteil des ungeschriebenen ewigen Gesetzes: „dementia liberum arbitrium habet; non sub formula, sed ex aequo et bono iudicat [...]" (2. 7. 3). Da Seneca den Nützlichkeitsaspekt der Güte hervorhebt und ihn mit der Körperanalogie erklärt, scheint er die monarchische Staatsform zu stützen. Hierin sieht Blänsdorf das vorrangige Ziel der Schrift und nicht in der Propagierung von „Humanität und Gerechtigkeit"; vor allem diene De clemen382 383

384

Vgl. oben, S. 50. Daß das Volk den Körper bildet, bedeutet nicht etwa, daß ihm ein wichtiger Teil seines Wesens fehlte. Die Analogie verdeutlicht vielmehr das perfekte Zusammenspiel und die Harmonie zwischen Herrscher und Untergebenen. Vgl. Mortureux: Les ideaux stoi'ciens et les premieres responsabilites politiques: le ,De dementia', S. 1675. Zum Gedanken der herausgehobenen und damit besonders verantwortungsvollen Stellung des Herrscher (vgl. De clem. 1.8. 1-5) vgl. Adam: dementia principis, S. 27-31. Die Güte ist prinzipiell in jedem Herrschaftsverhältnis anzuwenden, immer dann, wenn ein Herrschaftsgefalle besteht, so auch in der Familie, in der Schule oder in der Behandlung von Tieren (vgl. 1.16. 2). Einen für seine Zeit wohl außergewöhnlichen Standpunkt nimmt Seneca gegenüber der Frage ein, wie mit Sklaven umzugehen sei. Seneca rechnet den Sklaven zwar zum Eigentum, das mit Geld gekauft wird, deshalb stehe es einem aber noch lange nicht frei, mit ihm willkürlich zu verfahren (vgl. 1. 18. 1). Der Eigentümer soll seinen Sklaven behüten und ihn wie einen freigeborenen Menschen behandeln, dies gebietet das „commune ius animantium" (1. 18. 2). Es handelt sich hier um einen jener Gedanken Senecas, die die Aufnahmebereitschaft des Christentums fur seine Philosophie erklären.

250 tia der „ratio publica, der Staatsräson". 385 Besonders wegen der Gleichsetzung des Herrschers mit dem Weisen, der seine Bäume pflegt und beschneidet (vgl. 2. 7. 4), erkennt Blänsdorf in De dementia eine machiavellistische Konnotation. 386 Adam sieht als zentrales Motiv dafür, dementia auszuüben, die „utilitaristisch gesehene Sicherung der eigenen Macht". 387 Sicher räumt Seneca ein, daß die „publica utilitas", i. e. die Staatsräson, auch bisweilen zum Töten rät (1. 12. I).388 Die Sanftmut wäre also nur ein Mittel unter anderen, den status quo zu erhalten. Gegen diese Deutung einer rein utilitaristischen Praxis der dementia spricht aber der Text selbst. Seneca betont, daß der kluge Herrscher sie auch manchmal dann anwendet, wenn der Nutzen empfiehlt, die Verfehlung zu bestrafen (vgl. 1. 13. 4). Im allgemeinen aber ist die securitas ex mansuetudine (vgl. 1. 8. 6) die tiefste und festeste Sicherheit des Staates, da sie im Dienste der Gerechtigkeit steht, nicht im Dienste des einfachen iustum, das das Gesetz vorschreibt, sondern in dem des „iustissimum", des gerechtesten ungeschriebenen Gesetzes, das in jeder Staatsform und überall gilt (vgl. 2. 7. 3). De dementia propagiert dieses Naturrecht in jedem Fall als das sicherste Fundament, um der Staatsräson gerecht zu werden. 389 Auch wenn De dementia von der Monarchie als Staatsform handelt, bedeutet dies nicht, daß die Monarchie die einzige der Natur des Menschen gemäße Staatsform ist. Wenn nun aber Menschen in einer monarchischen Staatsform leben, dann findet sie ihre ideale Ausgestaltung dann, wenn durch Güte, gemäß dem ungeschriebenen Gesetz, geherrscht wird. De dementia liegt die typisch stoische Anthropologie zugrunde. Die Güte wird als dem Wesen des Menschen gemäß betrachtet, weil dieser von Natur aus gut und soziabel ist, ein „sociale animal communi bono genitum" (1. 3. 2), weil es ihm entspricht, milde zu sein. Seneca begreift die praktizierte Güte des Herrschers als notwendige Aktualisierung des ungeschriebenen Gesetzes und des naturgemäßen Lebens in der politischen Öffentlichkeit. De dementia ist ein politisch-philosophischer

385

Jürgen Blänsdorf: Seneca - Über Macht und Menschlichkeit. In: Humanistische Bildung. Vorträge und Beiträge zur Antike als Grundlage fur Deutung und Bewältigung heutiger Programme. Heft 7, 1983, S. 103-151, hierS. 135. 386 Vgl. ebd., S. 136. 387 Adam: dementia principis, S. 30. 388 Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, als plädiere Seneca in jedem Fall fur die Ausübung von Milde. Das Todesurteil gilt ihm aber als das letzte Mittel, zu dem der Herrscher greifen soll. Ihm solle eine vernünftige Entscheidung zugrunde liegen und kein Affekt. Solange wie möglich soll der Herrscher mit sanften Worten ermahnen, schließlich zu ernsteren Mahnungen und sodann zu leichten und widerrufbaren Strafen übergehen, um erst in letzter Konsequenz die Kapitalstrafe und diese nur fur die schwersten Verbrechen anzuwenden (De ira, 1. 6. 3). Gleich danach allerdings wird als Motivation für jedes Strafen grundsätzlich der Zorn angegeben. Folglich wäre auch die Todesstrafe Ausdruck des nicht naturgemäßen Zornes (vgl. De ira, 1. 6. 5). Hieraus folgt im Grunde, daß die Todesstrafe nur in einer Herrschaft angewendet wird, die nicht dem Grundsatz des naturgemäßen Lebens folgt. 389 vgl. Fuhrmann: Die Alleinherrschaft und das Problem der Gerechtigkeit, S. 498.

251 und anthropologischer Traktat und nicht in erster Linie eine Programmschrift für die Monarchie oder eine Anweisung für das prudentistische Handeln im Sinne der Staatsräson. Der Fall des Augustus ist ein ideales Beispiel für das servare contra legem, da Cinnas geplanter Hochverrat nicht zu bezweifeln ist. Als ein „in rechtlicher Hinsicht völlig willkürliches Urteil"390 kann es nur aus der Perspektive des geschriebenen Gesetzes bezeichnet werden, das einen solchen Hochverräter wie Cinna, dessen Ansinnen offenbar ist, zum Tod verurteilt. Aus dem Blickwinkel des ungeschriebenen Gesetzes ist es allerdings alles andere als beliebig, sondern beschwört das Urteilen gemäß der göttlichen Naturordnung. Gerade der Fürst, so schreibt Seneca, möge sich den Sinn der Götter zulegen (vgl. De clem. 1. 5. 7). Gegen das geschriebene Gesetz töten kann jeder, bewahren aber nur der Herrscher (vgl. 1. 5. 4). Die Milde erweist sich immer dann als besondere Tugend des Herrschers, wenn er eine Entscheidung fallt, die nicht mit der allseits anerkannten Autorität des geschriebenen Gesetzes übereinstimmt; die Berufung auf das Naturrecht impliziert immer den „Zweifel an der Autorität".391 Der Herrscher legt also einen gewissen Eigensinn an den Tag, der sich aber aus seiner sapientia speist, die ihn vor anderen auszeichnet. In seiner Tragödie Troades verwendet Seneca den Mythos, um an ihm beispielhaft den Eigensinn und auch die Einsamkeit eines Herrschers zu zeigen, der sich nicht der Autorität eines geschriebenen Gesetzes, sondern des Seherspruches widersetzt.

390

Ebd., S. 505. Fuhrmanns Stellungnahme resultiert aus seiner Prämisse, daß das Wort dementia stets ein „Verhalten des Monarchen" bezeichne, „das sich rechtlich nicht begründen" lasse (ebd., S. 484). Das Verhalten des Monarchen sieht Fuhrmann in Relation zum positiven Recht. Er setzt die dementia mit dem juristischen Begriff der aequitas gleich, die sich wie die Gnade „meist gegen das geltende Recht" wende; die Billigkeit führe eine Entscheidung herbei, „die für befriedigender gehalten" werde „als es die strikte Anwendung des positiven Gesetzes" ermögliche (S. 486). Ein Urteilen nach Maßgabe der Billigkeit bedeutet die Berücksichtigung mildernder Umstände. Bei der Anwendung der dementia spiele immer die „Bezogenheit auf die positive Rechtsordnung" eine Rolle (ebd., S. 486). Verständlich erscheinen die Zweifel Karl Büchners (Aufbau und Sinn von Senecas Schrift über die dementia. In: Hermes 98, 1970, S. 203-223), den Gehalt der dementia allein mit juristischer Begrifflichkeit fassen zu wollen, da zwischen Menschen nicht nur juristische Begriffe eine Rolle spielten (vgl. S. 204): „Der Anwendungsbereich der dementia ist unbegrenzt und hat mit Rechtsordnung, Prozeßverfahren, mildernden Umständen nichts zu tun" (ebd., S. 208). Die dementia als Tugend ist überall, auch unter Unschuldigen, anzuwenden. Es ist fraglich, ob solche extremen Positionen wie die Fuhrmanns und Büchners aus der Schrift überhaupt zu ermitteln oder ob sie nicht vielmehr beide vertretbar sind. Wenn Seneca allgemein über die dementia als die menschlichste aller Tugenden spricht, die dem Wesen des Menschen naturgemäß sei, entwirft er über den Rahmen von Prozeßordnungen hinaus ein anthropologisches Modell. Beschreibt er Rechtsfälle (vgl. De dem. 1.9, 1. 15), mag die Interpretation auf der Basis juristischer Begriffe angebracht sein, ohne daß damit ausgeschlossen wird, daß immer auch über das Wesen des Menschen gehandelt wird.

391

Strauss: Naturrecht und Geschichte, S. 86.

252 Ort der Handlung der Troades, die Opitz 1625 übersetzte, ist das nach zehn Jahren Krieg völlig zerstörte Troja. Dem Seher Talthybius erscheint der Geist Achills und fordert, daß Polyxena, die Tochter der überlebenden trojanischen Königin Hekuba, Gattin des Priamus, von seinem Sohn Pyrrhus geopfert und ihm im Tode vermählt werde (vgl. Troad. 195f.). Der Herrscher Agamemnon will Milde walten lassen und setzt sich in Widerspruch zu einer anerkannten Autorität, zur Konvention des Seherspruches. Einige Argumente aus De dementia finden sich wieder. In einem Streitgespräch fordert Agamemnon Pyrrhus auf, seinen Zorn, der das Verhalten der Griechen im Krieg bestimmt hatte, nun zu mäßigen (vgl. 281-287).392 Er plädiert dafür, die Besiegten zu schonen, das parcere anzuwenden, wie es den Siegern zu ihrem Ruhm gezieme; je größer die Macht sei, umso verantwortungsvoller müsse auch im Gedenken an die Götter mit ihr umgegangen werden (vgl. 255-262). Wer die Mordtat an Polyxena dulde, lade Sünde und Schuld auf sich (vgl. 291 f.). Nicht sei es menschliche Sitte, Menschen zu opfern (vgl. 298f.).393 Auch wenn die Gesetze des Landes die Tötung nicht verböten, da ein Seherspruch sie fordere, gebiete es die Ehrfurcht, pudor, von der Opferung Abstand zu nehmen: „Quod non vetat lex, hoc vetat fieri pudor" {Troad. 334). Der entsprechende Opitzsche Vers lautet: „Was gleich das Recht zulest sol sanfftmuth doch nicht üben" (Troj. 401).394 In der Vorrede, die das Ziel der Tragödie darin sieht, Beständigkeit einzupflanzen, wird ersichtlich, wie der Dichter selbst die stoische Philosophie rezipierte. Er deutet die Tragödie als eine dramatische Demonstration von Senecas De constantia und als eine Anleitung für das Ertragen von Leid.395 Daß Agamemnon fordert, das Konzept der Senecaischen dementia in die Praxis umzusetzen, sieht Opitz hingegen nicht und unterstellt dem Griechenfürsten stattdessen in der Inhaltsangabe private Motive. Er wolle Polyxena nicht opfern, „weil er sie an stat eines Weibes bey sich zu halten vermeinet".396 In der Sanftmut sieht Opitz allein ein Instrument, um persönliche Interessen durchzusetzen. Einer in Opitz' Tradition stehenden heutigen Tendenz, Agamemnon Prestigedenken oder gar Schwäche zu unterstellen, kann nicht gefolgt werden. Bei Agamemnons Worten handelt es sich wohl kaum lediglich um „edel

392

Der Zorn: die ira, ist auch in De dementia ein Affekt, der das Ausüben der dementia verhindert (vgl. De clem. 1. 1. 3). In De ira wird die Milde als naturgemäße Tugend dem Zorn als nicht naturgemäßem Affekt gegenübergestellt (vgl. De ira, 1. 5.2). Vgl. oben, Anm. 388. 393 Daß hier ein Widerspruch besteht, liegt auf der Hand, da Agamemnon selbst Iphigenie geopfert hatte, um nach Troja aufbrechen zu können. Dieses Argument fuhrt Pyrrhus auch ins Feld (vgl. Troad. 331). 394 Zit. wird nach: S. oben, S. 2, Anm. 3. 395 Vgl. Opitz: An den Leser, Vorrede: Trojanerinnen, S. 430. 39 * Ebd., S. 435.

253 klingende Maximen",397 sondern tatsächlich um einen echten humanitären Anspruch, der aber vor der politischen Notwendigkeit weichen muß.398 Es besteht wohl kein Zweifel daran, daß Agamemnon im Sinne von De dementia als vorbildlicher, seine Stellung reflektierender und deshalb gerechter und maßvoller Herrscher konzipiert ist.399 Als Gegenbild fungiert in De dementia der Tyrann (vgl. De clem. 1. 12). Der Stoff der mythischen Erzählung um das Schicksal der Trojanerinnen birgt in Zeiten der Tyrannenherrschaft eine Paränese ex negativo. Die Tragödie enthält einerseits eine Adhortatio an die Adresse der Besiegten, Beständigkeit im Tod walten zu lassen, und gemahnt andererseits auch die Sieger der Geschichte an ihre Pflicht, nicht durch Gewalt, sondern durch Milde ihre Herrschaft auszuüben. Daß nicht nur Polyxena, sondern auch der kleine Sohn Hektors, Astyanax, den Tod finden müssen, bezeugt das Scheitern der dementia. In politischen Konfliktsituationen kann sie nicht die Basis eines Konsenses sein, der einen vernünftigen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen zu schaffen vermag. Findet die Praxis der dementia Caesaris in der Augustus-Episode ihren erfolgreichen Ausgang, bleibt sie in der Tragödie Troades reine Theorie und Utopie. Als solche ist sie Element der Kulturkritik an Bedingungen, unter denen dementia nicht aktualisiert werden kann. (II) Welche Bedeutung kommt nun dem Konzept der dementia in Gryphius' Leo Armenius zu? Als besonderer Fall sei das Streitgespräch zwischen Leo und Theodosia angeführt (vgl. Leo Arm. II. 425-522). Es nimmt deshalb eine herausragende Stellung ein, da es sich um eine imitatio der Augustus-Episode handelt und genuine Argumente aus De dementia wiedergibt. Das Gespräch zwischen Augustus und Livia hat Gryphius offensichtlich als Vorlage gedient für die Auseinandersetzung zwischen dem Kaiser und dessen Frau. Die Situation ist vergleichbar. Es geht um die Alternative zwischen Kapitalstrafe und Begnadigung eines Hochverräters. Während die geplante Verschwörung des Cinna allerdings außer Frage steht, ist dies im Fall von Michael Baibus nicht klar erwiesen. Der Zweifel muß bei der Entscheidung als erschwerender Faktor in Rechnung gestellt werden. Das hermeneutische Problem allerdings ändert sich dadurch kaum: In beiden Tragödien stellt sich die Frage, ob der dementia im Gebrauch öffentlicher Vernunft ein Ort zugewiesen werden kann. Die erfolgreiche Ausübung von Milde setzt einen Konsens zwischen allen Beteiligten voraus. Im Akt des richtigen Verstehens liegt die Anforderung auf beiden Seiten, insofern der

397

Vgl. Wolf Steidle: Zu Senecas Troerinnen (1941). In: Senecas Tragödien, S. 210-229, hier S. 224. 398 Vgl. Müller: Senecas Ödipus als Drama, S. 396. 399 Vgl. Grimal: Seneque, S. 426. Vgl. Elaine Fantham: Seneca's Troades. A Literary Introduction with Text, Translation and Commentary. Princeton 1982, S. 248.

254 Mildeleistende und der Mildeempfangende sich in ein vernünftiges Verhältnis zur dementia setzen müssen. An ersteren wird der Anspruch erhoben, auf überzeugende Weise die Idee der Humanität handelnd zu verwirklichen, an letzteren, verantwortungsvoll mit der empfangenen Milde umzugehen, sie nicht zu mißbrauchen. Könnte man auch einwenden, daß Milde leisten immer ein zweckrationales Mittel ist, da sie, und dies wohl nicht zuletzt, auch die eigene Position erhalten soll, tritt dieser Aspekt vor der Tatsache zurück, daß sich der Mildeleistende in große Gefahr begibt, da er sich nicht sicher sein kann, ob die Idee, die er vertritt, auch geteilt wird.400 Da es sich bei der Ausübung von Milde nicht um einen für das Verhältnis von Herrscher und Untergebenen typischen Akt von Befehl und Gehorsam handelt, ist der Erfolg der dementia in hohem Grade von einem ideellen Verstehen ihrer Idee abhängig. Es liegt in der Natur der Sache, an dem Charakter eines philosophischen Traktats, der für die dementia eintritt, daß das Verstehen funktioniert und die Milde auf fruchtbaren Boden fallt. Cinna hätte die dementia des Augustus für einen erneuten Anschlag mißbrauchen können. Diese Überlegung überschattet die Diskussion zwischen Theodosia und Kaiser Leo. Hier ist das Mißlingen der Milde ein Exempel für das Nichtverstehen und für den tragischen Verlust des Konsenses über das Handeln gemäß der Natur. Im folgenden soll deutlich werden, daß das Mißverstehen hier durchaus auf der Seite des Mildeleistenden liegt. Theodosia favorisiert die Sanftmut als Heilmittel für den Konflikt zwischen Herrscher und Untertan. Sie plädiert wie Livia und Burrus dafür, nicht das „strenge Recht" (Leo Arm. 11.521), sondern ein „Pflaster" (II. 448) zu benutzen, die „guette" (II. 471). Zunächst bittet sie nicht nur um Aufschub, sondern um die volle Begnadigung, wie es das paradigmatische Beispiel des Augustus vorgibt. Leo solle Michael das „Leben" (II. 456) schenken: „Das Recht hat seinen gang / last gnad' jhm nun begegnen" (II. 463).401 Leo argumentiert ähnlich wie Seneca in der Agrippina. Dieser wendet gegenüber Burrus ein, daß Neros Sanftmut Agrippina nur auf ihn „verhetzet" habe (Agr. IV. 169). Leo, der sein Selbstbild bestätigt wissen will,402 betont, er habe „mehr denn nur zuviel geschonet" (11.451). Für Theodosias Vorstellung von Gnade scheinen Kalkulationen keine Rolle zu

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Läßt man die hermeneutische Perspektive außer acht und faßt man die dementia rein unter einer juristischen Begrifflichkeit und als Straferlaß, der die Macht des Herrschers unterstreicht, gleicht sie einem Befehl. In diesem Sinn formuliert der Artikel , d e m e n t i a ' (Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. 3): „Von Seiten des Objekts ist völlige Unterwerfung Bedingung der c., verbunden mit der Anerkennung der potestas des Mächtigen, die einem Verzicht auf Rechtsansprüche gleichkommt" (Sp. 208f.). Mit dem „Leben" ist sicher nicht nur die biologische Erhaltung, die auch im Kerker möglich ist, gemeint, sondern die Freiheit und eine günstige Position am Hof. Der milde Kaiser verleiht Leben und eine würdige Position, vitam et dignitatem (vgl. De clem. 1. 5. 6; vgl. oben, S. 248. Vgl. oben, S. 62.

255 spielen. In typisch christlicher Ausformung versteht sie das Ausüben der dementia als einen „Akt der imitatio Dei". 403 Wird der princeps in De dementia dazu ermahnt, sich den Sinn der Götter zuzulegen (vgl. De dem. 1. 5. 7), erinnert Theodosia an die göttliche Machtgewalt des Kaisers, die ihn an göttliches Recht binde: „Der höchste strafft nicht bald/ wenn jemand etwan flucht" (Leo Arm. II. 450). Theodosia erreicht nicht, daß der Kaiser Michael das Leben schenkt, sondern nur, daß er die Hinrichtung aufschiebt. Obgleich sie die einzige unter den Protagonisten zu sein scheint, die sich bisher nichts hat zuschulden kommen lassen, sieht Budde in ihr nurmehr eine graduelle „Ausnahme" unter denjenigen, die mit allen Mitteln ums Überleben kämpften; sie habe nur bedingten imitatio-Wert.404 Obwohl Theodosia mit einem hehrem Anspruch auftritt, ist sie von der Forschung tendenziell nicht als positive Figur rezipiert worden. Nur scheinbar, so Kaiser, treten in der Diskussion „Weltlichkeit und Christlichkeit" prägnant einander gegenüber, die „Glaubenszuversicht der Kaiserin" sei „nur eine subtilere Form der Weltlichkeit als der nackte Selbstbehauptungswille des Kaisers".405 Sie rechne auf die „Vereinbarkeit von himmlischer und irdischer Klugheit, himmlischem und irdischem Wohlergehen", wobei die Sanftmut zwei Funktionen einnehmen solle: den Feind zu zähmen und sich andererseits die Neigung Gottes zu sichern. 406 Ihrem Verhalten liegt in Kaisers Interpretation reiner Utilitarismus zugrunde, der vor allem die eigene Macht403

Art. ,dementia' (Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. 3) Sp. 224. Für die christliche Vorstellung der dementia ist wichtig, daß der Unterschied zwischen Mitleid und Gnade, misericordia und venia, aufgehoben wird. Die stoische Ethik kennt kein Mitleid. Aus dieser Perspektive wird Senecas strenge Abgrenzung der dementia von der misericordia und der venia verständlich, die er aber erst im zweiten Buch vornimmt. Misericordia wird als Affekt betrachtet, der eines Weisen unwürdig ist (vgl. De dem. 2. 5. 4). Die venia oder das Verzeihen, ignoscere, ist ebenso nicht Ausdruck der dementia, sondern impliziert das Unterlassen einer verdienten Strafe, die der Weise verpflichtet ist zu verhängen. Die dementia und das parcere sind von höherem sittlichem Wert als die Gnade, auch wenn beide dasselbe Ziel anstreben (vgl. 2. 7. 2f.). Es gehört nun zu einer der Schwierigkeiten der Senecaischen Schrift, daß sie diese Begriffe nicht homogen verwendet. Sie werden im ersten Buch nicht differenziert; die im zweiten Buch negativ konnotierten Begriffe werden im ersten positiv verwendet. So findet sich etwa das ignoscere in positiver Bedeutung in der Augustus-Episode (vgl. 1.9.6, 1.10.1; vgl. auch 1. 1.4, 1.6.2). Fuhrmann (Die Alleinherrschaft und das Problem der Gerechtigkeit) vermutet, daß Seneca das erste Buch nicht streng philosophisch konzipiert habe - diesem liegt vermutlich die Rede an Nero zugrunde - , auf jeden Fall könne „man der terminologischen Verschiebung keine große Bedeutung beimessen" (S. 501). Auch in De beneficiis ist die strenge Unterscheidung von Mitleid und Sanftmut aufgehoben: Die Natur des Menschen wird dort definiert als geneigt zur misericordia, humanitas und dementia (vgl. Deben. 6.29. 1). Nicht zuletzt ist die heterogene Begrifflichkeit verantwortlich für die Aufnahmefähigkeit von Senecas Gedankengut im Christentum.

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Budde: Vom anhaltenden „unrecht der Pallaste" und vom unsicheren Trost der Religion, S. 32. Kaiser: Leo Armenius, Oder Fürsten=Mord, S. 22. Ebd.

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position und das eigene Heil im Auge hat. Raffy schließt sich Kaisers These an: „Nachsicht erweisen bedeutet also in ihren Augen zugleich ihre Feinde hienieden zu entwaffnen und sich jenseits Gottes Huld zuzuziehen."407 Unterstellt man, wie Kaiser und Raffy, Theodosia eine subtile „prudentia", die sie angetrieben von Eigennutz verblende,408 oder, wie Szondi, „Wahn, sich und den Kaiser vor einem Verstoß gegen die Religion zu bewahren", der schließlich den Kaiser in den Tod treibe,409 wird der Gang ihrer persuasiven Rede nicht genau beachtet. Der Hinweis auf das Weihnachtsfest folgt in der Auseinandersetzung erst gegen Ende, nachdem sich Leo durchaus nicht bewegen ließ. Theodosia fordert zunächst ja gar nicht, Rücksicht auf das Weihnachtsfest zu nehmen, sondern viel radikaler und in jeder vergleichbaren Situation ebenso wie im Kontext des Weihnachtsfestes vorstellbar, dem Verschwörer und ehemaligen Freund das Leben zu schenken. Erst, als ihre Bemühungen sich als fruchtlos erweisen, wendet sie das letzte Mittel an: „Bedenckt den hohen tag, der alle welt erfrewt" (II. 497). Entweder hat sie zu diesem Zeitpunkt bereits kapituliert, rechnet mit der Hinrichtung und verlangt nur, ohne vom Wahn verblendet zu sein, deren Aufschiebung. Oder sie hofft auf Zeitgewinn, um den Kaiser doch noch von der Begnadigung zu überzeugen. In jedem Fall spielen für ihre ursprüngliche Forderung, Michael das Leben zu schenken und ihm seine Schuld zu vergeben, andere Gründe als das Weihnachtsfest oder die erhoffte Heilsgewißheit für sich im Jenseits eine Rolle. Sie empfiehlt exakt die Herrschaftsethik, die Seneca in De dementia entwirft. Die Rationalität ihres Ansinnens besteht nicht so sehr darin, daß sie auf die utopische Vorstellung des Gottesgnadentums und eine Übereinstimmung der göttlichen mit der weltlichen Vernunft deshalb rekurriert, um sich selbst Heilsgewißheit zuzusichern.410 Eine solche Auffassung ihrer Rationalität verkennt den ideellen Gehalt der Argumentation und reduziert ihr Vorgehen auf ein prudentistisches Kalkül. Vielmehr zeigt sich ihre Rationalität in dem Verständnis für die Konzeption, die sie mit der Idee des sanftmütigen Herrschers in Erinnerung ruft. Die recta ratio gebietet es, Sanftmut walten zu lassen. Sowohl strukturell, indem die Stichomythien zwischen Theodosia und Leo die analoge Diskussion zwischen Livia und Augustus imitieren, als auch inhaltlich, wie sogleich zu erläutern ist, kann De dementia und ihre christliche Ausformung der venia als das System angenommen werden, auf das Theodosia referiert und in dem der politisch-philosophische Diskurs verortet ist. Das Exempel der Senecaischen Schrift ist mitzudenken und bildet mit dem christlich-stoischen Naturrechtsgedanken den Horizont der Handlung.

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Raffy: Leidenschaft und Gnade in Gryphius' Trauerspielen, S. 193. Ebd. Szondi: Versuch über das Tragische, S. 232. Raffy: Leidenschaft und Gnade in Gryphius' Trauerspielen, S. 193.

257

Die Situation ist zunächst deshalb derjenigen zwischen Livia und Augustus analog, weil Theodosia offenbar nicht daran zweifelt, daß Michael schuldig ist, ebenso wie für Livia Cinnas Schuld auf der Hand liegt. Theodosia nimmt sogleich den Ernstfall einer tatsächlich vorhandenen Bedrohung an. Sie versucht also nicht, Michael zu entlasten, und verweist auf diese Weise den Kaiser umso mehr auf seine verantwortungsvolle Position. Sie geht davon aus, daß Gewalt das Gegenteil von dem bewirkt, was sie intendiert, und die Unsicherheit, die sie aufheben will, nur perpetuiert: „Durch blut wird unser Thron befleckt unnd glatt gemacht" (II. 429). Gefahrlich sei die Anwendung von Gewalt deshalb, weil sie diejenigen, die bisher zum Schutz gedient hätten, provoziere. Durch den Fall der Feinde vergrößere sich die Schar derer, die abtrünnig werden könnten (vgl. II. 435f.). Dies ist in De dementia das zentrale Argument für eine Herrschaftsethik nach Maßgabe der Milde. Es ist in den Passus eingebettet, der den weisen Herrscher vom Tyrannen unterscheidet: Beide sind mit Waffen umschirmt, der eine verwendet sie, um Frieden zu sichern, der andere, um Furcht zu säen, indem er sie zu oft anwendet. Der Tyrann muß sich selbst vor seinen Vertrauten sorgen (vgl. De clem. 1. 12. 3). Das oderint dum metuant ist für den weisen Herrscher hingegen keine Alternative.411 Mit Atreus hat Seneca in seiner Tragödie Thyestes das Paradigma eines Tyrannen gezeichnet. Das Drama liefert weitere intertextuelle Referenzen. Atreus' Gefolgsmann versucht in einem Streitgespräch, seinen Herrscher von dem Vorteil der milden Herrschaft zu überzeugen. Während Atreus, ebenfalls wie Leo vom Affekt der Rache beeinflußt, Furcht und Zwang als legitime und effektive Herrschaftspraktiken erkennt (vgl. Thy. 205, 211; Leo Arm. II. 432, 445) und das Erbarmen ablehnt (vgl. Thy. 249f.), will der Gefolgsmann Atreus ausreden, daß es von Vorteil sei, Furcht zu verbreiten, denn sie generiere Feindschaft: „Quos cogit metus laudare, eosdem reddit inimicos metus" (207f.). Dementsprechend verteidigt Leo den „ernst" in der Herrschaft, ohne den kein Reich bestehen könne (Leo. Arm. II. 445). Er nimmt eine machiavellistische Position ein. Wenn man sich entscheiden müsse, so Machiavelli, ob es besser sei, geliebt oder gefurchtet zu werden, so sei es jedenfalls sicherer, gefurchtet zu werden. Den Fürsten solle es nicht kümmern, wenn er als grausam gälte, solange er dadurch die Ergebenheit seiner Untertanen bewahre.412 Theodosia hingegen bezieht die Position von Atreus' Gefolgsmann: „Der ernst ist viel zu groß / durch den das Reich vergeht" (II. 446). Allzu große Furcht auszuüben ist in De dementia das Signum des Tyrannen, der sich dadurch aber selbst stürzt:

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Das gemeinschaftsstiftende Moment zwischen den Menschen ist in Senecas Philosophie nicht die Furcht, sondern die gegenseitige Zuneigung. Vgl. oben, S. 158, Anm. 46. Machiavelli: II Principe, S. 128.

258 [...] nam cum invisus sit, quia timetur, timeri vult, quia invisus est, et illo exsecrabili versu, qui multos praecipites dedit, utitur: ,Oderint, dum metuant', ignarus, quanta rabies oriatur, ubi supra modum odia creverunt. Temperatus enim timor cohibet animos, adsiduus vero et acer et extrema admovens in audaciam iacentes excitat et omnia experiri suadet. (De clem. 1. 12. 4) 4 1 3

An den Tatbestand, daß Leo selbst ein Herrscher ist, der durch Verletzungen des christlich-stoischen Naturrechts an die Macht gelangte und sich bisher seine Position durch Blutvergießen sicherte, erinnert Theodosia als erstes. Sie legt dem Kaiser die Attribute eines Tyrannen zu (II. 427f.). Von dem Ideal der securitas ex mansuetudine, das in De dementia die AugustusEpisode einleitet (vgl. 1. 8. 6), ist die Herrschaft Leos weit entfernt, produziert sie doch nur Unsicherheit durch Gewalt. Leos Machtausübung ist die Negativfolie der dementia-Konzeption: Das sicherste Heil des Staates bewirkt nicht Gewalt, sondern die Güte (vgl. De dem. 1. 11.4), da sie die Beschützer und Bewacher des Staates zu echter Treue bewegt und zum Stolz darauf, der publica securitas zu dienen. Den Herrscher bewachen die Untergebenen wie einen Vater (vgl. 1. 13. 1), während sie sich von dem blutrünstigen, dem mit Folter und Tod wütenden sanguinis tyrannus befreien wollen. Daß die Güte eine Tugend ist, die der Natur der Lebewesen entspricht, verdeutlicht Theodosia durch ein Gleichnis, das auf De dementia referiert. Der Gebrauch der Milde im Umgang mit Tieren beweise, daß sie ein erfolgreiches Mittel sei. Auch die Schlange und der Löwe würden durch „gütte" {Leo Arm. II. 471), die der „linde Mensch" verwende (II. 475), zahm. In De dementia wird der positive Effekt der Güte durch einen ähnlichen Vergleich beschrieben: In der Dressur von Pferden oder Jagdhunden ist Güte anzuwenden, um die Tiere folgsam werden zu lassen (vgl. De clem. 1. 16. 4f.). Die Analogie stellt die Güte als ein universales, alle Lebewesen verbindendes Prinzip dar, das ideale Herrschaftsverhältnisse formen kann, die der Natur entsprechen. Der Hinweis auf die Güte in dieser Tieranalogie ist die entscheidende intertextuelle Referenz, die De dementia noch einmal als Prätext ausweist. Auch der von Schäublin als Prätext herangezogene Bibeltext Jakobus 3. 7 spricht von der Zähmung der Tiere durch den Menschen.414 Anhand der biblischen Analogie stiftet Schäublin eine etwas andere, allerdings fragwürdige Referenz. Da der Brief des Jakobus die Notwendigkeit herausstelle, seine Worte, die „Zunge", zu bezähmen, durch sie nicht zu zerstören, sondern Gott zu ehren {Jak. 3. 8-10), sei Theodosias Tiervergleich auf den 413

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Der ideale Herrscher verzichtet nicht vollständig darauf, Furcht zu verbreiten, allerdings soll er dabei temperantia an den Tag legen. Vgl. Schäublin: Andreas Gryphius' erstes Trauerspiel „Leo Armenius" und die Bibel, S. 12. In der von Schäublin angeführten Bibelstelle Jakobus 3. 7 heißt es: „Denn alle Natur der Tiere und der Vögel und der Schlangen und der Meerwunder wird gezähmt von der menschlichen Natur."

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ersten Reyen zu beziehen. Jakobus 3. 7 handelt zwar von der Bezähmung der Tiere. Ihre Möglichkeit wird aber der Unmöglichkeit, die eigenen Worte zu bezähmen, gegenübergestellt. Auch der Jakobus-Brief spricht von der dementia, betrachtet sie aber nicht als Mittel zur Herrschaftsausübung, sondern als Eigenschaft des klugen und weisen Menschen. Wie ein Feigenbaum nur Feigen tragen kann, ist die Sanftmut dem Weisen wesensgemäß, der durch sie seine Worte mäßigt {Jak. 3. 13).415 Insgesamt erscheint es sinnvoller, den Jakobus-Brief auf den ersten Reyen zu beziehen, wie Barner es bereits getan hatte,416 Theodosias Tieranalogie ist jedoch deutlich auf der Basis von De dementia zu lesen. Warum scheitert nun das Konzept der Sanftmut? Leos Weigerung resultiert aus theoretischen begrifflichen Voraussetzungen, die sein Handeln leiten. Es wird deutlich, daß die Begriffe, mit denen De dementia argumentiert, ihm nicht zur Verfügung stehen. Dies ist auf seine Definitionen von ,Kunst' und ,Wissen' zurückzuführen, die bedingen, daß der Kaiser schließlich keine wirkliche Milde anwendet. In De dementia heißt es, daß das parcere unter die Kunst des richtigen Umgangs, der ars tractandi mit den Menschen falle (vgl. De dem. 1. 17. 1). Für Leo existiert ein solcher Begriff von Kunst nicht. Er sieht lediglich, daß die Menschen durch die „kunst" (Leo Arm. II. 486), die sich die Natur unterwirft und umgestaltet (vgl. II. 481-484), nicht zu beherrschen sind. Sein Begriff von Kunst setzt einen berechenbaren Ausgang voraus. Die im Sinne Senecas kunstvolle Anwendung der Milde impliziert das Unwissen über ihren Ausgang und ist demzufolge auch nicht dem „wissen" (II. 486) zu vergleichen, über das Leo spricht.417 Gerade das Fehlen einer mathematisch sicheren Erkenntnis ist das Besondere an der Milde, die grundsätzlich das Gute im Menschen präjudiziell. Sie kann aber aufgrund der unsicheren anthropologischen Konstante kein sicheres Wissen über ihren Erfolg voraussetzen. Diese macht sie für Leo untauglich für die Herrschaftspraxis. Auch bemüht er sich nicht, das Konzept der dementia, wie sie ihm Theodosia darlegt, nachzuvollziehen. Da ihm keine anderen Begriffe zur Verfügung stehen, ist die ,Milde', die er schließlich walten läßt, keine wirkliche Milde, wie sie De dementia empfiehlt. Im Grunde veranlaßt Theodosia Leo zu dem kapitalen Schritt, weil sie sein Mißverstehen akzeptiert, ihren ursprünglichen Anspruch aufgibt und lediglich die Aufschiebung der Hinrichtung verlangt. Auf ihr Betreiben begeht Leo im Sinne von De dementia den Fehler, halbherzig zu handeln.

415

Im Jakobus-Brief steht die Aussage, daß die menschliche Natur so mächtig ist, die Tiere bezähmen zu können, und so kunstfertig, mit Schiffen über das Meer zu segeln, aber zu schwach, den eigenen Worten Zaum anzulegen, in der Rede temperantia zu gebrauchen, im Vordergrund. 416 v g l . Bamer: Gryphius und die Macht der Rede, S. 329, Anm. 20. 417 Vgl. auch oben, S. 68f.

260 Als milder Kaiser müßte er das Leben, die Freiheit, schenken und eine würdige Stellung. Der Aufschub der Hinrichtung ist keine Alternative. Welche Bedeutung ist nun dem auf Senecas De dementia referierenden Streitgespräch zwischen Kaiser und Kaiserin im Kontext einer Rezeption der Senecaischen Kulturkritik zuzuschreiben? Im Leo Armenius ist das Scheitern der dementia als eines dem Wesen des Menschen naturgemäßen Prinzips ebenso wie in Senecas Troades ein Element der Kulturkritik. Wie sich im Reyen der Höfflinge eine Wissensordnung manifestiert, in der das stoisch-christliche Naturrecht keinen Ort mehr hat, ist bereits herausgearbeitet worden. 418 Dementsprechend ist die Milde eine Herrschaftstugend, die in diesem Kanon der wissenschaftlichen Disziplinen keinen Platz hat. In der Senecaischen Wissensordnung gründet sie sich auf ein anderes Wissen, die scientia bonorum ac malorum, und ist Ausdruck jener sapientia, die sich die Ergründung und Aktualisierung dieses Wissens zur Aufgabe macht. 419 In Senecas 88. Brief finden wir einen Kommentar zum besonderen Status der Milde unter den studio liberalia. Die dementia wird hier zu den Tugenden gezählt, die Künste und Wissenschaften nicht vermitteln können.420 Unabhängig von ihnen behauptet sie ihre Existenz und ihren Anspruch. Ebensowenig wie Künste und Wissenschaften fähig sind, Menschlichkeit (humanitas), Aufrichtigkeit (simplicitas), Bescheidenheit (modestia), Mäßigung (moderatio), Enthaltsamkeit {frugalitas) und Sparsamkeit (parsimonia) zu lehren, vermögen sie es, die dementia zu lehren, eine Tugend, die das Blut eines anderen schont, als sei es das eigene (vgl. Ep. 88. 30). Die dementia zählt Seneca nicht zu dem Wissen, das Künste und Wissenschaften lehren, sondern zur sapientia, die sich mit den menschlichen und den göttlichen Dingen beschäftigt. 421 Diese soll der Mensch allererst und vorrangig begreifen, indem er das empirische Verhältnis zur unberührten Natur sucht und das überflüssige Wissen beiseite läßt. Als eine solche Tugend findet die dementia in der pragmatischen Wissensordnung des ersten Reyen der Höfflinge keinen Platz. Ihr käme die Aufgabe zu, die Unzulänglichkeit eines gesetzten konventionellen Rechts, hier des modernen konstruierten Naturrechts (vgl. I. 518), abzugleichen.

418 419 420

421

Vgl. oben, S. 41-51. Vgl. oben, S. 37f. Für die humanistisch gebildeten Juristen hingegen waren gerade die artes unabdingbare Voraussetzung, um das iustissimum bei der Rechtsfindung praktizieren zu können. Besonders ist hier an die Beschäftigung mit den antiken Autoren zu denken, von denen man moralische und philosophische Einsichten erwartete, die unabhängig vom jeweils historischen Kontext Geltung beanspruchen durften. Durch sie sollte das reine Faktenwissen in den Einzelwissenschaften ergänzt werden. Vgl. etwa Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat, S. 104. Studien in den Künsten und Wissenschaften bilden fur Seneca höchstens das Propädeutikum für die sapientia. Vgl. oben, S. 38.

261

Als christlich-stoische Tugend fallt die dementia im Reyen des Leo Armenius aber in den Bereich der Theologie (I. 519). Die Unterordnung der Theologie unter Jurisprudenz und Geschichtswissenschaft bzw. ihre rein dienende und den Staat legitimierende Funktion422 bedingt das Schicksal der stoisch-christlichen Milde. Milde leisten bedeutet nach dem Gewissen zu handeln, das Gewissen allerdings ist im frühneuzeitlichen Rechtsdiskurs keine relevante Instanz.423 Milde leisten ist eine obsolete Tugend. Einen realen Anspruch auf praktische Umsetzung, eine Korrektur des juristischen Urteils, ist durch das Leisten von Milde utopisch, läßt diese doch die wissenschaftliche Exaktheit und Berechenbarkeit, das Wissenschaftsideal der Zeit, vermissen. Die Erforschung der Natur dient nicht dazu, die christlichstoische Tugend der Milde als naturgemäßes Prinzip zu erkennen, sondern dem möglichst sicheren Faktenwissen. Mit dem Hobbesschen artifiziellen Vertragsrecht, das Sicherheit aus Zwang einer Natur erwirken will, die als eine zu zähmende angesehen wird, ist die prinzipiell unsicher ausgehende Anwendung der Milde nicht vereinbar. Die Milde setzte diese Verträge außer Kraft, weil sie dem stoisch-christlichen Naturrecht verpflichtet ist und dieses als Konsens voraussetzt. Im Kontext eines Vertragsrechts wäre die Milde tatsächlich ein störender Fremdkörper. Das iustissimum, das die Milde verfolgt, ist nicht das Gerechte im Sinne des Vertrages, sondern das Gerechteste im Sinne des christlich-stoischen Naturrechts. Ihm gilt die „Menschlichkeit [...] als höchste Instanz; sie gestattet ein plus aequo, eine gelegentliche Verletzung des Rechts",424 im Kontext unserer Thematik des konstruierten Naturrechts. Theodosias Anspruch auf Milde, die nicht sub formula handelt, korrespondiert mit Antigones Hinweis auf das ungeschriebene Gesetz (Soph. Ant. 454), mit Michaels Forderung, das „grosse Recht" {Leo Arm. I. 498), und mit derjenigen Papinians, das „allgemeine Recht" zu beachten (Pap. IV. 337), das „der Seelen eingeschriben" ist (Pap. IV. 340).«5 Alle formulieren gegenüber den Ansprüchen der Staatsräson einen Eigensinn, der die Ablösung der Theologie vom Rechtsempfinden nicht zulassen will. Im Scheitern der dementia verbirgt sich eine Kritik an dieser Entwicklung, die die Folge einer wissenschaftlichen Neuorientierung ist. Die intertextuelle Referenz zu De dementia bringt noch einmal die Ansprüche des christlich-stoischen Naturrechts ins Spiel und damit die Forderung, zu einem naturgemäßen Leben zurückzukehren, dem secundum naturam vivere in der frühneuzeitlichen Wissensordnung einen Ort einzuräumen, an dem es nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch Relevanz einfordern darf. 422

423 424 425

Die Stellung der Theologie zwischen Jurisprudenz und Geschichtswissenschaft ist durch diese Funktion begründet worden (vgl. Leo Arm. 1.518-520); vgl. oben, S. 48. Vgl. oben, S. 50. Fuhrmann: Die Alleinherrschaft und das Problem der Gerechtigkeit, S. 506. Vgl. oben, S. 138.

262 Welches Schicksal ereilt nun die Milde im Vergleich zum Gryphschen Drama bei Lohenstein?

c) Lohensteins

Antwort

auf seine Vorbilder:

Seneca in der

Agrippina

Durch die auffallende Analogie zu De dementia ist das Streitgespräch zwischen Leo und Theodosia ein besonderer Fall, da es die AugustusEpisode imitiert. Die Rezeption der Konzeption der Milde findet bei Lohenstein auf andere Weise statt, weil Seneca als Autor der Schrift mitsamt ihren bereits dargelegten Entstehungsfragen selbst im Zentrum steht. Die Diskussion um Theorie und Praxis der Milde wird deshalb die hermeneutische Frage besonders berücksichtigen müssen. Anders als im Leo Armenius wird in den römischen Dramen zu diesem Zweck die Bildlichkeit eingesetzt. Die weitere Argumentation soll verfolgen, auf welche Weise dadurch ein entscheidender Schritt über Gryphius hinausgetan wird. Von den Untersuchungen, die die Bedeutung der Bilder bei Lohenstein nicht auf den ornatus reduzieren, sondern sie stellvertretend als uneigentliches Sprechen über Ideen verstehen, 426 kommt diejenige Wicherts unserer Thematik am nächsten. Wiehert weist auf die Verankerung des rechtlichen Diskurses in der Bildlichkeit des dritten Reyen in der Agrippina hin. Daß dort zur Hilfe Agrippinas Berg- und Meergöttinnen auftreten, beurteilt er überzeugend als Verurteilung des Geschehens aus naturrechtlicher Perspek-

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Windfuhr (Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker) sieht den Zweck der Bildlichkeit bei Lohenstein generell in der Dekoration (vgl. S. 245-248). Meyer-Kalkus (Wollust und Grausamkeit) untersucht die Funktion der Bildlichkeit in der Agrippina fur die Darstellung der Affekte (vgl. S. 250) und widmet seine an Freuds und Lacans Psychoanalyse ausgerichtete Interpretation besonders dem ,oralsadistischen Mutterbrust-Schlangengift-Komplex' (vgl. ebd., S. 253-276). Meyer-Kalkus meint, daß sich besonders in der Inzest-Szene (vgl. Agr. III. 131-264) das neue Erziehungsideal spiegele, das die Aufzucht der Kinder nicht mehr den Ammen überlassen wollte, sondern eine enge Mutter-Kind-Beziehung favorisierte, um das Ideal eines familiär intakten Fürstenhauses zu verwirklichen (vgl. ebd., S. 263). Wie außerdem zu erwarten, entdeckt er dabei Parallelen in Lohensteins eigenem Verhältnis zu seiner Mutter (vgl. ebd., S. 264). Vorher hatte Just (Lohensteins Trauerspiele) die Inzest-Metaphorik lediglich unter rhetorischen Aspekten untersucht und die Funktion der „Sprachballung" in der „Überwältigungskraft" gesehen, die den dramatischen Effekt bewirke (S. 94). Von einigem Interesse ist die Untersuchung Charlotte L. Brancafortes (Liebesmetaphorik in Lohensteins Agrippina im Lichte wissenschaftlicher Debatten des 17. Jahrhunderts. In: Studien zum Werk Daniel Caspers von Lohenstein [Daphnis 12, Heft 2-3], S. 305-320). Brancaforte fuhrt das „metaphorische Spiel" der Inzestszene „mit Blut und Milch in den Adern Agrippinas" (S. 316) auf die damaligen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse oder Spekulationen in der medizinischen Fachliteratur zurück. Besonders Harveys Exercitatio de generatione animalium (1651) und den Oceanus Macro-Microcosmicus (1664) des Breslauer Arztes Philipp Jacob Sachs von Lewenheimb gibt sie als mögliche Inspirationsquellen Lohensteins an (vgl. ebd., S. 307, 311).

263 tive.427 Nach Wiehert spielt allerdings, wie bereits erwähnt,428 die stoische Tradition für das Naturrechtsdenken im 17. Jahrhundert kaum eine Rolle. Allerdings läßt sich der mißglückte Schiffbruch durch eine Äußerung Agrippinas in direkten Zusammenhang mit De dementia bringen. Wenn schon nicht der Kaiser habe Sanftmut walten lassen, gemäß dem stoischen Naturgesetz, so doch das Meer; dessen Rettung aber traut Agrippina im Bewußtsein ihrer eigenen Vergehen nicht: „Die eignen Thaten weisen / mir diesen Rechnungsschluß: des Meeres Sanftmut sey / daß es mich nicht ersäufft / nur milde Tyranney" (Agr. V. 38-40). Die Worte sind neben dem Traum des Britannicus und dem Gespräch zwischen Seneca und Burrus ein weiterer Hinweis auf De dementia als Prätext der Diskussionen um die angemessene Behandlung Agrippinas. In dem angeführten Beispiel, in dem die Natur eindeutig als Richterin eingreift, erschöpft sich die Thematik aber keineswegs. Auf der Suche nach den Rezeptionsweisen der stoischen Philosophie bietet sich aus hermeneutischer dramenimmanenter Perspektive die Problematisierung der angeschauten Natur bzw. Wirklichkeit als Orientierungsinstanz für die Figuren an. Weshalb ist besonders die Figur des Seneca fur diese Frage von Belang? Seneca spielt in der Agrippina die alles entscheidende Rolle. Nero ist nur das ausführende Organ seiner Urteile. In „das politische Intrigenspiel" am Hof ist Seneca keineswegs nur „beiläufig" verstrickt, wie Asmuth meint, sondern er fallt das alle Ereignisse weiter bestimmende Urteil zum Mord und gegen das Ideal der Sanftmut.429 Er steht in einem Konflikt zwischen „Rechtsstandpunkt und Machtverhältnissen",430 der differenzierter verortet werden kann: Es ist ein Kunststück Lohensteins, daß der Konflikt am Kaiserhaus den dramatischen Seneca, der den Quellen zufolge der historischen Persönlichkeit sehr nahe kommt, mit der Position des Philosophen und Autors Seneca in De dementia konfrontiert. Deshalb spiegelt seine Rolle noch etwas anderes als die „Konflikte des Beamtentums" des 17. Jahrhunderts:431 Der Seneca im Drama ist nicht nur der Staatsmann, sondern zugleich der Philosoph. Dies bedeutet, daß sich in der dramatischen Figur Seneca das Problem von Theorie und Praxis der herrscherlichen Tugend der Sanftmut zentriert. Vor allem auf der Ebene der szenischen Bildlichkeit soll das Problem von theoretischem Anspruch und praktischem Handeln im folgenden erörtert werden, begründet sich diese Divergenz doch aus der stoischen erkenntnistheoretischen Prämisse, daß die Anschauung die leitende Konstante

427 v g l Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 76. Vgl. auch Spellerberg: Verhängnis und Geschichte, S. 172. 428 429 430 431

Vgl. oben, S. 158f. Asmuth: Lohenstein und Tacitus, S. 14. Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 208. Ebd., S. 463.

264 für die Urteilsbildung gemäß der recta ratio ist, die Sinnbilder der nichtsprachlichen Wirklichkeit.432 Unter den Bildern der Wirklichkeit fungiert an erster Stelle das des Kosmos bzw. der unberührten Natur, auf die der Mensch seine Vernunft, die vernünftigen Zusammenhänge der Bilder, ihre Gesetze und Strukturen erkennend, „verstehend und interpretierend" beziehen soll.433 An dem nichtsprachlichen Bild des ihn umgebenden Kosmos hat der Mensch sein Urteilen und Handeln auszurichten, in seinem sprachlichen Urteil manifestiert sich das vernünftige Verständnis des Bildes. Was geschieht, wenn solche Bilder entweder nicht zur Verfugung stehen oder sich das Subjekt an anderen orientiert, die ihm näher sind? Wenn das Denken in Vergleichen und Analogien, wie der Philosoph Seneca behauptet, ein Grundbaustein des richtigen Urteilens ist (vgl. Ep. 120. 4), der „Korrespondenzcharakter bezüglich der nichtsprachlichen Wirklichkeit"434 das unhintergehbare Fundament der Ethik, muß sich nicht dann eine von Künstlichkeit geprägte Umwelt auf die Entscheidungsfindung auswirken, da das Urteil absolut von ihr als Realität abhängig ist? Die Konsequenz der erkenntnistheoretischen Prämisse, daß die Anschauung die leitende Konstante des Urteilens ist, wäre, daß der Urteilende, will er gemäß dem Naturgesetz vernünftig urteilen, sich immer dessen, was er betrachtet, bewußt sein muß, gegenwärtig auch der künstlichen Eindrücke und notfalls bereit, von ihnen zu abstrahieren, um sich die reine vernünftige Natur vorzustellen, die hinter ihnen verborgen liegt. Diesen Anspruch verfolgt der Philosoph Seneca zwar in seinen Schriften. Was geschieht aber im Drama? Die szenischen Bilder, die die Figurenreden evozieren, erhalten in dieser Hinsicht ihre besondere Funktion. Sie dienen zwar auch dazu, die dramatische Kulisse in der Vorstellung des Rezipienten zu entwerfen, vor allem aber fuhren sie vor Augen, angesichts welcher Anschauung Seneca sein Urteil konstituieren muß. Das Verhalten der Dramenfigur Seneca ist abhängig von dieser Umwelt. Er ist auf sie und auf ihr Verständnis angewiesen, will er sich selbst im Sinne seiner Philosophie bewahren. Begründet man sein Verhalten allein damit, daß er auf seine Rolle angewiesen sei und nicht anders handeln könne, ist der Motivation für sein Urteil noch nicht Rechnung getragen. Seneca ist an eine künstliche Welt ausgeliefert, die den „empirisme moral", die Erkenntnis moralischer Werte durch ein kontemplativ-aktives Naturverhältnis, erschwert.435 Wie sieht nun die Wirklichkeit

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Vgl. Forschner: Über das Handeln im Einklang mit der Natur, S. 13. Ebd. Nicht nur der Kosmos oder die unberührte Natur dienen zur Erkenntnis des naturgemäß Vernünftigen, sondern auch menschliche Vorbilder, so etwa tugendhafte Taten. Sie sind praktische Manifestationen des natürlich Vernünftigen. Vgl. Ep. 120. 5-8. Forschner: Die stoische Ethik, S. 40. Vgl. oben, S. 71-73. Grimal: Seneque, S. 368.

265 aus, die die szenische Rede entwirft, und welches Verhältnis nimmt Seneca zu ihr ein?

(i) Senecas Lebenswelt: Othos Rede In den Eingangsworten zum ersten Akt inszeniert sich Nero als Herrscher, der dem Ideal in De dementia gleichkommt. Die panegyrischen Worte, mit denen der historische Autor Seneca seine Schrift einleitet, sind, so scheint Nero zu betonen, berechtigt und keine bloße Schmeichelei. Otho tritt ihm kritisch entgegen, nicht ohne persönliche Ziele zu verfolgen.436 Sich seiner kriegerischen Erfolge rühmend437 und in der Rolle des Euergetes gefallend, hält der Kaiser eine Lobrede auf seine Politik des panem et circenses. Roms Stellung als Großmacht in der Welt beschere der Stadt den Reichtum, der es möglich mache, das Volk durch „Erlustigung" (I. 21) zu unterhalten und öffentliche Spenden auszuteilen (vgl. I. 22).438 Zum Zeichen des Friedens sei das Ianus-Tor geschlossen (vgl. I. 17). Das Goldene Zeitalter habe erst jetzt unter seiner Herrschaft begonnen: „Saturnus güldne Zeit ist gegen dieser eysern. Sieg / Friede / Wolstand hat bey allen andern Käysern nie / wie bei uns geblüht" (I. 11-13). Nero stilisiert sich als maßvollen Herrscher, der verschwenderische Ehrenbezeugungen ablehnt und das Ideal eines Regiments erfüllt hat, wie es De dementia empfiehlt. Durch die gute Behandlung seiner Untertanen, der Glieder des Staates, werde ihm „im Tempel treuer Seelen" (I. 27) immer gleichmäßige Verehrung zuteil. Neros Rede suggeriert, daß sich die „laetissima forma rei publicae", wie Seneca in seinen enkomiastischen Worten Neros Herrschaft in De dementia preist (1.1.8), bestätigt findet. Otho nimmt die Anspielung auf, verhüllt aber in schmeichlerischen Worten geschickt seine Zweifel. Zunächst stellt er heraus, daß unter einem 436 437

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Otho soll ein Intimfreund Neros gewesen sein (vgl. Tac. Ann. 13. 46). Der Sieg über die Parther (vgl. Agr. I. 14, 30) wäre ohne Seneca wohl nicht möglich gewesen. Vgl. Andre Oltramare: Seneque Diplomate. In: Revue des Etudes latines 16, 1938, S. 318-335, hier S. 332. Die Vorliebe Neros fur Wagenrennen und Schauspiele ist hinreichend bekannt. Auf dem Marsfeld hatte er ein großes Theater bauen lassen, und in dieses Jahr, 57 n. Chr., fallen wohl auch die Spenden an das Volk, von denen Tacitus berichtet (vgl. Ann. 13.31, Agr. I. 22; vgl. von Lohenstein: Römische Trauerspiele, Anmerkungen S. 114). Seneca verurteilt die Gewohnheit der Tyrannen, Geld zu spenden, um das Volk günstig zu stimmen, als largitio nocitura. Sie fördert nur die zügellose Genußsucht und die Verweichlichung des Körpers (vgl. Ep. 114. 24). Die großen Spiele, die für ihre Ausschweifungen berüchtigten Juvenalia und die Neronia, stiftete Nero erst nach Agrippinas Tod. Letztere sollten alle fünf Jahre nach griechischem Vorbild abgehalten werden. Tacitus berichtet von diesen Spielen, an denen Kaiser und Mitglieder des Senats selbst teilnahmen (vgl. Ann. 14. 20). Die Selbstverliebtheit Neros fand bei diesen Festen keine Grenzen. So erzählt Tacitus von den sogenannten Augustiani, die Nero Beifall klatschen, seinen Gesang und seine Dichtkunst loben mußten (vgl. Ann. 14. 15).

266 weisen Fürsten wie Nero Glück und Wohlfahrt blühen müßten (vgl. Agr. I. 38f.) und die Welt nicht anders könne, als in Treu und Demuth ihn als die „Sonne" (I. 42) ehren. Otho zeichnet Nero als Sonnenkönig und spielt auf das Gleichnis im Panegyricus von De dementia an. Dort heißt es, daß die Untertanen ihrem sanftmütigen Herrscher wie einem wohltätigen Gestirn, „darum et beneficium sidus" {De clem. 1. 3. 3) entgegenfliegen, bereit, selbst mit ihrem Tod sein Leben zu retten.439 Schrittweise aber hebt Otho den zunächst epideiktischen Charakter seiner Rede auf. Zuerst enthält die folgende Analogie eine Einschränkung, da sie die Unterordnung unter den Herrscher als eine für die Selbsterhaltung notwendige Pflicht darstellt. Sodann gibt Otho seinen Zweifeln darüber Ausdruck, daß die Herrschaft Neros sich in dem Zustand befinde, die er schildere, wobei er deutlich auf De dementia anspielt: [...] Für Bäumen sich zu neigen / Da uns die Zweige Frucht / die Blätter Schatten zeugen / Ist allgemeine Pflicht. Allein ich zweiffle fast: Daß / da des Regiments fast Centner-schwere Last Gleich soll so sanffte seyn / bey dem so großen Glücke / Dem Käyser nichts entgeh / was nicht mit süßem Blicke Manch Bürger schauen kan. (Agr. I. 43-49)

Selbstverständlich sind Othos folgende Worte kein Plädoyer für die dementia. Könnte man eine Verteidigung der dementia erwarten, wie sie im Leo Armenius Theodosia in ihrem Gespräch mit dem Kaiser formuliert, geschieht eher eine Ernüchterung.440 Othos Rede intendiert keine grundlegende Änderung des kaiserlichen Herrschaftsverhaltens, sondern letztendlich den persönlichen Erfolg: Allein der Luxus reiche nicht für Neros Glück, sondern es bedürfe noch einer Frau wie der seinigen, Poppaea (vgl. I. 9 0 97). 441 Bevor Otho aber auf diese zu sprechen kommt, trifft er bei Nero

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Vgl. zur Astralsymbolik, mit der Neros Herrschaft verehrt wurde, Grimal: Seneque, S. 129f. Dazu gehört vor allem die Errichtung von Neros Palast, der Domus Aurea, des Goldenen Hauses. Vgl. unten, S. 270. Obgleich Tacitus überliefert, daß Otho in Neros Gegenwart oft die Schönheit seiner Frau gepriesen habe (vgl. Ann. 13. 46), spielt Lohenstein dennoch mit anderen Erwartungen, die sich aufgrund des Dramentextes und bei Beachtung des Kontextes einstellen. Er läßt nicht das folgen, was Othos Worte an die Hand geben, nämlich eine paränetische Verteidigung des sanftmütigen Herrschers, die an das Gryphsche Vorbild der Theodosia angelehnt sein könnte. Tatsächlich spielt das Ideal aus De dementia für Otho keine Rolle mehr; er setzt die Idee berechnend ein, um ganz andere Ziele zu verfolgen. Indem er ein Verhältnis Poppaeas mit Nero begünstigt, erhofft er sich die Gunst des Kaisers (vgl. auch Agr. II. 420f.). Der klug ausgedachte Plan mißlingt. Um sich des Nebenbuhlers zu entledigen, verschickt Nero ihn allein nach Portugal. Nach Tacitus sollte er dort in der südlichen Provinz Lusitanien eine Statthalterstelle wahrnehmen (vgl. Ann. 13.46). Othos berechnender Charakterzug ist in dieser Überlieferung nicht hervorgehoben. Vgl. dazu Asmuth: Lohenstein und Tacitus, S. 19.

267 einen empfindlichen Nerv. Dessen Selbstbild des sanftmütigen Herrschers gerät ins Wanken: 442 Otho hält ihm einen anderen Spiegel vor, in dem er sich nicht als maßvoller und gerechter Herrscher erblicken darf, sondern als ein in Genußsucht schwelgender Decadent. Die Wirkung, die Seneca mit seinem Spiegelgleichnis in De dementia erzielt haben dürfte, ist aufgehoben. Othos Rede, gespickt mit Senecaischen Invektiven gegen die luxuria, kommt der Wirklichkeit näher und beschreibt die Atmosphäre, in der sich das Urteil der Dramenfigur Seneca zu konstituieren hat. In seinen Anmerkungen gibt Lohenstein zwar Plinius, Sueton und Tacitus als Quellen an. Senecas moralisierende Kommentare markiert er nicht als Prätexte. Diese schöpfen ihren paränetischen Gehalt aus der Dichotomie ars-natura. Othos Darstellung der kaiserlichen luxuria betrifft vor allem den Tafelluxus, die übertriebene Körperhygiene und die Baukunst. Die Aufzählung der Delikatessen beginnt mit einer typischen Invektive Senecas gegen eine der kulinarischen Vorlieben seiner Zeit, die Austern des Lucriner Sees in der Nähe Baiaes. Seneca zählt sie zu den Schmeicheleien der Sinne, den „sensuum blandimenta" (Ep. 78. 23; vgl. Agr. I. 49), die der Weise verachtet.443 Eigentlich handelt der Brief vom richtigen Umgang mit der Krankheit und gipfelt in der Festellung, daß sich im heutigen Rom schon derjenige als krank betrachte, der solcher Genüsse wie der Austern entbehren müsse. Dieser sei nicht körperlich, sondern vielmehr an seiner Seele krank (vgl. Ep. 78. 25). Dieselbe Briefstelle verurteilt die Mischung von Wein mit Wasser bzw. mit Schnee oder Eisstücken, die ebenfalls in Othos markanter Schilderung aufgenommen ist (vgl. Ep. 78. 23): [...] Daß man in Berg-Kristallen Wenn gleich der Hunds-stern schmälzt / gefrornen Schnee läst fallen / Daß fern-gepreßten Wein mit Eise man erfrischt / Und in den reiffen Herbst des Frühlings Rosen mischt. (Agr. 1. 55—58)444

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Indem Otho dem Kaiser die Tugend der dementia abspricht, verunsichert er ihn (vgl. Agr. I. 81-83). Die dementia ist, wie im Leo Armenius, fur das Selbstbild des Herrschers von außerordentlicher Bedeutung. In der Cleopatra gehört es zu der rhetorischen Unterwerfungsgeste der Verlierer, die „Sanfthmut" (Cleop. 1. 148) zu betonen, um den Kaiser in Sicherheit zu wiegen, ihn vor sich selbst in einem günstigen Licht erscheinen zu lassen und ihn vielleicht wirklich milde zu stimmen. Vgl. oben, S. 216—218. Auch in Ad Helviam sind die Austern, die von fremden Küsten herbeigeschafft werden, einer der ersten Angriffspunkte gegen die ambitiosa popina, die ehrgeizige und erfinderische Kochkunst (vgl. Ad Helv. 10. 2). Unnötig sind die vielen artes, die dem Magen dienen, der Handel, die Verwüstung der Wälder und die Reisen in ferne Länder, denn die Natur hat alle nötigen Nahrungsmittel leicht zugänglich zur Verfügung gestellt: „Passim iacent alimenta quae rerum natura omnibus locis disposuit [...]" (Ad Helv. 10. 5). Mit dem „fern-gepreßten Wein" (Agr. I. 57) übernimmt Lohenstein wörtlich die Wendung aus dem ersten Reyen des Papinian (vgl. Pap. I. 389), der insgesamt ein ähnliches Bild des Hofes evoziert wie Othos Rede.

268 Die Vorliebe fur exotische seltene Speisen offenbart sich selbst in der Wahl des Weines, der sogar im Sommer eiskalt serviert werden kann.445 Die Metapher des Herbstes, der mit dem Frühling vermischt wird, faßt den Hauptkritikpunkt Senecas an dieser Einrichtung, den er in den Naturales quaestiones genauer ausfuhrt. Dem Wein Schnee oder Eis zuzufügen, ist eine Depravation der natürlichen Verhältnisse. Abgesehen davon, daß es nicht der Natur entspreche, Schnee ,aufheben' zu können, solange man will, führe die Erfindung, ihn zu pressen und in Kühlräumen zu verwahren, dazu, daß die an sich für alle zugängliche Natur käuflich werde. Am liebsten würde man auch Sonne und Luft kaufen können: Nos vero quaeramus potius quomodo fiant nives quam quomodo serventur; quoniam non contenti vina diffundere, et veteraria per sapores aetatesque disponere, invenimus quomodo stiparemus nivem, ut ea aestatem evinceret et contra anni fervorem defenderetur loci frigore. Quid hac diligentia consecuti sumus? Nempe ut gratuitam mercemur aquam. Nobis dolet quod spiritum, quod solem emere non possumus, quod hic aer etiam delicatis divitibusque ex facili nec emptus venit. Ο quam nobis male est quod quicquam a rerum natura in medio relictum est! (Nat. quaest. 4b. 13. 3) 4 4 6

Im folgenden erscheint natura als Gegenbegriff zur „ingeniosa luxuria", zur erfindungsreichen Genußsucht, die die Natur zur Ware gemacht habe (4b. 13. 4) 447 Schnee zu sammeln, ihn zu verwahren, um ihn dann zu verkaufen, ist eine Kunstfertigkeit, die der occupatio der Natur dient, welche aber ihrem Gesetz entsprechend keinem einzelnen gehören kann, sondern im Besitz aller ist (vgl. Ep. 90. 38). Noch einmal taucht das Phänomen auf, daß im Dramentext mehrere Texte gleichzeitig präsent sind und aufeinander bezogen werden können, denn zu bedenken ist nicht nur Seneca, sondern auch die Grotianische Version der occupatio. Die philosophischen Texte Senecas liefern den kulturkritischen Kommentar zu dem Szenario, das der Dramentext ausbreitet. Dieser wiederum hypostasiert im Rückgriff auf die Senecaische Kulturkritik die Grundlagen des Naturrechts nach Grotius und die Auswüchse eines

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In einem anderen Brief kritisiert Seneca die überfüllten Weinkeller. Vgl. Ep. 114. 26. Wieder ist es, auf andere Weise als der Nil in der Cleopatra, das Element Wasser, das zum Objekt der Naturunterwerfung wird. Vgl. oben, S. 193f. Könnte man in heißen Sommern die Verwendung von Eis bzw. Schnee verstehen, so ist sie für Seneca primär eine Folge der luxuria. Die ununterbrochene Überladung des Magens während der Gastmähler und Umtrünke führt zu einer Hitze im Inneren, die die natürliche Kälte des Wassers nicht mindern kann: „Itaque non aestate tantum, sed et media hieme nivem causa pari bibunt" (Nat quaest. 4b. 13. 5). Die Vollstopferei seiner Zeit beschreibt Seneca in Ad Helviam sehr drastisch: „Vomunt ut edant, edunt ut vomant [...]" (AdHelv. 10. 3). Friedlaender (Sittengeschichte Roms) liefert einige interessante Details zum Tafelluxus, hält aber insgesamt Senecas Klagen sowohl aus synchroner als auch aus diachroner Perspektive, im relativen Vergleich mit dem Luxus des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa, für übertrieben (vgl. S. 661, 670, 674, 679). Mag Seneca auch übertreiben, so geht es hier weniger darum, die tatsächliche Richtigkeit seiner Aussagen zu bestätigen oder in Zweifel zu ziehen, als vielmehr um die Intention seiner Schilderungen, und diese liegt in seinem philosophischen Anliegen begründet.

269 Rechtsdenkens unter dem Primat des suum cuique.448 Die Textstelle ist ein geeignetes Beispiel dafür, wie unter dem Deckmantel der antiken Welt ein Kommentar zur zeitgenössischen naturrechtlichen Diskussion filtriert werden kann.449 Neben der Schwelgerei in exotischen Speisen fuhrt die Rede Othos als zweites Merkmal der luxuria die übertriebene Körperhygiene an, die kaiserlichen Bäder aus „Balsam" (Agr. I. 61). In Senecas Briefen ist die artifizielle Badekultur, die in den kostspielig ausgestatteten Thermen Roms praktiziert wurde, 450 ein Indiz für Verweichlichung. Schon für den frühen Stoiker Zenon ist der Gebrauch von Düften und Salben Kennzeichen der effeminati,451 Seneca betont, die Bäder sollten dem Gebrauch dienen, nicht der Ergötzung, weswegen die aufwendigen schmuckvollen und mit Fenstern ausgestatteten Badehäuser unnötig seien (vgl. Ep. 86. 9). 452 Ein ausgiebiges

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Vgl. oben, S. 131. Ob Lohenstein bei Othos Schilderung auch an eigene Erfahrungen anknüpft und an konkrete Eigentümlichkeiten des zeitgenössischen Hoflebens gedacht hat, ist unklar. Vergleiche, die immer nur relativen Charakter besitzen können, sind mit Vorsicht zu ziehen. Neuere Untersuchungen weisen darauf hin, daß sich in Deutschland eine auffallende Verfeinerung der Lebenskultur ohnehin erst im Laufe des 18. Jahrhunderts vollzog. In kritischer Auseindersetzung mit Elias' Darstellung Die Höfische Gesellschaft, die den französischen Hof Ludwig XIV. schildert und als Paradigma fur das europäische Hofwesen nimmt, macht neuerdings Volker Bauer (Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Versuch einer Typologie, Tübingen 1993 [Frühe Neuzeit 12]) darauf aufmerksam, daß Parallelen etwa zum deutschen Hofzeremonoiell und -leben nur vorsichtig ermittelt werden dürfen. Der finanzielle Aufwand war deutlich niedriger und im Vergleich zum französischen Vorbild schon fast bescheiden. Im übrigen haben die Höfe erst gegen Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts ihr ganzes Leben entfaltet, die typischen Barockschlösser wurden auch erst jetzt gebaut. Obwohl die Ausgaben speziell des Wiener Hofes deutlich unter denen des französischen Vorbildes lag, nimmt er allerdings in seiner Repräsentationskultur im Vergleich mit anderen deutschen Höfen eine Ausnahmestellung ein (vgl. S. 55-66). Auch im kulinarischen Bereich vollzogen sich wohl erst im Laufe des 18. Jahrhunderts bedeutende Änderungen. Seltene Delikatessen und Raffinement der Zubereitung fanden erst jetzt Eingang in die Kochkultur. Vgl. dazu auch Münch: Lebensformen der Frühen Neuzeit, S. 314-335. Zu der kunstvollen Ausstattung der römischen Thermen vgl. etwa Erika Brödner: Die römischen Thermen und das antike Badewesen. Eine kulturhistorische Betrachtung. Darmstadt 1983, S. 130-144. Vgl. Diogenes Laertius: Life of Eminent Philosophers. Bd. 1, Kap. 7. 3. In diesem Brief schildert Seneca die Villa des Scipio, was ihm Anlaß gibt, über die Badekultur seiner Zeit zu schreiben. Er vergleicht die maßvollen, fast asketischen Badegewohnheiten Scipios mit den gegenwärtigen. Während die alten Badezellen, wie auch die Scipios, schmucklos eingerichtet waren und nur schmale Ritzen besaßen, durch die ein wenig Licht hereinfallen konnte, dürfen in den neuen Bädern der Marmor, die silbernen Hähne und der Boden aus Edelstein nicht fehlen. Große Fenster dienen ebenso der Ergötzung, sie gewähren einen weiten Ausblick, die Sonne kann das Wasser erhitzen und den Körper bräunen; vgl. Ep. 86. 4—8. Alle diese Dinge sind selbstverständlich überflüssig und gehören zu den supervacua. Besonders die Hitze des Wassers, die den Körper abkoche, führe zur Verweichlichung (vgl. Ep. 86. 11). (Seneca berichtet, daß er selbst aus gesundheitlichen Gründen von heißen Bädern Abstand genommen habe [vgl. Ep. 108. 16], Er bezeichnet sich selbst als „frigidae cultor" [Ep. 53. 3] und „psychrolutes" [Ep. 83. 5], der es liebe, am ersten Januar in der sehr kühlen Aqua Virgo zu baden.)

270 Bad sei nur einmal in der Woche nötig und solle dazu dienen, den Körper vom Schweiß zu reinigen, nicht Salben und Öle abzuwaschen (vgl. Ep. 86. 11 f.). Für Othos weitere Beschreibung des kaiserlichen Lebenswandels hält sich Lohenstein im folgenden recht genau an Suetons vita, die er als Quelle auch ausweist. 453 Besonders hervorgehoben werden das silberbeschlagene Pferdegespann und die aufwendige Garderobe (vgl. Agr. I. 63-67, vgl. Suet. De vita Caes. 4. 30). Die Schilderung gipfelt in der Erwähnung des wohl wichtigsten öffentlichen Objekts der Repräsentation, des Goldenen Hauses. Dies war Neros Palast auf dem Esquilin (vgl. 1.67-71, Suet. De vita Caes. 4. 31).454 Das Goldene Haus war einer der Glanzpunkte des aufwendigen und prachtvollen Baustils der Zeit, der sich durch kostspielige dekorative Elemente kundtat. „In der ganzen Geschichte der Baukunst ohne Beispiel" nennt Friedlaender die architektonische Dekoration, die sich seit Augustus stark verbreitete. 455 In der domus aurea war alles mit Edelmetallen, Gold, Silber, Elfenbein und anderem kostbaren Gestein, das die neuen Provinzen lieferten, überzogen. Dessen markanteste Kennzeichen waren die mit Elfenbein getäfelten Decken der Speisezimmer, die Wohlgerüche verbreiteten oder Blumen regnen ließen.456 An dieser Art der Dekoration nimmt der Philosoph Seneca immer wieder Anstoß. Die geschmückten Wände und getäfelten Decken sind Sinnbilder des sittlichen Verfalls, der einhergeht mit der Unmöglichkeit oder Unfähigkeit, das Wahre zu erkennen. Der Schmuck verbirgt das natürliche Holz; eine Analogie dafür, daß die natura der ars zum Opfer fällt und die Wahrheit hinter dem blendenden Glanz der Erfindungen verschwindet. Der trügerische Glanz der Edelsteine belügt die Augen, er versteckt nämlich nicht nur die Wahrheit, sondern gibt zudem der Bosheit den Anschein von Würde: Miramur parietes tenui marmore inductos, cum sciamus quale sit quod absconditur. Oculis nostris inponimus, et cum auro tecta perfudimus, quid aliud quam mendacio gaudemus? Seimus enim sub illo auro foeda ligna latitare. Nec tantum parietibus aut lacunaribus omamentum tenue praetenditur: omnium istorum quos incedere altos vides bratteata felicitas est. Inspice, et scies sub ista tenui membrana dignitatis quantum mali iaceat. (Ep. 115.9)

In seinem 90. Brief bestreitet Seneca vehement die Ansicht des Poseidonios, daß es die Philosophie gewesen sei, die die Baukunst erfunden habe

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Vgl. von Lohenstein: Römische Trauerspiele. Anmerkungen, S. 117. Strenggenommen hält sich Lohenstein nicht an die Chronologie. Ganz fertiggestellt wurde das Goldene Haus erst nach dem Brand Roms im Jahre 64 und danach auch erst domus aurea genannt. Sueton überliefert, daß Nero nach Beendigung des Baus gesagt habe, nun könne er beginnen, wie ein Mensch zu wohnen (vgl. Suet. De vita Caes. 6. 31). Friedlaender: Sittengeschichte Roms, S. 708. Vgl. ebd., S. 711.

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(vgl. Ep. 90. 7).457 In dem glücklichen Zeitalter - in dem die Menschen noch der Natur gemäß lebten - gab es keine riesigen Speisesäle mit getäfelten Decken und Goldschmuck (vgl. Ep. 90. 9). Es ist nicht nur der Schmuck der Gebäude, der die Sinne verblendet, sondern auch ihre Größe, verhindert sie doch den Ausblick auf den für die Gotteserkenntnis wesentlichen Bereich der Natur, den freien Himmel (vgl. AdHelv. 9. 2). Gleich dem artifiziellen Tafelluxus und der Badekultur ist die Baukunst eine Dienerin der Verschwendungssucht.458 Aufwendige Architektur ist in Senecas Augen ein Auswuchs der Erfindungskraft des Menschen, ein Bestandteil der ars, die die Bedeutung der natura verdrängt. Pompöse Paläste gehören zu den supervacua eines künstlichen Lebensstils und zu den flüchtigen, nur geliehenen Dingen. In diesem Sinne dient die Kritik an der Baukunst auch der admonitio an die vanitas der künstlerischen Erfindungen. Dementsprechend verwendet Lohenstein in dem Gedicht Der Erleuchtete Hoffmann die Erinnerung an Neros Goldenes Haus für den Topos von der Hinfälligkeit irdischer Königswürde und Pracht: „Ein Hauß, das Nerons gleiche / das keinen Zeug als Gold / und Mentors Bau-Kunst hat / wird unsre Grufft, wir Asch [...]" 459 Otho hält seine Rede nicht in erster Linie aus moralistischer Perspektive, sondern zielt auf persönliche Interessen ab. Gleichwohl entfaltet sich durch sie ein schillernder Eindruck derjenigen Lebenswelt, die der Kaiser und sein Berater Seneca miteinander teilen. Es ist die artifizielle Welt, die der Philosoph Seneca in seinen Schriften schildert und als Ausgangspunkt seiner Philosophie der Natur nimmt. Welche Funktion erfüllt diese Bildlichkeit in bezug auf die Dramenfigur Seneca?

(ii) Seneca als Konfiguration der Problematik stoischer Erkenntnistheorie: Die Divergenz von Theorie und Praxis der dementia Das letzte Kapitel hinterfragte Senecas Urteilsfindung aus der Sicht stoischer erkenntnistheoretischer Prämissen und versuchte, daraus eine Stellungnahme zu den hermeneutischen Voraussetzungen abzuleiten, die Seneca als Philosoph in seinen Schriften verlauten läßt. Wenn tatsächlich die 457

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Zunächst richtet sich Senecas Kritik nicht nur gegen glanzvolle Paläste, sondern gegen das Bauen von Häusern im allgemeinen. Die eigentliche Motivation besteht nicht darin, sich einen Schutz zu verschaffen, sondern sich abzuriegeln und sein Hab und Gut verschließen zu können. Die notwendigen Bestandteile eines Hauses, Schlüssel und Riegel, sind Kennzeichen der avaritia, der Habsucht, und diese kann die Philosophie unmöglich lehren (vgl. Ep. 90. 8). Die ornamentale Architektur ist ebenso wie die Malerei, die Bildhauerei, die Kochkunst oder das Herstellen von Salben und Parfüms eine luxuriae ministra (vgl. Ep. 88. 18). Lohenstein: Lyrica, S. 482.

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visuellen Eindrücke bzw. das Denken aufgrund von Bildern für die Ausbildung des sittlichen Urteils unverzichtbar sind, müßte auch Senecas Urteil gegen die Sanftmut ein Produkt der Verarbeitung oder Anpassung an die Bilder sein, die ihn umgeben. Den Anspruch, den der Philosoph und Autor Seneca erhebt, von der Künstlichkeit der Eindrücke zu abstrahieren und hinter die Erscheinungen zu blicken, um die reine Natur als Maßstab wiederzuentdecken, löst die dramatische Figur nicht ein, da die Macht der Bilder, i. e. der Kunst, übermächtig ist. In der Praxis versagt die Theorie. Offenbar also resultiert die Divergenz von theoretischem Anspruch und praktischem Handeln aus dem Unvermögen, sich im reinen Denken von der Anschauung, cognitio sensitiva, zu lösen. Diese, wohlgemerkt nicht die Vorstellung, imaginatio, bleibt konstitutiv fur das Urteil. Folglich ist es die ars, präsent in der Anschauung, der sich Senecas Urteil zu verdanken hat, nicht die natura, die nur noch in der Vorstellung weiterleben kann. Dies würde bedeuten, daß die Umsetzung eines theoretischen Wissens, wie das Gute und Wahre zu ermitteln sei, ihre Grenzen dann findet, wenn die natura als erster Orientierungsfaktor von der Kunst verändert und zum Objekt der für das Urteil relevanten Anschauung wird, wie die obigen Beispiele gezeigt haben. An diese Grenze gelangt auch der Urheber oder Erfinder, zumindest der offensive Vertreter dieser Theorie, der Philosoph Seneca als Dramenfigur selbst. Nicht die natura, sondern die ars, die Flut der Bilder aus dem Bereich der Kunst, ist ausschlaggebend fur seine politische Praxis und das Sich-Verhalten; das Leben gemäß der Natur bleibt auch für Seneca in seiner Lebenswelt reine Theorie und Utopie oder reine Vorstellung. Zunächst soll nachgewiesen werden, daß Senecas Urteilsfindung ein Prozeß ist, der in der Entscheidung fur den Muttermord seinen Gipfelpunkt erreicht. Dabei ist zu beachten, daß sich Neros Berater nicht nur zu diesem Zeitpunkt in Widerspruch zur Philosophie der dementia setzt, sondern auch zu Beginn des Dramas (I). In der Figurenzeichnung nimmt Lohenstein hier im Vergleich zu der historischen Quelle eine entscheidende Veränderung vor, die den Anknüpfungspunkt an die frühneuzeitliche Philosophiegeschichte bietet. Zu denken ist dabei an die Meditationes Descartes. Denn die wichtige Ausgestaltung der Figur des Seneca in Abweichung von der Taciteischen Quelle liegt darin, daß er als kurioser Zweifelnder gezeichnet wird, der versucht, einen Anhaltspunkt für sein Urteil zu finden. Im weiteren Verlauf des Dramas, in der ebenfalls nicht zweifelsfreien Entscheidung für den Muttermord, wird schließlich Descartes' Konzept der provisorischen Moral von Belang, das im Discours beschrieben ist (II). (I) Senecas erste Entscheidung gegen die Sanftmut trifft er sub formula. Gleich Augustus in De dementia und dem Kaiser im Leo Armenius wird er vor die Entscheidung gestellt, was im Falle einer Verschwörung zu tun sei.

273 Er übernimmt die Rolle der Fürsten, denn Nero ist nicht mehr als nur das exekutive Organ seiner Ratgeber. Von Beginn kommt Seneca, den Nero als Rettung noch vor der Leibwache herbeiruft (vgl. Agr. I. 173), die tragende Rolle in Agrippinas Behandlung zu. Die Ausgangsbasis seines Handelns ist die künstlich hergestellte, aber geordnete Oberflächenstruktur der Kultur, die Othos Rede anschaulich vor Augen führt. In einem entscheidenden Punkt weicht er von seinen Vorbildern ab: Er scheut sich nicht, Agrippina als Objekt der zu unterwerfenden Natur von Anfang an in den Bereich der Kunst einzugliedern. Als das Kennzeichen von Senecas Lebenswelt ist eine von Menschenhand umgestaltete Natur herausgearbeitet worden. Wie das Wasser für die Produktion von Eis auch im Sommer, das Holz fur die Erbauung vergoldeter Speisesäale und sogar der eigene Körper Objekt der Verwandlung in Kunst wird, bezieht Senecas Denken in diese Verfügbarkeit die Kaiserinmutter mit ein. Gleichwohl, so könnte man einwenden, liegt ihre Schuldhaftigkeit nicht so klar zu Tage wie die Cinnas und soll erst noch zweifelsfrei erwiesen werden. Also besteht der große Unterschied zu Augustus in der Tatsache, daß dieser nicht beginnt, erst noch nach der Wahrheit zu suchen. Während Augustus im Bewußtsein der Schuld dennoch Sanftmut gewährt, sucht Seneca von Anfang an die Wahrheit und damit auch die Sicherheit. So gleicht er auf den ersten Blick Kaiser Leo, der ohne Sicherheit keine dementia walten lassen will. Doch unterscheidet sich Seneca auch von diesem grundlegend. Von Leos Ansicht, daß dem menschlichen Wesen mit Wissen eben nicht beizukommen sei, ist er nämlich weit entfernt. Gerade der Zweifel an Agrippinas objektiver Schuld, ob sie wirklich nach „Reich" und „Leben" Neros strebe (I. 165), ist deshalb für die dramatische Figurenzeichnung Senecas von außerordentlichem Belang. Keineswegs nämlich kann davon ausgegangen werden, daß „Agrippinas Verhalten [...] auf einen Bruch der staatlichen Ordnung" zielt und deshalb nicht „gutgeheißen" werden kann.460 Ebensowenig aber ist sicher, ob sie tatsächlich ganz schuldlos ist und nur, von „Übelwollenden verklagt",461 ein tragisches Opfer von „Intriganten".462 Der Zweifel an ihrer Schuld rückt Agrippina in 460

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Müsch: „Der politische Mensch im Welttheater des Daniel Casper von Lohenstein - Eine Deutung seines Dramenwerks", S. 78. Just: Die Trauerspiele Lohensteins, S. 132. Im Drama erfährt Nero von dem angeblichen Attentat durch Paris, der es aus zweiter Hand, von vermeintlichen Mitverschwörern erfahren haben soll (vgl. Agr. I. 198). Just (Lohenstein und die römische Welt. Einleitung: von Lohenstein: Römische Trauerspiele) sieht darin, daß Agrippina „keine Rebellin" sei, einen grundlegenden Unterschied zu Epicharis (S. XIV). Er sieht sie offenbar als das Opfer, das aus einer untergeordneten Stellung heraus agiert, nicht nach Umsturz strebt, sondern ihre Position erhalten will (vgl. ders.: Die Trauerspiele Lohensteins, S. 132f.). Szarota: Geschichte, Politik und Gesellschaft im Drama des 17. Jahrhunderts, S. 146. Vgl. ähnlich Plume: Heroinen in der Geschlechterordnung, S. 232f. Tatsächlich stellt Tacitus Agrippina lediglich als Opfer der Verschwörung dar, die von der eifersüchtigen Silana inauguriert worden sei (\g\.Ann. 14. 19).

274 die Position des Michael Baibus. Dieser wird zur Rede gestellt und trotz eines unklaren Ausgangs des Verhörs in den Kerker geworfen. Agrippina hingegen wird zunächst wie Michael zum Objekt der Erforschung der künstlichen Oberflächenstruktur, aber von ihrer Schuld freigesprochen. Leo führt, als Michael bereits im Kerker sitzt, gegen Theodosias Forderung, dementia walten zu lassen, die Unbeherrschbarkeit des Menschen durch den Menschen ins Feld und räumt ihm darin gegenüber der übrigen Natur eine Sonderstellung ein.463 Seneca vermeint, sicheres Wissen über Agrippinas Ansinnen erfahren zu können, weshalb er sie zunächst eindeutig vom Verdacht befreit. Ihre Natur ist fur Seneca Bestandteil des Reiches der Kunst, die auch die übrige Natur erforschen kann, um sie sich zu unterwerfen. Nur handelt es sich hier nicht um seltene Fischsorten, um Schnee, der gepreßt, um Holz, das gerodet und mit Gold getäfelt wird, um Naturobjekte also, die für die Zwecke des Kaiserhauses erforscht und zugerichtet werden, sondern um den Menschen selbst, der dem artifziellen Herrschaftsvertrag und seiner äußerlich starren Ordnung erhalten bleiben soll. An der „Erhaltung etablierter Macht", in der Speilerberg das grundlegende Thema der römischen Trauerspiele erkennt,464 ist Seneca, der kuriose Erforscher der menschlichen Natur, im besonderen Maße beteiligt. Zu einseitig argumentiert Plume, Seneca sei „ohnehin als Gegner Agrippinas" eingeführt:465 Er nimmt sich immerhin vor, nach bestem Wissen sein Urteil zu fallen. Obgleich Seneca scheinbar zu Beginn die sanfte Lösung wählt, verstößt er durch sein Vorgehen schon am Anfang des Dramas gegen die Regeln der Sanftmut, was schließlich zur Katastrophe führt. Der Verstoß besteht darin, daß er sein Objekt erforschen will, zu inquisitorischen Maßnahmen greift, um den Freispruch von der Schuld rechtfertigen zu können. Wie ist nun sein Handeln vor dem Hintergrund der Theorie der dementia einzuordnen? Senecas Wille, Agrippina als Untersuchungsobjekt in das Reich der erforschbaren Natur einzugliedern, gründet sich scheinbar auf seine Empörung über das mögliche Ansinnen, daß eine Mutter ihren Sohn umbringen wolle. Dies kommt ihm „unglaublich" (I. 222) vor; dennoch nicht so unglaublich, daß er die verstärkte Bewachung Neros als unnötig beurteilt (vgl. I. 223f.). Er hält die Planung eines Attentats nicht für unwahrscheinlich, 463 464

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Vgl. oben, S. 258. Spellerberg: Verhängnis und Geschichte, S. 167. Die „Erhaltung etablierter Macht" als das erste Thema der römischen Dramen resultiert nach Spellerberg aus „der Phase der Verhängnisentfaltung, die derjenigen der Afrikanischen Trauerspiele genau entgegengesetzt" sei; in der Agrippina stehe Nero „im Zenith, der ihm vom Verhängnis zugesprochenen Machtstellung"; indem er sich „in tatsächlicher Übereinstimmung mit dem Verhängnis" befinde, könne er seine Position gegen alle Anfechtungen behaupten (ebd.). Die Funktion des Verhängnisses in der Agrippina soll hier nicht weiter diskutiert werden. Nur soviel sei angemerkt, daß es im Vergleich zur Cleopatra weder in den Reyen noch in der Figurenrede deutlich evoziert wird; es ist kein Bestandteil eines künstlichen Konsenses, über den sich Sieger und Unterworfene anscheinend einigen. Vgl. oben, S. 215-219. Plume: Heroinen in der Geschlechterordnung, S. 233.

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warnt aber vor voreiliger Rache. Nero gibt sich den Gestus des sanftmütigen Herrschers, der nun das Opfer seiner Güte geworden sei. Er klagt darüber, er sei „zu gutt" (I. 208) und „gar zu blind" (I. 209) gewesen, da er seine Mutter nicht schon längst verstoßen habe. Seine „grimme Gnad" (I. 213) werde nun sein „Hencker" (I. 214). Seneca rät dem aufgebrachten Kaiser zur temperantia und warnt vor dem Mißbrauch der Macht.466 Nicht nur das Leben Agrippinas, sondern auch das seines Freundes Burrus steht auf dem Spiel.467 Der Kayser wird hierdurch sich schädlich übereilen. Die Mutter unverhört / den Bluttsfreund aus Verdacht Zu tödten / ist ein Werck zu sehr mißbrauchter Macht. (Agr. 1. 232-234)

Das negative Bild, vor dem sich Nero positiv abheben soll, ist der Tyrann in De dementia, der durch allzu große Furcht regiert.468 Dennoch ist es keineswegs in nuce das Programm von De dementia, das Seneca im weiteren verfolgt, verlangt er doch nach absoluter Gewißheit, um ein Risiko zu verhindern. Bevor man weiteres entscheide, solle man die Sache genau untersuchen: „Man prüf / eh als man schleust / wo Zeug und Klag herrühret" (I. 240). Nicht nur die Ankläger, auch die Mutter müßten zur Rede gestellt werden: „Wer Frembd' und Kläger hört / gönnt auch der Mutter Ohren" (I. 243). Um mit ihr unter vier Augen und noch bevor weitere Dinge in Gang gesetzt werden reden zu können, empfiehlt er, in der Frühe in ihre Gemächer einzudringen: „Man dring / eh als ein Mensch erwacht / ins Zimmer ein" (I. 245). Nero heißt den Vorschlag gut, Seneca möge mit Burrus „durchforschen" (I. 281), was Agrippina im Sinn habe.469 Die Worte prüfen, eindringen und durchforschen lassen Agrippina zum Objekt der Untersuchung werden und stellen sie auf gleiche Ebene mit der übrigen materiellen Natur, die, in den Bereich des künstlerischen Schaffens 466

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Die Betonung der ehemaligen Güte gehört wie im Falle Leos zur Bestätigung des Selbstbildes; vgl. oben, S. 62. Die Selbstsuggestion lenkt den Verdacht eines eventuell berechtigten oder nachvollziehbaren Attentats weit von sich. Seneca leistet durch sein Einlenken und durch seine Bedachtsamkeit diesem Selbstbild Unterstützung und schmeichelt auf diese Weise dem Kaiser. Die Schmeichelei ist ein Nebeneffekt seines Willens, durch Erforschen die Wahrheit herauszufinden. Nero zürnt nicht nur Agrippina, sondern verdächtigt auch Burrus der Mittäterschaft (vgl. I. 228-231). Seneca ist selbstverständlich bestrebt, mit Agrippina auch diesen zu schützen, und warnt vor gefährlichen Folgen im Falle seiner Absetzung „ohne Schuld" (I. 235). Die Verteidigung des Freundes und engen Vertrauten ist nicht selbstlos. Mit Burrus' Absetzung oder Beseitigung würde auch seine eigene Vertrauensstellung beim Kaiser ins Wanken geraten. Vgl. oben, S. 257. Nero zeigt die typischen Eigenschaften des bewahrenden Herrschers, wie ihn Elias (Die höfische Gesellschaft) am Paradigma des absolutistischen Herrschers Ludwig XVI. geschildert hat. Die Untergebenen müssen beobachtet werden, weshalb überall in den Gängen und Gärten des Palastes vom König Beauftragte herumstreifen, um Neuigkeiten zu erfahren und dann Bericht zu erstatten (vgl. S. 196).

276 und Gestaltens aufgenommen, nichts mehr von ihrer Unberührtheit zu erkennen gibt. Der Zeitpunkt fur die Überprüfung entspricht zwar dem Taciteischen Bericht, erhält aber im Drama einen besonderen Sinn.470 Um mit der Kaiserinmutter, die sich offenbar in Hausarrest befindet, 471 unter vier Augen sprechen zu können, ist es notwendig, sie vor dem ,Lever', nach römischen Maßstäben bereits vor fünf Uhr morgens, 472 anzutreffen, ehe sie ihre Vertrauten um sich schart. Die Wahl der Zeit birgt in sich aber noch einen weiteren Sinn: Die Kaiserin soll möglichst,ungeschminkt' gesprochen werden, bevor eine Schar von Sklavinnen in das Schlafzimmer strömt, die bei der Morgentoilette behilflich sind: die römischen ornatrices, die ihr helfen, sich bis zur äußerlichen Unkenntlichkeit zu schminken, anzukleiden, zu frisieren und die verschiedenen Geschmeide anzulegen. 473 Die Dramenfigur Seneca distanziert sich durch ein solches prüfendes Verhältnis zu Agrippina schon im Vorfeld vom Ideal der dementia. Diejenige Kunst, dementia auszuüben und milde und schonend Umgang mit den Menschen zu pflegen (vgl. De dem. 1. 17 1), sieht davon ab, den Mildeempfangenden vorher zu durchforschen und die Entscheidung abzusichern. Eine Sache zu prüfen und zu erforschen, fallt nämlich in den Bereich der iustitia, des geschriebenen Gesetzes, dem es darauf ankommt, die richtige Strafe zu finden.

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Tacitus berichtet, daß das Verhör in den Morgenstunden stattgefunden habe, um nichts zu überstürzen (vgl. Ann. 14. 20). Im Gespräch mit Oktavia klagt Agrippina, daß sie „gleichsam [...] im Kerker leben" müsse (I. 284), „bey aller Welt mehr als vergessen" sei (I. 286), kein Freund die Schwelle betrete und niemand an die Tür klopfe (vgl. I. 287). Gillespie (Daniel Casper von Lohenstein's Historical Tragedies) bemerkt dazu treffend, daß Agrippina von Anfang an „the role of a caged animal desiring freedom" spielt (S. 60). Im übrigen entspricht auch diese Schilderung dem Bericht des Tacitus. Nach dem Mord an Britannicus soll Nero seiner Mutter, die sich enger an Oktavia anschloß und offenbar Verbündete suchte, einen eigenen Palast zugewiesen haben, um Besuche einflußreicher Höflinge zu unterbinden (vgl. Ann. 13. 18). In Rom war es Sitte, sehr früh aufzustehen und bei Tagesanbruch mit der Arbeit zu beginnen. Dies betrifft nicht nur die ärmere Bevölkerung. Von vielen Dichtern ist bekannt, daß sie bereits vor Morgengrauen begannen, bei Kerzenschein zu arbeiten. Die Kaiser empfingen schon in den frühen Morgenstunden. Vgl. Jerome Carcopino: Das Alltagsleben im alten Rom zur Blütezeit des Kaisertums. Wiesbaden 1950, S. 240. Auch die einflußreichen Damen am Hof zelebrierten den Morgenempfang. Angeblich soll Nero ab dem Jahre 55 Agrippina diese Sitte verboten haben, wahrscheinlich, weil sie zu mächtig wurde (vgl. Anm. 471). Das morgendliche Zeremoniell der Kaiserzeit findet sich in Ansätzen im französischen Hofleben Ludwigs XIV. wieder, der allerdings erst ab acht Uhr morgens, bereits mit Perücke im Bette liegend, seine ersten Entrees empfing. Vgl. Elias: Die höfische Gesellschaft, S. 126f. Das Schlafzimmer als das Zentrum der Macht lag bezeichnenderweise in der Mitte des Hofes. Carcopino (Das Alltagsleben im alten Rom zur Blütezeit des Kaisertums) findet für die aufwendige Morgentoilette der römischen Damen folgende Worte: Die verschiedenen Büchsen mit Schminke „enthalten das Gesicht des Tages, das die römische Dame beim Aufstehen anlegt, nach dem Bade erneuert und erst am Abend vor dem Schlafengehen ablegt [...]" (S. 264f.).

277 Der Philosoph Seneca macht in seiner Schrift den Unterschied zwischen iustitia und dementia, der darin liege, daß es im Sinne der ersteren die Pflicht des Fürsten und Richters sei, die Wahrheit nach allen Seiten zu erforschen, im Sinne der letzteren aber, von einer sub formula berechtigten Maßnahme abzusehen: Supervacuum est hoc loco admonere, ne facile credat, ut verum excutiat, ut innocentiae faveat et, ut adpareat, non minorem agi rem periclitantis quam iudicis sciat; hoc enim ad iustitiam, non ad clementiam pertinet; nunc illum hortamur, ut manifeste laesus animum in potestate habeat et poenam, si tuto poterit, donet, si minus, temperet longeque sit in suis quam in alienis iniuriis exorabilior. (De clem. 1. 20. 2)

Die Dramenfigur Seneca verlegt offenbar den Konflikt in den Bereich der iustitia, bezieht ihn also gar nicht auf die Konzeption der Milde. Ausschlaggebend ist das verum excutere, was sich im Dramentext in den oben angeführten Worten prüfen, eindringen und durchforschen wiederfindet. Der entscheidende Punkt ist folgender: Es geht Seneca nicht darum, Agrippina, wie es Nero tut, als rechtmäßig Verdächtigte anzusehen, die entweder zum Tode verurteilt oder der verziehen werden müsse. Letzteres würde auch bedeuten, ein gewisses Risiko und eine Unsicherheit einzugehen. 474 Sondern er setzt einen Zweifel voraus mit dem Anspruch, diesen zu beheben. Ziel ist das Ideal der absoluten Gewißheit. Dabei verfahrt er gemäß der konventionellen Iurisprudenz. Versucht man nun, sein Handeln in der Theorie über die Wissenschaften und Künste des Philosophen Seneca zu verorten, so müßte er als neugieriger und wissenshungriger Wissenschaftler gelten, der streng methodisch vorgeht. Die Iurisprudenz hat, denkt man zurück an Senecas 88. Brief, mit der Mathematik und der Geometrie die messende Methode gemeinsam (vgl. Ep. 88. 12).475 Aus dem Kanon dieser Wissenschaften nehmen sich aber die Tugenden, so auch die dementia, aufgrund ihres ganz anderen Wissenscharakters aus.476 Auf der Folie der Senecaischen Schriften wäre der Seneca im Drama der Typ des kuriosen, exakt vorgehen-

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In der oben zitierten Textstelle betont Seneca zwar, daß man dementia nur dann walten lassen solle, wenn man es im Sicheren tun könne, jedoch kann damit nicht gemeint sein, daß man sich des Ausgangs immer sicher sein muß. Die gesamte Diskussion für und wider die dementia ist meines Erachtens gerade deshalb so brisant, da man den Mildeempfangenden in die Freiheit entläßt, das Vertrauensangebot anzunehmen oder es auszunutzen. Es ist bereits daraufhin hingewiesen worden, daß es sich beim Mildeleisten und Mildeempfangen um dieses Problem des Verstehens handelt (vgl. oben, S. 253f.). Wenn hier von der Gefahrlosigkeit des Mildeleistens gesprochen wird, so meint dies den idealen Fall, von dem man ausgehen sollte. Selbstverständlich sollte ein Herrscher immer nur dann Milde leisten, wenn er davon ausgehen kann, dies ohne Gefahr zu können. Strenggenommen kann er aber diesen Idealfall niemals voraussetzen, weswegen auch das Mildeleisten niemals möglich wäre. Daß die Mildeempfangenden die absolute potestas des Mächtigen völlig akzeptieren, ist ideale Bedingung für das Gelingen der dementia, deren Unwägbarkeit aber die Entscheidung fur oder wider so außerordentlich schwierig macht. Vgl. oben, S. 260. Vgl. oben, ebd.

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den Wissenschaftlers, der Fakten sammelt, Vielwisserei betreibt und sub formula urteilt. Wie ist sein Verhalten im Rahmen der philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Tendenzen des 17. Jahrhunderts zu bewerten? (II) Lohenstein konstruiert im Vorfeld der eigentlichen Katastrophe abweichend von den Einzelheiten der historischen Quellen eine Situation, in der Seneca der Zweifelnde ist, der nach Wahrheit sucht.477 Diese Änderung oder Ergänzung gegenüber der von Tacitus erzählten Geschichte ist außerordentlich wichtig. Asmuth bemerkt treffend, daß Tacitus den Vorfall für Agrippina vorteilhaft darstelle,478 während im Drama die entscheidende Eingangsszene das „Zwielicht der Ungewißheit" über dem Geschehen ausbreite und die Atmosphäre des Dramas fortan präge.479 Die Ungewißheit und der Zweifel sind im Kontext der frühneuzeitlichen Philosophie und des Wissensideals von Belang. Der Seneca im Drama trägt Züge des cartesianisch Zweifelnden, der mit Hilfe von Faktensammeln durch den reflektierten Gebrauch der Sinne, immer gegenwärtig, getäuscht werden zu können, nach Wahrheit strebt und glaubt, diese erreichen zu können. Im folgenden sollen außer dem methodischen Zweifel noch weitere auffallende Parallelen zu Descartes aufgedeckt werden. Gleichwohl fehlt ein sicheres Zeugnis dafür, daß Lohenstein Descartes tatsächlich rezipiert hat. Allerdings ist davon auszugehen, daß dessen Gedankengut zur Abfassungszeit der Dramen längst in die Gelehrtenkreise Eingang gefunden hat. Für unsere Zwecke wird, abgesehen von der Haltung des Zweifels, Descartes' Postulat der Wahrscheinlichkeit ein besondere Rolle spielen. Der Einfluß der philosophischen auf die juristische Diskussion zeigt sich in dem Umstand, das der Primat der Wahrscheinlichkeit auch in der juristischen Urteilspraxis der Frühen Neuzeit, die Lohenstein bekannt gewesen sein dürfte, eine bedeutende Stellung erlangte.480 Wenn es auch unsicher ist, daß der Autor selbst Descartes' Schriften kannte,481 so könnte das Drama selbst ein Indiz in jedem Fall dafür sein, daß ihm die Ideen geläufig waren. Die Parallelen zur Cartesianischen Philosophie mögen dies bezeugen. Ein erster Hinweis auf Descartes ergibt sich nun in Senecas Zweifel, der zum einen an seiner eigenen bisherigen Meinung besteht, zum anderen an Agrippinas tatsächlicher Schuld. Seine ehemalige Auffassung, daß ein Anschlag der Mutter auf das eigene Kind nicht vorkommen könne, muß Seneca eventuell revidieren. Es gehört zur Methode der Cartesianischen Philo477

Bei Tacitus spielt Burrus die Hauptrolle. Er soll von Nero, der auch ihn der Verschwörung verdächtigt, beauftragt worden sein, Agrippina hinzurichten, falls er sie des Verbrechens Überfuhre. Vor allem Burrus versucht, Nero zu beschwichtigen und übernimmt sodann allein das Verhör Agrippinas. Seneca ist hier lediglich der passive Begleiter, der keine Entscheidungen fallt. Vgl. Ann. 13. 20f. 478 Vgl. Asmuth: Lohenstein und Tacitus, S. 30. 479 Ebd., S. 33. 480 Vgl. dazu Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 290-302. 481 Selbst diese sichere Kenntnis wäre noch keine Garantie dafür, daß Lohenstein Elemente Cartesianischer Philosophie literarisch umsetzt.

279 sophie, daß der Zweifel der Gewißheit vorausgeht. 482 Der Zweifel an dem bisherigen Glauben ist die erste Grundlage dafür, etwa Sicheres, „quid certi", finden zu können. 483 In methodischer Hinsicht besteht in Senecas Verhalten eine weitere Analogie zu Descartes' Philosophie: Indem Lohenstein ihn den Fall in den Bereich der konventionellen Rechtssprechung sub formula ziehen läßt, in den der iustitia, wie es in De dementia heißt, läßt er ihn sich im Bereich derjenigen Wissenschaften bewegen, die durch die Methode des Messens, der geometrischen Methode, ihre Erkenntnisse erlangen. Ist das metiri für den Philosophen Seneca das Verhalten der iurisconsulti ebenso wie das der Geometer und der Mathematiker, nicht aber das des sapiens, so gilt die geometrische Methode in der Frühen Neuzeit als das Ideal schlechthin, auch im Bereich der Moral und Ethik sichere Erkenntnisse zu erlangen. Wir erinnern uns an die Äußerung Descartes im Discours und in den Meditationes484, aber auch an das Diktum von Hobbes in De cive, die Moralphilosophen sollten die geometrische Methode zu ihrem Ideal machen. 485 Die Geometrie, für Descartes Voraussetzung für die sichere Erkenntnis, dient für Hobbes im Bereich des Rechts dem artifiziellen Kontraktualismus, in der Agrippina dem Erhalt der künstlichen Ordnung, die ihren äußeren Ausdruck darin findet, daß die natürliche Beziehung zwischen Mutter und Sohn zugunsten eines aufgeblähten luxuriösen Staatsapparates zerstört ist. Die Dramenfigur Seneca bedient durch die Methode des Prüfens und Erforschens die künstlichen Strukturen, die diesen Apparat durchziehen. Die unsichtbaren künstlichen Linien der Macht, die sich in dem Aufwand der äußerlich sichtbaren Kultur widerspiegeln und die nur durch Gewalt - man bedenke nur den Mord an Britannicus - noch Bestand haben, zu bewahren, ist das Ziel des occupatus Seneca im Drama. Zu diesem Zweck versucht er, durch die äußere Hülle der Agrippina zu blicken, sie gleichsam zu entkleiden. In dem provozierenden Auftritt mit Burrus in ihrem Gemach soll die curiositas der Wahrheit dienen. Hierbei geht es nicht um diejenige Wahrheit, die sich dem Betrachter auf einfache und einleuchtende Weise ergibt. Der Auftritt im Schlafzimmer und das inquisitorische Fragen tragen, wie auch das Verhör des Michael Baibus oder Leos Gang in den Kerker, Züge eines ,Arbeitscharakters' jenes Erkennens, das nach Blumenberg typisch ist für die neuzeitliche Wissenschaft. 486 Im Vergleich zu jener „nackten Wahrheit", 487 die der Anblick unberührter Na-

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Vgl. Brenner: Montaigne oder Descartes? Die Anfänge der Neuzeit im Lichte einer Neuinterpretation, S. 349. Descartes: Meditationes. (Euvres. Bd. 7, S. 22.; zum genius malignus vgl. ebd. 484 Vgl. oben, S. 10. 485 Vgl. oben, S. 50. 486 Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. In: Archiv für Begriffsgeschichte 6, 1960, S. 7-145, hier S. 31. 487 Ebd., S. 49. Dieser Arbeitscharakter weist sich in der Frühen Neuzeit nicht nur durch eine bestimmte Methode aus, sondern auch durch die Organisation des Wissens in Gesell483

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tur leicht sichtbar macht, erreichen Seneca und Burrus offenbar nur mühsam und durch eine Reihe rhetorischer Fragen und Hinweise, daß Agrippinas Unschuld ihnen schließlich glaubhaft erscheint. Dabei gehen sie nach einer bestimmten Methode vor, indem sie Widerspruch provozieren, der am Ende nicht mehr nur bloße Verteidigungsrede ist, sondern des Anscheins der Wahrheit nicht entbehrt. In den anfanglichen Stichomythien treibt Burrus Agrippina mit Vorbedacht in die Enge. Die „Wahrheit" soll erpreßt werden, indem der von Seneca instruierte Burrus ihren Verrat an Nero als scheinbar fraglos evident voraussetzt. Gleich zu Beginn bezichtigt Burrus sie der „Verrätherey" (Agr. I. 353) und einer „Missethat" (I. 357). Sie solle ein „frey Bekäntnüs" (I. 361) abgeben und das, „was ihr Hertz Verräthrisches verdeckt" (I. 373), berichten, daß sie dem Plautus Ehe und Krone versprochen habe. Agrippina, das Untersuchungsobjekt im Experiment, wird durch eine Aussage gereizt, um sodann durch ihre Reaktion die Wahrheit zu ermitteln. Auf der Ebene des Sprechens leistet die Hauptarbeit des Erkennens zu Beginn Burrus, der auch weiterhin einen etwas größeren Redeanteil besitzt. Seneca ist hauptsächlich der Beobachter des Experiments, der am Ende urteilen soll. Das weitere Vorgehen nach der für Agrippina offenbar überraschenden Unterstellung eines Anschlags ist leicht einsehbar. Die Namen der möglichen Zeugen werden nacheinander aufgezählt, die Beweisdokumente gelesen, etwas gehört haben oder gar eingeweiht gewesen sein sollen (vgl. I. 383, 393, 408f.). Agrippinas Verteidigungsrede basiert von Beginn an stringent auf derselben Strategie. Sie, „caught in the same unnatural, political net as her son",488 weiß wohl, welches Argument am überzeugendsten ihre Unschuld beglaubigen könnte und beruft sich auf die natürliche Bindung zwischen Mutter und Sohn, auf das „recht Mutter-Hertze" (I. 387) und die „MutterLiebe" (I. 425), die einen Anschlag auf den eigenen Sohn nicht zulasse. Sie fordert Seneca und Burrus auf, zu urteilen:489 „Nun urtheilt / ob uns diß kan Kinder-Mord anbrennen" (I. 399).490

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Schäften (vgl. oben, S. 43.). .Arbeit' ist das Erkennen schon bei Piaton, verbildlicht durch das Höhlengleichnis. Auch dort kann keine Rede davon sein, daß sich die Wahrheit leicht ergibt. Die Schatten, die die Sinne des menschlichen Geistes trügen, fordern zur Arbeit auf, hinter die Erscheinungen zu blicken. Die platonischen Schatten finden sich wieder in Descartes genius malignus. Vgl. dazu ders.: Höhlenausgänge. Frankfurt am Main 1996, S. 427f. Gillespie: Daniel Casper von Lohenstein's Historical Fate, S. 60. Im A u f b a u der Verteidigungsrede folgt Lohenstein Tacitus, bei dem das Argument der Mutterliebe ebenfalls als erstes genannt wird (vgl. Ann. 13. 21). In der Quelle handelt es sich allerdings um einen Monolog Agrippinas. Man könnte überlegen, ob sich die Aufforderung zu urteilen, auch an die Zuschauer richtet und als ein Element forensischer Rhetorik zu begreifen ist. Zu einer solchen Funktion dieser Aufforderung in Vorreden und Widmungen Lohensteins vgl. Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 266f. Überzeugend ist jedenfalls Wicherts

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Liest man die Szene weiter auf der Folie Cartesianischer Methode, so folgt nach Senecas Zweifel an der Möglichkeit des Sohnesmordes nun der zweite Schritt, das richtige Urteil zu fallen, die „facultas verum judicandi" auszuschöpfen. 491 Beide Ratgeber bleiben zunächst skeptisch. Die „Schutzred", so Burrus, sei „was scheinbar [...] gestellt" (I. 401), vielleicht aber überzeugend, wenn ihr Schein die „Farbe" (I. 402) halte. Ebensowenig scheint Seneca der Berufung auf die Natur zu trauen: Der rechte Stamm verdorrt wo frembde Räuber stehn. So muß die Mutter-Hold auch eignen Kinder fehlen / Die Ehrsucht an sich zeucht und neue Buhler stehlen. (Agr. I. 430-432)

Zu dem Argument, daß die natürliche Mutter-Sohn-Bindung einen Kindesmord ausschließe, bringt Agrippina politische Überlegungen ins Spiel. Schlagkräftig ist ihr Hinweis, daß sie es selbst gewesen sei, die jahrelang Mühe darauf verwendet habe, Nero auf den Thron zu bringen, nicht zuletzt, um sich auch selbst von der Bürde des Herrschens zu befreien (vgl. I. 449f). Außerdem gebe es offenbar, außer den Verleumdern, keine Beweise dafür, daß sie einflußreiche Institutionen wie das Heer auf ihre Seite gebracht oder sogar außenpolitisch gegen Nero agiert habe (vgl. I. 457f., 461). Überzeugend scheint außerdem ihr Hinweis, daß sie ihre Stellung nicht verbessere, wenn Rubellius Plautus Kaiser würde, Britannicus hingegen hätte ihr genützt, dieser aber sei tot (vgl. I. 4 6 7 ^ 7 3 ) . Am Ende fuhrt sie noch einmal die Mutterliebe an (vgl. I. 480, 486). Agrippinas klug aufgebaute Argumentation verfehlt ihre Wirkung nicht. Tacitus zufolge waren die Zuhörer ,ergriffen' (Ann. 13.21). Im Drama scheint diese Gemütsbewegung höchstens auf Burrus zuzutreffen, der Agrippinas „wahre Tugend" (Agr. I. 496) preist. Asmuth erkennt sehr richtig, daß bei Tacitus der Verdacht gegen sie „ausgeräumt" erscheine, 492 wohingegen der „Putschverdacht" bei Lohenstein „nicht ausdrücklich widerrufen" werde. 493 Seneca urteilt kühler als Burrus und erkennt offenbar die Berechnung in der Rede. Für ihn handelt es sich bei dem Eindruck, den die Kaiserinmutter effektvoll und glaubhaft zu vermitteln sucht, lediglich um eine „Farbe", er spricht Agrippina aber vom Verdacht frei und fordert sie

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These, daß eine wesentliche Funktion von Lohensteins Dramen darin bestehe, dem Zuschauer die Gerichtspraxis wieder näher zu bringen und der „Entfremdung" (ebd., S. 303), die das Rechtwesen durch Verschriftlichung und durch die Verabschiedung des mittelalterlichen öffentlichen Urteilsverfahrens bewirke, entgegenzutreten (vgl. ebd., S. 313-317). Descartes: Meditationes. (Euvres. Bd. 7, S. 54. Das Vermögen, das Wahre zu erkennen, ist nach Descartes zwar von Gott verliehen, aber nicht unendlich, weil Gott selbst zwar vollkommen ist, aber das, was nur von ihm geschaffen ist, wesensmäßig nicht vollkommen sein kann (vgl. ebd., S. 60). Die Argumentation gehört zu Descartes' strittigem Gottesbeweis. Asmuth: Lohenstein und Tacitus, S. 31. Ebd.

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auf, den hinterlassenen Eindruck aufrechtzuerhalten, um den Kaiser nicht zu provozieren (I. 489). Einen substantiellen Wert stellt fur ihn Agrippinas Berufung auf die Natur nicht mehr dar; es geht ihm vor allem darum, daß sie ihre Funktion als Kaiserinmutter und letztlich als Untergebene einhält, wie es das Gesetz vorschreibt. Obgleich Seneca sub formula Agrippina vom Verdacht befreit, ist er sich wohl bewußt, daß sich die ,Farbe' wieder ändern kann. Die „Aura von Gefährlichkeit" bleibt erhalten.494 Was bedeutet es nun im Kontext Cartesianischer und Senecaischer Philosophie, so muß man fragen, daß Seneca, offenbar im Bewußtsein einer möglichen Täuschung, Agrippina dennoch vom Verdacht entlastet? Das Urteilen gemäß den Sinnen steht zwar dann im Widerspruch zur Cartesianischen Methode und zur Senecaischen Erkenntnistheorie, wenn eine Täuschung zu erwarten ist, suggeriert aber die Möglichkeit, sein Objekt der Untersuchung zu beherrschen. Das entlastende Urteil ist also, so soll im folgenden deutlich werden, vor allem Ausdruck fur diese Zuversicht und für eine handlungsorientierte Haltung, die sich aber nicht mehr an der unberührten Natur auszurichten trachtet, sondern an den Erscheinungen. Da Seneca seine Urteile so offensichtlich aufgrund seiner sinnlichen Eindrücke fällt, ist sein Verhalten auf den ersten Blick nicht mehr mit der Cartesianischen Methodenlehre zu vereinbaren. Die Veränderbarkeit und Unberechenbarkeit der sinnlichen Eindrücke verdeutlicht Descartes in seinen Meditationes am Beispiel des Wachses. Betrachtet man es, so kann man offenbar seine ausgedehnten Qualitäten, Farbe, Gestalt und Größe, leicht und deutlich erkennen.495 Gerät dieser aber in die Nähe eines Feuers, verändern sich die Eindrücke, die mit den Sinnen wahrnehmbar sind, da sie lediglich verschiedene Zustandsweisen präsentieren.496 Farbe, Form und Geruch wandeln sich. Eine sichere Auffassung des eigentlich seienden Körpers vermag weder das Sehen noch das Berühren oder die sinnliche Vorstellung zu vermitteln, sondern allein der geistige Einlick, „solius mentis inspectio", der von den sinnlichen Eindrücken abstrahieren kann 497 Wie das Wachs nun sein eigentliches Wesen unter den äußeren Formen verhüllt, verbergen sich die Menschen unter ihren Hüten und Kleidern, so daß strenggenommen von dem Anblick nicht einmal auf die Existenz des Menschen unter ihnen geschlossen werden kann 498 Um diesen klar erkennen zu können, müßte man ihn der äußeren Hülle entkleiden, wie das Wachs von seiner äußeren Form. Dies ist aber nur durch einen rein geistigen Einblick möglich.499

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Asmuth: Lohenstein und Tacitus, S. 33. Senecas Reaktion stützt Asmuths These, daß Agrippina zwar „gefährlich" wirke, aber die Bedrohung, die von ihr ausgehe, kaum „konkret faßbar" sei (ebd., S. 32). Vgl. Descartes: Meditationes. (Euvres. Bd. 7, S. 30. Vgl. ebd. Ebd., S. 31. Ebd., S. 32. Ebd.

283 „A solo intellectu", nicht durch die Sinne oder die Einbildungskraft werden die Dinge richtig wahrgenommen. 500 Seneca im aber Drama richtet sein Urteil an den Sinnen aus, die eine künstlich hergestellte Welt wahrnehmen, und setzt sich so in Widerspruch auch zur Philosophie des historischen Seneca. Von den sinnlichen Eindrükken zu abstrahieren und hinter die Erscheinungen einer bloß künstlichen Welt zu blicken, um das Wahre zu erkennen, ist die Programmatik sowohl der Cartesianischen als auch der Senecaischen Philosophie. Ein wesentlicher Unterschied zu Descartes' Methode besteht aber darin, daß für die Senecaische Kulturphilosophie der sinnliche Eindruck unberührter Natur unverzichtbare Voraussetzung für die Erkenntnis der Wahrheit ist. Dieser bietet sich aber im Drama dem Blick nicht mehr dar, die künstliche Welt verstellt offenbar den Zugang zu der Welt der Vorstellungen, die Analogien bilden können. Seneca im Drama ist mit seinen Sinnen an die Welt ausgeliefert, die er handelnd beherrschen muß. So fallt auf, daß die Dramenfigur Seneca im Vergleich zu der Erkenntnistheorie des Philosophen Seneca eine erkenntnispraktische Haltung an den Tag legt. Methodisch verzichtet der kaiserliche Berater darauf, über den Bereich der Erscheinungen hinauszublicken, um überhaupt handlungsfähig zu sein. Er handelt zweckorientiert auf der Grundlage dessen, was ihm erscheint, da dies ihm auf mehr oder weniger zuverlässige Weise diejenige Welt repräsentiert, die er selbst mitgestaltet hat. Der „uralte theoretische Vorrang des Seins und der Wahrheit vor der bloßen Erscheinung" 501 ist für sein Denken nicht maßgeblich. Senecas Verhalten ist ein Plädoyer für den Wert der Erscheinung im allgemeinen. 502 Aus Senecaisch-philosophischer Perspektive ist dies deshalb problematisch, da es sich nicht um natürliche' Erscheinungen handelt, aufgrund

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Ebd., S. 34. Arendt: Vom Leben des Geistes. Bd 1, S. 34. Arendt (ebd.) spicht über den positiven Wert der Erscheinungen aus idealistischer Perspektive. Als einen Grund fur die Bedeutsamkeit der Erscheinungen nennt sie die ständige Wandelbarkeit des inneren Lebens. Es könne zwar sein, daß ein Heuchler uns täusche. „Doch was dann unter einer täuschenden Oberfläche hervorkommt, ist nicht ein inneres Selbst, eine eigentliche Erscheinung, die in ihrem Da-Sein unveränderlich und verläßlich wäre. Die Aufdeckung zerstört die Täuschung; sie fuhrt aber zu nichts eigentlich Erscheinendem. Ein ,inneres Selbst', wenn es das überhaupt gibt, erscheint weder dem inneren noch dem äußeren Sinne, denn die inneren Daten besitzen keinerlei dauerhaftere Eigenschaften, wie sie mit ihrer Erkennbarkeit und Identifizierbarkeit die individuelle Erscheinung kennzeichnen [...]; alles, was wir kennen, sind innere Empfindungen, deren unermüdlicher Fluß es nicht zuläßt, daß irgendeine von ihnen dauerhafte, erkennbare Gestalt annimmt [...]. Unsere inneren Empfindungen zeichnen sich gerade dadurch aus, daß sie keinerlei Form und daher keine Möglichkeit einer Anschauung aufweisen" (vgl. S. 49; vgl. oben, S. 140, Anm. 511. Senecas praxisorientierte Haltung im Drama macht sich eine solche Auffassung von der menschlichen Natur zu eigen. Er klagt nämlich nicht in barocker Attitüde über die bloße Erscheinungshaftigkeit der Welt, sondern nimmt sie als Konstante des Daseins.

284 deren der dramatische Seneca urteilt, sondern um Produkte einer Kunstwelt. Als ein solches gilt auch Agrippina. Dem reinen Denken in Analogien, das der Abstraktion von den sinnlichen Eindrücken der Kunst folgen oder sie ersetzen müßte, wird kein Wert zugemessen. Die oberflächlichen Eindrücke sind zu übermächtig, der Grund, der sich hinter den Erscheinungen verbergen könnte, nicht mehr zu erkennen. Die reine Natur, im Senecaisch-philosophischen Denken Vermittlerin des Göttlichen, ist verschwunden. Agrippinas Berufung auf die Natur (vgl. Agr. I. 430-432) verblaßt so zu einem Argument, das seinen Nutzen darin findet, den äußeren Eindruck der Funktionsfähigkeit zu bestätigen. Senecas Reduktion der Natur auf einen Begriff, der rhetorisch eingesetzt in der persuasiven Rede dazu dient, lediglich eine bestimmte, im Prinzip aber ständig wechselbare, ,Farbe' des Verhaltens künstlerisch mitzugestalten (vgl. I. 489), die als Orientierung iur das Handeln genommen wird, bedeutet die Verabschiedung der Natur, wie sie der Philosoph Seneca gedacht hat, als eines dauernden substantiellen Wertes. Seinen bildlichen Ausdruck findet dieser Verlust in der Eingangsszene des Dramas, in der Othos Rede die künstliche aber funktionierende Welt vor Augen fuhrt. Weder Descartes' Prinzip des solo intellectu noch das verwandte analogische Denken des Philosophen Seneca und dessen Anspruch, die reine Natur hinter den künstlichen Eindrücken zu erkennen bzw. als leitende Instanz fur das Handeln zu nehmen, ist ausschlaggebend fur Senecas Entscheidung im Drama, sondern die Erscheinung an sich. Er ist als Typ des kuriosen Wissenschaftlers gezeichnet, der durch Faktensammeln ans Ziel gelangt ist und sich von der drückenden Aufgabe befreit hat, das Unsichtbare zu erforschen. Er folgt zwar einerseits der Cartesianischen Methode, in dem er den Zweifel an den Beginn seiner Untersuchung stellt, allerdings weicht er schließlich von dem Cartesianischen Ideal der Gewißheit ab, die sich nur durch Abstraktion von den Sinnen ergeben kann. Diese läuft nämlich Gefahr, in ständiger Reflexion verhaftet zu bleiben. Seneca aber im Drama strebt danach, seine Handlungsfähigkeit zu bewahren. Genau deshalb aber avanciert er zum cartesianischen maitre et possesseur de la nature, den der Discours de la methode fordert.503 Er macht die Sinne verantwortlich für seine Entscheidung und reduziert auf diese Weise Agrippina auf ihre reine Oberflächenstruktur, die sinnlich erfahrbar ist. Er gestaltet sie. Dem geometrischen Verfahren der Beweisführung durch Ableitung dient die oberflächliche Struktur, die den Sinnen erscheint, als Voraussetzung. Die Natur, die erforscht wird, reduziert sich in ihrem Gehalt auf den Wert ihrer Oberfläche. Für das praktische Handeln bedeutet eine solche Sichtweise auf die Natur eine Erleichterung, da sie leichter zugänglich und beherrschbar erscheint.

503

Vgl. oben, S. 10.

285 Daß der Mechanismus der Oberfläche funktioniert, ist der treibende Impuls für Senecas Verhalten, der handeln muß. Der Zwang zum Handeln und die Praxisorientiertheit der relativ schnellen Entscheidung beweisen, daß methodisch, trotz der oben angeführten Widersprüche, im Fortgang des Dramas weiter Parallelen zum Cartesianischen Denken zu finden sind. Der Anspruch des absolut sicheren Wissens ist schließlich ein Ideal und bei Descartes in einer philosophischen Theorie über das Bewußtsein verortet. Daß zugunsten der Handlungsmöglichkeit auch Entscheidungen getroffen werden müssen, die auf unsicherem Fundament ruhen, hat Descartes aber in seine Überlegungen einbezogen und in seiner Konzeption der provisorischen Moral verarbeitet. Diese findet ihren bildlichen Ausdruck in der Erzählung vom Wanderer im Wald. Sie ist gleichzeitig einerseits Metapher für eine Verlorenheit des Menschen in der Natur, welche als Instanz der Handlungsorientierung abgedankt hat, andererseits für eine Form ganz anderer Beherrschung über diese. Im Drama findet sich in Senecas Entscheidung gegen die Sanftmut, nachdem der Schiffbruch gescheitert ist, als Prätext diese Erzählung aus Descartes Discours. Zunächst sei untersucht, wie sich Senecas zweite Entscheidung gegen die Sanftmut nach dem mißglückten Schiffbruch im Vorfeld verschiedenartig ankündigt, sodann seine Entscheidung vor der Folie von Descartes' provisorischer Moral zu betrachtet. Senecas erstes Urteil, Agrippina von der Schuld loszusprechen, kommt Neros Selbstbild entgegen. Der enkomiastische Ton am Beginn von De dementia sei, so gibt der Kaiser zu verstehen, gerechtfertigt. Obgleich auch er die Gesetze der Natur am Hof grundsätzlich außer Kraft gesetzt sieht, gibt er großmütig seiner Hoffnung Ausdruck, daß die eigene Mutter nicht dem Laster der „Ehrsucht" (I. 576) verfallen werde. Er jedenfalls gehe die „Bahn der reinen Sanfftmuth" (I. 574f.). Nicht eine handfeste politische Intrige von Seiten der Mutter, sondern vor allem die Leidenschaft zu Sabina Poppaea treibt ihn schließlich dazu, sein Urteil zurückzunehmen.504 Neros folgende Worte beinhalten eine zukunftsgewisse Vorausdeutung auf den Muttermord. Bezeichnenderweise kündigt eine Metapher aus dem Bereich der Natur den baldigen Bruch des stoisch-christlichen Naturrechts durch das Attentat auf Agrippina an. Offiziell begründet der Kaiser sein Vorgehen politisch: Der sanfte Weg habe geschadet und mache nun die Verletzung der natürlichen Ordnung unumgänglich, um den Staat zu erhalten. Denn die Mutter trachte ihm nach dem Leben. Der eigentliche Grund ist freilich, daß sie ihm die Verbindung mit Sabina untersagt; ihr Tod ist Voraussetzung für die Scheidung von Oktavia:

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Die Affare mit Sabina Poppaea entwickelte sich Tacitus zufolge über Jahre, Lohenstein rafft sie zeitlich in einer einzigen Szene zusammen. Vgl. Asmuth: Lohenstein und Tacitus, S. 2 0 - 2 3 .

286 Wir sehn / j e sanfter wir der giftgen Natter pflegen / Je schärffer sticht sie uns. Man schätzet für Gewien Die Wurtzeln / die den Safft den Stämmen selbst entziehn / Die Mutter die ihr Kind selbst tödtet / zu vertilgen. Wir rotten Disteln aus und pflantzen edle Lilgen. (Agr. II. 156-160).

Neros Worte suggerieren die Einsicht, daß die dementia nicht, wie sie ideell in der philosophischen Schrift konzipiert war, dazu dient, das Gesetz der Natur umzusetzen, sondern daß sie Chaos produziert und keine wirksame Alternative zur Gewalt darstellt. Nicht nur Neros Worte, sondern auch Senecas Rolle in der Beratungsszene mit Agrippina und Oktavia kündigen den Ausgang des Geschehens an. Dabei verwendet Seneca den Begriff der Sanftmut so, daß auf seine weitere Einstellung gegenüber dieser Tugend in gewisser Hinsicht geschlossen werden kann. Im Vorfeld der Katastrophe ist Seneca selbst ungewollt die treibende Kraft und spielt eine Rolle, die ihm keine Ehre macht. Um die Affäre mit Sabina Poppaea zu unterbinden, rät er Oktavia, der „Sanftmuth Zucker" (II. 271) zu verwenden, Nero sexuell mehr an sich zu binden, und nicht ihrer Eifersucht auf Sabina nachzugeben. 505 Um den status quo zu erhalten, ist die Sanftmut in einer solchen Auslegung Element des prudentistischen Kalküls, Unrecht zu verschleiern: „Man muß den Fürsten oft was durch die Finger sehn" (II. 277).50 Daß die stoisch-christliche Tugend der dementia in Senecas Munde ihre ursprüngliche Bedeutung verliert, nicht mehr nur dem Kanon fürstlicher Tugenden angehört, sondern als probates Mittel der sexuellen Verfuhrung des Fürsten empfohlen wird, ist sicher nicht zufallig, 507 weist der beliebige

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Wiehert (Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert) bemerkt, daß Seneca in der ganzen Szene Nero vor den beiden Frauen in Schutz nehme. Diese Beobachtung ist zweifellos richtig, zu diskutieren wäre aber, ob er tatsächlich deshalb schon hier, ebenso wie etwa Poppaea und Paris, „mitverantwortlich" an Agrippinas Tod ist (S. 431). Wiehert wertet die Szene als poetische Reflexion auf Lohensteins Schrift De voluntate und die dort aufgestellte Theorie über die voluntas indirecta und die Mitschuld an einem Verbrechen. Bei diesen Worten Senecas scheint es sich um eine fast wörtlich Wiedergabe der Einsicht Papinians zu handeln, die er kurz vor seinem Tod im Gespräch mit seinem Vater verlauten läßt (vgl. Pap. V. 119). Die Funktionalisierung der Sanftmut, um Unrecht zu decken oder unlautere Ziele zu erreichen, kann auch in den schon besprochenen Dramen deutlich beobachtet werden So rät etwa Hostilius seinem Sohn, Bassian nachzugeben, die Schrift aufzusetzen, die den Mord am Bruder beschönigen soll, und durch „Sanfftmut" (Pap. V. 102) den Zorn des Fürsten zu lindern. Als taktisches Mittel, um fragwürdige Ziele zu erreichen, wird sie nicht nur verwendet, sondern auch durchschaut. Sosius wertet die ehemalige „Sanfftmut" (Cleop. I. 242) des Oktavian, als er Antonius' Bruder in Perusia frei ließ, als „Schein zu seinem Ehren-Ruder" (I. 244). Später fordert Oktavian seine Berater auf, Cleopatra zu überlisten, indem sie „behuttsam sanfft und klug" (IV. 267) mit ihr verfahren. Ebenso entspringt Neros Sanftmut gegenüber Agrippina tatkischen Überlegungen. In der oben besprochenen Szene scheint die Degenerierung der dementia zu einem Element der Herr-

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Gebrauch des Begriffs an einer Nahtstelle des Dramas durch Seneca selbst doch bereits daraufhin hin, daß diejenige dementia, wie sie philosophisch gedacht war, ihre Substanz verloren hat. Das Verhalten Senecas in der zweiten Entscheidungsszene nach dem Schiffbruch deutet sich bereits an. Löste Seneca während der ersten Entscheidungssuche die Ungewißheit auf, indem er zur Tat drang, nicht in Reflexion verharrte, dem Augenschein traute und auf Wahrheit verzichtete, verfahrt er methodisch beim zweiten Mal ähnlich, entscheidet sich aber anders. Die Verdächtigte hört er vorher nicht mehr an: „Ein wachsend Übel darf geschwinden Widerstand" (IV. 151). Da grausame Rache zu befurchten sei, empfiehlt er die sofortige Tötung: „Man tödte diesen Wurm eh als ers selber thut" (IV. 156). Die Kraft der Natur versage in diesem Fall: „Die Rache siht mit Lust auch Kinder-Köpffe blutten" (IV. 158, vgl. IV. 163-165). Das Töten auch ohne Ursache, gemäß der Wahrscheinlichkeit, ist notwendig, um den Staat zu erhaltenes Das Handeln gemäß der Wahrscheinlichkeit ist ein Erbe der antiken akademischen Skepsis, als deren Vertreter Cicero bereits genannt worden ist.509 Wiehert erläutert die juristische Praxis der Frühen Neuzeit und legt dar, wie Ciceros praktische „Wahrscheinlichkeitslogik" in die Disputationen im Arminius-Roman Eingang gefunden hat.510 Die Rechtspraxis setzte sich seit dem 16. Jahrhundert zunehmend mit dem Gedanken auseinander, daß in gewissen Fällen die Wahrheit nicht zu finden sei, und forderte ein undogmatisches wirklichkeitsbezogenes Urteilen.511 Dies bedeutete vor allem eine „Ethisierung der Rechtsprechung", die sich auch vor der Öffentlichkeit zu verantworten hatte.512 Die praktische Konsequenz aus der Einsicht, daß die Wahrheit nicht immer zweifelsfrei zu ermitteln ist, war das Urteilen gemäß der Wahrscheinlichkeit und offenbar der Grundsatz, daß im Zweifel für den Angeklagten geurteilt werden solle. Das „Ideal des juristischen wie politischen vorsichtigen Urteilens" auf der Grundlage des methodischen Zweifels, für das Lohenstein als Jurist in seinen literarischen Erzeugnissen ein „Plädoyer" halte,513 steht aber, so zeigt die Agrippina, genau dann auf dem Prüfstein, wenn es um eine schnelle Entscheidungsfindung geht. Gewiß ist der Primat der Wahrscheinlichkeit eine erkenntnistheoretische Konsequenz aus dem Skeptizimus. Das Resultat ist aber nicht immer ein

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513

schaftstechnik, der jedes Mittel recht ist, ihren Gipfelpunkt erreicht zu haben, vor allem daß sie als ein solches von Seneca selbst gutgeheißen wird. Vgl. oben, S. 246. Vgl. oben, S. 122. Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 294. Ebd., S. 297. Ebd., S. 299. Dazu gehört die Carolina, eine immer noch harte Prozeßordnung, aus der aber immerhin deutlich wird, daß man bestrebt war, Irrtümer und willkürliche Urteile auszuschließen. Vgl. ebd., S. 301. Ebd., S. 317.

288 Akt der humanitären Urteilsfindung, sondern eventuell auch das Gegenteil, etwa unter einem Entscheidungsdruck, unter dem Seneca im Drama steht. Das Ideal des humanitären Urteils hat sich an der Realität zu messen und muß unter Umständen aufgegeben werden. Die Humanisierung des Rechtswesens findet ihre Grenzen in der menschlichen Praxis dann, wenn vom Richter nicht nur vorsichtiges, sondern auch schnelles Urteilen gefragt ist. Ein eindrucksvolles Beispiel einer solchen Situation, in der Vorsicht, Umsicht und Reflexion tatsächlich dem Entscheidungsdruck zum Opfer fallen, bietet Descartes in seiner provisorischen Moral, die er im dritten Teil des Discours darlegt. Ihrer Konzeption liegt die Einsicht zugrunde, daß es Situationen gibt, in denen nicht zweifelsfrei die Wahrheit ermittelt werden kann, in denen Handeln aber notwendig ist. Die „moral par provision" hat Descartes nach eigenen Worten entworfen, um während der Zeit, in der er, nachdem er das alte Haus seiner Kenntnisse und seines Wissens abgerissen habe und dabei sei, ein neues zu bauen, bequem untergebracht zu sein.514 Die Metaphorik ist vielsagend: Es geht Descartes einmal mehr um Sicherheit, die trotz der beständigen Welterfahrung des Getäuschtwerdenkönnens den Erkenntnissuchenden begleiten, ihn handlungsfähig erhalten und gewährleisten soll, so glücklich zu leben.515 Daß Descartes eine solche Moral, ein Überlebensprogramm der Selbsterhaltung, entworfen hat, zeigt ein Bewußtsein dafür, daß moralische Probleme, in weit höherem Grade als naturwissenschaftliche, eben nicht immer zweifelsfrei gelöst werden können.516 In vier Punkten beschreibt er „einen Verhaltenskodex der Vorläufigkeit",517 und man könnte, neben dem geometrischen Verfahren, auch die darin aufgestellten Regeln zu seiner Methode zählen. Als zweiten Grundsatz nennt Descartes 518 möglichst fest und entschlossen zu handeln und auch zweifelhaften Ansichten so zu folgen, als ob sie wahr seien, ebenso wie der Wanderer im Wald möglichst einen bestimmten Weg gehen solle, auch wenn er diesen aus Zufall wählte, um schließlich irgendwohin zu kommen, wo es wahrscheinlich immer noch besser sei als mitten im Wald:

514 515 516

517 518

Descartes: Discours de la methode. (Euvres. Bd. 6, S. 22. Ebd. Eine wie auch immer geartete morale definitive hätte die Abgeschlossenheit der theoretischen Erkenntnis zur Voraussetzung. Die Vollendung aber muß ein Ideal bleiben, so daß auch eine endgültige Moral, die alle Umstände berücksichtigt und zu allen Zeiten gelten kann, unmöglich ist. Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 432. Der erste besagt, daß die Sitten und Traditionen des Vaterlandes geehrt werden sollen (vgl. Descartes: Discours de la methode. (Euvres. Bd. 6, S. 23). Der Vorsatz beweist, daß es Descartes nicht immer darum ging, alles in Frage zu stellen. Der dritte schreibt vor, nichts Unmögliches zu wünschen und zu wollen, der vierte, möglichst richtig zu urteilen, um richtig zu handeln (vgl. ebd., S. 25f.).

289 Ma seconde maxime estoit d'estre le plus ferme & le plus resolu en mes actions que ie pourrois, & de ne suivre pas moins constanment les opinions les plus douteuses, lorsque ie m'y serois une fois determine, que si elles eussent este tres assurees. Imitant en cecy les voyasgeurs qui, se trouvant esgarez en quelque forest, ne doivent pas errer en toumoyant, tantost d'un coste, tantost d'un autre, ny encore moins s'arester en une place, mais marcher tousiours le plus droit qu'ils peuvent vers un mesme coste, & ne le changer point pour les foibles raisons, encore que ce n'ait peutestre este au commencement que le hasard seul qui les ait determinez a le choisir: car, par ce moyen, s'ils ne vont iustement oil ils desirent, ils arriveront au moins a la fin quelque part, oü vraysemblablement ils seront mieux que dans le milieu d'une forest. 519

Ebenso wie der Wanderer im Wald sich für irgendeinen Weg entscheiden müsse, auch wenn er unsicher sei, ob es der richtige sei, 520 duldeten die Handlungen, die man im Leben zu fallen hätte, oft keine Verzögerung. Wenn wir die wahrsten Ansichten über die Dinge nicht erkennen könnten, müßten wir den wahrscheinlichsten folgen, „les plus probables".521 Die provisorische Moral wendet sich also - jenseits des Zweifels - gegen eine skeptische Einstellung, besonders dann, wenn sie zur Handlungsunfähigkeit führt.522 Der Preis, der für die Möglichkeit des Handelns gezahlt wird, ist aber unter Umständen der Verzicht auf Wahrheit: Die Entschlossenheit bei Descartes bedeutet, so Rod, „bei einer einmal gefaßten Entscheidung zu beharren in dem klaren Bewußtsein ihrer möglichen (aber im Augenblick subjektiv nicht feststellbaren) Falschheit."523 Auf den ersten Blick erscheint Descartes' zweite Maxime und seine praxisorientierte Anleitung zum Handeln wie eine Binsenweisheit und eine Alltagserfahrung. In gewissen Situationen aber erfährt sie eine Brisanz, spätestens dann, wenn es, wie im Drama, um Leben und Tod geht. Senecas Verhalten am Hof darf stellvertretend für den nach dem richtigen Weg suchenden Waldspaziergänger stehen. Die Analogie geht aber über diese rein formale Ähnlichkeit hinaus. Daß Descartes ausgerechnet dieses bekannte Bild aus der Natur wählt, könnte in seinem Ziel, die Natur zu erkennen, begründet sein. 524 Als Prätext ist dieses Bild für die Entscheidungsszene im Drama geeignet, um Senecas Handeln in Kontrast zu stellen

5 " Ebd., S. 24f. 520 Blumenberg (Höhlenausgänge) vergleicht die Situation des Wanderers im Wald mit dem Erkenntnissuchenden im Höhlengleichnis. Sei dort der Ausgang und der Weg bestimmt, gebe es für den Wanderer nur die „Gewißheit eines Ausgangs überhaupt", weil „alle Wälder endlich" seien (S. 432). Ob das Ziel dann erreicht ist, ist wiederum unsicher, während der Ausgang aus der Höhle sicher zur Erkenntnis fuhrt. Descartes' Wanderer kann nur hoffen, daß er außerhalb des Waldes einen sichereren und besseren Punkt findet, sich zu orientieren. 521 Descartes: Discours de la methode. (Euvres. Bd. 6, S. 25. 522 vgl. Brenner: Montaigne oder Descartes, S. 352. 523 Wolfgang Rod: Die innere Genesis des cartesianischen Systems. Basel 1964, S. 41. 524 Descartes betont aber in den Regulae (CEuvres. Bd. 10), daß in den Wissenschaften den bloß wahrscheinlichen Erkenntnissen kein Vertrauen geschenkt werden dürfe: „[...] rejicimus illas omnes probabiles tantüm cognitiones, nec nisi perfecte cognitis, & de quibus dubitari non potest, statuimus esse credendum" (S. 362).

290 zu der philosophischen Theorie des naturgemäßen Lebens, zu dem auch das Ausüben der dementia gehören würde. Gleich dem Wanderer im Wald hat Seneca die Orientierung in der Natur verloren. Wie der im Wald Verirrte versucht er, die Natur zu bezwingen, indem er sich, unter Verzicht auf Wahrheit, für einen Weg entscheidet. Das Dunkle und Bedrohliche des Waldes manifestiert sich in der Unentwirrbarkeit und Perversität der natürlichen' Verhältnisse am Hof. Die Natur dieses Waldes ist begrifflich jene, die die Anthropologien Hobbes' und Luthers voraussetzen. Sie ist wild, unberechenbar, undurchschaubar und gefährlich, wenn man den falschen Weg einschlägt. Bezwungen und beherrscht wird der Wald durch Entschlußkraft, indem man ihm das Gesetz des eigenen Weges aufzwingt. Es gibt keine andere Orientierungsmöglichkeit als die eigene Entschlossenheit. Die Natur ist eine andere als diejenige, die die Erkenntnistheorie des Philosophen Seneca voraussetzt. Sie ist einerseits, dies hat die Untersuchung zur Bildlichkeit ergeben, entstellt, andererseits auch in der Erinnerung, in der Vorstellung, nicht vorhanden. Was sich den Blicken darbietet, die durch Kunst veränderte und zerstörte Natur, ist an die Stelle jener göttlich und gütig verstandenen reinen Natur getreten. Sie leistet nicht Orientierung, sondern stiftet Verwirrung und drängt zu Entscheidungen, um der von ihr ausgehenden Gefahr Herr zu werden. Das Mittel der Beherrschung ist die Vernichtung. Auf der Folie des Gleichnisses vom Wanderer im Wald ist die Entschlossenheit zum Töten auch ein Versuch, sich aus jener denaturierten Welt, der Verworrenheit und der Ungewißheit ihrer Wege, zu befreien, freilich unter Verzicht auf Objektivität. Aus Senecas und Neros Pose vor Agrippinas Leiche spricht noch die Haltung des neugierigen Wissenschaftlers, der aus der Distanz, die sich durch Leben und Tod ergibt, das Schauspiel der vernichteten Natur als ,schön' (vgl. IV. 175) empfindet. Nicht zufällig weicht Lohenstein hier wiederum von der Taciteischen Quelle ab, indem er auch Seneca die Leiche bestaunen läßt.525 Im Bewußtsein, die Natur bezwungen zu haben, ergötzt er sich ganz unsenecaisch an den sinnlichen Erfahrungen, nicht der lebendigen und göttlich beseelten, sondern der toten Natur, dem „anmuttgen Dampf' (V. 176), und Nero an der „Eigenschaft der Wunden" (V. 177). Bezeichnenderweise erhebt einzig Burrus, der für die dementia plädierte, Einspruch; „grauen" (V. 178) solle man sich vor der zugerichteten Leiche. Im Gestus des Siegers jedoch befiehlt Nero: „Reicht uns ein Glaß mit Weine" (V. 201). 525

Tacitus läßt von einer Bewunderung Senecas für die Leiche nichts verlauten. Daß Nero den Anblick der toten Mutter gelobt habe, werde nur von einigen Berichten, so Tacitus, bestätigt (vgl. Ann. 14. 9). Vgl. auch Lohenstein: Römische Trauerspiele. Anmerkungen, S. 129f.

291

Der Weg, gegen den sich die Dramenfigur Seneca entscheidet, ist die Sanftmut, die Burrus vorschlägt und die der Philosoph Seneca theoretisch begründet hat. Würde sich Seneca im Drama für die Sanftmut aussprechen, dann gälte ein anderes Bild aus der unberührten Natur, das als Schluß dieses Kapitels erläutert sei. Das Bild des Bienenstaates wäre die erkenntnistheoretisch notwendige Analogie, die zur Praxis der dementia fuhren würde.

d) Verlorene Natur: Das

Bienengleichnis

Die Macht der ars verdrängt die Analogie aus dem Bereich der unberührten Natur, die in De dementia die These stützt, daß die Sanftmut eine naturgemäße Tugend sei. Das Gleichnis des monarchisch aufgebauten Bienenstaates, der als Vorbild für den von Menschen gebildeten Staat dienen soll, verdeutlicht die optimistische Anthropologie der Stoa, ohne daß mit diesem Bild definitiv der Monarchie der Vorzug über andere Staatsformen gegeben wäre.526 Zu beachten ist der aus dem Gleichnis zu ziehende Schluß, die Natur liefere selbst den Beweis dafür, daß auch in einer Monarchie die Güte naturgemäß sei. Der Vergleich des Bienenstaates mit der menschlichen Gemeinschaft geht auf Aristoteles zurück.527 Seneca kann für seine Zwecke auf das Gleichnis deshalb zurückgreifen, da die Stoa von einer allgemeinen, Menschen und Tiere gleichermaßen umfassenden Physis ausgeht.528 Eine zentrale biologisch-zoologische Annahme über die Bienen war zudem besonders geeignet, in ihnen nachahmenswerte Wesen zu erblicken: das Vorurteil, daß sie sich geschlechtslos fortpflanzten. Besondere Bewunderung erregte die Sitte der Bienen, so lesen wir bei Vergil, daß sie sich nicht der Begattung hingäben und dem Liebesgenuß frönten. Die Bienen sammelten ihre Kinder nämlich von den Blättern (vgl. Georg. 4. 197-201 f.).529 Diese irrtümliche Ansicht spricht Seneca in De dementia nicht aus; andere Erkenntnisse werden ihm aber nicht zur Verfügung gestanden haben, und es ist davon auszugehen, daß auch er, wie andere vor und nach ihm, bei seiner 526 527

528

529

Vgl. oben, S. 249f. Vgl. Arist. Polit. 1253a7f. (zitiert wird nach: Aristote: Politique. Bd. 1. Texte etabli et traduit par Jean Aubonnet. Paris 1969); Arist. Hist. an. 1. 489af. (zit. wird nach: Aristote: Histoire des animaux. Bd. 1. Texte etabli et traduit par Pierre Louis. Paris 1964). Daß die Bienen schon bei ihrer Geburt Vernunft besitzen und ein Bewußtsein von sich selbst, erklärt nach Seneca die Beobachtung, daß sie zweckgerichtet und gewandt ihre Glieder bewegen können und das Schädliche meiden, das für sie Nützliche erstreben (vgl. Ep. 121.5, 19-21). Die altägyptische Weisheit der Bugonie überliefert, die Bienen entstünden aus Rinderaas. Vgl. auch Verg. Georg. 4. 554-558). Zu den Ansichten der Alten über die Bienen vgl. auch Art.,Biene'. In: Der Neue Pauly (DNP). Enzyklopädie der Antike und des Altertums. Bisher Bd. 1 - 1 0 und 13-14. Hrsg. von Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Stuttgart, Weimar 1996-2001, hier Bd. 2, Sp. 648-650.

292 Bewunderung für den Bienenstaat eine falsche Natur dieser Tiere voraussetzte, die eine geschlechtliche Fortpflanzung ausschloß. Indes ist die wissenschaftlich falsche Annahme, daß den Bienen ein Geschlechtsleben fehlt, fur die Aussagekraft der Analogie nicht wichtig. Bedeutsam ist der Anblick, der sich dem Auge bietet, wenn man einen Bienenstock betrachtet. Die offenbar aus der Natur sich ohne Zutun entwickelnde Ordnung, die Gleichmäßigkeit und der Frieden, der trotz vieler Individuuen, die an dem einem Staat partizipieren, herrscht, läßt den Bienen im Reich der Tiere eine Ausnahmestellung zukommen. Die friedliche Ordnung resultiert aus der Verehrung, die dem Herrscher ohne Stachel zuteil wird. Der Philosoph Seneca leitet in De dementia seine Analogie des Bienenstaates mit der Feststellung ein, daß eine besonders hohe Machtstellung dann nicht grausam ist, wenn sie dem Gesetz der Natur gehorcht (vgl. De clem. 1. 19. 1) Die Natur nämlich hat sich den König ausgedacht, was man an den Bienen erkennen kann. „Natura enim commenta est regem, quod et ex aliis animalibus licet cognoscere et ex apibus [···]" (1. 19. 2). Der Bienenkönig530 besitzt das größte Gemach, in der Mitte und am sichersten Ort. Wenn er selbst zugrunde geht, sind auch die anderen nicht überlebensfahig. Auch äußerlich trägt er durch seine Größe und seinen Glanz die Insignien der Macht. Aus seiner körperlichen Konstitution ist abzulesen, daß die Sanftmut dem Gesetz der Natur entspricht, denn er hat keinen Stachel. Da die Natur nicht wollte, daß er wild sei, hat sie ihm den Stachel entzogen und ihn ohne Waffe gelassen. Deshalb ist er ein Vorbild fur große Könige. Sie mögen aus dem Beispiel dieser winzigen Lebewesen lernen: Hoc tarnen maxime distinguitur: iracundissimae ac pro corporis captu pugnacissimae sunt apes et aculeos in volnere reliquunt, rex ipse sine aculeo est; noluit illum natura nec saevum esse nec ultionem magno constaturam petere telumque detraxit et iram eius inermem reliquit. Exemplar hoc magnis regibus ingens; est enim ilIi mos exercere se in parvis et ingentium rerum documenta in minima arcessere. (De clem. 1. 19. 3)

Nicht nur gilt der Bienenkönig als Vorbild sanftmütigen Verhaltens, sondern auch die wesensmäßige natürliche Eigenschaft der anderen Bienen soll den Menschen Gesetz sein. Sie können nur einmal und unter Todesgefahr Gewalt anwenden (vgl. 1.19. 4). Es ist vor allem das sich in der äußeren Sichtbarkeit der Lebensform manifestierende Wesen der Bienen, das sie für den Menschen und seine Staatsbildung nachahmenswert macht. Von Natur aus, so Cicero, sind die Bienen, wie alle Lebewesen, gesellig, wobei der Mensch sie in dieser Eigenschaft noch bei weitem übertrifft (vgl. De o f f . 1.157). Der Trieb zur Geselligkeit verhüllt sich nicht und ist nicht verschüttet, sondern offenbart sich im Bienenstaat. In der den Bienen ähnlichen Form der Gemeinschaftsbildung sollen nach Cicero die Menschen ihre natürliche Fähigkeit zu denken und

530

Ebenfalls ein Irrtum der Alten, der aus mangelnden zoologischen Kenntnissen resultierte.

293 zu handeln entfalten (ebd.). Während die Biene aber, da ihr die sittliche Vernunft fehlt, keine andere Wahl hat, als mit anderen ihrer Gattung Waben zu bauen, kann der Mensch sich entscheiden. Sein Erkenntnisstreben, das ihn von der Biene unterscheidet, soll sich daher, wenn es nicht auf sich selbst bezogen und ohne Ergebnis bleiben will, auf die „consociatio hominum" beziehen (ebd.). Da die consociatio ein Produkt der Entfaltung natürlicher Tendenzen ist, wie unter den Bienen leicht einsehbar, besitzt sie keine Affinität zum Reich der Kunst. In einem seiner Briefe betont Seneca, daß den Bienen die Natur die Form ihres Zusammenlebens gebietet (Ep. 121. 22). Die Natur als Ursprung gewährt, daß die Ordnung, im Gegensatz zu demjenigen, was die Kunst gestaltet, sicher und gleichmäßig ist: „Incertum est inaequabile quidquid ars tradit: ex aequo venit quod natura distribuit" (Ep. 121. 23).» ι Einer solchen Analogie des Bienenstaates bedürfte der Seneca im Drama, um sich fur die dementia zu entscheiden. Die ihn umgebende Wirklichkeit aber läßt nicht zu, daß diese Vorstellung aufkommt. Seneca handelt entsprechend der künstlichen Ordnung, die sich seinem Auge präsentiert. Gleichsam unter dem Zwang, nicht nur sie, sondern auch sich selbst zu erhalten, setzt er einen Naturbegriff des menschlichen Wesens voraus, der Gewaltanwendung erfordert, und deren Ausfluß diejenige Ordnung ist, der er sich handelnd gegenüber sieht. Eine Natur anzunehmen, welche die Güte als naturgemäßes und praktikables Herrschaftsmittel empfiehlt, um dem Staat die Sicherheit und Ordnung zu verleihen, die etwa der Bienenstaat vorweist, verbannt die Macht der Erscheinungen in den Bereich utopischen Denkens. Aus hermeneutischer Perspektive ist das Urteilen Senecas ein Resultat erkenntnistheoretischer Prämissen, spiegelt aber gleichzeitig die staatstheoretische Diskussion des 17. Jahrhunderts wider. So setzt sich Hobbes in seinem Leviathan mit der antiken Vorstellung auseinander, daß die Bienen politische Lebewesen seien.532 Ihr Staat aber könne wegen der unterschiedlichen Wesensnaturen nicht mit demjenigen der Menschen verglichen werden. Der beständige Wettkampf der Menschen untereinander, der Konflikt von öffentlichem und privatem Wohl, den der Bienenstaat nicht kennt, das Verlangen, Reformen durchzusetzen und Sprache, die Unruhe stiften kann, mache ein solch friedliches Zusammenleben wie das der Bienen unmöglich. Erkannte die Antike die Bienen gerade wegen ihres friedlichen und geordneten Zusammenlebens als vom göttlichen Weltlogos beseelte Tiere, so ist umgekehrt für Hobbes ihr Mangel an Vernunft, Urteilsfähigkeit und Sprache der Grund für das Gleichmaß und den Frieden ihres Staates.

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An dieser Stelle fuhrt Seneca neben dem Bienenstaat noch die Ordnung der Spinnennetze als vorbildlich an. Diese sind zwar Ausdruck einer Kunst, jedoch derjenigen, die angeboren sei, nicht erlernt: „Nascitur ars ista, non discitur" (Ep. 122. 23). Es ist hier im aristotelischen Sinne von einer Kunst die Rede, die die Natur entelechisch vollendet. Vgl. Hobbes: Leviathan. Opera omina. Bd. 3, S. 129.

294 Individualistische Bestrebungen, die darauf abzielten, die bestehende Ordnung zu ändern, seien im Bienenstaat ausgeschlossen: [...] animalia ilia, quia carent ratione, in rerum suarum communium administratione nihil vident, aut videre sibi videntur, quod culpent; inter homines autem permulti sunt, qui se caeteris sapientiores et regendae civitatis capaciores esse putant, quique, dum suo quisque modo reformare volunt, dissident inter se et belli causa sunt. 533

Die Übereinstimmung unter den Bienen sei natürlich, die unter den Menschern künstlich und nur durch Zwang aufrechtzuerhalten. 534 Hobbes geht auf den Vorbildcharakter des Bienenstaates nicht ein. Daß das Bienengleichnis aber für eine friedliche und sichere Herrschaftsordnung im 17. Jahrhundert als Utopie verwendet wird, bezeugt der im Jahre 1668 erschienene Simplicissimus von Grimmelshausen. Die äußerst umfangreiche Grimmelshausen-Forschung soll hier nicht im einzelnen behandelt werden. Überlegungen zur Metapher eines idealen Reiches, das der Welt unsichtbar ist, mögen genügen und verbunden werden mit der hermeneutischen Fragestellung in der Agrippina. Ausgangspunkt ist die in der zweiten Hälfte des Romans angelegte Mummelsee-Episode. Exemplarisch veranschaulicht sie eine Grundfrage, die der Roman an verschiedenen Stellen aufwirft. Wie kann der Mensch sich in der Welt behaupten, und ist das Buch der Natur noch ein verläßliches Zeichensystem im Sinne mittelalterlicher revelatiol Auf seiner Pilgerfahrt gelangt der neugierige Simplicius an den Mummelsee. Er gedenkt nicht, den See kontemplativ zu erkunden, sondern preßt ihm die Erkenntnis ab, nicht nur durch Neugierde, sondern auch durch Gewalt. Ihn näher zu erforschen, wirft er mehrere Steine hinein, woraufhin ihm die Sylphen erscheinen. 535 Schließlich fallt er selbst in den See, vermag plötzlich statt Luft Wasser zu atmen536 und fragt den Sylphenprinzen nach der Geschichte seines Volkes. Als Grund für das friedliche Zusammenleben nennt der Prinz, daß der Schöpfer sie „mit einer guten gesunden Vernunft, mit Erkenntnis des allerheiligsten Willen Gottes [...], mit gesunden Leibern, mit langem Leben, mit der edlen Freiheit, mit genügsamer Wissenschaft, Kunst und Verstand aller natürlichen Dinge" ausgestattet habe und vor allem, daß sie „keiner Sünd und dannenhero auch keiner Straf, noch dem Zorne Gottes, ja nicht einmal der geringsten Krankheit unterworfen" seien.537 Als Vorbild ihrer Ordnung gilt der Bienenstaat. Die zentrale Eigen-

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Ebd., S. 129f. Vgl. ebd., S. 130. Vgl. Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch. Vollständige Ausgabe. Nach den ersten Drucken des Simplicissimus Teutsch und der Continuatio von 1669 hrsg., mit Anmerkungen und einer Zeittafel versehen von Alfred Kelletat. München, 12. Aufl. 1992, S. 428f. Vgl. ebd., S. 430. Ebd., S. 434.

295 schaft des Königs, die auch Seneca in De dementia hervorhebt, ist, daß seine Funktion nicht darin besteht, gemäß dem geschriebenen Gesetz zu strafen. Nicht hätten die Sylphen ihren König, „daß er Justitiam administrieren, noch daß sie ihm dienen sollten, sondern daß er wie der König oder Weisel in einem Immenstock ihre Geschäfte dirigiere".538 Entsprechend dem Modell in De dementia wird der iustitia, die sub formula richtet, ein herrscherliches Handeln jenseits konventioneller Rechtssprechung gegenübergestellt, das als dementia apostrophiert werden könnte, auch wenn es im Text nicht so bezeichnet ist.539 Metaphorologisch ist aufschlußreich, daß das Reich der Sylphen und die Erzählung ihres Prinzen in das sogenannte „centrum terrae" verbannt ist.540 Möglicherweise verbildlicht die Metapher des Reiches, das in der Mitte der Erde liegt, die Zurückweisung des heliozentrischen Weltbildes des Kopernikus.541 Wichtig ist, daß das Bild desjenigen Staates, der für den Menschen Vorbild sein könnte, in das für ihn Unsichtbare verbannt ist. Nur noch die Gemeinschaft der Sylphen lebt jenseits der sichtbaren Welt gemäß der Natur, wie die Bienen. Die Menschen aber in der Welt richten ihr Handeln nicht mehr an der Analogie des Bienenstaates aus, weil das Buch der unberührten Natur nicht mehr lesbar ist.542 Die vernünftige Natur verbirgt sich den menschlichen Blicken oder wird nicht mehr als eine solche verstanden. Dem natürlichen Auge sichtbare Bilder, die das Göttliche noch erkennen lassen, sind in der Welt nicht mehr vorhanden oder nicht mehr verbindlich lesbar. Es bedürfte schon eines Zufalls oder eines Unfalls, wie des Sturzes in den See, eines wie auch immer gearteten Sich-aus-der-Welt-Hinausbegebens, um diese Bilder zurückzugewinnen. Dann erst können sie im Denken, 538

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542

Ebd., S. 435. Auch hier gilt noch die zoologisch falsche Annahme, daß an der Spitze des Bienenstaates ein König stehe. Daß unter den anderen weiblichen Bienen Eintracht herrscht, begründet der Sylphenprinz mit der Tatsache, daß sie „in coitu keine Wollust empfänden" (ebd.). In etwas abgewandelter Form taucht also hier das Vorurteil der Alten über die Geschlechtslosigkeit der Bienen wieder auf. Im übrigen verteidigt Simplicius auch an anderer Stelle die Vorbildlichkeit der Bienen sowie anderer Tiere (vgl. ebd., S. 135). Seine Rede erinnert an Senecas Ep. 122. Zum ,Bienenkönig' schreibt noch der Art. ,Apum Rex' in Zedlers Lexikon: „Dieser ist das Männlein unter den Bienen, und etwas grösser als die anderen Bienen, hat gerade, hohe Füsse, kleiner Flügel, ist schöner rötlicher Farbe und ohne Stachel" (Johann Heinrich Zedier. Grosses vollständiges Universallexikon. Bd. 1-64. Graz 1961-1964, hier Bd. 2, Sp. 981). Vgl. oben, S. 277. Grimmelshausen: Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch, S. 427. Vgl. dazu Jan Knopf: Frühzeit des Bürgers. Erfahrene und verleugnete Realität in den Romanen Wickrams, Grimmelshausens, Schnabels. Stuttgart 1978, S. 64f. In der Continualio, in der Simplicius auf eine wilde Insel verschlagen wird, sind zwar noch Reste einer heilsgeschichtlichen Ausdeutung der Natur zu beobachten, jedoch fallt vor allem auf, daß Simplicius, um Ordnung zu schaffen, einen Garten anlegt und die Blätter beschriftet - Natur gestaltet. Vgl. Grimmelshausen: Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch, S. 586f. Vgl. dazu auch Peter J. Brenner: Grimmelshausen. Simplicissimus. In: Interpretationen. Romane des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1996, S. 7^19, hier S. 33.

296 zwar nicht als Anschauung, aber als Vorstellung wieder fur das Urteilen relevant werden. In der von Krieg gezeichneten Welt versucht Simplicius, sich mit anderen Mitteln, vor allem mit Instrumenten, zu behaupten.543 Unberührte und göttlich verstandene Natur repräsentiert sich ihm ebensowenig wie dem Seneca im Drama.

e) Inwiefern

Stoakritik?

Es wurde der Versuch unternommen, die Frage zu beantworten, welchen Wert die Agrippina dem stoischen Ideengut in brisanten politischen Situationen beimißt. Besonders aufschlußreich scheint die Tragödie deshalb zu sein, da der Vertreter dieses Gedankenguts selbst in eine imaginäre Praxis gestellt und aufgerufen wird, seine Ideen zu aktualisieren. Dies bedeutet eine erhebliche Ausweitung des Problems von Theorie und Praxis der dementia gegenüber Gryphius, der sich, dies allerdings auffallig, strukturell sowie ideell in der Diskussion zwischen Theodosia und Leo an De dementia anlehnt. Wir sahen, daß der dramatische Seneca weit davon entfernt ist, dementia im Sinne des politisch-philosophischen Traktats zu praktizieren. Seine Haltung allein mit einem Rollenverständnis oder mit der historischen Quellenlage zu erklären, scheint zu kurz gegriffen. Lohenstein hat sich zwar sehr genau an die Quellen gehalten, seinen Seneca jedoch dahingehend ausgestaltet, daß sein Handeln im Widerspruch zur Senecaischen Philosophie steht. Tacitus zeichnet in den besprochenen Konfliktsituationen, die sich zweimal ergeben, Seneca nicht so nuanciert, die dementia oder Gedankengut aus den philosophischen Schriften bringt er nicht ins Spiel. Die Interpretation der Agrippina hingegen zeigte, daß, abgesehen von den Anspielungen auf De dementia, die Senecaische Philosophie auch auf der Ebene der Bildlichkeit präsent ist, besonders mit Anleihen aus Senecas kulturkritischen Invektiven gegen die Kaiserzeit. Für die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis der Milde ist die Bildlichkeit deshalb von Bedeutung, weil in der Senecaischen Philosophie fur das Verstehen und Handeln das Denken in Analogien eine fundamentale Voraussetzung ist. Da für die Praxis des naturgemäßen Lebens, zu dem der Philosoph Seneca auch die Ausübung der Milde zählt, die angeschauten oder vorgestellten Bilder der von Menschenhand und Kunst unberührten Natur notwendig sind, muß derjenige, der Milde walten lassen will, von den Eindrücken einer künstlich geordneten Welt abstrahieren und hinter 543

„Vermittels der Geometriae" (Grimmelshausen: Der Abenteuerliche Simplicissimus Teutsch, S. 4 2 8 ) will Simplicius den Mummelsee erkunden. In der Einsiedelei hilft er sich mit einem „Perspektiv" und einem „Instrument", das er „zur Stärkung des Gehörs erfunden" (ebd., S. 487).

297 die Erscheinungen blicken, die reine Natur vorstellen, um einen Bezugspunkt für das naturgemäße Denken und Handeln zu finden. Die zu Anfang des ersten Aktes in Othos Rede entworfene Szenerie bezeugt, daß Senecas Lebenswelt solche Anknüpfungspunkte nicht mehr bietet, ja selbst die Erinnerung an eine gütige Natur nicht mehr aufkommen läßt. Otho evoziert in seiner Beschreibung jene Welt, der sich Seneca als Philosoph selbst gegenübersah. Dieser erhebt in seinen Schriften den Anspruch, die Künstlichkeit zu durchschauen und das Wahre zu erblicken. Die Urteilsfindung des dramatischen Seneca hingegen demonstriert, daß in der Wirklichkeit eines artifiziell geordneten Staates und unter dem Druck realpolitischer Zwänge, die schnelles Urteilen und Handeln verlangen, der erkenntnistheoretische Anspruch nicht eingelöst werden kann. Unter diesen Umständen verliert Seneca im Drama, nurmehr ein Theoretiker des naturgemäßen Lebens, seine Philosophie aus den Augen und paßt sich an. Er tötet aus Verdacht. Inwiefern kann nun aber tatsächlich von einer „Stoizismuskritik"544 gesprochen werden, die Wiehert aufgrund seiner Interpretation der Sophonisbe und des Arminius in Lohensteins Werk zu erkennen vermeint? Er attribuiert dem angeblich stoisch handelnden Scipio, der kalte „Rationalität und Machtpolitik" vereinige, „Unmenschlichkeit und Lieblosigkeit".545 Stoisches politisches Handeln reduziert Wiehert auf einen machiavellistischen Prudentismus, dem es nicht an der qualitativen Ausprägung des Staates, sondern an der Erhaltung der äußeren Form gelegen ist. Die oben von Wiehert aufgezählten Attribute könnten dem Seneca der Agrippina ohne weiteres zugeschrieben werden, allerdings ist sein Handeln, wie das Kapitel gezeigt hat, nicht als stoisch bzw. Senecaisch-stoisch zu bezeichnen: Er handelt im Widerspruch zur Theorie der dementia. Wenn Wiehert zudem an anderer Stelle feststellt, daß es sich bei Lohensteins Trauerspielen um eine „Umkehrung" des Ideals aus De dementia handele,546 liegt ein Widerspruch vor: De dementia, die laut Wiehert Vorbild war für zeitgenössische „Regentenbzw. Beamtenspiegel" des 17. Jahrhunderts,547 hebt sich als positive und parachristliche Herrschaftsethik vom negativen Dramengeschehen ab, welches folglich nicht gleichzeitig im Handeln der Politiker die stoische Lehre vorführen kann. Anhand der Seneca-Figur in der Agrippina kann keine Stoizismuskritik ermittelt werden, weil er eben nicht stoisch handelt. Höchstens könnte

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Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 289. Ebd. Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 447. Daß Scipio sich eben nicht durch die Milde auszeichnet, w i e Wiehert auch erkennt (vgl. S. 449f.), bezeugt, daß er kein wirklicher Stoiker ist. Eine Kritik am Stoizismus ist strenggenommen an dieser Figur nicht zu finden, da ihm die wesentliche Eigenschaft der Milde fehlt. Ebd., S. 447.

298 überlegt werden, inwiefern die stoische Erkenntnistheorie auf den Prüfstand gestellt wird. Die Darstellung des dramatischen Seneca, der sich gegen die Sanftmut entscheidet, nimmt die stoische erkenntnistheoretische Prämisse des Denkens in Bildern ernst. Der Mensch ist an die Welt urteilend und handelnd gebunden, in der er sich bewegt und die er wahrnimmt. Wenn die Eindrücke einer künstlichen, aber geordneten Lebenswelt zu mächtig sind und es nicht nur um die Erhaltung des status quo geht, sondern auch um die eigene, und sei es bloß physische, Selbsterhaltung, muß er sich an die Regeln, den Mechanismus und die Funktionalität seiner Umgebung anpassen. Die den Menschen umgebenden Erscheinungen der künstlich geordneten Welt bestimmen und determinieren sein Urteilen und Handeln. Da in der stoischen Erkenntnistheorie die Visualität und die Interpretation der sichtbaren Zeichen für das Urteilen eine unhintergehbare Voraussetzung sind, muß sich dann nicht die Senecaische Philosophie der Frage stellen, ob sie dem Menschen etwas abfordert, was er gar nicht leisten kann? Sie verlangt in einer denaturierten Welt die geistige Vorstellung der noch reinen Natur, die sich etwa in De dementia im Bild des Bienenstaates manifestiert. Es besteht aber die Frage, ob sich in der Agrippina tatsächlich eine Kritik an der stoischen Erkenntnistheorie formuliert oder nicht vielmehr eine an den Bedingungen, die eine sinnliche Manifestation, eine Anschauung oder eine Vorstellung der unberührten Natur verhindern. Denn erstens fehlt das notwendige Verständnis für eine solche Natur und zweitens steht der politisch Handelnde unter Entscheidungsdruck, der ihm die nötige Zeit zur Reflexion nicht mehr läßt. Eine solche Ausgangslage des Urteilens fuhrt in Aporien, denn das Töten aus Verdacht ist wohl kaum eine befriedigende Alternative zur dementia. Die Divergenz des dramatischen Seneca von den Prämissen der Senecaischen Philosophie besteht vor allem darin, daß er sein Handeln an einem Naturbegriff ausrichtet, der nicht stoisch ist. Er setzt, im Widerspruch zum stoischen Menschenbild und den Anthropologien Hobbes' und Luthers entsprechend, eine grundsätzlich unberechenbare und zum Schlechten neigende Natur des Menschen voraus. Dieser vorausgesetzte Naturbegriff verweist deutlich auf die Entstehungszeit des Dramas. Er ist die Basis für Senecas pragmatisch ausgerichtete Urteilsfindung. Auffällig ist die cartesianische Haltung des Zweifels und der Verzicht auf Wahrheit, hervorgerufen durch den Entscheidungsdruck. Das Bild vom Wanderer im Wald, das Descartes in der provisorischen Moral nutzt, ist als geeignete Analogie für das senecaische Verhalten im Drama erarbeitet worden. Die szenische Bildlichkeit des Dramas, die mit der Unsicherheit der menschlichen Beziehungen korrespondiert, findet ihr Pendant in der Metapher des undurchdringlichen Waldes. Diesen konfiguriert im Drama das Kaiserhaus mit seinen perversen

299 natürlichen' Gegebenheiten. In ihm muß sich der Wanderer Seneca durch Entschlossenheit behaupten. In der politischen Realität gilt nicht die Prämisse einer den Menschen alles gebenden und ihn beschützenden Allnatur, sondern einer unverläßlichen und kaum zu begreifenden Umwelt. Bilder, aus denen das weise Urteilen und Handeln abgeleitet werden könnten, liefert eine solche Welt nicht. Seneca ist im Drama nicht der stoische Weise, der sich in ein aktiv-kontemplatives Verhältnis zur Natur setzt, um tugendhaft die dementia zu praktizieren, sondern der neugierige Wissenschaftler, der sich die unberechenbar erscheinende Natur durch Entschlossenheit Untertan macht. Ein Stoiker, der erst versuchte, das Göttliche aus der unberührten Natur sicher zu erkennen, würde dem Funktionalismus der höfischen Verhältnisse hemmend entgegenwirken. Wenn die Seneca-Figur der Agrippina verdeutlicht, daß die Konzeption der dementia ihren Anspruch lediglich als Theorie behaupten kann, trägt sie gleichzeitig zu der Diskussion bei, welche Programmatik der Schrift De dementia, unter Berücksichtigung der komplizierten Entstehungs- und Intentionsfrage, zugrunde liegt. Lohensteins literarische Antwort lautet, daß sie keinen Anspruch auf Praxistauglichkeit erheben kann, daß es sich um einen rein theoretischen politisch-philosophischen Traktat über das naturgemäße Verhalten eines Herrschers auf dem Gipfel der Macht handelt. Obwohl sich die Bedeutung der Sanftmut besonders in kritischen Situationen zu erweisen hat, vermag nicht einmal ihr Theoretiker ihrem Anspruch gerecht zu werden. De dementia entwirft eine Utopie. Die Anwürfe gegen Seneca, er sei moralisch nicht integer, da er die Schrift im Bewußtsein des Mordes an Britannicus entworfen habe, erweisen sich zwar nicht als unbegründet, jedoch als nicht gewichtig. Der Philosoph der Natur, so gibt uns das Drama zu verstehen, kann nur mehr ein Theoretiker sein, im Verborgenen und abseits der Welt wirken, womöglich in der Natur, und Ideale entwerfen, die vielleicht paränetischen Wert besitzen, aber die Wirklichkeit nicht mehr erreichen. Die politische Philosophie der dementia ist aus der Sicht der Politiktreibenden ebenso das Produkt eines occupatus, der sich theoretisch mit Dingen beschäftigt, die unwirksam bleiben, wie das Handeln Senecas im Drama aus der Sicht des Philosophen Seneca eingebunden ist in die Welt von occupati. Die Aussage der Agrippina ähnelt derjenigen der Gryphschen Dramen. Die Senecaische Philosophie kann sich, will sie als Philosophie des Lebens auch in der Gesellschaft erfolgreich sein, nicht unter allen Bedingungen behaupten, sondern sie bedarf bestimmter Umstände, um gelebt zu werden. Das Drama zeigt den Verlust dieser Bedingungen auf, die das ideale Verhältnis zwischen Herrscher und Untertanen ermöglichen könnten. Erste Bedingung wäre ein nicht nur theoretisches, sondern praktisches Naturverhältnis, das dem secundum naturam vivere entspräche, das aber die Inauguration eines anderen Naturbegriffs uneinholbar gemacht hat. Also impliziert

300 die Zeichnung der Seneca-Figur in der Agrippina auch eine Reflexion auf die Grundvoraussetzungen der neuen Wissenschaften der Frühen Neuzeit, insofern sie den stoisch-teleologischen Naturbegriff verabschieden, den mechanistischen an seine Stelle setzen und so dem naturgemäßen Leben seine Grundlage entziehen.

3. Seneca in der Epicharis: ein stoischer

Philosoph?

Es liegt auf der Hand, daß das Modell der dementia auch in der Epicharis endgültig abgedankt hat. Diesmal aber ist nicht Seneca, sondern Nero selbst der treibende Faktor. Er ist wiederum Vorbild nicht des sanftmütigen.Fürsten, wie ihn das Spiegelgleichnis in De dementia vorfuhrt, sondern des Tyrannen, der dort als Gegenmodell zum weisen Herrscher entworfen ist.548 Lohenstein stellt seinem Stück ein Seneca-Zitat aus De ira voran: [...] istud tempus quod alienae destinas morti fortasse circa tuam est" {De ira, 3. 42. 4).549 Warum, so heißt es bei Seneca vorher, beladen wir uns mit ungeheurem Haß und machen uns auf, andere zu stürzen. Einen jeden ereilt der Tod (3. 42. 3). Der Paränese, sich nicht dem Zorn hinzugeben, ist der Aufruf zur rechten Lebensführung inhärent. Die Auswirkungen des Zorns bei einem Herrscher beschreibt Seneca sehr plastisch. Er bewirkt nichts als Gewalt. Jede Scham tritt der Zornige mit Füßen, die Hände besudelt er mit Mord, Kinder zerstückelt er, und nichts nimmt er vom Verbrechen aus, Ruhm erkennt er nicht an und furchtet sich nicht vor Schande (vgl. 3. 41. 3). Neros Verbrechen sind ein exzellentes Beispiel für die Auswüchse der Zorns.550 Meyer-Kalkus nennt deshalb die Epicharis ein „Drama der ,ira"'551, das die vitiösen Auswirkungen der Affekte auf die Bühne bringe. Neros Gegenmodell scheint der Weise Seneca zu sein, in diesem Stück ein stoischer Philosoph ohne Widersprüche? Zwölf Todesurteile werden im Drama über die Verschwörer verhängt.552 Die wichtigsten Opfer sind der Reihe nach Piso, Seneca und Epicharis. Piso, der Epicharis' letztem Aufruf zum Tyrannensturz nicht folgen will, verübt resigniert ohne Umschweife Selbstmord (vgl. Epi. IV. 586f.). Epicharis erwürgt sich, noch in letzter Minute Widerstand leistend, auf der Folter und weigert sich, ihre Mitverschworenen zu verraten. Noch im letzten Atemzug verhöhnt sie das Recht, das „rechtes Recht verfluchen muß und schmehen"

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Vgl. oben, S. 268f. Vgl. von Lohensteins: Römische Trauerspiele, S. 153. Den Dialog De ira verfaßte Seneca vor der Verbannung und beendete ihn auf Korsika, er ist also nicht auf Nero gemünzt, sondern vor allem auf Caligula (vgl. Fuhrmann: Seneca und Kaiser Nero, S. 123). Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 222. Vgl. dazu Asmuth: Lohenstein und Tacitus, S. 93.

301 (V. 668), und klagt Nero als „Blutthund" (V. 721) an. In Relation zu Piso, der resigniert und fast wortlos in den Tod geht (vgl. IV. 521-636), zu Epicharis, die noch im letzten Atemzug gegen die Tyrannei wütet, und zu den vielen anderen kaum charakterisierten Personen des Stückes, fällt formal und inhaltlich Senecas Sterbeszene aus dem Rahmen und hat aus diesem Grunde einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Darstellung des Seneca-Todes nimmt zu Beginn des fünften Aktes eine eigene Szene mit 438 Versen ein und gibt zudem eine Kurzunterweisung in die Senecaischen Gedanken zum Tod.553 Seneca erweist sich offenbar als ein echter sapiens, wie ihn die Schrift De constantia sapientis mit dem bezeichnenden Untertitel nec iniuriam nec contumeliam accipere sapientem, aus der zahlreiche Textstellen fast wörtlich übernommen sind, vorfuhrt. 554 Aus stoischer Überzeugung scheinen sich seine letzten Worte zu speisen und sein Sterben die imago vitae zu hinterlassen, die laut Tacitus Seneca statt eines Testaments, das ihm verwehrt war zu schreiben, seinen Freunden schenken wollte (Ann. 15. 62). Auf den ersten Blick erfüllt Seneca seinen Vorsatz, den er seinem Tod voranschickt: „Nun sol das Werck thun dar / Ob sichs so muttig stirbt so keck die Rede war" (V. 249f.). Auch wenn schon der relativ kurze Taciteische Bericht auf eine gewisse Inszenierung schließen läßt, weshalb Fuhrmann bemerkt, daß Seneca seinen Tod „zur Schau" gestellt habe,555 so suggerieren doch die historische Quelle und die nachfolgenden literarischen und ikonographischen Seneca-Darstellungen, daß es sich um einen authentisch stoischen Tod gehandelt haben mußte. Er lieferte den beruhigenden Beweis, daß in der entscheidenden Stunde Lehre und Leben, Denken und Handeln des Philosophen übereinstimmten. Da das stoische Gedankengut über den Tod auffallig präsent und die Sterbeszene in der Mitte zwischen dem Untergang der zwei Hauptfiguren der Verschwörung, Piso und Epicharis, angesiedelt ist, hat man die Bedeutung Senecas und seiner Philosophie aus dieser Komposition abgeleitet. Asmuth führt die formale Ausdehnung der Sterbeszene, die wie ein „selbständiger Exkurs" 556 und ein „autonomer Fremdkörper" wirke,557 und die im Vergleich zu Tacitus' brevitas auffallend ausgedehnte Schilderung 553

Nicht nur im Vergleich mit Pisos und Epicharis' Ende, sondern auch angesichts der Tendenz des Dramas, wider die klassische Regel Massenszenen zu komponieren, in denen die einzelnen Charaktere kaum differenziert zu zeichnen sind, ist Senecas Sterbeszene singular. 554 0 j e entsprechenden Werkstellen weist Lohenstein zum Teil detailliert in seinem Kommentar nach. Es erübrigt sich, hier genaue Quellenforschung zu betreiben, die zentralen Gedanken über den Tod, der in der stoischen Philosophie zu den indifferentia zählt, sind in Senecas dramatischer Sterberede exakt aufgenommen und finden sich, abgesehen von den im Kommentar aufgenommenen Stellen, in den Senecaischen Schriften in ähnlicher Form recht häufig wieder. 555 Fuhrmann: Seneca und Kaiser Nero, S. 317. 556 Asmuth: Lohenstein und Tacitus, S. 71. 557 Ebd., S. 93.

302

und „Vergeistigung des Geschehens"558 zum einen auf die Verwendung derjenigen Quellen zurück, die Lohenstein vor allem gedient hätten: die Schrift La Mort et les dernieres paroles de Sineque von Mascaron, vermutlich Montaignes Essay und nicht zuletzt die Gemälde.559 Zum anderen habe Lohenstein dramaturgisch mit der breit angelegten Sterbeszene Seneca größeres moralisches Gewicht als Piso verleihen wollen, da er an dem historisch wahrscheinlichen Faktum festhalte, daß Seneca an der Pisonischen Verschwörung nicht beteiligt gewesen sei.560 Die Sterbeszene diene Senecas „Heroisierung", angesichts deren Piso in einem negativen Licht erscheinen solle.561 Kontraste zu erzielen, heißt also laut Asmuth Lohensteins poetologisches Ziel, das er mit der Sterbeszene erlangen wollte. Welchen Zweck eine solche Kontrastierung erfüllen oder wozu Seneca ein größeres moralisches Gewicht erlangen solle, diskutiert Asmuth kaum. Es bleibe offen, ob Senecas passiver Weg oder Epicharis' aktiver Widerstand höher bewertet wird, die Sympathien des Autors gälten jedoch letzterem.562 Eine eindeutige politische Gesinnung will er aus der Figurenzeichnung nicht ableiten und hält sich in seinem Urteil zurück. Die Epicharis sei kein „offenes Tendenzstück" fur oder wider die im 17. Jahrhundert brisante Frage nach der Zulässigkeit des Tyrannenmordes.563 Das Drama biete, so formuliert Asmuth vorsichtig, „als Gegenstück zu den streng königstreuen Dramen des Gryphius", einen „Diskussionsbeitrag, der die kontroverse Frage" - nach Lohensteins politischer Gesinnung - „neu zur Debatte" stelle.564 Stärker vertreten ist die Annahme, daß Seneca als Kontrastfigur zu Epicharis gestaltet sei. Sie mag aus dem offenbar irritierenden Tatbestand resultieren, daß gegen Ende auffallig eine ganz andere Person in den Mittelpunkt gerückt wird, als es der Titel des Dramas vermuten läßt. Seneca droht 55f

* Ebd., S. 72. Vgl. ebd., S. 74. Vgl. oben, S. 229, Anm. 296 und S. 231, Anm. 303. 560 Vgl. Asmuth: Lohenstein und Tacitus, S. 92. Asmuth meint, daß Senecas „mittelmäßige" Antwort in der Diskussion mit den Verschwörern, er wolle weder auf ihrer noch auf Neros Seite stehen (vgl. Epi. I. 596), lediglich dazu diene, an seiner Bedeutung festzuhalten. Deshalb bringe er ihn mit dem „Revolutionsgeschehen" in Verbindung, lasse ihn aber nicht tatsächlich mitwirken (ebd.). Tacitus zufolge war Seneca weder an der Verschwörung beteiligt noch in sie eingeweiht. Nero sei glücklich darüber gewesen, für einen zweiten Anschlag einen Anlaß zu haben, nachdem der erste, einst mit Gift geplante, mißlungen sei (vgl. Ann. 15. 60, 15. 45). Das Drama aber interpretiert Senecas historische Rolle in der Verschwörung, zumindest in der diskutierten Szene, als geistige Mittäterschaft (zur fraglichen Mitschuld oder Mittäterschaft des historischen Seneca vgl. Anm. 302). Für diese könnte, was Lohenstein im Kommentar allerdings nicht ausweist, eine Stelle aus De beneficiis Pate gestanden haben, wo der ansonsten prinzipientreue Philosoph den Tyrannenmord unter besonders grausamen Umständen gutheißt (vgl. De ben. 7. 20. 3); vgl. auch Fuhrmann: Seneca und Kaiser Nero, S. 314f. 561 Asmuth: Lohenstein und Tacitus, S. 74. 562 Vgl. ebd., S. 104. 5 « Ebd. 564 Ders.: Daniel Casper von Lohenstein, S. 35. Die Sympathien des Autors sieht Asmuth bei Epicharis (vgl. ders.: Lohenstein und Tacitus, S. 104). 559

303 mit seinem Tod an dramatischer Bedeutung der Titelheldin den Rang abzulaufen. Ist Seneca fur Asmuth eine positive Figur, vor dessen konsequenter Todesverachtung sich vor allem Piso negativ abheben soll, so sehen andere Interpreten durch Senecas vermeintlich passiven Tod Epicharis' Bedeutung aufgewertet, da sie noch auf der Folter Widerstand leiste. Senecas Tod unterstreiche, daß nicht das Exempel des stoischen Weisen der imitatio wert sei, sondern vielmehr das der aktiven Widerstandskämpferin Epicharis, die für die Republik eintrete. Gillespie meint, Seneca stehe mit seiner passiven Haltung in Papinians Tradition, weil er sich in eine innerliche und rein persönliche Welt zurückziehe: In contrast to Epicharis with her activist program, Seneca believes that the heroic sphere is inward and personal; one cannot impose one own moral bravery upon the outward, temporal, and political arena of existence: Therefore he takes refuge in metaphysical truth, with complete neutrality toward the events in a turbulent world. 5 6 5

Epicharis hingegen „wishes to impose her inner values by force".566 In einer jüngeren Untersuchung bezeichnet Gillespie Seneca als den „internal commentator" und die „contrasting foil" der Epicharis.567 Senecas Haltung zeige die „paralysis of virtue engulfed by evil", Epicharis „reverses the direction of the moral imperative by storming the citadel of a corrupt state - through her political thought, through active resistance, and though checked, through attempted use of force."568 Lohenstein habe dabei auch die konkret historische Situation im Blick gehabt, seine eigene Position als Protestant,569 und mit seiner Epicharis bedeutet, daß das Bewußtsein des einzelnen sich in Phasen der Unterdrückung nicht nur als innerliche Bastion zu erweisen, sondern seine Kraft nach außen zu bringen habe.570 Senecas stoische Passivität sei das Gegenmodell für Epicharis' aktive Rebellion.571 Seneca könne seine stoische Gesinnung nur im Tod bewahren, der einzige Weg, der in seiner Welt noch gangbar sei.572 Eine ähnliche Auffassung wie Gillespie vertreten Verhofstadt und Szarota. Verhofstadt spricht von einer „Kontrastwirkung" im Ethischen.573 Epicharis beweise die Tugend der actio, Seneca die der contemplatio, „kontrastierend" erscheine auf der einen Seite die Tugend der fortitudo, auf

565

Gillespie: Daniel Casper von Lohenstein's Historical Tragedies, S. 47. Ebd. 567 Ders.: Lohenstein' Epicharis: The Play of the Beautiful Loser. In: Studien zum Werk vom Daniel Caspers von Lohenstein (Daphnis 12, Heft 2-3), S. 343-373, hier S. 361. 568 Ebd., S. 369. 569 Ebd., S. 371. 570 Ebd., S. 370. 57 > Ebd., S. 357. " 2 Ebd., S. 353. 573 Verhofstadt: Untergehende Wertwelt, S. 228. 566

304 der anderen die der prudentiaP4 Tatkräftig überlegen und sittliche Bewunderung erregend sei nur Epicharis, 575 Seneca hingegen „überklug, passiv, fast gleisnerisch", sein Tod eine rein ästhetische Gebärde, die beeindrucken, erregen und erschüttern solle.576 „Den größten Kontrast zu Epicharis bildet Seneca", 577 so meint auch Szarota. Durch ihre „Aktivität" stehe sie „in ausgesprochenem Gegensatz zur Stoa", die Seneca klassisch repräsentiere. 578 Die einsame Revolutionärin und Republikanerin habe ihr Gegenbild im stoischen Weisen, der sich „nirgends" engagiere, da er seiner Philosophie nicht untreu werden wolle. 579 Erkannte Hildebrandt in der Epicharis ein eindeutiges Plädoyer für die Monarchie, 580 spiegeln sich für Szarota und Verhofstadt bei allem Realismus Lohensteins und seiner Kompromißbereitschaft gegenüber der Habsburgischen Herrschaft in der Epicharis seine Sympathien fur die Republik. 581 Potentiell gesellschaftlich wirksamer und der senecaischen Haltung insofern überlegen ist fur Gillespie, Szarota und Verhofstadt in jedem Fall Epicharis, da sie für ihre Idee der Freiheit aktiv kämpfe. Gillespie weist Aikins Auffassung zurück, daß Epicharis superbia an den Tag lege und eine „disdainful, proud and willful heroine" sei.582 Auch Aikin sieht in Seneca das Gegenmodell der Epicharis, hier der passive Stoiker, dort die aktive heroische Märtyrerin. 583 Keinem der beiden Widerstands-Modelle werde aber im Drama der Vorzug gegeben. Auf eine kaisertreue Gesinnung des Autors könne man nicht schließen. 584 Einen eigenen Weg geht Meyer-Kalkus. Sowohl Epicharis als auch Seneca seien nach dem Beispiel der „,exitus illustrium virorum'" modelliert, Vorbilder seien Cato und Sokrates. Das „stoizistische Ethos" verbinde sich „mit einer antimonarchistischen Haltung", das, im Sterben gezeigt, Ruhm verleihe. 585 Gepriesen werde vor al574

Vgl. ebd., S. 221. Vgl. ebd., S. 175 und 177. 576 Ebd., S. 228. Die Prinzipien und Tugenden der stoischen Philosophie würden im Sterben Senecas nur noch für theatralische Zwecke eingesetzt, sie vermöchten keinen neuen Sinn hervorzurufen. Ihre „Intentionalität" sei nicht „weltanschaulich, sondern ästhetisch" (ebd., S. 227). 577 Szarota: Künstler, Grübler und Rebellen, S. 327. 578 Ebd., S. 325. 579 Ebd., S. 327. 580 vgl. Hildebrandt: Die Staatsauffassung der schlesischen Barockdramatiker im Rahmen ihrer Zeit, S. 47f. 581 Vgl. ebd., S. 318. Vgl. Verhofstadt: Untergehende Wertwelt, S. 178. Zu Lohensteins angeblich republikanischer Gesinnung, der er in der Epicharis Ausdruck gegeben habe, vgl. auch Behar, Silesia tragica. Bd 1, S. 44, 261 und 263. Vgl. oben, S. 235. 582 Aikin, The Mission of Rome in the Dramas of Daniel Casper von Lohenstein, S. 200. Vgl. Gillespie: Lohenstein's Epicharis, S. 357, Anm. 17. 583 Vgl. Aikin: The Mission of Rome in the Dramas of Daniel Casper von Lohenstein, S. 197. 584 Vgl. ebd., S. 188. 585 Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 224. Ähnlich formuliert Joel Lefebvre (Lohenstein et Seneque. In: Les tragedies de Seneque et le theatre de la Renaissance. Etudes de P. Bacquet et. al., reunies et presentees par Jean Jacquot. Paris 1964, S. 261-269): 575

305 lern die „Übereinstimmung von Todesphilosophie und Sterbensart" und insgesamt ex negativo die milde Herrschaft der Habsburger. 586 Der kleine Überblick über die Forschungspositionen verdeutlicht, an welchem Argumentationsziel sich die Interpretation der Seneca-Figur ausrichtet. Sie wird in Bezug zu den anderen Figuren gesetzt, je nachdem welche politische Gesinnung man dem Autor Lohenstein nachweisen will. Immer gilt Senecas Sterben als eine positive oder negative Kontrastfolie, die das Handeln der anderen Figuren kommentiert. Sein Verzicht, aktiv einzugreifen, und das ergebene Sterben seien entweder Ausdruck für Lohensteins kaisertreue Gesinnung, die den Tyrannenmord ablehne, oder unzureichende, da passive, Haltung den Unterdrückern gegenüber und insofern ein Hindernis fur eine wünschenswerte, wenn auch utopische Änderung der Herrschaftsform. Die Präsenz der stoischen Philosophie im Drama erschöpft sich fur alle Interpreten in der Sterbestunde. Bedeutet Senecas Tod aber tatsächlich, wie Just feststellt, daß die stoische Philosophie „im Angesicht der Vernichtung [...] ihren Wert zu erweisen" habe? 587 Wenn er sodann behauptet, daß die „Dramengestalt Seneca" Lohensteins eigene „Interpretation des Senecaschen Werkes" sei588, geht er davon aus, daß die stoische Philosophie im Drama als ars moriendi rezipiert wird. Dieses Vorurteil leitet, wie wir gesehen haben, bisher die germanistische Rezeptionsforschung zur stoischen Philosophie. 589 Obwohl Seneca, so Schings, in der Epicharis keine „unzweideutige exemplarische Dominanz" besitze, da er - im Gegensatz zu Papinian - nicht politisch aktiv sei, zeige sich im sterbenden Seneca die typisch „barocke Auslegung des Senekismus" als einer Sterbekunst. 590 Nun suggeriert die Darstellung des senecaischen Sterbens in der Epicharis, die Rezeption des Senecaischen Gedankenguts in einer Philosophie über das Sterben erschöpft zu sehen. Der dramatische Seneca gibt ja mit seinen Worten selbst diese Auslegung an die Hand. Derjenige, der seine Schriften lese, werde urteilen, daß der Tod sein „Mittel-Punct" (V. 244) gewesen sei.591 Im Kontrast zur Agrippina beeindruckt besonders, daß die

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„Ainsi, le sto'icisme que l'on peut dire passif de Seneque est complete par une autre attitude: le sto'icisme actif, mais tout aussi antipassionel, d'Epicharis" (S. 265). Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 229. Vgl. ebd., S. 223f. Just: Lohenstein und die römische Welt. Einleitung: von Lohenstein: Römische Trauerspiele, S. XVIII. Vgl. auch Laetitia Brede: Das „Große Gemüth" im Drama Lohensteins. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 8, 1936, S. 79-98, hier S. 91. Just: Lohenstein und die römische Welt. Einleitung: von Lohenstein: Römische Trauerspiele, S. XVIIIf. Vgl. oben, S. 2 - 4 . Schings: Constantia und Prudentia, S. 421. Die Gedanken über den Tod implizieren gleichwohl immer diejenigen über die rechte Lebensführung. Richtig zu sterben bedeutet, während seiner Lebenszeit im Sinne der Philosophie richtig gelebt, sich von den Meinungen über die scheinbar erstrebenswerten Güter

306 philosophische Theorie, die Seneca als Autor liefert, in diesem Fall mit der Praxis übereinzustimmen scheint, mit einer dramatisch imaginären Praxis zwar, die gleichwohl der historischen Figur sehr nahe zu kommen versucht. Autor, Philosoph und dramatische Figur wären als eine Einheit gedacht. Was ihm als Staatsmann in der Agrippina nicht gelingen wollte, holte Seneca, gleichsam als Entschuldigung oder als Entschädigung für seine einstmalige Verfehlung, in der Epicharis nach: die Demonstration einer Kongruenz von Lehre und Leben, die nach unserem Verständnis seine Philosophie glaubhaft machen soll. Ob damit das „zweifelhafte Licht", das der Seneca in der Agrippina hinterlassen hat, „zerstreut" ist, wie Meyer-Kalkus meint, ist im folgenden zu prüfen. 592 Versöhnt Seneca tatsächlich seine Nachwelt im Sterben, indem er die Rolle des sapiens einnimmt? Überlegt werden soll, ob und in welchem Verhältnis die auffallende Divergenz von Theorie und Praxis der Sanftmut in der Agrippina und die vermeintliche Kongruenz von Todesphilosophie und Sterben in der Epicharis zueinander stehen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß mit der Seneca-Figur in der Epicharis, in einer besonderen Form von intertextueller Allusion, auf einen Text Lohensteins selbst, auf die Agrippina, Bezug genommen wird.593 Denn auch die Epicharis ist eine weitere diffizile und vielschichtige literarische Auseinandersetzung mit dem Prätext De dementia, dessen Idee in Negation und Performation das Drama beispielhaft vor Augen fuhrt. Daß hier die Seneca-Figur eine zentrale Rolle spielen soll, mag verwundern. Der ehemalige Erzieher Neros äußert sich in seiner Sterbestunde explizit mit keinem Wort zu ,seiner' Schrift, der Grad der intertextuellen Referenz ist, untersucht man die Sterbestunde isoliert, die „Nullstufe". 594 Gerade diese vermeintliche Abwesenheit im Verein mit der sonst auffallenden Präsenz der Senecaischen Schrift liefert aber das entscheidende Argument dafür, daß Senecas Verhalten durchaus nicht als weise betrachtet werden darf. Um diese These zu stützen, sei untersucht, wie die dementia als Prätext der Figurenrede im Drama präsent ist (I) und welche Bedeutung ihre Absenz in Senecas Sterbereden besitzen könnte (II). (I) Die markierten Anspielungen auf De dementia finden sich außerhalb von Senecas Sterbeszene. Ab der dritten Abhandlung, zu deren Beginn Nero von der Verschwörung erfahrt, häufen sich die Erinnerungen an De dementia und erreichen den Höhepunkt ihrer Prägnanz am Ende des fünften Aktes in den Worten des Tigellinus, 595 die den Prätext am deutlichund Lebensformen freigemacht zu haben, um leichter und selbstverständlicher in den Tod gehen zu können. 592 Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit, S. 229. 593 Vgl. Broich: Zur Einzeltextreferenz. In: Intertextualität, S. 49f. 594 Heibig: Intertextualität und Markierung, S. 87. 595 Der von Seneca ungeliebte Tigellinus war Burrus' Nachfolger im Amt des Prätorianerpräfekten. Burrus starb im Jahre 62 n. Chr. an einem durch eine Geschwulst hervorgerufenen Erstickungsanfall. Es gibt Spekulationen darüber, daß Nero dabei seine Hand mit im Spiel

307 sten markieren: „Von Nerons Gütte wird die Nachwelt ein gantz Buch durchlesen" (V. 645f.). Neros Ratgeber verwendet freilich den Hinweis, um zu schmeicheln. Die historischen Ereignisse fuhren an Nero beispielhaft das Auseindanderfallen von idealer Herrschaft, wie De dementia sie beschreibt, und Wirklichkeit vor. Als paränetisches Erziehungsmittel hat die Schrift De dementia ihre Wirkung, so gibt der Angeklagte Quinctianus zu verstehen, verfehlt: „Das der schrieb / der endlich Schmach und Fluch auf dich / du Blutthund / warf / nachdem die schönen Blüthen der Jugend und sein Fleiß so schändlich mißgeriethen" (V. 646-648). Mit den „schönen Blüthen" spielt Quinctianus auf Neros verhältnismäßig friedliches erstes Quinquennium ab dem Jahre 54 an.596 Um sein Leben zu retten und den Kaiser von der Notwendigkeit der Gnade zu überzeugen, bringt Senecio, dessen Leben ebenfalls auf dem Spiel steht, das aus De dementia bekannte und auch von Theodosia im Leo Armenius angeführte Argument ins Spiel, daß sich die Zahl der Feinde unter strengen und grausamen Herrschern vergrößere (V. 630-635; vgl. De dem. 1. 8 . 6).597 Zwar erläßt Nero am Ende des Dramas zwei Verschwörern die Strafe (vgl. V. 714). Er begnadigt sie aber nicht, weil er von dem philosophisch-politischen Konzept der dementia überzeugt ist, sondern erstens, weil er Ruhm bei der Nachwelt erlangen will, und zweitens aus Angst, daß ihn sein Gewissen, auf das ihn Epicharis kurz zuvor hinweist, peinigen könnte (vgl. V. 709-712).598 Aus Affekt läßt Nero Gnade walten, die seiner eigenen Gewissensberuhigung dienen soll, das Bild des Tyrannen aber nicht revidiert. Im letzten Akt liegt mit der hohen intertextuellen Selektivität, da der Prätext genau benannt ist, eine bisher einzigartige Form der Markierung vor.599 Das Drama endet in der expliziten Nennung desjenigen Prätextes, auf den häufiger angespielt wird und dessen ideellen Gehalt die Ereignisse auf

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hatte. Mit dem Tode des Burrus sinkt auch der Einfluß Senecas. Seine Feinde melden sich nun ungehemmter zu Wort. Besonders werfen sie ihm seinen Reichtum vor. Seneca sieht seinen Einfluß schwinden, mit Tigellinus erscheint ihm keine Zusammenarbeit möglich, und er bittet darum, zurücktreten zu dürfen. Nero lehnt zwar offiziell das Gesuch ab, faktisch aber wird Seneca, u. a. durch den wachsenden Einfluß des Tigellinus, entmachtet. Vgl. Tac. Ann. 14. 51-56. Vgl. Fuhrmann: Seneca und Kaiser Nero, S. 266-274 und Grimal: Seneque, S. 206-210. In das Jahr 55 fallt allerdings der Mord an Britannicus. Vgl. oben, S. 257, vgl. von Lohenstein: Römische Trauerspiele. Anmerkungen, S. 291. Cervarius Proculus und Natalis wird die Strafe erlassen. Natalis ist der erste, der seine Schuld bekennt und weitere Mitverschwörer verrät, dafür plädiert, „sich der Hand der Kaisers" zu „unterwerffen" (Epi. III. 476), und Senecas mögliche Verwicklung in das Komplott andeutet (vgl. III. 497-502, vgl. auch Tac. Ann. 15. 56). Er leistet Nero einen großen Dienst, da er einen Vorwand findet, Seneca aus dem Wege zu räumen. Im weiteren Verlauf des Stückes wird er zu Neros Handlanger bei der Überfuhrung der Verschwörer (vgl. Epi. III. 607). Angesichts der gefolterten Epicharis gesteht schließlich Cervarius, verrät ebenfalls seine Freunde und verwendet die Technik des blandiri, die Schmeichelei, um sich bei Nero ins rechte Licht zu setzen (vgl. III. 315-325). Vgl. Pfister: Konzepte der Intertextualität, S. 28.

308 die Probe stellen. Eindeutiger als in der Agrippina präsentiert sich produktionsästhetisch eine offene intertextuelle Strategie von „Rezeptionslenkung" durch den Autor.600 Er macht die Referenz so deutlich, daß der Leser sie ohne Schwierigkeiten eruieren kann.601 Er nennt denjenigen Prätext, dessen Idee eine Situation zugrunde liegt, die als konstitutiv fur das ganze Drama angesehen werden kann. Noch weitaus deutlicher als im Falle der Agrippina lassen sich in der Epicharis strukturelle Analogien zu De dementia finden. Auch den anderen Anspielungen auf die Sanftmut liegt, wie wir sehen werden, die exemplarische Situation zugrunde, daß der Herrscher vor der Wahl steht, statt der sub formula verdienten Strafe dementia walten zu lassen. Zudem ist es nicht Seneca, der Entscheidungen fallt, sondern Nero, Adressat des Prätextes. Die Angeklagten fordern von ihm Milde sogar ein, der Hinweis auf die dementia erscheint als das wirksamste Mittel, das eigene Leben zu retten. Die hohe strukturelle Analogie zwischen Prätext und Haupttext ermöglicht es, daß die Epicharis in ein noch deutlicheres ideologisches Spannungsverhältnis zum Prätext tritt als die Agrippina, nicht nur, weil Nero und nicht Seneca die Entscheidungen fallt, sondern auch durch die Art und Weise, wie mit der Idee der dementia verfahren wird. Um dieses Verfahren aufzudecken, seien zunächst zwei Szenen untersucht, die implizit auf De dementia verweisen und deren prägnante Explizität am Ende vorbereiten. Zunächst sei die erste Überfuhrung der Verschwörer gegen Ende des dritten Aktes betrachtet (a), sodann das Plädoyer des Granius Silvanus für Gnade gegenüber Seneca im vierten Akt (b). (a) Daß im Kontext der Verschwörung, ihrer Aufdeckung und Neros Rache die Idee der dementia spielerisch und kalkulatorisch eingesetzt wird, demonstriert besonders die dritte Überführungsphase der Verschwörer gegen Ende des dritten Aktes. Verneinen diese zunächst standhaft ihre Schuld, erzielt schließlich Neros Angebot des vollständigen Verzeihens, des ignoscere (vgl. etwa De dem. 1. 6. 2), einen Umschwung in ihrem Verhalten. An das ignoscere knüpft er allerdings eine Bedingung: „Itzt ists noch Zeit zu lencken den Mast an Gnaden-Port. Die Schuld sey euch verzihn wo ihr nur stracks bekennt" (Agr. III. 676-678).602 Die nun folgende Auseinandersetzung mit den Angeklagten beweist eindrücklich, daß sich alle Beteiligten zwar der Macht des Hinweises auf die dementia bewußt sind, diese jedoch nurmehr in verkümmerter Form vorliegt. Alle drei Angeklagten bekennen ihre Schuld, hoffen auf „Gnad und Gütte" (III. 683) des Kaisers, verheißen ihm den „Weg zun Sternen" (III. 684), den er mit dem „Mittel" (III. 685) der dementia beschreiten würde, wenn er ihre Verbrechen mit „Gnaden-Augen" (III. 686) ansehe: So

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Heibig: Intertextualität und Markierung, S. 63. Dem Rezipienten werden weniger Allusionskompetenzen abverlangt (vgl. ebd., S. 95). Mit dieser Strategie hatte er bereits im Falle des Natalis Erfolg. Vgl. Anm. 598.

309 könne er sich „vergöttern" (III. 685), sich den Sinn der Götter zulegen, wie es in De dementia heißt (vgl. De clem. 1.5.7). Lohenstein führt in seinem gelehrten Kommentar nicht diesen Beleg an, sondern Verse aus der pseudosenecaischen Octavia, die dort von Seneca gesprochen werden. Stoff der Tragödie sind die historischen Ereignisse um die Beseitigung der Oktavia durch Nero, in deren Kontext weitere Opfer der kaiserlichen Grausamkeiten zu verzeichnen sind. In einem längeren Passus unterreden sich Nero und Seneca. Dieser versucht, den Kaiser vom Blutvergießen zurückzuhalten, mit deutlicher Anspielung auf De dementia·. „Magnum timoris remedium d e mentia est" {Oct. 442). Seneca will Neros Zorn beschwichtigen. In den Versen, die Lohenstein im Kommentar zitiert, bezeichnet er es als die „summa virtus" (476), sich um das Land zu sorgen, die Unterdrückten zu schonen, nicht im Zorn Blut zu vergießen, um dauerhaften Frieden zu erlangen (vgl. 472^176). Die pseudosenecaische Textstelle dürfte auch für die folgende Szenengestaltung im Drama das Vorbild gewesen sein. Dort fuhrt Senecio Lucanus' Argumentation weiter, indem er, wie auch Seneca in seiner Rede in der Octavia, den Topos vom milden Divus Augustus zur Sprache bringt: Wir wißen: Daß der Fürst von dem Augustus stammet / Der / als ihm Patavin gleich dreute Dolch und Tod / Dem Schuldigen nur Rom auf wenig Zeit verboth. Wir hoffen solche Gnad auch in Augustus Zweigen. (Epi. III. 688-691) 6 0 3

Der erste Vater des Vaterlandes, so Seneca in der Octavia, habe durch Milde den Weg zu den Sternen gefunden {Oct. 477f.). Besonders die Betonung des Verwandtschaftsverhältnisses zwischen Nero und Augustus soll den Kaiser überzeugen. 604 Lucanus' und Senecios Worte sind eine kurze imitatio der Senecaischen Rede über das milde Regiment aus der Octavia. Daß Lohenstein Verse aus der Tragödie in seinen Kommentar aufnimmt, bedeutet allerdings nicht, daß er die Autorschaft Senecas für gesichert hielt. Diese Frage soll auch hier nicht zur Debatte stehen.605 Wichtig ist, daß er 603

Der Text wählt einen der Augusteischen Gnadenakte als Exempel, bezieht sich hier nicht auf das bekannte Beispiel für die Augusteische Milde in De dementia, die Begnadigung des Cinna. Vgl. auch Lohenstein: Römische Trauerspiele. Anmerkungen, S. 282. Vgl. oben, S. 247f. 604 In De dementia heißt es nach der Erzählung der Cinna-Episode: „Ignovit abavus tuus victis; nam si non ignovisset, quibus imperasset?" (De dem. 1. 10. 1). 605 Vgl. von Lohenstein: Römische Trauerspiele. Anmerkungen, S. 292. Bei der Prätexta Odavia handelte sich um eine wichtige Ergänzung zu Senecas Schriften, wenn sie nicht sehr unsicher überliefert wäre. Sie fehlt in dem maßgeblichen Codex Etruscus. Heute geht man auch aus stilistischen, konzeptuellen und inhaltlichen Gründen, so etwa den Anspielungen auf historische Ereignisse, eher davon aus, daß die Tragödie erst nach Neros Tod verfaßt worden ist. Vgl. Otto Zwierlein: Kommentar zu den Tragödien Senecas. Stuttgart 1986 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der geistes- und so-

310 nicht nur inhaltlich die Figurenrede auf die Octavia bezieht, sondern auch strukturell Ähnlichkeiten aufbaut. Lucanus und Senecio verteidigen sich gegenüber Nero aus dem Geist Senecas heraus und suchen mit denselben Argumenten wie dieser in der Tragödie Octavia vom Nutzen der dementia zu überzeugen. Daß sie sich selbst verteidigen und nicht für jemand anderes sprechen, ist freilich ein nicht zu unterschätzender Unterschied. In der Octavia will Seneca Todesurteile verhindern, Lucanus und Senecio trachten danach, ihr eigenes Leben zu retten. Jedoch verfolgt Nero mit seinem Angebot, ihnen zu verzeihen, ganz andere Ziele, als tatsächlich im ideellen Sinn der dementia für sein Reich Sicherheit ex mansuetudine zu erlangen (vgl. De clem. 1. 8. 6). Was er nicht erreichte, indem er Strafmilderung in Aussicht stellte oder mit der Folter drohte, erlangt er nun auf dem Wege der Erpressung. Die Angeklagten gestehen, noch wird ihnen aber nicht verziehen, zuerst sollen sie die Namen der anderen Mitverschwörer verraten (vgl. Epi. III. 692). Auffallig ist ihre spontane Bereitwilligkeit, mit der sie Neros Forderung nachkommen und ihre Freunde verraten. 606 Es scheint, als hätten sie auf diesen Ausgang spekuliert, methodisch Widerstand an den Tag gelegt und ihre Mittäterschaft verschwiegen, um das schließlich verlockende Angebot anzunehmen. Sieht es zunächst so aus, als hätten sie Nero in der Hand, so kehrt sich das Herrschaftsverhältnis am Ende um. Neros Einsatz der dementia läuft auf eine Manipulation der Verschwörer hinaus, auf ein Mittel, sie umso besser beherrschen zu können. Begnadigt nämlich wird schließlich keiner der drei. Lucanus, Quinctianus und Senecio müssen schließlich sterben. In antikem Gewand konfiguriert diese kleine Episode jenes frühneuzeitliche Naturverhältnis, wie es uns schon im Leo Armenius und in der Agrippina begegnet ist. Der Gang in den Kerker«07 und besonders Senecas Eindringen in die intimen Gemächer der Kaiserinmutter 608 sind Vorstufen derjenigen gewalttätigen curiositas, mit der der occupatus Nero in der Epicharis die ihn umgebende und ihm offenbar feindlich gesinnte Natur unterwirft, ihre Wahrheit erpreßt. Im Gryphschen Drama fehlt noch das Vertrauen in die Kunst, über den Menschen auf dieselbe Art und Weise Wissen zu

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zialwissenschaftlichen Klasse, Einzelveröffentlichung 6), S. 445 und ders.: (Rez.) Lucile Yow Whitman: The Octavia. Introduction. Text and Commentary. Bern, Stuttgart 1978 (Noctes Romanae 16). In: Gnomon 52, 1980, S. 713-717. Vgl. auch Martin E. Carbone: The Octavia: Structure, Date and Authenticity. In: Phoenix 31, 1977, S. 48-67, hier S. 67f. Asmuth (Lohenstein und Tacitus) vermutet, daß Lohenstein hier „den Oberblick über seine vielen Nebenfiguren verloren" habe, die Namen der verratenen Personen tauchen teilweise im Inhaltsverzeichnis nicht auf und stimmen überdies nicht mit denen der später Verhafteten überein (vgl. S. 97f.). Vgl. oben S. 67f. Vgl. oben, S. 275f.

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erlangen und Herrschaft ausüben zu können wie über die übrige Natur. 609 Trotz eines weit größeren Optimismus in dieser Hinsicht konnten Senecas Forschungsergebnisse in der Agrippina qualitativ nur den Grad der Wahrscheinlichkeit beanspruchen. 610 Neros Naturverhältnis vereint die vollständige Kunst, den Menschen zu beherrschen, und die Produktion nicht nur von wahrscheinlichem Wissen, sondern der Wahrheit. Um diese Wahrheit zu erzwingen, wird die Idee der dementia wie in der Agrippina dem System unterworfen, dem sie in der Theorie des Philosophen Seneca gerade nicht angehören soll, demjenigen der Künste und Wissenschaften, die Fakten sammeln, um die curiositas zu befriedigen, die eigentliche Bildung des Menschen zum sapiens aber nur marginal befördern. 611 Eine raffinierte Änderung gegenüber den experimentellen Versuchen im Leo Armenius und in der Agrippina, die Natur des Menschen als Objekt des Wissensdranges verfügbar zu machen, liegt außerdem in der Methode. Um das ideale Herrschaftsverhältnis erlangen zu können, wird die Idee der dementia instrumentalisiert, einer Tugend, die das Gute der menschlichen Wesensnatur präjudiziell. „Auf den Schein Genade zu versprechen" (V. 656) ist eine legitime richterliche Praxis. Das scheinbar ernstgemeinte Angebot verfehlt nicht seine manipulatorische Wirkung, die es intendierte. Man hofft auf ein ideales gewaltfreies Herrschaftsverhältnis. Deshalb zeigen die Verschwörer nicht gerade Beständigkeit, sondern sie verraten die Freunde. Sie lassen sich manipulieren. Der Ausgang beweist, daß sich die dementia eben den Wissensformen verweigert, in die man sie eingliedert. Berechnung und Kalkül sind die falschen Grundlagen ihrer Praxis. (b) In der zweiten zu untersuchenden Szene liegt die besondere Situation vor, daß Seneca selbst das Objekt der kaiserlichen Gnade sein könnte. Selbstverständlich handelt es sich bei dem Auftritt des Granius Sylvanus, der um Milde fur Seneca bittet, um eine der wohl wichtigsten Erfindungen gegenüber der Taciteischen Quelle. Am Lehrer selbst sollen sich nun seine pädagogischen Maßnahmen erweisen. Wie schon erwähnt, war die Verschwörung für Nero wohl nur der Anlaß, Seneca zu beseitigen, ohne daß seine tatsächliche Mitschuld erwiesen gewesen wäre. 612 Neros Entschluß steht schnell fest, er wird Seneca zum Selbstmord zwingen (vgl. Epi. III. 514-520). Als Gesandten schickt er Granius Sylvanus zu Seneca, um den Freitod von ihm zu erwirken. Sylvanus kehrt von Seneca zurück und berichtet Nero von dessen sibyllischer Antwort, die Lohenstein in Übereinstimmung mit der Taciteischen Quelle wiedergibt. Seneca schätze das Leben des Piso nicht höher als sein eigenes, im übrigen kenne der Kaiser seinen freien Geist. Sylvanus berichtet, aus Senecas Ver609 610 6n 612

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

oben, oben, oben, oben,

S. 259. S. 287. S. 37f. Anm. 560.

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halten sei nicht zu erkennen gewesen, ob er von seinem bevorstehenden Tod gewußt habe. Nero befiehlt, Seneca die Nachricht zu überbringen, daß er sterben müsse (vgl. Epi. IV. 465^77, vgl. Tac. Ann. 15.61). Die entscheidende Abweichung von der historischen Quelle besteht darin, daß Lohenstein einen „stichomythischen Zangendialog" zwischen Granius Sylvanus, Tigellinus und Sabina Poppaea folgen läßt.613 Asmuth diskutiert die Referenz auf De dementia nicht, spricht lediglich davon, daß Granius Sylvanus versuche, „Nero von dem Todesbefehl gegen Seneca abzubringen."614 Wiehert hingegen meint, die Szene reflektiere die humanistische Jurisprudenz, die es im Sinne einer Humanisierung der Strafjustiz als „Wesensbestandteil des Rechts selbst" angesehen habe, jenseits des geschriebenen Rechts Urteile zu fallen,615 und für die De dementia ein Vorbild gewesen sei. Seneca sei aus Lohensteins juristischem Blickwinkel schuldig, da er stillschweigend mit den Verschwörern einverstanden sei.616 An Senecas Verurteilung manifestiere sich nun die gegenläufige Bewegung zur dementia, die Strenge, die zu Grausamkeit pervertiere.617 Das Plädoyer des Granius Sylvanus, im Falle Senecas, der Nero doch erzogen habe, „fürs Recht Genade gehn" zu lassen (Epi. III. 482), fordert aber nicht nur, wie Wiehert im Anschluß an Asmuth meint, „wenigstens auf die Todesstrafe zu verzichten,"618 sondern die volle Begnadigung. Dies ist schon aus dem Szenenaufbau ersichtlich. Der Gesandte kommt schließlich gerade von Seneca selbst und konfrontiert nun seine Zuhörer mit den Gedanken des Philosophen. In De dementia geht es ja nicht darum, die Strafen milder ausfallen zu lassen, sondern um die Alternative zur Kapitalstrafe. Nicht nur das biologische Leben, sondern auch Freiheit und Vertrauen sind wiederzuschenken. Der Schuldige sollte außerdem eine verantwortungsvolle Position erhalten (vgl. De dem. 1. 5f.).619 Auch wenn der Ausdruck „was milders" {Epi. IV. 492) suggerieren mag, daß es nur darum geht, die Strafe weniger hart ausfallen zu lassen, sind die Hinweise auf den idealen 613 614 615

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Asmuth: Lohenstein und Tacitus, S. 111. Ebd., S. 111. Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert, S. 443. Vgl. oben, S. 287f. Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz, S. 433. Wiehert weist Bezüge zu Lohensteins Schrift De voluntate auf, nach der sich Seneca durch seine voluntas tacita schuldig mache (vgl. ebd.). Vgl. ebd., S. 448. Arnd Beise (Verbrecherische und heilige Gewalt im deutschsprachigen Trauerspiel des 17. Jahrhunderts. In: Ein Schauplatz herber Angst. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert. Hrsg. von Markus Meumann und Dirk Niefanger. Göttingen 1997, S.105-124) hebt zu Recht hervor, daß Neros Zeichnung als Gewaltherrscher nicht überraschend sei, weil er schließlich das Verbrechen des Tyrannensturzes ahnden müsse (vgl. S. 118). Das, was Neros Gewalt erst besonders mache, sei sein „purer Sadismus" (ebd.). Lohenstein bedient aber auch damit das kulturelle Gedächtnis; so, wie er Nero auf die Bühne bringt, wird er erwartet. Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz, S. 449. Vgl. oben, S. 248.

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Herrscher, wie ihn De dementia zeichnet, doch eindeutig. Nicht „Richter" solle Nero sein, sondern „Rechtsprecher", nicht das iustum ermitteln, sondern das iustissimum (vgl. De clem. 2. 7. 3).620 Hartes Strafen vergrößere die Unsicherheit (vgl. Epi. IV. 502). Schließlich verweist der römische Ritter auf das christlich-stoische Naturrecht: Tigellinus' Glauben an die Vernunft und Wirksamkeit der geschriebenen Gesetze (vgl. IV. 503) tritt er entgegen. „Man mag für Senecen zwölf neue Taffeln etzen" (IV. 504). Mit der Frage „Glaubt: Daß den Fürsten nichts so wol als Gnad ansteh?" (IV. 510) zitiert er wörtlich Senecas Schrift: „Nullum tarnen dementia ex omnibus magis quam regem aut principem decet" {De clem. 1. 3. 3). Die Referenzen auf De dementia sind im Verein mit der Figurenkonstellation so prägnant, daß es im Kontext der Schrift nicht nur darum gehen kann, von der Todesstrafe Abstand zu nehmen, indem mildernde Umstände geltend gemacht werden, wie Wiehert und Asmuth behaupten. Granius Sylvanus führt zwar zu Beginn Senecas „Verdienst" (IV. 492) ins Feld. Er weiß aber, daß in diesem Fall von Senecas definitiver Mitschuld ausgegangen wird, die keine mildernden Umstände beschönigen können. Im Sinne von De dementia fordert er keine Strafmilderung, sondern eine völlig andere rechtliche Orientierung, die zur vollständigen Begnadigung führen soll. Nero hingegen, während all dem ein stiller Zuhörer, fallt am Ende das gegenteilige Urteil: „Es sterbe Seneca. Spar also Rath und Bitten" (IV. 520). Die intertextuelle Referenz zu De dementia erreicht in dieser Szene aus zwei Gründen den Höhepunkt ihrer Prägnanz. Zum einen wird ihre Idee in Reinform vertreten. Sie wird nicht mißbraucht, um dem Kaiser zu schmeicheln oder um noch weitere Namen der Verschwörer zu erpressen. Zum anderen fuhrt Nero als Adressat der Schrift ihre Idee ad absurdum, indem er den Autor selbst ihren rein theoretischen Anspruch fühlen läßt. Kaum deutlicher könnte er ihm vor Augen führen, daß seine philosophische Paränese in der aktuellen politischen Wirklichkeit wirkungslos ist. Genau darüber aber, so scheint es, macht sich Seneca selbst keine Illusionen. Ist sein Schweigen in der Sterbeszene als Zugeständnis an den bereits erarbeiteten Befund zu verstehen, daß die dementia ihren Anspruch lediglich als Theorie behaupten kann? Worin liegt der Sinn ihrer Absenz in Senecas letzten Reden? (II) In der Sterbeszene findet sich nur in den Worten von Senecas Frau Paulina eine Anspielung auf De dementia, wenn sie die ,Gnade' Neros, Seneca möge sich die Art des Sterbens wählen, kommentiert: „Muß man den Sterbens-Zwang noch unter Gnaden zehin" (V. 146).621 Ansonsten ist in

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Vgl. oben, S. 250. Montaignes Essay dürfte der Szene als Vorlage gedient haben (vgl. Montaigne: Les Essais. Bd. 4, S. 747-750).Von Senecas Beziehung zu seiner Frau Paulina wissen wir nicht viel. Bekannt ist Paulina besonders durch seinen Tod geworden. Offenbar war Seneca ihr sehr zugetan, er spricht jedenfalls anläßlich einer Krankheit zärtlich von ihr: „Nam cum sciam

314 Senecas Reden De dementia als explizierter Prätext gleichsam abwesend, aber bei genauer Analyse unzweideutig implizit präsent. Seneca interpretiert seinen Tod als „Zwang" (V. 331). Er stellt ihn als „Form der Hinrichtung"622 dar. Des weiteren spricht er von seiner Freiheit (vgl. V. 15), seiner Rechtlosigkeit, Einspruch zu erheben (vgl. V. 19), und von seiner Schuldlosigkeit (vgl. V. 31). Dieser letzte scheinbar unbedeutende Hinweis ist der wichtigste Grund dafür, warum die Anspielungen auf die Gnade ausbleiben. Diese kommt nur jemandem zu, der tatsächlich im Sinne des Gesetzes schuldig ist. Als einen solchen stellt sich Seneca aber nicht dar, was natürlich erheblich zur eigenen Heroisierung und zur Glorifizierung beiträgt, aber der konkreten Situation nicht Rechnung trägt. Seneca hat zwar nicht im allgemeinen, jedoch in dieser historisch besonderen Situation den Tyrannenmord als Notwendigkeit anerkannt (vgl. I. 602),623 deshalb ist er sub formula schuldig. Seneca weist aber sein ehemaliges Einverständnis weit von sich. Schloß er sich bereits während der feierlichen Besiegelung der Verschwörung aus der Gemeinschaft aus,624 so verstärkt er kurz vor seinem Tod seine Isolation. Epicharis' letzten Bitten um aktive Teilnahme tritt er so entgegen, als hätte er nie Zustimmung erteilt.625 Die unerwartete und brüske Zurückweisung des Vorhabens gehört zur Inszenierung der Unschuld: „Was euch vergünstigt ist / ist Senecen nicht recht" (V. 13). Die mögliche Begnadigung diskutiert er nicht, da er ja vorgibt, gänzlich unschuldig zu sein. Insofern instrumentalisiert auch er die Schrift, indem er sie scheinbar ignoriert. Dies ist intertextuell der Sinn ihrer Absenz. Während nämlich alle anderen nach dem geschriebenen Gesetz schuldig sind und formal Gnadensuchende sein könnten, was die häufigen Anspielungen deutlich machen, nimmt er sogar dem Anliegen des für ihn bittenden Granius Sylvanus das Fundament.626 Für die Konstruktion seines Nachruhms ist die Leugnung jeder Schuld unverzichtbar. Noch öfter betont er im weiteren Gespräch seine Unschuld und daß er zu Unrecht zum Selbstmord verurteilt werde: „Es scheint nichts

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spiritum illius in meo verti, incipio, ut Uli consulam, mihi consulere" (Ep. 104. 2). Im übrigen sind von Seneca Fragmente einer Abhandlung De matrimonio überliefert, wo der Philosoph einem Weisen abrät zu heiraten, da eine Ehe ihn von seinen Studien abhalte und der Aufwand, sich um die Ausstattung, Krankheiten oder Eifersüchteleien der uxor zu kümmern, zu viel Zeit brauche (vgl. De matr. 48-50, zitiert wird nach: Lucius Annaeus Seneca: Opera quae supersunt. Supplementum. Ed. Friedrich Haase. Leipzig 1902, hier S.26-32) Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz, S. 438. Vgl. Speilerberg: Daniel Casper von Lohenstein. Für Elida Maria Szarota, S. 666. Vgl. Wiehert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz, S. 432. In der Agrippina liegt ein wesentlicher Unterschied zur Taciteischen Quelle darin, daß Epicharis sowohl Piso als auch Seneca kurz vor ihrer Sterbestunde noch einmal zum Widerstand auffordert. Vgl. auch Asmuth: Lohenstein und Tacitus, S. 92. Vgl. oben, S. 312.

315 Neues mir: Daß Unschuld Schuld muß seyn" (V. 109). Daß er nun durch Nero „ein gewaltsam Tod" (V. 272) erleiden müsse, sei „der Unschuld Zeichen" (V. 272). Seinem Sterben gibt er so jenen heroischen Anstrich. Er ist offenbar unter all den Schuldigen, die Nero potentiell begnadigen könnte, der einzige Unschuldige, der vollkommen zu Unrecht den Tod findet. Für die Inszenierung seines Nachruhms ist weiterhin von Bedeutung, daß er nicht nur sein jetziges Verhalten, sondern auch seine Vergangenheit als ein im stoischen Sinne perfekt gelebtes Leben stilisiert. Sein „unschuldig Leben" (V. 111) falle den Verleumdungen der Neider anheim. Er sei das Opfer der Intrigen und der mangelnden Urteilsfähigkeit seiner Umwelt. Wie auch die jetzige Verdächtigung seien die übrigen Anschuldigungen „frembder Wahn", der aber den „Glantz von Tugend" nicht mindern könne (V. 124). Auffällig ist vor allem, daß er die Beteiligung am Muttermord von sich weist (vgl. V. 119-123). In der Epicharis verhüllt Seneca durch sein offenbar heroisches Verhalten im Sterben und seine pathetischen Hinweise auf ein makelloses Leben die vergangene Divergenz von Leben und Lehre, die er in der Agrippina in der Frage fur oder wider die Sanftmut an den Tag gelegt hatte. Er macht glauben, daß er in seiner Vergangenheit niemals gegen seine eigene Lehre gehandelt habe und gegenwärtig auch nicht selbst das Opfer der ihr inhärenten Problematik von Theorie und Praxis werden könne, da er nicht schuldig und insofern nicht gnadenfallig sei. Senecas unkritischer und gleichzeitig pathetischer Blick auf sein gesamtes Leben soll einer perfekten Stilisierung zum sapiens dienen. In der Tat aber ist die Kongruenz von Leben und Lehre nur insofern gewährleistet, als Seneca seinen Tod nicht als Übel betrachtet. So lesen wir beim Philosophen, der Tod sei kein Übel, sondern das gleichmütige Sterben naturgemäß, denn der Tod begleite das Leben von Geburt an. „Ex quo natus es, duceris. Haec et eiusmodi versanda in animo sunt si volumus ultimam illam horam placidi expectare cuius metus omnes alias inquietas facit" (Ep. 4. 9): „Zu dem wir sterben ja schon vom Geburthstag an" (Epi. V. 257). Zwischen Leben und Tod besteht für die Stoa kein qualitativer Unterschied. Der dramatische Seneca stellt sich bewußt in eine Linie mit Sokrates (V. 130) und Cato: „Mir und dem Cato ists nicht schimpflicher / das Leben zu bitten / als den Tod" (V. 343f.). Nicht fehlen darf im naturgemäßen Sterbegestus der Hinweis auf die unberührte Natur, die gleichsam andere Welt, in der die irdischen Prinzipien der Naturunterwerfung unwirksam sind: Laß jenen Wütterich den Tag mit Pfeilen schwärtzen / Nicht einer trifft den Zweck der güldnen Himmels-Kertzen; Und Xerxes / deßen Wahn das Meer mit Rutten streicht / In Abgrund Ketten wirft / lernt: Daß sein Arm nicht reicht Dem Waßer weh zu thun / und den Neptun zu binden. (Epi. V. 51-55)

316 Der angebliche Einklang von philosophischer Lehre und praktischem Handeln im Sterben hat eine deutliche Funktion. Da Seneca nicht versucht, sich dem Tod zu entziehen, und sich der allgemeinen Meinung der Vielen, er sei ein Übel, nicht anpaßt, beglaubigt er alle seine anderen Worte. Daß Seneca die Sterbestunde nutzt, durch diese punktuelle Kongruenz von Theorie und Praxis deren ehemalige Divergenz zu vertuschen, fällt dabei kaum auf, demaskiert aber letztlich auch den offenbar echt stoischen Sterbegestus als Schein. Kommt auf den ersten Blick in Senecas Gleichmut, mit dem er in den Tod geht, durchaus jenes „traditionelle christlich-stoische Deutungsmuster zu Wort, daß Tugend dem blutigen Ende entgegeneilt und dieses Ende doch nicht als ein Unglück zu deuten ist,"627 so wird dieses Muster doch bei genauerem Hinsehen durch den vermeintlichen Tugendträger selbst gebrochen. Zwischen dem Seneca in der Agrippina und demjenigen in der Epicharis besteht keine Differenz. Der Eindruck, den die Seneca-Figur in der Agrippina hinterläßt, daß Leben und Lehre nicht kongruieren, erhält in der Epicharis weitere Nahrung, denn in letzterem Drama inszeniert er seinen Nachruhm. Er ignoriert das Konzept der dementia, womit er bedeutet, daß es auf ihn nicht anwendbar sei. Allerdings ist er nach dem geschriebenen Gesetz nicht vollkommen unschuldig. Außerdem leugnet er die Beteiligung am Muttermord und verklärt sein vergangenes Leben, damit ihm nach seinem Tod Ruhm zuteil wird. An sich beurteilt der Philosoph Seneca den Ruhm, der einem nach dem Tod zuteil werde, als ein Gut (vgl. Ep. 102. 3), besonders deshalb, weil das Beispiel großer Männer der Nachwelt nützen könne: „Cogita quantum nobis exempla bona prosint: scies magnorum virorum non minus praesentiam esse utilem quam memoriam" (Ep. 102. 30). Jedoch ist von dem Ruhm, der sich durch eine rechte Lebensführung einstellt, derjenige zu unterscheiden, der planvoll und durch Lüge über Vergangenheit und Gegenwart erworben wird. Seneca in der Epicharis ist ein occupatus im Bereich der gloria, der kalkulierend und simulierend seinen Ruhm konstruiert im Bewußtsein dessen, wessen man ihn anklagen könnte, daß Leben und Lehre nicht immer übereinstimmten. Er vertuscht seine ehemaligen Taten als homo politicus, als er im Sinne der Staatsräson handelnd die Prämisse des naturgemäßen Lebens nicht beachtete. Nur auf den ersten Blick hat Lohenstein hier ein Gegenbild zur SenecaFigur in der Agrippina geschaffen, einen echt stoischen Weisen, der sich in Einklang mit seiner Philosophie befindet. In beiden Dramen handelt Seneca nicht naturgemäß und erfüllt nicht den ethischen universalen Anspruch. Noch nicht einmal ist die stoische Philosophie als ars moriendi überzeu-

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Spellerberg: Daniel Casper von Lohenstein. Für Elida Maria Szarota, S. 667.

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gend. Das ,echt' stoische Sterben erschüttert wegen seines simulatorischen und inszenatorischen Charakters nicht. Leicht beutet Seneca die Gedanken nicht nur über die dementia, sondern auch über das Sterben aus, um selbst über sein Bild, das der Nachwelt bleibt, im Lügen Herrschaft zu erlangen. Sollte die Interpretation aber dabei stehen bleiben, daß Seneca „gleisnerisch" in den Tod gehe und die Idee der stoischen Philosophie keinen „Selbstwert" mehr habe?628 Warum demonstriert Lohenstein am Stoiker wiederum selbst die Uneinlösbarkeit des Anspruchs, ein naturgemäßes Leben zu fuhren? Es liegt auf der Hand, daß er wohl kaum eindrücklicher das vor Augen führt, was er bereits in der Agrippina anklingen ließ. Ein Naturverhältnisses ist uneinholbar, das Natur als Anknüpfungspunkt für das Handeln im Sinne des christlich-stoischen Naturrechts, auf der Grundlage des Gewissens und der Bergpredigt, voraussetzt und versteht. Den Verlust einer solchen Natur markiert schon der Beginn des Dramas. Die vermeintliche vam'tas-Klage über den Brand von Rom allegorisiert die absolute Vernichtung der göttlichen Allnatur durch die Menschen, die occupati. Nicht mehr regiert, wie noch in der Agrippina, die menschliche Kunst die Natur und formt sie dabei bis zur Unkenntlichkeit um, sondern die Herrschaft über die Natur drückt sich aus durch deren Vernichtung. Der Übeltäter Nero ist Stellvertreter für diese Form der Naturbeherrschung. Natur wird zerstört, in der Illusion, unabhängig von den durch sie gesetzten Grenzen etwas ganz Neues errichten zu können.629 Zurück bleibt nur verbrannte Erde. Der Brand von Rom verursacht die Atmosphäre einer Seuche: „Die Bäume sind versängt / die wilden Kräuter stehn viel höher als die Thürm / und auf den Mauern gehn unnütze Neßeln a u f (I. 5-7). Allgemeines Anzeichen der Verwesung ist das Versiegen des Wassers: „Strom und Kwäll versäugt / und was man ewig schätzt" (I. 21). Rom siecht wie andere aufgrund ihrer zivilisatorischen Leistungen ehemals berühmte Städte dahin (vgl. I. 18f.). Epicharis läßt an dem Grund des Niedergangs keinen Zweifel. Die „Pest" (I. 31) sei nicht Ausdruck des Verhängnisses, sondern Produkt des Menschen selbst (vgl. I. 26-30). Möglicherweise ist die Darstellung der Pest inspiriert durch die ähnliche Schilderung an etwa gleicher Stelle in Senecas Oedipus. Eindringlich exponiert Oedipus' Prolog die „funesta pestis" (Oed. 55), Metapher für das zentrale Thema des Stückes, die Verletzung der lex naturae,630 Das versiegende Wasser macht das Überleben unmöglich: „deseruit amnes umor atque herbas color" (Oed. 41); die Saat verfault: „denegat fructum Ceres adulta, et

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Verhofstadt: Untergehende Wertwelt, S. 228 Der Brand von Rom brach vom 18. auf den 19. Juli des Jahres 64 n. Chr. am Circus Maximus aus und dauerte etwa neun Tage. Angeblich weilte Nero zum Zeitpunkt des Ausbruches nicht in Rom. Um Gerüchten aus dem Wege zu gehen, daß er der Initiator gewesen sei, beschuldigte er die Christen und setzte ihre grausame Verfolgung in Gang. Vgl. oben, S. 59.

318 altis flava cum spicis tremat, arente culmo sterilis emoritur seges" (Oed. 49-51). Die Wendung „deest terra tumulis, iam rogos silvae negant" (Oed. 68) findet sich in dem Ausdruck „die Gräber gehn zu Grabe" (Epi. I. 11) wieder. Der Tod ist allgegenwärtig, und es fehlt ausreichend Erde, um die Toten zu bestatten. Der Eindruck der Pest, den die Schilderung hervorruft, ist hier wie dort eine Metapher für die Verletzung des stoischen Naturrechts, in der Agrippina fur die Zerstörung der Möglichkeit eines stoisch-christlichen Naturverhältnisses, der Nichtstoiker Seneca dessen eindringliche Konfiguration. In der Nachfolge der Agrippina diskutiert das Drama am Theoretiker der stoischen Philosophie die Unmöglichkeit ihrer Aktualisierung in einer Lebenswelt, deren Grundlagen in einem anderen Naturverständnis zu suchen sind.

Epilog: Es gibt keine Stoiker mehr Im Vergleich zu Lohensteins Antwort auf die Stoa ist Gryphius noch optimistisch. Zwar können weder Catharina noch Papinian durchgehend überzeugend als Stoiker begriffen werden, aber sie entwickeln sich immerhin zu solchen. Bei Lohenstein fehlen diese Figuren. Selbst Seneca in der Epicharis ist kein sapiens, der im Tod ein hehres Tugendideal einzulösen vermag, sondern ein occupatus wie alle anderen Figuren, den Konventionen der politischen Welt verfallen. Den Mechanismen der jegliche christliche Normen negierenden Selbstbehauptungsstrategien gibt auch er nach und unterwirft sich seine eigenen Gedanken zur dementia und zum Tod, um seinen Ruhm zu inaugurieren. Sterben mußte er ohnehin, die Sterbestunde aber gestaltet er nach Maßgabe der utilitas für das Bild, das er der Nachwelt hinterlassen will, ohne Rücksicht darauf, ob seine Worte der Wahrheit entsprechen. An seiner Figur demonstriert das Drama radikal die Unmöglichkeit, Natur im stoischen Sinne zu verstehen. Wie Gryphius' reflektieren Lohensteins Dramen die frühneuzeitlichen wissenschaftlichen Entwicklungen, deren Naturverständnis eine gelebte stoische Philosophie ausschließt und die die Grundlagen für das konstruierte Naturrecht schaffen. Auf der Basis eines mechanistischen Naturbegriffs und einer pessimistischen Anthropologie entzweien sich Natur und Kultur, Ethik und Politik. Die Frage, ob dennoch ein stoisches Naturverhältnis praktiziert werden kann, das die Gewissensansprüche des einzelnen nicht mit den Anforderungen des Staates kollidieren läßt, beantwortet Gryphius noch anders als Lohenstein. Es ist nicht unmöglich, wie Catharina und Papinian, sich zu Stoikern zu entwickeln und zur unberührten Natur zurückzufinden. Dies bedeutet jedoch eine eigensinnige Weltflucht mit der folgenreichen ethischen und zugleich politischen Entscheidung für das stoisch-christliche Na-

319 turrecht, die von der Außenwelt nicht mehr verstanden oder akzeptiert wird. Lohenstein läßt keine seiner Figuren das stoische Naturverhältnis aktualisieren, selbst nicht Seneca, den Ahnherrn der stoischen Philosophie. Eine überzeugende Alternative bietet er aber ebenso wenig an. Rudimente eines gelebten Stoizismus finden sich bei Gryphius, dessen Unmöglichkeit bei Lohenstein. Negativ formuliert lautet der Befund hier wie dort: Es gibt keine echten Stoiker mehr, da den Voraussetzungen fiir eine nicht nur theoretische, sondern auch praktische stoische Philosophie in der Frühen Neuzeit der Boden entzogen wird. Die Gründe für diese Entwicklung sollen nicht nur negativ, sondern auch positiv gesehen werden. Es ist zweckmäßig, daß die beginnende Moderne eine Philosophie nicht mehr zuläßt, die ihren Errungenschaften und der an sich emanzipatorischen Einsicht, daß sich der Mensch als occupatus seine Welt selbst erschließen und gestalten muß, hemmend entgegenwirkt. Das barocke Drama markiert die vielleicht anfanglichen Fehlentwicklungen dieser im 17. Jahrhundert noch nicht zweifelsfrei legitimen Einsicht, die aber das Fundament der modernen Welt werden sollte.

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und

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Die Tragik

in den Medea-Dramen.

In:

Literaturwissenschaftliches

Jahrbuch.

Neue

Folge 19, 1978, S. 2 7 - 6 3 . -

(Rez.): Lucile Yow Whitman: The Octavia. Introduction, Text and Commentary. Bern, Stuttgart 1978 (Noctes Romanae 16). In: Gnomon 52, 1980, S. 7 1 3 - 7 1 7 .

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Kommentar zu den Tragödien Senecas. Stuttgart 1986 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, Einzelveröffentlichung 6).

Namenregister Aufgenommen wurden aus dem analytischen Teil der Arbeit die Namen der relevanten historischen Persönlichkeiten und der mythologischen Figuren sowie der Vertreterinnen und Vertreter der Darstellungen und der Forschungsliteratur. Ausgenommen wurden Andreas Gryphius, Daniel Casper von Lohenstein und Lucius Annaeus Seneca, da diese ohnehin explizit oder implizit omnipräsent sind.

Abel, Günter 6, 8, 11,46, 119 Achill 252 Adam, Traute 240, 249f. Adorno, Theodor W. 17, 62 Agamemnnon 246f., 252f. Agrippina 12, 140, 163, 164, 166f., 228-230, 232-246, 254, 262-300, 305-308, 310f., 314-318 Aikin, Judith Popovich 171, 174, 203, 205, 236, 304 Aison 179, 181 Alanus ab Insulis 102 Alciatus, Andreas 77 Alewyn, Richard 2, 87, 108, 180 Alexander der Große 194, 203 Alt, Peter Andre 11, 18, 80, 97, 111, 113, 117, 174, 177, 196, 200, 21 Of. Ambrosius 102 Angehrn, Emil 100 Antigone 30, 32-36, 38, 44f., 47f., 57, 261 Antigonus 215 Antonius 167, 189f., 193-195, 205-207, 210,215f., 218, 222, 228f., 286 Apollonios Rhodios 179 von Aquin, Thomas 23,47, 236 Archibius 193, 198 Arend, Stefanie 131 Arendt, Hannah 52, 60, 71, 114, 120, 136, 140f., 145, 147,283 Argos 184 Aristoteles 291 Arminius 154, 159, 208, 287, 297 Arndt, Johann 77 Aristoteles 22f. Artabazes 215 Asmuth, Bernhard 165, 229, 231, 238, 245f. 263, 266, 278, 281 f., 285, 300-303, 310, 312-314

Astyanax 253 Athene 184 Atreus 89, 99, 257 Atropos 214 Augustus (Oktavian) 165-168, 171-178, 182, 186, 188-199, 201 f., 206-208, 211 f., 216f., 218, 221 f., 226-228, 2 4 6 248, 251, 253-258, 262, 272f., 286, 309 Ausonius 102 Bacon, Francis 11, 16, 23, 43, 74 Banet, Ilona 152f.,217 Barlaeus, Caspar 26 Barner, Wilfried 6, 30-33, 44, 129, 215, 217-219, 231,259 Bassian 139f„ 144, 195, 238, 286 Bauer, Barbara 13, 188 Bauer, Volker 269 Becker-Cantarino, Barbara 102 Behar, Piene 154f., 160f„ 164-166, 170, 172f., 191, 200, 203, 205, 234f„ 304 Behrends, Okko 125f. Beise, Arnd 312 Benjamin, Walter 28, 74, 75f., 79-81, 88, 105, 110-117, 147, 156f.,212f., 227 de Benserade, Isaac 165 Bernd, Clifford Albrecht 100 Besoldus, Christoph 125, 236 Blänkner, Reinhard 7 Blänsdorf, Jürgen 249f. Blumenberg, Hans 9, 37, 39, 43, 59, 76, 91, 108, 134, 178, 184, 200, 202, 213, 2 1 9 222, 225, 279f„ 288f. Bodin, Jean 125f., 175 Bodmer, Johann Jacob 105 Boeder, Johann Heinrich 19 Boethius, Anicius Manlius Severinus 124 Bogner, Ralf Georg 31 f., 86

344 Bolz, Norbert 113 Bonfatti, Emilio 9 4 Borgstedt, Thomas 8 4 - 8 6 , 153, 157, 204 Bornscheuer, Lothar 4, 18, 29, 84, 86, 143, 145 Boxhomius, Marcus 19 Boyle, Anthony James 99, 182, 184f., 196f. Brancaforte, Charlotte L. 262 Brede, Laetitia 305 Breitinger, Johann Jakob 105 Brenner, Peter J. 8, 10, 12, 17, 43, 86, 140, 142, 1 7 6 , 2 7 9 , 289, 295 Brinker-von der Heyde, Claudia 31 f. Britannicus 2 3 7 - 2 4 2 , 244, 2 6 3 , 279, 299, 307 Brödner, Erika 2 6 9 Budde, Bernhard 17, 29, 54, 255 Büchner, Karl 241, 251 Buhr, Heiko 2 1 9 Bumann, Waltraud 21 Burrus 229f., 237, 239, 2 4 4 - 2 4 7 , 254, 275, 2 7 8 - 2 8 1 , 2 9 0 f . , 3 0 6 f .

Cysarz, Herbert 79, 153 von Czepko, Daniel 21 175, 128,

188,

136,

281,

263,

Caelius 2 1 0 Caligula 123, 3 0 0 Calvin, Johannes 22, 25 Canidius 2 1 6 Carcopino, Jerome, 2 7 6 Carbone, Martin E. 3 1 0 Catharina von Georgien 12, 70, 8 0 - 9 0 , 9 4 97, 1 0 0 - 1 1 0 , 1 1 2 - 1 1 5 , 1 1 7 - 1 2 4 , 127, 129, 139, 141, 146f., 149, 167, 174, 178, 198f., 2 0 1 , 2 2 3 , 3 1 8 C a t o 3 0 4 , 315 Catull 185 Caussinus, Nicolaus 82 Cervarius Proculus 307 ChachAbas 82, 84, 101, 118, 195 Charron, Pierre 5 Chrysipp 8 Cicero 37, 40f., 1 1 9 - 1 2 3 , 2 8 7 , 292 Cinna 247f., 2 5 1 , 253f., 257, 273, 3 0 9 Claudius (römischer Kaiser) 2 3 9 Cleopatra 12, 154, 1 6 3 - 1 6 9 , 1 7 1 - 1 7 8 , 182, 186f., 1 8 9 - 2 2 8 , 233, 235, 237, 267f., 286 Cogeler, Johannes 77 Colvin, Sarah 197 Conrady, Karl Otto 33 Corneille, Pierre 82, 247 Cornelius Gallus 196 von Creutz (Freiherr), Friedrich Kasimir Karl 231 Crüger, Peter 24

Daedalus 66 Davis, Peter J. 188 Daniel (Danielbuch) 170f. Delrio, Martin Anton 5 Descartes, Rene 10, 13, 16, 23f., 43, 46, 54, 74, 132, 135f., 141, 272, 2 7 8 - 2 8 5 , 288f., 298 Desmarets de Saint-Sorlin, Jean 2 2 9 Deupmann, Christoph 7, 4 9 Diakun, Gertrud 2 1 8 Dilthey, Wilhelm 7 Dio Cassius 124, 165 Diogenes Laertius 37, 2 6 9 von Dohna, Hannibal 19 Dodds, Erik Robertson 38 Dräger, Paul 179f. Drux, Rudolf 75 van Dülmen, Richard 48 Düttmann, Alexander Garcia 113 Durchardt, Heinz 7 Ebeling, Gerhard 76 Eggers, Werner 101 Elias, Norbert 269, 275f. Elisabeth von der Pfalz 24 Emrich, Wilhelm 85 Epicharis 12, 153f., 163f., 166f„ 2 1 1 , 2 2 8 236, 2 7 3 , 3 0 0 - 3 1 8 Erasmus, Desiderius 5 Euripides 181 Exabolius 54, 61, 68 Feger, Hans 17, 121 Fleckenstein, Joachim 43 Flemming, Willi 19, 25, 64, 82 Forschner, Maximilian 9f., 39f., 47, 73, 92, 209, 264 Fortuna 206f., 209f. Foucault, Michel 4 2 , 73f., 75f., 80f., 93, 108, 113 Freud, Sigmund 91, 2 6 2 Fricke, Gerhard 79 Friederich, Werner Paul 151 Friedlaender, Ludwig 238, 268, 2 7 0 Fülleborn, Ulrich 95, 153f„ 156, 1 7 2 , 2 1 7 Fürnkäs, Josef 113 Fuhrmann, Manfred 12, 39, 59, 99, 121, 214f., 2 2 9 - 2 3 1 , 239, 241f., 244, 250f., 255, 2 6 1 , 3 0 0 - 3 0 2 , 3 0 7 Furrer, Rudolf 175, 205 Gaede, Friedrich 15, 31 f., 69, 153 Gaia 142

345 Galilei, Galileo 42 Garber, Klaus 75, 110-111, 157 Gardt, Andreas 32 Gatz, Bodo 170 Gehlen, Arnold 219f. Geitner, Ursula 61 van Gelderen, Martin 7 Geyer, Paul 51 Giarda, Chistoforo 77 Gigon, Olof 97 Gil, Alberto 182, 184 Gilbert, Gabriel 229 Gillespie, Gerald Ernest Paul 82f., 86f., 101, 118, 156, 173, 191, 193, 196, 276, 280, 3 03 f. Gloy, Karen 46 Goez, Werner 170 Gottsched, Johann Christoph 120 Granius Silvanus 308, 311, 312f. Graciän, Balthasar 152, 210 Griffin, Miriam T. 243f. Grimal, PierTe 87, 92, 134f., 213, 240-244, 253, 264, 307 Grimm, Gunter F. 22, 42f., 120, 160 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel 294-296 Gronovius, Johann Friedrich 5 Grotius, Hugo 13, 46^49, 51-53, 128, 130f., 158, 195,268 Gruterus, Janus 5 Gryphius, Christian 19 Guthrie, William Keith C. 36

Habersetzer, Karl-Heinz 126, 143 Hadamowsky, Franz 180 Hadot, Ilsetraut 40, 93 Halfwassen, Jens 116 Hankamer, Paul 95, 153 Harasimowicz, Jan 76 Harring, Willi 28 Harsdoerffer, Georg Philipp 80, 104f. Harvey, William 42, 262 Heckmann, Herbert 127 Hegel, Georg Friedrich 71, 147 Heisenberg, Werner 52 Hekuba 252 Heibig, Jörn 32, 132, 237, 306, 308 Heldmann, Konrad 89 L'Hermite, F r a n c i s Tristan 229 Herodian 124 Hess, Günter 231 Hieronymus 170f. Hildebrandt, Heinrich 20, 304 Hippe, Max 165,229

Hobbes, Thomas 10, 13, 16, 23, 46f., 49-53, 157, 197f., 220, 248f., 261, 279, 290, 293f., 298 Höpel, Ingrid 77 Hoffmann von Hoffmannswaldau, Christian 235 Hoffmann, Hasso 49 Holthius, Susanne 201 Honnefelder, Ludger 46 Hooft, Pieter Corneliszoon 28 Hooke, Robert 42 Horaz 183 Horkheimer, Max 62 Horn, Eva 105 Hostilius 140, 286 Hübsch, Stefan 40 Husserl, Edmund 108 Iason 178-181, 188, 196f. Ibraim Bassa 165f., 168 Ibraim Sultan 154, 166, 168f., 174 Idmon 185 Ikarus 66, 69, 163 Ilting, Karl-Heinz 4 9 , 5 1 Imanculi 117-119, 121-124 van Ingen, Ferdinand 17, 84f. Jaeger, Werner 37 Jamme, Christoph 178 Jaumann, Herbert 33, 110 Jauss, Hans Robert 107 Jons, Dietrich Walter 74f., 77-79, 94, 96, 102f. Joos, Heidel 103 Julia (im Papinian) 139, 144 Julius Caesar 216, 247 Jung, Anthony 168f., 174, 207 Jungius, Joachim 43 Jupiter 204 Juretzka, Jörg J. 165, 176, 207 Just, Klaus Günter 153, 166, 169-171, 232, 234, 262, 273, 305 Kafitz, Dieter 160, 218 Kaiser, Gerhard 15, 28, 54, 64, 255f. Kaminski, Nicola 18, 27, 67, 80, 101, 127, 143 Karl I. von England 19 Karl der Große 171 Kayser, Wolfgang 155, 168 Kedrenos, Georgios 27 Kepler, Johannes 42 Kerferd, George B. 36 Kerkhoffs, August 165 Kersting, Wolfgang 50f., 198 Ketelsen, Uwe-K. 216

346 Kiesel, Helmuth 61 Kimmich, Dorothee 135 Kindermann, Udo 75 Kintzinger, Marion 115 Kirchner, Hermann 125 Kittler, Friedrich A. 246 Kittsteiner, Heinz D. 40, 47 Klauck, Hans-Josef 40f., 72 Kleanthes 8 Klein, Johannes 191,232 Kleist, Ewald Christian von 231 Klotho 214 Knoche, Ulrich 89 Knopf, Jan 295 Kolumbus 168 Konstantinovic, Zoran 12 Kopernikus, Nikolaus 20-26, 53, 69, 160, 295 Koschorke, Albrecht 78f. Koselleck, Reinhart 1, 107 Kreon (König von Theben) 36 Kreon (Bote in Senecas' Oedipus) 63, 65 Kreusa 181 Kriele, Martin 48 Krummacher, Hans-Henrik 78, 151 Kühlmann, Wilhelm 7, 12, 26, 43, 120, 125, 236, 260 Kuhnert, Friedmar 9, 35 Kuhn, Hans 85 Kurz, Gerhard 105 Labhardt, Andre 39 Lacan, Jacques 262 Lachesis 214 Laetus 144 Laios 57, 59f., 63 Lanzerath, Dirk 52 Lausberg, Heinrich 218 Lawall, Gilbert 187 Lefebre, Joel 304f. Lefevre, Eckard 5f., 12, 89, 98, 182 Lefevre, Manfred 65 Leo Armenius 12, 22, 27-65, 67f., 70, 146, 189, 195, 245, 253-262, 266f., 272-275, 279, 296, 307, 31 Of. Leopold I. von Österreich 154, 167f., 171176, 180, 182, 186, 188f., 199, 226f., 234f. Lepenies, Wolf 123 Lesky, Alban 35, 179 Lessing, Gotthold Ephraim 6, 99 Liebermann, Wolf-Lüder 3, 159 Lipsius, Justus 2, 5, 7, 54f., 119, 124, 152, 210,241,246 Livia 248, 253f., 257 Locke, John 51

von Lohenstein, Hans Christian 160f. Loos, Helmut 83 Lucanus 309f. Lucullus 131 Ludwig XVI. 275f. Luise von Brieg 234 Lukrez 91, 128, 132-134, 136 Lunding, Erik 28, 83, 153, 168 Lupton, Philipp Wadsley 190 Luther, Martin 13, 25, 46-48, 51 f., 76-79, 81, 86, 109, 112, 117, 121, 125, 146, 161, 170, 174, 1 9 8 , 2 1 1 , 2 2 0 , 2 9 0 , 2 9 8 Machiavelli, Niccolö 48, 257 Magellan, Ferdinand 168, 182, 186, 227 Malingre, Claude 82 Mannack, Eberhard 17, 24, 28, 82, 124 Maraka, Angeliki 124 Martino, Alberto 154 Martinus a St. Brunone 181 Mascaron, Pierre Antoine 229, 302 Masen, Jacob 77 Mason, Stephen F. 22, 25, 35, 43 Maurach, Gregor 182, 188 Maurer, Michael 175 Mauser, Wolfgang 24f., 33, 75, 79 Medea 12, 56, 164, 168, 176-179, 181-188, 192, 195f., 199-202, 226, 237 Meier, Christian 36 Melanchthon, Philipp 78, 125 Merope 65f. Messalina (Mutter Neros) 239 Meyer-Kalkus, Reinhart 5, 152, 158, 232, 234, 262, 300, 304-306 Michael Baibus 45^17, 53f., 56, 58, 60-65, 68, 253-257, 2 6 1 , 2 7 4 Michelsen, Peter 126f., 138, 140, 143 Milton, John 19 Mittelstrass, Jürgen 53 Monath, Wolfgang 222 Montaigne, Michel de 229, 313 Moog-Grünewald, Maria 1 Moreau, Alain 179, 185, 187f. Mortureux, Bernard 240, 249 Mout, Nicolette 210 Le Moyne, Pierre 234 Müller, Conrad 153,217 Müller, Gerhard 66, 253 Müller, Günter 33 von Müller, Hans 161, 165,231 Müller Hans-Harald 33 Münch, Paul 46, 269 Müsch, Bettina 151,273 Mulagk, Karl-Heinz 6, 154

347 Natalis 307 Neptun 204 Nero 123, 163, 229f., 234, 236, 238-242, 244, 245-251, 254f., 263, 265-267, 2 7 0 278, 280f, 285f., 290, 300-302, 3 0 6 313,315,317 Neukirch, Benjamin 160 Neumeister, Christoff 87 Neuser, Wolfgang 42 Newman, Jane O. 166, 189, 195, 234 Nicander 6 1 , 6 8 Niefanger, Dirk 2, 83 Nieschmidt, Werner 96, 103 Nikulin, Dmitri 93, 95 Nörr, Dieter 125 Nolle, Rolf Werner 83 Odysseus 181 Oedipus 12, 30, 56-68, 69, 99, 317 Oesterreich, Peter L. 218 Oestreich, Gerhard 7, 153 Ohly, Friedrich 74, 76f., 96 Oktavia 239, 276, 285f., 309f. Oltramare, Andre 265 Opitz, Martin 2, 6, 19, 30, 252 Oslander, Andreas 25-27 Otho 2 6 5 - 2 7 1 , 2 7 3 , 2 8 5 , 2 9 7 Otto der Große 171 Otto von Nostiz 234 Ovid 66, 184f. Panaitios 120 Papinian (Aemilius Paulus Papinianus) 12, 70, 81, 124-147, 149, 167, 193, 197f., 210, 223, 261, 267, 286, 303, 305, 318 Paracelsus, Theophrastus 77 Parente , James A. 17, 28 Paris 205 Paris (Bote in der Agrippina) 273, 286 Pastemack, Gerhard 174, 239 Paulina 313 Paulus 41 Pelias 179, 181 Pellissier, Ignaz 231 Peschken, Bernd 5 Petrarca, Francesco 5, 241 Pfister, Manfred 56, 164, 201, 307 Philipp, Wolfgang 26 Phorbas 65f. Piccolomini, Enea Silvio 171 Pindar 180 Piso 3 0 0 - 3 0 3 , 3 1 1 , 3 1 4 Plard, Henri 56, 78 Piaton 37, 88, 116, 140,214, 280 Plinius 267 Plotin 116 Plume, Cornelia 190, 273 f.

Plutarch 57f. Pluto 204-206 Poe, Joe Park 98f. Pöschl, Viktor 98 Pötscher, Walter 182 Pohlenz, Max 8, 92, 121, 133 Polybus 65 Polyneikes 36 Polyxena 252f. Poseidonios 270 Powell, Hugh 23f., 27 Praz, Mario 79 Prechac, Francois 241 Priamus 252 Proculeius 194, 198, 216 Prometheus 179 von Pufendorf, Samuel 51 Purcell, Nicholas 193 f. Pyrrhus 252 Quinctianus 307, 310 Quintilian 120 Raffy, Jean Louis 28, 64, 128, 138, 144, 256 Regenbogen, Otto 6, 99 Reichelt, Klaus 17, 62, 126 van Reijen, Willem 113 Rheticus, Georg Joachim 25 Richter, Will 241 Rod, Wolfgang 289 Rosenmeyer, Thomas G. 100, 185 Rotermund, Erwin 106 Rousseau, Jean-Jacques 39, 88, 92 Rubellius Plautus 280f. Rubens, Peter Paul 231 Rühl, Peter 3 Rühle, Günter 65 Rusterholz, Peter 28, 54, 108 Saavedra Fajardo, Diego de 152, 171,210 Sabina Poppaea 229, 266, 285f., 312 Sachs von Lewenheimb, Philipp Jacob 262 Sälzle, Karl 87, 108 Salmasius, Claudius 19 Salome 100-109, 123f. Salutati, Coluccio 5 Scaliger, Julius Caesar 6 Schäublin, Peter 44, 258 Scheler, Max 43 Scherer, Bernard F. 123 Schetter, Willi 60 Schilling, Michael 181 Schings, Hans-Jürgen 2 - 5 , 15, 24, 78, 83, 85, 95, 97, 106, 110f., 124, 126, 128, 130, 137f., 140, 143, 150-152, 162, 171f., 190f., 234, 305

348 Schmelzeisen, Gustaf Klemens 55 Schmidt, Jochen 57 Schöffler, Herbert 2 4 Schönborner, Georg 19 Schöne, Albrecht 15, 34, 76, 79, 103f„ 169, 178, 180, 205f. Scholz, Rüdiger 4 Schottel, Justus Georg 2 3 6 Schröder, Gerhart 198 Scipio 269, 297 Seifert, Arno 2 3 2 Seneca Rhetor 215 Senecio 307, 309f. Shakespeare, William 165 Shapin, Steven 4 2 Silana 273 Simmel, Georg 87 Simon, Joseph 27 Simplicius 2 9 4 - 2 9 6 Sinemus, Volker 68 Sokrates 8 8 , 1 2 0 , 3 0 4 , 3 1 5 Solbach, Andreas 28, 31, 45, 63, 126, 138, 143 Sophokles 3 0 f „ 3 3 - 3 6 , 57 Sophonisbe 166, 168f., 170, 174, 200, 211, 297 Sosius 193, 2 8 6 South, Marie S. 29 Spahr, Blake Lee 45, 83, 86 Spellerberg, Gerhard 18, 20, 84, 132, 138, 1 5 5 - 1 5 7 , 166, 1 6 8 - 1 7 0 , 173f., 190f., 199, 2 0 4 , 2 0 7 - 2 1 1 , 215, 218, 222, 225, 229f., 232, 246, 263, 274, 314, 3 1 6 Stachel, Paul 2, 56, 82, 151 Stackhouse, Janifer Gerl 96, 138 Stalder, Xaver 3 Stamer, Alois 9 Steidle, W o l f 89, 1 8 2 , 2 5 3 Steiner, Uwe 111, 115 Steinhagen, Harald 4, 15f., 18, 29, 45, 54, 61, 65, 67, 108, 110, 116f., 128, 138, 144 Stierle, Karlheinz 11 Stolleis, Michael 53, 119, 247 von Stosch, Baltzer Siegmund 21 Strauss, Leo 4 5 , 4 8 , 2 5 1 Strasser, Gerhard F. 28 Strauss, Leo 4 5 , 4 8 , 2 5 1 Strich, Fritz 33 Stückelberger, Alfred 9, 38f. Sueton 229f., 267, 2 7 0 Sulzer, Dieter 76 Susini, Eugene 82 Szarota, Elida Maria 5, 16, 28, 45, 82f., 86, 96, 101, 132, 152, 191, 236, 245, 273, 303f.

Szondi, Peter 28, 55, 64, 256 Szyrocki, Marian 3, 25, 29, 77, 79, 8 2 - 8 4 Tacitus 7, 152, 2 2 9 - 2 3 1 , 239f., 245, 247, 2 6 5 - 2 6 7 , 273, 276, 278, 280f., 285, 290, 2 9 6 , 301 f., 307 Talthybius 2 5 2 Tamaras 104 Tantalus 93, 98 Tarot, R o l f 129 Thaies von Milet 36, 57 Theaitetos 37 Themis 1 4 2 - 1 4 5 , 2 1 0 Theodosia 58, 63, 65, 2 5 3 - 2 5 9 , 261, 266, 2 7 4 , 2 9 6 , 307 Thomasius, Christian 51 Thomke, Hellmuth 126 Thyest(es) 12, 71, 81, 8 8 - 1 0 0 , 104, 109, 129, 134, 1 4 5 , 2 5 7 Tibull 185 Tieck, Ludwig 231 f. Tigellinus 306f., 312f. Tiphys 168, 176, 179, 1 8 1 - 1 8 6 , 188f., 192, 194-196f., 201f., 206, 2 2 5 - 2 2 8 , 233 Tiresias 62f., 65 Titzmann, Michael 4, 155, 173, 225 Töchterle, Karlheinz 62 Tönnies, Ferdinand 50 Trillitzsch, Winfried 5, 41 Trunz, Erich 77 Tschiedel, Hans-Jürgen 5 Typotius, Jakob 77 du Vair, Guillaume 5 Valentin, Jean-Marie 231 Valerius Flaccus 179 Vergil 1 8 6 , 2 1 6 , 291 Verhofstadt, Edward 4, 159, 162, 173, 233, 303f., 317 Vesal, Andreas 4 2 Veyne, Paul 148 Vietor, Karl 78 van den Vondel, Joost 28, 82 Voßkamp, Wilhelm 95, 156, 171 f., 175, 199f., 204, 208f., 225 Walsoe-Engel, Ingrid 82f. Watanebe-O'Kelly, Helen 75 Weber, Max 4 8 Weeber, Karl-Wilhelm 130 Weier, Winfried 151 Weigl, Engelhard 11 Weimar, Klaus 79 Welzig, Werner 2 Wentzlaff-Eggebert, Erika 17, 77 Wentzlaff-Eggebert, Friedrich Wilhelm 1 5 - 1 7 , 77f„ 151

4,

349 Wessels, Paul Β. 85, U 7 f . Westermann, Pauline C. Whitman, Lucile Yow 310 Wiehert, Adalbert 5, 157-159, 164, 173, 175, 177, 190-193, 206, 216-219, 222, 225, 234, 236f., 262f., 278, 280f., 286f., 297, 312-314 Wiedemann, Conrad 11, 27, 103 Wieland, Georg 53, 198 Wiethölter, Waltraut 80 Windfuhr, Manfred 79, 262 Wölfflin, Heinrich 33 Woesler, Wilfried 126

Wolf, Erik 4 7 ^ t 9 Wolff, Christa 178 Wolff, Christian 120 Wucherpfennig, Wolf 152, 208f. Zeller, Eduard 9, 120 Zenon 8, 38, 269 Zielske, Harald 82, 96 Zima, Peter V. 1 Zintzen, Clemens, 12 Zonaras, Johannes 27 Zwierlein, Otto 12, 186, 309